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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Shadow in Summer. Book One of the Long Price Quartet«


bei Tor Books, Tom Doherty Associates, LLC, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2007
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München
Copyright der Originalausgabe 2006
by Daniel Abraham Published in agreement with the author,
c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
by Verlagsgruppe Random House Gmb-H, München
Umschlaggestaltung: Hilden-Design, München
Umschlagillustration: Stephane Martiniere/Eigenarchiv Hilden-
Design
Redaktion: Alexander Groß
Lektorat: Urban Hofstetter
Herstellung: Heidrun Nawrot

ISBN 978-3-442-24446-1

www.blanvalet-verlag.de
Das Buch

Saraykeht ist die bedeutendste der Sommerstädte, unermesslich


reich und vor Leben pulsierend, ein Hort des Friedens und des
Fortschritts. Dies verdankt sie vor allem dem magischen Wesen
Samenlos - und dem Zauberdichter Heshai, der als Einziger diese
mächtige Kreatur unter Kontrolle halten kann. Aber leider hat
Saraykehts sagenhafter Reichtum den Neid seiner galtischen
Nachbarn erweckt, die skrupellos auf den Untergang der Metropole
hinarbeiten. So hängt das Überleben Saraykehts allein an Heshai -
und an Samenlos, der sich jedoch aus der lebenslangen Bindung an
den Dichter befreien möchte - koste es, was es wolle …
Der Autor

Daniel Abraham hat Kurzgeschichten in verschiedenen Magazinen


und Anthologien veröffentlicht und gemeinsam mit Gardner Dozois
und George R. R. Martin den Kurzroman Shadow Twin verfasst.
Seine Kurzgeschichte »Flat Diane« wurde für den Nebula Award
nominiert Abraham ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in
New Mexico. Sommer der Zwietracht ist sein erster eigener Roman
und der Auftaktband zur Tetralogie Die magischen Städte.
Weitere Informationen über den Autor unter:
www.danielabraham.com
Weitere Romane sind in Vorbereitung.
Für Fred Saberhagen,
den ersten meiner vielen Lehrer
Prolog

Der Rohrstock traf Otah so heftig, dass sein Ohr zu bluten begann.
Tahi hatte den Stab so energisch durch die Luft fahren lassen, dass
sein Schwirren an flatternde Vögel erinnerte. Otah blieb
vollkommen beherrscht, wich nicht zurück und gab keinen Laut von
sich. Tränen traten ihm in die Augen, doch seine Hände blieben in
grüßender Gebärde.
»Noch mal«, bellte Tahi. »Und diesmal richtig!«
»Eure Anwesenheit ehrt uns, ehrwürdiger Dai«, sagte Otah
freundlich, als versuche er sich zum ersten Mal an dieser rituellen
Begrüßung. Der alte Mann am Feuer musterte ihn und machte dann
eine zustimmende Gebärde. Tahi stieß ein zufriedenes Grunzen aus.
Otah verbeugte sich, verharrte drei Atemzüge lang in dieser
Stellung und hoffte, Tahi würde ihm keinen weiteren Stockschlag
dafür geben, dass er zitterte. Der Moment schien kein Ende zu
nehmen, und Otah hätte seinen Lehrer beinahe angesehen. Es war
der Alte mit seinem kaum mehr vernehmbaren Flüstern, der
schließlich die Worte sprach, die das Ritual beendeten und ihn
entließen.
»Geh, verstoßenes Kind, und widme dich deinen Studien.«
Demütig verließ Otah das Zimmer. Kaum hatte er die schwere
Holztür hinter sich zugezogen und den kühlen Flur betreten, der zu
den Gemeinschaftsräumen führte, befühlte er seine neue Wunde.
Die anderen Jungen schwiegen, als er über die Flure der Schule
ging, doch immer wieder fasste der eine oder andere ihn und sein
neues Schandmal ins Auge. Nur die älteren Jungen, deren
Schwarzkutten sie als Milahs Schüler auswiesen, lachten ihn aus.
Otah ging in den Schlafsaal seiner Klasse, zog das Festgewand aus,
achtete darauf, es nicht mit Blut zu beschmutzen, und wusch die
Wunde mit kaltem Wasser. Die stechende Salbe zur Behandlung von
Schnitten und Kratzern befand sich in einem Tontopf neben dem
Wasserbecken. Er tunkte zwei Finger ein und schmierte die nach
Essig riechende Salbe auf die Wunde am Ohr. Dann setzte er sich
auf seine Pritsche und weinte, wie er es schon so manches Mal getan
hatte, seit er in diese Schule gekommen war.
»Ihr setzt gewisse Erwartungen in diesen Jungen, stimmt’s? fragte
der Dai und führte dabei seine Teeschale zum Mund.
»Durchaus«, bestätigte Tahi, stellte den lackierten Rohrstock in die
Ecke und nahm neben seinem Meister Platz.
»Er kommt mir bekannt vor.«
»Es ist Otah Machi, der sechste Sohn von Khai Machi.«
»Ich erinnere mich an seine Brüder. Die waren auch recht
vielversprechend. Was ist aus ihnen geworden? »Sie haben ihre
Schulzeit abgesessen und das Brandmal bekommen und wurden
entlassen. Wie die meisten. Wir haben dreihundert Schüler und
dazu vierzig Schwarzkutten, die unter Milahs Obhut stehen -
durchweg Söhne von Khais oder aus ehrgeizigen Familien der
Utkhais.«
»So viele? Ich habe kaum welche gesehen.«
Tahi machte eine zustimmende Gebärde, hielt die Handgelenke
dabei aber so, dass Bedauern oder eine Entschuldigung
mitschwang.
»Nur wenige sind stark und zugleich klug genug. Und es steht viel
auf dem Spiel.«
Der Dai nahm einen Schluck Tee und blickte nachdenklich ins
Feuer.
»Wie viele von ihnen wohl merken«, sagte der Alte dann, »dass
wir ihnen nichts beibringen?«
»Alles bringen wir ihnen bei. Alles, was mit Buchstaben und
Zahlen zu tun hat. Jeder von ihnen kann nach der Schule ein
Handelsunternehmen gründen.«
»Aber wir bringen ihnen nichts Sinnvolles bei. Die Werke der
Dichter enthalten wir ihnen vor, und von den Andaten erfahren sie
nichts.«
»Falls sie das merken, ehrwürdiger Dai, sind sie auf dem besten
Weg, ihre Ausbildung bei Euch fortzusetzen. Und für diejenigen,
die wir nach der regulären Schulzeit entlassen, ist es ohnehin besser,
ahnungslos zu sein.«
»Wirklich?«
Tahi zuckte die Achseln und blickte ins Feuer. Er wirkt gealtert,
dachte der Dai, besonders um die Augen. Als ich ihm vor vielen
Jahren begegnet bin, war er ein ungestümer junger Mann. Dass sein
Gesicht nun so alt und grausam wirkt, dafür habe ich selbst gesorgt.
»Wenn sie versagen, bekommen sie das Brandmal und müssen sich
auf eigene Faust durchs Leben schlagen«, sagte Tahi.
»Wir rauben ihnen die einzige Hoffnung, ihre Familien
wiederzusehen und einen Platz am Hof der Khais einzunehmen«,
erwiderte der Dai. »Sie sind ganz allein und haben keine Macht über
einen Andaten. Wir entledigen uns dieser Jungen, wie ihre Väter es
getan haben. Ich frage mich, was aus ihnen wird.«
»Das, was aus den Leuten nun mal wird, schätze ich. Die Schüler
aus den Familien der Utkhais sind nach dem Besuch unserer Schule
kaum schlechter dran als zuvor. Und die Söhne der Khais … tja,
wenn sie das Brandmal bekommen haben, sind sie nicht mehr
erbberechtigt. Das bewahrt sie davor, von ihren Verwandten
getötet zu werden. Das ist immerhin etwas!«
Allerdings. In jeder Generation floss bei den Khais reichlich Blut.
So war es nun mal im Reich. Und sollten alle drei legitimen Söhne
eines Khais einander niedergemetzelt haben, zückten die edelsten
Familien der Utkhais die Messer, und eine Zeitlang gab es in den
Städten schlimme Gewaltausbrüche, von denen die Dichter sich so
sorgsam fernhielten wie die Priester von Hundekämpfen. Die
Jungen aber, die hier in die Schule gingen, blieben von diesen
Kämpfen verschont, mussten dafür aber den Preis zahlen, auf alles
zu verzichten, was sie in ihrem kurzen Leben im Kreis ihrer Familie
kennengelernt hatten. Und doch …
»Schande ist ein mickriges Geschenk«, sagte der Dai.
Sein alter Schüler Tahi, der auch mal wie die Jungen gewesen war,
die nun die Schule besuchten, seufzte.
»Mehr können wir ihnen nicht bieten.«

Der Dai reiste im Morgengrauen ab und schritt durch die großen


Bronzetüren, die nur für ihn geöffnet wurden. Otah und seine
Klasse hatten sich in Reih und Glied zur Abschiedsgebärde
versammelt. Er hörte Fingernägel über Stoff reiben, hinter ihm
riskierte offenbar jemand, sich zu kratzen. Er sah sich nicht um.
Zwei von Milahs ältesten Schwarzkutten zogen die Torflügel zu.
Im trüben Winterlicht, das durch die hohen, schmalen Fenster fiel,
sah Otah das emsige Treiben der Schwarzkutten, die die Klassen
unter ihre Fittiche nahmen. Die Pflichten wechselten täglich.
Vormittags arbeiteten sie meist auf dem Schulgelände, wo sie
Mauern ausbesserten, Wäsche wuschen oder das Eis von den Wegen
im Garten entfernten, auf denen - von den Jungen abgesehen, die
sie zu säubern hatten - nie jemand unterwegs zu sein schien. Der
Nachmittag war dem Lernen vorbehalten: dem Rechnen, Lesen und
Schreiben, der Religion sowie der Geschichte des Alten Reichs, des
Zweiten Reichs, des Krieges und der Städte der Khais. Und in den
letzten Wochen stand immer öfter einer der beiden Lehrer an der
Rückwand des Klassenzimmers, während eine Schwarzkutte den
Lehrstoff vortrug und die Schüler abfragte. Manchmal mischte
Milah sich in den Unterricht ein und machte ein paar Scherze oder
trug den Stoff selber vor und erörterte mit den Schülern
Gegenstände, über die die Schwarzkutten nie sprachen. Tahi
beobachtete den Unterricht nur und schritt strafend ein. Alle in
Otahs Klasse hatten Rohrstock-narben.
Riit, eine der ältesten Schwarzkutten, führte Otah und seine Klasse
in den Keller. Den ganzen Vormittag über musste Otah bei
Fackelschein Steinböden fegen, die noch die Kälte des letzten
Winters gespeichert zu haben schienen, und sie dann nass wischen,
bis die Fingerknöchel wund waren. Dann ließ Riit die Schüler
antreten, musterte sie, gab einem Jungen, dessen Aufzug und
Haltung nicht tadellos waren, eine Ohrfeige, und marschierte mit
ihnen zum Speisesaal. Otah sah weder vor noch zurück, sondern
hielt den Blick stur auf die Schultern seines Vordermanns gerichtet.
Mittags gab es kaltes Fleisch, altbackenes Brot und eine dünne
Graupensuppe, die Otah schätzte, weil sie warm war. Allzu bald
befahl Riit ihnen, Teller und Besteck zu waschen und ihm zu folgen.
Otah stellte fest, dass seine Kameraden diesmal ihm den ungeliebten
Vortritt gelassen hatten, und so betrat er als Erster den kalten
Hörsaal mit seinen Steinbänken und schmalen Fenstern, die nie
verglast gewesen waren. Tahi wartete schon.
Niemand wusste, warum der rundgesichtige, stets finster
dreinblickende Lehrer sich ausgerechnet für diese Klasse so
interessierte, doch im Dunkel der Sammelunterkünfte blühten
geflüsterte Spekulationen. Der Dai, so hieß es, habe einen von ihnen
auserwählt, die Geheimnisse der Andaten zu studieren, Dichter zu
werden, mehr Macht zu bekommen als selbst die Khais und das
Schwarzkuttenstadium komplett zu überspringen. Ein anderes
Gerücht wollte wissen, eine Familie habe bereut, ihr in der Erbfolge
hoffnungslos abgeschlagenes Kind auf diese Schule geschickt zu
haben, und verhandele nun darum, auf das Brandmal zu verzichten
und den verstoßenen Sohn wieder in die Arme zu schließen.
Otah hatte sich das alles angehört, glaubte aber keinem der
Gerüchte, sondern sah darin nur die Fantasien ängstlicher und
schwacher Menschen. Ihm war klar, dass es ihn zerstören würde,
sich an eine davon zu klammern. Sich mit dem Elend der schulischen
Situation abzufinden und allein darauf zu hoffen, diese Zeit
einigermaßen unbeschadet zu überstehen, war der einzige Weg,
seinen Geist vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Er würde
durchhalten und in die Welt entlassen werden. Er war jetzt zwölf
und inzwischen im dritten Schuljahr, hatte also fast die Hälfte seiner
Fron hinter sich gebracht. Und heute war ein weiteres Übel zu
ertragen - wie schon gestern und morgen wieder. Es war gefährlich,
zu weit zurück- oder vorauszudenken. Nur wenn er sich zu träumen
erlaubte, dachte er daran, die Geheimnisse der Andaten zu
erlernen, und das geschah so gut wie nie.
Als Riit das Gleichnis von den Zwillingsdrachen des Chaos
vortrug, sah er den Lehrer an der Rückwand des Klassenzimmers
mindestens so oft an wie die Schüler vor ihm Otah kannte diese
Geschichte und versank in Gedanken. Durch das gewölbte Fenster
sah er eine Krähe auf einem hohen Ast hocken. Sie erinnerte ihn an
etwas. Aber woran? »Welcher Gott besänftigt die Wassergeister?«,
fragte Riit barsch. Otah kehrte in die Gegenwart zurück und straffte
sich.
Riit zeigte auf einen dicken Jungen, der ganz hinten saß. »Oladac
der Wanderer!«, sagte der Junge ergeben.
»Und warum wurden die Geister, die unbeteiligt blieben und
weder auf Seiten der Götter noch gegen sie kämpften, in eine
schwärzere Hölle verbannt als die Diener des Chaos? Wieder zeigte
Riit mit dem Finger auf den Schüler.
»Weil sie auf Seiten der Götter hätten kämpfen sollen!«, rief der
Junge.
Falsch, dachte Otah. Weil sie Feiglinge waren, ergänzte er intuitiv
und wusste sofort, dass er Recht hatte. Tahis Rohrstock schwirrte
durch die Luft und traf den Jungen hart an der Schulter. Riit lächelte
hämisch und setzte die Geschichte fort.
Nach dem Unterricht mussten die Jungen wiederum (wenn auch
nur für kurze Zeit) Pflichten im Dienste der Gemeinschaft erfüllen.
Dann gab es Abendessen, und wieder war ein Tag überstanden.
Otah war froh, in seine Koje klettern und sich die dünne Decke bis
unter die Nasenspitze ziehen zu können. Im Winter schliefen viele
Jungen vor Kälte in ihrer Kutte, und auch Otah gehörte zu ihnen.
Trotzdem war ihm der Winter die liebste Jahreszeit. Wenn es
wärmer war, erwachte er mitunter morgens und hatte vergessen,
wo er war. Dann erwartete er, die Mauern des väterlichen Hauses
zu erblicken, die Stimmen seiner älteren Brüder Biitrah, Danat und
Kaiin zu hören und vielleicht seine Mutter lächeln zu sehen. Diese
Erinnerungen waren schlimmer als jeder Schlag mit Tahis Rohrstock,
und er bemühte sich stets aufs Neue, alle Gedanken an seine Familie
auszulöschen. Zu Hause war er ungeliebt und unerwünscht, und
ihm war klar, dass es ihn umbringen würde, über diese bittere
Wahrheit zu viel nachzudenken.
Beim Einschlafen ging ihm Riits raue Stimme durch den Kopf, und
er hörte noch einmal die Lektion von den Geistern, die sich
weigerten zu kämpfen. Sie waren Feiglinge, und dafür wurden sie
in den tiefsten Höllenkreis verbannt.
Als ihm die Frage in den Sinn kam, riss er die Augen auf und fuhr
hoch. Die anderen Jungen lagen im Bett. Nicht weit von ihm weinte
einer im Schlaf. Das war nicht ungewöhnlich. Die Worte brannten
noch immer in Otahs Bewusstsein. Die feigen Geister, die in die
Hölle verbannt waren.
Was hält sie wohl dort?, fragte ihn seine innere Stimme. Warum
bleiben sie in der Hölle? Er lag stundenlang wach, und tausend
Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
Die Wohnungen der Lehrer waren um einen Gemeinschaftsraum
angeordnet, dessen Regale bis zur Decke reichten und voller Bücher
und Schriftrollen waren. Im Kamin glühte ein Kohlenfeuer, das
Milahs geschätzteste Schwarzkutte für sie angefacht hatte. Ein
großes Fenster, dessen Doppelverglasung Winterkälte wie
Sommerhitze abhielt, sah auf den Fahrweg hinaus, der nach Süden
zur Landstraße führte. Tahi setzte sich, wärmte sich die Füße und
blickte auf die kalte Ebene. Kurz darauf öffnete Milah hinter ihm die
Tür und trat ein.
»Ich habe dich früher erwartet«, sagte Tahi.
Milah machte kurz eine entschuldigende Gebärde. »Annat Ryota
hat gejammert, dass in der Küche wieder Rauch aus dem Ofenrohr
kommt.«
Tahi seufzte. »Setz dich. Das Feuer ist warm.«
»Das hat Feuer so an sich«, spottete Milah trocken. Tahi zwang
sich zu einem Lächeln, während sein Kollege sich setzte.
»Wie hat er deine Jungs eingeschätzt?«, fragte er dann.
»Ähnlich wie letztes Jahr: Sie haben den Schleier gelüftet und
führen nun ihre Brüder zum Wissen«, sagte Milah mit einer
Gebärde, die freundlichen Spott ausdrückte. »Das sind alles
kleinliche Tyrannen. Jeder Andat, der unsere Wertschätzung
verdient, würde sie im Handumdrehen erledigen.«
»Bedauerlich.«
»Aber alles andere als überraschend. Und deine Jungs?« Tahi
kaute auf der Unterlippe. Dann beugte er sich vor und spürte Milahs
musternden Blick.
»Otah Machi hat sich selbst Schande bereitet«, sagte Tahi. »Aber er
hat die Bestrafung mustergültig über sich ergehen lassen. Der Dai
hält den Jungen für recht vielversprechend.«
Milah bewegte sich. Als Tahi ihn ansah, machte der Ausbilder der
Schwarzkutten eine fragende Gebärde. Tahi bedachte seine
unausgesprochene Frage und nickte dann.
»Es hat noch andere Anzeichen gegeben. Du solltest ihn wohl
beobachten lassen. Irgendwie verliere ich ihn gar nicht gern an
dich.«
»Du magst ihn.«
Tahi machte eine bestätigende Gebärde, die das leise
Eingeständnis enthielt, gescheitert zu sein.
»Vielleicht bin ich grausam, alter Freund«, sagte Tahi und wurde
plötzlich vertraulich, »du aber bist herzlos.«
Der blonde Lehrer lachte, und unwillkürlich tat Tahi es ihm nach.
Dann saßen sie schweigend und gedankenverloren da. Schließlich
erhob sich Milah und warf mit einer ruckartigen Bewegung der
Schultern seinen dicken wollenen Umhang ab. Darunter trug er noch
immer das festliche Seidengewand, das er am Vortag bei seinem
Gespräch mit dem Dai angehabt hatte. Tahi goss Reiswein in zwei
Schalen.
»Es war gut, ihn wiederzusehen«, erklärte Milah kurz darauf.
Seine Stimme klang leicht melancholisch.
Tahi nickte beifällig und nahm einen Schluck Wein. »Er sah
unglaublich alt aus«, sagte er dann.
Otahs Plan erforderte kaum Vorbereitung, und doch vergingen
fast drei Wochen zwischen dem Augenblick, da er das Gleichnis von
den Geistern, die den Kampf der Götter unbeteiligt verfolgten,
begriffen hatte, und dem Tag, da er aktiv wurde. An diesem Abend
wartete er, bis seine Mitschüler eingeschlafen waren, schlug die
dünnen Decken zurück, zog alles an, was er besaß, packte seine
wenigen Habseligkeiten und stahl sich aus dem Schlafsaal.
Die steinernen Korridore waren unbeleuchtet, doch er kannte den
Weg gut genug, um ihn im Dunkeln zu finden. Sein Ziel war die
Küche. Die Speisekammer war nicht abgeschlossen, denn die Furcht,
entdeckt und bestraft zu werden, war so groß, dass niemand etwas
daraus stehlen würde. Otah stopfte sich mit beiden Händen harte
Brötchen und Trockenobst in seinen Rucksack. Wasser brauchte er
nicht. Noch immer lag Schnee, und Tahi hatte ihnen gezeigt, wie
man ihn beim Gehen zum Schmelzen bringen konnte, ohne dass
einem die Kälte in die Glieder fuhr.
Nachdem er sich Vorräte organisiert hatte, führte sein Weg ihn in
den großen Saal. Der Mond, der durch die hohen Fenster schien,
tauchte den Mittelgang, in dem er drei Jahre jeden Morgen in
ehrerbietiger Haltung verharrt hatte, in ein geisterhaftes Halblicht.
Die Türen waren natürlich versperrt, und obwohl er kräftig genug
war, die Riegel aufzuschieben, ließ er es, um niemanden zu wecken.
Er nahm zwei breite, mit einem Netz überzogene Schneeschuhe aus
dem Schrank neben den großen Türen und ging die Treppe hinauf
in den Hörsaal. Die Fenster dort sahen auf eine Welt, die vor Kälte
erstarrt schien. Es war so kalt, dass Otahs Atem in Wolken aufstieg.
Er warf die Schuhe und den Rucksack auf den schneeweichen
Erdboden, quetschte sich durch den Schlitz in der Mauer und ließ
sich langsam an der äußeren Fensterbank herunter, bis er nur noch
an den Fingerspitzen hing. Nun war es nicht mehr weit bis zum
Boden.
Er bürstete sich den Schnee von der Hose, schnallte sich die
Schuhe mit dicken Lederriemen an, setzte den prallvollen Rucksack
auf und wandte sich nach Süden, in Richtung Landstraße.
Der Mond, der bei Otahs Flucht fast den Scheitelpunkt seines
nächtlichen Laufs erreicht hatte, war dem Horizont im Westen
schon zwei dick vermummte Handbreit näher gesunken, ehe der
Junge begriff, dass er nicht allein war. Die Schritte, die bisher genau
im Rhythmus der seinen gegangen waren, nahmen nun einen
anderen Takt an, und dieser Wechsel erschien ihm so provokativ
wie ein nervöses Räuspern. Otah blieb unvermittelt stehen und
wandte sich um.
»Guten Abend, Otah Machi«, sagte Milah leichthin. »Eine schöne
Nacht, um spazieren zu gehen. Wenn auch etwas kalt.«
Otah antwortete nicht, und Milah kam fast lautlos näher. Sein
Atem stieg ihm aus dem Mund wie Wolken von Gänsedaunen.
»Tja«, sagte der Lehrer. »Es ist kalt, und du bist weit weg von
deinem warmen Bettchen.«
Otah machte eine bestätigende Gebärde, wie sie sich für einen
Schüler dem Lehrer gegenüber ziemte, gab ihr aber nichts
Entschuldigendes. Er hoffte, dass Milah sein Zittern nicht bemerkte
oder es der Kälte zuschrieb.
»Wer die Schule verlässt, ohne sie abgeschlossen zu haben, bringt
Schande über sich, Junge.«
Otah machte die Gebärde, mit der ein Schüler für eine gerade
erhaltene Belehrung dankt, doch Milah wischte sie mit einer
Handbewegung beiseite, setzte sich in den Schnee und musterte ihn
mit einem Interesse, das Otah beunruhigte.
»Warum tust du das?«, fragte Milah und fügte kurz darauf hinzu:
»Aber vielleicht kannst du die Sache wiedergutmachen. Womöglich
wirst du immer noch für würdig befunden. Warum also rennst du
weg? Bist du wirklich ein solcher Feigling?«
Otah hatte seine Stimme endlich wiedergefunden: »Es wäre feige
gewesen zu bleiben, Milah-kvo.«
»Warum das denn?« Der Lehrer klang weder prüfend noch
verurteilend, sondern wie ein Freund, der eine Frage stellt und die
Antwort tatsächlich nicht kennt.
»Die Hölle ist nicht zugesperrt«, sagte Otah. Er versuchte zum
ersten Mal, jemandem diese Überlegung zu vermitteln, und das
erwies sich als überraschend schwer. »Wenn sie aber nicht
zugesperrt ist, was hält einen darin? Doch nur die Furcht, dass es
außerhalb der Hölle noch schlimmer ist!«
»Du hältst die Schule also für eine Art Hölle.«
Das war eine Feststellung, die Otah nicht kommentierte.
»Wenn du diesen Pfad wählst, landest du nicht nur in der Gosse,
sondern wirst selbst unter Parias ein Paria sein«, sagte Milah. »Ein
in Schimpf und Schande gefallenes Kind, das keinen Freund, keine
Verbündeten hat. Und ohne das schützende Brandmal dürften deine
älteren Brüder dich aufspüren und umbringen.«
»Hast du denn irgendeine Zuflucht?«
»Die Landstraße führt nach Pathai und Nantani.«
»Dort kennst du keine Menschenseele.«
Otah nickte.
»Und das macht dir keine Angst?«, fragte der Lehrer.
»Ich habe mich dafür entschieden«, erwiderte Otah und sah an
Milahs Miene, wie sehr den Lehrer diese Antwort erheiterte.
»Na schön, aber ich glaube, es gibt eine Alternative, die du noch
nicht bedacht hast.«
Der Lehrer langte in seinen Rucksack und zog ein kleines
Stoffbündel hervor, wog es einen Moment prüfend in der Hand und
warf es dann zwischen ihnen in den Schnee. Es war eine
Schwarzkutte.
Otah machte eine fragende Gebärde, und Milah sagte: »Die
Andaten sind mächtig, Otah. Wie kleine Götter. Und sie nehmen
nur ungern immer die gleiche Gestalt an. Sie rebellieren gegen diese
Eingrenzung, und da die Gestalt eines jeden Andaten die des
Dichters widerspiegelt, der ihn gebannt hat … Die Welt ist voll
williger Opfer, voller Leute, die das, was man ihnen antut, mit
Schafsgeduld hinnehmen. Würde ein Dichter mit einer solchen
geistigen Verfassung einen Andaten erschaffen, dann würde der
Andat seinen Schöpfer zerstören und fliehen. Dass einer nicht mehr
leiden will, sondern sich zur Tat entschlossen hat - das symbolisiert
die Schwarzkutte.«
»Dann haben die anderen also auch alle die Schule verlassen?«
Milah lachte, und dieses Lachen klang so freundlich, dass es trotz
der Kälte wärmte.
»Nein, ihr habt ganz verschiedene Wege eingeschlagen. Ansha hat
versucht, Tahi den Rohrstock zu entreißen. Ranit Kiru hat verbotene
Fragen gestellt, ist dafür bestraft worden und hat sie erneut gestellt,
bis Tahi ihn bewusstlos geprügelt hat. Danach war Ranit so wund,
dass er wochenlang kein Gewand tragen konnte. Seine tiefblauen
Blutergüsse waren gewissermaßen der Vorschein seiner
Schwarzkutte. Doch jeder von euch hat etwas unternommen.
Natürlich kannst du die Kutte auch liegen lassen. Unser Gespräch ist
wirklich unverbindlich - interessant vielleicht, aber belanglos.«
»Und wenn ich sie nehme?«
»Solange du die Schwarzkutte trägst, bleibst du Mitglied unserer
Schule. Du wirst helfen, deinen braven Mitschülern die Lektion
beizubringen, die du gelernt hast: also aufzubegehren und auf
eigenen Beinen zu stehen.«
Otah blinzelte, und ein Gefühl, das er nicht benennen konnte,
beseelte ihn. Seine Flucht aus der Schule erschien ihm in ganz neuem
Licht. Sie war ein Zeichen seiner Stärke, ein Beweis seines Mutes.
»Und die Andaten?«
»Die Andaten?«, erwiderte Milah. »Über sie wirst du noch
mancherlei erfahren. Der Dai hat nie einen Schüler angenommen,
der nicht zuerst die Schwarzkutte getragen hat.«
Otah bückte sich mit vor Kälte tauben Fingern und hob die Robe
auf. Als er Milahs amüsiertem Blick begegnete, musste er grinsen.
Da lachte der Lehrer, stand auf und legte Otah den Arm um die
Schulter. Es war die erste freundliche Geste, die Otah seit
Schulbeginn erlebt hatte.
»Na komm. Wenn wir jetzt losgehen, sind wir vielleicht noch
rechtzeitig zum Frühstück in der Schule.«
Otah machte eine Gebärde begeisterter Zustimmung.
»Und gewöhn dir bitte nicht an, Vorräte aus der Küche zu stehlen.
Zwar können wir diesmal darüber hinwegsehen, doch die Köche
regen sich sehr deswegen auf.«
Der Brief kam ein paar Wochen später, und Milah las ihn als
Erster. Dann ließ er seine Schüler kurz allein, setzte sich mit dem
kalligrafischen Schreiben in ein höher gelegenes Zimmer und spürte,
wie seine Miene sich verhärtete. Als er es lange genug studiert
hatte, um sicher sein zu können, es nicht missverstanden zu haben,
schob er das zusammengefaltete Papier in den Ärmel seiner Kutte
und sah aus dem Fenster. Der Winter ging zu Ende, doch die ewige
Erneuerung des Frühlings kam Milah wie eine Ironie vor.
Sein alter Freund Tahi war eingetreten, wie er an seinen Schritten
hörte.
»Ein Kurier ist gekommen«, sagte Tahi. »Ansha hat gesagt, der Dai
hat ihn uns geschickt …«
Milah blickte über die Schulter und sah seine Gefühle in Tahis
rundem Gesicht gespiegelt.
»Nicht der Dai hat ihn geschickt, sondern sein Assistent.«
»Was ist mit dem Dai? Ist er…«
»Nein«, erwiderte Milah und zog den Brief hervor. »Er ist nicht
tot. Aber er geht dem Tod entgegen.«
Tahi nahm die Seiten, die Milah ihm hinhielt.
»Woran leidet er denn?«
»An Altersschwäche.«
Tahi las den Brief schweigend und lehnte sich dann mit einem
Seufzer an die Wand. »Es hätte schlimmer kommen können.«
»Stimmt. Es ist noch nicht so weit. Er wird die Schule erneut
besuchen. Vielleicht noch zweimal.«
»Er sollte nicht kommen«, stieß Tahi hervor. »Die Besuche sind
eine reine Formalität. Wir wissen selber gut genug, welche Jungen
so weit sind. Wir können sie ihm schicken. Er muss doch nicht -«
Milah unterbrach ihn mit einer kunstvollen Gebärde, die Trauer
und Befremden zugleich ausdrückte.
Tahi lachte bitter und sah zu Boden. »Du hast Recht«, sagte er
dann. »Trotzdem fände ich es besser, wenn wir ihm etwas von
seiner Last abnehmen könnten.«
Milah wollte erneut eine Gebärde machen, zögerte dann aber und
nickte nur.
»Otah Machi?«, fragte Tahi.
»Ja, vielleicht müssen wir ihn wegen Otah rufen. Aber jetzt noch
nicht. Der Junge trägt die Schwarzkutte erst seit kurzem. Die
anderen haben ihn noch immer nicht ganz als ihresgleichen
akzeptiert. Warten wir ab, bis er sich an die Macht gewöhnt hat. Ich
rufe den Dai erst, wenn wir uns sicher sind.«
»Er kommt nächsten Winter - ob nun einer unserer Jungen bereit
ist oder nicht.«
»Möglich. Oder er stirbt heute Abend. Oder wir sterben. Kein
Gott hat die Welt je in einen sicheren Ort verwandelt.« Tahi breitete
ergeben die Arme aus.
Es war ein warmer Frühsommerabend, und der Geruch kräftig
aufschießenden Grüns schien die Welt zu erfüllen. Otah und seine
Freunde hatten es sich auf dem Hang östlich der Schule bequem
gemacht. Milah saß bei ihnen und unterrichtete sie noch immer,
obwohl das Tagespensum längst geschafft war. Er erzählte ihnen
Geschichten. Geschichten über die Andaten.
»Sie sind … Wirklichkeit gewordene Gedanken«, sagte Milah und
begleitete seinen Vortrag zwar nicht mit Gebärden im eigentlichen
Sinne, aber doch mit Gesten, die seinen Zuhörern vermittelten, wie
außerordentlich das war, was er ihnen berichtete. »Gezähmte Ideen,
die Menschengestalt angenommen haben. Denkt zum Beispiel an
Niederschlag. Im Alten Reich hieß diese Andatin Regen, und als Diit
Amra sie zu Beginn des Krieges wieder einfing, wurde sie Seewärts
genannt. Doch das Prinzip ist das gleiche. Und wer dieses Prinzip
beherrscht, der kann Flüsse austrocknen lassen. Oder dafür sorgen,
dass die Felder stets genug Wasser bekommen. Oder seinen
Feinden Überschwemmungen schicken. Seewärts war eine mächtige
Göttin.«
»Hat sie noch mal jemand einfangen können?«, fragte Ansha.
Milah schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Sie ist zu oft
gefangen worden und hat zu oft entkommen können. Vielleicht
schafft es noch mal jemand, aber… es ist schon mehrfach versucht
worden.«
In diesen Worten lag eine Kühle, die selbst Otah nicht entging.
Was über die Andaten erzählt wurde, klang stets nach
Gespenstergeschichten, und ihr grausiges Ende handelte immer von
dem Preis, den ein gescheiterter Dichter zu zahlen hatte.
»Wie hoch war ihr Preis?«, fragte Nian Tomari erwartungsvoll.
»Der letzte Dichter, der es versuchte, lebte eine Generation vor
mir Nach seinem Scheitern soll sein Bauch dick geworden sein wie
der einer Schwangeren. Und als man ihn aufgeschnitten hat, soll er
voll Eis und schwarzem Seetang gewesen sein.«
Die Jungen schwiegen und stellten sich vor, was Milah ihnen da
erzählt hatte - das Blut des Dichters, den dunklen Tang, das helle
Eis. Dari erledigte eine Stechmücke.
»Milah-kvo?«, fragte Otah. »Warum wird es von Ausbruch zu
Ausbruch schwieriger, einen Andaten dauerhaft zu fangen?«
Der Lehrer lachte. »Das ist eine ausgezeichnete Frage, Otah. Aber
die musst du dem Dai stellen. Sie führt über das hinaus, was du zu
erfahren gerüstet bist.«
Otah nickte so ehrerbietig wie betreten, doch seine Neugier blieb
bestehen. Die Sonne versank hinterm Horizont, und es wurde kühl.
Milah stand auf, und seine Schüler taten es ihm gleich. In ihren
Schwarzkutten wirkten sie im Zwielicht wie die Geister eben
verstorbener Kinder. Auf halbem Weg zu den hohen Steingebäuden
der Schule begann Ansha zu rennen, und sofort tat Riit es ihm nach,
dann Otah, dann alle anderen, und sie kämpften sich verbissen den
Hügel hinauf zum großen Tor, um Erster zu werden - oder
wenigstens nicht Letzter. Als Milah ankam, waren sie puterrot und
lachten.
»Otah«, sagte Enrath, ein älterer Junge mit dunkler Haut, der aus
einer Stadt im Osten stammte. »Du gräbst doch morgen mit einer
dritten Klasse den westlichen Gemüsegarten um?«
»Ja.«
»Tahi-kvo hat gesagt, die Klasse soll früh fertig werden und sich
dann waschen, denn er will den Kindern nach dem Mittagessen
etwas beibringen.«
»Dann kannst du ja am Nachmittag zu uns stoßen, Otah«, schlug
Milah vor, der das Gespräch zufällig mitbekommen hatte.
Otah machte eine dankbare Gebärde, als sie den von Fackeln
beleuchteten großen Saal betraten. Eine Stunde bei Milah war
unendlich viel besser, als den ganzen Tag damit zu verbringen, eine
Klasse bei Erledigung ihrer Pflichten zu beaufsichtigen.
»Weißt du, warum Würmer sich in der Erde fortbewegen?«, fragte
Milah.
»Weil sie nicht fliegen können?«, vermutete Ansha, und ein paar
Jungen lachten mit ihm.
»Wohl wahr«, sagte Milah. »Aber sie sind auch gut für den Boden.
Sie lockern ihn auf, sodass die Wurzeln tiefer ins Erdreich dringen
können. Gewissermaßen erledigen Otah und die dritte Klasse also
morgen die Arbeit von Würmern.«
»Aber Würmer fressen sich geradezu durch den Boden«, rief
Enrath. »Tahi-kvo jedenfalls hat uns das so beigebracht.«
»Die einen benutzen diese, die anderen jene Technik«, räumte
Milah staubtrocken und zum großen Vergnügen aller ein, und auch
Otah lachte.
Die Schwarzkutten schliefen zu viert in kleineren Räumen, die
durch mittig aufgestellte Kohlebecken beheizt wurden. Zwar taute
es endlich, doch die Nächte waren noch immer bitterkalt. Als
Jüngster auf seiner Stube musste Otah sich um die Glut kümmern.
Noch vor dem Morgengrauen kam Milah und weckte sie, indem er
so lange an die Tür klopfte, bis alle vier Zimmerbewohner
geantwortet hatten. Sie wuschen sich im Gemeinschaftsbad und
aßen an einem langen Holztisch, an dessen Enden Tahi und Milah
saßen. Otah fühlte sich in Gegenwart des rundgesichtigen Lehrers
noch immer unwohl, auch wenn der ihn inzwischen ausgesprochen
freundlich ansah.
Nachdem die Schwarzkutten ihre Teller abgeräumt hatten,
trennten sie sich. Der größere Teil leitete die Klassen beim
Erledigen ihrer Tagesaufgaben an und beaufsichtigte sie, der
kleinere Teil (meist nur fünf oder sechs Kuttenträger) schloss sich
Milah an, der sie den Tag über unterrichtete. Auf dem Weg zum
großen Saal plante Otah bereits den Tag und freute sich, seine dritte
Klasse mittags an Tahi abtreten und zu den Auserwählten
hinzustoßen zu können, die einen Studientag mit Milah verbringen
durften.
Im großen Saal standen die Jungen bereits schlotternd in Reih und
Glied. Die Schüler dieser dritten Klasse waren durchweg noch sehr
klein: zwölf Kinder von etwa acht Jahren in dünnen, grauen Kutten.
Otah schritt vor ihnen auf und ab und suchte nach Nachlässigkeiten
in Körperhaltung und Montur.
»Heute graben wir den Gemüsegarten um«, rief er laut. Einige
Jungen zuckten zusammen. »Tahi-kvo will, dass ihr bis zum
Mittagessen damit fertig und obendrein gewaschen seid. Mir nach!«
Er führte sie in den Garten, ließ die Jungen aber zweimal anhalten,
um sich davon zu überzeugen, dass alle in Reih und Glied standen.
Als er feststellte, dass Navi Toyut - der Sohn einer vornehmen
Utkhai-Familie aus Yalakeht - sich ein wenig lässig hielt, versetzte er
ihm eine Ohrfeige. Der Junge nahm sofort Haltung an.
Der Gemüsegarten lag braun und bloß da. Trockene Strünke - die
winterlichen Überreste der letzten Ernte - lagen auf dem Boden
verstreut. Zwischen ihnen schoss fahles Unkraut auf. Otah führte
die Kinder zum Geräteschuppen, wo die Jüngsten Spinnweben von
Schaufeln und Spaten fegten.
»Fangt am Nordende an zu graben!«, rief er, und die Jungs bauten
sich dort auf, wo Otah hingezeigt hatte. Ihre Reihe war reichlich
zerklüftet, denn einige Kinder waren größer und kräftiger als
andere. Zudem hatten sie sich in verschieden großem Abstand
voneinander aufgestellt, sodass mitunter Lücken klafften wie
zwischen ausgefallenen Milchzähnen. Otah ging von einem zum
anderen und zeigte jedem, wo er sich hinstellen sollte und wie er
die Schaufel zu halten hatte. Als alle richtig standen, ließ Otah sie
beginnen.
Die Kinder gaben sich viel Mühe, und die dünnen Arme arbeiteten
nach Kräften, doch die Jungen waren klein und alles andere als
stark. Der Geruch frischer Erde verbreitete sich nur ganz allmählich.
Als Otah das umgegrabene Erdreich hinter den Kinder
kontrollierte, sanken seine Stiefel kaum ein.
»Tiefer!«, blaffte er. »Ihr sollt den Boden nicht bloß anritzen,
sondern ihn umgraben. Selbst Würmer würden das besser machen!«
Die Kinder schwiegen und sahen nicht auf, sondern drückten und
zerrten nur noch verbissener an den rauen Spatenstielen herum.
Otah schüttelte missbilligend den Kopf und brummte ein paar
unfreundliche Worte.
Die Sonne war schon anderthalb Handbreit gestiegen, doch sie
hatten erst zwei Beete geschafft. Als es wärmer wurde, zogen die
Jungen ihr Obergewand aus und legten es gefaltet auf den Boden.
Noch immer standen ihnen sechs Beete bevor. Otah ging mit
finsterer Miene hinter den Kindern auf und ab. Die Zeit wurde
knapp.
»Tahi-kvo will, dass ihr bis zum Mittagessen fertig seid!«, rief er.
»Wenn ihr ihn enttäuscht, sorge ich dafür, dass ihr alle eine
Abreibung bekommt.«
Sie gaben sich Mühe, ihre Aufgabe zu erfüllen, doch als sie mit
dem vierten Beet fertig wurden, war klar, dass sie es nicht schaffen
konnten. Otah schärfte ihnen ein, ohne Pause weiterzuarbeiten, und
stiefelte los, um Tahi zu finden.
Der Lehrer beaufsichtigte die Schüler, die die Küche reinigen
mussten. Sein Rohrstock schwirrte ungeduldig durch die Luft. Otah
trat mit entschuldigender Gebärde vor ihn »Tahi-kvo, die dritte
Gruppe wird es nicht schaffen, den Gemüsegarten bis zum
Mittagessen umzugraben. Die Kinder sind schwach und stellen sich
ungeschickt an.«
Tahi musterte ihn mit rätselhaftem Gesichtsausdruck. Otah spürte,
wie er verlegen errötete. Schließlich brachte der Lehrer mit betont
förmlicher Gebärde seine Zustimmung zum Ausdruck.
»Dann unterrichte ich sie an einem anderen Tag«, erklärte er.
»Führ sie nach dem Mittagessen wieder in den Garten und sorge
dafür, dass sie ihre Aufgabe zu Ende bringen.«
Otah verharrte in dankbarer Gebärde, bis Tahi sich wieder seinen
Schülern zuwandte, drehte sich dann um und ging zurück in den
Gemüsegarten. Die Kinder hatten sich unterdessen ausgeruht,
fingen nun aber wie wild an zu arbeiten. Otah trat auf das halb
umgegrabene Beet und sah sie böse an.
»Ihr habt mich um einen Nachmittag mit Milah-kvo gebracht«,
sagte er leise, aber mit durchdringendem Zorn. Keiner der Jungen
wagte es, ihm in die Augen zu sehen. Sie alle schienen sich so
schuldig zu fühlen wie geprügelte Hunde. Er wandte sich an das
ihm am nächsten stehende Kind, einen dünnen Jungen. »Gib mir
den«, sagte Otah und wies auf den Spaten.
Das Kind wirkte erschrocken, hielt ihm das Werkzeug aber hin.
Otah nahm es und stach ins frisch umgegrabene Erdreich. Das Blatt
des Spatens sank nur halb ein, und er ballte vor Wut die Faust. Der
Junge verneigte sich entschuldigend, doch Otah übersah das einfach.
»Du solltest das Erdreich umgraben! Um-gra-ben! Bist du zu blöd,
um das zu begreifen?«
»Otah-kvo, es tut mir leid. Es ist nur so »Wenn du das nicht wie
ein Mensch schaffst, dann versuch es wie ein Wurm. Knie nieder.«
Der Junge sah ihn verständnislos an.
»Knie nieder!«, brüllte Otah und beugte sich dabei so nah an ihn
heran, dass ihre Nasen nur noch Zentimeter voneinander entfernt
waren. Dem Kleinen traten Tränen in die Augen, doch er tat, wie
ihm geheißen. Otah nahm einen Klumpen Erde und gab ihn dem
Jungen: »Iss das.«
Der Kleine starrte erst auf den Klumpen in seiner Hand, blickte
dann zu Otah auf, führte schließlich mit vor Schluchzen zitternden
Schultern die Erde zum Mund und begann, davon zu essen. Seine
Mitschüler standen ringsum im Kreis und sahen schweigend zu. Der
Junge kaute, und auf seine Lippen trat Schlamm.
»Den ganzen Klumpen!«, befahl Otah.
Der Junge biss erneut hinein und brach dann weinend zusammen.
Otah spuckte angewidert aus und wandte sich an die Übrigen.
»An die Arbeit!«
Sie hetzten wieder an ihren Platz und legten mit ihren kleinen
Armen und Beinen wie wild los. Die blanke Angst trieb sie zu
Höchstleistungen an. Unterdessen saß der schlammlippige Junge mit
vor die Augen geschlagenen Händen da und weinte. Otah nahm
den Spaten und stach ihn neben dem Kleinen in den Boden.
»Na?«, fragte er leise. »Worauf wartest du noch?«
Der Junge murmelte etwas, das Otah nicht verstand. »Was? Rede
gefälligst so, dass man dich versteht.«
»Meine Hände«, brachte der Junge schluchzend heraus. »Sie tun so
weh. Ich hab’s versucht. Ich hab doch versucht, tiefer zu graben,
aber es hat so schrecklich wehgetan …«
Der Kleine kehrte die Handflächen nach oben. Als Otah die
blutenden Blasen sah, war ihm, als blicke er in einen Abgrund. Ihm
wurde plötzlich schwindlig. Der Junge schaute ihn weinend an, und
Otah erkannte das leise Schluchzen sofort, obwohl er es nie gehört
hatte. In all den Jahren, da er im kalten Schlafsaal gelegen und
gehofft hatte, nicht von seiner Mutter zu träumen, hatte er sich
gesehnt, dieses Geräusch von sich zu geben.
Die Zugehörigkeit zu den Schwarzkutten war ihm plötzlich
unangenehm, und die Erinnerung an tausend Erniedrigungen
irrlichterte durch sein Bewusstsein - und zwar so schrill, als habe ein
unerträglich hoher Ton einen Kristallkelch zum Schwingen gebracht.
Er kniete neben dem weinenden Jungen nieder und wollte ihm
vieles sagen, brachte aber kein einziges Wort heraus. Die anderen
Kinder standen schweigend da und beobachteten ihn.
»Du hast mich rufen lassen?«, fragte Tahi. Milah antwortete nicht,
sondern wies aus dem Fenster. Tahi trat neben ihn und sah sich das
Schauspiel an: Auf einem halb umgegrabenen Beet wiegte eine
Schwarzkutte ein weinendes Kind, während ringsum Jungen mit
staunend geöffnetem Mund dastanden und zusahen.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte Tahi gepresst. »Keine
Ahnung. Aber ich seh es mir schon einige Zeit an.«
»Ist das Otah Machi?«
Milah nickte.
»Das muss aufhören.«
»Natürlich. Aber ich wollte, dass du es siehst.«
Grimmig schweigend gingen die beiden die Treppe hinunter,
durchquerten die Bibliothek und traten in den Gemüsegarten. Als
die Schüler die Lehrer kommen sahen, taten sie sofort, als würden
sie arbeiten. Nur Otah und der Junge in seinem Arm blieben, wie sie
waren.
»Otah!«, stieß Tahi hervor. Der Junge in der Schwarzkutte sah mit
verweinten Augen auf.
»Es geht dir nicht gut, Otah«, sagte Milah freundlich und zog ihn
sanft vom Boden hoch. »Du solltest reingehen und dich ausruhen.«
Otah sah vom einen zum anderen, machte dann zögernd eine
unterwürfige Gebärde und ließ sich von Milah an der Schulter ins
Haus führen. Tahi blieb im Garten. Seine Stimme fuhr
peitschengleich auf die Kinder nieder.
Im Gebäudeteil der Schwarzkutten kochte Milah für Otah einen
starken Tee und dachte über die Lage nach. Die Übrigen würden
von dem, was gerade vorgefallen war, früh genug erfahren, falls sie
es nicht bereits wussten. Er fragte sich, ob das die Situation des
Jungen verbessern oder verschlechtern würde, und war sich nicht
einmal darüber im Klaren, ob er das eine oder das andere hoffte.
Wenn die ganze Szene das war, wonach sie aussah, dann war genau
der Erfolg eingetreten, den er gefürchtet hatte. Doch bevor er etwas
unternahm, musste er sich vergewissern. Er durfte den Dai erst
rufen, wenn Otah tatsächlich bereit war.
Sein Schüler saß zusammengesunken auf der Pritsche, nahm den
heißen Tee und nippte gehorsam daran. Er weinte nun nicht mehr,
sondern starrte vor sich hin. Milah rückte einen Stuhl heran und
setzte sich neben ihn. Die beiden saßen eine Weile schweigend da.
Dann sagte Milah: »Du hast dem Kleinen da draußen heute keinen
Gefallen getan.«
Otah hob die Hand zu einer unterwürfig beipflichtenden Gebärde.
»Einen Jungen so zu trösten … macht ihn sicher nicht stärker. Es
ist nicht leicht, Lehrer zu sein. Man braucht eine robuste Form von
Mitleid, um ein Kind streng zu behandeln auch wenn es letztlich nur
zu seinem Besten ist.«
Otah nickte, blickte aber nicht auf. Als er antwortete, sprach er
ganz leise: »Ist bei den Schwarzkutten schon mal einer
rausgeflogen?«
»Rausgeflogen? Nein. Warum?«
»Ich habe versagt«, antwortete Otah. »Ich bin nicht stark genug,
um solche Lektionen zu erteilen.«
Milah sah auf seine Hände und dachte an seinen alten Lehrer und
an den Tribut, den eine weitere Reise an die Schule seinem Körper
abverlangen würde. Er konnte die Tragweite seiner Entscheidung
nicht ganz aus seiner Stimme verbannen, als er nun antwortete: »Ich
entbinde dich einen Monat lang von deinen Pflichten. Dieser
Zeitraum dürfte reichen, den Dai über das Vorgefallene zu
informieren und ihm Gelegenheit zu geben, zu uns zu kommen.«
»Otah«, flüsterte eine vertraute Stimme. »Was hast du getan?«

Otah drehte sich auf der Pritsche herum. Das Heizbecken glomm,
doch die Kohlen gaben zu wenig Licht, um etwas zu erkennen. Er
richtete den Blick auf die schwache Glut.
»Ich hab einen Fehler gemacht, Ansha.« So hatte er in den letzten
Tagen stets geantwortet, wenn jemand - selten genug - den Mut
aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen.
»Es heißt, der Dai kommt.«
»Vielleicht war es ja ein gravierender Fehler.«
Womöglich ist keiner je so hoch gestiegen und so tief gefallen,
dachte Otah. Vielleicht hat nie ein Unwürdigerer die Schwarzkutte
getragen. Die kahle Schneefläche kam ihm in den Sinn, über die er in
jener kalten Nacht gewandert war, in der Milah ihn in die schulische
Elite aufgenommen hatte. Jetzt begriff er, dass seine Flucht sicher
kein Zeichen von Stärke, sondern eine Vorahnung seines Scheiterns
gewesen war.
»Was hast du da bloß gemacht?«, fragte Ansha im Dunkeln.
Otah hatte wieder das Gesicht des kleinen Jungen vor Augen,
seine blutigen Hände und die Tränen der Erniedrigung, die ihm
über die schmutzigen Wangen rannen. Er, Otah, hatte dieses Leid
verursacht. Und er konnte die Scham über diese Untat nicht von der
Scham unterscheiden, zu schwach zu sein, erneut ähnliche Untaten
zu begehen. Er konnte unmöglich einem Kameraden erklären, dass
er diese Jungen nicht abzuhärten vermochte, weil er im Herzen noch
immer einer der ihren war.
»Ich war meiner Kutte nicht würdig«, erklärte er.
Ansha sagte nichts mehr, und bald hörte Otah an seinem Atmen,
dass er eingeschlafen war. Die anderen waren erschöpft von den
Mühen des Tages. Nur Otah war hellwach, nachdem er einmal mehr
ziellos und ohne Aufgaben durch die Säle und Flure der Schule
gelaufen war - und zwar in seiner Schwarzkutte, die er freilich nur
noch trug, weil er keine eigenen Sachen besaß.
Er wartete im Dunkeln, bis die letzte Glut verglommen war und er
sicher sein konnte, dass alle im Tiefschlaf lagen. Dann stand er auf,
schlüpfte in seine Kutte und trat leise auf den Gang hinaus. Zu den
unangenehm kalten Räumen, in denen die jüngeren Schüler
schliefen, war es nicht weit. Kurz darauf ging Otah zwischen den
schlafenden Kindern umher. Wie klein ihre Körper waren, wie dünn
ihre Decken! Ich trage die Schwarzkutte doch erst seit kurzem,
dachte er - wie habe ich so schnell so vieles vergessen können? Der
Junge, nach dem er suchte, lag zusammengerollt auf einer Pritsche
an der Wand und hatte dem Zimmer den Rücken gekehrt. Otah
beugte sich vorsichtig über ihn und legte ihm die Hand auf den
Mund, damit er nicht losschreien konnte. Doch das Kind erwachte
ohne jeden Laut - seine Augen öffneten sich langsam. Otah
beobachtete den Jungen, bis er sah, dass dieser ihn erkannte.
»Heilen deine Hände gut?«, fragte er flüsternd.
Der Junge nickte.
»Ausgezeichnet. Bleib ganz ruhig. Wir wollen die anderen ja nicht
wecken.«
Er zog die Hand weg, und der Junge machte sogleich eine
Gebärde tiefsten Bedauerns.
»Otah-kvo, ich habe Schande über Euch und die Schule gebracht.
Ich …«
Otah führte die Hände des Jungen sanft zusammen.
»Du hast dir nichts vorzuwerfen«, sagte er. »Ich habe einen Fehler
gemacht, und den Preis dafür werde ich bezahlen müssen.«
»Wenn ich härter gearbeitet hätte »Damit hättest du nichts
erreicht«, erklärte Otah. »Gar nichts.«

Das bronzene Tor dröhnte, und seine Flügel schwangen auf. Die
Jungen standen in Reih und Glied und waren in einer
Willkommensgebärde erstarrt, die sie Statuen gleichen ließ. Auch
Otah, der inmitten der Schwarzkutten stand, verharrte regungslos.
Er fragte sich, welche Gerüchte unter all den verstoßenen Kindern
über diesen Besuch kursierten. Wie viele Hoffnungen mochten da
keimen, zur verlorenen Familie zurückgebracht oder zum Dichter
erkoren zu werden? Träume. Nichts als Träume.
Der alte Mann trat ein. Er schien wackliger auf den Beinen denn je.
Nach der feierlichen Begrüßung segnete er alle mit seinem kaum
vernehmbaren Flüstern. Dann zog er sich mit den Lehrern zurück,
und alle Schwarzkutten bis auf Otah kümmerten sich um die ihnen
zugewiesenen Klassen. Otah kehrte auf sein Zimmer zurück, setzte
sich beklommen auf seine Pritsche und wartete darauf, zum Dai
gerufen zu werden. Lange musste er sich nicht gedulden.
»Otah« sagte Tahi von der Stubentür her. »Bring dem Dai einen
Tee.
»Aber mein Festgewand »Nicht nötig. Kümmere dich nur um den
Tee.«
Otah stand auf und machte eine unterwürfige Gebärde. Es war so
weit.

Der Dai saß schweigend da und blickte ins Kaminfeuer. Seine


Hände schienen Milah dünner als früher, seine Haut faltiger. Um
Augen und Mund verriet sein Gesicht die Anstrengungen der Reise,
doch als er Milahs Blick begegnete und eine so fragende wie
herausfordernde Gebärde machte, glaubte der, noch etwas zu
erkennen: einen Hunger oder eine Hoffnung.
»Wie steht es in der weiten Welt?«, fragte Milah. »Wir erfahren
hier wenig von den großen Städten.«
»Ich kann nicht klagen«, sagte der Dai. »Und hier? Wie machen
sich deine Jungs? »Ganz anständig, ehrwürdiger Dai.«
»Wirklich? Mitunter mache ich mir abends so meine Gedanken.«
Milah bat mit einer Gebärde um nähere Erläuterung, doch der
Alte hatte den Blick schon wieder in die Flammen gerichtet. Milah
ließ die Hände in den Schoß fallen.
Tahi kehrte zurück, brachte mit einer Gebärde Gehorsam und
Ehrerbietung zum Ausdruck und ließ sich auf seinem Stuhl nieder.
»Der Junge kommt gleich«, sagte er.
Der Dai nickte nur. Ein Blick auf Tahi zeigte Milah, dass diesen die
gleichen Sorgen plagten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe es
leise an der Tür klopfte und Otah Machi mit einem Tablett eintrat,
auf dem drei Teeschalen standen. Mit steinerner Miene setzte der
Junge das Tablett auf dem niedrigen Tisch ab und machte die
förmliche Begrüßungsgebärde.
»Eure Anwesenheit ehrt mich, ehrwürdiger Dai«, erklärte er in
angemessener Form.
Die Augen des Alten waren nun quicklebendig, und er musterte
den Jungen eindringlich. Dann nickte er, schickte Otah diesmal aber
nicht mit der Bemerkung weg, er solle sich seinen Studien widmen.
Stattdessen wies er auf den leeren Stuhl, auf dem normalerweise
Milah saß. Der Junge warf seinem Lehrer einen Blick zu, und dieser
nickte. Also nahm Otah mit allen Anzeichen nervöser Übelkeit Platz.
»Sag mir«, begann der Dai und führte dabei seine Teeschale zum
Mund, »was du von den Andaten weißt.«
Otah brauchte einige Sekunden, um sich zum Reden zu ermannen,
doch als er dann sprach, klang seine Stimme fest.
»Sie sind Gedanken, ehrwürdiger Dai, die die Dichter in eine
willensbegabte Gestalt gebracht haben.«
Der Dai nippte an seinem Tee, beobachtete den Jungen und
wartete darauf, dass er fortfuhr. Zwar empfand Otah die Stille als
Appell weiterzureden, doch er hatte offenbar nichts mehr zu sagen.
Schließlich setzte der Dai seine Teeschale ab.
»Weißt du nicht mehr über die Andaten? Wie sie gebunden
werden? Was ein Dichter zu tun hat, damit seine Schöpfung sich von
dem Werk früherer Dichter unterscheidet? Wie man einen
beschworenen Geist von einer Generation zur nächsten weitergeben
kann?«
»Nein, ehrwürdiger Dai.«
»Und warum nicht?«, fragte der Dai sanft.
»Milah-kvo sagte, mehr zu erfahren, sei gefährlich. Wir seien noch
nicht bereit, tiefere Lehren zu empfangen.«
»Richtig«, sagte der Dai, »sehr richtig. Ihr seid nur auf die Probe
gestellt und nie wirklich unterrichtet worden.«
Otah sah zu Boden. Mit aschfahlem Gesicht machte er eine reuige
Gebärde. »Es tut mir leid, versagt zu haben, ehrwürdiger Dai. Ich
hätte den Schülern zeigen müssen, wie man stark ist, und das wollte
ich auch, aber -«
»Du hast nicht versagt, Otah. Du hast auf ganzer Linie gesiegt.«
Otah blickte verwirrt auf. Milah räusperte sich, bat den Dai mit
vorsichtiger Geste, sich einmischen zu dürfen, und sagte dann: »Du
erinnerst dich sicher an unsere nächtliche Unterhaltung im Schnee,
bei der ich dir die Schwarzkutte angeboten habe. Damals hab ich dir
gesagt, die Andaten würden jeden Dichter zerstören, dessen
Gestaltungskraft und Ego schwach ausgeprägt sind.«
Otah nickte.
»Umgekehrt aber würde ein Dichter von allzu entschiedenem
Willen und allzu starkem Ego die Welt zerstören«, fuhr Milah fort.
»Ein wahrer Dichter muss einen starken Willen haben und der Welt
dennoch freundlich entgegentreten, Otah. Das ist eine sehr seltene
Verbindung.«
»Und sie wird immer seltener«, ergänzte der Dai. »Kein Junge hat
die Schwarzkutte bekommen, ohne vorher Willensstärke gezeigt zu
haben. Und keiner hat sie abgelegt, ohne vorher auf die
Grausamkeit zu verzichten, die mit Macht einhergeht. Du hast
beides getan, Otah Machi, und dich damit als würdig erwiesen. Ich
möchte dich zu meinem Schüler machen. Komm mit mir, Junge, und
ich werde dich in die Geheimnisse der Dichter einweihen.«
Otah blickte drein wie von einem Keulenschlag getroffen.
Sein Gesicht war bleich, seine Hände reglos, doch allmählich
glomm Verstehen in seinen Augen auf. Das zog sich ziemlich lange
hin, bis Tahi ungeduldig rief: »Na, Junge? Sag doch was!«
»Was ich getan habe … was ich mit dem Jungen gemacht habe …
war kein Versagen?«
»Oh nein - das war ein rühmlicher Moment in deinem Leben.«
Langsam trat ein Lächeln auf Otahs Lippen, doch es war eiskalt.
Und als er sprach, lag Zorn in seiner Stimme.
»Diesen Jungen erniedrigt zu haben, soll ein rühmlicher Moment in
meinem Leben gewesen sein?«
Milah sah Tahi die Stirn runzeln und schüttelte den Kopf, um
seinen Kollegen am Lospoltern zu hindern. Es war Sache des Dai,
dem Jungen zu antworten.
»Nein. Ihn getröstet zu haben, war ruhmreich«, sagte der alte
Mann.
»Aber ich habe ihn doch nur für das getröstet, was ich ihm
angetan habe!«
»Das ist wahr. Aber wie viele Schwarzkutten hätten das getan?
Die Schule ist so eingerichtet, dass es immer wieder zu solchen
Prüfungen kommt. So ist es seit dem Krieg, der das Reich zerstört
hat, und dieses Verfahren hat die Städte der Khais
zusammengehalten. Unsere Art der Elitenbildung hat sich als sehr
klug erwiesen.«
Langsam machte Otah eine Gebärde, die Dankbarkeit einem
Lehrer gegenüber bekundete, doch etwas daran war seltsam - in
der Stellung der Handgelenke zueinander lag eine Emotion, die
Milah nicht zu ergründen wusste.
»Wenn dieses Verhalten ruhmreich gewesen sein soll, ehrwürdiger
Dai, dann begreife ich es jetzt.«
»Wirklich?«, fragte der Alte hoffnungsvoll.
»Ja. Ich bin Euer Werkzeug gewesen. Ich war damals im Garten
nicht allein. Auch Ihr seid dort gewesen.«
»Was redest du da, Junge?«, stieß Tahi hervor, doch Otah fuhr
fort, als habe der Lehrer nicht gesprochen.
»Ihr sagt, Tahi-kvo habe mir Stärke, Milah-kvo Mitgefühl
beigebracht, doch ich habe noch mehr von ihnen gelernt. Da diese
Schule auf Euch zurückgeht, erscheint es mir nur rechtens, dass Ihr
erfahrt, was mir im Rahmen Eures Lehrplans vermittelt wurde.«
Der Dai wirkte verwirrt und schien zu schwanken, ob er den
Jungen mit einer Geste zum Schweigen bringen oder zum
Weiterreden ermuntern sollte, doch Otah war ohnehin nicht zu
bremsen. Sein Blick blieb auf den Alten geheftet, und er schien
völlig furchtlos.
»Tahi-kvo hat mir gezeigt, dass mein eigenes Urteil mein einziger
Kompass ist, und Milah-kvo hat mir vermittelt, dass halb gelernte
Lektionen nichts wert sind. Ich hatte mich entschieden, die Schule
zu verlassen, und mit dieser Entscheidung lag ich richtig. Ich hätte
mich nicht dazu verleiten lassen sollen, zurückzukehren. Mehr,
ehrwürdiger Dai, habe ich hier nicht gelernt.«
Der Junge stand auf und machte eine Abschiedsgebärde. »Otah!«,
fuhr Tahi ihn an. »Bleib sitzen!«
Der Junge kümmerte sich nicht um ihn, drehte sich um und verließ
das Zimmer. Milah verschränkte die Arme, starrte auf die Tür, die
Otah hinter sich geschlossen hatte, und wusste nicht, was er sagen
oder auch nur denken sollte. Im Kamin sackten heruntergebrannte
Kohlen unter ihrem Gewicht zusammen.
»Milah«, flüsterte Tahi.
Milah sah ihn an, und Tahi wies auf den Dai. Der alte Mann saß
reglos da und atmete kaum. Seine Hände brachten tiefstes Bedauern
zum Ausdruck.
1

Wie die steinernen Türme von Machi die kalten Städte des
Nordens dominierten, so prägte der Hafen von Saraykeht die
Sommerstädte des Südens. Die Landungsbrücken führten ins klare
Wasser der Bucht hinaus, und Schiffe aus den anderen Hafenstädten
der Khais - aus Nantani, Yalakeht und Chaburi-Tan - legten dort an.
Unter ihnen waren die gedrungenen Boote aus den Westgebieten
mit ihrem flachen Kiel, aber auch die hohen Segelschiffe der Galten
mit ihrem mächtigen Schiffsbauch, an deren Masten so viele Segel
aufgezogen waren, dass sie wie aufs Meer geflohene Trockenböden
einer Großwäscherei wirkten. In den Straßen am Hafen boten
Verkäufer aus allen Städten und Landstrichen ihre Waren auf
großen, schmalen Tischen an, die mit farbenprächtigen Tüchern und
Wimpeln bedeckt waren, und priesen den Passanten über
Möwengeschrei und Wellenrollen hinweg ihre Herrlichkeiten. Ein
Dutzend Sprachen, hundert Dialekte und unzählige abenteuerliche
Sprachmixturen waren in der heißen Windstille zu hören, und sie
kannte sie alle.
Amat Kyaan, Verwalterin des galtischen Unternehmens Wilsin,
bahnte sich am Stock ihren Weg durch die Menge, obwohl sie gut zu
Fuß war. Sie genoss das schroffe Aufeinandertreffen verschiedener
Sprachwelten, das so laut und grell vonstatten ging, als würde ein
Rudel Kinder im Sand Fangen spielen. Viele Sprachen zu
beherrschen und sich in ihnen so höflich wie bestimmt
auszudrücken, war ihre Stärke. Diese Fähigkeit war es auch
gewesen, die aus dem Mädchen, das sich verzweifelt als
selbstständige Schreiberin auf öffentlichen Plätzen der Stadt
durchgeschlagen hatte, eine Frau werden ließ, die die Farben eines
angesehenen, wenn auch ausländischen Unternehmens trug und sich
nun zwischen Menschen und zu Ballen gepresster Baumwolle
hindurchkämpfte, um sich mit ihrem Arbeitgeber zu treffen. Um
von ihrer Wohnung am Rande des Vergnügungsviertels zu Marchat
Wilsins bevorzugtem Badehaus zu kommen, hätte Amat auch
andere, nicht am Hafen entlangführende Straßen nehmen können,
doch wann immer sie sich morgens im Badehaus einzufinden hatte,
wählte sie diesen Weg, denn der Hafen war Stolz und symbolischer
Inbegriff ihrer Stadt.
Auf dem Platz am Ende des Nantan hielt sie inne. Der Nantan war
eine breite, grau gepflasterte Straße, die den westlichen Abschluss
des Lagerhausbezirks bildete. Die alte bronzene Statue von Shian
Sho, dem letzten großen Kaiser, stand mit aufs Meer gerichtetem
Blick da. Der Herrscher schien in die Erinnerung an sein verlorenes
Reich versunken, das jetzt seit acht Generationen nur mehr aus
Trümmern und verwüsteten Landstrichen bestand. Lediglich die
Städte der Khais, bis zu denen der Aufruhr nie vorgedrungen war,
standen noch in Blüte. Unterhalb des Denkmals arbeiteten junge
Männer mit nacktem Oberkörper in der Hitze und zogen Karren,
die mit weißen, öligen Baumwollballen beladen waren. Einige
lachten, andere schrien, wieder andere arbeiteten mit geradezu
erschreckendem Ernst. Manche waren Freie, die sich hier für die
Saison verdingt hatten, andere waren durch langfristige
Ausbildungs- und Arbeitsverträge an große Unternehmen oder
einzelne Kaufleute gebunden, und einige Sklaven gab es auch. Und
sie alle waren wunderschön, sogar die Dicken und Schwerfälligen.
Ihre Jugend machte sie schön. Ihr Muskelspiel wirkte kunstvoller
und verführerischer als die herrlichsten Gewänder der Khais -
vielleicht, weil dieses Spiel unbewusst vonstatten ging. Wie viele
von diesen Männern, so fragte sich Amat, würden auf die Idee
kommen, dass eine alte Frau, die nur kurz auf dem Weg zu einem
Geschäftstreffen ausruhte, sich an ihrer erotischen Ausstrahlung
weidete? Sie alle vermutlich. All diese entzückenden und doch so
eitlen Geschöpfe. Amat seufzte, hob den Stock und ging weiter.
Als die Sonne etwa eine halbe Handbreit höher gestiegen war,
erreichte Amat ihr Ziel. Die Badehäuser standen dicht an dicht ein
Stück von der Küste entfernt an den Ufern des Qiit und an den
Aquädukten, die seinem Lauf folgten. Marchat Wilsin bevorzugte
eins der kleineren Bäder, und Amat war so oft dort gewesen, dass
die Wächter sie vom Sehen kannten und mit unbeholfener Gebärde
willkommen hießen. Sie hatte oft den Verdacht, Wilsin wähle dieses
Bad als Treffpunkt, weil er dort seine sprachliche Unzulänglichkeit
eine Weile vergessen konnte. Mit einer raschen Begrüßungsgebärde
passierte Amat die Wächter und betrat das Badehaus.
Für ein ausländisches Unternehmen zu arbeiten ist nie einfach, und
Verträge und Vereinbarungen zu übersetzen, ist dabei noch das
Leichteste. Die Galten waren schlau, angriffslustig und im Krieg
erfolgreich. Ihr Territorium war so groß und fruchtbar wie das
Reich zu seiner Blüte, und entsprechend respektiert und gefürchtet
waren die Galten auch. Doch ihre Vorgehensweise, Vereinbarungen
mit Schwertern zu erzwingen und Verhandlungen durch die
Drohung mit einer Invasion oder einer Blockade zu beschleunigen,
scheiterte bei den Städten der Khais. Die Galten mochten ihre
Truppen nach Eddensea oder Bakta schicken, doch wenn es um die
Sommerstädte ging, waren sie machtlos. Mochte Galtland auch den
Rest der Welt erobern - den Andaten musste es sich dennoch
beugen. Marchat Wilsin hatte lange genug in Saraykeht gelebt, um
diese Schwäche seiner so überheblichen Landsleute zu akzeptieren.
Seinen Marotten nachzugeben und etwa Geschäftstreffen in einem
Badehaus abzuhalten, war dafür ein geringer Preis.
Drinnen war es kühler als draußen. Kunstvoll geschnitzte
Holzgitter erlaubten keine neugierigen Einblicke durchs Fenster,
ließen aber gelegentliche Windstöße passieren, in denen der Duft
von Zedern lag. Stimmen hallten von den gefliesten Böden und
Wänden wider. Irgendwo in den Gemeinschaftsräumen sang
jemand, und seine Stimme dröhnte wie eine Kirchenglocke. Amat
ging in die Frauenumkleide, schüttelte ihr Gewand ab, zog die
Sandalen aus und genoss, wie die kühle Luft ihren nackten Körper
umspielte. Sie trank kaltes Wasser aus dem großen Granitbecken
und ging dann - nackt wie alle - quer durchs Gemeinschaftsbad, in
dem Männer und Frauen lärmten, lachten und einander mit Wasser
bespritzten, zu den Privatgemächern im hinteren Teil des
Badehauses, zu Marchat Wilsins Eckzimmer genauer gesagt, das am
weitesten vom Geschrei und Gelächter entfernt lag.
»In dieser ekelhaften Stadt ist es einfach zu heiß«, brummte Wilsin,
als sie eintrat. Er lag halb eingetaucht im Becken, und das Wasser
benetzte seine weiße, üppig behaarte Brust. Er war dünner
gewesen, als sie ihm das erste Mal begegnete. Damals waren auch
sein Haupthaar und sein Bart noch dunkel gewesen. »Man könnte
meinen, jemand drückt einem ein heißes Handtuch ins Gesicht.«
»Das ist nur im Sommer so«, sagte Amat, legte ihren Stock beiseite
und ließ sich vorsichtig ins Becken gleiten. Die Wellen brachten das
schwimmende Lacktablett mit seinen Teeschalen ein wenig zum
Schaukeln. »Wenn wir auch nur etwas weiter im Norden leben
würden, würdet Ihr den ganzen Winter darüber jammern, wie kalt
es ist.«
»Das wäre wenigstens mal eine Abwechslung.«
Er hob die rosafarbige, gerunzelte Hand aus dem Wasser und
schob Amat das Tablett zu. Der Tee war frisch aufgegossen und mit
Minze versetzt. Das Wasser war kalt. Amat lehnte sich an den
gefliesten Beckenrand.
»Also, was gibt es Neues?«, fragte Marchat und beendete damit
ihr übliches morgendliches Geplänkel.
Amat erstattete Bericht. Die Dinge liefen recht gut. Die Schiffe mit
unbehandelter Baumwolle aus Eddensea waren eingetroffen und
wurden entladen. Die Verträge mit den Webern waren so gut wie
ausgehandelt; nur ein paar Unklarheiten der Übersetzung aus dem
Galtischen ins Khaiate bereiteten ihr noch Sorgen. Schlimmer
allerdings war, dass die Ernte aus den Anbaugebieten im Norden
noch nicht eingetroffen war.
»Wird sie rechtzeitig kommen, damit der Andat sich noch um sie
kümmert?«
Amat nippte erneut an ihrem Tee und verneinte.
Marchat fluchte leise. »Die Leute aus Eddensea können uns ihre
gesamte Baumwolle liefern, und wir schaffen es nicht mal, die
eigene Ernte einzufahren?«
»Offensichtlich nicht.«
»Welche Einbußen bedeutet das?«
»Unser Lager wird nur zu neunzig Prozent gefüllt sein.« Marchat
machte ein finsteres Gesicht, starrte vor sich hin und schien Zahlen
zu sehen und in der leeren Luft wie in einem Buch zu lesen. Kurz
darauf seufzte er.
»Können wir das nicht mit dem Khai besprechen und unsere
Lieferbedingungen der veränderten Lage anpassen?«
»Das wäre völlig sinnlos.«
Marchat räusperte sich nervös. »Darum mache ich so ungern mit
euch Geschäfte. In Eymond oder Bakta würde man wenigstens
miteinander reden.«
»Weil es dort Soldaten gibt, die Eurem Anliegen mit Waffen
Nachdruck verleihen«, entgegnete Amat trocken.
»Genau. Und darum würden die Leute nachsehen, ob in dem
einen oder anderen Unternehmen nicht zu viel Baumwolle lagert«,
sagte Marchat.
Chadhami lagert sicher zu viel davon. Aber Tiyan und Yaanani
konkurrieren um einen Vertrag mit einem Auftraggeber im Westen.
Der Schnellere könnte ihn bekommen. Wir könnten ihm den
früheren Einsatz des Andaten schmackhaft machen und später,
wenn unsere Ernte eingetroffen ist, einen Teil seines Lagers in
Anspruch nehmen.«
Marchat dachte über diesen Vorschlag nach. Dann debattierten sie
eine Zeit lang über die Geschäftsstrategie des Unternehmens und
sprachen darüber, welches Zweckbündnis sie eingehen sollten und
wie sie es im Bedarfsfall möglichst gewinnbringend brechen
könnten.
Amat wusste natürlich weit mehr als das, was sie sagte. Schließlich
war es ihre Aufgabe, an alle Belange des Unternehmens zu denken,
ihren Arbeitgeber mit den notwendigen Fakten zu versorgen und
sich darüber hinaus um alles, was ihm nicht zur Kenntnis gekommen
war, selbst zu kümmern. Im Mittelpunkt des Ganzen stand natürlich
der Baumwollhandel. Das komplizierte Geflecht aus Webern,
Färbern, Segeltuchmachern, Spediteuren, Rohstoffproduzenten und
Alaunlieferanten hatte Saraykeht zu einer der reichsten Städte der
Welt werden lassen. Und wie allen Städten der Khais drohte
Saraykeht kein Krieg - anders als Galtland, Eddensea und Bakta,
anders auch als den Westgebieten und den Östlichen Inseln. Es
waren die Dichter und ihre Macht, die die Städte der Khais
beschützten, und dieser Schutz ließ Zusammenkünfte wie diese zu,
bei denen das todernste Spiel von Handel und Wandel gespielt
wurde.
Nachdem sie ihre Entscheidungen gefällt und sich über die
Einzelheiten verständigt hatten, vereinbarte Amat einen Zeitpunkt,
zu dem sie ihre Unterlagen zu Marchats Anwesen bringen würde.
Seine Geschäfte vom Badehaus aus zu erledigen war eine Marotte,
die Wilsin nicht überstrapazieren sollte, und Wasser auf frisch
aufgesetzte Verträge tropfen zu lassen, war für Amat absolut
inakzeptabel. Sie wusste, dass ihm das klar war. Als sie sich aus
dem Becken erheben wollte, um sich an ihr übriges Tagwerk zu
machen, bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, sitzen zu
bleiben.
»Eine Sache noch«, sagte er. Sie ließ sich wieder ins Wasser gleiten.
»Ich brauche gegen Mitternacht einen Leibwächter. Es ist nichts
Ernstes. Er soll mir nur den Rücken freihalten.«
Amat neigte den Kopf zur Seite. Marchats Stimme hatte ruhig und
gelassen geklungen, doch er wich ihrem Blick aus. Sie machte eine
fragende Gebärde.
»Ich hab ein Treffen. In der Vorstadt.«
»Geschäftlich?«, fragte sie.
Er nickte.
»Verstehe«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Also komme ich
gegen Mitternacht vorbei.«
»Nein. Amat, ich brauche einen unserer Schläger, um mir Tiere
und dunkles Gesindel vom Leib zu halten. Eine Frau mit Stock nutzt
mir gar nichts.«
»Ich bringe einen Leibwächter mit.«
»Schick ihn mir - das reicht«, sagte Wilsin mit einer Stimme, die
keinen Widerspruch duldete. »Ich kümmere mich dann schon
darum.«
»Wie Ihr meint. Seit wann macht das Haus Wilsin hinter meinem
Rücken Geschäfte?«
Marchat verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf und murmelte so
leise vor sich hin, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Dann seufzte
er und schlug dabei solche Wellen, dass Tee aus den Schalen
schwappte.
»Es handelt sich um eine heikle Sache, Amat. Und damit genug.
Ich kümmere mich persönlich darum. Ich weihe dich ja, so weit es
geht, in alle Einzelheiten des Geschäfts ein, aber…«
»Aber?«
»Es ist schwierig. Es gibt bei diesem Geschäft ein paar Dinge, über
die ich … Stillschweigen bewahren muss.«
»Warum?«
»Weil es um den traurigen Eingriff geht«, sagte er. »Das Mädchen
ist bereits unübersehbar schwanger. Und bei dieser Sache gibt es
einiges, das ich diskret behandeln muss.«
Amat spürte einen starken Widerwillen, antwortete aber völlig
ruhig: »Verstehe. Gut. Wenn Ihr glaubt, meiner Verschwiegenheit
sei nicht zu trauen, hättet Ihr darüber wohl am besten gar nicht erst
mit mir reden sollen. Vielleicht sollte ich Euch einen Nachfolger für
mich empfehlen.«
Marchat schlug unwillig mit der flachen Hand aufs Wasser. Amat
verschränkte die Arme. Was sie gesagt hatte, war ein Bluff
gewesen, denn sie beide wussten, dass das Unternehmen ohne sie in
größte Probleme geriete und Amat sich erheblich verschlechtern
würde, wenn sie ihren Posten bei Marchat aufgäbe. Ihre Drohung
war also nicht ernst gemeint. Doch Amat war die Verwalterin des
Hauses Wilsin und mochte es nicht, wenn Geschäfte ohne ihr Wissen
abgewickelt wurden.
Marchats bleiches Gesicht lief rot an, doch sie wusste nicht, ob aus
Zorn oder Verlegenheit. »Lass es wegen dieser Sache nicht zum
Bruch zwischen uns kommen, Amat. Mir gefällt die Angelegenheit
ebenso wenig wie dir, aber ich kann nun mal nicht anders handeln.
Mir bietet sich ein Geschäft, und ich werde es abschließen. Ich bitte
Khai Saraykeht, seinen Andaten einzusetzen, sorge dafür, dass man
sich vorher und hinterher um das Mädchen kümmert, und
veranlasse, dass alle Beteiligten bezahlt werden. Ich war schon im
Geschäft, bevor du bei mir angefangen hast, klar? Und ich bin dein
Arbeitgeber. Du kannst also davon ausgehen, dass ich weiß, was ich
tue.«
»Ich wollte gerade etwas Ähnliches sagen, aber mit
entgegengesetzter Stoßrichtung. Ihr beratet Eure Geschäfte nun seit
zwanzig Jahren mit mir. Wenn Ihr in all dieser Zeit nie an mir
gezweifelt habt »Niemals.«
»Warum schließt Ihr mich dann von dieser Sache aus? Das habt Ihr
noch nie getan!«
»Wenn ich dir das sagen könnte, müsste ich dich nicht davon
ausschließen«, entgegnete Marchat. »Ich habe einfach keine Wahl -
das muss dir genügen.«
»Hat Euer Onkel darum gebeten, mich außen vor zu lassen? Oder
Eure Kundin? »Ich brauche einen Leibwächter. Und zwar um
Mitternacht.«
Amat machte eine komplexe Gebärde des Einverständnisses, in
der eine gewisse Verärgerung mitschwang, die ihm freilich
entgehen würde. Wenn Marchat sie aufgeregt hatte, griff sie gern zu
solchen Gebärden, die seine sprachlichen Fähigkeiten überstiegen.
Dann erhob sie sich, während er das lackierte Tablett heranzog und
sich Tee nachschenkte.
»Eure Kundin - könnt Ihr mir ihren Namen sagen?«, fragte Amat.
»Nein. Und jetzt geh«, sagte Wilsin.
In der Frauenumkleide trocknete Amat sich ab und zog sich an.
Als sie auf die Straße trat, schien es dort lauter und lästiger als
zuvor. Sie ging zum Anwesen des Hauses Wilsin, also bergan nach
Norden. Bei einem Wasserverkäufer musste sie haltmachen, sich ein
Glas kühles Nass kaufen und sich im Schatten ausruhen, um sich zu
sammeln. Der traurige Eingriff - also der Einsatz des Andaten bei
einem Schwangerschaftsabbruch - hatte bisher nicht zu der Art von
Geschäften gehört, denen Wilsin nachging, obwohl andere
Unternehmen mitunter als Vermittler in solchen Dingen tätig
geworden waren. Amat fragte sich, warum Marchat Wilsin sein
Geschäftsgebaren geändert hatte, warum er sich in Schweigen hüllte
und warum er sie andererseits darum gebeten hatte, einen
Leibwächter zu besorgen. Wollte er vielleicht doch - womöglich
unbewusst -, dass sie der Sache nachging?

Maati verharrte in grüßender Gebärde. Das Herz schlug ihm bis


zum Hals. Der bleichhäutige Mann umkreiste ihn langsam und
musterte seine Haltung aus schwarzen Augen bis ins letzte Detail.
Maatis Hände zitterten nicht. Er hatte jahrelang erst in der Schule
und dann mit dem Dai geübt und wusste genau, wie man Furcht
verbirgt.
Der Mann im Dichtergewand hielt an. Seine Miene zeugte von
amüsierter Anerkennung. Dann machte er mit seinen anmutigen
Fingern eine Begrüßungsgebärde, die weder besonders herzlich
noch allzu förmlich war. Daraufhin ließ Maati die Hände sinken und
erhob sich. Sein erster Gedanke nach dem langsam abklingenden
Erschrecken über das plötzliche Auftauchen seines Lehrers war,
dass er nicht damit gerechnet hatte, dass Heshai so jung und schön
war.
»Wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann kühl und streng.
»Maati Vaupathi«, antwortete er mit fester Stimme. »Einst war ich
der zehnte Sohn von Nicha Vaupathi, nun bin ich der jüngste
Dichter.«
»Ah, ein Junge aus dem Westen. Das hört man dir noch an.«
Der Lehrer setzte sich mit verschränkten Armen auf den Stuhl am
Fenster und musterte Maati weiterhin. Die Zimmer, die Maati in
den langen, sorgenvollen Tagen seines Wartens so prächtig
vorgekommen waren, schienen seit dem Eintreten des
schwarzhaarigen Mannes unversehens ärmlich. Wie eine
Blechfassung für einen vollkommenen Edelstein. Die weichen
Baumwollvorhänge, die von der Decke hingen, spielten im heißen
Luftzug des Spätnachmittags und schienen im Vergleich zur Haut
des Dichters schmutzig. Der Mann lächelte, doch sein
Gesichtsausdruck war eigentlich nicht freundlich. Maati machte eine
ehrerbietige Gebärde, wie es sich für einen Schüler seinem Lehrer
gegenüber ziemte.
»Ich bin auf Befehl des Dai zu Euch gekommen, Heshai-kvo, um
von Euch zu lernen, falls Ihr mich als Euren Schüler akzeptiert.«
»Hör bloß auf mit all den Gebärden und Verbeugungen. Wir sind
doch keine Tänzer. Setz dich. Da aufs Bett. Ich habe ein paar Fragen
an dich.«
Maati setzte sich mit feierlich abgezirkelten Bewegungen in den
Schneidersitz, wie er es stets getan hatte, wenn der Dai ihn
unterrichtete. Der Mann schien darüber amüsiert, sagte aber nichts
dazu.
»Also, Maati - wann bist du angekommen? Vor sechs Tagen?«
»Vor einer Woche, Heshai-kvo.«
»Vor einer Woche also. Und in der ganzen Zeit ist niemand
gekommen, um dich zu empfangen? Keiner hat dich an die Hand
genommen, um dir das Dichterhaus zu zeigen? Da hat der Meister
seinen Schüler ja lange vernachlässigt, findest du nicht?«
Genau dies hatte Maati mehrmals gedacht, doch das gab er nicht
zu.
»Das glaubte ich anfangs. Doch im Lauf der Zeit erkannte ich, dass
es sich um eine Prüfung gehandelt hat, Heshai-kvo.«
Ein winziges Lächeln geisterte über die vollkommenen Lippen
seines Gegenübers, und Maati empfand eine plötzliche Freude
darüber, richtig geraten zu haben. Sein neuer Lehrer bedeutete ihm
mit der Hand, er möge fortfahren, und Maati setzte sich ein wenig
aufrechter hin.
»Zuerst dachte ich, es handele sich um eine Prüfung meiner
Geduld. Doch dann kam ich zu dem Schluss, es gehe eigentlich
darum, wie ich meine Zeit verbringe. Geduldig zu sein und nur
herumzusitzen, hätte mir nichts gebracht, und der Khai besitzt die
größte Bibliothek in den Sommerstädten.«
»Du hast deine Zeit also in der Bibliothek verbracht?«
Maati machte eine bestätigende Gebärde und wusste nicht recht,
wie er den Ton seines Lehrers einschätzen sollte.
»Dies sind die Paläste von Khai Saraykeht, Maati«, sagte Heshai
plötzlich und wies aus dem Fenster auf die Grünanlagen und
Paläste, hinter denen sich lange Straßen und rot gedeckte Dächer bis
zum Meer erstreckten. »In den Häusern dort leben jede Menge
Uthkais und Höflinge. Ich schätze, hier vergeht kein Abend, an dem
nicht ein Theaterstück aufgeführt, ein Gesangskonzert gegeben oder
getanzt wird. Und du hast die ganze Zeit über Schriftrollen
gesessen?«
»Einen Abend habe ich mit ein paar Uthkais aus dem Westen
verbracht … aus Pathai. Dort habe ich gelebt, ehe ich zur Schule
gegangen bin.«
»Und du dachtest, sie könnten dir vielleicht etwas über deine
Familie erzählen?«
Das war kein Vorwurf, obwohl es einer hätte sein können. Maati
presste verlegen die Lippen zusammen und machte erneut eine
bestätigende Gebärde. Das Lächeln, das er damit bei seinem Lehrer
auslöste, schien mitfühlend.
»Und was hast du während deiner so bildungsbeflissenen Tage
aus Saraykehts Büchern gelernt?«
»Ich habe mich mit der Geschichte der Stadt und ihrer Andaten
befasst.«
Die anmutigen Finger des Mannes brachten Einverständnis zum
Ausdruck und forderten Maati zugleich auf, fortzufahren. In seinen
dunklen Augen lag ein Interesse, das dem Jungen zeigte, dass er
sich gut geschlagen hatte.
»Zum Beispiel habe ich erfahren, dass der Vorgänger des heutigen
Dai Euch hierhergeschickt hat, als es Iana nicht gelang, den Andaten
Blütenfall nach dem Tod des alten Dichters Miat zu halten.«
»Und was meinst du, warum er das getan hat?«
»Weil Blütenfall die Baumwollernte fünfzig Jahre lang beschleunigt
hat«, sagte Maati und war glücklich, die richtige Antwort zu wissen.
»Ich glaube, der Andat hat dafür gesorgt, dass die Pflanzen sich …
öffnen. So war es einfacher, die Baumwollfasern zu gewinnen. Als
er verschwand, musste die Stadt ein Verfahren entwickeln, um die
Baumwolle schneller zu ernten und daraus bessere Stoffe zu weben
als die Leute in Galtland oder in den Westgebieten, damit die
Händler sich nicht andere Erzeugermärkte suchten und die Stadt
sich nicht von Grund auf wandeln musste. Euch ist es dann
gelungen, einen Andaten zu binden, der im Norden Unfruchtbar, in
den Sommerstädten Samenlos heißt. So können die großen
Handelshäuser mit dem Khai Verträge abschließen und brauchen
den Samen nicht mehr aus der Baumwolle zu kämmen. Selbst wenn
die Ernte doppelt so lange dauert, wird die Baumwolle hier doch
schneller gesponnen als anderswo. Inzwischen schicken sogar die
anderen Länder und Städte ihre Rohbaumwolle hierher. Also lassen
sich auch Weber hier nieder, denen wiederum Färber und Schneider
folgen. So konzentrieren sich hier alle Handwerke und Gewerbe,
die sich mit Erzeugung, Verarbeitung und Handel von Baumwolle
befassen.«
»Ja. Und so behauptet sich Saraykeht und muss dafür nur ein paar
zerstochene Finger mehr und ein wenig Blut auf der Baumwolle in
Kauf nehmen«, sagte der Mann mit einer bestätigenden Gebärde,
deren Sanftheit Maati verwirrte. »Aber Blut ist schließlich nur Blut,
nicht wahr?«
Die Stille, die sich nach diesen Worten ausbreitete, wurde so
lastend, dass Maati, der sich unwohl fühlte, sie schließlich brach.
»Ich habe auch gelesen, dass Ihr die Sommerstädte von Ratten und
Schlangen befreit habt.«
Der Mann kehrte aus seiner Gedankenverlorenheit mit einer Art
Lächeln zurück. Als er antwortete, klang er amüsiert und doch so,
als würde er sein damaliges Vorgehen missbilligen.
»Ja. Um den Preis, Galten und Leute aus den Westgebieten
angezogen zu haben.«
Maatis zustimmende Gebärde fiel diesmal weniger förmlich aus als
zuvor. Seinem Lehrer schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil -
er wirkte fast erfreut darüber.
»Ich habe auch viel über all die Berufe gelernt, die mit
Baumwollhandel zu tun haben«, sagte Maati. »Und über Schifffahrt
habe ich mich ebenfalls informiert. Ich habe ein Buch übers Segeln
gelesen.«
»Aber zum Hafen bist du nicht gegangen, oder?«
»Nein.«
Der Lehrer machte eine Gebärde, in der sich Zustimmung und
Kritik die Waage hielten.
»Und all das hat sich aus einer kleinen Prüfung ergeben«, sagte er.
»Aber schließlich hast du die Schule sehr schnell hinter dich
gebracht, musst also ein Talent dafür haben, Prüfungssituationen zu
erkennen und dich in ihnen so zu verhalten, dass deine Lehrer
zufrieden sind. Sag mal, wie hast du eigentlich die kleinen
Ratespiele des Dai durchschaut?«
»Wollt Ihr … Verzeihung, Heshai-kvo, aber … wollt Ihr das
wirklich wissen?«
»Es könnte aufschlussreich sein. Vor allem, da du eigentlich nicht
darüber reden willst, stimmt’s?«
Maati machte eine entschuldigende Gebärde und hielt beim
Sprechen die Augen gesenkt, log aber nicht.
»Als ich in die Schule kam, war da ein älterer Junge, der mir etwas
erzählt hat. Wir sollten Gemüsebeete umgraben. Meine Hände
waren das ganz und gar nicht gewohnt, und ich konnte diese
Aufgabe einfach nicht bewältigen. Die Schwarzkutte, die uns
anleitete - Otah-kvo war sein Name -, war sehr verärgert über mich.
Doch als ich ihm meine blutigen Hände zeigte und sagte, ich sei
einfach nicht in der Lage zu tun, was er von mir verlange, versuchte
er, mich zu trösten. Und er hat mir gesagt, es hätte nicht geholfen,
wenn ich mich noch mehr angestrengt hätte. Kurz darauf hat er die
Schule verlassen.«
»Dann hat dir das also jemand verraten? Das kommt mir
ungerecht vor.«
»Er hat es mir ja nicht verraten. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Er
hat nur einiges über die Schule erzählt. Vor allem, dass sie nicht sei,
was sie scheine. Das brachte mich zum Nachdenken. Und dann …
»… als du gelernt hattest, die Dinge wahrzunehmen, waren sie
kaum mehr zu übersehen. Verstehe.«
»Ganz so war es nicht.«
»Fragst du dich manchmal, ob du das auch allein geschafft hättest?
Wenn dein Otah-kvo dich also nicht in die Karten hätte sehen
lassen?«
Maati errötete. Dieser Mann hatte ihm das Geheimnis, das er dem
Dai gegenüber jahrelang gewahrt hatte, gleich im ersten Gespräch
entlockt. Er war offenbar sehr schlau. Maati machte eine
bestätigende Gebärde, doch der Lehrer blickte anderswohin und
wirkte kurz verärgert oder auch bekümmert.
»Heshai-kvo? »Mir ist gerade eingefallen, dass ich etwas erledigen
muss. Komm mit.«
Maati stand auf und folgte ihm. Der Palastbezirk war größer als
das Dorf, in dem der Dai gelehrt hatte, und jedes Gebäude hier war
größer als der gesamte Schulkomplex, den Maati besucht hatte.
Gemeinsam schritten sie die breite Marmortreppe hinunter und
gelangten in einen gewölbten, lichtdurchfluteten Saal, in dem ein
Hauch von Sandelholz und Vanille lag.
»Sag mal, Maati, was denkst du eigentlich über Sklaven?«
Diese Frage war seltsam, und die Antwort, die ihm in den Sinn
kam - der Ausruf »Über so was denke ich nicht nach!« schien ihm zu
leichtfertig, als dass er sie hätte geben wollen. Stattdessen machte er
eine um Erläuterung bittende Gebärde, hielt aber weiter mit seinem
Lehrer Schritt.
»Lebenslange Abhängigkeit. Wie denkst du darüber?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann mach dir mal ein paar Gedanken.«
Sie durchquerten den Saal und kamen auf einen breiten, mit Blüten
bestreuten Weg, der bergab und nach Süden führte. Gärten voller
exotischer Blumen und herrlicher Brunnen lagen vor ihnen.
Singende Sklaven, die hinter Hecken oder einem Sichtschutz aus
Stoff verborgen waren, ließen wortlose Melodien ertönen. Die
Sonne glühte vom Himmel herab, und die vor Hitze flimmernde
Luft gab Maati das Gefühl zu schwimmen. Kaum hatten sie ihren
Spaziergang begonnen, klebte das Untergewand ihm schon
durchgeschwitzt am Körper. Er hatte nun Mühe, mit dem zügig
marschierenden Mann Schritt zu halten.
Während Maati über die Frage nachdachte, kamen Diener und
Uthkais vorbei, blieben kurz stehen und machten ehrerbietige
Gebärden. Sein Lehrer bemerkte sie und die Hitze kaum. Während
Maatis Gewand auf der Haut klebte, floss die Robe seines Begleiters
wie Wasser über Steine, und an seinen Schläfen war nicht die Spur
eines Schweißfilms zu erkennen. Maati räusperte sich.
»Menschen, die in dauernder Abhängigkeit leben, haben sich dazu
entweder im Gegenzug für den Schutz entschlossen, den ihr Herr
ihnen mit einem Vertrag gewährt, oder sind für ein Verbrechen mit
Freiheitsverlust bestraft worden«, sagte er und achtete sehr darauf,
dass seine Äußerung keine wertenden Untertöne enthielt.
»Hat der Dai dir das beigebracht?«
»Nein. Es ist nur … es ist nun mal so. Ich habe das schon immer
gewusst.«
»Und der dritte Fall? Die Andaten?«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
Der Lehrer zog die dunklen Brauen in die makellose Stirn. Dazu
lächelte er das denkbar knappste Lächeln.
»Die Andaten sind keine Verbrecher. Ehe sie gebunden werden,
haben sie keine Gestalt oder Stoßrichtung. Sie sind reine Ideen. Wie
kann eine Idee Gegenstand eines Vertrags werden?«
»Wie könnte sie sich dem widersetzen?«, wandte Maati ein.
»Für Leute, die Schweigen als Zustimmung ansehen, Junge, gibt es
eine Reihe wenig schmeichelhafter Ausdrücke.«
Sie kamen ins Zentrum der Anlage. Flache Gebäude erstreckten
sich vor ihnen, und die Wege waren nun fast so breit wie Straßen.
Rechts von ihnen ragte der Tempel breit und hoch auf. Seine schräg
abfallenden Konturen erinnerten Maati an eine fliegende Möwe. Vor
einem der Flachbauten standen jede Menge Karren. Arbeiter liefen
hin und her und sprachen miteinander. Maati sah, wie ein
Baumwollballen ins Gebäude geschafft wurde. Mit plötzlicher
Aufregung begriff er, was hier geschah. Erstmals würde er Heshai
dabei erleben, wie dieser die Kraft des Andaten anwandte.
»Na, mach dir nichts draus«, sagte sein Lehrer nun, als habe er auf
eine Antwort gewartet. »Aber Maati? Ich möchte, dass du dir später
über unser Gespräch Gedanken machst.«
Maati brachte mit einer Gebärde seinen Schülergehorsam zum
Ausdruck. Als sie näher kamen, wichen die Arbeiter und Kaufleute
beiseite, um sie durchzulassen. Auch Utkhais, die prächtige
Gewänder und teuren Schmuck trugen, waren zugegen. Maati sah
eine ältere Frau in morgenroter Robe, bei der es sich um die
persönliche Beraterin von Khai Saraykeht handelte.
»Ist der Khai etwa auch hier?«, fragte er, und seine Stimme
erschien ihm ärgerlich kleinlaut.
»Manchmal ist er zugegen. Das gibt den Kaufleuten das Gefühl, er
schenke ihnen Beachtung. Ein dummer Trick, aber anscheinend
funktioniert er.«
Maati schluckte wegen der Aussicht, den Khai zu Gesicht zu
bekommen, aber auch, weil die Stimme seines Lehrers so unbeteiligt
klang. Sie traten durchs Tor in den Flachbau. Er war groß wie ein
Lagerhaus und bis knapp unter die Decke mit Baumwollballen
gefüllt, die auf Metallrahmen lagerten, damit sie nicht den Boden
berührten. Im schmalen Mittelgang des Baus drängten sich die
Vertreter der verschiedenen Handelsunternehmen, deren Arbeiter
vor dem Gebäude warteten, und auf einem Podium stand Khai
Saraykeht, ein Mann in mittleren Jahren mit grauen Haarsträhnen
und schweren Lidern. Seine Bediensteten umgaben ihn und folgten
Befehlen, die der Khai mit so subtilen Gebärden gab, dass sie fast
nicht erkennbar waren. Beim Eintreten spürte Maati die lastende
Stille. Dann lief ein schwaches Raunen durch das Lagerhaus, doch
die Stimmen waren zu leise, als dass er einzelne Worte hätte
verstehen können. Der Khai hob die Braue und machte eine
fragende Gebärde von fast unmenschlicher Anmut.
Neben ihm stand ein dicker Mann, dessen Froschmaul vor Schreck
oder Staunen weit geöffnet war. Auch er trug das Dichtergewand.
Maati spürte, wie ihn die kühle, entschlossene Hand seines Lehrers
fest an der Schulter griff.
,,Maati«, sagte die schöne Stimme behutsam und so leise, dass nur
sie beide es hören konnten. »Es gibt da etwas, das du wissen
solltest: Ich bin nicht Heshai.«
Maati blickte auf. Die dunklen Augen sahen ihn an und blitzten
beinahe vergnügt.
»Wer seid Ihr dann? »Ein Sklave, mein Lieber. Der Sklave, den du
einmal zu besitzen hoffst.«
Dann wandte sich der Mann, der nicht sein Lehrer war, Khai
Saraykeht und dem aufgeregten Dichter zu und begrüßte sie mit
einer Gebärde, die Bekannten gegenüber angemessen gewesen
wäre, die man zufällig im Teehaus trifft, nicht aber bei den zwei
mächtigsten Männern der Stadt. Mit zitternden Händen nahm Maati
eine sehr viel förmlichere Haltung an.
»Wer ist das?«, wollte der froschmäulige Dichter wissen, der
Heshai sein musste.
»Das?«, fragte Maatis Begleiter und musterte den Jungen wie eine
Statue bei einer Ausstellung. »Ein Kind vielleicht? Oder schon ein
junger Mann von fünfzehn, sechzehn Jahren? Schwer zu sagen in
diesem Alter. Ich habe ihn in den oberen Sälen aufgelesen. Dort ist
er offenbar tagelang allein herumgestreift. Niemand scheint
Verwendung für ihn zu haben. Darf ich ihn behalten? »Heshai«,
sagte der Khai energisch. Obwohl er nicht laut sprach, klang seine
Stimme durchdringend wie die eines Schauspielers. Und der Ärger
darin ließ seine Umgebung zusammenfahren.
»Oh«, sagte der Mann neben Maati, »habe ich Missfallen erregt?
Nun, Meister, das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben.«
»Ruhe!«, stieß der Dichter hervor. Ohne es genau zu sehen, spürte
Maati seinen Begleiter erstarren. Er riskierte einen Blick auf sein
herrliches, nun aber schmerzverzerrtes Gesicht. Die anmutigen
Hände des Mannes rangen sich langsam und wie gegen große
Widerstände zu einer entschuldigenden und unterwürfigen
Gebärde durch, und sein Rücken krümmte sich in demütiger
Ehrerbietung.
»Ich komme, um Eure Wünsche zu erfüllen, Khai Saraykeht«, sagte
der Mann, der sich als der Andat Samenlos erwiesen hatte. Seine
Stimme klang honigsüß und aschgrau zugleich. »Befehlt mir, was
Euch beliebt.«
Der Khai machte eine bestätigende Gebärde, die deutliche Zeichen
von Verärgerung aufwies. Der froschmäulige Dichter sah Maati an
und winkte ihn energisch an seine Seite. Der Junge eilte zum
Podium. Der Andat bewegte sich langsamer, folgte ihm aber.
»Du hättest warten sollen«, zischte Heshai. »Um diese Zeit des
Jahres ist immer sehr viel los. Ich dachte, der Dai hätte dich mehr
Geduld gelehrt.«
Maati machte eine Gebärde tiefsten Bedauerns.
»Heshai-kvo, ich bin getäuscht worden. Ich glaubte, mein Begleiter
sei … Ich schäme mich meines Fehlers.«
»Das solltest du«, grollte der Dichter. »Hier einfach so
aufzutauchen, unangekündigt und -«
»Liebster, bester Heshai«, sagte Khai Saraykeht sarkastisch, »ich
verstehe ja, wie sehr es dich lockt, deine Sammlung um ein weiteres
Schoßkind zu erweitern. Und ich bedauere, eure Zweisamkeit zu
stören, aber …«
Der Khai wies mit großer Geste auf die Baumwollballen. Seine
Hände waren von vollkommener Schönheit und seine Bewegungen
so elegant und geschmeidig, wie Maati es noch nie gesehen hatte -
weich, beherrscht und eigentümlich beredsam.
Heshai machte rasch eine entschuldigende Gebärde und wandte
sich an den schönen Mann, der sich als Andat erwiesen hatte. Einen
Moment lang musterten die beiden einander und schienen dabei
schweigend Zwiesprache zu halten. Dann verzog Samenlos die
Lippen zu einem höhnischen Lächeln, aus dem freilich auch Trauer
sprach. Dem Lehrer lief Schweiß über den Rücken, und er begann,
wie unter einer gewaltigen Last zu zittern. Dann drehte der Andat
sich um und streckte die Arme theatralisch der Baumwolle
entgegen.
Kurz darauf hörte Maati ein leises Geräusch, das wie ein einzelner
Regentropfen klang. Dann wurden es immer mehr Tropfen, bis das
Rauschen eines unsichtbaren Wolkenbruchs das Lagerhaus erfüllte.
Maati, der hinter dem Khai und dem Dichter stand, bückte sich
vorsichtig und sah unter die Plattform, auf der die Baumwolle
lagerte. Der Holzboden war voller schwarzer Pünktchen:
Baumwollsamen.
»Es ist getan«, sagte Heshai, und Maati richtete sich rasch wieder
auf.
Der Khai klatschte in die Hände und erhob sich grazil wie ein
Tänzer. Seine Gewänder flatterten durch die Luft, als wären sie
lebendig. Einen Moment lang stand Maati einfach nur ehrfürchtig
da.
Zwei Diener zogen die Torflügel auf und stimmten einen leisen
Singsang an, mit dem sie die Kaufleute und ihre Arbeiter
herbeiriefen, damit sie nahmen, was ihnen gehörte. Die Utkhais
bezogen links und rechts des Tores Position, um für jeden
abtransportierten Ballen Steuern und Gebühren zu erheben. Der
Khai stand würdig und schön auf seinem Podium und schien viel
mehr ein Geist oder Gott zu sein als Samenlos, der dies weit eher
war.
»Du hättest warten sollen«, sagte Heshai erneut, während das
Rufen und Lärmen der Arbeiter und Kaufleute das Lagerhaus
erfüllte. »Das ist ein schlechter Auftakt für deinen Unterricht bei
mir. Ein sehr schlechter Auftakt.«
Erneut machte Maati eine entschuldigende Gebärde, doch der
Dichter, der sein Lehrer und neuer Meister war, wandte sich
ungerührt ab. Maati erhob sich langsam. Sein Gesicht war tiefrot vor
Verlegenheit und Zorn. Der Andat saß am Rand des Podiums und
hatte die knochenbleichen Hände in den Schoß gelegt. Er erwiderte
Maatis Blick, zuckte die Achseln und machte eine Gebärde des
Bedauerns, die ehrlich gemeint sein mochte, aber auch reine
Heuchelei sein konnte.
Ehe Maati sich entschieden hatte, wie er darauf reagieren sollte,
lächelte Samenlos, senkte die Hände und sah weg.

Amat Kyaan saß im ersten Stock ihrer Wohnung am Fenster und


sah auf die Stadt hinaus. Die hinter ihrem Haus untergehende Sonne
tauchte die Mauern des Vergnügungsviertels in ein warmes Rot. An
einigen Etablissements wurden schon bunte Fahnen gehisst und
Lampions aufgehängt, und die glitzernden Lichter und
schimmernden Stoffe wetteiferten mit dem Funkeln der
Glühwürmchen. Eine Obsthändlerin zog mit einer Glocke durch die
Straßen und pries ihre Ware mit sanftem Singsang an. Wie jeden
Abend rieb Amat Kyaan eine stechende Salbe an den Knien und
Fußknöcheln ein, um ihre Schmerzen zu lindern. Es war ein langer
Tag gewesen, den die zehrende Unruhe nur länger gemacht hatte,
die sie nach dem Treffen mit Marchat Wilsin befallen hatte. Und
noch immer war er nicht vorüber, denn sie musste eine weitere
unangenehme Aufgabe erledigen.
Dieses Jahr wurde sie achtundfünfzig. Das ganze Leben hatte sie
in Saraykeht verbracht. In ihrer ersten Erinnerung spann ihr Vater
gekämmte Baumwolle zu einem feinen, aber festen Faden und
summte dabei vor sich hin. Er war seit langem tot, genau wie ihre
Mutter. Ihre Schwester Sikhet war mit kaum sechzehn Jahren in den
Bordellen dieses Viertels verschwunden. Amat Kyaan stellte sich
gern vor, sie da und dort flüchtig auf der Straße gesehen zu haben:
älter und weiser geworden und in gesicherten Verhältnissen
angekommen Sie wusste freilich, dass nur ihr Wunsch, die
Schwester wohlauf zu wissen, ihr diese Bilder vorgaukelte. Die
beiden waren einander schon zu viele Jahre nicht begegnet, als dass
Amat noch an ein glückliches Wiedersehen hätte glauben können.
Mitunter hatte sie nachts den Eindruck, ihr ganzes Leben sei ein
Wiedergutmachungsversuch dafür, das Abgleiten ihrer Schwester
nicht verhindert zu haben. Und womöglich war es anfangs auch so
gewesen. Ihre Entscheidung, für ein Handelshaus zu arbeiten, und
ihr Aufstieg zu immer mehr Macht und Reichtum waren als
Ausgleich für den vermuteten Absturz der Schwester gedacht. Doch
nun war sie eine ältere Frau, und alle, denen gegenüber sie sich
vielleicht hatte rechtfertigen wollen, waren weggezogen oder tot.
Sie genoss eine soziale Stellung und einen Ruf, die ihr erlaubten,
nach Gutdünken zu handeln. Sie war niemandes Schwester,
niemandes Tochter mehr, keines Menschen Gattin oder Mutter.
Weder Familienstand noch Wohnort je geändert zu haben, hatte sie
um fast alle mitmenschlichen Beziehungen gebracht, doch diese
Einsamkeit behagte ihr durchaus.
Ein Stechkäfer lief ihr über den Arm und suchte nach einem
hübschen Plätzchen zum Blutsaugen. Sie fing und zerquetschte ihn
und schnippte ihn auf die Straße. Inzwischen waren noch mehr
Laternen angezündet worden, und vor einigen Bordellen machten
sich Sänger und Flötenspieler daran, mit ihrer Musik Männer - und
mitunter auch Frauen - in die Etablissements zu locken. Ein
Ordnertrupp aus acht missgelaunt dreinblickenden Schlägern, deren
Gewänder in den Farben der größten Bordelle gehalten waren,
stolzierte durch die Straßen. Es war zu früh, als dass viele
Betrunkene unterwegs gewesen wären. Der Trupp zog lediglich auf
und ab und blickte finster, um den eintrudelnden Freiern zu zeigen,
dass Ordnungskräfte in Reichweite waren.
Nirgendwo in den Städten der Khais war es sicherer als im
Vergnügungsviertel von Saraykeht bei Nacht, und zugleich gab es
keinen gefährlicheren Ort. Nur hier, so argwöhnte Amat, wurde nie
jemand überfallen, vergewaltigt oder ermordet - außer den Huren
und Schaukämpfern vielleicht, die in diesem Stadtbezirk ihrer
Arbeit nachgingen. Es war dafür gesorgt, dass die Besucher jede
Möglichkeit hatten, sich an exotischen Kräutern bis zur
Willenlosigkeit zu berauschen, das letzte Hemd beim Würfelspiel zu
verlieren oder ihr Geld für käufliche Liebe auszugeben und sich bei
all dem absolut sicher zu fühlen. Es war ein herrlicher, aber giftiger
Traum, den Amat liebte und zugleich hasste und der ein
wesentlicher Bestandteil ihrer Stadt war.
Das leise, vorsichtige Klopfen an der Tür erschreckte sie nicht. Sie
hatte es gleichermaßen gefürchtet wie erwartet, wandte sich um,
nahm ihren Stock und ging ins Erdgeschoss hinunter. Sie hatte die
Tür verriegelt, aber nicht aus Furcht, sondern um zu verhindern,
dass Betrunkene ihr Haus mit einem Bordell verwechselten. Sie
schob den Riegel beiseite und öffnete die Tür.
Liat Chokavi stand vor ihr und blickte mit angespannter Miene zu
Boden. Sie war ein entzückendes kleines Geschöpf, dessen
Augenfarbe an Tee mit Milch erinnerte und dessen goldene Haut
glatt wie Eierschalen war. Wenn das Gesicht des Mädchens auch ein
wenig zu rund sein mochte, um im klassischen Sinne als schön zu
gelten, so machte ihre Jugend dies mehr als wett.
Amat Kyaan hob die Linke zum Willkommensgruß, und ihr
Lehrmädchen drückte mit einer Gebärde Dankbarkeit aus,
empfangen zu werden. Ihre Körpersprache aber verriet Abwehr
und Unwohlsein. Amat unterdrückte ein Seufzen, trat einen Schritt
zurück und winkte das Mädchen ins Haus.
»Ich hatte dich früher erwartet«, sagte sie und verriegelte die Tür.
Liat ging bis zur Treppe, wandte sich dann um und bat mit sehr
förmlicher Geste um Entschuldigung.
»Ehrwürdige Lehrerin«, begann sie feierlich, doch Amat
unterbrach sie.
»Geh schon mal hoch und zünde die Kerzen an. Ich komm gleich
nach.«
Liat zögerte kurz, stieg dann aber die Treppe hoch. Amat Kyaan
hörte am Knarren der Dielenbretter, wo das Mädchen sich gerade
befand. Sie schenkte sich einen Becher Zitronenwasser ein und ging
dann langsam in den ersten Stock. Die Salbe hatte geholfen. Meist
konnte sie sich morgens einreden, sie würde den Tag ohne
Schmerzen überstehen, doch wenn der Abend dämmerte, taten ihr
doch wieder die Gelenke weh. Das Alter war ein feiger Dieb, doch
sie war noch längst nicht bereit, sich von ihm bezwingen zu lassen.
Als sie nun allerdings in ihren Arbeitsraum hinaufstieg, verlagerte
sie möglichst viel Gewicht auf den Stock.
Liat saß im Schneidersitz auf dem Polsterkissen neben Amats
Eichenschreibtisch und sah zu Boden. Die Zitronenkerzen, deren
Geruch die meisten Fliegen vertrieb, flackerten im kaum spürbaren
Luftzug. Amat setzte sich ans Fenster und ordnete ihre Gewänder
so, als wollte sie gleich an die Arbeit gehen.
»Der alte Sanya hatte offenbar mehr Einwände als sonst.
Normalerweise ist er ziemlich pünktlich. Gib mir mal seine
Korrekturen, damit wir uns die Bescherung ansehen können.« Sie
streckte die Hand aus und senkte sie dann.
»Ich hab die Verträge verloren«, flüsterte Liat gepresst. »Es tut
mir leid. Das ist allein mein Fehler.«
Amat nippte an ihrem Wasser. Die Zitrone ließ es kühler
schmecken, als es war. »Du hast sie verloren?«
»Ja.«
Amat ließ die Stille immer dröhnender werden. Das Mädchen
blickte nicht auf. Eine Träne lief ihr über die pausbäckige Wange.
»Das ist nicht gut«, sagte Amat schließlich.
»Schickt mich bitte nicht zurück nach Chaburi-Tan«, flehte das
Mädchen. »Meine Mutter ist so stolz, dass ich hier Arbeit gefunden
habe, und mein Vater würde -«
Amat hob die Hand, und das Flehen verstummte. Noch immer
hielt Liat den Blick gesenkt. Seufzend zog Amat eine Rolle Papier
aus dem Ärmel und warf sie dem Mädchen vor die Füße.
Wenigstens hatte Liat nicht gelogen.
»Ein Arbeiter hat das hier zwischen den Baumwollballen des
Hauses Innis gefunden«, erklärte Amat. »Als Belohnung hab ich ihm
deinen Wochenlohn gegeben.«
Liat nahm die Blätter, und Amat sah, wie die Anspannung von ihr
abfiel und sie geradezu in sich zusammensank.
»Danke«, sagte das Mädchen mehr zu einem Gott als zu ihr.
»Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, was geschehen wäre, wenn
diese Zahlen bekannt geworden wären. Alle Zugeständnisse, die
das Haus Wilsin Sanyas Webern im letzten Jahr abgerungen hat,
wären zunichte gewesen.«
»Ich weiß. Es tut mir leid. Wirklich.«
»Hast du vielleicht eine Idee, wie dir der Vertrag hat aus dem
Ärmel fallen können? Das Lagerhaus ist ein merkwürdiger Ort, ihn
zu verlieren.«
Liat wurde tiefrot und sah weg. Amat wusste, dass sie richtig
geraten hatte. Das hätte sie zornig machen sollen, doch sie spürte
nur wehmütiges Mitgefühl. Liat wurde bald siebzehn, und da lagen
manche Fehler einfach nahe.
»Hast du wenigstens dafür gesorgt, nicht schwanger zu werden?«
Liat sah kurz zu Amat auf, blickte so schnell wieder weg, wie eine
Maus im Loch verschwindet, und schluckte. Sogar ihre Ohrläppchen
leuchteten rot. Sie tat, als würde sie eine Fliege vom Oberschenkel
wischen.
»Ich hab von Chisen Wat ein paar Tees bekommen«, flüsterte sie
schließlich.
»Ihr Götter! Die vergiftet dich noch aus Versehen! Geh zu Urrat in
der Perlenstraße. Bei der bin ich immer gewesen. Bestell ihr einen
schönen Gruß von mir.«
Liat schwieg, wich Amats Blick aber nicht mehr aus. Offenbar
hatte die Verwalterin das Mädchen schockiert. Und als Amat spürte,
wie auch ihr das Blut in die Wangen schoss, merkte sie, dass ihre
Worte sie selbst ein wenig erschreckt hatten. Sie machte eine
fragende Gebärde.
»Was denn? Glaubst du, zu meiner Zeit sei körperliche Liebe noch
nicht erfunden gewesen? Geh zu Urrat. Vielleicht können wir dich
vor den schlimmsten Folgen jugendlicher Dummheit bewahren. Wie
konntest du nur den Vertrag in deinem Liebesnest verlieren! Wer ist
eigentlich der Glückliche? Noch immer Itani Noyga?«
»Itani ist mein Herzblatt!«, protestierte Liat.
»Natürlich - was sonst?«, seufzte Amat.
Dieser Itani sah gut aus. Amat hatte ihn einige Male gesehen, als
sie Liat von ihm und seinen Kumpanen loseisen musste. Er hatte ein
schmales Gesicht und breite Schultern und war womöglich etwas zu
klug, um den ganzen Tag nur körperliche Arbeit zu leisten. Er
konnte lesen, schreiben und rechnen, und wenn er ehrgeiziger
gewesen wäre, hätten sich für einen Jungen wie ihn sicher
anspruchsvollere Tätigkeiten finden lassen.
Amat runzelte die Stirn, und ihr Körper war bereits angespannt,
ehe der Gedanke ihr recht bewusst geworden war. Itani Noyga mit
den breiten Schultern und den starken Beinen! Natürlich konnte
man dem noch ganz andere Arbeiten geben: Wildhunde vertreiben
zum Beispiel; oder Straßenräuber dazu bringen, leichtere Beute als
Marchat Wilsin zu jagen. Marchat kontrollierte sicher nicht, mit wem
seine Arbeiter das Bett teilten.
Und das Bett war mitunter der beste Platz zum Reden. »Amat-
cha? Ist alles in Ordnung?«
»Wo ist Itani jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich auf seiner Stube. Oder im Teehaus.«
»Meinst du, du findest ihn?«
Liat nickte. Amat wies auf Papier, Tinte und Feder, und das
Mädchen stand auf und brachte ihr alles ans Fenster. Die
Verwalterin nahm ein Blatt, sammelte sich und schrieb. Die Feder
kratzte wie Vogelkrallen auf dem Pflaster.
»Ich möchte, dass Itani etwas erledigt. Marchat Wilsin braucht
heute Abend einen Leibwächter. Er hat um Mitternacht eine
Besprechung in der Vorstadt und will, dass ihn jemand begleitet. Ich
weiß nicht, wie lange das Treffen dauert, gehe aber nicht davon aus,
dass es schnell vorbei ist. Ich werde seinem Aufseher sagen, dass er
ihm morgen freigeben soll.«
Sie nahm ein zweites Blatt Papier, tauchte die Feder ins Tintenfass
und begann einen weiteren Brief. Liat hatte sich über ihre Schulter
gebeugt und las Wort für Wort mit.
»Ich möchte, dass du Rinat Lyanita diese Nachricht bringst, wenn
du Itani gefunden hast«, sagte Amat. »Mag sein, dass Itani nicht klar
ist, dass, er zu erscheinen hat, doch Rinat ist sicher zur Stelle.
Marchat darf keinesfalls vergeblich auf einen Leibwächter warten.«
»Ja, Amat-cha, aber Amat blies über die Tinte, damit sie schneller
trocknete. Liat fand keine Worte und verzichtete auch auf eine
Gebärde, doch die senkrechte Falte zwischen den Brauen sprach
Bände. Amat strich vorsichtig über die Tinte und stellte fest, dass
sie kaum noch schmierte. Das musste reichen. Sie faltete die
Anweisungen und versiegelte sie mit Wachs, da zum Zunähen der
Briefe keine Zeit blieb.
»Sprich«, sagte sie. »Und hör auf, so ein finsteres Gesicht zu
machen. Davon bekommst du nur Kopfweh.«
»Ich bin schuld, Amat-cha. Itani kann nichts dafür, dass ich den
Vertrag verloren habe. Ihn für meinen Fehler zu bestrafen, ist »Das
ist keine Strafe, Liat-kya. Ich brauche ihn nur für diese Gefälligkeit.
Und wenn er morgen wiederkommt, soll er dir alles über seinen
nächtlichen Einsatz erzählen. Wo genau er hingegangen ist, wer bei
der Besprechung zugegen war und wie lange sie gedauert hat. Er
soll dir alles sagen, woran er sich erinnern kann. Aber er soll es nur
dir erzählen, keinem sonst. Und dann berichtest du es mir.«
Liat nahm die beiden Schreiben und schob sie in ihren Ärmel. Die
Falte stand noch immer zwischen ihren Brauen. Amat verspürte
kurz den Impuls, sie mit dein Daumen zu glätten wie einen Knick im
Papier. Das Mädchen macht sich einfach zu viele Gedanken,
überlegte sie. Aber vielleicht ist das ja auch eine wirklich dumme
Idee von mir. Vielleicht sollte ich die beiden Anweisungen wieder
zurückfordern? Doch dann würde sie nicht herausfinden, welches
Geschäft Marchat Wilsin hinter ihrem Rücken betrieb.
»Kannst du das für mich tun, Liat-kya? »Natürlich, aber … geht da
vielleicht irgendetwas vor, Amat-cha?«
»Ja, allerdings, aber das soll dich nicht belasten. Tu einfach,
worum ich dich gebeten habe. Ich kümmere mich um den Rest.«
In Liats zustimmender Gebärde lag zugleich die Bitte, gehen zu
dürfen. Amat entließ sie mit der Dankesgeste, die sich für eine
Ausbilderin einem Lehrling gegenüber ziemte. Liat ging die Treppe
hinunter, trat auf die Straße und zog die Tür vernehmlich hinter sich
zu. Draußen waren die Glühwürmchen nun besser zu sehen, da die
Stadt schon in tiefer Dämmerung lag. Amat blickte auf die Straße
hinunter: Der Feuerhüter mit seinem Ofen saß an der Straßenecke,
und Gruppen junger Männer zogen ins Vergnügungsviertel, um
Silber- und Kupfermünzen gegen ein flüchtiges Vergnügen zu
tauschen. Und dann sah sie Liat Chokavi forschen Schrittes in die
Gegenrichtung streben, zu den Lagerhäusern und den Quartieren
der Arbeiter, den Färbereien und Webereien.
Amat blickte dem Mädchen nach, bis es um eine Ecke
verschwunden und nicht mehr zurückzurufen war Dann ging sie die
Treppe hinunter und verriegelte die Haustür.
2

Der Grenzbogen an der Landstraße Richtung Osten lag nicht weit


von Wilsins Anwesen entfernt. Sie erreichten ihn zu Fuß in der Zeit,
die die Mondsichel brauchte, um zwei Fingerbreit zu steigen.
Zunächst breiteten sich noch Gebäude und Straßen in der
savannenhaften Landschaft mit ihren da und dort aufragenden
Bäumen aus, doch mit dem Durchqueren des grauen Steinbogens,
der baumhoch und breit genug war, drei Karren gleichzeitig
passieren zu lassen, blieb die Stadt zurück.
»Wir Galten hätten eine Stadtmauer errichtet«, sagte Marchat.
Sein junger Begleiter Itani machte eine fragende Gebärde.
»So eine Mauer umgibt die ganze Stadt und bietet in Kriegszeiten
Schutz«, erläuterte Marchat. »Anders als deine Vorfahren hatten wir
keine Andaten, die uns beschützen konnten. In meiner Geburtsstadt
Kirinton mussten alle, die etwas angestellt hatten, die Stadtmauer
ausbessern.«
»Das dürfte nicht angenehm gewesen sein«, erwiderte Itani.
»Was passiert in Saraykeht, wenn ein Kind beim Pasteten-klau
erwischt wird?«
»Keine Ahnung.«
»Warst du denn immer brav?«
Itani strahlte. »Jedenfalls wurde ich fast nie erwischt.«
Marchat musste lachen. Wir geben ein seltsames Paar ab, dachte
er. Ich alter Galte mit meinem Gehstock, der mir als Stütze dient,
wenn nötig aber auch dazu, Hunde zu vertreiben, und daneben
dieser breitschultrige, ungemein kräftige junge Mann in der rauen
Leinenkluft eines Arbeiters. Hoffentlich wirken wir nicht so seltsam,
dass wir Aufmerksamkeit erregen.
»Du heißt mit Nachnamen Noyga, nicht? Und du gehörst zu
denen, die unter Leitung von Muhatia arbeiten, stimmt’s? »Muhatia
ist ein guter Chef«, sagte Itani unaufgefordert. »Ich habe gehört, er
sei ein Widerling.«
»Das auch«, bestätigte Itani und klang dabei so aufgeräumt wie
zuvor. »Nur wenige arbeiten gern für ihn. Er hat eine scharfe Zunge
und mag absolut keine Verzögerungen.«
»Aber du kommst gut mit ihm klar, was?«
Itani zuckte die Achseln. Auch das sprach aus Marchats Sicht für
ihn. Der Junge mochte seinen Aufseher offenkundig nicht, nutzte
aber nicht die Gelegenheit, beim Herrn des Hauses über ihn
herzuziehen. Das war aus mehr als einem Grund gut. Auf Itanis
Verschwiegenheit vertrauen zu können, ließ Marchat den Abend
etwas weniger ekelhaft erscheinen.
»Was war noch anders in Kirinton?«, fragte Itani, und im Gehen
erzählte Marchat ihm mancherlei über das Galtland seiner Kindheit,
über den Krieg gegen Eymond, die Brombeerernte und die
Freudenfeuer zur Wintersonnenwende, bei denen die Leute ihre
Sünden den Flammen übergaben. Der Junge hörte aufmerksam und
verständnisvoll zu. Natürlich versuchte er wohl nur, sich
einzuschmeicheln, doch das tat er gut, und bald spürte Marchat halb
vergessene Erinnerungen schmerzvoll in sich aufsteigen. Einst hatte
er eine Heimat gehabt, doch dann hatte sein Onkel ihn nach
Saraykeht geschickt.
Auf der Straße war kaum etwas los, vor allem nicht tief in der
Nacht. Die Dunkelheit machte erst das unebene Pflaster, dann den
zerfurchten Weg tückisch; Fliegen und Nachtwespen, die der
angenehm kühle Abend aus dem Hitzedämmer gerissen hatte, fielen
in Schwärmen über sie her. Zikaden sangen in den Bäumen, und die
Luft roch nach Lindenblüten und aufziehendem Regen. Niemand in
den wenigen Häusern, in denen noch Kerzen oder Lampen
brannten, schien sich für die beiden Fußgänger zu interessieren, und
es dauerte nicht lange, bis sie auch die letzten Spuren Saraykehts
hinter sich gelassen hatten. Hohe Gräser wucherten bis an den
Fahrweg heran, und zweimal waren ein paar Männer gruß- und
blicklos an ihnen vorbeigegangen. Einmal hatte sich etwas Großes
im Gras bewegt, war aber nicht hinaus auf die Straße getreten.
Als sie sich der Vorstadt näherten, spürte Marchat, dass sein
Begleiter langsamer wurde und zu zögern schien. Er wusste nicht,
ob der junge Mann sich von seiner eigenen, stetig zunehmenden
Furcht anstecken ließ oder aus einem anderen Grund zögerte. Kaum
tauchte das erste Licht der Unterstadt aus der Dunkelheit auf,
begann Itani zu reden.
»Marchat-cha, ich frage mich schon die ganze Zeit …«
Marchat wollte ihn mit einer Gebärde zum Weiterreden
ermuntern, doch der Gehstock machte das schwierig. Also fragte er:
»Ja?«
»Mein Vertrag läuft bald aus.«
»Wirklich? Wie alt bist du denn?«
»Zwanzig, aber ich bin früh in Euren Dienst getreten.«
»Allerdings. Wie alt warst du da? Fünfzehn?«
»Es gibt da ein Mädchen«, sagte der junge Mann und war so
verlegen, dass er Mühe hatte, Worte zu finden. »Sie ist … na ja, sie
ist keine Arbeiterin. Ich glaube, es ist ein Problem für sie, dass ich
einer bin. Ich bin kein Gelehrter oder Übersetzer, aber ich kann
schreiben, lesen und rechnen. Ich habe überlegt, ob Sie nicht eine
Stelle für mich wüssten, wo ich diese Kenntnisse anwenden kann.«
Trotz der Dunkelheit erkannte Marchat, dass der Junge die Hände
zu einer ehrerbietigen Gebärde verdreht hatte. Daher also dein
Zögern, dachte er und fragte: »Und du glaubst, sie liebt dich mehr,
wenn du eine bessere Stelle hast?«
»Es würde die Dinge für sie leichter machen.«
»Und für dich?«
Wieder lächelte der Junge, zuckte diesmal aber die Achseln dazu.
»Ich lade Lasten auf und ab. Das ist manchmal anstrengend, aber
schwer ist es nicht.«
»Im Moment fällt mir keine Aufgabe für dich ein. Aber ich werde
sehen, was sich da machen lässt.«
»Vielen Dank, Wilsin-cha.«
Sie gingen weiter. Das Licht vor ihnen gewann langsam Konturen.
Ein Hund schlug an, doch sein Bellen war so weit entfernt, dass sie
nicht beunruhigt waren.
»Sie hat dir gesagt, du sollst mich fragen, stimmt’s?«, wollte
Marchat wissen.
»Ja«, gab Itani zu und klang nicht mehr angespannt »Liebst du sie
denn?«
»Ja. Ich möchte, dass sie glücklich ist.
Das ist nicht das Gleiche, dachte Marchat, sagte aber nichts. Auch
er war schließlich einmal jung gewesen und wusste, dass es keinen
Sinn hatte, in diesen Dingen Druck auszuüben. Außerdem waren sie
inzwischen in der Vorstadt angekommen.
Hier waren die Straßen schlammig und rochen mehr nach Mist
und Dreck als nach Lindenblüten. Die Häuser mit ihren
verrottenden Strohdächern und ihren Wänden aus unbehauenem
Stein standen kreuz und quer zum Weg. Zwei Querstraßen weiter -
und damit fast schon in der Mitte der Siedlung - öffnete sich ein
schäbiger Platz, an dem ein lang-gestrecktes, niedriges Haus stand,
neben dessen Eingang eine Laterne am Haken hing. Marchat gab
Itani ein Zeichen.
»Warte hier auf mich. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
Itani nickte bestätigend und strahlte weder Bedenken noch
Widerwillen aus. Einen derartigen Gehorsam hätte Marchat nicht
einmal sich selber abverlangt, falls ihm jemand aufgetragen hätte, in
tiefster Nacht auf dieser ekelhaften Straße eine unbestimmte Zeit
lang Wache zu stehen. Mögen die Götter dich schützen, du armer
Kerl, dachte er. Und mich auch.
Drinnen war es düster. Die Decke war niedrig, und obwohl die
Zimmer recht groß waren, vermittelte das Haus einen sehr beengten
Eindruck. Es war wie in einer Höhle. Das lag teils daran, dass es
modrig und nach abgestandenem Wasser roch, teils an den dunklen
Eingängen und schwarzen Bögen, die tiefer ins Gebäude führten.
An einer Wand stand ein niedriger Tisch, an dem zwei Männer
lehnten. Der Größere von ihnen - ein stiernackiger Rabauke mit
einem langen Messer am Gürtel - musterte Marchat. Der andere
hatte ein rundes Gesicht, wirkte freundlich und hieß ihn mit einem
Nicken willkommen.
»Oshai«, sagte Marchat zur Begrüßung.
»Willkommen in unserem bescheidenen Quartier«, antwortete der
Mann mit dem Mondgesicht. Marchat mochte sein Lächeln nicht,
denn es erschien ihm wie die Freundlichkeit eines Menschen, der
einem auf ein sinkendes Schiff hilft.
»Ist er hier?«, fragte er.
Oshai wies mit dem Kopf auf eine Tür, die noch weiter im
Halbdunkel lag, deren Umriss aber vom Schein einer dahinter
brennenden Kerze erhellt wurde. Handwerkliche Schlamperei,
dachte Marchat.
»Er wartet schon«, sagte Oshai.
Marchat brummte etwas zur Antwort und ging tiefer ins
Halbdunkel. Feuchtigkeit hatte das Holz faulen lassen, und die
verzogene Tür hing wackelig in den Angeln. Marchat musste sie an
der Klinke anheben, um sie wieder zu schließen. Das
Besprechungszimmer war kleiner, besser beleuchtet und ruhig. In
einer Nische stand eine Nachtkerze, die bereits deutlich über die
Hälfte niedergebrannt war. Weitere Kerzen flackerten auf einem
kleinen Tisch, an dem auch der Andat saß. Samenlos. Marchat
bekam eine Gänsehaut, als dieses Wesen ihn musterte und den Blick
seiner schwarzen Augen langsam über ihn gleiten ließ. Selbst unter
günstigsten Bedingungen war die Begegnung mit Andaten
zermürbend.
Marchat machte eine Begrüßungsgebärde, und der Andat tat es
ihm gleich. Dann schob er Wilsin einen Stuhl hin und forderte ihn
mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Marchat ließ sich
nieder.
»Du hast ohne Wissen des Dichters herkommen können?«, fragte
er.
»Der große Dichter von Saraykeht verbringt den Abend im Suff -
wie immer«, antwortete Samenlos heiter und aalglatt. »Dem ist es
egal, wo ich bin und was ich treibe.«
»Und die Frau ist angekommen?«
»Ja. Oshai sagt, sie ist genau richtig: gutmütig, fügsam und absolut
leichtgläubig. Die wird kaum Ärger machen und davonlaufen wie
die Letzte. Und sie kommt aus Nippu.«
»Aus Nippu?«, fragte Marchat und verzog den Mund. »Das ist
doch eine völlig verschlafene Insel. Meinst du nicht, das könnte
Misstrauen erwecken? Warum sollte so ein Bauerntrampel von einer
halbwilden Insel bis nach Saraykeht reisen, nur um ein Kind
loszuwerden?«
»Euch wird schon ein guter Grund einfallen«, erwiderte Samenlos
und wischte Marchats Einwand beiseite. Wichtig ist, dass sie nur die
Sprachen der Inseln im Osten beherrscht. Wenn sie aus einer
richtigen Hafenstadt käme, würde sie vielleicht eine zivilisierte
Sprache können. Stattdessen werdet Ihr Oshai als Übersetzer
beschäftigen. Es dürfte kein Problem sein.«
»Vielleicht beherrscht meine Verwalterin ja Nippu.«
»Und Ihr könnt diese Aufgabe niemandem geben, der kein Nippu
kann?«, fragte Samenlos spöttisch. » Sind etwa all Eure Mitarbeiter
begnadete Übersetzer?«
»Wer ist denn der Vater?«, fragte Marchat, um das Thema zu
wechseln.
Samenlos machte eine so anmutige wie unbestimmte Geste.
»Wer weiß? Ein Fischer? Ein Händler? Ein Reisender, der sie
verführt hat? Keiner jedenfalls, der sich der Vaterschaft bewusst
wäre oder sich um Mutter und Kind kümmern würde. Außerdem ist
der Vater unwichtig. Wie sieht’s denn auf Eurer Seite aus?«
»Alles ist bereit. Die Bezahlung haben wir schon zusammen: Perlen
vor allem und hundert Silberstücke - Dinge, mit denen man auf den
Östlichen Inseln zu bezahlen pflegt«, sagte Marchat. »Und es gibt
keinen Grund, warum der Khai sich näher mit dieser Sache
beschäftigen sollte, ehe sie über die Bühne gegangen ist.«
»Ausgezeichnet«, sagte Samenlos. »Dann sorgt für ein Gespräch
mit dem Khai. Wenn alles gutgeht, müssen wir zwei uns nicht mehr
treffen.«
Marchat wollte schon mit einer Gebärde zum Ausdruck bringen,
wie recht ihm das wäre, fragte sich dann aber, ob Samenlos das
missverstehen würde. Er merkte, dass dem Andaten sein Zögern
aufgefallen war und er mit einem dünnen Lächeln darauf reagierte.
Marchat wurde rot und ließ die Hände wieder sinken.
»Es wird doch wohl funktionieren?«, fragte er.
»Das ist nicht mein erstes Kind … Ich bin dafür geschaffen,
Wilsin.«
»Ich bezweifle auch nicht, dass du es kannst. Ich möchte nur
wissen, ob diese Sache Heshai wirklich das Genick bricht. Denn falls
das kleine Drama, das wir hier einfädeln, nicht funktioniert … falls
es auch nur die geringste Chance gibt, dass es scheitert und der
Khai herausfindet, dass die Galten sich verschworen haben, um ihn
seines kostbaren Andaten zu berauben, könnte das unabsehbare
Folgen haben.«
Samenlos beugte sich auf seinem Stuhl vor und blickte ins Leere.
Marchat hatte mal gehört, dass Andaten nur zum Sprechen Atem
holten. Er beobachtete den reglosen Brustkorb des schweigenden
Andaten einige Zeit lang. Das Gerücht schien zu stimmen.
Schließlich atmete der Geist ein und sagte: »Heshai ist drauf und
dran, ein Kind zu töten, das die Mutter austragen will. Es gibt
nichts Schlimmeres, jedenfalls nicht für ihn. Er wird das Strahlen in
den Augen des Inselmädchens verlöschen sehen, und ihm wird klar
sein, dass dies ohne ihn nicht geschehen wäre. Ihr wollt wissen, ob
ihn das zerstören wird? Wilsin-cha - es wird ihn brechen wie einen
morschen Zweig!«
Sie schwiegen einen Moment. Die nackte Gier auf dem Gesicht des
Andaten ließ Marchat nervös auf dem Hocker hin und her rutschen.
Schließlich lehnte Samenlos sich grinsend zurück, als hätten sie nur
über die Zuckerernte gesprochen.
»Wenn der Dichter am Ende ist, seid Ihr mich los, und das wollt
Ihr ja«, sagte der Andat. »Ich bin dann nicht mehr vorhanden - also
kann mir alles egal sein. So haben wir beide was davon.«
»Du hörst dich an wie ein Selbstmörder«, erwiderte Marchat. »Du
sehnst dich offenbar nach dem Tod.«
»Irgendwie schon«, pflichtete Samenlos ihm bei. »Aber der Tod
bedeutet für mich nicht das Gleiche wie für Euch. Andaten sind
anders als Menschen.«
»Allerdings.«
»Wollt Ihr das Mädchen sehen? Sie schläft nebenan. Wenn Ihr leise
seid …«
»Nein, danke«, sagte Marchat und stand auf. »Ich regle die
Einzelheiten mit Oshai, wenn ich weiß, warum die Audienz beim
Khai stattfindet. Oshai und ich werden das schon hinbekommen. Es
wäre gut, wenn ich das Mädchen bis zur Audienz nicht sehen
würde.«
»Wie Ihr wollt«, erwiderte Samenlos und machte eine Gebärde der
Zustimmung, die zugleich eine Verabschiedung war.
Die Nacht schien kühler geworden. Marchat stieß seinen Stock auf
den Boden, als wollte er Dreck davon abschütteln. Tatsächlich aber
wollte er nur Schmerz in den Fingern spüren. Eine Art Angst lag
ihm schwer auf der Brust. Dieses Geschäft war durch und durch
verkommen. Verkommen, verwerflich und gefährlich. Und wenn er
etwas unternähme, um es zu verhindern? Was dann? Der Galtische
Rat würde ihn töten lassen, das war gewiss. Er konnte es nicht
verhindern. Er konnte nicht mal einen anderen seine Rolle
übernehmen lassen.
Durch diese Sache musste er durch. Wenigstens hatte er Amat
nicht mit hineingezogen.
»Ist alles gut gelaufen?«, fragte Itani.
»Voll und ganz«, log Marchat und schritt forsch in die Dunkelheit.
Amat Kyaan hatte gehofft, vor der großen Tageshitze beginnen zu
können. Liat war früh genug mit der Geschichte von Itanis
nächtlichem Vorstadtausflug zu ihr gekommen, hatte aber nur
bruchstückhafte Einzelheiten zu berichten gewusst. Marchat und der
junge Mann waren erst zurückgekehrt, als die Nachtkerze schon zu
drei Vierteln heruntergebrannt war, und der Bericht, den Itani Liat
gegeben hatte, war längst nicht so ausführlich gewesen, wie er wohl
ausgefallen wäre, wenn er gewusst hätte, welchem Zweck seine
Darstellung diente. Wenigstens ging aus seiner Schilderung hervor,
welche Vorstadt und welches Haus die beiden besucht hatten.
Mit diesem Wissen war es nicht allzu schwer gewesen, den
Mietvertrag für das Gebäude aufzustöbern und festzustellen, dass
die Miete nicht über das Unternehmen, sondern aus Wilsins
Privatvermögen bezahlt wurde. Auch gab es Briefe, in denen recht
allgemein von einem Mädchen und einer Reise nach Saraykeht die
Rede war, doch all dies herauszufinden, hatte Amat den Großteil
des Vormittags gekostet. Als sie schließlich auf der Straße zur
östlichen Vorstadt war und der Grenzbogen schon ein gutes Stück
hinter ihr lag, spürte sie, dass sie immer ärgerlicher wurde. Schweiß
rann ihr den Rücken herab, und die kaputte Hüfte tat ihr bereits
weh.
In der Morgenkühle vor Sonnenaufgang wäre es vielleicht ein
angenehmer Spaziergang gewesen. Im hohen Gras sangen die
Zikaden, und die Bäume standen im schönsten Blätterkleid. Doch zu
dieser Tageszeit war Amat völlig verschwitzt, und die Sonne lastete
auf ihren Schultern. Und der Rückweg würde noch schlimmer
werden - dessen war sie gewiss.
Die Männer und Frauen, die ihr entgegenkamen, grüßten sie
ehrerbietig. Sie schoben Karren mit Obst, Gemüse und Getreide, mit
Hühnern und Enten vor sich her, um sie an reiche Händler, an die
Paläste und auf den Märkten zu verkaufen, oder schleppten schwere
Lasten auf dem Rücken. Auf einer besonders schlechten Wegstrecke
kam sie an einem Ochsenkarren vorbei, der in den Straßengraben
gerutscht war. Ein Rad war kaum mehr zu gebrauchen. Dem jungen
Fuhrmann standen Tränen in den Augen, und er schrie und prügelte
auf den Ochsen ein, der ihn kaum beachtete. Amats geübtes Auge
schätzte den Wert des verbogenen Rades drei- bis viermal höher ein
als den der geladenen Waren. Ob der Junge nun für seinen Vater,
einen Onkel oder einen Bauern arbeitete, der es sich leisten konnte,
einen Knecht zu beschäftigen: Keiner würde über dieses
Missgeschick glücklich sein. Amat umrundete das Gespann, achtete
darauf, wohin sie den Stock setzte, und marschierte weiter.
Alle Städte der Khais waren von Siedlungen umgeben. Außerhalb
der Stadtgrenzen herrschte ein mehr oder weniger rechtsfreier
Raum, denn die Utkhais kümmerten sich nicht darum, dort die
öffentliche Ordnung zu gewährleisten oder Verbrechen zu
verfolgen. Die Sitten waren rau. Streitigkeiten trugen die
Kontrahenten direkt untereinander aus oder brachten sie vor einen
Schlichter, an dessen Schiedsspruch sie sich in der Regel hielten. Die
von alters her bestehenden Sitten und Gebräuche waren so
kompliziert und wirksam wie die Gesetze des Reiches. Amat hatte
keine Bedenken, allein über die rissigen Pflastersteine der
Landstraße zu gehen, solange es hell war und genug Verkehr
herrschte, um die Hunde auf Distanz zu halten.
Ihre Bedenken galten allein dem, was sie am Ziel ihres
Fußmarsches antreffen mochte.
Die Vorstadt war schlimmer, als sie erwartet hatte. Itani hatte den
üblen Gestank und den tiefen Matsch auf der Fahrbahn unerwähnt
gelassen. Schweine und Hühner trieben sich auf der Straße herum.
Ein kaum zweijähriges Mädchen stand nackt im Hauseingang, und
in ihren Augen lag etwas beunruhigend Wildes. Unwillkürlich
stellte sich Amat vor, wie Marchat, der Kopf des Hauses Wilsin in
Saraykeht, in tiefster Nacht durch diesen Dreck gestapft war. Doch
dann tauchte das Haus auf, das Itani erst Liat und Liat dann ihr
beschrieben hatte. Amat stand auf dem heruntergekommenen Platz
und sammelte sich. Jetzt zurückgewiesen zu werden, wäre
erniedrigend.
Also sagte sie sich, sie würde nicht zurückgewiesen. So einfach
war das.
»He!«, rief sie und schlug mit dem Stock an den Türrahmen. Auf
der anderen Seite des Platzes bellte ein Hund, als habe das Klopfen
ihm gegolten. Im Halbdunkel des Hauses bewegte sich etwas. Amat
trat einen Schritt zurück und setzte eine ungeduldige Miene auf. Sie
war die Verwalterin des Hauses Wilsin und durfte keine
Unsicherheit zeigen. Und Ärger war eine bessere Maske als
Höflichkeit. Sie verschränkte die Arme und wartete.
Ein Mann tauchte auf. Er war jünger als sie, aber schon grau an
den Schläfen. Seine schmutzige Kleidung erweckte ihr Misstrauen,
und das Messer an seinem Gürtel blitzte. Zum ersten Mal fragte sich
Amat, ob es klug gewesen war, allein zu kommen. Hätte sie Itani
befehlen sollen, sie zu begleiten? Sie hob das Kinn und musterte den
Mann wie einen Diener.
Die Stille zwischen ihnen wurde immer drückender.
»Was gibt’s denn?«, fragte der Mann schließlich.
»Ich bin gekommen, um mir die Frau anzusehen«, sagte Amat
Kyaan. »Wilsin will über ihren Gesundheitszustand unterrichtet
werden.«
Der Mann runzelte die Stirn und spähte nervös über Amat hinweg
auf die Straße.
»Du musst dich in der Tür geirrt haben, Großmutter. Ich weiß
nicht, wovon du redest.«
»Ich bin Amat Kyaan, die Verwalterin des Hauses Wilsin. Und
wenn du nicht willst, dass wir uns weiter draußen unterhalten,
solltest du mich reinlassen.«
Er zögerte. Seine Hand zuckte Richtung Messer und wieder
zurück. Sie hatte ihn ertappt - das war unübersehbar. Sie
einzulassen, käme dem Eingeständnis gleich, dass im Haus etwas
vorging. Wenn er sie aber wegschickte, lief er Gefahr, seinen
Arbeitgeber zu verärgern, falls Amat wirklich war, was sie zu sein
behauptete, und im Auftrag von Marchat Wilsin handelte. Amat
machte eine fragende Gebärde, die so herrisch war, dass
Untergebenen dabei in aller Regel das Herz in die Hose sackte.
Das Auftauchen einer weiteren Gestalt enthob den Messerträger
seines Dilemmas. Der zweite Mann wirkte unauffällig und hatte ein
Mondgesicht und vom Schlaf zerzaustes Haar. Seine säuerliche
Miene schien Amats Verärgerung zu spiegeln, doch der
Messerträger war sichtlich erleichtert. Der andere war demnach sein
Vorgesetzter. Amat wandte sich ihm zu.
»Diese Frau«, sagte der Messerträger, »behauptet, Wilsins
Verwalterin zu sein.«
Das Mondgesicht lächelte freundlich und machte Amat gegenüber
schon eine Begrüßungsgebärde, während er noch mit seinem
Untergebenen sprach.
»Das behauptet sie ganz zu Recht. Seid willkommen, Kyaan-cha.
Kommt bitte herein.«
Die beiden machten Platz, und Amat betrat das niedrige Haus.
Der Mann mit dem runden Gesicht schloss die Tür, und das
Halbdunkel wurde noch trüber. Amat brauchte ein paar Sekunden,
um sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Dann traten
Einzelheiten aus dem Dunkel. Die große Stube war zu leer, als dass
jemand darin wohnen würde, und unter der Decke wuchs Moos an
den Wänden.
»Ich bin gekommen, um mir die Kundin anzusehen«, sagte Amat.
»Wilsin möchte sicher sein, dass sie wohlauf ist. Sollte sie vor der
Audienz beim Khai eine Fehlgeburt erleiden, stehen wir alle dumm
da.«
»Die Kundin? Ach ja! Natürlich!«, rief das Mondgesicht, und etwas
in seiner Stimme verriet Amat, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Dennoch machte er eine ehrerbietige Gebärde und winkte sie tiefer
ins Haus hinein. Am Ende eines kurzen Flurs führte eine Tür auf
eine Holzveranda, die im Schatten dichten Blattwerks lag. Insekten
summten, Vögel zwitscherten, und am halb verrotteten Geländer
lehnte eine junge Frau. Sie war kaum älter als Liat und hatte die
bleiche Haut der Insulaner. Goldenes Haar fiel ihr über die
Schultern, und über ihrer groben Leinenhose zeichnete sich ein
deutlicher Bauch ab. Sie schien mindestens im fünften, womöglich
schon im siebten Monat schwanger. Als sie die beiden kommen
hörte, wandte sie sich ihnen lächelnd zu. Ihre Augen waren
himmelblau, ihre Lippen voll. Ein Mädchen von den Inseln im
Osten, dachte Amat - aus Uman oder vielleicht aus Nippu.
»Entschuldigt mich bitte, Kyaan-cha«, sagte das Mondgesicht. »Die
Pflicht ruft. Miyama steht Euch gern zur Verfügung, falls Ihr Hilfe
brauchen solltet.«
Amat machte die Dankgebärde, mit der eine Vorgesetzte einen
Untergebenen verabschiedet. Der Mann antwortete mit der
entsprechenden Geste, doch die Stellung seiner Handgelenke hatte
dabei etwas seltsam Spöttisches. Amat fielen seine fleischigen
Hände und seine breiten Schultern auf. Sie wandte sich ab und
wartete, bis seine Schritte verklungen waren. Er wird nach
Saraykeht gehen, zu Wilsin, vermutete sie. Es war ihr nicht
geglückt, keinen Verdacht zu erregen, doch wenn Marchat erfuhr,
dass sie das Haus entdeckt hatte, war es zu spät, sie von dem, was
hier vorging, noch länger auszuschließen.
»Ich heiße Amat Kyaan«, sagte sie, »und bin hier, um deinen
Gesundheitszustand zu überprüfen. Marchat ist ein guter Mensch,
aber nicht gerade bewandert in Frauendingen.«
Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite, als lausche es einem
unbekannten Lied. Amat spürte ihr Lächeln schmaler werden.
»Du sprichst doch Khaiate, oder?«
Das Mädchen kicherte und sagte etwas. Sie redete zu schnell, als
dass Amat ihr hätte folgen können, doch es klang wie die Sprachen
der Inseln im Osten. Amat räusperte sich und versuchte es erneut,
diesmal auf Nippu, und zwar betont langsam.
»Ich heiße Amat Kyaan.«
»Ich bin Maj«, sagte das Mädchen und passte sich Amats Tempo
an, ja übertrieb, als spräche sie mit einem Kleinkind.
»Du hast einen weiten Weg hinter dir. Die Reise verlief hoffentlich
gut?«
»Erst war es hart«, antwortete das Mädchen. »Doch die letzten
drei Tage hab ich mich nicht mehr übergeben müssen.«
Geistesabwesend strich sie sich über den Leib. Kleine dunkle
Dehnungsstreifen marmorierten bereits ihre Bauchdecke.
Sie war sehr dünn. Hochschwanger würde sie aussehen wie ein Ei
auf Stelzen. Aber hochschwanger würde sie nicht werden. Amat sah
Majs bleiche Finger unbewusst die Wölbung streicheln, unter der
das Kind heranwuchs, und tiefe Verwirrung beschlich sie. Hier
handelte es sich nicht um eine Adelige, deren Jungfräulichkeit es
wiederherzustellen galt. Dies war kein Kind reicher Leute, das sich
als zu schwach für Abtreibungstee erwiesen hatte. Das Mädchen,
dem Amat sich gegenübersah, passte in keines der wohl hundert
Szenarien, die sie die ganze Nacht gequält hatten.
Sie lehnte sich ans Holzgeländer, um ihre Hüfte zu entlasten,
stellte den Stock beiseite und verschränkte die Hände.
»Marchat hat mir kaum etwas über dich erzählt«, sagte sie und
hatte Mühe, die passenden Wörter zu finden. »Wie hat es dich nach
Saraykeht verschlagen?«
Das Mädchen lächelte und erzählte ihre Geschichte. Mitunter
redete sie zu schnell, und Amat musste sie bitten, das eine oder
andere zu wiederholen.
Der Vater ihres Kindes schien ein Utkhai zu sein und zu den
vornehmsten, dem Khai nahestehenden Familien von Saraykeht zu
gehören. Er war heimlich auf der Insel Nippu unterwegs gewesen
und hatte ihr nicht verraten, wer er war. Obwohl ihr Verhältnis nur
kurz war, hatte er sein Herz an sie verloren. Als er von ihrer
Schwangerschaft erfuhr, hatte er Oshai befohlen, sie zu ihm zu
bringen. Sobald seine Geschäfte bei Hofe es erlaubten, würde er zu
ihr kommen und sie heiraten.
je unwahrscheinlicher die Geschichte wurde, desto ermutigender
nickte Amat, damit das Mädchen weitererzählte. Und mit jeder
Lüge, die Maj in dem Glauben wiedergab, es handle sich um lautere
Wahrheit, nahm Amats Abscheu zu. Das Mädchen war dumm.
Schön, reizend, freundlich und dumm. Was sie Amat auftischte, war
schlimmstes Wunschdenken, doch sie glaubte daran.
Maj war benutzt worden, doch Amat hatte keine Ahnung, wozu.
Noch schlimmer aber war, dass das Mädchen dem Kind freudig
entgegensah.

Maati wurde nichts gesagt. Seine Habseligkeiten verschwanden


einfach aus dem Zimmer, in dem er gewohnt hatte, und eine junge
Dienerin führte ihn aus dem Palast zu einem Haus hinunter, das in
einem kleinen Wäldchen verborgen lag: das Haus des Dichters. Ein
Teich, über den eine steil gewölbte Holzbrücke führte, trennte es
vom übrigen Gelände. Als Maati die katzenhaft gebuckelte Brücke
überquerte, sah er weiß, golden und scharlachrot leuchtende
Zierkarpfen, die sich knapp unter der Wasseroberfläche treiben
ließen.
Das Haus war so verschwenderisch ausgestattet wie der Palast,
besaß aber eher menschliche Dimensionen. Die Treppe zu den
Schlafzimmern war aus prächtigem dunklen Holz und reich mit
Intarsien aus Elfenbein und Perlmutt geschmückt, doch höchstens
zwei Leute konnten sie Seite an Seite hinaufsteigen. Die großen
Zimmer mit ihren verschiebbaren Wänden, die die kühle Nachtluft
einlassen und die Tageshitze wie Fensterläden aussperren konnten,
waren voller Bücher, Schriftrollen und Schaubilder. Tintenflecke
übersäten die Armlehnen eines seidenbestickten Sessels. Es roch
nach Talglichtern und muffiger Wäsche.
Zum ersten Mal seit seinem Abschied vom Dai hatte Maati den
Eindruck, das Wesen des Ortes zu begreifen, an dem er sich befand.
Er wartete auf seinen Lehrer und war auf jede Bestrafung gefasst.
Der Abend dämmerte spät, und bei Sonnenuntergang zündete er
die Nachtkerze an. Die Stille im Dichterhaus war sein einziger
nächtlicher Gefährte.
Am Morgen brachten ihm Diener süße Früchte, einen Laib
Apfelbrot, der noch warm aus der Palastküche kam, und eine Kanne
schwarzen Rauchtee. Maati aß allein und spürte, wie ihn Furcht
beschlich. Ihn hier ohne jede Gesellschaft warten zu lassen, mochte
ein neuer Trick sein, eine weitere Irreführung. Vielleicht würde nie
jemand kommen! Er wandte sich der Unordnung im Haus zu.
Nachdem er Teller, Schalen und Besteck seines Frühstücks draußen
ins Gras gestellt hatte, damit die Diener es abräumten, sammelte er
drin so viel verstreutes Geschirr zusammen, dass es schien, als habe
er bereits mindestens zweimal getafelt. Er blies den Staub von
Texten, die schon lange offen herumlagen, rollte sie zusammen und
schob sie in Schutzhüllen, befürchtete aber, so manche
Handschriften falsch eingeordnet zu haben. Eine Hülle zum Beispiel,
deren Dunkelblau juristischen Darstellungen vorbehalten war,
enthielt nun eine philosophische Abhandlung. Tröstlich immerhin,
dass die Rollen auf den Regalen ähnlich planlos aufgeschichtet
schienen.
Am Nachmittag erfüllte ihn der Verdacht, einmal mehr zum
Narren gehalten zu werden, allmählich mit Groll, doch als er die
Böden fegte, um die sich offenbar seit Wochen niemand mehr
gekümmert hatte, hoffte er fast, hinter seiner neuerlichen
Einsamkeit stecke wirklich ein weiterer Streich des Andaten. Sollte
Heshai tatsächlich so wenig Verwendung für mich haben, hätte der
Dai mich besser nicht zu ihm geschickt, dachte Maati und fragte
sich, ob ein Dichter die Möglichkeit hatte, einen Lehrling
abzulehnen. Dass Heshai ihn derart vernachlässigte, war womöglich
seine Methode, Pflichten zu umgehen, denen er sich anders nicht
entziehen konnte.
Erst wenige Wochen zuvor hatte Maati sich vom Dai verabschiedet
und war am Fluss entlang nach Süden in Richtung Yalakeht gezogen
und von dort mit dem Schiff zu den Sommerstädten gereist.
Erstmals sollte er von einem Dichter ausgebildet werden und mit
eigenen Augen einen Andaten sehen und studieren, um eines Tages
selbst die Aufgabe zu übernehmen, Samenlos zu lenken.
Unwillkürlich dachte er an das, was Samenlos ihm zugeflüstert
hatte: Ich bin ein Sklave, mein Lieber. Der Sklave, den du einmal zu
besitzen hoffst.
Maati fegte den Staub aus der Haustür. Als die Nachmittagssonne
vom Himmel brannte, öffnete er die verschiebbaren Außenwände
und verwandelte das Haus in eine Art Pavillon. Eine leichte Brise
schlug die Seiten der geöffneten Bücher um und ließ die zu Schleifen
gebundenen Riemen der Schriftrollen wehen. Maati ruhte sich aus.
Langsam bekam er Hunger und fragte sich, wie er von hier einem
Diener des Palasts Bescheid geben sollte, ihm etwas zu essen zu
bringen. Wäre Heshai da gewesen, hätte er ihn fragen können.
Endlich kam sein Lehrer. Als er aus dem Palast zockelte, war er
nur eine kleine Gestalt - nicht größer als Maatis Daumen. Erst beim
Näherkommen erkannte der Junge die schlaffen Hängeschultern
und den Schmerbauch. Als der Dichter die Holzbrücke überquerte,
sah Maati auch sein ungesund wirkendes, fast violettes Gesicht mit
den kirschroten und schweißglänzenden Wangen. Er stand auf und
verneigte sich zur Begrüßung, wie es sich für einen Schüler seinem
Lehrer gegenüber ziemte.
Heshais leicht taumelnder Gang verlangsamte sich, je näher er
kam. Sein Mund stand weit offen, als er sich den Ort ansah, der am
Morgen noch sein verwahrlostes Haus gewesen war. Erstmals
fragte sich Maati, ob es ein Fehler gewesen war, geputzt zu haben.
Er spürte sich erröten und machte eine entschuldigende Gebärde.
Heshai hob die Hand, ehe er etwas sagen konnte.
»Na, das ist ja … Meine Güte, Junge - ich glaube, seit meiner
Ankunft hat es hier nicht mehr so ausgesehen. Hast du … da
drüben auf dem Tisch hat ein in braunes Leder gebundenes Buch
gelegen. Wo ist es jetzt?«
»Ich weiß es nicht, Heshai-kvo«, antwortete Maati. »Aber ich
werde es sofort suchen.«
»Nein, lass. Das kommt sicher irgendwann wieder zum Vorschein.
Komm, setz dich.«
Der Dichter bewegte sich so unbeholfen, als hätte er die Gicht,
doch soweit Maati durch das braune Gewand erkennen konnte,
waren seine Gelenke nicht geschwollen. Er versuchte, über die
vielen Fett- und Weinflecken auf Ärmeln und Brust der Dichterrobe
hinwegzusehen. Kaum hatte Heshai sich ächzend auf einem
schwarzen Lackstuhl niedergelassen, dessen Sitzfläche und
Rückenlehne aus weißem, geflochtenem Bambus bestanden, begann
er zu reden.
»Wir zwei haben einen schlechten Start erwischt, was? Maati
machte eine reuige Gebärde, doch der Dichter winkte ab.
»Ich freue mich darauf, dich zu unterrichten. Ich glaube, das darf
ich sagen. Doch im Moment kann ich leider kaum etwas mit dir
anfangen. Erst wenn die ganze Ernte erledigt ist, werde ich Zeit
haben, mich um dich zu kümmern. Und das mag noch Wochen
dauern. Ich melde mich dann bei dir. Es gibt mancherlei, was ich dir
zeigen muss. Der Dai hat dir sicher eine gute Grundausbildung
vermittelt, doch einen Andaten im Zaum zu halten, verlangt weit
mehr als alles, was er dir erzählt hat. Und Samenlos … nun, mit
dem wirst du noch deine helle Freude haben, fürchte ich.«
»Ich danke Euch, dass Ihr mich als Schüler angenommen habt,
Heshai-kvo.«
»Ja. Ja, natürlich. Dann ist alles geklärt, oder? In der Zwischenzeit
solltest du deine Freiheit nutzen, verstanden? Saraykeht kann
wunderbar sein. Lass dir ruhig Zeit, ja? Genieße das Leben hier ein
wenig, ehe du wieder in die Fron des Dichterblödsinns gesperrt
wirst, ja?«
Maati brachte mit einer Gebärde zum Ausdruck, dass er seinen
Lehrer verstanden hatte, sah allerdings in Heshais
blutunterlaufenen Augen, dass der Dichter eine etwas andere
Antwort erhofft hatte. Verlegene Stille breitete sich zwischen ihnen
aus, bis Heshai sich ein Lächeln abrang, aufstand und Maati auf die
Schulter klopfte.
»Ausgezeichnet«, sagte er mit einer Begeisterung, die nur
geheuchelt sein konnte. »Ich muss mein Gewand wechseln. Weißt
du, ich bin sehr beschäftigt. Pausen kann ich mir nicht leisten.«
Pausen konnte er sich also nicht leisten! Und obwohl es schon bald
Abend war, trug der Dichter - sein Lehrer Heshai - noch immer die
Kleidung vom Vortag. Pausen konnte er sich nicht leisten, und
natürlich hatte er auch keine Zeit gefunden, ihn bei seiner Ankunft
zu begrüßen oder irgendwann nachts in sein Haus zurückzukehren.
Zu groß war schließlich die Gefahr, sein neuer Lehrling könnte mit
ihm reden wollen! Maati beobachtete, wie Heshais korpulente
Gestalt sich die Treppe hinaufwälzte, und hörte es über sich
trampeln, als der Dichter sich hastig wusch. Sein Kopf fühlte sich an
wie mit Wolle gefüllt, als er überlegte, aus welchem Grund sein
Lehrer nichts mit ihm zu tun haben wollte.
»Das tut weh, was? Nicht erwünscht zu sein«, sagte eine leise
Stimme hinter seinem Rücken. Maati fuhr herum. Samenlos stand in
einer makellosen schwarzen Robe mit tiefblauem Muster auf der
Veranda. Die dunklen Augen des Andaten musterten ihn spöttisch.
Maati machte keine Gebärde und sagte kein Wort, doch Samenlos
nickte, als habe der Junge ihm geantwortet. »Wir zwei können
später miteinander reden.«
»Ich habe nichts mit dir zu besprechen.«
»Umso besser. Dann rede ich, und du hörst zu.«
Heshai kam die Treppe heruntergepoltert. Er hatte eine frische
Robe an, deren braune Seide auf einem cremefarbenen
Untergewand prangte. Auch die Stoppeln waren wegrasiert. Dichter
und Andat musterten sich einen atemlosen Augenblick, wandten
sich dann zum Gehen und schritten zusammen den Weg hinunter.
Maati sah ihnen nach - der kleinen, unbeholfen wirkenden
Silhouette des Herrn und der schlanken, eleganten Gestalt des
Sklaven. Er merkte, dass sie im Gleichschritt gingen und die gleiche
Schrittlänge hatten. Hätten sie nicht so sorgfältig darauf geachtet,
sich nicht zu berühren, hätte man sie für alte Freunde halten
können.
Als sie den steilen Buckel der Brücke erklommen hatten, sah
Samenlos sich um und winkte Maati mit seiner bleichen, makellosen
Hand zum Abschied zu.

»Sie hat keine Ahnung!«


Marchat Wilsin erhob sich halb aus dem Becken, und kaltes Wasser
rann ihm vom Körper. Seine Miene wirkte befremdlich: Ärger,
Erleichterung und etwas anderes, Dunkleres lagen darin. Der junge
Mann, mit dem er im Bad saß, starrte Amat an, und sein Mund
stand weit offen vor Schreck darüber, im Badehaus eine bekleidete
Frau zu sehen. Amat musste sich beherrschen, um keine obszöne
Geste in seine Richtung zu machen.
»Tsani-cha«, sagte Wilsin zu dem jungen Mann, sah aber weiter
Amat an. »Entschuldigt, aber meine Verwalterin und ich haben
etwas Dringendes zu besprechen. Ich lasse Euch den genauen
Vorschlag durch einen Boten überbringen.«
»Aber Wilsin-cha«, begann der junge Mann, verstummte jedoch,
als der Alte sich ihm zuwandte. Amat sah etwas in Marchats
Gesicht, das auch sie hätte schweigen lassen, wenn sie weniger
zornig gewesen wäre. Der junge Mann machte die beim Ende einer
Besprechung übliche Dankesgebärde, sprang geräuschvoll aus dem
Becken und verschwand.
»Habt Ihr sie gesehen?«, wollte Amat wissen. »Habt Ihr mit ihr
gesprochen?«
»Nein. Mach die Tür zu, Amat.«
»Sie glaubt »Mach die Tür zu, hab ich gesagt!«
Amat hielt inne, humpelte ein paar Schritte zurück und knallte die
Tür ins Schloss. Der Lärm des Badehauses ließ deutlich nach. Als sie
sich wieder umwandte, saß Wilsin auf dem Beckenrand und stützte
den Kopf in die Hände. Die kahle Stelle auf seiner Schädeldecke
leuchtete rosa. Amat ging auf ihn zu.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht, Amat? »Dass dies nicht
richtig sein kann«, antwortete sie. »Ich hab das Mädchen getroffen.
Sie weiß nichts vom traurigen Eingriff. Sie ist völlig ahnungslos.«
»Dann ist sie die einzige Unschuld in der ganzen Stadt. Hast du
ihr davon erzählt? Hast du sie gewarnt? »Ohne zu wissen, worum
es geht? Natürlich nicht. Wann habt Ihr mich das letzte Mal ohne
Überblick handeln sehen?«
»Heute Morgen«, stieß Wilsin hervor. »Und jetzt wieder. Ihr
Götter, wo hast du überhaupt Nippu sprechen gelernt?«
Amat blieb neben ihm stehen und ließ sich langsam auf die
blaugrünen Fliesen nieder. Ihre Hüfte tat furchtbar weh, doch sie
verbannte den Schmerz aus ihrem Bewusstsein.
»Was treibt Ihr eigentlich?«, fragte sie. »Wollt Ihr den Khai für
einen Schwangerschaftsabbruch einspannen, von dem die Mutter
des Kindes nichts weiß? Wollt Ihr ein Wunschkind umbringen? Das
ist doch verrückt!«
»Ich kann dir das nicht erklären … ich darf es nicht.«
»Versprecht mir wenigstens, das Kind leben zu lassen. Das könnt
Ihr doch, oder?«
Er sah sie an, und seine hellen Augen waren leer wie die eines
Toten.
»Ihr Götter«, flüsterte Amat.
»Ich wollte nie in diese Stadt ziehen«, sagte Marchat, »aber mein
Onkel hatte sich das in den Kopf gesetzt. Ich wäre viel lieber in den
Dreieckshandel eingestiegen: Silber und Eisen aus Eddensea nach
Bakta im Süden verschiffen und verkaufen, von dort mit Zucker und
Rum nach Transgaltland segeln und von dort mit Zedernholz und
Gewürzen nach Eddensea zurückkehren. Ich wollte Piraten
bekämpfen. Ist das nicht lächerlich? Ich als Piratenjäger?«
»Ihr werdet es nicht schaffen, dass ich Euch bemitleide. Jetzt
jedenfalls nicht. Ihr seid Marchat Wilsin, der Herr Eures Hauses in
Saraykeht. Ich habe Euch tapfer einem Mob von Leuten aus den
Westgebieten entgegentreten sehen, der nach Blut verlangte. Ihr
habt Euch gegen einen Vorsitzenden Richter gestellt, als Ihr
überzeugt wart, dass er sich irrt, und ihn einen Dummkopf genannt.
Hört auf zu tun, als wärt Ihr ein krankes Mädchen. Weigert Euch,
den Vertrag zu erfüllen!«
Wilsin sah auf, reckte das Kinn und straffte die Schultern. Einen
Moment hoffte sie, er werde tun, worum sie ihn gebeten hatte.
Doch als er sprach, klang seine Stimme matt.
»Das kann ich nicht. Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich habe den
Khai bereits um eine Audienz ersucht. Die Sache ist in Bewegung
gesetzt, und ich vermag sie so wenig aufzuhalten, wie ich die Flut
früher kommen lassen kann.«
Amat streifte ihre Sandalen ab, hob den Saum ihres Gewandes und
tauchte die schmerzenden Füße ins kalte Wasser. Licht spielte auf
der Oberfläche; Muster aus Hell und Dunkel flackerten über
Marchats Brustkorb und Gesicht. Er weinte. Mehr als alles andere
verwandelte dies Amats Zorn in Angst.
»Dann lasst es mich wenigstens begreifen. Was ist mit diesem
Kind?«, fragte Amat. »Wer ist der Vater?«
»Ein Niemand. Genau wie das Mädchen und das Kind.«
»Warum dann das Ganze, Marchat? Warum …? »Das darf ich dir
nicht sagen! Warum verstehst du das nicht endlich? Ich werde es dir
nicht verraten. Amat - warum musstest du bloß in die Vorstadt
gehen?«
»Ihr habt es doch gewollt! Warum sonst hättet Ihr mich gebeten,
Euch einen Leibwächter zu besorgen? Ihr habt mir von einem
Treffen erzählt, bei dem ich nicht erwünscht war. Ihr habt gesagt, es
handele sich um eine geheime Angelegenheit des Unternehmens,
habt aber gleich darauf erklärt, Ihr würdet mir vertrauen. Ihr
konntet kaum annehmen, dass ich dieser Sache nicht nachgehen
würde.«
Marchat lachte gequält. Es klang, als würde er ersticken. Seine
dicken Finger umklammerten seine Knie, und die Fingerkuppen
gruben sich in rosiges Fleisch. Amat stellte den Stock beiseite und
legte ihm die Hand auf die vorgebeugte Schulter. Durch die
geschnitzten Jalousien aus Zedernholz war ein Schrei auf der Straße
zu hören, der gleich darauf erstarb.
»Der mit dem runden Gesicht, dieser Oshai, ist zu Euch
gekommen, stimmt’s? Er hat Euch gesagt, dass ich in der Vorstadt
war.
»Natürlich. Er wollte wissen, ob ich dich geschickt habe.«
»Und was habt Ihr ihm erzählt?«
»Dass ich dich nicht geschickt habe.«
»Verstehe.«
Sie schwiegen lange. Amat wartete und hoffte, Marchat würde
etwas sagen, ein paar Worte nur, die das Ganze weniger furchtbar
erscheinen lassen würden. Doch er sagte nichts.
»Ich gehe zurück in meine Wohnung«, erklärte Amat. »Wir können
ja später darüber reden.«
Sie griff nach ihrem Stock, doch Wilsin packte ihre Hand und hielt
sie fest. Nun stand etwas in seinen Augen … ein Gefühl… Angst.
Seine Pupillen schienen darin zu schwimmen. Amat spürte ihr Herz
schneller schlagen, als er ihr eindringlich in die Augen sah.
»Nein. Geh nicht nach Hause. Er wartet dort auf dich.« Vier
Atemzüge lang schwiegen sie. Amat musste schlucken, um die
Beklemmung in ihrer Kehle zu mindern.
»Versteck dich, Amat, und sag mir nicht, wo. Tauch unter … vier
Wochen lang. Oder besser fünf Wochen. Dann ist es vorbei, und du
bist sicher, denn dann kann ich dich schützen. Du bist nur in Gefahr,
solange sie denken, du könntest es verhindern. Wenn es erst
geschafft ist …«
»Ich könnte zu den Utkhais gehen. Ich könnte ihnen sagen, dass
etwas nicht stimmt. Wir könnten dafür sorgen, dass Oshai schon vor
Sonnenuntergang in Ketten liegt, wenn …«
Marchat schüttelte langsam den weißen Lockenkopf und sah Amat
dabei weiter in die Augen. Sie spürte seinen Griff schwächer
werden.
»Wenn jemand davon erfährt, bin ich tot. Vermutlich aber auch
andere, womöglich Unschuldige.«
»Ich dachte, in ganz Saraykeht gäbe es nur eine Unschuldige«,
erwiderte Amat leise.
»Dann bin ich tot«, wiederholte Marchat.
Amat zögerte, entzog ihm dann die Hand und machte eine
zustimmende Gebärde. Er ließ sie aufstehen. Ihre Hüfte tat höllisch
weh. Und ihre Heilsalben waren alle in der Wohnung. Die
Gemeinheit, diesen kleinen Trost zu verlieren, schmerzte sie auf
geradezu lächerliche Weise - schließlich handelte es sich nur um eine
unbedeutende Kleinigkeit in einer Welt, die binnen eines Tages all
ihre Stabilität verloren und sich in einen Alptraum verwandelt hatte.
An der Tür blieb sie stehen. Die Hand schon am gequollenen Holz,
wandte sie sich zu ihrem Arbeitgeber um. Zu ihrem alten Freund.
Seine Miene war wie versteinert.
»Ihr habt mir davon erzählt«, sagte sie, »weil ich einen Weg finden
sollte, es zu verhindern. Oder etwa nicht?«
Ach habe einen Fehler gemacht, weil ich verwirrt und aufgeregt
war und mich sehr allein fühlte«, antwortete er. Seine Stimme klang
nun fester, selbstbewusster. »Ich hatte die Sache nicht durchgedacht.
Das war ein Fehler, und ich sehe jetzt klarer. Tu, was ich dir gesagt
habe, Amat, und wir beide werden diese Sache überstehen.«
»Es ist verwerflich. Egal, worum es da geht - es ist böse und
verwerflich.«
»Ja«, pflichtete er ihr bei.
Amat nickte, schloss die Tür hinter sich und ging.
3

Es war ein heißer, schwüler Tag gewesen, und bei


Sonnenuntergang zog Regen auf. Mächtige Gewitterwolken türmten
sich am Himmel, und ihre fließenden Schleppen leuchteten im
Abendlicht rosa, golden und tiefblau. Der graue, mehr als
gebirgshohe Wasserschleier kam langsam auf die Stadt zu, verlor
seine festlichen Farben im Zwielicht, trieb unberechenbare
Windböen vor sich her, erreichte im Dunkeln Ziegeldächer und
gepflasterte Straßen und heulte im Finstern um alle Ecken.
Liat legte den Kopf auf Itanis nackte Brust und lauschte dem
zornigen Prasseln des Regens und dem leisen Rauschen, mit dem er
wie ein Fluss durch die Straßen flutete. Hier in ihrer kleinen
Kammer auf dem Anwesen von Marchat Wilsin war es nicht so
schlimm. Die Straßen in dieser Gegend waren sicher. Weiter unten
in der Stadt aber - im Vergnügungsviertel, am Hafen und im Bereich
der Lagerhäuser - würden die Menschen vom Wasser
eingeschlossen sein und bis zum Nachlassen des Regens und dem
Sinken der Flut bleiben müssen, wo sie Zuflucht gefunden hatten.
Sie lauschte dem Geräusch des Wassers und dem Herzschlag ihres
Liebsten. In den Sommerstädten kühlten nicht einmal nächtliche
Niederschläge die Luft so weit ab, dass sie ihre nackte Haut hätte
bedecken wollen.
»Wir brauchen einen stabileren Rahmen für dein Mückennetz«,
sagte Itani und schob das Gewebe, das irgendwann am Abend
heruntergefallen war, mit den Zehen beiseite. Liat lächelte. Das
Liebesspiel mit Itani hatte sie wohlig erschöpft. Ihre Glieder waren
warm und so entspannt, dass sie zufrieden seufzte.
»Ich liebe dich, Tani«, sagte sie. Er streichelte ihr den Nacken. Die
Arbeit hatte seine Hände kräftig, rau und schwielig werden lassen,
doch er konnte sehr sanft mit ihnen sein. Sie schaute zu ihm hoch
und sah sein schmales Gesicht, sein zerzaustes Haar, sein Lächeln.
Im Kerzenlicht schien seine Haut zu glühen. »Geh nicht nach Hause!
Bleib heute Nacht bei mir!«
Er seufzte so schwer, dass sein Atmen ihren Kopf hob und sanft
wieder sinken ließ. »Das geht nicht. Ich bleibe, bis der Regen etwas
nachlässt. Aber seit du mich einmal nachts mit Wilsin-cha
losgeschickt hast, lässt Muhatia-cha mich nicht aus den Augen. Er
wartet nur auf eine Gelegenheit, mir das Genick zu brechen.«
»Er ist bloß eifersüchtig«, erklärte Liat.
»Und er macht die Lohnabrechnung«, sagte Itani mit trockenem
Humor. »Also ist er mehr als nur eifersüchtig.«
»Das ist so ungerecht. Du bist klüger als er. Du kannst rechnen,
schreiben und lesen. Alle mögen dich lieber als ihn. Du solltest
Aufseher sein.«
»Wenn ich Aufseher wäre, würden die Übrigen mich nicht mehr so
mögen. Wenn der kleine Kiri, Kaimati oder Tanani dächten, ich
würde ihren Lohn kürzen, weil sie trödeln oder zu spät kommen,
würden sie genau das Gleiche über mich sagen wie über Muhatia. So
ist das eben. Außerdem mag ich meine Arbeit.«
»Aber du wärst ein besserer Aufseher als er.«
»Vermutlich«, pflichtete Itani ihr bei. »Aber der Preis dafür ist zu
hoch.«
Das Schweigen, das nun folgte, war nicht so wie zuvor. Liat
spürte, dass Itani anders atmete. Er wartete auf ihre Frage darauf,
dass sie das Thema vorantrieb. Sie merkte, wie er ihr entglitt und
innerlich Abstand nahm, da er wusste, dass sie fragen würde. Und
so war es auch.
»Hast du Wilsin-cha nach einer neuen Beschäftigung gefragt?«
»Ja.«
»Und?«
»In dem Moment ist ihm nichts eingefallen, aber er will sehen, was
sich tun lässt.«
»Das ist gut. Dann mag er dich also. Das ist sehr gut«, sagte Liat.
Wieder schwiegen sie. Wieder war die Distanz zwischen ihnen
spürbar. »Sollte er dir eine gute Stelle anbieten, würdest du sie doch
nehmen, oder?«
»Kommt drauf an«, entgegnete Itani. »Ich will nichts tun, was mir
gegen den Strich geht.«
»Itani! Schau doch mal nach vorn! Du musst die Gelegenheit
nutzen, die er dir bietet! Wenn der Herr des Hauses dir ein
Angebot macht, und du lehnst ab, macht er dir nie wieder eins!
Wenn du dich immer nur weigerst, wirst du im Leben nie
weiterkommen! Mitunter muss man auch mal ja sagen sogar zu
Sachen, die einem nicht recht sind. Jedenfalls, wenn sie
Möglichkeiten eröffnen, die einem recht sind.«
Er glitt unter ihr weg und erhob sich. Auch Liat setzte sich auf.
Itani streckte sich mit abgewandtem Rücken. Das ließ ihre Kammer
klein wirken, denn nun bestand sie nur noch aus ihrem Schreibtisch,
auf dem Hauptbücher und Notizhefte lagen, aus denen da und dort
Wachspapier wie bleiche Zungen ragte, dem Schrank, in dem ihre
Kleider hingen, und dem Spiel von Itanis Rückenmuskulatur im
Kerzenlicht.
»Manchmal hab ich das Gefühl, ich rede mit einer Statue. Du wirst
zwanzig, ich erst siebzehn«, sagte sie scharf. »Warum also bin ich
älter als du?«
»Vielleicht, weil du weniger schläfst«, meinte er sanft. Als er sich
ihr wieder zuwandte, lächelte er freundlich. Er bewegte sich mit
katzenhafter Anmut und war so schlank, dass sie den Eindruck
hatte, bei jeder Bewegung all seine Muskeln zu sehen. Er kauerte
sich neben ihrer Pritsche nieder, stützte den Kopf auf die Hände
und blickte zu ihr auf. »Wir führen diese Unterhaltung immer
wieder, Süße, ohne dass sich bisher etwas geändert hätte. Ich weiß,
dass du mehr von mir erwartest als »Ich will, dass du mehr von dir
erwartest, Tani. Das ist etwas ganz anderes.«
Mit einer freundlichen Handbewegung gab er ihr zu verstehen,
dass er weiterreden wollte. -Ich weiß, dass du von mir erwartest,
mehr als das Leben eines Arbeiters zu führen. Und ich stelle mir
auch nicht vor, mein Leben lang zu tun, was ich gerade tue. Aber ich
schäme mich meiner Arbeit nicht, und ich werde nichts tun, was mir
weniger gefällt, damit mir irgendwer irgendwann möglicherweise
eine Arbeit gibt, von der er denkt, ich würde mir die Finger danach
lecken. Wenn ich etwas will, dann sicher nicht das.«
»Hast du denn gar keine Wünsche?«
Er stand auf, nahm ihre Brüste in die Hände, küsste sie zärtlich auf
den Mund und drückte sie langsam ins Durcheinander der Laken.
Sie wich ein winziges Stück zurück, blieb seinem Gesicht aber so
nah, dass sie beim Sprechen seine Lippen spürte.
»Was soll das denn?«, fragte sie.
»Du hast mich gefragt, was ich mir wünsche«, murmelte er.
»Und du versuchst, mich abzulenken, statt meine Frage zu
beantworten.«
»Wirklich?«
Seine Hand strich ihr über Taille, Hüfte und Oberschenkel, und sie
bekam eine Gänsehaut.
»Was wirklich?«
»Lenke ich dich wirklich ab?«
»Ja.«
Ein Klopfen an der Tür ließ beide zusammenfahren. Itani sprang
auf und tastete mit enttäuschter Miene im Halbdunkel nach seiner
Hose. Liat schlang sich das Laken um den Leib. Auf die stumme
Frage in seinen Augen antwortete sie mit einer ratlosen Geste.
Wieder klopfte es.
»Moment!«, rief sie so laut, dass es trotz des Regens draußen zu
hören war. »Wer da?«
»Epani Doru«, ertönte es von der anderen Seite der dünnen Tür.
»Wilsin-cha hat mich geschickt und lässt fragen, ob er sich kurz mit
dir unterhalten kann.«
»Natürlich. Ja. Einen Moment bitte.«
Itani, der seine Hose inzwischen gefunden hatte, warf Liat ihr
Gewand zu. Sie zog das Unterkleid an und nahm ein frisches
Oberteil aus dem Schrank. Itani half ihr beim Zuknöpfen. Sie spürte
ihre Hände zittern. Der Herr des Hauses Wilsin wollte mit ihr
reden - und das außerhalb der Arbeitszeit! Das war noch nie
vorgekommen.
»Ich sollte zurück auf meine Stube gehen«, sagte Itani, als er ihren
Haarschopf zu einem strengen Knoten band.
»Nein, Tani, bitte - warte auf mich.«
»Gut möglich, dass du lange wegbleibst, Liebste«, sagte er. »Und
es regnet ohnehin nicht mehr so stark. Für mich ist es Zeit.«
Tatsächlich prasselte es längst nicht mehr so ungestüm vom
Himmel. Und trotz ihrer Klagen war ihr klar, was es bedeutete,
wenn der Aufseher einen genau beobachtete. Also machte sie eine
zustimmende Gebärde und küsste ihn dann.
»Ich komme morgen vorbei«, sagte sie.
»Ich werde dich erwarten.«
Itani zog sich ins Dunkel hinterm Schrank zurück, und Liat zupfte
ein letztes Mal am Kleid, stieg in ihre Hausschuhe und öffnete die
Tür. Epani - Marchat Wilsins Haushofmeister - stand mit
verschränkten Armen und ausdrucksloser Miene unterm Vordach.
Liat zeigte ihm mit einer Gebärde, dass sie bereit war, ihm zu
folgen, und ohne jede Ironie machte Epani eine Geste, die seinen
Dank dafür zum Ausdruck brachte, dass sie seiner Bitte so rasch
folgte. Er sah kurz an ihr vorbei auf die zerwühlten Laken und die
auf den Fliesen verteilten Kleider, sagte aber nichts, sondern drehte
sich um und schritt davon. Liat folgte ihm.
Sie gingen einen Weg aus grauen Steinen entlang, der so hoch lag,
dass die Regenflut ihn nicht überschwemmt hatte.
Der Brunnen im Hof war kurz vor dem Überlaufen. Die große
Bronzeskulptur des Galtischen Baums - das Symbol des Hauses -
ragte in der Dunkelheit drohend auf, und die falsche Rinde glitzerte
im Licht der Laternen, die unter den Vordächern hingen und vor
dem Regen sicher waren.
Wilsins Privatgemächer lagen an der Rückseite des am weitesten
von der Straße entfernten Hofs. Die Flügeltür aus mit Kupfer
beschlagenem Eschenholz stand offen, doch ein Vorhang, der im
Durchzug wehte und von hinten angestrahlt wurde, verwehrte den
Blick ins Vorzimmer. Epani schlug ihn beiseite und bedeutete Liat
mit einer Handbewegung einzutreten, als sei sie ein Gast und nicht
Lehrmädchen der Verwalterin.
Das Vorzimmer war gefliest, doch an den Wänden und der hohen
Decke prangte Schnitzwerk. Es roch nach Zitronenkerze,
Pfefferminzwein und Lampenöl. Laternen erhellten das Zimmer.
Irgendwo in der Nähe hörte Liat die Stimmen zweier Männer und
konnte sogar ein paar Worte verstehen. Wilsin-cha sagte »wird
keinen Einfluss haben« und »anders als das letzte Mädchen«, der
andere Mann »kommt nicht in Frage« und »wenn nötig Straße für
Straße«. Epani, der nach Liat eingetreten war, bedeutete ihr, sie
möge warten, und sie nickte, doch der Haushofmeister war bereits
wieder hinter dem Vorhang verschwunden. Die Unterhaltung brach
plötzlich ab, als Epani sich mit sanfter Stimme bemerkbar machte.
Dann kam Marchat Wilsin selbst ins Vorzimmer. Er trug ein
Gewand in den Farben Schwarz und Grün.
»List Chokavi!«
Liat machte eine ehrerbietige Gebärde, auf die der Herr des
Hauses mit einer knappen, sehr förmlichen Begrüßungsgeste
antwortete. Dann legte er ihr seine schwere Hand auf die Schulter
und schob sie zu einem Zimmer, das weiter hinten im Haus lag.
»Liat, sprichst du eigentlich eine Inselsprache? Arrask vielleicht
oder Nippu?«
»Nein, Wilsin-cha. Ich kann Galtisch und etwas Coyanisch…«
»Aber keine Sprache der Östlichen Inseln?«
Als sie ins Besprechungszimmer traten, machte Liat eine
bedauernde Gebärde.
»Wie schade«, sagte Wilsin, doch seine Stimme klang sanft, und
seine Miene wirkte seltsam erleichtert.
»Ich glaube, Amat-cha spricht etwas Nippu. Diese Sprache spielt
im Handel zwar kaum eine Rolle, aber Eure Verwalterin ist sehr
gebildet.«
Wilsin setzte sich auf eine Bank an einem niedrigen Tisch und wies
auf das Sitzkissen gegenüber. Liat kniete sich hin, während er ihr
eine Schale Tee einschenkte.
»Wie lange arbeitest du jetzt für mich? Seit drei Jahren? »Amat-cha
hat mich vor vier Jahren als ihr Lehrmädchen eingestellt. Davor
habe ich bei meinem Vater in Chaburi-Tan gelebt und meinen
Brüdern geholfen, die »Vier Jahre ist das her? Warst du damals
nicht noch zu jung, um zu arbeiten? Du warst doch sicher erst
zwölf? Liat merkte, dass sie rot wurde. Sie hatte ihre Familie nicht
zum Gegenstand der Unterhaltung machen wollen.
»Ich war dreizehn, Wilsin-cha. Und ich konnte mich nützlich
machen - also habe ich das getan. Wie meine Brüder.
Sie beschwor den alten Mann im Stillen, das Thema zu wechseln.
Was immer sie über ihr früheres Leben würde sagen können, würde
ihre Aufstiegschancen verringern. Das kleine Zimmer neben der
Räucherkate, in dem sie mit ihren drei Brüdern wohnte; die
Marktbude ihres Vaters, in der er geräucherte Würste und
Trockenfrüchte verkaufte. Das war - so dachte Liat - nicht die rechte
Herkunft für die Verwalterin eines Kaufmannshauses. Ihr Wunsch
schien in Erfüllung zu gehen. Wilsin räusperte sich und beugte sich
vor.
»Amat ist für einige Wochen in einer Privatangelegenheit
unterwegs. Deshalb musst du für mich eine Audienz beim Khai
übernehmen.«
Das sagte er in freundlichem Tonfall, doch Liat spürte sich so sehr
erröten, als habe sie starken Wein getrunken. Sie nippte am Tee, um
sich zu beruhigen, setzte die Schale ab und zeigte mit einer
Gebärde, dass sie etwas zu gestehen hatte.
»Wilsin-cha, Amat hat mich nie an den Hof mitgenommen. Ich
weiß nicht, was ich dort zu tun und wie ich mich zu verhalten habe
und …«
»Das schaffst du schon«, erklärte Wilsin. »Es geht um einen
traurigen Eingriff. Kein komplizierter Fall, aber ich möchte, dass er
mit Anstand gehandhabt wird, verstehst du? Ich brauche jemanden,
der sich darum kümmert, dass die Kundin die passenden Gewänder
trägt und das Verfahren versteht. Und da Amat verhindert ist, halte
ich ihr Lehrmädchen für die geeignetste Vertreterin.«
Liat sah zu Boden und hoffte, ihr Schwindelgefühl werde
nachlassen. Eine Audienz beim Khai - auch wenn sie nur ganz kurz
war - hatte sie erst Jahre später zu bekommen gehofft. Wenn
überhaupt! Sie konnte ihr Zittern kaum unterdrücken, als sie Wilsin-
cha mit einer Gebärde bat, eine Frage stellen zu dürfen, was ihr
Herr ihr mit einer Handbewegung gewährte.
»Es gibt andere, die viel länger in Euren Diensten sind als ich. Sie
haben Erfahrung bei Hofe …«
»Aber sie sind beschäftigt. Diesen Fall sollte Amat übernehmen,
doch nun ist sie verhindert. Ich möchte nicht noch jemanden von
Verhandlungen abziehen, die erst halb erledigt sind. Und Amat hat
gesagt, du würdest das schaffen. Also »Hat sie das wirklich
gesagt?«
»Natürlich. Und jetzt werde ich dir erzählen, was du für mich tun
sollst …«

Der Regen hatte aufgehört, und die Nachtkerze war gerade zur
Hälfte heruntergebrannt, als Heshai zurückkehrte. Maati war auf
einem Lesesofa eingeschlafen und erwachte, als die Tür
geräuschvoll geöffnet wurde. Blinzelnd verscheuchte er vage
Traumbilder, stand auf und machte eine Begrüßungsgebärde.
Heshai schnaubte nur, zündete noch eine Kerze an und ging
schweren Schrittes durchs Haus, um alle Lampen und Kerzen im
Erdgeschoss anzustecken. Als die Zimmer leuchteten wie am
helllichten Tag und starker Wachsgeruch aufstieg, stellte der Lehrer
die tropfende Kerze an ihren Platz zurück und zog sich einen Sessel
heran. Kaum hatte er sich mit leisem Stöhnen niedergelassen, setzte
Maati sich wieder aufs Sofa.
Er schwieg reglos, während sein Lehrer ihn musterte. Heshais
Augen waren schmal, seine Lippen zu einem kalten Lächeln
verzogen. Schließlich stöhnte er laut und machte eine
entschuldigende Gebärde.
»Ich habe mich wie ein Schwein verhalten. Tut mir leid«, erklärte
er. »Das hatte ich schon früher sagen wollen, aber … ich hab’s eben
nicht getan. Was beim Khai passiert ist, war mein Fehler, nicht
deiner. Mach dir darüber keine Gedanken.«
»Heshai-kvo, es war nicht richtig von mir -«
»Du bist ein anständiger Junge. Herzensgut! Ich war gedankenlos.
Leichtsinnig. Ich hab mich von dem Bastard Samenlos unterkriegen
lassen. Wieder einmal. Und du? Du musst ja glauben, ich sei der
größte Dummkopf, der je die Dichterrobe getragen hat.«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Maati ernst. »Samenlos macht
Euch … alle Ehre, Heshai-kvo. Ich habe nie etwas gesehen, das ihm
gleichkäme.«
Heshai stieß ein schrilles, freudloses Lachen aus.
»Hast du denn schon andere Andaten gesehen? Irgendeinen?«
»Ich war dabei, als Choti Dausadar aus Amnat-Tan die Andatin
Höhlenmoos gebunden hat. Aber ich habe nie erlebt, wie er sich
ihrer Kräfte bediente.«
»Nun, er wird sicher rasch eine anständige Verwendung für eine
Andatin gefunden haben, die Höhlenmoos ans Licht bringen kann!
Der Dai hätte Choti dazu veranlassen müssen, ein
Beschwörungsgedicht zu schaffen, mit dem er etwas Sinnvolles
hätte bewirken können. Selbst Blütenfall war ein besseres Werkzeug
als Höhlenmoos. Höhlenmoos!«
Maati machte eine höflich beipflichtende Gebärde, wie es sich für
einen Schüler bei der Unterweisung geziemte, doch dabei wurde
ihm unvermittelt klar, dass sein Lehrer betrunken war.
»Wir leben in einer bleiernen Zeit, Junge. Die großen Dichter des
Reiches haben ganze Arbeit geleistet. Uns bleibt nur, an den
unbedeutenden Gedanken und Bildern zu zupfen, die in den Ecken
übrig sind. Wir gleichen Hunden, die nach Essensresten schnüffeln.
Wir sind keine Dichter - wir sind Gelehrte.«
Maati wollte schon eine zustimmende Gebärde machen, zögerte
dann aber. Er war verunsichert. Heshai hob die Brauen, vollendete
die Gebärde seines Schülers und musterte ihn dabei scharf, als
würde er fragen: Wolltest du diese hier machen? Dann winkte er ab.
»Samenlos war … die Lösung für ein Problem«, fuhr der Dichter
leiser fort. »Aber ich hatte sie nicht richtig durchdacht. Hast du mal
Miyani und Dreieinigkeit gehört? Ich hab mich in deinem Alter
damit beschäftigt, und zwar leidenschaftlich. Als der Dai mich
endlich rufen ließ und sagte, ich würde nicht einfach die Arbeit
eines Dichters fortführen, sondern müsse eine eigene Beschwörung
versuchen, nahm ich dieses Wissen zu Hilfe. Dreieinigkeit liebte ihn,
weißt du? Sie war eine Andatin, die ihren Dichter liebte. Darüber ist
sogar ein Epos geschrieben worden.«
»Ich habe die Bühnenfassung gesehen.«
»Tatsächlich? Nun, vergiss es! Das führt dich nur auf Abwege. Ich
war jung und dumm und fürchte inzwischen, nie mehr weise zu
werden.« Der Blick des Dichters richtete sich auf etwas, das Maati
nicht sehen konnte, weil es anderswo und in einer anderen Zeit lag.
Ein Lächeln spielte über Heshais breite Lippen. Dann stöhnte der
Dichter und kniff die Augen kurz fest zusammen. Danach erst
schien er Maati wieder zu sehen und befahl mit herrischer Geste:
»Lösch die verdammten Kerzen. Ich gehe schlafen.«
Ohne sich noch mal umzudrehen, stand er auf und polterte die
Treppe hoch. Maati ging durch die Zimmer und löschte die Lichter,
die Heshai entzündet hatte. Während es im Erdgeschoss dunkler
wurde, wirbelten ihm Fragen durch den Kopf, ohne klare Gestalt
anzunehmen. Er hörte Heshais Schritte über sich und dann das
Klappern, mit dem Fensterläden verrammelt wurden. Danach war
es still. Der Meister lag im Bett und schlief vermutlich bereits. Bis
auf die Nachtkerze waren alle Lichter gelöscht, als jemand Maati
ansprach.
»Du hast meine Entschuldigung nicht angenommen.«
Samenlos stand in der Tür. Seine bleiche Haut schimmerte im Licht
der letzten Kerze. Sein Gewand war dunkel ob tiefblau, schwarz
oder weinrot, vermochte Maati nicht zu erkennen.
»Warum sollte ich auch?«, fragte er.
»Aus Barmherzigkeit?«
Maati stieß ein freudloses Lachen aus und wandte sich zum Gehen,
aber der Andat kam auf ihn zu. Seine Bewegungen waren von
katzenhafter Anmut und so herrlich wie die des Khais, jedoch ohne
einstudiert zu sein. Sie gehörten so sehr zu seiner Natur wie der
Umriss der Blätter zu einem Baum.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Samenlos. »Und du solltest auch
unserem Meister vergeben. Er hatte einen schlechten Tag.«
»Ach ja?«
»Ja. Er hat sich mit dem Khai getroffen und erfahren, dass er
demnächst etwas erledigen muss, das ihm ganz und gar nicht
gefällt. Aber da wir gerade unter uns sind Der Andat setzte sich auf
die Treppe. Seine schwarzen Augen blickten belustigt, und mit
bleichen Händen umschlang er ein Knie.
»Frag mich«, sagte er.
»Wonach?«
»Nach dem, was dich so ein Gesicht machen lässt. Du siehst aus,
als hättest du in eine Zitrone gebissen.«
Maati zögerte. Wenn er einfach hätte gehen können, hätte er es
sicher getan. Doch der Weg in sein Zimmer war blockiert. Er
überlegte, nach Heshai zu rufen, damit sein Meister aufwachte und
dafür sorgte, dass er die Treppe hinaufsteigen konnte, ohne das
herrliche Wesen zu streifen.
»Bitte, Maati. Ich hab doch gesagt, dass mir mein kleines
Verwirrspiel leidtut. Ich mach’s auch nicht wieder.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Nein? Dann bist du schlauer, als man in deinem Alter zu sein
pflegt. Vermutlich werde ich dich irgendwann tatsächlich wieder
reinlegen. Aber hier und jetzt kannst du fragen, was immer du
willst, und ich werde dir ehrlich antworten unter einer Bedingung
…«
»Nämlich?«
»Dass du meine Entschuldigung annimmst.«
Maati schüttelte den Kopf.
»Na gut«, sagte Samenlos, stand auf und ging zu einem Regal.
»Dann frag eben nicht. Verkrampf und verknote dich nach Kräften,
wenn du meinst, dass dir das guttut.«
Die bleiche Hand glitt über die Buchrücken und zog einen braunen
Lederband heraus. Maati wandte sich ab, ging zwei Schritte die
Treppe hoch und zögerte dann. Als er sich umsah, hatte es sich
Samenlos mit angezogenen Beinen auf dem Sofa neben der Kerze
bequem gemacht. Er schien in das Buch auf seinem Schoß vertieft.
»Er hat dir die Geschichte von Miyani erzählt, oder?«, fragte der
Andat, ohne aufzublicken.
Maati schwieg.
»Das sieht ihm ähnlich. Er äußert sich nur selten klar und deutlich
und begnügt sich stattdessen mit Anspielungen. Es ging darum, wie
sehr Dreieinigkeit ihren Dichter liebte, nicht wahr? Hier - sieh dir
das mal an.«
Samenlos drehte das Buch um und hielt es ihm hin. Maati kam die
Treppe wieder herunter. Der Text war in Heshais Handschrift
verfasst. Auf der Seite, die der Andat ihm zeigte, befand sich eine
Darstellung, die die Parallelen zwischen der klassischen
Beschwörung von Dreieinigkeit und der Beschwörung von
Samenlos aufzeigte.
»Das ist seine Fehlerbeurteilung«, sagte der Andat. »Lies sie dir
durch. Ich denke, das wäre in seinem Sinne.«
Maati nahm den weichen Lederband. Die Seiten kratzten leise. »Er
hat dich gebunden und sich nicht auf deine Bedingungen
eingelassen«, sagte er. »Also gab es auch keinen Fehler. Es hat
funktioniert.«
»Manche Bedingungen sind subtiler Natur und halten länger vor
als andere. Erlaube mir, dass ich dir ein wenig mehr über unseren
Meister erzähle. Er sah nie gut aus, sondern war schon als Säugling
hässlich. Sein Vater hat ihn an die Luft gesetzt - es ist ihm also
ähnlich ergangen wie dir. Doch als Lehrling am Hof von Khai Pathai
hat er sich verliebt. Kaumau glauben, was? Unser watschelndes
Hängebauchschwein hatte sich verliebt! Und das Mädchen war
durchaus willig: die Faszination der Macht. Dichter verfügen über
Andaten, kommen also dem Wunsch, einem Gott zu befehlen, näher
als jeder andere.
Doch als er sie geschwängert hatte, wandte sie sich von ihm ab«,
fuhr Samenlos fort, »trank ein paar grässliche Tees und hatte eine
Fehlgeburt. Das hat ihm das Herz gebrochen. Zum einen wohl, weil
er gern Vater geworden wäre, zum anderen aber, weil es zeigte,
dass seine große Liebe nie vorhatte, ihr Leben an seiner Seite zu
verbringen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Das erzählt er auch nur wenigen. Aber … Maati, setz dich doch
bitte. Es ist wichtig, dass du das verstehst, und wenn ich die ganze
Zeit zu dir hochschauen muss, tut mir bald der Nacken weh.«
Maati war klar, dass er sich abwenden und in sein Zimmer gehen
sollte, doch er setzte sich.
»Gut«, sagte Samenlos. »Du weißt ja, dass Andaten nur Ideen sind.
Vorstellungen, die in eine willensbegabte Gestalt gebracht wurden.
Das Werk des Dichters ist es, all diese Gestalten mit Zügen
auszustatten, die die Idee allein nicht besitzt. So hatte zum Beispiel
die Andatin Niederschlag vollkommen weißes Haar. Warum?
Niederschlag hat schließlich nichts mit weißem Haar zu tun. Oder
mit einer tiefen Stimme. Oder mit Liebe, wie es bei Dreieinigkeit
der Fall war. Woher also stammen diese Attribute?«
»Aus der Vorstellungskraft des Dichters.«
»Genau«, pflichtete Samenlos ihm lächelnd bei. »Aus der
Vorstellungskraft des Dichters. Nun stell dir unseren Meister als
jungen Mann vor, nur wenig älter als du. Er hat gerade ein Kind
und eine Frau verloren, von der er glaubte, sie würde ihn lieben.
Der unausgesprochene Verdacht, sein Vater hasse ihn, und der
Gedanke an die qualvollen Selbstvorwürfe der Mutter, die sich der
Vertreibung ihres Sohnes nicht widersetzt hat, nagen an ihm wie ein
Scherenkrebs. Und nun wird er gerufen, Saraykeht zu retten, indem
er einen Andaten bindet, der die Räder des Handels am Laufen
hält. Und er entwirft mich.
Sieh dir an, wie er mich gestaltet hat, Maati!«, fuhr Samenlos fort
und breitete die Arme aus, als würde er zur Schau gestellt. »Ich bin
schön, klug und selbstbewusst. In alter Zeit schuf Miyani sich die
perfekte Partnerin. Heshai hingegen erschuf den, der er selbst gern
gewesen wäre - und zwar bis in alle Einzelheiten. Zugleich aber
pflanzte er mir seine Vorstellung davon ein, wie sein perfektes Ich
über ihn denken würde. Neben Schönheit, Scharfsinn und
Intelligenz verlieh er mir also auch all den Hass auf die Dichterkröte
Heshai.«
»Ihr Götter«, flüsterte Maati.
»Nein, das war brillant. Denk nur daran, wie sehr er sich hasste.
Und ich trage diese Leidenschaft in mir. Andaten sind absolut
künstlich und sehnen sich nach dem Naturzustand zurück, wie der
Regen sich nach dem Meer sehnt. Und dennoch wohnen in manchem
von uns zwei Seelen. Diesen Widerspruch hat Heshai von Miyani
übernommen. Dreieinigkeit wollte Freiheit, aber auch Liebe. Ich bin
innerlich zerrissen, weil ich Freiheit will, zugleich aber meinen
Meister leiden sehen möchte. Nicht, dass er das geplant hätte! Es ist
ein Detail seines Entwurfs, das er nicht bedacht hat … Du fragst
dich sicher, warum er dich so vernachlässigt, warum er es
vermeidet, dich zu unterrichten oder auch nur mit dir zu reden,
warum er dich bei seinen Erledigungen für den Khai nicht
mitnimmt. Er hat Angst um dich. Um seinen Platz einzunehmen,
musst du den schlimmsten Teil deiner Persönlichkeit kultivieren. Du
musst dich irgendwann so sehr hassen, wie der ekelhafte, traurige,
einsame Heshai sich hasst, den seine Mitschüler hänselten und dem
sie die Bücher zerrissen, der seit zwanzig Jahren mit keiner Frau
mehr geschlafen hat, ohne dafür zu bezahlen, und den selbst die
niedersten Utkhais für eine Peinlichkeit halten, die man leider
hinnehmen muss. Deshalb, mein Junge, hat er Angst um dich. Und
er flieht vor dem, was ihn ängstigt - genau wie vor dem, um das er
sich ängstigt.«
»Du lässt ihn als sehr schwachen Menschen erscheinen.«
»Aber nein. So was wird nun mal aus einem starken Menschen,
der sich antut, was Heshai sich angetan hat.«
»Und warum erzählst du mir all das?«
»Ah, deine erste Frage in diesem Gespräch«, sagte Samenlos.
»Wenn ich antworten soll, musst du meine Bedingung akzeptieren,
also meine Entschuldigung annehmen.«
Maati musterte die dunklen, erwartungsvollen Augen des
Andaten und lachte dann.
»Du erzählst tolle Gespenstergeschichten«, sagte er. »Aber ich
möchte diese Frage gar nicht beantwortet bekommen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde machte Samenlos ein finsteres
Gesicht, lachte dann aber und machte die Gebärde, mit der
Verlierer Siegern gratulieren. Unwillkürlich lachte Maati mit, stand
dann auf und nahm die Glückwünsche mit der dafür vorgesehenen
Dankesgebärde entgegen.
Als er die Treppe hochstieg, rief Samenlos ihm nach: »Heshai wird
dich nie auffordern, ihn zu begleiten. Aber er wird dich auch nicht
wegschicken, wenn du kommst. Nächste Woche nach den
Tempelfeierlichkeiten hält der Khai eine Generalaudienz ab. Dort
solltest du hingehen.«
»Ich wüsste wirklich nicht, mein guter Samenlos, warum ich deiner
Bitte entsprechen sollte.«
»Du sollst ihr auch gar nicht entsprechen«, erwiderte der Andat,
und in seiner Stimme lag eine seltsame Schwermut. »Du solltest stets
tun, wonach dir der Sinn steht. Aber ich fände es schön, dich dort
zu sehen. Wir Gespenster kennen nur wenige Leute, um mal ein
Schwätzchen zu halten. Und ob du mir glaubst oder nicht: Ich wäre
dein Freund. Vorläufig jedenfalls. Solange wir noch die Möglichkeit
dazu haben.«

Sie war, wie sie nun begriff, selbstgefällig geworden. Als Mädchen
und junge Frau hatte Amat gewusst, dass der Stadt nicht zu trauen
war. Als sie noch arm und unbedeutend gewesen war, hatte ihr
Schicksal sich immer wieder rasch gedreht. Eine kurze Krankheit,
eine Verletzung, eine unglückliche Begegnung - dies und vieles
mehr hatte darüber entschieden, wie sie ihr Geld verdiente, wo sie
lebte, wer sie war. Nachdem sie aber viele Jahre für ein und
denselben Arbeitgeber tätig gewesen war und sich wie ihren Herrn
hatte aufsteigen sehen, hatte sie ihre Vergangenheit vergessen - und
war nun nicht vorbereitet.
Zunächst hatte sie zu Freunden gehen wollen, dann aber
festgestellt, dass sie weniger hatte als gedacht. Und alle, die sie gut
genug kannte, um ihnen in dieser Angelegenheit vertrauen zu
können, waren womöglich auch dem mondgesichtigen Oshai und
seinem Messerstecher bekannt. Drei Nächte hatte sie auf dem
Dachboden eines Weinhändlers verbracht, mit dem sie in jungen
Jahren ein Verhältnis gehabt hatte. Er war damals schon verheiratet
gewesen - mit der Frau, die Amat nun ein Stockwerk tiefer rumoren
hörte. Damals hatte niemand von ihrer Liebesbeziehung gewusst.
Also würde wohl auch jetzt keiner darauf kommen.
Das Zimmer - wenn es diesen Namen denn verdiente - war
niedrig und dunkel. Amat konnte nicht mal sitzen, ohne mit dem
Kopf das Dach zu berühren. Die Sonne heizte die Ziegel über ihr so
sehr auf, dass sie sich kaum anfassen ließen. Wilsins Verwalterin lag
matt und elend auf einer groben Strohmatte und gab sich alle Mühe,
keine Geräusche zu machen, die ihre Anwesenheit verraten
könnten.
Sie träumte nicht, doch ihre Gedanken kreisten wieder und wieder
auf der gleichen Bahn, und was ihr dabei durch den Kopf ging, war
dem Wachbewusstsein mindestens so fern wie der
Traumverlorenheit. Marchat war irgendwie in einen traurigen
Eingriff verwickelt worden, der abscheulicherweise eine Frau
betraf, die belogen und betrogen und nach Saraykeht gebracht
worden war, damit der Andat den Eingriff durchführte. Aber
warum? Welches Kind mochte so wichtig sein? Vielleicht war es
wirklich von einem König der Östlichen Inseln gezeugt worden, und
das Mädchen wusste nicht, wessen Kind sie da austrug, und …
Nein. Es gab keinen Grund, sie hierherzubringen. Schließlich
konnte man unerwünschten Nachwuchs auf vielerlei Weise
loswerden. Auf den Andaten war man da wirklich nicht
angewiesen. Also von vorn.
Vielleicht war die junge Frau nicht, was sie zu sein schien.
Womöglich war sie verrückt und doch irgendwie kostbar.
Vielleicht vertrug sie keine Bluttees, und der Andat sollte ihren
Nachwuchs beseitigen, ohne ihr Medizin zu verabreichen. Und das
Haus Wilsin Nein. Wenn es einen echten, menschlichen Grund für
diese Farce gab, hätte Marchat ihn ihr nicht verheimlichen müssen.
Also noch mal von vorn.
Es ging nicht um die Frau, den Vater oder das Kind. So viel hatte
Marchat ihr verraten. Sie alle waren unbedeutend. Dann aber
blieben nur das Unternehmen und der Andat. Also lag die Lösung
dort. Wenn es denn eine Lösung gab und alles nicht nur ein
Fiebertraum war. Vielleicht wollte das Haus Wilsin mit Hilfe des
Khais ein Wunschkind abtreiben und die gemeinsame Schuld
alsdann nutzen, um vom Khai die eine oder andere Gefälligkeit zu
erlangen …
Amat rieb die Daumenballen gegen die Augen, bis sie grüne und
goldene Sterne leuchten sah. Ihre Gewänder waren verschwitzt und
völlig verknäult. Im Stockwerk unter ihr hämmerte jemand, und sie
hörte Holz auf Holz schlagen. Wenn sie an einem Ort mit
angenehmerer Temperatur über eine Lösung hätte nachdenken
können, hätte sie sie längst gefunden - davon war sie überzeugt.
Seit drei Tagen grübelte sie nun darüber nach.
Drei Tage. Und das war nur der Anfang von vier Wochen. Oder
fünf. Sie rollte sich zur Seite und nahm die Wasserflasche, die Kirath
- ihr ehemaliger Liebhaber - ihr am Morgen gebracht hatte. Sie war
schon mehr als halbleer. Ich muss zurückhaltender sein, dachte sie,
nippte an dem lauwarmen Wasser und legte sich wieder hin.
Irgendwann würde es Nacht werden.
Und langsam, quälend langsam, wurde es Nacht. In der
Dunkelheit unterm Dach nahm sie den Abend nur als Wechsel der
Geräuschkulisse wahr, als flüchtigen Geruch eines gekochten
Abendessens, als minimale Abkühlung ihres engen Gefängnisses.
Mehr brauchte sie nicht, um zu wissen, dass sie sich bereitmachen
musste. Sie kauerte neben der Falltür, bis sie Kirath kommen hörte,
der auf einer schmalen Leiter zu ihr hochstieg. Amat öffnete die
Luke, und er tauchte mit einer Blendlaterne aus der Dunkelheit
unter ihr auf. Ehe sie ein Wort sagen konnte, bedeutete er ihr, zu
schweigen und ihm zu folgen. Als sie die Leiter hinunterstieg,
fuhren ihr stechende Schmerzen durch Hüfte und Knie, und doch
war es besser, sich zu bewegen als reglos dazuliegen. So leise wie
möglich folgte sie Kirath durch das dunkle Haus und die Hintertür
in einen kleinen, mit Efeu bewachsenen Garten. So schwül der
Sommerwind auch war - es war herrlich, ihn im Gesicht zu spüren.
Auf einer Steinbank standen Quellwasser in Tonschalen, frisches
Brot, Käse und Obst, und Amat schlang dies alles in sich hinein,
während Kirath redete.
»Ich hab vielleicht etwas gefunden«, sagte er. Seine einst so
geschmeidige Stimme war rau und kratzig geworden. »Ein Bordell
im Vergnügungsviertel, und nicht mal eins von den besten. Aber
der Besitzer sucht jemanden, der seine Bücher prüft und in Ordnung
bringt. Ich hab erwähnt, dass ich jemanden kenne, der womöglich
bereit wäre, diese Arbeit gegen einige Wochen Unterschlupf zu
machen. Er ist interessiert.«
»Ist er vertrauenswürdig?«
»Ovi Niit? Ich weiß es nicht. Er zahlt seinen Wein immer im
Voraus, aber … Vielleicht sollte ich weitersuchen. In ein paar Tagen
zieht eine Karawane nach Norden. Vielleicht gelingt es mir »Nein«,
sagte Amat. »Da oben bleib ich keinen Tag länger. Jedenfalls nicht,
wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.«
Kirath fuhr sich über die Glatze. Im schwachen Lampenlicht wirkte
seine Miene gleichzeitig erleichtert und besorgt. Er wollte Amat so
dringend loswerden, wie sie ihr Versteck unter seinem Dach
verlassen wollte.
»Ich kann dich heute Nacht dorthin bringen, wenn du willst«,
schlug er vor. Das Vergnügungsviertel war ein langes Stück Weg
von Kiraths kleinem Anwesen entfernt. Amat biss in ein Stück Brot
und überlegte. Es wird furchtbar wehtun, doch wenn ich mich auf
meinen Stock und auf Kirath stütze, wird es schon gehen, dachte sie
und nickte.
»Dann hole ich jetzt deine Sachen.«
»Und einen Umhang mit Kapuze«, bat Amat.
Sie hatte sich noch nie so auffällig gefühlt wie auf diesem Marsch
ins Vergnügungsviertel. Dafür, dass es schon so spät war, schienen
ungewöhnlich viele Leute unterwegs zu sein. Aber die Ernte war
schließlich gerade vorbei, und zu dieser Zeit war in Saraykeht
immer besonders viel los. Dass Amat seit Jahren keine
Sommernächte mehr in Teehäusern und auf Straßenfesten verbracht
hatte, bedeutete ja nicht, dass es derlei nicht mehr gab. Anders als
Amat hatte die Stadt sich nicht verändert.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, die an einer
Straßenecke zusammengelaufen war. Dort hatte ein Feuerhüter
seinen Ofen geöffnet und warf mit vollen Händen Pulver in die
Flammen, die daraufhin blau, grün und blendend weiß
aufflackerten. Schweiß ließ die Haut des Feuerhüters glänzen, doch
er lächelte. Und die Zuschauer - allesamt weit genug entfernt, um
nicht von der Hitze geröstet zu werden klatschten begeistert. Amat
erkannte zwei Weber, die plaudernd auf der Straße saßen und der
Vorführung zusahen, ohne Notiz von ihr zu nehmen.
Das Bordell selbst brodelte vor Geschäftigkeit. Selbst draußen auf
der Straße standen die Leute trinkend und plaudernd herum. Amat
blieb ein kleines Stück entfernt an der Einmündung einer Gasse
stehen, während Kirath ins Haus ging. Das Gebäude hatte zwei
Ebenen. Zur Straße hin war es einstöckig, besaß jedoch einen
Dachgarten mit Pavillon. Der rückwärtige Teil des Hauses trug ein
Obergeschoss. Außerdem war eine hohe Mauer zu sehen, hinter der
womöglich ein Garten, sicher aber die Küche lag. Insgesamt gab es
nur wenige und sehr schmale Fenster, die allesamt hoch oben
angebracht waren. Das sollte vermutlich für Ungestörtheit sorgen.
Oder sicherstellen, dass niemand entkommen konnte.
Kiraths Silhouette erschien im von innen beleuchteten
Haupteingang des Hauses. Der Weinhändler winkte sie heran, und
auf ihren Stock gestützt humpelte Amat los.
Der große Saal war voller Spieler, die an Tischen saßen und ihr
Glück bei Karten, Würfeln oder ähnlichem suchten. Der Rauch
seltsamer Kräuter hing wie eine Dunstglocke in der Luft.
Wenigstens fanden keine Schaukämpfe zwischen Menschen oder
Tieren statt. Kirath führte sie durch eine dicke Holztür in den
hinteren Teil des Hauses. Dort befand sich ein weiterer Saal, wo
Huren es sich auf Sesseln und Sitzkissen bequem gemacht hatten.
Die Lampen sorgten für gedämpftes Licht und warfen so gut wie
keinen Schatten. An der Wand murmelte ein Zimmerspringbrunnen.
Die hier versammelten jungen Männer und Frauen wandten ihnen
beim Eintreten den Blick zu, kehrten aber gleich wieder zu ihrer
Unterhaltung zurück, da sofort klar war, dass weder Amat noch
Kirath gekommen waren, um sich einen Lustknaben oder ein
Freudenmädchen auszusuchen. Ein kurzer Flur, von dem rechts und
links Türen abzweigten, führte schließlich um die Ecke und endete
vor einer schweren, eisenbeschlagenen Holztür, die sich vor ihnen
öffnete.
Unvermittelt betrat Amat das schmutzige Hinterhaus. Sie stand in
einem großen Aufenthaltsraum mit Tischen, an dessen rechter Seite
sich Nischen entlangzogen, in denen sich Stoffe, Leder und
Nähbänke befanden. Einige Türen führten aus dem Zimmer, ohne
dass ihr klar war, wohin.
»Hier entlang«, sagte ein Mann. Er war hervorragend gekleidet,
hatte aber schlechte Zähne. Während er sie zwischen den Tischen
aus unbehandeltem Holz hindurch zu einer schmalen Tür führte,
wies Amat mit fragender Gebärde auf ihn, und Kirath nickte. Das
war der Besitzer. Ovi Niit.
Die Geschäftsbücher lagen auf einem niedrigen Tisch im
Hinterzimmer. Amats Laune verschlechterte sich, als sie die
Unterlagen sah, denn es handelte sich um einen Wust einzelner
Blätter und schlecht gebundener Hefte aus billigem Papier. Die
Einträge waren in sechs verschiedenen Handschriften erfolgt, und
jeder dieser Möchtegernbuchhalter schien seine eigene
Vorgehensweise gehabt zu haben. Beträge waren aufgeschrieben,
durchgestrichen und aufs Neue eingetragen worden.
»Hier kann es nur darum gehen zu retten, was zu retten ist«, sagte
Amat und legte das Heft, das sie prüfend in die Hand genommen
hatte, wieder auf den Tisch.
Ovi Mit lehnte hinter ihr im Türrahmen. Seine schweren Lider
erweckten den Eindruck, er werde gleich einnicken, und er roch
nach saurem Schweiß und altem Parfüm. Sie schätzte ihn jung genug,
um ihr Sohn sein zu können.
»Ich könnte diese Papiere binnen vier Wochen einigermaßen in
Ordnung bringen. Vielleicht brauche ich allerdings ein paar Tage
mehr.«
»Wenn ich die Unterlagen erst in einem Monat bräuchte, wäre das
für meine Leute kein Problem. Aber ich brauche sie jetzt«, sagte Ovi
Niit. Kirath, der hinter ihm stand, machte ein ernstes Gesicht.
»Ich kann Euch in einer Woche eine Schätzung vorlegen«, erklärte
Amat. »Die wird aber nur ungefähre Zahlen enthalten, deren
Richtigkeit ich nicht zu garantieren vermag.«
Ovi Niit musterte sie auf eine Weise, die sie trotz der heißen
Nacht frösteln ließ. Er neigte den Kopf erst nach rechts, dann nach
links, als erwäge er seine Möglichkeiten.
»Die Schätzung bekomme ich in drei Tagen«, entgegnete er. »Und
binnen zwei Wochen ist die ganze Arbeit erledigt.«
»Ich feilsche hier doch nicht mit Euch«, sagte Amat und machte mit
einer schroffen, aber nicht beleidigenden Gebärde klar, dass sie
nicht vorhatte, sich alles bieten zu lassen. »Ich sage Euch nur, wie
die Dinge liegen. Diese Arbeit ist in zwei Wochen nicht zu schaffen.
Binnen drei Wochen vielleicht, wenn es gutgeht, eher aber in vier.«
Stille folgte ihren Worten. Dann lachte Ovi Niit leise in sich hinein.
»Kirath hat mir erzählt, du wirst gesucht. Und deine Häscher bieten
eine Belohnung.«
Amat machte eine bestätigende Gebärde.
»Angesichts dessen hätte ich mehr Einsatzbereitschaft von dir
erwartet.« Ovi Na ließ seine Stimme verletzt klingen, doch seine
Augen waren eiskalt.
»Dann hätte ich lügen müssen, und das hilft weder Euch noch
mir.«
Ovi Niit ließ sich diesen Einwand durch den Kopf gehen und
nickte schließlich erst ihr, dann Kirath zu, den er - mit einer
entschuldigenden Geste, die ihr galt - aus dem Zimmer zog. Kaum
war die Tür hinter den beiden geschlossen, lehnte sich Amat an den
Tisch und presste die Hand an die schmerzende Hüfte. Der
Fußmarsch hatte ihre verspannten Muskeln ein wenig gelockert,
doch sie hätte noch immer einen Wochenlohn für die Salbe gegeben,
die in ihrer Wohnung zurückgeblieben war. Jetzt hörte sie Kirath
nebenan im Aufenthaltsraum lachen. Er klang erleichtert, und das
ließ Amat etwas ruhiger werden. Die Dinge schienen gut zu laufen.
Im Hinterkopf flüsterte kurz eine Stimme, das Ganze sei vielleicht
nur eine Falle, und Ovi Niit und Kirath hätten womöglich schon
einen Boten zu dem Mondgesicht Oshai gesandt, während sie noch
arglos wartete. Sie schob diesen Gedanken beiseite. Sie war müde.
Die drei höllischen Tage unterm Dach hatten an ihren Nerven
gezehrt - das war alles. Im Aufenthaltsraum öffnete und schloss sich
eine Tür, und kurz darauf trat Ovi Niit wieder ein.
»Ich habe unserem gemeinsamen Freund einige Silberstücke
gegeben und ihn nach Hause geschickt«, sagte der junge Mann. »Du
wirst bei den Huren schlafen. In der Morgendämmerung gibt es ein
Essen für alle, danach eins am frühen Nachmittag und ein letztes am
späten Abend.«
Amat Kyaan machte eine Gebärde der Dankbarkeit, die Ovi Niit
so förmlich beantwortete, dass es fast sarkastisch wirkte. Als er
dann zuschlug, geschah es so rasch, dass sie seine Hand nicht mal
hatte kommen sehen. Der Ring an seiner Rechten schnitt ihr in die
Lippen. Sie stürzte nach hinten und schlug hart auf. Ihre Hüfte tat
rasend weh.
»Die Schätzung binnen drei Tagen, die Bilanz binnen zwei
Wochen. Und für jeden Tag Verspätung lasse ich dich bluten«, sagte
er mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Wenn du mir noch einmal
sagst, ›wie die Dinge liegen‹, liefere ich dich sofort denen ans
Messer, die dich suchen. Und wenn du auf meinen Fußboden
blutest, machst du das sauber, du abgehalfterte Kaufmannshure.
Verstanden?«
Zuerst war Amat nur überrascht, dann verwirrt, dann verärgert.
Er musterte sie, und sie merkte, wie gierig er auf eine Antwort
wartete. Der Eifer, mit dem er ihrer Erniedrigung entgegensah,
wäre bemitleidenswert gewesen - wie der Anblick eines Kindes, das
mit der Peitsche nach Hunden schlägt -, doch leider war sie es, die
diese Peitsche traf. Sie hatte das Gefühl, sie müsse an ihrem Trotz
und ihrem Stolz ersticken, doch was sie im Mund spürte, war nur
Blut.
Verbeuge dich, dachte sie. Das ist nicht die Zeit, stur zu sein.
Unterwirf dich und überlebe.
Und Amat Kyaan, Verwalterin des Hauses Wilsin, machte eine
Gebärde dankbarer Ergebenheit.
4

»Ich schaff das nicht«, sagte Liat über das Plätschern des Wassers
hinweg. »Es ist einfach alles zu viel.«
Der Waschbereich lag vor den Unterkünften und bestand nur aus
einem offenen Zulauf und einem Abfluss. Itani stand nackt unter
dem Wasserstrahl und schrubbte sich Hände und Arme mit
Bimsstein.
Die Sonne stand zwar noch drei oder vier Handbreit über dem
Horizont, war aber schon hinter den Lagerhäusern verschwunden.
Bald würde es Abend werden. Liat saß auf einer Bank, lehnte sich
an die efeubewachsene Mauer und zupfte an den dicken,
wächsernen Blättern.
»Amat hat alles halb erledigt liegen lassen«, fuhr sie fort. »Die
Verträge mit dem alten Sanya - wie hätte ich wissen sollen, dass er
sie nicht zurückbekommen hat? Schließlich hat sie mir nicht gesagt,
ich solle sie ihm aushändigen lassen. Und die Lieferungen nach Obar
waren nicht abgestimmt darum steht das dritte Lagerhaus nun drei
Wochen halb leer. Und jedes Mal, wenn etwas schiefgeht, kommt
Wilsin-cha und … Er weist mich nicht zurecht, aber er sieht mich
immer so merkwürdig an. Ich bin ihm offenbar peinlich.«
Itani trat unter dem künstlichen Wasserfall hervor. Seine Hände
und Arme waren schmutzigblau und spielten dort, wo er sich die
Haut beinahe wundgescheuert hatte, ins Rötliche. Er und die
anderen Arbeiter hatten den ganzen Tag Farbpigmente zur Färberei
geschafft, und sie alle waren in den verschiedensten Farben davon
gezeichnet. Liat sah ihn verzweifelt an, da seine Fingernägel nun
wochenlang schmutzig aussehen würden.
»Hat er denn gar nichts gesagt?«, fragte Itani und wischte sich das
Wasser von Brustkorb und Armen.
»Doch, sicher. Immerhin habe ich Amats Aufgaben übernommen
und bereite mich obendrein auf eine Audienz beim Khai vor.«
»Ich meine, hat er angedeutet, dass er mit deiner Arbeit nicht
zufrieden ist? Oder bleibst du nur hinter deinen eigenen
Ansprüchen zurück?«
Liat spürte sich rot werden, machte aber eine fragende Gebärde.
Itani runzelte die Stirn und zog frische Sachen an. Das Untergewand
klebte an seinen Beinen.
»Denkst du, er will, dass eine unfähige Mitarbeiterin seine
Angelegenheiten beim Khai vertritt?«, fragte sie. »Warum sollte er?«
»Vielleicht verlangst du ja viel mehr von dir als er? Du hast diese
Aufgabe sehr plötzlich bekommen und bist nicht von Amat
eingearbeitet worden. Ich habe den Eindruck, dass du dich
angesichts dieser Umstände sehr gut schlägst. Und das ist sicher
auch Wilsin-cha bewusst. Wenn er dir nicht sagt, dass er
unzufrieden mit dir ist, dann vermutlich, weil du deine Arbeit
besser machst als du denkst.«
»Du meinst also, ich habe eine Entschuldigung, wenn was
schiefgeht«, stellte Liat fest. »Das tröstet mich wenig.«
Itani setzte sich mit einem resignierten Seufzer neben sie. Sein
Haar war noch tropfnass, und Liat rückte ein wenig von ihm ab,
damit ihr Gewand trocken blieb. An seiner seltsam beherrschten
Miene erkannte sie, dass er der Meinung war, sie sei übertrieben
streng mit sich. Ihr Verdacht, er könnte damit nicht ganz unrecht
haben, machte sie nur noch gereizter.
»Wenn du willst, können wir heute Abend in deine Kammer
gehen. Dort kannst du dich mit den Sachen beschäftigen, die deine
besondere Aufmerksamkeit erfordern«, bot er ihr an.
»Und womit würdest du dich unterdessen beschäftigen?«
»Ich wäre einfach bei dir«, sagte er schlicht. »Die anderen werden
das schon verstehen.«
»Ja, Liebster«, sagte Liat spöttisch. »Entzieh du dich nur der
Gesellschaft deiner Kollegen, weil ich Wichtigeres zu tun habe als
sie! Dann lästern sie nur umso mehr über mich. Sie denken ohnehin
schon, ich würde auf sie herabsehen.«
Itani seufzte erneut und lehnte sich in den Efeu zurück, bis er in
der Mauer zu verschwinden schien. Das Plätschern des Wassers
dämpfte die Geräusche der Stadt. Jeden Moment konnte einer
seiner Kollegen um die Ecke kommen oder aus der Unterkunft
treten, aber noch durften sie sich der Illusion hingeben, allein zu
sein. Normalerweise genoss Liat dieses Gefühl, doch nun war es
unangenehm wie ein Stein im Schuh.
»Du könntest mir ja sagen, dass ich mich täusche«, meinte sie.
»Nein. Sie denken wirklich so über dich. Aber wir könnten
dennoch gehen. Ist doch egal, was sie denken. Die sind nur
eifersüchtig. Wenn wir am Abend die Unterlagen für Wilsin-cha
durcharbeiten, kannst du morgen früh -«
»So funktioniert das nicht. Ich kann nicht einfach vier, fünf
Stunden mehr arbeiten, und die Probleme verschwinden. Da geht es
nicht darum, Baumwollballen im Lagerhaus von einem Ort zum
anderen zu wuchten. Da geht es um komplizierte Dinge. Dinge, die
ein Arbeiter nicht versteht.«
Itani nickte langsam und zupfte an den Efeuranken über seinem
Kopf. Seine sonst so vollen Lippen wurden einen Moment schmal,
und er machte die ergebene Geste eines Menschen, der eine
Belehrung akzeptiert, doch Liat merkte, wie förmlich er dabei war,
und begriff, dass sie ihn beleidigt hatte.
»Ihr Götter, Itani, ich hab es nicht so gemeint. Es gibt bestimmt
vieles, wovon ich keine Ahnung habe … Das Stemmen von Lasten
zum Beispiel. Oder wie man einen Karren zieht. Aber hier geht es
um schwierigere Dinge. Was Wilsin-cha von mir verlangt, ist
wirklich schwierig.«
Und ich versage, dachte sie dann. Merkst du denn nicht, dass ich
versage? »Lass mich dich wenigstens heute Abend ablenken«, schlug
Itani vor, erhob sich und bot ihr die Hand. Sein Blick war noch
immer verhärtet, obwohl er sich den Ärger nicht anmerken lassen
wollte. Liat stand auf, ohne seine Hand zu nehmen.
»In vier Tagen trete ich vor den Khai. In vier Tagen! Ich bin völlig
unvorbereitet. Amat hat mir mit keinem Wort gesagt, wie ich diese
Sache handhaben soll. Ich weiß nicht mal, wann sie zurückkommt.
Und du denkst ernsthaft, dass ein abendliches Besäufnis mit einer
Horde Arbeiter in einem billigen Teehaus mich das vergessen lassen
würde? Wirklich, Tani ich hab das Gefühl, gegen eine Wand zu
reden. Du hörst einfach nicht zu!«
»Ich hab dir die ganze Zeit zugehört. Ich habe nichts anderes
getan.«
»Das hat ja viel genützt! Nach dem, was du verstanden hast, hätte
ich auch ein Hund sein und dich anbellen können!«
»Liat«, begann Itani schroff, machte dann aber eine Pause. Er
wurde hochrot im Gesicht und breitete ergeben die Arme aus. Als
er fortfuhr, war der mühsam beherrschte Ärger in seiner Stimme
unüberhörbar. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Wenn ich
dir helfen soll, deine Aufgaben zur Zufriedenheit von Wilsin-cha zu
erfüllen, dann helle ich dir. Wenn du meine Gesellschaft suchst,
damit ich dich eine Weile von deinen beruflichen Verpflichtungen
ablenke, bin ich gern dazu bereit, …«
»Bereit? Wie reizend«, begann Liat, doch Itani ließ sich nicht
unterbrechen, sondern fuhr mit erhobener Stimme fort.
»… aber wenn du etwas anderes von mir erwartest, dann bin ich
einfacher Arbeiter wohl zu blöd, um es zu begreifen.«
Liat merkte, dass sie einen Kloß im Hals hatte, und hob
abwehrend die Hände. Schwere Verzweiflung senkte sich auf sie
herab. Sie sah ihn an - ihren Itani, der wirklich wütend war. Er
begriff es nicht. Er hatte keine Ahnung. Es konnte doch nicht so
schwer sein zu merken, wie verängstigt sie war! »Ich hätte nicht
kommen sollen«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Liat!«
»Nein«, rief sie, wandte sich ab und trocknete sich dabei mit dem
Ärmel die Tränen. »Es war ein Fehler. Vergnüg du dich mit deinen
Freunden - ich geh zurück in meine Kammer.«
Itani, dessen Ärger nun deutlich gemildert war, legte ihr die Hand
auf den Arm. »Ich komme mit dir, wenn du magst.«
Dann dauert das hier noch länger, dachte sie, sagte aber nichts,
sondern schüttelte nur den Kopf, entzog sich ihm sanft und machte
sich auf den weiten Weg, der sie bergauf und nach Norden zu ihrer
Kammer in Wilsins Anwesen führen würde. Auf halbem Weg hielt
sie am Karren eines Verkäufers, trank kaltes Zitronenwasser und
wartete, um zu sehen, ob Itani ihr gefolgt war. Er war ihr nicht
gefolgt, und sie wusste wirklich nicht, ob sie darüber enttäuscht
oder erleichtert war.

Die junge Frau, die sich ihm als Anet Nyoa vorgestellt hatte, hielt
ihm mit einladender Gebärde eine Pflaume hin. Maati nahm die
Frucht mit förmlichem Dank entgegen und fühlte sich dabei
zunehmend unwohl. Heshai hätte eine halbe Handbreit nach Mittag
von seiner Privataudienz bei Khai Saraykeht zurück sein und wieder
im Garten auftauchen sollen. Jetzt war es schon fast anderthalb
Handbreit später, und Maati saß noch immer auf seiner Bank, von
der er einen schönen Ausblick auf die Ziegeldächer der Stadt und
das Labyrinth der Gassen und Wege zwischen den Gärten und
Palästen hatte. Und um die Dinge noch unangenehmer zu machen,
war Anet Nyoa - Tochter aus einer Familie von Utkhais, die Maati
(wie er glaubte) unbedingt hätte kennen müssen - stehen geblieben,
um sich mit ihm zu unterhalten. Und ihm Obst anzubieten. Und
jedes Mal, wenn es Zeit für sie war, sich zu verabschieden, hatte sie
noch etwas zu reden gewusst.
»Du scheinst jung zu sein«, sagte sie nun. »Ich dachte, Dichter
seien ältere Männer.«
»Ich bin noch in der Ausbildung«, antwortete Maati. »Ich habe
gerade erst angefangen.«
»Und wie alt bist du?«
»Bald sechzehn.«
Die junge Frau machte eine anerkennende Gebärde, die er nicht
recht zu deuten wusste, denn er begriff nicht, was es daran zu
würdigen geben sollte, dass jemand ein bestimmtes Alter hatte.
Dann sah sie ihm auch noch auf eine Art in die Augen, die ihn
vermuten ließ, sie habe ihn womöglich mit jemandem verwechselt.
»Und Ihr?«
»Ich werde bald achtzehn«, antwortete sie. »Meine Familie ist aus
Cetani nach Saraykeht gezogen, als ich noch ein kleines Mädchen
war. Wo lebt deine Familie?«
»Ich habe keine«, erwiderte Maati. »Besser gesagt: Als ich auf die
Schule geschickt wurde, hat man mich … Meine Angehörigen leben
in Pathai, aber ich bin … ich gehöre nicht mehr zur Familie, sondern
bin jetzt ein Dichter.«
Ein Anflug von Bedauern trat in ihre Miene, und sie beugte sich
vor und strich ihm übers Handgelenk.
»Das muss schwer für dich sein«, sagte sie und sah ihm dabei tief
in die Augen. »So allein.«
»Es geht schon«, erwiderte Maati und gab sich alle Mühe, lässig zu
klingen. Aus ihrem Gewand stieg ein schweres, erdiges Aroma -
gerade stark genug, um die Blütenduftwolken des Gartens zu
durchdringen. »Ich hab mich ganz gut eingelebt.«
»Es ist tapfer, dass du dir den Kummer so wenig anmerken lässt.«
Als habe er Maatis Gebet erhört, trat die vollkommene Gestalt des
Andaten aus einem kleinen Gebäude am anderen Ende des Gartens.
Er trug ein schwarzes, mit scharlachroten Fäden durchwirktes
Gewand im Stil des Alten Reiches. Maati sprang auf, schob die
Pflaume in seinen Ärmel und verneigte sich zum Abschied.
»Ich bitte um Entschuldigung. Der Andat ist gekommen, und ich
fürchte, ich werde gebraucht.«
Die junge Frau machte eine zwar zustimmende, aber auch ein
wenig bedauernde Gebärde, doch Maati wandte sich rasch ab und
eilte den Weg hinunter, wobei der weiße Kies unter seinen Füßen
knirschte. Erst als er Samenlos erreicht hatte, sah er sich um.
»Na, mein Lieber, das war ja ein hastiger Rückzug.«
»Wie meinst du das?«
Samenlos hob eine dunkle Braue, und Maati spürte sich erröten.
Der Andat aber winkte ab und sagte: »Heshai ist den ganzen Tag
unterwegs und will, dass du ins Haus zurückkehrst und seine
Bücherregale abstaubst.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du kommst mir also langsam auf die Schliche«, sagte der Andat
lächelnd. »Heshai kommt gleich. Die Audienz beim Khai hat sich
hingezogen, aber die Pläne für den Nachmittag bleiben
unverändert.«
Maati ertappte sich dabei, das Lächeln des Andaten zu erwidern.
Was man auch sonst über ihn sagen mochte: Heshai betreffend, war
sein Ratschlag goldrichtig gewesen. Maati war am nächsten Morgen
aufgestanden, um seinen Meister bei jeder Erledigung zu begleiten,
die der Khai ihm aufgetragen hatte. Das schien dem alten Dichter
zunächst unangenehm, doch schon gegen Mittag hatte er Maati
mehr und mehr erklärt, was der Andat zu tun hatte, wie diese
Aufgaben mit den Sitten am Hof harmonierten und wie segensreich
das Wirken von Samenlos für die Geschäfte der Stadt war. Und in
den folgenden Tagen hatte der Andat einen Ton angeschlagen, der
weiterhin erschreckend respektlos und zu gerissen war, als dass
man ihm hätte trauen können, der ihn aber - anders als Maati zuerst
befürchtet hatte - keinesfalls als bösartige Kreatur erscheinen ließ.
»Du solltest den Alten wirklich in die Wüste schicken. Ich bin ein
viel besserer Lehrer«, sagte Samenlos nun. »Das Mädchen vorhin
zum Beispiel - ich könnte dir beibringen, wie man »Danke, mein
guter Samenlos, aber ich lasse mich von Heshai-kvo unterrichten.«
»Doch wohl nicht bei diesem Thema! Oder willst du nur lernen,
wie man mit Huren handelseinig wird?«
Maati machte eine wegwerfende Geste. In diesem Moment tauchte
Heshai mit zornig gerunzelten Brauen in einem Torbogen auf. Er
bewegte die Lippen, redete also mit sich selbst oder einem
unsichtbaren Zuhörer. Als er Maatis Begrüßungsgebärde sah,
reagierte er mit einem kurzen, gezwungen wirkenden Lächeln.
»Ich habe ein Treffen mit dem Haus Tiyan«, grollte der Dichter.
»Irgendwelche Dummköpfe haben den Khai um eine Privataudienz
gebeten. Es geht um einen Vertrag mit den Westgebieten.
Genaueres weiß ich nicht.«
»Ich würde Euch gern begleiten, wenn es Euch recht ist«, sagte
Maati. Dieser Satz war in den letzten Tagen zu einer stehenden
Redewendung geworden, und Heshai gewährte ihm seine Bitte mit
der für ihn offenbar typischen Zerstreutheit. Der alte Dichter
wandte sich nach Süden und hielt hügelabwärts auf die niedriger
gelegenen Paläste zu. Maati und Samenlos folgten ihm. Vor ihnen
lag die Stadt mit ihren grauen und roten Dächern und ihren Straßen,
die an den Hafen mit den vielen Schiffsmasten führten, hinter denen
das Meer begann. Über all dem aber stand der riesige Himmel, der
alles winzig wirken ließ. Das Ganze wirkte zu bunt und
vollkommen, um wahr zu sein, und schien der Fantasie eines Malers
entsprungen. Durch das Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies und
den fernen Gesang der Gartensklaven hindurch murmelte Heshai
fast unhörbar in sich hinein und machte dazu fahrige Gesten und
nur angedeutete Gebärden.
»Er war beim Khai«, sagte Samenlos ganz leise. »Es muss ein sehr
unerfreuliches Gespräch gewesen sein.«
»Worum ging es denn?«
Diese Frage bekam Maati von Heshai selbst beantwortet.
»Khai Saraykeht ist ein habsüchtiger, eingebildeter Widerling. Wer
den Kern des Problems benennen will, tut gut daran, dort
anzusetzen.«
Maati stolperte und stieß einen erschreckten Laut aus, der
zwischen Husten und Auflachen lag. Als der Dichter sich umdrehte,
versuchte der Junge, irgendeine Gebärde zu machen, brachte aber
nichts Rechtes zustande.
»Was?«, fragte der Dichter herrisch.
»Der Khai Ihr habt gerade …«, stotterte Maati.
»Er ist auch nur ein Mensch«, erwiderte Heshai. »Auch er kann
nicht essen, ohne auf die Toilette zu müssen. Und er redet im Schlaf
wie jeder andere.«
»Aber er ist der Khai!«
Heshai machte eine wegwerfende Handbewegung und kehrte
Maati und dem Andaten wieder den Rücken zu. Samenlos zupfte
den Jungen am Gewand und machte ihm ein Zeichen, sich näher zu
ihm zu beugen, was Maati auch tat, wobei er die Augen auf Kiesweg
und Dichter gerichtet hielt.
»Er hat den Khai gebeten, die Erfüllung eines Vertrags zu
verweigern«, flüsterte Samenlos. »Der Khai hat ihn ausgelacht und
gesagt, er soll nicht kindisch sein. Heshai hatte seine Bitte tagelang
vorbereitet und durfte nicht mal seine ganze Argumentation
vortragen. Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Es war wirklich
ein reizender Augenblick. Aber vermutlich hat der alte Ochse dir
genau deshalb nichts davon erzählt. Er mag es offenbar nicht, wenn
ein Schüler seine Erniedrigung mitbekommt. Ich schätze, er wird
sich heute schwer betrinken.«
»Um was für einen Vertrag ging es denn?«
»Das Haus Wilsin hat die Vermittlung eines traurigen Eingriffs
übernommen.«
»Eines traurigen Eingriffs?«
»Heshai soll meine Wenigkeit zu einer Fehlgeburt nutzen«,
erklärte Samenlos. »Das ist sicherer als Bluttees und funktioniert
auch bei fortgeschrittener Schwangerschaft. Und zur Freude von
Khai Saraykeht ist so ein Eingriff teuer.«
»Und wir Dichter tun so etwas?«, fragte Maati ungläubig.
Samenlos schien diese Frage für ironisch oder einen Witz zu halten
und machte eine Gebärde, die seine Wertschätzung von Maatis
Humor zum Ausdruck brachte. »Wir tun, was uns befohlen wird,
mein Lieber. Wir zwei sind die Marionetten einer Marionette.«
»Es wäre sehr nett, wenn ihr endlich aufhören würdet, so laut
hinter meinem Rücken zu reden«, grollte Heshai.
Maati machte sofort eine entschuldigende Gebärde, doch der
Dichter drehte sich nicht mal um. Nach ein paar Schritten ließ der
Junge die Hände sinken. Samenlos führte schweigend die Hand zum
Mund und biss in etwas Dunkles, in eine Pflaume. Maati sah in
seinen Ärmel, und tatsächlich: Er war leer! Er machte eine so
fragende wie anklagende Gebärde. Das bleiche, vollkommene
Gesicht des Andaten lächelte verschmitzt, und womöglich lag auch
noch etwas anderes in seiner Miene.
»Ich bin gerissen, was?«, sagte er und warf Maati die angebissene
Frucht zu.
Bei den tiefer gelegenen Palästen wurden sie von einem jungen
Mann im gelben und silbernen Gewand des Hauses Tiyan begrüßt
und in ein Besprechungszimmer geführt. Sie setzten sich an einen
mit schwarzen Tintenflecken übersäten Holztisch, tranken kaltes
Wasser und aßen frische Datteln, deren Kerne der Andat für sie
entfernt hatte. Maati folgte den Verhandlungen nur mit halbem Ohr
und beschäftigte sich stattdessen mit dem furchtbaren und kaum
verhohlenen Zorn und Schmerz in der Stimme seines Lehrers und
der klammheimlichen Freude, die sie bei Samenlos ausgelöst hatten.
Er hatte den Eindruck, die Gefühle der beiden hielten einander die
Waage. Heshai, so überlegte er, konnte nicht lächeln, ohne quälende
Unzufriedenheit in Samenlos auszulösen, und der Andat wiederum
konnte nur dann begeistert strahlen, wenn der Dichter verzweifelt
war. Maati stellte sich vor, seinerseits in diesen lebenslangen
emotionalen Kampf verwickelt zu werden, wenn er die Herrschaft
über Samenlos übernähme, und dieser Gedanke bereitete ihm
großes Unbehagen.

Ovi Niits Haus hatte das furchtbare Unvermögen seiner


Buchhalter nur überlebt, weil er einen gewaltigen Umsatz machte.
Was da an Kupfer-, Silber- und Goldmünzen eingenommen wurde,
hatte Amat verblüfft und würde sie noch immer verblüffen, wenn
sie inzwischen nicht entsetzlich müde, geworden wäre. Außer ihrer
Schwester kannte sie niemanden, der in einem Bordell gearbeitet
hatte, und der Kontakt zu ihrer Schwester war damals abgebrochen.
Der Preis für ein Schäferstündchen war höher, als Amat gedacht
hatte, doch was die Frauen von dem Geld einstrichen, war ein
Hungerlohn. Und das war, wie sie bald feststellte, erst der Anfang.
Von Ausnahmen abgesehen, verloren die an den Spieltischen
versammelten Leute viel Geld und zahlten dafür obendrein Eintritt.
Der Wein war billig, und die berauschenden Kräuter, die ihm
zugesetzt wurden, waren kaum teurer. Was Ovi Niits Etablissement
jedoch für diese Getränke berechnete, war atemberaubend. Amat
argwöhnte, der Betrieb wäre sogar dann noch gewinnbringend,
wenn die Besucher nach ein paar Gläschen umsonst bei den Huren
liegen dürften. Es war erstaunlich.
Sie nahm ihren Stock, der am Schreibtisch lehnte, und stemmte sich
mühsam aus dem Stuhl hoch. Als sie fest auf den Beinen stand,
nahm sie die Blätter mit ihrer Schätzung, faltete sie zusammen und
schob sie in den Ärmel. Schließlich gab es keinen Grund, die
Überschlagsrechnung offen herumliegen zu lassen, ehe sie mit Ovi
Niit gesprochen hatte. Und obwohl sie ihre Berechnungen für
nutzlos hielt, würden sie genügen, die Frage zu beantworten, die sie
von ihm erwartete. Sie humpelte zur Tür und hinüber in den
Aufenthaltsraum.
Dort war es wirklich schmutzig. Kinder und Hunde tollten über
den Boden, der offenbar seit Menschengedenken nicht gewischt
worden war. Huren, die gerade frei hatten, saßen an den Tischen,
rauchten, erzählten sich Klatsch und drehten sich Zecken aus der
Haut. An der Längsseite befanden sich Nischen, in denen von
Krankheit, Gewalt oder Alter entstellte Frauen aufreizende
Kleidung aus Leder oder Stoff anfertigten. Kirath hatte unmöglich
wissen können, wie schlimm dieses Haus war. Oder er hatte sie
weit dringender loswerden wollen, als sie dachte. Oder sie war ihm
erheblich gleichgültiger, als sie es für möglich gehalten hätte.
Einer von Niits Schlägern hockte auf der Treppe zu Ovis
Privatgemächern. Die Blicke aller folgten Amat, als sie zu ihm
hinüberhumpelte. Das dicke Mädchen, das der eisenbeschlagenen
Tür zum Vorderhaus am nächsten saß, sagte etwas zu dem Mann
neben ihr und kicherte. Eine Rothaarige, die aus den Westgebieten
stammen oder Galtin sein mochte, hob die blonden Brauen und sah
weg. Ein Junge von fünf, sechs Jahren blickte zu ihr auf und lächelte.
Amat fuhr ihm durchs Haar und ging so würdevoll wie möglich auf
den Wächter zu.
»Ist Niit-cha oben?«, fragte sie.
»Er ist auf dem Markt. Fleisch einkaufen«, sagte der Mann.
Er hatte einen seltsamen Akzent, der ihn die Vokale lang sprechen
und die Wortenden verschlucken ließ. Sie vermutete, dass er aus
dem Osten stammte.
»Wenn er zurückkommt …«, begann sie, hielt aber inne, denn sie
hätte aus langer Gewohnheit fast dann schick ihn zu mir gesagt.
Stattdessen setzte sie neu an. »Wenn er zurückkommt, richte ihm
bitte aus, dass ich erledigt habe, worum er mich gebeten hat. Ich
lege mich jetzt hin, stehe ihm aber zur Verfügung, wenn er mit mir
reden will.«
»Sag ihm das doch selbst, Großmutter«, rief das dicke Mädchen,
doch der Wächter nickte.
Der Schlafsaal hatte keine Fenster. Bei Nacht erleuchtete nur ein
einzelnes Talglicht die Pritschen an den Wänden, die zu fünft
übereinanderlagen, wie es auf keinem Schiff schlimmer hätte sein
können. Statt eines richtigen Mückennetzes war billiges Leinen über
den Einschlupf zu jeder dieser sargartigen Schlafstätten gespannt,
und auf den rohen Brettern lag nur eine dünne, fleckige Matte.
Zwar war es hier drin nicht so heiß wie in dem Glutofen unterm
Dach, in dessen Finsternis sie sich zuvor versteckt hatte, doch
drückend und stickig war es allemal. Amat stellte fest, dass eine der
unteren Pritschen frei war, und legte sich dort nieder, wobei ihr
Hüftgelenk geradezu knarrte. Sie nahm ihren Stock mit ins Bett, da
sie fürchtete, jemand könnte ihn ihr wegnehmen, und hielt sich nicht
damit auf, den leinenen Mückenschutz festzuzurren.
Drei Tage hatte sie nun über einer Aufgabe gesessen, die
unerfüllbar war. Als sie die Lider schloss, tanzten ihr die
hingekritzelten Zahlen und bestenfalls halb entzifferbaren
Unterlagen noch immer vor den Augen. Sie wollte diese Bilder
loswerden, hätte aber ebenso gut versuchen können, die Flut mit
den Händen aufzuhalten. Die Pritsche über ihr knackte, als die
Schläferin sich umdrehte. Amat fragte sich, ob sie ein Glas mit
Kräutern versetzten Wein bekommen könnte, um endlich
einzuschlafen. Sie war völlig erschöpft und doch hellwach. Marchat
Wilsin, Oshai und das Inselmädchen Maj hatte sie aus dem
Bewusstsein verbannen können, solange sie über Ovi Niits
Geschäftsbücher gebeugt war, doch nun, da sie eine Pause machte,
kehrte die Erinnerung an die drei zurück und mischte sich mit den
Gedanken an die Arbeit, die sie gerade beendet hatte, und an die
Aufgabe, die noch vor ihr lag. Sie legte sich etwas anders hin, da
der Stock ihr lästig war. Der Geruch all der Leiber, des vielen
Parfüms und der billigen Talglichter, die hier seit Jahr und Tag
gebrannt hatten, verwirrte sie.
Hätte der junge nicht solche Mühe gehabt, sie zu wecken, hätte sie
gesagt, sie sei nicht eingeschlafen, sondern nur flüchtig eingedöst.
Seine kleinen Hände rüttelten sie an der Schulter, und ihr war
dunkel bewusst, dass er das nicht zum ersten Mal tat, sondern
schon seit einiger Zeit.
»Großmutter«, sagte er. Schon wieder? Ja, schon wieder. Sie hatte
die Stimme eben erst gehört und in ihren Traum eingebaut.
»Großmutter! Wach auf!«
»Ich bin wach.«
»Und? Geht es dir gut?«
Die ganze Welt ist krank - warum sollte es mir da besser gehen?,
dachte sie resigniert.
»Mir geht es bestens«, erklärte sie dann. »Was gibt’s?«
»Er ist zurück. Er will mit dir reden.«
Amat machte eine dankende Gebärde, die dem jungen nicht
entging, obwohl es im Schlafsaal ziemlich dunkel war. Dann
arbeitete sie sich von der Pritsche hoch und stemmte sich auf die
Beine. Erstaunlicherweise schien die kurze Ruhepause sie erfrischt
zu haben. Ihr Kopf war klarer, und der Körper schmerzte nicht
gleich bei jeder Bewegung. Im Aufenthaltsraum fiel das Licht jetzt
anders durch die Fenster unter der Zimmerdecke: Offenbar hatte sie
den Großteil des Nachmittags verschlafen. Die Huren saßen nun auf
anderen Plätzen oder waren verschwunden. Nur die Rothaarige
hockte noch in der Nähe der Treppe. Selbst das dicke Mädchen war
gegangen. Ein anderer Wächter als zuvor - natürlich auch ein
Schlägertyp - fing ihren Blick auf und wies mit dem Kopf auf ihr
Arbeitszimmer. Sie dankte ihm mit einem Nicken, straffte die
Schultern und trat ein.
Ovi Niit saß an ihrem Tisch. Die schweren Lider ließen ihn träge
wirken, aber vielleicht hatte er nur von seinem Wein getrunken.
Sein teures Seidengewand war tadellos geschneidert, doch er
brachte es fertig, darin wie ein zerwühltes Bett auszusehen. Er
blickte kurz auf, als sie eintrat, und grüßte sie mit so förmlicher
Gebärde, als wollte er sich über sie lustig machen. Dennoch
erwiderte sie seinen Gruß ehrerbietig.
»Ich habe gehört, wie hoch die auf dich ausgesetzte Belohnung
ist«, sagte er. »Das wurde überall am Hafen bekanntgemacht. Du
bist wirklich ein teures Mädchen.«
Der Klang seiner Stimme ließ ihre Kehle erst vor Angst, dann vor
Scham über diese Angst trocken werden. Sie war Amat Kyaan und
hatte Angst, Einsamkeit und Schwäche schon zu verbergen gelernt,
als dieser Ganove an ihrem Schreibtisch noch nicht mal geboren
war. Es war eine ihrer ersten Fertigkeiten gewesen.
»Wie hoch ist sie denn?«, fragte sie leichthin.
»Sechzig Silberstücke für den, der deinen Schlafplatz verrät. Fünf
Goldstücke für den, der dich ausliefert. Das ist eine Menge Geld.«
»Ihr scheint versucht, mich zu verraten«, bemerkte Amat.
Der junge Mann lächelte und legte das Blatt beiseite, das er
studiert hatte. »Von Händler zu Händler rate ich dir nur, deine
Gegenwart in meinem Haus für mich einträglicher zu machen als
den Preis, den ich auf dem Markt für dich erzielen kann«, erklärte
er. »Und ich frage mich, was du getan hast, damit jemand so viel
Geld für dich bietet.«
Sie lächelte nur und grübelte, welche Gedanken ihrem Gegenüber
mit den halbtoten Augen durch den Kopf gehen mochten. Bestimmt
überlegte er, wie er sie meistbietend verkaufen konnte.
»Hast du die Schätzung dabei?«, fragte Ovi Niit nun. Sie nickte
und zog ihre Unterlagen aus dem Ärmel.
»Das ist nur eine grobe Berechnung. Ich muss demnächst länger
mit Euch reden, um mich zu vergewissern, dass ich die
Gepflogenheiten Eures Gewerbes verstanden habe. Aber diese
Aufstellung dürfte Euren Absichten fürs Erste genügen.«
»Und woher will ein halbtotes Miststück wie du meine Absichten
kennen?«, fragte er. In seiner Stimme lag keine Bosheit, doch Amat
spürte trotzdem einen Kloß im Hals. Sie zwang sich eine Zuversicht
ab, die sie absolut nicht empfand.
»Aus den Zahlen! Ich weiß, was Ihr argwöhnt. Warum sonst hättet
Ihr Euch die Mühe gemacht, mich zu beschäftigen? Jemand in Eurem
Laden bestiehlt Euch.«
Ovi Niit runzelte die Stirn, als er sich die Zahlen ansah,
widersprach aber nicht.
»Und es dürfte mehr als fünf Goldstücke wert sein«, fügte Amat
hinzu, »mich herausfinden zu lassen, wer das ist.«
5

Der Tag der großen Audienz hatte grau und nass begonnen. Nach
den Tempelfeierlichkeiten mussten Liat und Marchat Wilsin ziemlich
lange warten, bis sie sich auf den Weg machen konnten, weil alle
Utkhai-Familien Vorrang hatten. Selbst die Feuerhüter als niederste
Utkhais bekleideten hier und bei der großen Audienz einen höheren
Rang als die Kaufleute. Epani brachte seinem Herrn und Liat in der
Zwischenzeit frisches Brot und Obst und geleitete Liat zur Toilette,
wo sich viele Frauen frisch machten.
Es regnete noch, aber nicht mehr so stark. Die Sonne war noch
nicht zum Vorschein gekommen, doch die Wolken hatten ihr
lastendes Grau verloren, und ihr Weiß verhieß klaren Himmel noch
vor Einbruch der Dunkelheit. Und Hitze. Endlich kamen die
Baldachinträger auch zu ihnen, und die beiden Vertreter des Hauses
Wilsin nahmen ihren Platz im Festzug zum Audienzpalast ein.
Genau genommen hatte er keine Mauern. Der Baldachin blieb
zurück, als sie die ersten Bögen erreichten, und Liat glaubte, in
einen Wald aus Marmorsäulen zu treten, dessen Decke so hoch und
luftig war, dass sie das bewölkte Firmament zu tragen schien. Der
Audienzsaal wirkte wie eine Lichtung in einem steinernen Wald,
und der Khai saß reglos und streng auf einem großen Divan aus
geschnitztem Ebenholz. Seine Berater und Diener würden erst bei
der eigentlichen Audienz zu ihm treten. Im Moment hatte er die
weite Fläche vor dem Thron noch für sich allein. Die Utkhais, die
diese Mitte umgaben wie die Besucher einer Theatervorstellung,
redeten nur sehr leise miteinander. Wilsin schien genau zu wissen,
wo er sich mit Liat einzufinden hatte, und steuerte sie sanft zu einer
Bank, auf der bereits andere Händler saßen.
»Weißt du«, sagte er, als sie sich gesetzt hatten, »das Geschäft ist
mitunter eine schwere Bürde. Was man da tun muss, ist längst nicht
immer, was man gern täte.«
»Ich weiß, Wilsin-cha«, entgegnete Liat, und ihr selbstgewisser
Ton klang etwas gezwungen. »Aber ich schaffe das schon.«
Einen Moment schien Wilsin noch etwas sagen zu wollen, doch
dann erklangen Flöte und Trommel, und die Darbietung der
Geschenke begann. Wie es Brauch war, hatte jede Utkhai-Familie
etwas dabei. Diesen Gaben folgten die Geschenke der
Handelshäuser und ausländischen Gäste. Diener in der Livree ihrer
Familie oder ihres Unternehmens traten elegant wie Tänzer mit
Truhen oder Wandteppichen heran und boten dem Khai vergoldete
Früchte, Ballen reiner Seide und andere wunderbare Dinge dar.
Khai Saraykeht musterte die Gaben und akzeptierte sie mit
förmlicher Gebärde. Liat spürte Wilsin das Gewicht verlagern, als
vier Männer seiner Firma dem Herrscher einen Wandteppich
präsentierten, der eine mit Silberfaden gearbeitete Karte der Städte
zeigte, die unter der Herrschaft der Khais standen. Die vier hielten
je eine Ecke des straff gezogenen Gewebes, traten langsam im
Gleichschritt heran und waren dabei so ernst wie Trauernde.
Jedenfalls drei davon. Der Vierte bewegte sich zwar abgestimmt
mit den Übrigen, warf aber ständig verstohlene Blicke in die
Menge. Sein Kopf bewegte sich leicht hin und her, als suche er
jemanden. Liat hörte erheitertes Murmeln. Die versammelten
Männer und Frauen genossen den Auftritt sichtlich. Ihr Herz
verkrampfte sich.
Der vierte Mann war Itani.
Marchat Wilsin musste eine Reaktion bei Liat bemerkte haben,
denn er warf ihr einen raschen Seitenblick zu, der so erstaunt wie
beunruhigt war. Liat aber verzog keine Miene. Sie spürte, dass sie
kurz vor dem Erröten stand, vermochte es aber durch eine
Willensanstrengung noch zu verhindern. Die vier Männer erreichten
den Khai, und die vorderen beiden knieten nieder, damit er das
Geschenk besser ins Auge fassen konnte. Itani, der hinten ging,
schien endlich zu begreifen, wo er war, und straffte sich. Der Khai
verriet kein Anzeichen von Belustigung oder Missfallen, sondern
nahm das Geschenk nur zur Kenntnis. Itani und die drei anderen
gingen davon, und die Träger des Hauses Kiitan traten vor den
Khai. Liat wandte sich an ihren Arbeitgeber.
»Wilsin-cha - gibt es hier vielleicht eine Toilette »Das geht mir
auch so, wenn ich ängstlich bin«, sagte er. »Epani zeigt dir den Weg.
Sei aber bitte zurück, ehe der Khai seine Berater einziehen lässt. So
langsam, wie das hier geht, hast du vermutlich eine halbe Stunde
Zeit, aber verlass dich nicht darauf.«
Liat machte eine dankbare Gebärde und arbeitete sich durch die
Menge hindurch nach hinten. Epani suchte sie nicht, war sich aber
gewiss, dass Itani dort auf sie warten würde. Und tatsächlich
entdeckte sie ihn schnell, wies mit den Augen auf eine Säule und
verschwand dahinter. Er folgte ihr.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, wollte sie wissen, als sie
den Blicken der Übrigen entzogen waren. »Erst gehst du mir
tagelang aus dem Weg, und dann … machst du so was!«
»Ich kenne den vierten Träger«, sagte er und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Er hat mir seinen Platz abgetreten. Ich
wollte dir nicht aus dem Weg gehen. Ich war nur … ich war
verärgert, Liebste. Und ich wollte dich damit nicht belasten. Ich
weiß doch, dass du eine schwere Aufgabe vor dir hast.«
»So stellst du es dir also vor, mich nicht zu belasten? Sein Lächeln
hatte etwas Entwaffnendes. »So zeige ich dir, dass ich hinter dir
stehe«, erwiderte er. »Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Es ist
nur ein Handel, und wenn Amat Kyaan und Wilsin-cha dich dazu
ausersehen haben, dir diese Aufgabe also zutrauen, bedeutet meine
Zuversicht wohl nicht mehr viel. Aber ich wollte sie doch zum
Ausdruck bringen. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.«
Unwillkürlich hatte sie nach seiner Hand getastet und merkte das
erst, als er sie an seine Lippen führte.
»Tani, du hast dir wirklich den schlechtesten Augenblick
ausgesucht, um die nettesten Dinge zu sagen.«
Kaum wechselten Trommel und Flöte den Rhythmus, wandte Liat
sich ab und entzog Itani die Hand. Die eigentliche Audienz stand
unmittelbar bevor. Gleich würden die Berater und Diener zum Khai
kommen Itani trat einen Schritt zurück und machte eine
aufmunternde Gebärde. Dabei sah er sie an und lächelte. Und seine
Fingernägel? Ihr Götter, die waren von den Farbpigmenten noch
immer verfärbt! »Ich warte auf dich«, sagte er, und sie ging los, um
sich möglichst rasch zwischen all den sitzenden Männern und
Frauen hindurchzuschlängeln, ohne dass es aussah, als würde sie
eilen. Kaum hatte sie wieder neben Wilsin-cha Platz genommen,
knieten die beiden Dichter und der Andat vor dem Khai nieder und
nahmen dann als letzte Berater ihre Plätze ein.
»Das war ja gerade noch rechtzeitig«, sagte Wilsin. »Geht es dir
gut?«
Gut? Mir geht’s großartig!, dachte Liat. Dann rief sie sich Amat
Kyaans respektvolle und doch selbstsichere Miene in Erinnerung
und gab sich alle Mühe, ihren Gesichtsausdruck dem ihrer
Ausbilderin gleichen zu lassen.

Maati saß auf einem Samtkissen und verlagerte das Gewicht bald
hierhin, bald dorthin, damit ihm die Beine nicht einschliefen. Khai
Saraykeht saß ein Stück zu seiner Linken auf einem Ebenholzdiwan.
Heshai und Samenlos saßen um einiges näher, und wenn der Khai
Maatis Unbehagen auch nicht bemerken konnte, so entging es seinen
Begleitern sicher nicht. Ein Bittsteller nach dem anderen trat vor
den Khai und brachte sein Anliegen vor.
Am schlimmsten war ein Mann aus den Westgebieten, der einen
kleinen Handkarren dabeihatte, dessen Feuer Wasser zum Kochen
brachte. Der Dampf trieb die Räder des Karrens an, doch das
Gefährt hatte sich selbstständig gemacht und war in die Menge
gerollt, sodass sein Erfinder ihm hatte nachsetzen müssen. Die
Utkhais hatten nur gelacht, als der Mann gewarnt hatte, die Galten
hätten größere Gefährte dieser Art entwickelt und würden sie als
Kriegsmaschinen nutzen; ganze Provinzen seien in kaum einem
Monat überrannt worden.
Der Khai hatte diese Warnung mit der Bemerkung abgefertigt, es
handle sich dabei offenbar um »eine Armee von Teekannen«. Maati
war aufgefallen, dass nur Heshai nicht in das allgemeine Lachen
eingestimmt hatte, und zwar vermutlich nicht, weil er den
lächerlichen Mann ernst nahm, sondern weil es ihn quälte zu
erleben, dass jemand sich derart unmöglich machte. Die Feinheiten
der galtischen Kriegsführung spielten für die Khais keine Rolle:
Solange die Andaten sie beschützten, waren die Kriege anderer
Nationen für sie eine Kuriosität, wie die Knochen uralter
Riesentiere.
Der interessanteste Auftritt war der des zweiten Sohnes von Khai
Udun. Er hatte den Hof mit der Beschreibung in Bann geschlagen,
wie sein jüngerer Bruder versucht hatte, ihn und seinen älteren
Bruder zu vergiften. Die grausigen Einzelheiten vom Tod des
älteren Bruders hatten Maati beinahe zu Tränen gerührt, und Khai
Saraykeht hatte mit einer bewegenden Rede geantwortet, die sicher
viermal länger gewesen war als jede seiner übrigen Stellungnahmen
an diesem Tag. Er hatte erklärt, Gift sei keine Waffe der Khais, und
Saraykehts Ordnungskräfte würden helfen, den Mörder zu
ergreifen.
»Nun«, sagte Samenlos, als die Menge jubelnd aufsprang, damit ist
klar, welcher Sohn des alten Udun nach dem Heimgang des
Patriarchen den Thron wärmen wird. Man könnte fast denken, kein
Ahne unserer Majestät habe je seinem Bruder schlechten Wein
angeboten.«
Maati sah zu Heshai hinüber und rechnete damit, der Dichter
werde seinen Khai verteidigen, doch er beobachtete nur, wie sich
der Sohn von Khai Udun vor dem Ebenholzdiwan niederwarf.
»Das ist alles bloß Theater«, fuhr Samenlos so leise fort, dass
lediglich Maati und Heshai ihn verstehen konnten. »Denkt daran,
dass diese Auseinandersetzungen nur ein Epos sind, das keiner
geplant, geschweige denn verfasst hat und niemand beaufsichtigt.
Deshalb greifen sie immer wieder auf Brudermord zurück. Den hat
es schon oft gegeben, und alle wissen mehr oder weniger, was sie
zu erwarten haben. Und sie tun gern, als sei ein Sohn des alten
Khais anständiger als die anderen.«
»Sei still«, brummte Heshai, und der Andat machte eine
entschuldigende Geste, lächelte Maati aber spöttisch zu, kaum dass
der Dichter sich abgewandt hatte. Heshai hatte wenig zu sagen
gehabt. Er war grimmig gewesen, seit sie am Morgen bei
strömendem Regen das Dichterhaus verlassen hatten, und während
der Audienz schien seine Miene noch strenger zu werden.
Zwei Feuerhüter standen nun vor dem Khai und stritten über
Feinheiten des Stadtrechts, bis der Herrscher eine alte Frau namens
Niania Tosogu aufforderte, ein Urteil zu fällen. Die greise
Historikerin des Hofs erzählte mit brüchiger Stimme Geschichten
aus den Sommerstädten, die bis in die Frühzeit der Khais
zurückführten, als das Reich gerade erst untergegangen war.
Scheinbar ohne diese Geschichten mit dem ihr vorgelegten Fall zu
verknüpfen, verkündete sie eine Entscheidung, die offenbar
niemandem recht war. Kaum hatten sich die Feuerhüter gesetzt, trat
ein alter Galte in grünem und bronzenem Gewand mit einem
Mädchen vor, das höchstens ein Jahr älter als Maati sein mochte und
in den gleichen Farben gekleidet war wie der Galte. Während sein
Benehmen allerdings sehr respektvoll war, wirkten ihre Miene und
ihr Gebaren beinahe überheblich. Selbst als sie eine ehrerbietige
Gebärde machte, tat sie das erhobenen Hauptes und mit einer in die
Höhe gezogenen Augenbraue.
»So eine schlechte Schauspielerin«, murmelte Samenlos.
Heshai, der neben ihm saß, überhörte diese Bemerkung, beugte
sich vor und fasste die beiden näher ins Auge. Samenlos hingegen
lehnte sich zurück und musterte den Dichter wie die beiden
Bittsteller gleichermaßen interessiert.
»Marchat Wilsin«, sagte Khai Saraykeht, und seine Stimme trug so
weit wie die eines Bühnenschauspielers. »Ich habe deine Bitte
gelesen. Das Haus Wilsin hat bisher keine traurigen Eingriffe
vermittelt.«
»Die Zeiten sind schlecht, Exzellenz«, erwiderte der Galte, und
seine Gebärde ließ trotz aller Förmlichkeit an einen Straßenkünstler
denken, der nach geglückter Vorführung den Hut herumgehen lässt.
»Wir Galten müssen jede Menge Teekannen herstellen.«
Ein kurzes Lachen ging durch die Menge, und der Khai machte mit
einer Gebärde klar, dass er den Scherz zu schätzen wusste. Heshais
Stirn legte sich in noch tiefere Falten.
»Wer verhandelt für dein Haus?«, fragte der Khai.
»Ich, Exzellenz«, sagte das Mädchen und trat vor. »Ich bin Liat
Chokavi, die Helferin von Amat Kyaan. Sie ist verhindert und hat
mich gebeten, das Geschäft in die Wege zu leiten.«
»Und ist auch die Frau zugegen, derentwillen ihr hier seid?«
Dem Alten schien diese Frage unangenehm, doch er antwortete,
ohne zu zögern. »Ja, Exzellenz. Sie versteht zwar kaum Khaiate,
aber wir haben einen Übersetzer, falls Ihr mit ihr sprechen wollt.«
»Das will ich«, sagte der Khai. Maatis Augen wanderten von den
beiden Bittstellern zu der Menge, aus der nun geführt von einem
angenehm wirkenden, mondgesichtigen Mann im schlichten dunklen
Dienergewand - eine junge Frau in seidenen Kleidern trat. Ihre
Augen waren ungemein hell, ihre Haut erschreckend weiß, und der
Schnitt ihres Kleides sollte den deutlich sichtbaren Mutterbauch
verbergen. Heshais Anspannung nahm noch mehr zu, und er beugte
sich mit schwer deutbarer Miene weiter vor.
Die junge Frau erreichte den Alten und seine jugendliche
Verwalterin, lächelte und nickte ihnen auf Aufforderung des
Übersetzers zu.
»Du bist gekommen, mich um Beistand zu bitten«, begann der
Khai.
Die Frau blickte ihn so fasziniert an wie ein Kind das Feuer. Ihr
Übersetzer murmelte ihr etwas zu. Sie sah ihn ganz kurz an, fasste
dann wieder den Khai ins Auge und antwortete dem Mann neben
ihr.
»Exzellenz«, sagte der Übersetzer, »die Dame stellt sich Euch als
Maj Toniabi aus Nippu vor und dankt für diese Audienz und für
Eure Hilfe in der Stunde ihrer Not.«
»Und du bist damit einverstanden, dass das Haus Wilsin deine
Angelegenheiten vertritt?«, fragte der Khai, als habe die Frau selbst
gesprochen.
Erneut verständigte sich die Angeredete flüsternd mit ihrem
Übersetzer, wobei sie den Blick nur kurz vom Khai abwandte. Sie
sprach leise, und Maati konnte kaum etwas verstehen, doch es klang
musikalisch und fließend.
»Ja, Exzellenz«, sagte der Übersetzer.
»Gut«, erklärte der Khai. »Ich akzeptiere den durch das Haus
Wilsin gebotenen Betrag und gewähre Liat Chokavi eine Audienz
beim Dichter Heshai, um die Einzelheiten zu regeln.«
Der Alte und das Mädchen an seiner Seite machten eine dankbare
Gebärde, und alle vier zogen sich in die Menge zurück. Heshai ließ
ein langes, leise zischendes Seufzen hören. Samenlos führte die
Hände zusammen und drückte die Zeigefinger an den Mund. Auf
seinen Lippen lag ein Lächeln.
»Tja«, sagte Heshai. »Nun ist es nicht mehr zu vermeiden. Ich
hatte zwar gehofft …« Der Dichter machte eine wegwerfende
Handbewegung, als verabschiede er Träume oder verlorene
Möglichkeiten.
Maati verlagerte sein Gewicht einmal mehr, denn sein linkes Bein
war eingeschlafen. Die Audienz dauerte noch anderthalb Handbreit,
drehte sich aber nur noch um Kleinigkeiten, bis der Khai sich erhob
und die Veranstaltung mit einer zeremoniellen Gebärde beendete.
Zu dem von Flöte und Trommel gespielten Lied, mit dem die
Audienz traditionell ausklang, schritt der Herrscher und oberste
Repräsentant der Stadt aus der Säulenhalle. Seine Berater folgten
ihm, wobei Maati und Samenlos sich dicht hinter Heshai hielten, der
am feierlichen Auszug der Würdenträger allenfalls flüchtig
interessiert schien. Die drei gingen gemeinsam durch den
Säulenwald und erreichten erst eine große Eichentür, dann einen
kleineren Saal, in dem Dutzende Flure und Treppen
zusammenliefen. Vier Sklaven sangen auf einer weiter oben
gelegenen Galerie sanfte, mehrstimmige Lieder, und ihre Stimmen
klangen traurig und schön. Heshai setzte sich auf eine niedrige Bank
und blickte ins Leere. Samenlos stand reglos und mit verschränkten
Armen einige Schritte von ihm entfernt.
Maati ging langsam zu seinem Lehrer. Der Dichter blickte ihn kurz
an und sah dann weg. Bevor er Heshai ansprach, bat Maati ihn mit
der entsprechenden Gebärde um Verzeihung.
»Ich verstehe das nicht, Heshai-kvo«, begann er. »Es muss doch
einen Weg geben, sich diesem Geschäft zu verweigern. Wenn der
Dai -«
»Der Dai mischt sich nicht in die tägliche Kleinarbeit der Khais
ein«, erklärte Heshai.
Maati kniete nieder. Immer mehr Utkhais kamen durch den Saal.
Einige trugen Schriftrollen und Papierstapel und sprachen wohl über
deren Inhalt.
»Ihr könntet Euch ja weigern.«
»Und wie würde dann über mich geredet?«, fragte Heshai und
zwang sich zu einem müden Lächeln. »Mach dir keine Gedanken,
Maati. Ich bin nur ein alter Mann, den dummerweise die Wehmut
gepackt hat. Es ist eine unangenehme Aufgabe, zugegeben, aber es
gehört nun mal zu meiner Arbeit.«
»Die überflüssigen Kinder reicher Frauen loszuwerden«, sagte
Samenlos dreist wie zuvor, aber mit einer Schärfe, die Maati noch
nicht gehört hatte, »ist also reines Tagesgeschäft, ja?«
Heshai sah zornig auf, ballte die Fäuste und runzelte grimmig
konzentriert die Brauen. Ehe Maati sich zu Samenlos umdrehen
konnte, hörte er ihn bereits zu Boden gehen. Der Andat lag auf dem
Bauch und hielt die Hände so unterwürfig und entschuldigend
gespreizt, wie er es nie von sich aus getan hätte. Heshais Lippen
zitterten.
»Ja, ich hab das schon getan«, sagte er mit fester Stimme. »Und
das wünscht sich keiner. Weder die Schwangere noch irgendwer
sonst. Der traurige Eingriff bestätigt seinen Namen immer wieder.«
»Heshai-cha?«, fragte eine Stimme.
Sie gehörte der jungen Frau, die bei der Audienz mit dem Alten
erschienen war. Nun stand sie neben dem am Boden liegenden
Andaten, und die seltsame Szene, deren Zeugin sie war, ließ ihre
Überheblichkeit wanken. Maati stand auf und machte eine
Begrüßungsgebärde. Heshai lockerte den spirituellen Griff, mit dem
er Samenlos zu Boden geworfen hatte, und der Andat durfte sich
erheben. Er schüttelte unsichtbaren Staub aus den Kleidern, warf
dem Dichter einen zutiefst vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich
dann an die junge Frau.
»Liat Chokavi«, sagte er und berührte mit vollkommenen Fingern
ihre Handgelenke, als sei er schon lange mit ihr befreundet. »Wir
freuen uns, dich zu sehen, stimmt’s nicht, Heshai?«
»Wir sind entzückt«, stieß der Dichter hervor. »Es geht doch
nichts darüber, mit schlecht ausgebildeten Lehrlingen verhandeln zu
müssen.«
Der Schreck in der Miene des Mädchens war sofort wieder
verschwunden. Ihre selbstsichere Maske war nur kurz ins Wanken
geraten, ihre Augen weiteten sich etwas, und ihre Lippen wurden
schmal. Dann war sie wie zuvor. Doch Maati wusste (oder glaubte
zu wissen), dass Heshais Bemerkung sie getroffen hatte.
Heshai stand auf und machte jene Gebärde, mit der man
Geschäftsverhandlungen zu eröffnen pflegte, doch seine eisige
Höflichkeit war aufs Neue beleidigend. Maati stellte plötzlich fest,
dass er sich seines Lehrers schämte.
»Zum Besprechungszimmer geht es da lang«, sagte Heshai, drehte
sich um und marschierte davon. Samenlos lief ihm nach und
kümmerte sich nicht darum, ob Liat Chokavi und Maati mit dem
forschen Tempo des Dichters Schritt halten konnten.
»Es tut mir leid«, sagte Maati leise. »Der traurige Eingriff setzt
ihm zu. Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen.«
Liats misstrauischer Blick wurde sanfter, als sie seine
Bekümmerung sah, und sie machte eine rasche, flüchtig ausgeführte
Dankesgebärde.
Das Besprechungszimmer war klein und unangenehm warm. Das
einzige Fenster war geschlossen, und Heshai stieß es verärgert auf.
Er setzte sich an den niedrigen Steintisch und winkte Liat auf den
Sitz vor ihm. Sie kam verlegen näher, nahm Platz und zog einige
Papiere aus dem Ärmel. Samenlos stand beim Fenster und sah mit
hämischem Grinsen auf den Dichter herab, der die Dokumente zu
sich herüberzog.
»Kann ich mich nützlich machen, Heshai-kvo?«, fragte Maati.
»Hol mir Tee«, erwiderte der Dichter, ohne aufzublicken. Maati
sah erst das Mädchen und dann seinen Meister an. Samenlos
bemerkte seinen Widerwillen und runzelte die Stirn, doch dann
erblühte Verständnis in seinen schwarzen Augen, und seine
vollkommenen Hände baten um Erlaubnis, ohne dass Maati wusste,
wofür.
»Mein guter Heshai, Ihr habt einen besseren Schüler als Ihr
verdient. Ich habe den Eindruck, er möchte Euch nicht alleinlassen«,
sagte Samenlos mit einem boshaften Lächeln. »Er fürchtet wohl, Ihr
werdet diese, zarte junge Frau weiter schikanieren. Wenn es nach
mir ginge - ich würde gern erleben, wie Ihr Euch als Widerling
aufführt, aber Heshai machte eine Handbewegung, und schon
zitterte der Andat vor Schmerz oder etwas vergleichbar
Unangenehmem. Erneut machte er eine entschuldigende Gebärde,
doch Maati sah, wie finster der Dichter dreinblickte. Samenlos hatte
erfolgreich an das Gewissen seines Meisters appelliert, dem
Mädchen gegenüber freundlicher zu sein. Jedenfalls vorläufig.
»Bring Tee. Und zwar auch für unseren Gast«, sagte Heshai und
wies auf Liat.
Maati machte eine dienstfertige Gebärde, fing beim Gehen einen
Blick aus den schwarzen Augen des Andaten auf und nickte ihm
dankbar zu. Samenlos antwortete mit dem kleinstmöglichen
Lächeln.
Die Galerien und Korridore waren voller Händler, Utkhais,
Diener, Sklaven und Wächter beiderlei Geschlechts. Maati schritt
eilig aus und hielt dabei nach einem Lakaien Ausschau. Er folgte
dem ihm bekannten Weg in den großen Saal, wollte so rasch wie
möglich zurück ins Besprechungszimmer. Im großen Saal war so viel
Trubel wie auf den Gängen, womöglich noch mehr. Unterhaltungen
schwirrten allerorten durch die Luft. Flüchtig sah er die hellgelbe
Livree eines auf den Haupteingang zuhaltenden Lakaien und setzte
ihm so schnell wie möglich nach.
Auf halbem Weg streifte er einen jungen Mann, dessen Gewand
genauso grün und bronzefarben war wie das von Liat Chokavi und
Marchat Wilsin, dessen Hände aber fleckig und schwielig waren
und dessen Schultern ihn als Arbeiter auswiesen. Weil Maati
glaubte, er könnte seinen Auftrag auf diesen Mann abwälzen, hielt
er an und packte ihn beim Arm. Das schmale Gesicht kam ihm
bekannt vor, doch erst als der Lakai etwas sagte, erbleichte der
Dichterschüler.
»Verzeihung«, murmelte der Arbeiter und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Ich weiß, dass ich draußen hätte warten
sollen, doch ich hatte gehofft, Liat Chokavi Er stockte, denn was er
in Maatis Augen sah, verunsicherte ihn.
»Otah-kvo?«, keuchte Maati.
Nach einem Moment erschrockenen Schweigens hielt der Arbeiter
ihm den Mund zu und zog ihn in einen Seitengang. »Sag kein Wort«,
raunte Otah. »Kein Wort!«
6

Jahre fielen von Otah ab, und die Ereignisse seines Lebens wurden
unwirklich, als er seinen eigentlichen Namen hörte. All die schwülen
Tage, die er an Saraykehts Küste geschuftet hatte, der ständige
Kampf um Nahrung und ein Dach überm Kopf, die hungrig im
Straßengraben verbrachten Nächte - sein Leben als Itani Noyga fiel
von ihm ab, und er erinnerte sich des Jungen, der glühend vor
Gewissheit und Selbstgerechtigkeit über kalte Frühlingsfelder zur
Landstraße getrottet war. Er glaubte gar, wieder genau dort zu
sein, und die Intensität seiner Erinnerung machte ihm Angst.
Der junge Dichter begleitete ihn schweigend und schien genauso
erschüttert wie Otah.
Sie fanden ein leeres Zimmer. Otah verriegelte die Tür des kleinen
Besprechungsraums, dessen Fenster auf einen abgelegenen Hof
voller kunstvoll beschnittener Bäume wies. Obwohl es weiterhin
regnete und die Tropfen auf die Blätter fielen, wirkte das Zimmer
hell. Otah setzte sich auf den Tisch, legte die Hände an den Mund
und betrachtete den Jungen. Er war etwa vier Jahre jünger als er -
älter mithin, als Otah gewesen war, als er sich einen neuen Namen
und eine neue Lebensgeschichte ausgedacht und sich auf Jahre ans
Haus Wilsin gebunden hatte. Sein Gegenüber hatte ein energisches
Kinn und Hände, die seit Jahren keine harte Arbeit kannten. Noch
verwirrender aber war, dass in seiner Miene die Freude eines
Menschen lag, der gerade einen Schatz gefunden hatte.
Otah wusste nicht, wo er anfangen sollte.
»Du … du bist also auf der Schule gewesen?«
»Maati Vaupathai«, sagte der Dichter. »Ich war in einer der
jüngsten Klassen, kurz bevor Ihr … gegangen seid. Ihr hattet uns im
Gemüsegarten Beete umgraben lassen, aber wir waren ziemlich
schlecht. Ich hatte Blasen an den Händen Plötzlich erkannte Otah
das Gesicht wieder. »Ihr Götter«, sagte er. »Das bist du gewesen?«
Maati Vaupathai, den Otah einst gezwungen hatte, Erde zu essen,
machte eine bestätigende Gebärde und strahlte dabei vor Glück,
wiedererkannt worden zu sein. Otah lehnte sich zurück.
»Bitte - du darfst niemandem erzählen, wer ich bin. Ich habe nie
das Brandmal bekommen. Wenn meine Brüder mich finden »…
werden sie versuchen, Euch zu töten«, beendete Maati den Satz.
»Das ist mir klar. Ich werde es niemandem sagen. Aber … Otah-kvo
»Itani«, unterbrach ihn Otah. »Ich heiße jetzt Itani.«
Die gehorsame Gebärde, die Maati daraufhin machte, war die
eines Schülers, wie Otah sie oft gesehen hatte, als er noch zu den
Schwarzkutten gehörte.
»Itani also. Damit hätte ich nicht gerechnet. Euch hier zu
begegnen, meine ich. Was macht Ihr hier?«
»Ich habe mich beim Haus Wilsin verdingt. Als Arbeiter.«
»Als Arbeiter?«
Otah machte eine bestätigende Gebärde. Der Dichter blinzelte, als
wollte er ein Wort einer fremden Sprache verstehen. Als er fortfuhr,
klang seine Stimme beunruhigt und womöglich enttäuscht.
»Es heißt, der Dai habe Euch zum Schüler erwählt, und Ihr hättet
Euch ihm verweigert.«
Eine schlichte Beschreibung, dachte Otah. Wenige Worte, die den
Lauf enthielten, den sein Leben genommen hatte. Damals waren
ihm die Geschehnisse deutlicher und doch vielschichtiger erschienen
- und eigentlich erschienen sie ihm noch immer so.
»Das ist wahr«, sagte er.
»Was … verzeiht, Otah-kvo, aber was ist passiert? - »Ich bin nach
Süden gezogen und habe Arbeit gefunden. Mir war klar, dass ich
einen neuen Namen brauche. Also hab ich mir einen ausgedacht …
Das ist vermutlich alles. Ich habe mich beim Haus Wilsin für
mehrere Jahre verpflichtet. Die Zeit ist bald um, und ich weiß noch
nicht, was ich dann tun werde.«
Maati nickte, als würde er verstehen, doch Otah sah an der
gerunzelten Stirn, dass er ihn ganz und gar nicht verstand. Er
seufzte, beugte sich vor und suchte nach Worten, um seinem
Gegenüber das Leben zu erklären, das er gewählt hatte. Zu den
übrigen Überraschungen des Tages musste er auch noch beunruhigt
feststellen, dass ihm die Worte fehlten. In all den Jahren seit seinem
Weggang hatte er nie versucht, seine Entscheidung zu erklären. Es
hatte ja auch nie jemanden gegeben, dem er sie hätte erklären
müssen.
»Und du?«, fragte er. »Du warst offenbar sein Schüler.«
»Der alte Dai starb kurz nach Eurem Verschwinden. Noch bevor
ich zu den Schwarzkutten kam. Tahi-kvo trat an seine Stelle, und ein
neuer Lehrer kam zu uns - Naani-kvo. Er war härter als Tahi-kvo.
Es hat ihm wohl mehr Spaß gemacht.«
»Das ist wirklich krank.«
»Nein«, sagte Maati. »Es ist nur schwer. Und grausam. Aber es
muss sein. Es steht so viel auf dem Spiel.«
In Maatis Stimme lag eine Zuversicht, die nach Otahs Eindruck
nicht von Überheblichkeit herrührte. Der Arbeiter machte eine
zustimmende Gebärde, doch Maati war offenbar klar, dass er es
nicht so meinte. Also tat er seine Geste mit einem Achselzucken ab.
»Womit hast du dir die Schwarzkutte eigentlich verdient?«
Maati errötete und sah weg. Auf dem Gang lachte jemand. Es war
unglaublich: Da hatte er kaum Zeit mit diesem Jungen verbracht,
den er praktisch gar nicht kannte, und doch hatte er fast schon
vergessen, wo sie waren.
»Ich hab Naani-kvo nach Euch gefragt«, sagte Maati. »Das kam
sehr schlecht an bei ihm. Ich musste eine Woche den großen Saal
wischen, aber dann hab ich erneut gefragt, und wieder musste ich
eine Woche den Boden putzen. Eines Abends habe ich ihn dann
geschrubbt, ohne dass es mir befohlen worden war. Milah-kvo
fragte mich, was ich da täte, und ich erklärte ihm, ich würde am
nächsten Morgen ohnehin wieder fragen und wolle darum schon
vorher einen Teil der Arbeit erledigen. Er fragte mich, ob ich
wirklich ein so begeisterter Schrubber sei. Dann hat er mir die Kutte
angeboten.«
»Und du hast sie genommen.«
»Natürlich«, sagte Maati.
Sie schwiegen eine Weile. Otah sah das Leben vor sich, das er
verschmäht hatte, und glaubte, im Gesicht des Jungen Bedauern zu
erkennen. Oder zumindest Zweifel.
»Du darfst niemandem von mir erzählen«, sagte Otah. »Das werde
ich nicht. Ich schwöre.«
Otah hob die Hand zum Schwur, und Maati tat es ihm nach. Sie
fuhren zusammen, als jemand an die Tür klopfte.
»Wer ist da drin?«, wollte eine Männerstimme wissen. »Das
Zimmer ist uns zugeteilt.«
»Ich muss gehen«, erklärte Maati. »Sonst versäume ich meine
Verhandlung mit … Liat. Sagtet Ihr nicht, Ihr wartet auf Liat
Chokavi? »Macht sofort die Tür auf!«, forderte die Stimme im Gang
mit Nachdruck. »Das ist unser Zimmer.«
»Sie ist meine Freundin«, sagte Otah und erhob sich. »Komm.
Gehen wir, ehe sie wegen dieser Sache zum Khai laufen.«
Die Männer vor der Tür trugen die fließenden Gewänder und
teuren Sandalen der Utkhais. Die Empörung und der Ärger, die auf
ihren Gesichtern erschienen, als Otah - ein einfacher Arbeiter und
obendrein bei einem galtischen Unternehmen beschäftigt - die Tür
öffnete, verwandelte sich in bloße Ungeduld, als sie Maati im
Dichtergewand sahen. Beide verschwanden den Flur entlang.
»Otah-kvo«, begann Maati, als sie den noch immer belebten Saal
erreichten.
»Ich heiße Itani.«
Maati machte eine entschuldigende Geste und wirkte beschämt.
»Itani. Ich … ich würde gern ein paar Dinge mit Euch besprechen,
und wir …«
»Ich komme auf dich zu«, versprach Otah. »Aber erzähl nichts von
dem hier. Niemandem. Vor allem nicht dem Dichter.«
»Nichts und niemandem.«
»Gut, ich komme auf dich zu. Und jetzt geh.«
Maati machte die wohl förmlichste Abschiedsgebärde, die je ein
Dichter einem Arbeiter entboten hatte, und ging dann sichtlich
widerstrebend davon. Otah merkte, dass ihn eine ältere Frau im
Utkhai-Gewand neugierig musterte, bedachte sie mit einer
ehrerbietigen Gebärde, wandte sich um und verließ das Gebäude.
Der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Die Sonne drang durch die
Wolken, und ihre Strahlen legten sich wie eine Hand auf seine
Schulter. Die anderen Diener, die Geschenke oder Zeltstangen
getragen hatten, warteten in einem der Gärten. Epani, Marchat
Wilsins Haushofmeister, saß bei ihnen und schien sich bestens zu
amüsieren. Die Hürden des Tages waren gemeistert, und die
Männer waren unbekümmert. Tuui Anagath, ein älterer Mann, der
Otah schon kannte, seit er Itani geworden war (also sein ganzes
falsches Leben lang), nickte ihm zur Begrüßung zu.
»Hast du schon gehört?«, fragte er, als Otah näher kam. »Nein,
was denn? »Der Khai stellt einen Suchtrupp zusammen, der Uduns
Sohn jagen soll. Du weißt schon - den Kerl, der seinen jüngeren
Bruder vergiftet hat. Die Utkhais sind ganz wild darauf, dabei zu
sein. Und viele Hunde sind des Hasen Tod.«
Otah zeigte sich erfreut, da er wusste, dass dies von ihm erwartet
wurde. Dann setzte er sich unter einen Baum voller winziger, süß
duftender Birnen und lauschte. Alle redeten über die bevorstehende
Jagd. Er kannte diese Männer und hatte lange mit ihnen gearbeitet.
Er traute einigen von ihnen zwar, keinem aber so sehr, dass er ihm
die Wahrheit erzählt hatte. Bis jetzt jedenfalls. Sie sprachen über den
Tod von Khai Uduns Sohn wie über einen Hundekampf. Es
kümmerte sie nicht, dass der Junge in die Verhältnisse, die ihm zum
Verhängnis geworden waren, hineingeboren wurde. Otah war klar,
dass sie die Ungerechtigkeit seines Schicksals nicht zu erkennen
vermochten. Für Männer aus kleinen Verhältnissen, die jede
Kupfermünze, die sie für Tee, Suppe und Brot ausgaben, dreimal
umdrehen mussten, waren die Khais beneidenswert und keinesfalls
zu bedauern. Sie alle würden sich abends in Kammern legen, die sie
mit anderen Männern teilten, oder in winzige Wohnungen
zurückkehren und dabei an die weitläufigen Paläste denken, in
denen sie Dienst taten, an die süß duftenden Gärten und die Lieder
der Sklaven. Sie empfanden kein Mitgefühl für wohlhabende und
mächtige Familien Für Leute also, dachte Otah verdrossen, die aus
der gleichen Gesellschaftsschicht stammen wie ich.
»Na?«, sagte Epani und stieß ihn mit der Schuhspitze an. »Welche
Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Itani? Du siehst traurig
aus.«
Otah rang sich ein Lächeln ab. Den Vergnügten spielen, das konnte
er gut. Nett, ja bezaubernd zu sein, beherrschte er prächtig.
Zugleich machte er eine entschuldigende Gebärde.
»Verderbe ich euch die Laune?«, wollte er wissen. »Ich bin gerade
aus dem Palast geworfen worden. Das ist alles.«
»Rausgeworfen hat man dich?«, fragte Tuui Anagath, und auch die
anderen wandten sich plötzlich neugierig zu ihm um.
»Ich war gerade dort, hab mich um meine Angelegenheiten
gekümmert und Liat nachgeschnüffelt!«, rief ein Zuhörer lachend.
»…und dabei offenbar Aufmerksamkeit erregt«, fuhr Otah
unbeirrt fort. »Eine Frau aus dem Haus Tiyaan fragte mich, ob ich
nicht Geschäfte für das Haus Wilsin mache. Ich verneinte, doch sie
hörte nicht auf, mit mir zu reden. Sie war sehr nett. Offenbar aber
hat sich ihr Liebhaber über unser Gespräch geärgert und mit den
Dienern des Palasts geredet …«
Otah zuckte die Achseln, als sei er die verfolgte Unschuld, und
brachte die anderen damit zum Lachen.
»Armer Itani«, sagte Tuui Anagath. »Selbst mit einem Dolch
könntest du dich der Zudringlichkeiten der Damenwelt nicht
erwehren, was? Wir können dir einen Gefallen tun und allen Frauen
sagen, du hättest dich unten herum wundgearbeitet und müsstest
jeden Monat drei Tage Kamillenwickel zwischen den Beinen
tragen.«
Jetzt lachte auch Otah. Wieder hatte er gewonnen. Er war einer
von ihnen - ein gewöhnlicher Mann wie sie. Sie scherzten und
plauderten noch eine halbe Handbreit. Dann stand er auf, reckte
sich und wandte sich an Epani.
»Braucht Ihr mich noch?«
Der dünne Mann blickte überrascht drein, schüttelte aber den
Kopf. Otahs Verbindung mit Liat war kein Geheimnis, doch da auch
Epani auf dem Anwesen von Wilsin-cha wohnte, wusste er besser
als die Übrigen, wie nah die beiden einander standen. Als Otah eine
Abschiedsgeste machte, tat er es ihm nach.
»Aber Liat dürfte gleich mit den Dichtern fertig sein«, sagte Epani.
»Willst du nicht auf sie warten?«
»Nein«, antwortete Otah lächelnd.

Amat lernte. Zunächst das feine Zusammenspiel in einem Bordell,


die Balance also zwischen Wächtern, Spielern, Schaukämpfern und
Huren und den Rhythmus, den das Geschäft so selbstverständlich
wie der Herzschlag oder die Strömung eines Flusses entwickelte.
Vor allem aber lernte sie, dass der Geldfluss das Etablissement wie
ein Blutkreislauf durchdrang. So verstand sie besser, wonach sie in
den nahezu unleserlichen Kritzeleien und verworrenen Belegen
suchen musste. Und sie lernte, Ovi Niit zu fürchten.
Als eine Frau sein Missfallen erregte, sah Amat, was mit ihr
geschah. Die Huren waren Ovis Eigentum und durften nicht hoffen,
von den Wächtern gegen ihren Herrn in Schutz genommen zu
werden. Anders als Amat waren diese Frauen leicht zu ersetzen.
Die Verwalterin des Hauses Wilsin hätte unter keinen Umständen
mit ihnen tauschen mögen - auch nicht, wenn man sie dafür in Silber
aufgewogen hätte.
Zwei von vier Wochen (oder fünf) waren vorbei. Zwei Wochen
noch (oder drei), und Marchats versprochene Amnestie würde
greifen. Amat saß in ihrem kleinen Arbeitszimmer und verging
schier vor Hitze. Ringsum stapelten sich Blätter. Tag für Tag bekam
sie nur das Kratzen ihrer Feder auf dem Papier mit, die fernen
Stimmen des Vergnügungsviertels, den Geruch billigen Essens,
ihren Schweiß und das gelbe Licht, das durch das schmale Fenster
unter der Decke fiel.
Das Klopfen war leise. Und vorsichtig. Amat blickte auf. Ovi Niit
oder seine Wachen hätten sich diese Mühe nicht gemacht. Sie stieß
den Federkiel ins Tintenfass und streckte sich. Ihre Gelenke
knackten.
»Herein!«, rief sie Sie hatte das Mädchen schon mal gesehen, ihren
Namen aber nicht mitbekommen - ein recht kleines Geschöpf, jung
und mit einem Muttermal am Auge, das verschmierten Tränen glich.
Als das Mädchen eine entschuldigende Gebärde machte, entdeckte
Amat halb verheilte Kratzer an den Handgelenken. Sie fragte sich,
welche Einnahmen diese Wunden dem Bordell gebracht hatten.
»Großmutter?« So nannten sie alle hier.
»Was willst du?«, fragte Amat, bedauerte den schroffen Ton sofort
und massierte sich die Hände.
»Ich weiß, dass Ihr nicht gestört werden dürft«, sagte das
Mädchen. Ihre Stimme klang ängstlich, doch Amat vermutete, dass
nicht sie - eine alte Frau, die in einem Hinterzimmer gefangen saß -
ihr Angst machte. Ovi Niit hatte offenbar befohlen, sie in Ruhe zu
lassen. »Aber da ist ein Mann. Er ist an der Tür und hat nach Euch
gefragt.«
»Nach mir?«
Das Mädchen machte eine bestätigende Gebärde. Amat lehnte sich
zurück. Kirath. Vielleicht Kirath. Oder ein Schläger des
mondgesichtigen Oshai, ausgesandt, sie aufzuspüren und zu töten.
Womöglich verprasste Ovi Niit bereits die Goldstücke, die er damit
verdient hatte, sie zu verraten. Amat nickte gedankenverloren, und
dieses Nicken galt weniger dem Mädchen als sich selbst.
»Wie sieht er denn aus?«
»Jung und hübsch.« Sie lächelte verschwörerisch.
Hübsch mochte Kirath vielleicht sein, jung aber nie und nimmer.
Er war es also nicht. Amat nahm ihren Stock. Als Waffe war er
lächerlich. Sie war nicht mehr kräftig genug, um wegzulaufen -
selbst wenn die schmerzende Hüfte es erlaubt hätte. Nein, an Flucht
war nicht zu denken, aber sie konnte sich wenigstens zur Wehr
setzen. Sie brachte ihre Panik unter Kontrolle, bis sie reden konnte,
ohne dass ihre Stimme zitterte.
»Wie heißt du, mein Kind?«
»Ibris«, antwortete das Mädchen.
»Gut, Ibris, hör genau zu. Geh zum Vordereingang - nicht zur
Hintertür, sondern zum Haupteingang. Such dort die Wächter und
erzähl ihnen von dem Mann. Sag ihnen, er hat einen Gast bedroht.«
»Aber er »Keine Diskussion!«, befahl Amat. »Geh! Na los!«
Jahre des Befehlens, der Sicherheit, des Selbstvertrauens kamen
ihr nun zupass. Das Mädchen ging, und als es die Tür geschlossen
hatte, schob Amat den Schreibtisch davor. Welch kleine,
jämmerliche Barrikade! Sie setzte sich auf den Tisch und hoffte, den
Mann durch ihr Gewicht noch ein paar Sekunden länger
aufzuhalten. Wenn die Wächter kamen, würden sie ihn ergreifen.
Oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Sie war nur eine Ware, die
man kaufen und verkaufen konnte. Es gab niemanden, der für sie
eintreten würde. Sie umklammerte den Gehstock mit den Händen.
Mit Würde war hier nichts zu gewinnen. Wenn Marchat Wilsin und
Oshai sie töten wollten, würde sie nicht ohne Gegenwehr sterben.
Draußen hörte sie wütende Stimmen, darunter die von Ibris. Ein
junger Mann brüllte. Dann kam die Fackel.
Sie wirbelte herein, als habe ein Gaukler sie durch den
Fensterschlitz geworfen. Amat sah sie einen trägen Bogen durchs
Zimmer machen, von der Wand abprallen und zu Boden fallen. Auf
die Papiere. Die Flamme züngelte an einem Stapel, und die Seiten
fingen Feuer.
Sie erinnerte sich später nicht daran, sich bewegt oder um Hilfe
gerufen zu haben, doch sie trat die Flammen aus und hielt die
Fackel dabei von den Papieren weg. Der Rauch war beißend, und
die Sandalen boten kaum Schutz, doch sie machte weiter. Jemand
drückte die Tür auf, ohne von ihrer Barrikade nennenswert
behindert zu werden.
»Sand!«, rief Amat. »Holt Sand!«
Eine Frau schrie panisch, doch Amat verstand nicht, was sie sagte.
Funkenflug setzte einen zweiten Papierstapel in Brand. Die Luft
schien voll glimmender Schnipsel, die wie Glühwürmchen
schwebten. Amat versuchte weiter, das Feuer zu löschen. Ein
besonders großer Schnipsel landete an ihrem Bein, und der
stechende Schmerz der Verbrennung ließ sie einen quälenden
Moment fürchten, ihr Gewand habe Feuer gefangen.
Die Tür flog auf. Ibris und eine rothaarige Hure aus den
Westgebieten -Menat? Mitat? - stürmten mit Töpfen voll Wasser
herein.
»Nicht!«, rief Amat, als sie mit der Fackel in der Hand zu ihnen
herumfuhr. »Kein Wasser! Sand! Holt Sand!«
Die Frauen zögerten, und das Wasser schwappte aus den
Behältnissen. Ibris drehte sich um, ließ aber ihren Topf fallen. Zum
Glück floss nichts über Bücher und Schreibtisch. Die Rothaarige
schüttete ihr Wasser in Richtung der Flammen, und Amat bekam
einen Schwall ab. Dann waren die beiden verschwunden.
Als sie mit fünf Wächtern zurückkamen, war das Feuer fast
gelöscht. Nur ein kleiner Teerfleck, den die Fackel an der Wand
hinterlassen hatte, brannte noch. Amat gab einem der Wächter die
Fackel. Die fünf Männer befragten erst sie, dann Ibris. Als Ovi Niit
zurückkehrte, tobte er im Aufenthaltsraum wie ein Verrückter, ließ
seine Wut zum Glück aber nicht an Amat aus.
Stundenlange Arbeit war dahin, vielleicht für immer. Jetzt hatte es
kaum noch Sinn, sich zu plagen. Was zuvor schier unmöglich
gewesen war, war nun geradezu lachhaft. Sie brachte in Ordnung,
was sich in Ordnung bringen ließ, und saß dann im Halbdunkel. Sie
konnte nicht aufhören zu weinen, scherte sich aber nicht weiter um
ihr Schluchzen, denn sie hatte einfach keine Zeit, sich dem Kummer
zu ergeben.
Sie musste nachdenken und hatte keine Kraft dafür übrig, die
Tränen zu stoppen.
Als die Tür zwei, drei Handbreit später aufging, kam kein
Wächter, keine Hure, sondern Ovi Niit persönlich. Er machte so
große Augen, wie die schweren Lider es erlaubten, und sein Mund
war schmal wie ein Tintenstrich. Er stolzierte herein, und sein
musternder Blick glitt unruhig durchs Zimmer. Amat beobachtete
ihn wie einen Wildhund.
»Wie schlimm steht es?«, fragte er gepresst.
»Ein Rückschlag, Niit-cha«, sagte sie. »Gravierend zwar, aber doch
nur … ein Rückschlag.«
»Ich werd den Kerl kriegen, der das getan hat! Wer bestiehlt
mich? Wer will mein Haus abfackeln? Ich mach ihn fertig! Der
kommt nie wieder auf die Beine!«
»Wie Ihr meint, Niit-cha«, sagte Amat. »Aber wenn Ihr die Bilanz
binnen einer Woche wollt, könnt Ihr mich gleich mit abstechen. Ich
kann die Bilanz zwar retten, aber so schnell geht das nicht.«
Kaum hatte sie das gesagt, machte Ovi einen Satz auf sie zu. Sein
Atem roch ekelhaft süß. Selbst im Dämmerlicht sah sie, dass seine
Zähne verfault waren.
»Er ist irgendwo da draußen!«, schrie er ihr ins Gesicht. »Und du
willst, dass ich warte? Du willst ihm Zeit geben? Ich will die Bilanz
noch heute Abend. Spätestens bei Morgengrauen. Am besten
sofort!«
Dass sie mit dieser Reaktion gerechnet hatte, machte die Lage
nicht einfacher. Sie machte eine entschuldigende Gebärde, die aber
unübersehbar Ironie enthielt. Die zornigen Augen ihres Gegenübers
verengten sich zu Schlitzen. Amat schob einen Ärmel ihres Gewands
hoch, bis er sich am Ellbogen bauschte.
»Zieht Euer Messer«, sagte sie und hielt ihm die Pulsader hin.
»Oder gebt mir Zeit, meine Arbeit anständig zu erledigen. Seit
heute ist mir das eine so recht wie das andere.«
Blitzschnell zückte er sein Messer und zielte damit auf ihre Hand.
Sie zuckte zusammen, aber weniger, als sie erwartet hatte. Das
Metall drückte in ihre Haut, verletzte sie aber nicht. Doch es tat
weh, und falls er das Messer zu sich heranzog, würde es ihr tief ins
Fleisch fahren. In der langen Pause, die nun folgte, lachte der junge
Mann leise in sich hinein. Es klang nicht nach dem bösen Spott eines
Folterers. Schließlich nahm der Bordellbesitzer das Messer weg.
»Dann mach deine Arbeit«, sagte er und grinste höhnisch. Doch
durch seine verächtliche Miene hindurch glaubte Amat einen Anflug
von Respekt zu erkennen. Sie machte eine zustimmende Gebärde.
Ovi Mit stolzierte davon, ohne die Tür zu schließen. Amat saß eine
Weile da, rieb über den weißen Strich, den das Messer auf ihrer
Haut hinterlassen hatte, und wartete auf das Verschwinden des
bangen Gefühls in ihrer Kehle. Sie hatte es geschafft! Sie hatte Zeit
gewonnen! Mindestens eine halbe Handbreit war vergangen, als der
Duft von Äpfeln und gebratenem Schweinefleisch ihren Hunger
weckte. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Auf
ihren Stock gestützt ging sie zu den großen Tischen. Die Bänke
waren schon fast voll besetzt, denn der abendliche Hochbetrieb
würde bald beginnen. Die Neuigkeit hatte sich bereits verbreitet.
Das sah sie daran, dass alle ihrem Blick auswichen. Am hinteren
Ende einer Bank wurde ihr Platz gemacht, und sie ließ sich nieder.
Nach dem Essen nahm sie sich Mitat vor, die Hure aus den
Westgebieten. Ihr blaues, eng anliegendes Seidenkleid ließ sie wie
eine für den Verkauf hergerichtete Ware erscheinen.
»Wir müssen reden«, sagte Amat ruhig. »Sofort.«
Mitat antwortete nicht, doch als Amat in ihr kleines
Arbeitszimmer ging, folgte sie ihr. Amat setzte sich. Das Zimmer
stank nach Teer und Asche. Der zum Löschen benutzte Sand kratzte
unter ihren Füßen. Es war nicht gerade der Ort, den sie sich für
diese Unterhaltung ausgesucht hätte, aber er würde schon gehen.
»Welch glücklicher Zufall, dass du am Nachmittag gleich Wasser
zur Hand hattest«, sagte Amat. »Zumal in Töpfen.«
»Wir haben es nicht gebraucht«, erwiderte Mitat. Ihre Aussprache
war nachlässig, und sie verschliff die Vokale am Wortende, kam
also tatsächlich aus den Westgebieten, und zwar aus dem nördlichen
Teil. Vermutlich war sie vor einem Raubzug der Galten geflohen. So
waren sie gewissermaßen aus dem gleichen Grund hier.
»Ich habe Glück gehabt«, sagte Amat. »Wenn ich das Zimmer
verlassen hätte, um nachzusehen, wer an der Tür ist, hätte sich das
Feuer ausgebreitet. Und selbst wenn ihr es hättet löschen können,
hätte das Wasser die Bücher ruiniert.«
Mitat zuckte die Achseln, doch ihr Blick glitt zur Tür. Diese
winzige, im Dämmerlicht kaum wahrnehmbare Augenbewegung
reichte, um Amats Argwohn zur Gewissheit werden zu lassen. Sie
fasste ihren Stock fester.
»Mach die Tür zu«, sagte sie. Die Frau zögerte, tat aber wie
geheißen. »Ibris wurde befragt und klang aufgeregt.«
»Eine mussten sie ja verhören«, entgegnete Mitat und verschränkte
die Arme.
»Dich nicht?«
»Ich hab den Mann doch gar nicht gesehen.«
»Geschickt geplant«, erklärte Amat mit anerkennender Gebärde.
»Und doch ein unglücklicher Tag für Ibris.«
»Willst du mich Ovi Niit gegenüber beschuldigen?«, fragte Mitat
und sah nicht mehr weg, sondern wirkte hart und entschlossen.
Amat konnte ihre Angst beinahe riechen.
»Ob ich dich beschuldigen will?«, erwiderte sie und ließ die Worte
auf der Zunge zergehen. Dann neigte sie den Kopf zur Seite und
musterte Mitat wie etwas, das sie kaufen wollte. »Nein«, sagte sie,
»ich werde dich nicht verraten.«
Dann muss ich dich auch nicht umbringen«, erwiderte Mitat.
Amat lächelte, schüttelte den Kopf und machte eine tadelnde
Gebärde.
»Schlechte Antwort. Drohungen verärgern mich nur und bedeuten
zugleich ein Geständnis. Das ist genau die falsche Kombination.
Noch mal«, sagte sie gedehnt »Ich werde dich nicht verraten.«
Das Mädchen aus den Westgebieten kniff die Augen zusammen,
die alles andere als dumm wirkten. Das war gut. Mitat trat näher
und senkte die eben noch verschränkten Arme. Als sie sprach, war
ihre Stimme weicher und misstrauisch, aber weniger ängstlich.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Schon viel besser! Ich will eine Verbündete in diesem Rattenloch.
Wenn es so weit ist, dass ich ein Spielchen machen muss, wirst du
mich unterstützen - ohne Fragen zu stellen oder zu zögern. Wir
werden tun, als seist du noch immer Ovi Niits Eigentum, doch in
Wirklichkeit bin nun ich deine Herrin. Und dafür sind du und dein
Freund … oder ist es eine Freundin? Nein? Das dachte ich mir.
Dafür also sind du und dein Freund nicht in Gefahr.
Einverstanden?«
Mitat schwieg. Auf der Straße grölte jemand und lachte. Ein
Bettler sang mit schöner, hoher Stimme, die Amat - wie sie nun
merkte - schon seit längerem gehört hatte. Warum fiel ihr das erst
jetzt auf? Die Hure nickte.
»Gut«, sagte Amat. »Also kein Feuer mehr. Und noch etwas: Die
nächste Buchprüferin dürfte dir kaum so ein Angebot machen -
misch mir also keine seltsamen Kräuter ins Essen, verstanden?«
»Nein, Großmutter. Auf diese Idee würde ich nie kommen.«
»Gut. Ich schätze, es gibt nichts mehr zu sagen, oder?«
Verärgert schlug Liat auf die Handgelenke des Mädchens. Maj zog
die bleichen Hände weg und redete dabei in ihrer seltsam
fließenden Sprache. Liat verlagerte das Gewicht vom rechten aufs
linke Knie. Der Schneider neben ihr schwieg, drückte dem Mädchen
aber deutlich erheitert die Knotenschnur an den bloßen
Oberschenkel.
»Sagt ihr, es dauert nur länger, wenn sie rumzappelt«, schimpfte
Liat. »Als ob wir nicht alle schon mal ein nacktes Bein gesehen
hätten!«
Der mondgesichtige Diener übersetzte dem Inselmädchen von
seinem Hocker an der Tür aus, was Liat gesagt hatte. Maj sah sie
und den Schneider an und errötete. Durch die bleiche Haut war
deutlich zu erkennen, wie das Blut an die Oberfläche drängte. Nun
hantierte der Schneider mit der Schnur auf der Innenseite ihres
Schenkels, und zwar ein gutes Stück überm Knie. Maj kreischte und
plapperte wieder los, diesmal lauter. Liat schluckte ihren Ärger
herunter.
»Was sagt sie?«, wollte sie wissen.
»Dort, wo sie herkommt, sind die Menschen verschämter«,
entgegnete Oshai. »Deshalb ist sie verwirrt.«
»Sagt ihr, dass es gleich vorbei ist. Wir können die Gewänder erst
anfertigen, wenn wir Maß genommen haben.«
In all den Nächten, in denen Liat ängstlich erwacht war, hatte sie
geglaubt, die Verhandlungen mit Khai Saraykeht und seinem
Dichter würden der heikelste Teil ihrer Aufgabe sein. Dass es ein
größeres Problem sein würde, mit dem Mädchen so einfache Dinge
wie das Maßnehmen für neue Kleider zu bewältigen, war ihr nie in
den Sinn gekommen. Und doch war es seit Tagen so, dass jede
Kleinigkeit Maj jammern oder ihren Übersetzer Oshai mit Fragen
löchern ließ. Zum Glück schien er fähig genug, die meisten selbst zu
beantworten.
Der Schneider war fertig, erhob sich und machte eine
anerkennende Gebärde. Liat tat es ihm nach. Das Inselmädchen sah
ihnen fasziniert zu.

»Liegt noch etwas an, Liat-cha?«, fragte Oshai.


»Der Hofarzt will sie morgen untersuchen. Und ich soll mit
jemandem von der Buchhaltung sprechen, aber sie braucht nicht
dabei zu sein. Vielleicht ergeben sich noch weitere Punkte, aber
Genaueres kann ich erst sagen, wenn der Zeitplan feststeht.«
»Sehr wohl, Liat-cha«, sagte Oshai mit einer Gebärde der
Dankbarkeit. Etwas an der Stellung seiner Handgelenke und
Mundwinkel ließ sie allerdings genauer hinsehen. Sie hatte das
Gefühl, er amüsiere sich über sie. Na, sollte er doch! Wenn Amat
wieder da ist, sagte sich Liat, werde ich sicher Gelegenheit haben,
über den Kerl zu lästern. Und wenn sie ihm sein Verhalten
übelnimmt, wird er nie mehr für das Haus Wilsin arbeiten.
Sie trat auf die engen Straßen des Schneiderviertels. Der Tag war
glühend heiß und schwül. Ehe sie auch nur den halben Weg zu den
Baracken der Arbeiter geschafft hatte, klebte ihr das Gewand am
schweißnassen Rücken. Sie war versucht, sich auszuziehen und die
einfache Dusche von Itani und seinen Kollegen zu benutzen, die bei
ihrer Ankunft leer war. Aber wenn jemand sie - eine
stellvertretende Verwalterin des Hauses Wilsin immerhin! -
entdecken sollte, könnte das ihrem Ansehen schaden. Also erklomm
sie stattdessen die von Generationen von Arbeitern ausgetretene
Steintreppe und betrat den großen Saal mit seinen vielen Pritschen
und den billigen Mückennetzen aus Baumwolle. Überall waren
Männergespräche und Männerlachen zu hören, und es roch streng.
Und doch lebte Itani hier. Freiwillig! Er war wirklich ein Rätsel.
Sie entdeckte ihn auf seiner Pritsche. Haut und Haare waren noch
nass vom Duschen. Sie hielt inne und musterte ihn beklommen.
Seine Brauen waren vor Konzentration gerunzelt, doch die Hände
lagen müßig im Schoß. Seine Schultern waren nach vorn gekrümmt.
Wäre er jemand anders gewesen, hätte sie gesagt, er wirke gequält.
In den fast zehn Monaten, die sie nun zusammen waren, hatte sie
ihn noch nie so bekümmert erlebt.
»Was ist los mit dir, Liebster?«, fragte sie leise.
Kaum hörte Itani ihre Stimme, verschwand die Sorge so restlos aus
seiner Miene, als wäre sie nie dagewesen. Er lächelte, erhob sich
und nahm sie in die Arme. Er roch gut nach reinem Schweiß, Jugend
und sich selbst.
»Dir macht doch etwas zu schaffen«, sagte Liat beharrlich.
»Nein, mir geht’s gut. Muhatia fällt mir mal wieder auf die
Nerven, aber das ist ganz nebensächlich. Hast du Zeit, mit uns ins
Badehaus zu gehen?«
»Ja.« Diese Antwort hatte sie eigentlich nicht geben wollen, doch
genau nach Baden stand ihr der Sinn. Die Unterlagen für Wilsin-cha
konnten warten.
»Gut«, sagte er mit überzeugendem Lächeln. Dennoch lag eine
gewisse Zurückhaltung in seinen Händen, eine gewisse Distanz in
seinem Blick. »Deine Arbeit läuft also gut?«
»Ziemlich. Die Verträge sind unter Dach und Fach, denke ich.
Aber das Mädchen enttäuscht mich. Darum behandle ich sie schroff,
obwohl mir klar ist, dass ich es nicht tun sollte.«
»Hat sie deine Entschuldigung denn angenommen?«
»Ich hab sie ihr noch nicht mal angeboten. Wenn sie weg ist,
möchte ich sie um Verzeihung bitten, aber wenn ich wieder mit ihr
zu tun habe, ärgere ich mich zu sehr über sie.«
»Du könntest dich gleich morgen bei ihr entschuldigen. Dann hast
du es hinter dir, ehe sich neuer Unmut ansammeln kann.«
»Sag mal, Itani - gibt es vielleicht etwas, für das ich mich deiner
Meinung nach bei dir entschuldigen sollte?«
Er zeigte sein bezauberndes Lächeln, doch sein Blick blieb seltsam
kühl.
»Nein«, sagte er. »Wie kommst du denn darauf?«
»Weil wir uns zwar versöhnt zu haben scheinen, du aber nicht
mehr derselbe bist, seit ich vor den Khai getreten bin.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und setzte sich auf die
Pritsche. Er zögerte und ließ sich dann neben ihr nieder.
Ihr gemeinsames Gewicht ließ das Holz knarren. Liat machte eine
entschuldigende Gebärde, die so sanft ausfiel, dass sie eher eine
Einladung und Frage zu sein schien.
»So ist das nicht«, sagte Itani. »Ich bin nicht wütend. Es ist schwer
zu erklären.«
»Dann versuch es. Vielleicht kenne ich dich besser als du denkst.«
Er lachte kurz auf. Es klang wehmütig, doch er hatte keine
Einwände gegen ihren Vorschlag. Liat wappnete sich.
»Es geht um unseren alten Konflikt, stimmt’s?«, fragte sie
freundlich. »Ich habe begonnen, in dem Unternehmen aufzusteigen,
und verhandle mit dem Khai und den Dichtern, während dein
Vertrag bald ausläuft. Ich glaube, du fürchtest, dass ich über dich
hinauswachse, weil du meinst, selbst eine kleine Aufseherin stehe
über einem Arbeiter.«
Itani schwieg. Seine Miene war nachdenklich, und sein Blick schien
erstmals seit Tagen ganz auf sie konzentriert. Ein Lächeln huschte
über seine Lippen und verschwand.
»Hab ich Recht?«, fragte sie.
»Nein. Aber eins interessiert mich: Glaubst du etwa, dass ich als
einfacher Arbeiter unter deiner Würde wäre?«
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich denke auch nicht, dass du dein
ganzes Leben lang Arbeiter bleiben wirst. Du bist ein seltsamer
Mann. Stark und klug bist du und hast ein einnehmendes Wesen.
Und ich habe den Eindruck, du weißt mindestens doppelt so viel,
wie du zugibst. Aber ich verstehe deine Entscheidungen nicht. Du
könntest so viel erreichen, wenn du nur wolltest. Hast du denn gar
kein Ziel?«
Er schwieg. Sein Lächeln war längst verschwunden, und sein Blick
wirkte aufs Neue eigenartig gequält. Sie streichelte seine Wange
und spürte der Grenze zwischen den Bartstoppeln und der glatten
Haut nach.
»Magst du ins Badehaus?«, fragte sie.
»Ja, lass uns gehen. Die anderen sind sicher schon dort.«
»Und du bist sicher, dass es nichts mehr gibt, was ich wissen
sollte?«
Er wollte schon antworten, und sie hatte das Gefühl, es sei ihm
nur knapp gelungen, eine vorschnelle Erwiderung zu unterdrücken.
Mit starken Fingern umschlang er ihre zarten Hände.
»Jetzt nicht«, sagte er.
»Aber eines Tages schon.«
Etwas wie Angst schien sich in seinem schmalen Gesicht
einzunisten, doch er rang sich ein Lächeln ab.
»Ja, eines Tages.«
Im Laufe des Abends ließ Itanis eigenartige Befangenheit immer
mehr nach. Sie lachten mit seinen Freunden, tranken und sangen
zusammen. Die Gruppe zog vom Badehaus ins Teehaus und weiter
an den leeren Strand am Ende des Hafens. Als es Zeit zum
Aufbruch war, begleitete Itani seine Freundin zu Wilsins Anwesen,
und Liat genoss es, das Gewicht seines Arms auf den Schultern zu
spüren. Grillen zirpten, als sie in den Hof mit dem Brunnen und
dem Galtischen Baum traten.
»Du könntest ja bleiben«, sagte sie leise.
Er drehte sich zu ihr um und zog sie an sich. Als sie aufblickte, las
sie die Antwort in seinen Augen.
»Dann also ein anderes Mal?«, fragte sie und schämte sich des
bittenden Klangs ihrer Stimme.
Er beugte sich vor und küsste sie fest und doch sanft. Sie strich
ihm durchs Haar und führte es an ihre Lippen wie einen Becher, aus
dem sie trank. Sie sehnte sich danach, dass er bliebe und sie in
seinen Armen würde schlafen können. Doch er trat behutsam zwei
Schritte zurück und war nun knapp außer Reichweite. Sie zuckte
bedauernd die Achseln und winkte ihm zum Abschied zu. Er
antwortete mit einer fließenden und sehr poetischen Gebärde, in
der Dankbarkeit, die Bitte um Geduld und tiefe Zuneigung lagen.
Dann ging er langsam rückwärts und verschwand in ein Dunkel, in
das der Mond nicht drang, behielt sie aber weiter im Blick. Sie
seufzte, befreite sich vom Bann der Situation und machte sich auf
den Weg zu ihrer Kammer. Der nächste Tag würde lang werden.
Der traurige Eingriff lag nur noch eine gute Woche entfernt.
Erst an ihrer Kammertür merkte Liat, dass sie nicht allein war.
Maj, das schwangere Mädchen, war allein im Hof unterwegs. Sie
trug eine nachlässig geknöpfte Bluse, die kaum ihre Brust bedeckte,
und eine an den Knien abgeschnittene Arbeitshose. Ihr Bauch trat
mächtig hervor und schimmerte blass im Mondlicht.
Zu Liats Überraschung machte das Mädchen eine Gebärde, die -
obwohl unbeholfen - als Begrüßung erkennbar war.
»Hallo«, sagte Maj, und ihr Akzent war so stark, dass Liat sie
beinahe nicht verstanden hätte.
Sie antwortete sofort mit der entsprechenden Gebärde und spürte
ein Lächeln auf den Lippen. Maj glühte beinahe vor Freude.
»Du hast begonnen, unsere Sprache zu lernen«, sagte Liat. Majs
Miene trübte sich, ihr Lächeln erstarb, und sie zuckte ratlos die
Achseln, was auch ohne Sprache vollauf verständlich war.
»Hallo«, wiederholte sie und machte die gleiche Gebärde wie
zuvor. Ihre Miene brachte zum Ausdruck, dass sie bislang nicht
mehr gelernt hatte. Liat nickte, lächelte erneut und nahm das
Mädchen am Arm. Maj aber griff nach ihrer Hand, und sie
schlangen die Finger ineinander wie kleine Mädchen, die nach dem
Besuch des Tempels miteinander spazieren gingen. Gemeinsam
schlenderten sie zu den Gästezimmern, wo Maj bis nach dem
Eingriff untergebracht sein würde.
»Das ist ein guter Anfang«, erklärte Liat. Sie wusste, dass diese
Worte dem Inselmädchen nichts sagen würden, verzichtete aber
trotzdem nicht darauf. »Lern fleißig weiter - dann machen wir noch
eine zivilisierte Frau aus dir. Nur nicht ungeduldig werden.«
7

Zwei Tage später trat Otah nach der Arbeit - und nachdem seine
Freunde zu ihren abendlichen Vergnügungen aufgebrochen waren -
nachdenklich aus seiner Unterkunft. Die Straßen der Stadt funkelten
im Orange der Abendsonne, die die Mauern und Dächer in warmes
Licht tauchte, während im Osten schon erste Sterne am kobaltblauen
Himmel glitzerten. Otah stand auf der Straße und beobachtete, wie
der Tag in die Nacht überging. Glühwürmchen tanzten wie
Kerzenflammen. Die Lieder der Bettler änderten ihren Charakter,
als Nachtschwärmer die Straßen zu bevölkern begannen. Das
Vergnügungsviertel befand sich zu seiner Rechten und war so
festlich beleuchtet wie eh und je. Vor ihm lag der Hafen, wenngleich
Arbeiterunterkünfte anderer Unternehmen ihm die Sicht darauf
versperrten. Und irgendwo weit links von ihm hinterm Stadtrand
mündete der große, aus dem Norden kommende Fluss ins Meer.
Otah rieb sich langsam die Hände, während das Licht immer röter
und dann grau wurde. Einmal mehr war die Sonne hinter dem
Horizont verschwunden, und nun standen überall am Himmel
Sterne. Er vermutete Liat in ihrer Kammer in Wilsins Anwesen, das
unterhalb der Paläste des Khai lag.
Bei seinem Weg hügelan änderte sich das Aussehen der Straßen.
Das Arbeiterviertel war eigentlich recht klein. Otah ließ es rasch
hinter sich und kam durch Gassen voll kleiner Geschäfte. Ihnen
folgten die Häuser der Weber, aus deren Fenstern das Klacken der
Webstühle drang. Er passierte Gruppen von Männern und Frauen
und kam durch die Perlenstraße und dann durchs Blutviertel, in
dem Ärzte und Kurpfuscher um Kranke und Verletzte und die
Verabreichung teurer Arzneien konkurrierten.
Bald zogen sich große Anwesen wie Dörfer den Hügel hinauf. Die
Straßen waren nun breiter, die Mauern höher, und die Feuerhüter
trugen bessere Kleider als ihre Kollegen in Hafennähe. Otah hielt an
der Abzweigung zu Wilsins Anwesen. Von dort hätte er auf
vertrautem Weg zu Liats Kammer gelangen können, und es wäre
ganz einfach gewesen, sie aufzusuchen. Er blieb zehn Herzschläge
lang wie die Statue eines vergessenen Würdenträgers des Reiches an
der Kreuzung stehen und ging dann weiter nach Norden, die
Hände zu Fäusten geballt.
Die Paläste erhoben sich wie eine eigene Stadt über den von
einfachen Leuten bewohnten Gassen. Abwassergestank,
Körpergeruch und aus Tavernen dringende Bratenschwaden
verschwanden zugunsten von Gartenduft und Weihrauch. Die Wege
waren nicht mehr mit Steinen gepflastert, sondern aus Marmor,
feinem Sand oder kleinen, blütenweißen Kieseln. An die Stelle der
Bettlerlieder waren in beinahe nahtlosem Übergang Sklavengesänge
getreten. Die großen Gebäude standen leer und dunkel da oder
wirkten von der Straße her wie angezündete Laternen. Diener und
Sklaven bewegten sich mit der lautlosen Effizienz von Ameisen über
Wege und Stege, und die Utkhais, deren Gewänder strahlend wie
der Sonnenuntergang waren, standen in hell erleuchteten Höfen
und warfen sich voreinander in Pose, wie es nun mal geboten war.
Otah vermutete, dass sie darum wetteiferten, wer von ihnen die
Ehre haben würde, den ältesten Sohn von Khai Udun zu töten.
Unter dem Vorwand, eine Botschaft zu überbringen, ließ er sich
von einem Diener den Weg zeigen und hatte bald auch die Paläste
hinter sich gelassen. Der Pfad war dunkel und schlängelte sich
zwischen Baumgruppen hindurch. Wenn er sich umwandte, konnte
er noch immer die Paläste sehen, doch der menschenleere Park
vermittelte den Eindruck, das Dichterhaus sei weit entfernt. Er
überquerte eine lange Holzbrücke über einen Teich. Dahinter
tauchte ein schlichtes, aber elegantes Gebäude auf, dessen erste
Etage erleuchtet war, während die weit geöffnete Vorderfront im
Erdgeschoss den Eindruck vermittelte, dort solle ein Stück
aufgeführt werden. Auf einem Samtsessel saß der Junge. Maati
Vaupathai.
»Hoppla«, sagte eine leise Stimme, »das ist wirklich mal was
Neues. Es passiert nur selten, dass nach Hafen stinkende
Muskelpakete zum Tee vorbeisehen. Oder hast du uns etwa eine
Botschaft zu bringen?«
Der Andat Samenlos saß im Gras. Otah machte eine
entschuldigende Gebärde.
»Ich … ich möchte Maati-cha besuchen«, stieß er stockend hervor.
»Wir waren … ich meine …«
»He! Wer ist denn da unten?«, rief eine andere Stimme. »Wer bist
du?«
Samenlos sah mit zusammengekniffenen Augen zum Haus hinauf.
Ein fetter Mann in der braunen Robe des Dichters kam ächzend die
Treppe herunter. Maati folgte ihm.
»Itani vom Haus Wilsin«, rief Otah. »Ich möchte Maati-cha
besuchen.«
Auf den letzten Metern verlangsamte der Dichter das Tempo. In
seiner Miene standen Sorge, Missbilligung und eine seltsame
Freude.
»Bist du wirklich seinetwegen gekommen?«, fragte Heshai und
wies mit dem Daumen über die Schulter. Otah machte eine
bestätigende Gebärde.
»Itani und ich haben uns bei der großen Audienz getroffen«, sagte
Maati. »Er hat angeboten, mir den Hafen zu zeigen.«
»Ach ja?«, fragte Heshai, und Otah hatte den Eindruck, seine
Missbilligung würde zugunsten einer gewissen Erheiterung an
Boden verlieren. »Na dann. Itani heißt du also? Du weißt
hoffentlich, mit wem du dich auf den Weg machst? Dieser Junge ist
einer der wichtigsten Menschen von Saraykeht. Pass also auf, dass
er nicht in schlechte Gesellschaft gerät.«
»Ja, Heshai-cha«, sagte Otah. »Das tu ich bestimmt.«
Die Miene des Dichters entspannte sich. Er kramte kurz in seinem
Ärmel und hielt ihm dann etwas hin. Unschlüssig, wie er sich
verhalten sollte, trat Otah näher und streckte dem Dichter
seinerseits die Hand entgegen.
»Auch ich war mal jung«, sagte Heshai mit unübersehbarem
Augenzwinkern. »Etwas schlechte Gesellschaft kann gar nicht
schaden.«
Otah spürte die Münzen in der Hand und machte eine dankbare
Gebärde.
»Wer hätte das gedacht?«, meinte Samenlos leise und versonnen.
»Unser Musterschüler wird flügge.«
»Bitte, Itani-cha«, sagte Maati, trat vor und nahm ihn beim Ärmel.
»Ihr habt wegen mir schon einen Umweg gemacht. Wir sollten
gehen. Eure Freunde warten bereits.«
»Ja«, sagte Otah, »natürlich.«
Er machte eine Abschiedsgebärde, die der Dichter allzu beflissen
beantwortete, während Samenlos sich lässiger und anscheinend
gedankenverloren anschloss. Maati ging voran, als die beiden über
die Brücke schlenderten.
»Hattest du mit mir gerechnet?«, fragte Otah, kaum dass sie außer
Hörweite waren. Heshai und der Andat sahen ihnen noch immer
nach.
»Jedenfalls hatte ich gehofft, dass Ihr kommt«, gab Maati zu.
»Damit bist du nicht allein. Auch der Dichter schien froh, mich zu
sehen.«
»Er mag es nicht, dass ich die ganze Zeit im Haus hocke, und
findet, ich soll mir die Stadt genauer ansehen. Er ist einfach sehr
ungern in seinen vier Wänden und kann sich nicht vorstellen, dass
es mir dort gefällt.«
»Ah. Ich verstehe.«
»So ganz dürftet Ihr das nicht verstehen«, wandte Maati ein. »Das
ist eine komplizierte Sache. Aber was ist mit Euch, Otah? Es ist Tage
her, dass wir uns getroffen haben. Ich hatte schon befürchtet, Ihr
würdet nicht mehr kommen.«
»Ich musste einfach vorbeischauen«, entgegnete Otah und war von
seiner Offenheit überrascht. »Ich habe sonst niemanden, mit dem ich
reden kann. Ihr Götter - er hat mir drei Silberstücke gegeben!«
»Ist das wenig?«
»Im Gegenteil. Ich sollte nicht mehr im Hafen arbeiten, sondern
dich ausführen. Das wird besser bezahlt.«

Er hatte sich verändert. Das war klar, auch wenn seine Stimme
ziemlich gleich geblieben war. Doch obwohl sein Gesicht älter,
erwachsener wirkte, sah Maati in Otah noch immer den Jungen, der
damals im Gemüsegarten die Schwarzkutte getragen hatte. Auch
sein Selbstvertrauen hatte er nicht verloren (es sprach noch immer
aus Körperhaltung und Stimme), vielleicht aber seine
Selbstgewissheit. Das jedenfalls schloss Maati daraus, wie Otah den
Becher zum Mund führte und daraus trank. Seinem alten Lehrer lag
etwas auf der Seele, doch Maati wusste noch nicht, was es war.
»Ein Arbeiter«, sagte er nun. »Das ist nicht gerade das, was der
Dai von Euch erwartet hätte.«
»Oder sonst jemand«, ergänzte Otah und lächelte.
Von der Dachterrasse des Teehauses aus konnten sie die Straße
und die sich weit nach Süden erstreckende Stadt überblicken.
Zitronenkerzen erfüllten die Luft mit einem starken Duft, der ihnen
die meisten Stechmücken vom Leib hielt, den Wein aber seltsam
schmecken ließ. Auf der Straße sangen und tanzten ein paar junge
Männer, denen drei Frauen lachend zusahen. Otah nahm einen
großen Schluck Wein.
»Du hast das auch nicht erwartet, oder?«
»Nein«, räumte Maati ein. »Als Ihr verschwunden wart, hab ich
mir vorgestellt … genau wie wir alle »Was hast du dir vorgestellt?«
Maati seufzte, runzelte die Stirn und versuchte, Worte für
Tagträume und stets für sich behaltene Geschichten zu finden, die er
sich nie im Detail ausgemalt hatte. Otah hatte sein Leben fast mehr
geprägt als der Dai und sicher stärker als sein Vater. Er hatte sich
vorgestellt, Otah würde einen neuen Orden aufbauen, eine dunkle,
gefährliche, vielleicht gar freidenkerische Gruppe. Oder er würde
sich aufs Meer hinauswagen oder sich ins Chaos der Kriege in den
Westgebieten aufmachen. Maati hätte es nie zugegeben, doch dass
dieser Lehrer ein ganz gewöhnlicher Mensch geworden war,
enttäuschte ihn.
»Etwas anderes«, sagte er mit einer vagen Handbewegung.
»Es war schwer. In den ersten Monaten dachte ich, ich würde
verhungern. Was sie uns übers Jagen und das Sammeln von
Vorräten beigebracht haben, hat nicht wirklich gereicht. Als ich fürs
Ausmisten eines Hühnerstalls einen Teller Suppe und einen halben
Laib altbackenes Brot bekam, glaubte ich, man habe mir das beste
Essen meines Lebens vorgesetzt.«
Maati lachte. Otah sah ihn an und zuckte die Achseln.
»Aber was ist mit dir?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»War es im Dorf des Dai so, wie du es dir vorgestellt hattest? »Ich
schätze ja. Es war anstrengender als in der Schule, aber es ist mir
leichtgefallen, weil sie einen Sinn hatte. Sie war nicht einfach nur
schwer. Wir haben die alten Sprachen des Reiches studiert und ihre
Grammatiken verglichen. Mit der Geschichte der Andaten haben
wir uns auch beschäftigt - damit, wer sie wie gebunden hat und wie
es ihnen gelungen ist, sich dem Bann zu entziehen. Ich wusste gar
nicht, wie viel schwerer es ist, einen Andaten ein zweites Mal zu
binden. Es gibt zwar viele Geschichten von Andaten, die die Dichter
sich ein drittes oder viertes Mal gefügig gemacht haben, aber …«
Otah lachte warmherzig und fröhlich, aber ohne Spott. Als Maati
eine fragende Gebärde machte, antwortete er mit einer
entschuldigenden Geste und hätte dabei fast seinen Wein
verschüttet.
»Es hat sich nur so angehört, als hättest du all das sehr gern
getan«, erklärte Otah.
»Hab ich auch«, entgegnete Maati. »Es war faszinierend. Und ich
glaube, ich kann es gut. Meine Lehrer sahen das wohl genauso.
Heshai-kvo allerdings ist ganz anders, als ich erwartet hatte.«
»Ihm geht es mit dir wahrscheinlich ähnlich.«
»Möglich. Aber warum habt Ihr die Chance ausgeschlagen, Otah?
Warum habt Ihr Euch dem Dai verweigert, als er Euch zu seinem
Schüler machen wollte?«
»Weil das, was sie getan haben, falsch war«, sagte Otah schlicht.
»Ich will einfach nicht darin verwickelt werden.«
Maati blickte in seinen Becher, runzelte die Stirn und musterte sein
Spiegelbild, das ihm von der dunkel glänzenden Oberfläche
entgegensah.
»Wenn Ihr diese Chance ein zweites Mal bekämt, würdet Ihr sie
erneut ausschlagen?«
»Ja.«
»Selbst wenn Ihr dann ein bloßer Arbeiter sein müsstet?«
Otah tat zwei tiefe Atemzüge, drehte sich um, setzte sich aufs
Geländer und betrachtete Maati aus dunklen, bekümmerten Augen.
Seine Hände setzten zu einer vielleicht anklagenden, vielleicht
fragenden Gebärde an, doch dann ließ er sie sinken.
»Ist das, was ich tue, wirklich so schlimm?«, fragte er. »Ob du, Liat
oder andere - alle scheinen so zu denken. Ich habe auf der Straße
begonnen, ohne Familie, ohne Freunde. Ich habe nicht mal gewagt,
meinen Namen zu behalten. Aber ich habe mir etwas aufgebaut. Ich
habe Arbeit, Freunde und eine Geliebte. Ich esse gut und habe ein
Dach überm Kopf. Und abends kann ich ausgehen und Dichtern,
Philosophen und Sängern lauschen, Bade- oder Teehäuser besuchen
oder mit einem Segelboot aufs Meer fahren. Ist das so schlecht? So
wenig?«
Maati war überrascht, wie gequält, womöglich verzweifelt Otahs
Stimme klang. Er hatte den Eindruck, seine Worte hätten nicht in
erster Linie ihm gegolten. Dennoch dachte er über sie nach. Und
darüber, wo sie ihren Ursprung haben mochten.
»Natürlich nicht«, sagte er dann. »Nicht allein das Große ist
achtbar und ehrenwert. Wenn Ihr der Stimme Eures Herzens folgt,
ist es unwichtig, was andere denken.«
»So unwichtig ist das keineswegs.«
»Doch - jedenfalls, wenn Ihr Euch wirklich sicher seid.«
»Gibt es denn Menschen, die sich ihrer Entscheidungen völlig
gewiss sind? Bist du dir ganz sicher?«
»Nein«, gestand Maati. Diesen heimlichsten aller Zweifel
zuzugeben war leichter, als er gedacht hatte. In der Schule oder
dem Dai gegenüber hatte er ihn nie geäußert, und er wäre lieber
gestorben, als dass er ihn Heshai anvertraut hätte, doch Otah
gegenüber fiel ihm das gar nicht so schwer. »Aber es ist zu spät. Ich
habe meine Entscheidungen gefällt. Nun kommt es nur darauf an,
ob ich stark genug bin, durchzuhalten.«
»Das bist du«, sagte Otah.
»Daran habe ich große Zweifel.«
Sie schwiegen. Auf der Straße unter ihnen schrie eine Frau auf und
lachte dann. Ein paar Gassen weiter schlug wie zur Antwort ein
Hund an. Maati setzte seinen Becher ab und schlug nach einer
Stechmücke, die sich auf seinem Arm niedergelassen hatte. Otah
nickte vor sich hin und schien Maati beinahe vergessen zu haben.
»Nun, da kann man wohl nichts machen«, sagte er.
»Es ist spät, und wir sind betrunken«, erwiderte Maati. »Morgen
sieht die Sache schon besser aus - das ist immer so.«
Otah ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann. »Ich bin
froh, dich getroffen zu haben«, sagte Maati. »Vielleicht war es
Schicksal.«
»Möglich«, pflichtete Otah ihm bei.
»Wilsin-chak rief Epani flüsternd, aber so dringlich, dass Marchat
aus seinem Traum hochschreckte. Ohne schon ganz wach zu sein,
stützte er sich auf den Ellbogen und schob das Mückennetz beiseite.
Der Haushofmeister stand neben dem Bett und hielt sich mit der
Hand den Umhang zu. Sein nur von einer Kerze beleuchtetes
Gesicht wirkte müde.
»Was ist?«, fragte Marchat und war noch immer nicht ganz in der
Wirklichkeit angekommen. »Brennt es irgendwo?«
»Nein.« Epani wollte eine entschuldigende Gebärde machen, hätte
dafür aber die Hand vom Umhang nehmen müssen. »Jemand
möchte Euch sprechen. Er wartet in Eurem Arbeitszimmer.«
»Jemand? Wer denn?«
Epani zögerte. »Etwas möchte Euch sprechen«, sagte er dann.
Marchat brauchte einen halben Atemzug, um zu verstehen. Dann
nickte er und wies auf einen Hausmantel, der neben dem
Kleiderschrank hing. Die Nachtkerze war schon gut zur Hälfte
heruntergebrannt Vom leisen Rascheln abgesehen, mit dem er den
Morgenmantel anzog und zuband, war kein Laut zu hören. Er fuhr
sich mit der Hand durchs Haar und Bart und wandte sich dann an
Epani.
»Reicht das?«
Der Haushofmeister machte eine billigende Geste.
»Gut. Bring uns etwas zu trinken. Wein. Oder besser Tee.«
»Seid Ihr Euch dessen sicher, Wilsin-cha?«
Marchat zögerte und dachte nach. Jede nächtliche Unruhe barg das
Risiko, jemanden zu wecken. Eine gewisse Verärgerung darüber,
dass der Andat um diese Zeit aufgetaucht war, glomm am dunklen
Grund seines Unbehagens.
Er winkte ab. »Nein, bring uns nichts. Geh schlafen und vergiss,
was gerade vorgefallen ist. Du hast nur geträumt.«
Epani verschwand. Marchat nahm die Kerze und ging im
Halbdunkel in sein Arbeitszimmer, das sich wegen Besprechungen
wie dieser in der Nähe seiner Wohn- und Schlafgemächer befand.
Der Raum hatte kein Fenster, nur einen einzigen Eingang und einen
mit Kies bestreuten Vorplatz, damit man von drinnen hörte, wenn
jemand kam. Als er ins Zimmer trat, hockte der Andat wie ein
Vogel auf dem Besprechungstisch und hatte die Arme auf den
Knien. Sein Umhang wirkte wie ein riesiger schwarzer Fleck.
»Was spielst du eigentlich für ein Spiel, Wilsin?«
»Bis gerade eben habe ich noch Tiefschlaf gespielt«, erwiderte
Marchat, und Zorn wallte in ihm auf, der seine Angst verbergen
sollte. Die dunklen Augen seines fahlen Gegenübers musterten ihn.
Dann neigte Samenlos den Kopf zur Seite. Bis auf Marchats Atmen
war es still. Schließlich war er hier der Einzige, der atmete.
»Was ist?«, fragte der Kaufmann. »Und nimm die Stiefel vom
Tisch. Du bist hier nicht in einer Absteige.«
»Warum hat dein Junge sich mit meinem befreundet?«, wollte der
Andat wissen, ohne sich um Wilsins Anweisung zu kümmern.
Marchat stellte die Nachtkerze auf den Tisch. »Ich habe nicht die
leiseste Ahnung, wovon du redest«, sagte er und verschränkte die
Arme. »Sprich vernünftig mit mir oder verschwinde. Ich habe
morgen viel zu tun.«
»Hast du keinen deiner Leute geschickt, um Heshais Schüler ins
Teehaus auszuführen?«
»Nein.«
»Warum ist er dann gekommen?«
Marchat sah Misstrauen in der Miene des Andaten oder glaubte es
doch zu sehen, machte ein strenges Gesicht und beugte sich vor. Das
Wesen in Menschengestalt blieb reglos.
»Ich weiß nicht, wen du meinst«, sagte Wilsin bedächtig. »Und
wenn du dich auf den Kopf stellst.«
Samenlos kniff die Augen zusammen, als hörte er konzentriert zu.
Dann lehnte er sich zurück. Sein Ärger wich einer gewissen
Verblüffung.
»Einer deiner Arbeiter hat Maati heute Abend besucht«, sagte er.
»Er hat behauptet, er habe ihn bei der großen Audienz kennen
gelernt, und sie hätten verabredet, zusammen auszugehen.«
»Und?«, fragte Marchat. »Vielleicht haben sie sich ja bei der
großen Audienz kennen gelernt und verabredet, zusammen
auszugehen.«
»Ein Dichter und ein Arbeiter?«, fragte Samenlos verächtlich.
»Und vielleicht sind ja auch die feinen Damen der Utkhais heute
Abend unterwegs und ergötzen sich im Vergnügungsviertel. Heshai
war natürlich entzückt, aber mir kommt das äußerst merkwürdig
vor, Wilsin.«
Marchat ließ sich die Worte des Andaten durch den Kopf gehen
und kaute dabei an der Unterlippe. Diese Sache schien tatsächlich
seltsam. Und da der traurige Eingriff schon bald stattfinden würde,
stand viel auf dem Spiel. Er zog einen Stuhl unterm Tisch hervor
und setzte sich. Samenlos schwang die Beine herunter. Zwar blieb er
auf dem Tisch sitzen, wirkte aber nicht mehr so aggressiv wie
zuvor.
»Um wen handelt es sich?«, fragte Wilsin.
»Er hat gesagt, er heiße Itani. Ein großer Kerl mit breiten
Schultern. Dem Gesicht nach aus dem Norden.«
Also der, den Amat mir damals mitgegeben hat, überlegte Wilsin
und war alles andere als begeistert. Samenlos, dem das nicht
entgangen war, machte eine halb fragende, halb gebieterisch
Antwort fordernde Gebärde.
»Ich weiß, wen du meinst. Und du hast recht - das ist wirklich
seltsam. Er war mein Leibwächter, als ich in die Vorstadt ging. Und
er ist mit Liat Chokavi zusammen.«
Samenlos ließ sich diese Neuigkeit kurz durch den Kopf gehen.
Marchat beobachtete seine dunklen Augen und seinen herrlichen
Mund, der nun ganz schwach zu lächeln begann.
»Hat er Liat irgendwie gewarnt?«, fragte der Andat. »Meinst du,
sie ahnt etwas?«
»Sie hat keine Ahnung. Wenn sie Bedenken hätte, wäre ihr das
schon aus der Entfernung anzusehen. Liat ist womöglich die
schlechteste Lügnerin, die mir je begegnet ist. Auch darum ist sie für
diese Aufgabe so geeignet.«
»Wenn er Liat nichts gesagt hat, versucht er womöglich gar nicht,
unsere Pläne zu durchkreuzen. Hast du noch immer keine Nachricht
von deiner verschwundenen Verwalterin?«
»Nein«, sagte Marchat. »Oshais Schergen haben eine hohe
Belohnung für sie geboten, doch bis jetzt hat es keinen Hinweis
gegeben. Und niemand im Hafen oder entlang der Landstraßen
kann sich daran erinnern, sie gesehen zu haben. Aber selbst wenn
sie in der Stadt untergetaucht ist, gibt es keinen Grund
anzunehmen, dass sie daran arbeitet, den Eingriff zu verhindern.«
»Oshai kann sie nicht finden - das reicht, um mich nervös zu
machen. Und dieser Itani ist entweder in ihrem Auftrag unterwegs
oder nicht. Wenn ja Marchat seufzte. Es nahm einfach kein Ende.
Immer wenn er dachte, endlich das letzte Verbrechen in dieser
Sache begangen zu haben, tauchte die Notwendigkeit auf, ein
weiteres zu verüben. Liat Chokavi - dieses alberne, kurzsichtige,
nette und hübsche Mädchen - wäre gedemütigt, wenn es schief-
ginge. Und nun schien es, als hätte sie dann nicht mal mehr ihren
Freund, um ihr Trost zu spenden.
»Ich kann ihn töten lassen«, sagte Marchat schleppend. »Ich werde
morgen früh mit Oshai darüber sprechen.«
»Nein«, entgegnete Samenlos, lehnte sich zurück, schlug die Beine
übereinander und legte die gefalteten Hände auf sein Knie. Er hatte
Frauenhände, schmal und anmutig. »Nein. Wenn er geschickt
wurde, um die Geschichte zu erzählen, ist es zu spät. Maati wird
dann längst Bescheid wissen. Und wenn er nicht geschickt wurde,
würde seine Ermordung nur Aufsehen erregen.«
»Ich könnte auch den Schüler des Dichters umbringen lassen«,
wandte Marchat ein.
»Nein«, sagte Samenlos erneut. »Wir können den Arbeiter töten,
wenn es angebracht scheint, aber keiner rührt Maati an.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn mag«, sagte der Andat leicht überrascht, als fiele ihm
dies erst jetzt auf. »Er ist … gutherzig. Seit Jahren ist er der Erste,
der mich nicht nur als passendes Werkzeug oder als Inbegriff des
Bösen sieht.«
Marchat blinzelte. Einen Moment lang schien etwas wie Trauer
von Samenlos Besitz ergriffen zu haben. Trauer oder vielleicht
Sehnsucht. In den Monaten, die Marchat mit der Vorbereitung
seines bösen Plans verbracht hatte, hatte er sich ein Bild von der
Bestie gemacht, mit der er es zu tun hatte, und die eben beobachtete
Gefühlsregung passte nicht zu diesem Bild. Dann aber war der
Moment vorbei, und Samenlos grinste ihn an.
»Du zum Beispiel glaubst, ich sei das Fleisch gewordene Chaos,
weil ich eine Schwangere nur deshalb ihres Kindes beraube, um
Heshai leiden zu lassen«, sagte der Andat.
»Was ich denke, spielt keine Rolle.«

»Stimmt, aber du denkst es dennoch. Und da du schon dabei bist,


denk bitte auch daran, dass deine Leute es waren, die auf mich
zugekommen sind. Es mag meine Idee sein, aber es ist dein Geld.«
»Es ist das Geld meines Onkels«, verbesserte Marchat schärfer als
beabsichtigt. »Ich habe nichts von all dem tun wollen, aber meine
Meinung hat keinen interessiert.«
Eine furchtbare Heiterkeit hellte die Miene des Andaten auf.
»Marionetten. Und die Marionetten von-Marionetten. Du solltest
mehr Mitleid für mich empfinden, Wilsin. Ich handle im Auftrag
eines anderen - genau wie du. Wie könnten wir zwei da für
irgendetwas verantwortlich sein?«
Und wenn ich mich weigere?, dachte Marchat plötzlich,
verdrängte diesen Gedanken aber sofort.
»Wir zwei könnten verschiedener nicht sein«, stellte er fest. »Aber
egal. Was immer uns zusammengeführt hat, wir sind aneinander
gebunden. Was machen wir nun mit Itani?«
»Lass ihn beschatten«, sagte der Andat. »Unser kleiner Freund
mag ein Nichts sein, aber es steht zu viel auf dem Spiel. Finde
heraus, was er für einer ist, und wenn es sich nicht vermeiden lässt,
bringen wir ihn um.«
8

»Nach dem Brand hatten wir uns doch darauf geeinigt …«,
begann Amat, doch im nächsten Moment verpasste Ovi Niit ihr mit
dem Handrücken einen heftigen Schlag. Als sie ihm den Kopf
langsam wieder zuwandte, schmeckte sie Blut. Ihre Lippen zitterten
in Erwartung des Schmerzes, und ein warmer Tropfen, der ihr aufs
Kinn fiel, sagte dem Teil ihres Verstandes, der sich nicht vor Angst
wand, einer seiner Ringe habe sie geschnitten.
»Geeinigt!«, stieß Ovi Niit hervor. »Hier gilt nur, was ich sage.
Und wenn ich meine Meinung ändere, gilt etwas Neues. Sich einigen
gibt es bei mir nicht.«
Er ging im Zimmer auf und ab. Die Abendsonne lag auf den
geschlossenen Fensterläden, deren Umrisse durch die schmalen
Lichtstreifen erahnbar waren. Das Halbdunkel war hell genug, um
etwas zu erkennen und zu wissen, dass Ovi Niits Augen weit
aufgerissen waren, denn ihr fleckiges Weiß trat beinahe
halbkugelförmig hervor. Seine Lippen bewegten sich, als sei er
drauf und dran, etwas zu sagen.
»Du schindest doch nur Zeit!«, schrie er schließlich und schlug mit
der flachen Hand auf den Tisch. Amat ballte die Fäuste und zwang
sich, ruhig sitzen zu bleiben. Was immer sie sagen würde: Ovi Niit
würde es als Provokation empfinden. »Solange du die Erledigung
deiner Aufgabe hinauszögerst, wähnst du dich in Sicherheit«, rief
er. »Du versprichst dir etwas davon, den Dieb mich bestehlen zu
lassen. Aber da hast du dich getäuscht!«
Mit diesen Worten trat er so heftig gegen die Wand, dass der Putz
Sprünge bekam. Amat besah sich den Schaden (kleine Risse, die von
einer Delle ausstrahlten) und begriff, dass sie ihre Lage nun ganz
anders einzuschätzen hatte. Die Delle war nicht größer als ein Ei,
doch jetzt wusste sie, dass Ovi Niit seine Wut in naher Zukunft nicht
mehr auf die Wände, sondern auf sie richten und sie töten würde -
ob mit Absicht oder nicht.
Wie seltsam, dass dieser kleine Anfall mir die Augen geöffnet hat,
nachdem all die Gewalt, die er an Menschen verübt, mich nicht hat
wachrütteln können, dachte sie, als die Übelkeit sie überkam.
»Bis zum Morgengrauen will ich eine Antwort«, schrie er. »Wenn
du nicht tust, was ich sage, schneid ich dir die Daumen ab und
verkauf dich für die fünf Goldstücke, die als Belohnung ausgesetzt
sind. Oshai ist es nämlich egal, ob du verstümmelt bist.«
Amat machte eine Gebärde von derart unterwürfiger
Ehrerbietung, dass sie ekelte, und doch hatten ihre Hände sie ganz
selbstverständlich geformt. Ovi Niit packte sie bei den Haaren und
zog sie vom Stuhl, was ihre Stifte und Papiere auf dem Boden
landen ließ. Dann trat er ihren Schreibtisch kurzerhand um und
stolzierte davon. Ehe die Tür hinter ihm zuknallte, konnte Amat im
Nebenraum noch ein paar erschrockene Gesichter erkennen.
Sie lag im Dunkeln auf dem rauen Steinboden und war zu müde
und zu krank, um zu weinen. Das Blut aus ihrer Schnittwunde war
geronnen und spannte die Gesichtshaut. Sie würde eine Narbe
davontragen. Als sie wieder klar denken konnte, war es
stockfinster. Sie zwang sich zum Überlegen. Die Tage waren
ineinander verschwommen, denn kaum war sie erwacht, hatte sie
sich über kaum entzifferbare Geschäftsbücher gebeugt, bis die
Zahlen vor ihren Augen tanzten. Im Schlaf hatte sie von der
Buchführung geträumt, und kaum war sie wach geworden, hatte sie
sich erneut über die verworrenen Zahlen hermachen müssen, ohne
dass ihre Arbeit irgendeinen Sinn gehabt hätte. Ovi Niit war ein
Schläger und Zuhälter. Seine Angst und Gewalttätigkeit wurden nur
größer, je mehr Wein und Drogen er dagegen nahm. Mit gehörigem
Abstand hätte sie ihn bemitleiden können.
Doch leider war sie ihm ausgeliefert, und es kam auf jeden
einzelnen Tag an.
Sie gab sich alle Mühe, sich zu erinnern. Sie musste doch schon
mindestens drei Wochen hier sein. Eher länger. Sicher länger -
vielleicht schon vier. Aber bestimmt keine fünf. Es war also
eigentlich noch zu früh, um auf Marchats Versprechen, keine Strafe
mehr befürchten zu müssen, bauen zu können. Zu ihrer
Überraschung lachte sie in sich hinein. Wenn sie sich verzählt hatte,
würde sie schlimmstenfalls bäuchlings im Fluss treiben, und Ovi Niit
hätte fünf Goldstücke eingebüßt. Gar keine so schlechte Aussicht.
Mühsam setzte sie sich auf und kam langsam auf die Beine. Immer
wieder wollte der Schmerz ihr schier den Atem rauben, bis sie
endlich einigermaßen aufrecht dastand. Sie nahm ihren Stock und
setzte die Miene auf, hinter der sie schon lange ihre wahren
Empfindungen verbarg. Schließlich war sie Amat Kyaan, die
Verwalterin des Hauses Wilsin. Ein Straßenkind aus Saraykeht, das
es im Leben zu etwas gebracht hatte. Sie sollten sehen, dass sie
ungebrochen war. Wenn es ihr gelänge, die Huren in Ovi Niits
Bordell dies glauben zu lassen, würde auch sie selbst wieder
beginnen, daran zu glauben.
Der Aufenthaltsraum war fast leer, denn die Frauen gingen auf
den Zimmern ihrem Gewerbe nach. Ein Wächter saß am Tisch und
aß ein Stück Huhn, das nach Knoblauch und Rosmarin roch. Ein
alter schwarzer Hund lag zusammengerollt in der Ecke und hatte
einen halb zerkauten Knochen zwischen den Pfoten.
»Er ist nicht da«, sagte der Wächter. »Er sitzt vorn im Lokal und
spielt Karten.«
Amat nickte.
»An Eurer Stelle würde ich nicht zu ihm gehen, Großmutter.«
»Ich habe nicht vor, ihn zu stören. Schick mir bitte Mitat. Sie soll
mir helfen, mein Arbeitszimmer wieder in Ordnung zu bringen.
Nach jeder Besprechung sieht es aus, als habe dort ein Wirbelsturm
gewütet.«
Der Wächter sah sie an und nickte grinsend. Von der Straße her
waren Trommeln zu hören, die einen weiteren Abend im
Vergnügungsviertel ankündigten.
»Ich kümmere mich darum, dass sie Euch etwas für Eure Wunde
mitbringt«, sagte der Wächter.
»Danke«, antwortete Amat höflich und unbeteiligt, also so, wie sie
von allen wahrgenommen werden wollte. »Das ist sehr nett von
dir.«
Eine halbe Handbreit später erschien Mitat auf der Schwelle des
Zimmers. Ihr breites, blasses und mit Sommersprossen übersätes
Gesicht wirkte hart. Amat lächelte ihr freundlich zu und machte eine
Willkommensgebärde.
»Ich habe gehört, er hat Euch aufgesucht, Großmutter.«
»Das hat er allerdings. Mach doch bitte die Fensterläden auf. Als
ich kam, war ich groß genug, es selbst zu tun, aber anscheinend bin
ich inzwischen geschrumpft.«
Die Hure tat, wie ihr geheißen, und fahler Mondschein mischte
sich mit dem Licht der Laterne, die auf Amats Schreibtisch stand.
Das Durcheinander der Unterlagen hielt sich in Grenzen. Amat
winkte Mitat heran.
»Ihr müsst fliehen, Großmutter«, sagte die Hure. »Niit-cha wird
immer schlimmer.«
»Das wird er allerdings«, pflichtete Amat ihr bei. »Er hat Angst.
Und er trinkt zu viel. Ich brauche dich. Jetzt und später in der
Nacht.«
Mitat machte eine Gebärde des Einverständnisses. Amat lächelte
und nahm ihre Hand. Hinter der Hure prangte die kleine Delle, die
Ovi in die Wand getreten hatte. Im Vorbeigehen fragte sich Amat,
ob der Bordellbesitzer je begreifen würde, wie viel diese Delle ihn
gekostet hatte. Amat jedenfalls wollte, dass sie ihn teuer zu stehen
kam.
»Wen von den Männern hier schätzt Ovi Niit am meisten?«, fragte
sie. »Es gibt doch bestimmt Leute, denen er mehr traut als anderen,
oder?«
»Den Wächtern«, begann Mitat, doch Amat winkte ab. »Wem
vertraut er wie einem Bruder?«
Mitats Augen wurden schmal. Jetzt hat sie erkannt, worum es
geht, dachte Amat und lächelte.
»Rathvi Schwarz«, erklärte Mitat. »Er hat hier das Sagen, wenn
Mit nicht im Haus ist.«
»Kennst du seine Handschrift?«
»Nein. Aber ich weiß, wie hoch vorgestern die nächtlichen
Einnahmen an den Spieltischen waren, für die er verantwortlich ist.
Ich habe ihn sagen hören, es seien zwei Gold- und siebzig
Silberstücke gewesen.«
Amat blätterte durch das aktuelle Geschäftsbuch, bis sie diese
Summe aufgeführt fand. Rathvi hatte eine ausgreifende, aber wenig
charakteristische Handschrift, und neigte dazu, die Wortenden zu
unterschlagen. Amat kannte seine Schrift genau. Rathvi brachte nur
das Nötigste zu Papier, und sie hatte seit Beginn ihrer Arbeit
schwer mit seinen Einträgen zu kämpfen. Sie ertappte sich bei der
diebischen Freude darüber, dass er für seine lässige Buchführung
nun würde büßen müssen.
»Zwei Handbreit vor Tagesanbruch brauche ich einen Umhang mit
Kapuze«, sagte Amat.
»Ihr solltet auf der Stelle verschwinden«, erwiderte Mitat. »Niit-
cha ist im Moment beschäftigt, aber »Ich werde erst zwei Handbreit
vor dem Morgengrauen so weit sein. Wenn Ovi Niit sich Rathvi
Schwarz vorgeknöpft hat, solltet ihr zwei - du und dein Freund -
eine Zeitlang nicht mehr so dreist in die Kasse greifen. Wenigstens
ein paar Wochen lang. Wenn Ovi merkt, dass sich seine Lage
bessert, wird er sich darin bestätigt glauben, den Richtigen bestraft
zu haben. Hast du verstanden?«
Mitat machte eine zustimmende Gebärde, schien aber nicht recht
überzeugt. Amat zog fragend die Brauen hoch. Mitat sah erst weg,
dann wieder zu ihr hin. In ihrem Blick hielten sich Hoffnung und
Misstrauen eigentümlich die Waage - wie bei einem Menschen, der
glauben möchte, sich aber davor ängstigt.
»Könnt Ihr das denn?«, fragte sie schließlich.
»Ob ich die Zahlen so verändern kann, dass es aussieht, als sei
Rathvi der Übeltäter? Natürlich kann ich das. Und genau das werde
ich tun. Also? Kannst du mir einen Umhang beschaffen und dafür
sorgen, dass ich zumindest unbehelligt bis auf die Straße komme?«
»Wenn Ihr es schafft, dass die beiden einander an die Gurgel
gehen, tu ich alles für Euch«, sagte Mitat.
Es ging schneller als gedacht. Nun, da sie wusste, was sie mit den
Zahlen bewirken wollte, waren sie ganz einfach zu manipulieren. Sie
änderte sogar ein paar Originalbelege, indem sie Rathvis Zahlen
einschwärzte und durch gefälschte Beträge ersetzte. Als sie fertig
war, hätte ein guter Buchhalter die Täuschung entdecken können.
Doch hätte Ovi Niit einen fähigen Buchhalter gehabt, hätte er Amat
nie und nimmer beschäftigt.
Sie nutzte die restliche Zeit dazu, ihren Abschiedsbrief zu
verfassen, den sie sehr förmlich hielt und in dem sie all die Titel und
Höflichkeitsfloskeln anbrachte, die ihr für einen angesehenen
Kaufmann oder einen der niederen Utkhais zu Gebote standen. Sie
dankte Ovi Niit für die Zuflucht, die er ihr in seinem Haus gewährt
hatte, und für seine Verschwiegenheit. Zudem äußerte sie mit
Bedauern, sie habe nun, da ihre Arbeit getan sei, den Eindruck
gewonnen, es sei für sie das Beste, unauffällig zu verschwinden. Sie
habe nämlich (so schrieb sie und grinste dabei höhnisch) eine zu
hohe Meinung von Niit-chas Geschäftssinn, als dass sie glauben
könne, er werde eine Ware, für die er keine Verwendung mehr
habe, nicht umgehend meistbietend verkaufen. Dann hielt sie ihre
Ergebnisse fest und ließ den Verdacht auf Rathvi Schwarz fallen,
ohne freilich einen Namen zu nennen.
Amat faltete den Brief zweimal, knickte ihn an den Ecken, wie es
bei persönlichen Nachrichten üblich war, schrieb »Für Ovi Niit« auf
eine der Außenseiten und legte ihn gut sichtbar auf einen Stapel
Geschäftsbücher. Dann saß sie eine Weile da, lauschte der Musik
und den undeutlichen Stimmen, die von der Straße hereindrangen,
und wartete auf Mitat. Die Kerze brannte immer weiter herunter,
und Amat fragte sich allmählich, ob etwas schiefgegangen war.
Doch das war nicht der Fall.
Das Mädchen hatte alles arrangiert, und es war einfach, aus dem
Haus zu kommen. Amat musste nur den dunkelgrünen Umhang
überwerfen, den Stock nehmen, aus der Hintertür treten und einen
gepflasterten Weg entlanglaufen, an dessen Ende ein offenes Tor
auf die Straße führte. Im Osten ging das Schwarz des Himmels
bereits in Aschgrau über, und die schwächsten Sterne verblassten.
Der fast volle Mond war aufgegangen. Bis auf ein paar Zecher, die
sich von feuchtfröhlichen Gelagen nach Hause schleppten, waren
keine Leute mehr auf der Straße. Trotz schmerzender Gelenke war
Amat nicht die Langsamste.
An einem Stand hielt sie an und bestellte Schweinefleisch in
Mandelpanade und eine Schale Tee. Während sie aß, ging die Sonne
wie ein Gott auf. Amat war über ihre Ruhe und innere Heiterkeit
erstaunt. Ihre Qualen waren vielleicht noch nicht ganz vorbei, aber
so gut wie überstanden. Noch ein paar Tage, dann hatte Marchat
sein geheimnisvolles Geschäft abgeschlossen. Und nachdem ich es
nun wochenlang in der Hölle ausgehalten habe, dachte sie, bin ich
auch stark genug, die letzten Tage würdig durchzustehen.
Fast hätte sie das tatsächlich geglaubt, doch dann fragte das
Mädchen, dem der Stand gehörte, ob sie noch etwas Tee wolle.
Amat hätte über diese kleine freundliche Geste beinahe geweint.
Offenbar war sie längst nicht so unversehrt, wie sie es sich hatte
einreden wollen.
Als sie ihr Haus erreichte, waren die Straßen bereits voller
Menschen. An einem normalen Tag hätte sie etwa um diese Zeit die
Wohnung verlassen und sich für das Haus Wilsin in die Stadt
aufgemacht. In ihre Stadt. Sie schloss die Tür auf, schlüpfte hinein
und sperrte hinter sich ab. Es war ein Risiko, nach Hause
zurückzukehren, ohne zu wissen, welchen Verlauf Marchats
grausames Geschäft genommen hatte, doch sie brauchte Geld. Und
die Salbe, die ihren Gelenken so guttat. Und saubere Sachen. Und
Schlaf. Ihr Götter, Schlaf brauchte sie am nötigsten, doch der musste
noch eine Weile warten.
Sie packte schnell ihre Sachen und kämpfte sich die Treppe
hinunter, um das Haus möglichst rasch zu verlassen. Sie hatte genug
Silber im Ärmel, um für einen Monat ein Haus zu mieten. Das
würde doch sicher reichen, um drei, vier Tage heimlich irgendwo
unterzukommen! Wenn es ihr bloß gelänge …
Natürlich gelang es ihr nicht. Als sie die Haustür öffnete,
versperrten ihr drei Männer den Weg. Sie hielten Messer in den
Händen. Der Größte rührte sich als Erster, drückte ihr mit der
Pranke den Mund zu und schob sie zurück in den Flur. Die anderen
schlüpften katzenhaft schnell hinein und machten die Tür zu. Amat
schloss die Augen. Ihr Herz raste, und ihr war übel.
»Wenn du schreist, müssen wir dich umbringen«, sagte der Hüne
sanft, was seine Worte nur schlimmer machte. Amat nickte, und er
nahm die Hand weg. Die Messer blieben gezückt.
»Ich will mit Wilsin-cha sprechen«, verlangte Amat, als sie so weit
war, etwas sagen zu können.
»Gut, dass wir schon nach ihm geschickt haben«, erklärte einer der
anderen. »Setz dich, solange wir warten.«
Amat schluckte, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie machte
eine zustimmende Gebärde, drehte sich um und stieg wieder nach
oben, um an ihrem Schreibtisch zu warten. Zwei Männer folgten ihr,
während der Dritte unten blieb. Knapp zwei Handbreit später kam
Marchat die Treppe hoch und trat in ihr Arbeitszimmer.
Er wirkt gealtert, dachte sie. Oder vielleicht nicht gealtert,
sondern ungepflegt. Das Haar fiel ihm in die Stirn, sein Gewand saß
schlecht, und ein Fleck Eigelb verunzierte den Ärmel. Er ging
zweimal im Zimmer auf und ab und sah sie nicht an. Amat saß am
Schreibtisch, legte die gefalteten Hände aufs Knie und wartete.
Marchat blieb am Fenster stehen, drehte sich um und winkte die
beiden Schergen aus dem Zimmer.
»Raus mit euch. Wartet unten.«
Die beiden sahen sich an und überlegten offenbar, ob sie
gehorchen sollten. Also waren es nicht Marchats Leute. Jedenfalls
nicht wirklich. Vielleicht gehörten sie ja zu dem mondgesichtigen
Oshai. Dann zuckte der eine die Achseln, und der andere nickte. Sie
verließen das Zimmer, und Amat hörte ihre Schritte leiser werden.
Marchat sah wieder aus dem Fenster - wohl, um zu beobachten,
was sich auf der Straße tat. Zwar war es erst Vormittag, doch es
wurde bereits schwül. Unter seinen Achseln waren feuchte Flecken
zu sehen, und in seinen Brauen sammelte sich Schweiß.
»Du bist zu früh dran«, sagte er schließlich und sah sie noch immer
nicht an.
»Ach ja?«
»Drei Tage zu früh.«
Amat machte eine entschuldigende Gebärde, die lässiger ausfiel,
als ihr zumute war. Es folgte eine lange Stille, bis Marchat sie
endlich anblickte. Sie konnte seine Miene nicht deuten. War da Wut,
Trauer oder Erschöpfung? Ihr Arbeitgeber seufzte.
»Amat … die Dinge haben sich schlimm entwickelt schlimmer als
erwartet, obwohl ich ohnehin pessimistisch war.
Er ging zu ihr, ließ sich auf dem Kissen nieder, auf dem sonst Liat
saß, und stützte den Kopf in die Hände. Amat hatte den Wunsch,
ihn zu berühren, beherrschte sich aber.
»Es ist fast vorbei«, fuhr er fort. »Ich kann Oshai und seine Leute
überzeugen, dass es besser ist, dich am Leben zu lassen. Das kann
ich, Amat - doch du musst mir helfen.«
»Wie?«
»Erzähl mir, was du vorhast und was du getan oder gesagt hast,
um den Eingriff zu verhindern.«
Amat war versucht, zu lächeln oder sogar in ein leises,
warmherziges Lachen auszubrechen. Deshalb schüttelte sie sich und
machte eine erstaunte Gebärde. Die Absurdität seiner Frage glich
einer Welle, die einen Schwimmer aufwärts trägt. Marchat blickte
verwirrt drein.
»Was ich getan habe, um den Eingriff zu verhindern?«, fragte sie.
»Habt Ihr den Verstand verloren? Ich bin geflohen, um mein Leben
zu retten, bin untergetaucht und habe gebetet, dass Ihr zu Ende
bringt, was immer Ihr da begonnen habt. Wie kommt Ihr darauf, ich
hätte versucht, Eure Pläne zu durchkreuzen?«
»Dann hast du also nichts unternommen?«
»Ich habe furchtbare Wochen erlebt. Ich wurde geschlagen und
bedroht. Jemand hat einen Brandanschlag auf mich verübt. Ich habe
so viele üble Ecken der Stadt gesehen wie in Jahren nicht. Und ich
habe gearbeitet - länger und härter, als ich es je für Euch getan
habe.« Amat sprach immer schneller und lauter und spürte, dass sie
rot geworden war. »Glaubt Ihr, ich hätte in den wenigen
Augenblicken, da ich zur Ruhe kam, einen Plan ausgetüftelt, um die
Ehre des Hauses Wilsin zu retten und die Welt zu verbessern?
Glaubt Ihr, ich hätte Leute angeheuert, um Eure geschätzte Kundin
ausfindig zu machen und vor dem zu warnen, was Ihr mit ihr
vorhabt? All das habe ich nicht getan, Marchat, doch offenbar habt
Ihr mir genau das zugetraut!«
Amat merkte, dass sie sich vorgebeugt hatte und Wilsin das Kinn
entgegenreckte. Nach diesem Wutausbruch fühlte sie sich
vorübergehend besser. Fast, als hätte sie die Fäden in der Hand. Sie
begriff, dass dies eine Täuschung war, empfand sie aber als
tröstlich. Marchat wirkte missmutig.
»Was ist dann mit Itani?«
»Mit wem?«
»Mit Itani. Dem Freund von Liat.«
Amat machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll mit
ihm sein? Zugegeben, ich hab ihn gebraucht, um herauszufinden,
wohin Ihr in jener Nacht gegangen seid, aber das wisst Ihr sicher
längst. Ich habe damals nicht mit ihm geredet und seither auch
nicht.«
»Warum war er dann mit dem Schüler des Dichters an drei der
letzten fünf Abende unterwegs?«, wollte Marchat wissen. Seine
Stimme klang hart wie Stein. Er glaubte Amat nicht.
»Keine Ahnung, Marchat. Warum fragt Ihr ihn nicht? Wilsin
schüttelte ungeduldig den Kopf, stand auf und wandte ihr den
Rücken zu. Amats Zorn war verflogen, und sie wünschte sich
plötzlich nichts sehnlicher, als dass er ihr glaubte, sie verstand und
auf ihrer Seite war. Sie kam sich vor wie eine Lotsenflagge, die - je
nachdem, woher der Wind kam - in die eine oder andere Richtung
wehte. Wenn sie vor diesem Gespräch ein paar Stunden hätte
schlafen können, wenn sie nicht aus Ovi Niits Haus hätte fliehen
müssen, wenn die Welt nur gerecht oder wenigstens erklärbar
gewesen wäre, dann hätte sie vermocht, sie selbst zu sein:
ausgeglichen und gelassen. Angewidert schluckte sie ihre plötzliche
Sehnsucht hinunter und tat, als würde sie nach ihrem Wutausbruch
nun wieder zur Ruhe kommen.
»Doch wenn Ihr schlau sein wollt, solltet Ihr Liat danach fragen«,
erklärte sie. Dieser Satz ließ Marchat, der schon an der Treppe war,
innehalten.
»Liat? »Sie war es, die mir erzählt hat, wohin Ihr mit Itani
gegangen seid. Ihr Freund hat es ihr gesagt, und sie hat es mir
berichtet. Wenn Ihr befürchtet, dass Itani die Dichter gegen Euch
einnimmt, dann fragt Liat.«
»Sie würde nur misstrauisch werden!«, entgegnete er, doch seine
Stimme flehte geradezu darum, widerlegt zu werden. Amat schloss
die Augen. Wie gut sich das anfühlte! Wie tröstlich die Dunkelheit
war! Sie brauchte wirklich dringend Erholung.
»Aber nein«, sagte sie. »Tut, als würdet Ihr sie ausschimpfen. Sagt
ihr, Liebschaften ziemten sich nicht unter Kollegen, und fragt sie,
warum sie und Itani damit nicht warten konnten, bis einer von
beiden aus Eurem Dienst ausgeschieden ist. Schlimmstenfalls
leugnet sie, aber dann wisst Ihr, dass sie etwas zu verbergen hat.«
Amats Arbeitgeber und langjähriger Freund ließ sich diese Idee
durch den Kopf gehen und suchte nach Fehlern. Ein Windstoß, der
nach Meer roch, schlug Amat ins Gesicht. Dann sah sie an Marchats
Blick, dass er ihren Vorschlag angenommen hatte.
»Du bleibst zu Hause, bis es vorbei ist«, befahl er. »Ich werde
dafür sorgen, dass Oshais Leute dir Essen und Trinken bringen. Ich
muss die Sache mit Oshai und dem Mädchen noch abschließen, aber
das schaffe ich. Dir wird nichts passieren.«
Amat nickte ergeben. »Ich bin froh, wieder in meiner Wohnung zu
sein«, sagte sie und fragte dann: »Marchat, worum geht es eigentlich
bei der ganzen Sache?«
»Um Geld«, antwortete er. »Und um Macht. Worum sonst?«
Als er die Treppe hinunterging und sie allein ließ, war ihr alles
klar: Es ging nicht um das Kind oder die Mutter, sondern um den
Dichter. Also ging es auch um den Andaten. Falls Heshai die
Kontrolle über seine Schöpfung entglitt und Samenlos ihm entkam,
verlor der Baumwollhandel von Saraykeht seinen Vorteil gegenüber
anderen Häfen auf den Inseln, in den Westgebieten und in Galtland.
Selbst wenn ein neuer Andat käme, würde er den Baumwollhandel
kaum so stark beeinflussen können wie Samenlos oder Blütenfall.
Amat trat ans Fenster. Auf der Straße herrschte reger Betrieb. Die
Dächer der Stadt erstreckten sich weit nach Osten, und im Hafen
lagen viele Schiffe vor Anker. Handel. Das Mädchen Maj wurde
geopfert, um Saraykehts beherrschende Stellung im
Baumwollhandel zu untergraben. Das war die einzig sinnvolle
Erklärung.
»Oh, Marchat«, flüsterte Amat. »Was hast du getan?«
Das Teehaus war beinahe leer. Nur zwei, drei junge Männer
redeten noch miteinander und warfen sich unausgereifte und
unzusammenhängende Gedanken an den Kopf. Im Vorgarten war
ein älterer Mann beim Springbrunnen eingeschlafen, und seine
langen, ruhigen Atemzüge bildeten den Kontrapunkt zu dem fernen
Streitgespräch. Flackernd erlosch eine Zitronenkerze, deren langer
Rauchfaden nun grau in den Nachthimmel stieg. Der Geruch ihres
Dochts stach Otah in der Nase, und er hätte am liebsten eine neue
Kerze angezündet, gab diesem Bedürfnis aber nicht nach. Neben
ihm auf der Bank saß Maati und seufzte.
»Wird es hier eigentlich nie kalt, Otah?«, fragte er. »Wenn wir
noch beim Dai wären, würden wir längst frieren, selbst im
Hochsommer Es ist schon Mitternacht und noch immer fast so heiß
wie am Tage.«
»Das liegt am Meer. Es speichert die Hitze. Und wir sind weit im
Süden. Im Norden ist es kühler.«
»Im Norden. Erinnert Ihr Euch noch an Machi?«
Bilder stürmten auf Otah ein: zwei Meter dicke Mauern; Türme,
die in den weißen Himmel ragten; Steinstatuen, die den Tag über im
Feuer lagen, um nachts im Kinderzimmer Hitze abzustrahlen.
Er erinnerte sich daran, mit einer Schwester, deren Name er
vergessen hatte, auf einem Schlitten durch verschneite Straßen
gezogen worden zu sein und sich an sie geklammert zu haben, um
nicht zu frieren. Und an den Geruch von brennenden
Kiefernscheiten, heißen Steinen und warmem, gewürztem Wein.
»Nein«, antwortete er, »eigentlich nicht.«
»Ich betrachte den Sternenhimmel nur selten«, sagte Maati. »Ist
das nicht merkwürdig?«
»Vermutlich«, erwiderte Otah.
»Ich frage mich, ob Heshai es tut. Er ist dauernd unterwegs, wisst
Ihr. Selbst gestern war er noch nicht zurück, als ich nach Hause
kam.«
»Du meinst heute früh?«
Maati runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich. Es dämmerte aber noch
nicht, als ich ankam. Ihr hättet Samenlos sehen sollen: Wie eine
Katze ist er vor dem Haus herumgeschlichen. Er wollte unbedingt
wissen, wo ich gewesen war, aber ich habe nichts gesagt. Wohin
Heshai wohl nächtelang verschwindet?«
»Samenlos macht sich also Sorgen um dich?«, fragte Otah. »Dann
trink besser Wasser. Das ist gut gegen Kater.«
Maati nickte, stand aber nicht auf, um welches zu holen. Der Alte
schnarchte. Otah schloss kurz die Augen, um zu spüren, wie sich das
anfühlte. Als würde er rückwärts stürzen. Er war viel zu müde und
würde die nächste Schicht nie und nimmer durchstehen. Der Ärger
mit Muhatia war absehbar.
»Ich weiß nicht, wie Heshai das fertigbringt«, sagte Maati, dem
offenbar ähnliche Dinge durch den Kopf gingen. »Er hat einen
anstrengenden Tag vor sich. Ich glaube nicht, dass ich heute mehr
schaffe als gestern … als heute, meine ich … ach, ich weiß nicht, was
ich meine. Wenn ich zum Schlafen komme, ist es leichter, den
Überblick behalten. Was ist mit Euch?«
»Die kommen ohne mich zurecht«, sagte Otah. »Muhatia weiß,
dass mein Vertrag demnächst ausläuft. Der rechnet fast damit, dass
ich meine Pflichten vernachlässige. Das ist bei Leuten, die ihren
Vertrag nicht verlängern, recht verbreitet.«
»Und Ihr verlängert ihn nicht?«, fragte Maati.
»Das ist noch offen.«
Otah setzte sich anders hin und sah den jungen Dichter an, dessen
braune Gewänder im Mondlicht schwarz wirkten. »Ich beneide
Euch«, sagte Maati. »Das wisst Ihr, oder?«
»Möchtest du ziellos sein und nicht wissen, wie du in einem halben
Jahr dein Brot verdienst?«
»Ja«, erwiderte Maati, »ich glaube schon. Ihr habt Freunde, ein
Zuhause, Möglichkeiten. Und …
»Und?«
Selbst im Dunkeln konnte Otah ihn erröten sehen. Als Maati
weiterredete, machte er eine entschuldigende Gebärde. »Und Ihr
habt Liat. Sie ist sehr schön.«
»Wunderschön ist sie. Aber am Hof gibt es jede Menge Frauen.
Und du bist der Schüler des Dichters. Es gibt sicher Mädchen, die
sich mit dir einlassen würden.«
»Das nehme ich an. Vielleicht. Ich weiß nicht recht, aber … ich
versteh sie einfach nicht. Ich hatte nie mit Mädchen zu tun - weder
an der Schule noch in der Zeit beim Dai. Sie sind irgendwie …
anders.«
»Ja«, sagte Otah, »da hast du vermutlich recht.«
Liat. Seit der Audienz beim Khai hatte er sie nur an ein paar
Abenden gesehen. Seit Maati ihn enttarnt hatte. Sie war so damit
beschäftigt, Maj auf den traurigen Eingriff vorzubereiten, dass sie
seine häufige Abwesenheit nicht offen angesprochen hatte, doch die
vorgeblich unverfänglichen Fragen, die sie ihm mitunter stellte, und
ihr häufiges Schweigen deuteten darauf hin, dass sich etwas
zusammenbraute.
»Mit Liat und mir sieht es nicht gut aus«, sagte Otah und war über
sein Eingeständnis selbst erstaunt. Maati setzte sich auf und zwang
sich eine reichlich benebelte Konzentration ab. Seine besorgte Miene
wirkte auf Otah beinahe komisch. Jetzt machte Maati auch noch eine
fragende Gebärde … Otah wollte schon abwinken, verkniff es sich
aber. »Das geht nicht von ihr aus … Ich glaube, ich bin es, der ein
Problem hat.«
»Warum?«, fragte Maati mit unüberhörbarer Skepsis.
Otah fragte sich, wie er an dieses Thema hatte geraten können.
Maati schien ein Talent dafür zu haben, ihn Dinge aussprechen zu
lassen, die er kaum den Mut gehabt hatte zu durchdenken. Endlich
schien er jemanden gefunden zu haben, der ihn verstand. Jemanden,
der sein Wesen erkannte und ähnliche Verlusterfahrungen hatte
durchmachen müssen.
»Ich habe Liat nie erzählt, wer ich bin. Meinst du … Maati, kann
man jemanden lieben, ohne ihm zu vertrauen?«
»Das Leben ist seltsam«, sagte Maati und klang plötzlich älter und
trauriger. »Würden wir auf Menschen warten, denen wir vertrauen,
könnten wir womöglich nie jemanden lieben.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann stand Maati auf.
»Ich hol mir drin Wasser und versuche, dabei auch etwas Wasser
loszuwerden«, sagte er, und die düstere Stimmung schwand.
»Und dann sollten wir aufbrechen«, meinte Otah lächelnd.
Maati machte eine so bedauernde wie zustimmende Gebärde und
ging einigermaßen sicheren Schrittes ins Teehaus. Otah stand auf
und streckte sich, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann
legte er eine Silbermünze auf den Tisch, an dem sie gesessen hatten.
Das war mehr als genug für das, was sie an Brot, Käse und
Getränken zu sich genommen hatten. Als Maati zurückkam, brachen
sie nach Norden auf, in Richtung der Paläste. Die Straßen lagen im
fahlen Mondschein. Nur da und dort brannte eine Laterne und
tauchte ihre Umgebung in rötliches Licht. Nachtvogelgesang,
Grillenzirpen und die gelegentlichen Stimmen von Leuten, die so
spät noch wach waren, begleiteten sie.
All das war Otah vertraut wie sein Bett oder der Geruch des
Meeres, doch der Junge neben ihm ließ es ihn anders empfinden.
Fast ein Drittel seines Lebens lebte Otah jetzt in Saraykeht. Er
kannte alle Straßen der Stadt und wusste, welchen Händlern man
trauen und wo man kaufen konnte, welche Teehäuser alle Kunden
gleich behandelten und welche die besseren Waren für feinere
Kundschaft zurückhielten. Und er kannte seinen Platz in dieser
Gesellschaft und hätte darüber so wenig nachgedacht wie über das
Atemholen - wenn Maati nicht gewesen wäre.
Der Junge ließ ihn alles wie zum ersten Mal betrachten die Stadt,
die Straßen, Liat, sich selbst. Vor allem sich selbst. Nun kam ihm,
was er als seinen größten Erfolg verstanden hatte - dass nämlich er
die Stadt kannte, sie ihn aber nicht -, eigenartig schal, ja fast
unerträglich vor. Und er fand es seltsam, dass es ihm nie zuvor so
erschienen war.
Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf - Bilder seiner
vergessen geglaubten Kindheit, jener Zeit also, bevor er auf die
Schule geschickt worden war. Das Gesicht mit dem dunklen Bart
und Haupthaar beispielsweise mochte sein Vater gewesen sein.
Dann war da eine Frau, die ihm etwas vorgesungen und ihn
gebadet hatte, als er noch klein genug gewesen war, um ihn auf
dem Arm zu tragen. Er wusste nicht, ob sie seine Mutter, ein
Kindermädchen oder eine seiner Schwestern gewesen war, doch im
Kamin hatte ein Feuer gebrannt, die Badewanne war aus Kupfer,
und er war fasziniert davon gewesen.
Im Laufe der letzten Tage und Nächte hatten sich weitere Schemen
eingestellt. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter ein
Stoffkaninchen in seine Sachen geschmuggelt hatte, damit sein Vater
es nicht sah. Er erinnerte sich daran, dass ein älterer Junge -
vielleicht sein Bruder - gerufen hatte, es sei nicht gerecht, Otah
wegzuschicken, und dass er sich schuldig gefühlt hatte, so viel
Ärger ausgelöst zu haben. Er erinnerte sich an den Namen Oyin
Frey und an einen alten Mann mit langem, weißem Bart, der eine
Trommel geschlagen und dazu gesungen hatte, wusste aber nicht,
wer der Mann war oder wie er ihn kennen gelernt hatte.
Er hatte keine Ahnung, welche Erinnerungen der Realität
entsprachen und welche Wunschträume waren. Er fragte sich, ob er
in den hohen Norden würde zurückreisen müssen und ob seine
geisterhaften Erinnerungen ihn auf Wege führen würden, die er seit
Jahren nicht gegangen war. Würden sie ihn vom Kinderzimmer in
die Küche und weiter zu den Tunneln unterhalb von Machi führen,
oder würden sie ihn wie Irrlichter vom richtigen Weg locken? Auch
an die Schule erinnerte er sich - an die finsteren Blicke von Tahi-kvo
und das Schwirren seines Rohrstocks. Er hatte all dies verdrängt
und den Jungen, der all diese Verluste und Demütigungen erlitten
hatte, aus seinem Gedächtnis verbannt. Nun aber war ihm, als
würde er verfolgt von dem, der er hätte sein können, und von dem,
der er gewesen sein mochte.
»Ich fürchte, ich hab Euch verärgert«, sagte Maati leise. Otah sah
ihn an und machte eine fragende Gebärde. Maati runzelte die Stirn
und blickte zu Boden.
»Seit wir das Teehaus verlassen haben, habt Ihr kein Wort gesagt«,
erklärte er schließlich. »Falls ich Euch gekränkt habe …«
Otahs Lachen schien Maati nur in dieser Annahme zu bestätigen.
Spontan legte Otah ihm den Arm um die Schultern, als wäre er ein
alter Freund oder ein Bruder.
»Tut mir leid. Das passiert mir zur Zeit offenbar ständig. Nein,
Maati, ich bin nicht verärgert. Du bringst mich nur zum
Nachdenken. Was das angeht, bin ich wohl ziemlich aus der Übung
und verliere mich laufend in Grübeleien. Außerdem bin ich
unglaublich müde.«
»Ihr könnt im Haus des Dichters übernachten, wenn Ihr nicht in
Eure Unterkunft zurückkehren wollt. Im Erdgeschoss steht ein
wunderbares Sofa.«
»Lieber nicht«, erwiderte Otah. »Wenn ich Muhatia das Vergnügen
missgönne, mich morgens auszuschimpfen, lässt er mittags seinen
Zorn an mir aus.«
Maati machte eine so verständnisvolle wie bedauernde Gebärde
und legte Otah seinerseits den Arm um die Schultern. Sie gingen
weiter und plauderten wieder in jener Mischung aus Heiterkeit und
Ernst, die für ihre Unterhaltung an diesem und den früheren
Abenden typisch gewesen war. Maati fand sich mittlerweile besser
in der Stadt zurecht, und auch wenn er nicht immer den schnellsten
Weg nahm, ließ Otah ihn gewähren. Als sie sich dem Denkmal von
Kaiser Atami näherten, bei dem drei breite Straßen zusammenliefen,
fragte er sich, wie es wohl gewesen wäre, mit einem Bruder
aufzuwachsen.
»Otah?«, fragte Maati und ging plötzlich langsamer. »Siehst du den
Mann da? Den mit dem Umhang?«
Sein Begleiter blickte kurz zur Seite. Der Mann entfernte sich allein
in Richtung Osten. Doch Maati hatte recht: Es war der Mann, der im
Vorgarten des Teehauses geschlafen oder doch so getan hatte, als
schliefe er. Otah löste sich von Maati, um im Falle eines Kampfes die
Arme frei zu haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Bewohner
des Palastviertels auf dem Rückweg vom Teehaus verfolgt und
seiner Münzen wegen überfallen wurde.
»Komm«, sagte Otah und schritt mitten auf den Platz. Kaiser
Atami ragte über ihnen auf. Seine Augen wirkten im Dunkeln
tieftraurig. Otah drehte sich langsam um und musterte jede Straße,
jedes Gebäude.
»Was meint Ihr?«, fragte Maati unsicher. »Ist er uns gefolgt?«
Bis auf den Mann aus dem Teehaus, der nach Osten verschwand,
war kein Mensch zu sehen. Otah wartete zwanzig Atemzüge, doch
niemand tauchte auf. Kein Schatten bewegte sich durch die Nacht.
Der Platz lag einsam da.
»Vielleicht«, antwortete er dann. »Wahrscheinlich, aber ich bin mir
nicht sicher. Gehen wir weiter. Und wenn du etwas entdeckst, sag
Bescheid.«
Den restlichen Weg zu den Palästen sorgte Otah dafür, dass sie auf
breiten Straßen blieben, wo sie Entgegenkommende von Weitem
sehen konnten. In diesem Fall würde er Maati losrennen lassen, um
Hilfe zu holen, und ihm einen möglichst großen Vorsprung
erkämpfen. Ein hübscher Plan, solange ihnen nicht eine ganze Schar
entgegenkam oder die Angreifer mit Messern bewaffnet waren.
Doch nichts geschah, und Maati wünschte seinem Begleiter
unbehelligt gute Nacht.
Als Otah seine Unterkunft erreichte, war seine Angst
verschwunden, und er fühlte sich wieder todmüde. Erschöpft sank
er auf seine Pritsche und machte das Mückennetz zu. Das
Schnarchen und die übrigen Schlafgeräusche seiner Kollegen hätten
ihn einlullen sollen, doch so müde er auch war, er konnte keinen
Schlaf finden. Im Dunkeln beschäftigte er sich mal mit diesem, mal
mit jenem Problem. Jemand, der Maati womöglich weiter beschatten
würde, hatte sie verfolgt; sein Vertrag war beinahe abgelaufen, und
er wäre im Morgengrauen zu müde, um an die Arbeit zu gehen; er
hatte Liat nie von seiner Vergangenheit erzählt. Kaum hatte er sich
einem Gegenstand näher zugewandt, lenkte ihn schon ein anderer
ab, bis er seinen Gedanken nur noch nachjagte, die ihrerseits ihm
auf den Fersen schienen. Er wusste nicht, wann er endlich
eingeschlafen war.
Liat verließ Marchat Wilsins Arbeitszimmer sehr aufrecht und
kochend vor Zorn, marschierte zu ihrer Kammer, ohne einmal auf
den Boden zu sehen oder einen Blick zu erwidern, schloss die Tür
hinter sich ab, verriegelte die Fensterläden, damit niemand
hereinsehen konnte, setzte sich an den Schreibtisch und weinte.
Es war so ungerecht. Sie hatte getan, was sie konnte, hatte sich mit
der Etikette vertraut gemacht, hatte das Inselmädchen stets
pünktlich zu allen Treffen gebracht und mit dem Dichter sogar noch
verhandelt, als dieser ihr sehr deutlich gesagt hatte, dass er sie am
liebsten los wäre - und dann war Itani ihr in den Rücken gefallen.
Itani! Sie zog ihr Oberkleid aus, schleuderte es aufs Bett, riss den
Schrank auf und suchte nach einem Gewand, das ihrer Wut
angemessener war.
»Das ist durchaus unangebracht«, hörte sie Wilsin-cha noch immer
sagen. »So kurz vor einer Geschäftsabwicklung kann es den
Eindruck erwecken, das Unternehmen würde nach Vertragsschluss
noch Sonderbedingungen aushandeln wollen.«
Sie wusste, was Wilsin eigentlich gemeint hatte: dass sie sich
dadurch, ihren Liebhaber losgeschickt zu haben, auf dass er Vorteile
für sie heraushole, zum Gespött gemacht haben dürfte. Und
schlimmer noch: Der süße, freundliche, stets lächelnde Itani hatte ihr
nicht mal davon erzählt. All die Abende und Nächte, die sie sich mit
Arbeit um die Ohren geschlagen hatte und ihn mit seinen Freunden
unterwegs glaubte (oder in der Unterkunft, wo er darauf wartete,
dass sie endlich mit der Aufgabe fertig wurde, die ihr beim
traurigen Eingriff zugefallen war), war er in Wirklichkeit eifrig
beschäftigt gewesen, ihre Bemühungen zunichte zu machen, indem
er sich mit dem Schüler des Dichters herumtrieb, ohne auch nur
einen Gedanken daran zu verschwenden, wie das aussehen und in
welchem Licht es seine Freundin Liat erscheinen lassen würde.
Am schlimmsten aber war, dass er ihr mit keinem Wort davon
erzählt hatte.
Sie schnappte sich ein streng wirkendes Gewand, dessen rotes
Gewebe schwarz durchwirkt war, zog es über ihr Unterkleid und
gürtete es an der Taille. Dann band sie ihr Haar straff nach hinten.
Als sie damit fertig war, hob sie das Kinn, wie Amat Kyaan es getan
hätte, und schritt in die Stadt hinunter.
Auf den Straßen herrschte reges Treiben. Die Sonne stand noch
gut acht Handbreit überm Horizont, und Hitze lastete auf der Stadt.
Zudem war die Luft feucht, drückend und reglos, und es stank
geradezu nach Meer. Itani war sicher noch mit seinen Kollegen bei
der Arbeit, doch sie würde nicht warten und Gefahr laufen, dass ihr
Zorn nachließe, sondern herausfinden, was er sich dabei gedacht
hatte. Sie würde Wilsin-cha eine Erklärung liefern, und zwar vor
dem eigentlichen Eingriff. Ihr blieb also nur noch der kommende
Tag, um die Dinge in Ordnung zu bringen.
Als sie zu den Unterkünften kam, stellte sie fest, dass Itani nicht
mit den anderen zur Arbeit gegangen war. In der Nacht zuvor war
er zu lange unterwegs gewesen und hatte Krankheit vorgeschützt,
als Muhatia seine Leute abholte. Der klumpfüßige Junge, der die
Unterkünfte während der Arbeitszeit bewachte, versicherte ihr mit
offensichtlichem Vergnügen, Muhatia sei fuchsteufelswild gewesen.
Was Itani auch im Schilde führen mochte - er hielt es offenbar für
wichtig genug, dafür seinen Arbeitsplatz zu riskieren und Liats
Ansehen bei Wilsin-cha zu untergraben. Sie bedankte sich bei dem
klumpfüßigen Jungen und fragte ihn mit sehr förmlicher Gebärde,
wo sie Itani finden könne. Der Junge zuckte die Achseln und nannte
eine Reihe von Teehäusern, Badehäusern und Vergnügungsstätten
am Hafen. Erst zwei Handbreit später entdeckte Liat ihren Freund
in einem billigen Badehaus am Fluss. Ihr Zorn hatte ganz und gar
nicht nachgelassen.
Sie stolzierte ins Bad, ohne sich damit aufzuhalten, ihre Sachen
abzulegen. Die von den gefliesten Wänden widerhallenden
Gespräche erstarben bei ihrem Vorbeigehen. Die Männer und
Frauen in den Becken musterten sie, doch Liat ging einfach weiter
und tat, als beachte sie sie nicht, verhielt sich also, wie Amat es
getan hätte. Itani hatte einen Privatraum im Seitenflügel genommen.
Liat schritt über die rauen, nassen Steine des kurzen Flurs, blieb
einen Moment lang stehen, atmete zweimal tief durch, als enthielte
die schwüle, salzige Luft etwas Stärkendes, und drückte die Tür zu
dem Raum auf.
Er hockte im Becken, als säße er an einem Tisch: ein wenig
vorgebeugt, den Blick gedankenverloren aufs Wasser gerichtet. Erst
als sie die Tür hinter sich zuknallte, sah er auf, und seine Augen
wirkten müde. Liat machte eine fragende Gebärde, die durchaus
anklagend ausfiel.
»Ich habe dich besuchen wollen, Liebes«, sagte er.
»Ach ja?«, fragte sie.
»Ja.«
Er sah wieder auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche und zog
die Schultern nach vorn. Liat trat an den Beckenrand und funkelte
ihn zornig an, damit er zu ihr hochblickte, doch das tat er nicht.
»Es gibt da etwas, worüber wir uns unterhalten müssen, Liebes«,
sagte er. »Das hätten wir schon früher tun sollen, aber »Was bildest
du dir eigentlich ein, Itani? Was machst du für einen Unsinn? Wilsin-
cha hat mir vorhin eine halbe Handbreit sehr beherrscht erzählt,
dass du mich vor den Utkhais lächerlich gemacht hast. Wie kannst
du dich nur mit dem Schüler des Dichters herumtreiben?«
»Maati«, sagte Itani abwesend. »Er heißt Maati.«
Hätte Liat etwas Passendes in Reichweite gehabt, dann hätte sie es
ihm an den gesenkten Kopf geworfen. Stattdessen stieß sie einen
verzweifelten Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf. Itani
blinzelte mehrmals, als wäre er aus einem Traum hochgeschreckt
und müsse sich erst an die Umgebung gewöhnen. Dann lächelte er
sein reizendes, offenes und warmherziges Lächeln.
»Itani, ich stehe gedemütigt vor dem ganzen Hofstaat, und du -«
»Warum denn?«
»Was?«
»Warum bist du gedemütigt, wenn ich mit Maati ins Teehaus
gehe?«
»Weil es aussieht, als würde ich versuchen, mir so nach
Vertragsschluss Vorteile zu verschaffen«, stieß sie hervor.
Itani bat mit einer Gebärde um nähere Erläuterungen und sagte:
»Geht es zwischen der Baumwollernte und der Erfüllung der
Handelsverträge nicht vor allem darum? Hat Amat Kyaan dich nicht
immer mit Briefen losgeschickt, in denen um die Auslegung von
Vertragsbedingungen gestritten wurde?«
Das stimmte, war ihr aber nicht eingefallen, als Wilsin-cha ihr mit
furchtbar bedauernder Miene an seinem Schreibtisch
gegenübergesessen hatte. Vertragsunterzeichnungen bedeuteten ja
nicht, dass die Geschäftspartner darauf verzichteten, sich weiter um
Vorteile zu bemühen.
»Aber hier liegt der Fall anders«, sagte sie. »Dieser Vertrag wurde
mit dem Khai geschlossen, und da macht man solche Spielchen
nicht.«
»Tut mir leid«, erwiderte Itani, »aber das habe ich nicht gewusst.
Doch ich habe ohnehin nicht versucht, etwas an dem zu ändern, was
du ausgehandelt hast.«
»Sondern? Itani schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem
Becken und goss es sich über den Kopf. Sein schmales Gesicht
wirkte nun völlig entspannt. Er atmete zweimal tief durch, nickte,
schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Als er sprach,
klang seine Stimme gelassen.
»Ich kenne Maati von früher. Wir waren zusammen auf der
Schule.«
»Auf welcher Schule denn?«
»Auf der Schule, in die der Adel seine enterbten Söhne schickt,
von denen einige zu Dichtern bestimmt werden.« Liat runzelte die
Stirn. Itani blickte auf.
»Und was hast du dort gemacht?«, fragte sie. »Als Diener
gearbeitet, oder? Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Ich bin der Sohn von Khai Machi. Der sechste Sohn. Damals hieß
ich Otah Machi. Ich habe mich erst nach Verlassen der Schule Itani
genannt, damit meine Familie mich nicht findet. Ich bin ohne
Brandmal gegangen. Darum wäre es gefährlich gewesen, wenn ich
meinen Namen behalten hätte.«
Sein Lächeln verblasste, und er sah wieder weg. Liat konnte sich
nicht rühren. Das war ja lächerlich. Lachhaft! Und doch lachte sie
nicht. Ihr Zorn war wie weggeblasen, und sie hatte Mühe zu atmen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Und doch war es so. Sie wusste,
dass er nicht log. Da saß er nun vor ihr und ein gutes Stück unter
ihr, und seine Augen schwammen in Tränen. Er hustete und wischte
sich die Tränen mit dem Handrücken ab.
»Ich habe das noch nie jemandem erzählt«, sagte er.
»Du begann Liat, musste aber innehalten, schlucken und neu
ansetzen. »Du bist ein Sohn von Khai Machi?«
»Zuerst habe ich dir nichts davon erzählt, weil ich dich nicht
kannte. Und später habe ich geschwiegen, weil ich anfangs nichts
gesagt hatte. Aber ich liebe dich. Und ich vertraue dir. Wirklich.
Und ich möchte mit dir leben. Verzeihst du mir?«
»Ist das … lügst du mich etwa an, Tani? »Nein«, antwortete er.
»Es ist die Wahrheit. Du kannst Maati fragen, wenn du magst.«
Liats Kehle war wie zugeschnürt, und sie konnte nicht sprechen.
Itani erhob sich aus dem Wasser und streckte ihr flehend die Arme
entgegen. In seinen Augen stand die Angst, sie könnte sich von ihm
abwenden, doch sie ließ sich in seine Arme fallen. Ihre Gewänder
sogen sich voll Wasser und hingen wie schwere Gewichte an ihr,
doch das war ihr gleich. Sie zog ihn zu sich heran - nah, ganz nah -
und schmiegte ihre Wange an die seine. Er umarmte sie und hob sie
hoch. Wie sicher sie sich fühlte! Wie stark und wundervoll er war!
»Ich hab es gewusst«, sagte sie. »Ich habe gespürt, dass du nicht
irgendwer bist. Ich habe es immer gewusst.«
Er küsste sie. Es war unwirklich und mutete an wie etwas aus
einem alten Epos. Sie, Liat Chokavi, war die Geliebte des
untergetauchten Sohnes von Khai Machi. Und er war ihr Geliebter.
Sie lehnte den Kopf zurück, nahm sein Gesicht zwischen die Hände
und musterte ihn, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er.
»Als ob ich verletzt wäre!«, erwiderte sie. »Ich könnte fliegen,
Liebster. Fliegen könnte ich!«
Er umarmte sie so leidenschaftlich wie ein Ertrinkender sich an
eine rettende Planke klammert. Ihr ging es nicht anders. Dann riss
sie sich die Kleider vom Leib, die im Becken versanken und wie
Wasserpflanzen um ihre Knöchel spielten. Nackt standen sie im
hüfthohen Wasser, und Liat gab sich dem herrlichen Gedanken hin,
dass ihr Geliebter eines Tages Thron und Macht seines Vaters
übernehmen könnte. Gut möglich, dass er eines Tages Khai sein
würde.
9

Maati schreckte hoch, als Heshai ihn an der Schulter berührte. Der
Dichter wich etwas zurück und verzog dabei sein breites
Froschmaul. Maati setzte sich auf und schob das Mückennetz
beiseite. Sein Kopf dröhnte.
»Ich muss bald los«, sagte Heshai leise und amüsiert. »Und ich
wollte dich nicht so liegen lassen. Sonst verschläfst du noch den
ganzen Tag. Bei Sonnenuntergang aufzuwachen, macht es morgen
nur schlimmer.«
Maati sah ihn fragend an, und Heshai begriff.
»Es ist kurz nach Mittag«, erklärte er.
»Ihr Götter«, stöhnte Maati und kam auf die Beine. »Tut mir
wirklich leid. Ich bin gleich fertig Der Dichter winkte ab und ging
schwerfällig zur Tür. Er trug bereits sein braunes Gewand und seine
Sandalen.
»Nicht nötig. Heute passiert nichts, wovon du wissen müsstest. Ich
wollte nur nicht, dass du deinen Kater länger als nötig pflegst.
Unten sind Obst und frisches Brot. Wurst gibt es auch, wenn du die
verträgst, aber ich an deiner Stelle würde es langsam angehen
lassen.«
Maati machte eine entschuldigende Gebärde.
»Ich habe meine Pflichten vernachlässigt, Heshai-kvo. Ich hätte
nicht so lange in der Stadt bleiben und nicht so lange schlafen
dürfen.«
Heshai klatschte mit gespieltem Ärger in die Hände. »Bist du hier
der Lehrer?«
»Nein, Heshai-kvo.«
»Na also. Ich bestimme, wann du deine Pflichten vernachlässigt
hast«, sagte er und zwinkerte ihm zu.
Als er gegangen war, legte Maati sich wieder auf die Pritsche und
drückte die Handfläche gegen die Stirn. Als er die Augen schloss,
hatte er das Gefühl, sein Bett bewege sich und triebe langsam einen
Fluss hinab. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und merkte nun
erst, dass er beinahe wieder eingedöst wäre. Seufzend quälte er sich
aus dem Bett, tauschte sein Gewand von gestern gegen ein frisches
und stieg die Treppe hinunter, um das von Heshai versprochene
Frühstück in Augenschein zu nehmen.
Ein schwülheißer Nachmittag lag vor ihm. Maati nahm ein Bad
und brachte zum ersten Mal seit Tagen seine Sachen in Ordnung.
Als der Diener kam, um Teller und Abfälle abzuräumen, bat Maati
um einen Krug Zitronenwasser.
Bis der Diener ihm das Wasser brachte, hatte er das Buch, das er
lesen wollte, bereits gefunden und ging nach draußen, um sich am
Teich in den Schatten der Bäume zu setzen. Dort, wo er es sich
gemütlich machte, roch es herrlich nach frisch gemähtem Gras. Nur
das Summen der Insekten und das gelegentliche Platschen eines
auftauchenden Zierkarpfens waren zu hören, als Maati sich an die
Lektüre des in braunes Leder gebundenen Buches machte, das
folgendermaßen begann: Seit dem Untergang des ersten Reiches ist
es keinem Dichter mehr gelungen, mehr als einen Andaten zu
binden. Wir Heutigen mögen sehnsüchtig auf die damalige Fülle
blicken, da wir wissen, was unseren Vorfahren unbekannt war: dass
Andaten, denen es gelungen ist, sich zu befreien, selten erneut
gebunden werden können. Der Grund unserer gegenwärtigen
Genügsamkeit ist, dass für uns heutige Dichter die erste
Beschwörung auch die letzte ist. Darin ähneln wir Tischlern, deren
als Gesellenstück gefertigter Stuhl das Meisterwerk sein muss, mit
dem sie in Erinnerung bleiben. Daher ist es unsere Pflicht, unsere
Arbeit genau zu prüfen, damit kommende Generationen selbst aus
kleinsten Fehlern lernen können. In dieser Überzeugung schreibe
ich, Heshai Antaburi, hier die Beschwörung auf, mit der ich als
junger Mann den Andaten Samenlos gebunden habe. Zugleich
werde ich erläutern, wie ich bei seiner Bindung Fehler hätte
vermeiden können, wenn ich mich besser gekannt hätte.
Heshai hatte eine erstaunlich schöne Handschrift, und sein Werk
war so mitreißend aufgebaut wie ein Epos. Er begann mit der
Schilderung dessen, was er mit dem Andaten zu erreichen gehofft
hatte. Dann berichtete er ausführlich, wie er den Gedanken, der
Samenlos zugrunde lag, übersetzt, also aus dem Allgemeinen ins
Individuelle übertragen und ihm dabei Gestalt und Charakter
gegeben hatte. Nachdem er die Geschichte der Bindung erzählt
hatte, wandte sich Heshai den Fehlern seiner Beschwörungsarbeit
zu und wies im Detail nach, wo sich - jedenfalls alten Grammatiken
zufolge - Zweideutigkeiten fanden, wo also die Absichten des
Dichters mit dem, was bei der Beschwörung herauskam, über Kreuz
lagen.
Unstimmigkeiten, die Maati - wie er glaubte - nie aufgefallen
wären, wurden mit einer Offenheit dargestellt, die ihn beschämte:
Schönheit, die zu Überheblichkeit führte; Stärke, die zu
Mutwilligkeit verleitete; Selbstsicherheit, die mit der
Geringschätzung anderer einherging. Und damit nicht genug - der
Dichter beschrieb auch, wie jeder Charakterfehler des Andaten
seinen Ursprung in der Persönlichkeit seines Beschwörers hatte, in
der von Heshai also. Und obwohl es Maati peinlich war, diese
Bekenntnisse zu lesen, verlangten sie ihm stets zunehmenden
Respekt vor seinem Lehrer und dem Mut ab, den es erforderte,
solche Dinge zu Papier zu bringen.
Die Sonne war schon hinter den Baumkronen verschwunden, und
die Grillen hatten zu zirpen begonnen, als Maati den dritten Teil des
Buchs erreichte, wo Heshai die »korrigierte« Version seines
Geschöpfs beschrieb. Als er aufblickte, sah er, dass der Andat auf
der Brücke stand und ihn beobachtete. Einmal mehr fielen Maati
seine vollkommenen Wangen und sein ebenso intelligenter wie
amüsierter Blick auf. Zugleich aber war er noch vertieft in das Werk
des Mannes, der diese Wangen und diesen Blick erst hatte Gestalt
annehmen lassen.
Samenlos grüßte ihn mit einer formvollendeten Gebärde und
schritt das kurze Stück zu. Maati, der sein Buch schloss.
»Na? Fleißig?«, fragte der Andat beim Näherkommen. »Das Buch
ist faszinierend, nicht? Nutzlos, aber faszinierend.«
»Warum sollte es nutzlos sein?«
»Die ›korrigierte« Version ist dem Original einfach zu ähnlich.
Man kann mich nicht zweimal auf gleiche Art binden. Das weißt du
doch. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze,
oder?«
Der Andat streckte sich im Gras aus. Seine dunklen Augen
wandten sich nach Süden, also den Palästen zu, hinter denen die
Stadt lag, die freilich vom Teich aus nicht zu sehen war. Samenlos
zupfte mit seinen vollkommenen Fingern am Gras herum.
»Immerhin zeigt dieses Buch anderen, welche Fehler Heshai
begangen hat«, sagte Maati.
»Wenn er ihnen die Fehler zeigen würde, die sie selbst zu machen
im Begriff stehen, wäre es nützlich«, entgegnete der Andat.
»Manche Fehler aber kann man erst erkennen, nachdem man sie
begangen hat.«
Maati nickte vage - ob zustimmend oder aus reiner Höflichkeit,
blieb unklar. Samenlos lächelte und ließ einen Grashalm aufs Wasser
segeln.
»Wo ist Heshai-kvo?«, fragte Maati.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich im Vergnügungsviertel. Oder in
einem Teehaus am Hafen, wo es auch Gästezimmer gibt. Er blickt
dem morgigen Tag nicht gerade freudig entgegen. Und wie steht’s
mit dir, Junge? Du hast dich als besserer Schüler erwiesen, als ich
dachte. Du bist schon recht gut darin, dich nächtelang
herumzutreiben, unstandesgemäße Kontakte zu pflegen und
vereinbarte Treffen zu versäumen. Was das anlangt, hat Heshai
Jahre gebraucht, um den Dreh herauszufinden.«
»Warum so verbittert?«, fragte Maati. Samenlos lachte und setzte
sich so, dass er ihn direkt ansehen konnte. Sein schönes Gesicht
wirkte traurig und erheitert zugleich.
»Ich hatte einen schlechten Tag«, sagte der Andat. »Ich habe etwas
gefunden, das ich verloren hatte, und es hat sich als des
Wiederfindens nicht wert erwiesen. Und du? Fühlst du dich dem
großen Ereignis morgen gewachsen?«
Maati machte eine bestätigende Gebärde. Der Andat lächelte, doch
dann veränderte sich seine Miene und bekam etwas seltsam
Zweideutiges, das Maati nicht interpretieren konnte. Die Grillen in
den Bäumen waren plötzlich still, als könnten sie nur zusammen
zirpen oder gar nicht. Einen Moment später begannen sie von
neuem.
»Gibt es …«, sagte der Andat, verstummte, bat mit einer
Handbewegung, nicht unterbrochen zu werden, überdachte seine
Worte kurz und setzte neu an: »Maati, wenn du etwas von mir
willst, wenn du mich um einen Gefallen bitten möchtest, wenn ich
etwas tun oder unterlassen soll, dann bitte mich darum, und ich
werde es tun. Egal, worum es geht.«
Maati betrachtete das bleiche Gesicht, dessen Haut in der
Dämmerung wie Porzellan schimmerte.
»Warum bietest du mir das an?«
Samenlos lächelte, und das Geräusch, mit dem seine Kleidung
übers Gras strich, als er sich anders hinsetzte, zeigte, wie edel die
Stoffe waren, die er trug.
»Um zu wissen, worum du bitten würdest«, sagte er. »Und wenn
ich etwas erbäte, das du mir nicht geben willst? »Das wäre die Sache
wert«, antwortete Samenlos. »Es würde etwas über dich verraten,
und dieses Wissen hat seinen Preis. Bitte mich, etwas geschehen zu
lassen oder zu verhindern.«
Maati spürte sich langsam erröten, beugte sich vor und musterte
den Teich und die teils bleichen, teils goldenen Fische darin.
Schließlich sagte er leise: »Wenn es morgen so weit ist, dass …
wenn Heshai-kvo den traurigen Eingriff vornimmt, widersetze dich
ihm nicht. Kaum in Saraykeht angekommen, habe ich den Kleinkrieg
erleben müssen, den ihr zwei euch geliefert habt, ehe er dich dazu
hat bewegen können, die Baumwollsaat aus den geernteten Pflanzen
rieseln zu lassen. Und auch danach hat es immer wieder Rangeleien
gegeben. Du bringst ihn jedes Mal dazu, dir seinen Willen
aufzuzwingen. Du nötigst ihm immer wieder schwere Kämpfe ab.
Lass das morgen einfach bleiben.«
Samenlos nickte, und auf seinen wunderbaren, weichen Lippen lag
ein trauriges Lächeln. »Du bist ein lieber Junge. Du hast Besseres
verdient als uns«, sagte er. »Ich werde tun, worum du gebeten
hast.«
Sie saßen still in der Abenddämmerung. Erst funkelten nur ein
paar Sterne, dann eine Handvoll, dann tausende und abertausende.
In den Palästen leuchteten die Lichter, und mitunter drang eine
ferne Melodie an Maatis Ohr.
»Ich sollte die Nachtkerze anzünden«, sagte er.
»Wenn du meinst«, antwortete Samenlos, doch Maati stand nicht
auf. Stattdessen musterte er weiter die Gestalt vor ihm, und immer
wieder ging ihm der gleiche Gedanke durch den Kopf. Das kaum
spürbare Gewicht des in Leder gebundenen Buchs in seinem Ärmel
und die seltsam ruhige Miene des Andaten vermischten sich in
seiner Wahrnehmung eigenartig und rührten ihn.
»Samenlos - ich überlege, ob ich dich etwas fragen darf. Jetzt, da
wir noch Freunde sind.«
»Da will sich einer bei mir einschmeicheln«, sagte der Andat
amüsiert und nickte. »Frag ruhig.«
»Du und Heshai-kvo - ihr seid gewissermaßen eins, oder?«
»Manchmal bewegt die Hand die Marionette, und manchmal zieht
die Puppe die Hand, doch es ist ein und derselbe Faden, der
zwischen uns verläuft. Stimmt.«
»Und du hasst ihn.«
»Ja.«
»Musst du dich dann nicht auch selbst hassen?«
Der Andat glitt in die Hocke und sah mit der Miene eines
Menschen, der ein Gemälde betrachtet, zum Dichterhaus, dessen
dunkle Silhouette sich vom Sternenhimmel abhob. Er schwieg so
lange, dass Maati sich schon fragte, ob er überhaupt noch antworten
würde. Als er dann etwas sagte, war seine Stimme kaum mehr als
ein Flüstern.
»Ja. Immer.«
Maati wartete, doch der Andat sagte nichts mehr. Schließlich
sammelte der Dichterschüler seine Sachen zusammen, erhob sich
und wollte ins Haus gehen, blieb aber noch kurz neben dem
reglosen Samenlos stehen und berührte ihn am Ärmel. Der Andat
bewegte sich nicht, sagte kein Wort und nahm so wenig Trost an
wie ein Stein. Maati ging ins Haus, zündete Zitronenkerzen an, um
die Insekten zu vertreiben, und wusch sich.
Heshai kehrte kurz vor dem Morgengrauen zurück. Seine Robe
war fleckig und stank nach billigem Wein. Maati half ihm, sich für
den traurigen Eingriff herzurichten, und sorgte dafür, dass er ein
frisches Gewand anlegte, sich die Haare wusch und sich rasierte.
Gegen die rot unterlaufenen Augen des Dichters freilich konnte er
nichts ausrichten. Samenlos drückte sich die ganze Zeit in den
Zimmerecken herum und war ungewöhnlich schweigsam. Heshai
trank wenig und aß noch weniger. Als die Sonne über die
Baumkronen stieg, verließ er schwerfällig das Haus. Maati und
Samenlos folgten ihm.
Es war ein herrlicher Tag. Über dem Meer und im Osten türmten
sich die Wolken weiß und gebirgshoch. In den Palästen waren viele
Diener und Sklaven unterwegs, und die Utkhais gingen ihren
Geschäften mit gewohnter Anmut nach.
Die Abordnung des Hauses Wilsin war schon am Ort des
Ereignisses eingetroffen. Das schwangere Mädchen wurde noch
draußen von Dienern umsorgt, die an den Röcken nestelten, die für
diesen Tag geschneidert worden waren und ihre Scham verhüllen,
ihre Leibesfrucht aber nicht behindern sollten. Maati verspürte erste
Skrupel. Heshai schritt an Frauen, Dienern und Sklaven vorbei.
Seine blutunterlaufenen Augen hielten nach Liat Chokavi Ausschau,
die für die Überwachung des Eingriffs zuständig war.
Liat war bereits im Saal und ging leise murmelnd auf und ab. Sie
trug ein weißes, blau durchwirktes Gewand, war also in Trauer. Ihr
zurückgebundenes Haar ließ ihre weißen Wangen und den Hals zur
Geltung kommen. Kein Zweifel: Sie war wunderschön. Als Heshai,
Maati und Samenlos eintraten, hob sie den Blick und machte eine
grüßende Gebärde.
»Können wir es dann hinter uns bringen?«, fragte Heshai
ungehalten. Erst jetzt, da er seinen Lehrer länger kannte, begriff
Maati, wie viel Schmerz unter dieser Schroffheit lag. Und wie viel
Angst.
»Der Arzt kommt gleich«, entgegnete Liat.
»Hat er sich verspätet?«
»Wir sind zu früh dran, Heshai-kvo«, sagte Maati vorsichtig.
Der Dichter warf ihm einen verärgerten Blick zu, zuckte die
Achseln, ging ans andere Ende des Saals und sah missmutig aus
dem Fenster. Samenlos und Maati blickten sich an. Dann schürzte
der Andat die Lippen, zuckte ebenfalls die Schultern und ging in die
Sonne hinaus. Maati stand der Frau nun also allein gegenüber und
begrüßte sie sehr förmlich, was Liat mit einer nicht minder
förmlichen Gebärde erwiderte.
»Entschuldigt das Auftreten von Heshai-kvo«, sagte er so leise,
dass nur sie es hörte. »Er lehnt den traurigen Eingriff strikt ab.
Aber das ist eine lange Geschichte und des Erzählens kaum wert.
Verübelt ihm sein Verhalten bitte nicht zu sehr.«
»Keine Sorge«, sagte Liat umgänglich, fast lässig, und es schien
beinahe, als wollte sie lächeln. »Itani hat mir davon erzählt. Euch hat
er auch erwähnt.«
»Es war sehr nett von ihm … mir die Stadt zu zeigen«, sagte Maati
überrascht. »Vor meiner Ankunft habe ich kaum etwas über
Saraykeht gewusst.«
Liat lächelte und berührte ihn am Ärmel. »Ich möchte Euch
danken. Wer weiß, wann er ohne Euch den Mut aufgebracht hätte,
mir von seiner Familie zu erzählen.«
»Oh … dann wisst Ihr es also?«
Sie nickte komplizenhaft, was Maati als erregend und zugleich
beklemmend empfand. Nun kannten drei Menschen das Geheimnis.
Und mehr durften es nicht werden. Irgendwie verband ihn das mit
Liat. Sie hatten die Wertschätzung Otahs gemein.
»Vielleicht können wir uns nach dem Eingriff näher kennen
lernen«, sagte Maati. »Ich spreche natürlich von uns dreien.«
»Das wäre schön«, erklärte Liat lächelnd, und Maati stellte fest,
dass er ihr Lächeln erwiderte. Er fragte sich, wie es wirken mochte,
dass der Schüler des Dichters und eine Vertreterin des Hauses
Wilsin einander kurz vor einem traurigen Eingriff derart
anstrahlten, und er legte sich Zurückhaltung auf. »Mit dieser Maj ist
hoffentlich alles glattgegangen?«
Liat zuckte die Achseln und beugte sich vor. Ihr teures Parfüm
roch nicht nach Blüten, sondern nach umgegrabener Erde.
»Sie ist ein Alptraum, aber behaltet das für Euch«, sagte sie. »Sie
meint es vermutlich gut, ist aber unbeständig wie ein Kind und weiß
heute nicht mehr, was ich ihr gestern gesagt habe.«
»Ist sie … einfältig?«
»Das glaube ich nicht. Eher unbekümmert. Auf Nippu sieht man
die Welt mit anderen Augen. Ihr Übersetzer hat mir davon erzählt.
Dort gilt ein Kind erst beim ersten Atemzug als Person. Deshalb hat
sie noch nicht mal Trauer tragen wollen.«
»Wirklich? Das ist mir ganz neu. Ich hatte die Östlichen Inseln für
… strenger gehalten.«
»Dem ist anscheinend nicht so.«
»Ist der Übersetzer auch hier?«
»Nein«, sagte Liat mit unduldsamer Gebärde. »Irgendetwas ist
dazwischen gekommen, und er musste vorzeitig weg. Aber Wilsin-
cha hat dafür gesorgt, dass er mir alle Ausdrücke beibringt, die ich
für den Eingriff brauche. Ich habe sie lange geübt. Und ich kann
Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, wenn das hier vorbei ist.«
Maati sah zu seinem Lehrer hinüber. Heshai stand reglos und mit
niedergeschlagener Miene am Fenster. Samenlos lehnte mit
verschränkten Armen neben der offenen Eingangstür an der Wand
und starrte auf den Rücken des Dichters. Seine gespannte
Aufmerksamkeit ließ Maati an einen Wildhund denken, der seiner
Beute nachschleicht.
Der Arzt und sein Gefolge trafen zum vereinbarten Zeitpunkt ein.
Als Maj in den Saal gebracht wurde, errötete sie und zupfte an ihren
Röcken herum. Liat trat neben sie, während Maati sich zu Heshai
und Samenlos gesellte. Diener und Sklaven zogen sich ein
angemessenes Stück zurück, und die Flügeltür am Eingang wurde
geschlossen. Heshai wirkte gebeugt, als trüge er eine schwere Last.
Er gab Liat einen Wink, und sie trat vor, um die Zeremonie zu
eröffnen.
»Heshai-cha.«, begann sie. »Ich vertrete Euch gegenüber die
Angelegenheiten des Hauses Wilsin. Meine Kundin hat die vom
Khai bestimmte Geldsumme entrichtet, und die Buchführung hat
festgestellt, dass sie unserer Vereinbarung entspricht. Wir bitten
Euch nun, Euren Teil des Vertrags zu erfüllen.«
»Habt Ihr sie gefragt, ob sie sich auch sicher ist?«, wollte Heshai
wissen. Seine Worte entsprachen nicht dem Zeremoniell, und er
verzichtete auf die üblichen Gesten. Seine Lippen waren schmal, sein
Gesicht grau. »Ist sie sich sicher?«
Maati hatte den Eindruck, die Verzweiflung in der Stimme seines
Lehrers habe Liat, die nervös blinzelte, erschreckt.
Hätte ich ihr doch erklärt, warum Heshai dieser Eingriff so
schwerfällt, dachte er. Aber vielleicht ist das auch egal. Eigentlich
müssen wir das Ganze hier bloß hinter uns bringen.
»Ja«, sagte Liat und verstieß damit ebenfalls gegen die Regeln der
Zeremonie.
»Fragt sie erneut«, sagte Heshai halb fordernd, halb flehend.
»Fragt sie, ob es keinen anderen Weg gibt.«
In Liats Augen flackerte nackte Angst auf und verschwand
wieder. Maati begriff: Der Übersetzer hatte ihr diese Frage offenbar
nicht beigebracht, und sie konnte Heshais Bitte nicht erfüllen. Sie
hob das Kinn, und ihre Augen wurden auf eine Weise schmal, die
sie überheblich und herablassend wirken ließ. Maati aber vermochte
ihre Panik zu spüren.
»Heshai-kvo«, sagte er leise. »Könnten wir das Ganze bitte hinter
uns bringen?«
Sein Lehrer blickte zunächst verärgert, dann traurig und resigniert
und zog die Frage mit abwinkender Handbewegung zurück. Liat
warf Maati einen erleichterten Blick zu. Der Arzt nahm das als
Zeichen für seinen Einsatz, trat vor und bestätigte, die Frau sei bei
guter Gesundheit, und der Eingriff bedeute keine große Gefahr für
ihr Wohlbefinden. Heshai nickte knapp. Der Arzt führte Maj zu dem
dafür vorgesehenen Stuhl, ließ sie darauf Platz nehmen und stellte
ihr wortlos eine Silberschüssel zwischen die Beine.
»Ich hasse das«, murmelte Heshai so leise, dass nur Maati und
Samenlos es hören konnten. Dann machte er eine formelle Gebärde
und verkündete: »Im Namen von Khai Saraykeht und dem Dai stehe
ich Euch zur Verfügung.«
Liat wandte sich dem Mädchen zu und redete in einer
merkwürdig fließenden Sprache auf sie ein. Maj runzelte die Stirn
und schürzte die bleichen, vollen Lippen. Dann nickte sie und
antwortete etwas. Liat wandte sich wieder dem Dichter zu und
nickte.
»Bist du bereit?«, fragte Heshai und sah Maj dabei an. Das
Inselmädchen neigte den Kopf zur Seite, als habe sie ihn beinahe
verstanden. Heshai hob die Brauen und seufzte. Ohne sichtbare
Aufforderung trat Samenlos mit der Anmut eines Tänzers vor. In
seinen Augen lag Glanz, womöglich Freude. Maati spürte ein
unerklärliches Ziehen im Bauch.
»Ihr braucht Euch nicht anzustrengen, alter Freund«, sagte
Samenlos. »Ich habe Eurem Schüler versprochen, Euch diesmal nicht
zu zwingen, meinen Widerstand zu überwinden. Wie Ihr seht, kann
ich Wort halten, wenn es mir passt.«
Die Silberschüssel tönte, als sei eine Orange darin gelandet. Maati
sah hin und gleich wieder weg. Das Ding da drin bewegt sich nicht
selbst, sagte er sich, sondern kommt nur zur Ruhe. Es bewegt sich
nicht selbst.
Mit hörbarem Einatmen begann das Inselmädchen zu schreien.
Ihre graublauen Augen waren so weit aufgerissen, dass Maati
ringsum das Weiß der Augäpfel sehen konnte. Ihre vollen Lippen
schrumpften zu dünnen Strichen. Maj griff nach unten, um das Ding
zu berühren und an sich zu drücken, doch der Arzt stieß die
Schüssel beiseite. Liat konnte nur die Hände des Mädchens halten
und sie verwirrt ansehen, während ein Schrei nach dem anderen
durch den Saal hallte.
»Was ist los?«, fragte Heshai ängstlich und leise. »Was ist passiert?
10

Amat Kyaan ging wie jemand am Hafen entlang, der noch nicht
ganz aus einem Alptraum erwacht ist. Die Morgensonne ließ das
Meer so grell leuchten, dass sie es nicht ansehen konnte. Schiffe
lagen am Kai und wurden mit Stoffen, Öl und Zucker beladen,
während nebenan Nüsse und Indigo, Weizen und Roggen, Wein
und Marmor aus Eddensea angelandet wurden. An den schmalen
Marktständen herrschte noch immer reges Treiben, Fahnen
flatterten im Wind, und Möwen kreisten krächzend am Himmel. Es
war, als würde Amat in einer Erinnerung aufgehen. Jahrelang war
sie täglich diesen Weg gegangen. Wie schnell er ihr fremd
geworden war! Auf ihren Stock gestützt überquerte sie den breiten
Nantan und kam in die Gegend der Lagerhäuser. Einmal mehr hatte
sich der Rhythmus der städtischen Verkehrsströme entsprechend
der Jahreszeit geändert. Die fieberhafte Eile der Erntemonate war
vorbei, und obwohl die Arbeiten noch längst nicht abgeschlossen
waren, herrschte geradezu greifbar der Eindruck, das Ende der
Saison sei gekommen. Der Kunstgriff, dem Saraykeht verdankte,
Zentrum des Baumwollhandels zu sein, war einmal mehr ins Werk
gesetzt worden, und jetzt waren die Stadtbewohner damit
beschäftigt, die Segnungen dieses Kunstgriffs in Macht, Reichtum
und Ansehen umzumünzen.
Doch nicht nur der Abschluss der Saison war zu spüren, sondern
auch ein gewisses Unbehagen. Dem Dichter war etwas zugestoßen.
Allein am Vorabend hatte der Wind Amat drei oder vier Versionen
der Geschehnisse durchs Fenster zugetragen. Und jede
Unterhaltung, an der sie jetzt vorbeikam, drehte sich um das gleiche
Thema. Mit dem Dichter stimmte etwas nicht. Was da nicht stimmte,
hatte mit dem Haus Wilsin und dem traurigen Eingriff zu tun. Und
es musste furchtbar sein. Die jungen Männer und Frauen, die
einander davon auf der Straße erzählten, waren von der
krisenhaften Atmosphäre erregt und zu jung, zu arm oder zu
ungebildet, als dass die Nachrichten von den Ereignissen des
Vortags ihnen Angst gemacht hätten. Stattdessen lächelten sie sogar
noch! Angst war etwas für ältere Leute: Für Menschen mit Einsicht.
Amat atmete tief ein, und würzige Seeluft sowie der Geruch von
Fleisch, das an den Ständen gegrillt wurde, stieg ihr in die Nase,
aber auch der unangenehme Gestank der Färberbottiche, die ein
paar Straßen entfernt waren. Ja, so roch ihre Stadt, wenn der
Hochsommer vorbei war. Eigentlich fand sie es noch immer
unglaublich, zurückgekehrt und nicht mehr im Hinterzimmer von
Ovi Niits Bordell lebendig begraben zu sein. Als sie - schwer auf
ihren Stock gestützt - weiterging, wollte sie nicht daran denken,
was die Männer und Frauen, an denen sie vorbeikam, über sie sagen
mochten.
Am Eingang des Badehauses musterten die Wächter sie neugierig.
Sie erwiderte ihren Gruß nicht einmal, sondern betrat die gefliesten
Räume, die alle Geräusche widerhallen ließen und nach Zedern und
Quellwasser rochen, schlüpfte aus ihrem Gewand und ging an den
öffentlich zugänglichen Becken vorbei zu Marchat Wilsins privatem
Bad im hinteren Teil des Hauses, wie sie es immer getan hatte.
Er sah furchtbar aus.
»Es ist zu heiß«, sagte er, als sie ins Becken glitt. Das lackierte
Tablett schwankte ein wenig, doch kein Tropfen Tee ging verloren.
»Das sagt Ihr jedes Mal«, erwiderte Amat. Marchat seufzte und
sah weg. Seine dunklen Tränensäcke glichen Blutergüssen. Davon
abgesehen war seine finstere Miene aschfahl. Amat beugte sich vor
und zog das Tablett näher heran.
»Nun«, sagte sie, »ich nehme an, alles ist gut gelaufen.«
»Lass es.«
Amat nippte an ihrer Schale und musterte ihren Arbeitgeber und
Freund.
»Worüber könnten wir sonst reden?«, fragte sie.
»Übers Geschäft«, erwiderte er. »Wie immer.«
»Übers Geschäft also. Ich nehme an, alles ist gut gelaufen.«
Er warf ihr einen kurzen, wütenden Blick zu und sah weg. »Wir
könnten mit den Verträgen der Färber beginnen.«
»Wenn Ihr wollt«, sagte Amat. »Sind die besonders eilig?« Der
beißende Sarkasmus ihrer Stimme brachte all ihre Empörung, ihren
Zorn und ihre Angst zum Ausdruck. Marchat machte eine
unbeholfen beschwichtigende Geste und nahm seine Teeschale vom
Tablett.
»Ich treffe mich nachher mit dem Khai und einigen höheren
Utkhais. Ich muss mir schon die ganze Zeit dumme Fragen anhören,
was den traurigen Eingriff anlangt, und habe ihnen eine gründliche
Untersuchung versprochen.«
»Und was werdet Ihr dabei herausfinden?«
»Die Wahrheit, vermute ich. Kennst du das Geheimnis einer guten
Lüge? Irgendwann glaubt man sie selbst! Ich nehme an, dass meine
Untersuchung - wie die jedes anderen - zu dem Ergebnis kommen
wird, dass Oshai, der Übersetzer, der Übeltäter war. Er und seine
Leute haben alles unter Führung des Andaten Samenlos geplant. Sie
haben das Mädchen gefunden und unter Vorspiegelung falscher
Tatsachen zu uns gebracht. Ich besitze Einführungsschreiben, die
wir den Beamten des Khai aushändigen und die sich als Fälschungen
erweisen werden. Das Haus Wilsin wird als ein Haufen Tölpel
erscheinen. Günstigstenfalls kostet es uns Jahre, unser Ansehen
zurückzugewinnen.«
»Das wäre doch ein kleiner Preis«, erwiderte Amat trocken. »Viel
schlimmer würde es kommen, wenn sie Oshai finden.«
»Das werden sie nicht.«
»Seid Ihr Euch da so sicher?«
»Ja.« Wilsin seufzte schwer. »Da bin ich mir sicher.«
»Und Liat?«
»Sie wird noch verhört«, antwortete Marchat. »Ich nehme an, sie
lassen sie am Abend gehen. Wir müssen etwas für sie tun, denn wir
haben manches gutzumachen: Sie wird nach dieser Sache nicht
gerade in dem Ruf stehen, allzu fähig zu sein. Mit dem
Inselmädchen haben sie bereits gesprochen.
Sie hatte kaum etwas Zusammenhängendes zu sagen, fürchte ich.
Aber es ist vorbei, Amat. Das ist das einzig Gute, was sich über
dieses üble Geschäft sagen lässt. Der schlimmste Fall ist eingetreten,
und jetzt müssen wir die Scherben zusammenkehren und
weitermachen.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Die hab ich dir gerade gesagt«, entgegnete er. »Das jedenfalls ist
die einzige Wahrheit, die zählt.«
»Und die wirkliche Wahrheit? Von wem sind die Perlen? Erzählt
mir nicht, der Andat habe sie aus dem Meer gezaubert!«
»Wer weiß?«, erwiderte Marchat. »Oshai hat gesagt, sie stammen
aus Nippu, von der Familie des Mädchens. Wir haben keinen
Grund, etwas anderes anzunehmen.«
Amat schlug wütend mit der flachen Hand auf die
Wasseroberfläche. Ihr Zorn ließ Marchat ärgerlich werden. Sein
bleiches Gesicht lief rot an, und er streckte das Kinn kämpferisch
vor wie ein Junge beim Spielen.
»Ich rette dich hier«, sagte er. »Und ich rette das Unternehmen.
Ich tue, was ich kann, um die Sache abzuschließen und zu begraben,
und glaub mir, Amat: Ich weiß so gut wie du, dass es eine böse
Sache war. Aber was soll ich machen? Vor den Khai treten und mich
entschuldigen? Woher die Perlen sind? Sie stammen aus Galtland,
Amat. Aus Acton, Lanniston und Cole. Wer hat die Sache
eingefädelt? Galten. Und wer zahlt dafür, wenn das rauskommt und
meine Geschichte sich als Lüge erweist? Dann muss ich dran
glauben, du wirst - wenn du Glück hast - in die Verbannung
geschickt, und das Unternehmen wird zerschlagen. Und glaubst du
wirklich, das wäre alles, Amat? Ich nicht!«
»Es war böse, Marchat.«
»Ja, es war böse. Und falsch war es auch«, grollte Marchat und
gestikulierte dabei so wild, dass sein roter Tee überschwappte und
sich Schlieren ziehend im Badewasser verlor. »Aber es war
entschieden, ehe sich jemand mit uns beraten hat. Als ich, du oder
sonstwer davon Wind bekam, war es schon zu spät. Es musste
erledigt werden, also haben wir es erledigt. Sag mir, Amat, was du
tätest, wenn du Khai Saraykeht wärst und herausfändest, dass dein
Andat mit Handelsrivalen unter einer Decke steckt. Würdest du
dein Werkzeug dann wegwerfen, denn nichts als Werkzeug sind
wir schließlich? Oder würdest du den Galten eine Lehre erteilen,
die sie nicht so bald vergessen? Wir Galten haben keinen Andaten
und könnten dich weder aufhalten noch zurückschlagen. Stünde uns
also eine Missernte ins Haus? Würden alle Schwangeren in Galtland
eine Fehlgeburt erleiden? Sie sind unschuldig wie das Inselmädchen,
Amat, und haben das genauso wenig verdient wie sie.«
»Nicht so laut«, sagte Amat. »Man könnte Euch hören.« Marchat
lehnte sich zurück und ließ einen nervösen Blick über Tür und
Fenster schweifen. Amat schüttelte den Kopf. »Das war eine
hübsche Ansprache«, erklärte sie. »Habt Ihr die geübt?«
»Ein wenig.«
»Und wen wollt Ihr damit überzeugen? Mich oder Euch?«
»Uns beide. Die Strafe wäre erheblich schlimmer als das
Verbrechen, und viele Unschuldige müssten leiden.«
Amat musterte ihn. Wie sehr er sich wünschte, seine Worte wären
wahr! Wie er sich sehnte, sie würde ihm beipflichten! Er war wie ein
kleiner Junge, und das bedrückte sie.
»Vermutlich«, sagte sie. »Und jetzt?«
»Jetzt räumen wir auf und üben uns in Schadensbegrenzung. Aber
eines noch: dieser Itani - weißt du, warum der junge Dichter ihn
Otah nennt?«
Amat ließ sich ablenken und versuchte, sich an jemanden dieses
Namens zu erinnern, aber vergeblich. Sie stellte die Teeschale auf
den Beckenrand und machte eine so ratlose wie entschuldigende
Gebärde.
»Klingt wie ein Name aus dem Norden. Wann hat Maati ihn
benutzt?«
»Ich hab die beiden beschatten lassen. Mein Informant hat sie
belauscht.«
»Es passt ganz und gar nicht zu dem Itani, den ich aus Liats
Beschreibungen kenne.«
»Nun, wir werden die Sache im Auge behalten und abwarten, ob
sich etwas tut. Seltsamerweise hat sich bisher nichts ergeben.«
»Was ist mit Maj?«
»Mit wem? Ach, mit dem Inselmädchen? Tja, wir müssen sie noch
ein, zwei Wochen in Gewahrsam behalten. Danach werde ich sie
nach Hause bringen lassen. Über ein Handelsunternehmen, das
demnächst ein Schiff gen Osten schickt.
Ich bezahl die Überfahrt, falls die Männer des Khais rechtzeitig
mit ihr fertig sind. Wenn nicht, dauert es wohl noch länger, ehe sie
die Heimreise antreten kann.«
»Aber Ihr werdet Euch darum kümmern, dass sie sicheren Fußes
nach Hause zurückkehrt?«
»Ja, das werde ich«, sagte Marchat.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Amats Herz war bleischwer.
Marchat war so reglos, als wäre er schwer berauscht. Armer Wilsin-
cha, dachte sie. Er gibt sich größte Mühe, diese Sache mit seinem
Gewissen zu vereinbaren, doch er ist zu klug, um seinen
Argumenten zu glauben.
»Na dann«, sagte sie leise. »Die Verträge mit den Färbern wie
steht es damit?«
Marchat sah ihr in die Augen und hatte ein schwaches Lächeln auf
den Lippen. Fast zwei Handbreit über brachte er sie - was das
Alltagsgeschäft des Unternehmens anlangte auf den Stand der
Dinge, informierte sie also über die Vereinbarungen, die er mit dem
alten Sanya und den Färbern ausgehandelt hatte, über Probleme mit
den Lieferungen aus Obar und über die Steuererhebung seitens der
Utkhais. Amat hörte zu und glitt, ohne es recht zu wollen, wieder in
die Gewohnheiten ihrer Arbeit. Der Teil ihres Bewusstseins, der
sich mit den Angelegenheiten des Unternehmens befasste, war
wieder zum Leben erwacht, und prompt setzte sie sich erneut mit
allen Themen auseinander, die Wilsin ansprach. Sie stellte Fragen,
um sicherzugehen, ihren Vorgesetzten richtig verstanden zu haben,
oder um Marchat dazu zu bringen, das eine oder andere noch mal
mit ihr zu durchdenken. Und eine Zeitlang konnte sie sich beinahe
vormachen, es sei nichts geschehen, ihre Gefühle für Wilsin seien
unverändert, und das Unternehmen, für das sie so lange gearbeitet
hatte, sei für sie noch immer, was es einst gewesen war. Ja, es
gelang ihr beinahe, sich das vorzumachen. Aber nicht ganz.
Als sie ging, waren ihre Fingerkuppen vom langen Sitzen im Bad
ganz verschrumpelt, doch ihr Kopf war klar. Sie hatte einige lange
Arbeitstage vor sich, um die Angelegenheiten des Unternehmens
wieder in Ordnung zu bringen. Und danach kam die Arbeit des
Herbstes auf sie zu - erst die des Unternehmens (das zumindest war
sie Marchat schuldig), dann vielleicht auch ihre eigene.
Seit Heshai sich vor zwei Tagen ins Bett zurückgezogen hatte,
herrschte im Haus des Dichters Hochbetrieb. Utkhais, Diener des
Khais und Abgesandte der großen Handelsunternehmen kamen zu
jeder Tageszeit zu Besuch und brachten Essen und Trinken mit,
kaum verhüllte Neugier und schweigende Vorwürfe. Maati
begrüßte die Gäste, nahm ihre Geschenke entgegen und geleitete sie
zu den noch freien Sitzplätzen. Inzwischen hatte er so viele
Dankesgebärden vollführt, dass ihn der Rücken schmerzte, und
hätte die Besucher am liebsten rausgeworfen - und zwar allesamt.
Die erste Nacht war am schlimmsten gewesen. Maati hatte vor
Heshais Schlafzimmer gestanden, bis weit nach Mitternacht an die
Tür geklopft, gefragt, was los sei, und um Einlass gebettelt. Und als
die Tür schließlich knarrend aufging, hatte Samenlos vor ihm
gestanden.
Heshai hatte bleich und mit leerem Blick und schlaffen Lippen auf
dem Bett gelegen. Sein weißes Mückennetz hatte Maati an ein
Leichentuch denken lassen. Er hatte den Dichter an der Schulter
berühren müssen, um einen kurzen, abwesenden Blick zu erhaschen,
der gleich weiterwanderte. Daraufhin hatte Maati sich einen Stuhl
genommen und bis zum Morgen an seinem Lager gewacht.
Die ganze Nacht war Samenlos nervös im Zimmer auf und ab
gegangen. Manchmal hatte er leise in sich hineingelacht. Als Maati
aus einem kurzen, unruhigen Schlaf hochschrak, fand er den
Andaten so tief über Heshai gebeugt, dass die bleichen Lippen fast
sein Ohr berührten. Samenlos flüsterte schnell und zischend auf den
Dichter ein, doch seine Worte waren zu leise, als dass Maati sie
hätte verstehen können. Heshais Gesicht war tiefrot und verzerrt,
als habe er schlimme Schmerzen. In dem langen Moment, ehe Maati
schrie und den Andaten wegstieß, blickten die beiden einander in
die Augen, und Maati sah Samenlos lächeln, während er dem
Dichter weiter giftige Worte zumurmelte.
Als der Morgen kam und erste Besucher anklopften, raffte Heshai
sich so weit auf, Maati nach unten zu schicken, um sie zu begrüßen.
Seit die Schlafzimmertür hinter ihm zugefallen war, hatte der
Besucherstrom kaum nachgelassen. Die Gäste blieben bis tief in den
Abend, und schon vor dem Morgengrauen trafen neue ein.
»Ich bringe Grüße von Annan Tiyan aus dem Hause Tiyan«, sagte
ein älterer Mann an der Haustür. Er musste laut reden, um sich
trotz des Stimmengewirrs hinter Maati verständlich zu machen.
»Wir haben von der Krankheit des Dichters gehört und möchten
Maati begrüßte ihn mit einer knappen, Dankbarkeit bekundenden
Gebärde, die ganz und gar geheuchelt war, und geleitete ihn ins
Haus. Der Schwarm der Aasgeier plauderte munter und wartete
dabei auf Neues von Heshai. Maati nahm das Essen, das die
Besucher mitgebracht hatten, entgegen und servierte es ihnen gleich
wieder. Auch ihren Wein füllte er in Becher und setzte sie ihnen
alsbald gastfreundlich vor. Und oben lag Heshai und … Er mochte
nicht daran denken. Ein hoheitsvoll wirkender Mann in prächtiger
Seidenrobe winkte Maati heran und fragte freundlich, wie er dem
Dichter in dieser schweren Stunde beistehen könne.
Plötzlich eingetretene Stille zeigte Maati, dass sich etwas geändert
hatte. Alle Unterhaltung war verstummt, und er eilte zum Eingang,
wo er sich Khai Saraykeht gegenübersah, der ihn aus zornigen
dunklen Augen anblickte.
»Wo ist dein Herr?«, wollte er wissen. Dass er diese Frage nicht
mit einer Gebärde begleitete, gab seinen Worten etwas Hartes, ja
Erschreckendes.
Maati schlug die Augen nieder und machte eine sehr förmliche
Begrüßungsgebärde.
»Er ruht sich aus, Exzellenz.«
Der Khai ließ den Blick langsam durch den Raum gleiten, und
zwischen seine Brauen trat eine senkrechte Falte. Die Besucher
verneigten sich. Maati konnte ihre Gewänder rascheln hören.
»Was sind das für Leute?«, fragte der Khai.
»Sie sind gekommen, um dem Dichter Genesungswünsche zu
übermitteln«, antwortete Maati.
Der Khai schwieg. Die Stille wurde immer unerträglicher.
Schließlich trat er einige Schritte in den Raum, fasste Maati an der
Schulter und drehte ihn zur Treppe. Maati begriff und ging voraus.
»Wer noch hier ist, wenn ich runterkomme«, sagte der Khai ruhig
und fast im Plauderton, »hat die Hälfte seines Vermögens
verwirkt.«
Auf dem oberen Treppenabsatz wandte Maati sich nach rechts und
führte den Khai über den kurzen Flur zu Heshais Schlafzimmertür.
Er drückte die Klinke, doch es war abgeschlossen. Maati machte
eine entschuldigende Geste, aber der Khai schob ihn beiseite, ohne
ihn zu beachten.
»Heshai«, sagte er mit tiefer, lauter $Stimme. »Mach die Tür auf.«
Nach kurzer Stille waren leise Schritte zu hören. Die Tür wurde
scharrend entriegelt und öffnete sich. Samenlos wich zur Seite, als
der Khai eintrat. Maati folgte ihm. Der Andat sah dem Schüler des
Dichters in die Augen und schickte sich an, ihn wie einen alten
Freund zu begrüßen. Maati spürte Zorn in sich aufwallen und
wandte sich von ihm ab.
Der Khai war ans Fußende des Bettes getreten, und der Dichter
setzte sich mühsam auf. Irgendwann musste er sein braunes
Amtsgewand gegen helle Trauerkleidung getauscht haben. Seine
Mundwinkel hingen herab, und das Haar war völlig durcheinander.
Der Khai fegte das Mückennetz beiseite. Maati fiel auf, wie ähnlich
sich der Khai und der Andat waren, was Anmut, Schönheit und
Ausstrahlung anlangte. Allerdings hatte Khai Saraykeht winzige
Falten um die Augenwinkel und war nicht so liebenswürdig.
»Ich habe mit Marchat gesprochen, dem Herrn des Hauses
Wilsin«, sagte der Khai. »Seine Ausflüchte werden mir langsam zu
viel. Es wird eine Untersuchung geben - besser gesagt: Sie hat
bereits begonnen.«
Heshai schlug die Augen nieder, brachte aber mit einer Gebärde
Dankbarkeit zum Ausdruck. Der Khai sah darüber hinweg.
»Und wir haben mit dem Mädchen und der jungen Frau geredet,
die sich seitens des Hauses Wilsin um die Abwicklung des Eingriffs
gekümmert hat. Es gibt … Fragen.«
Heshai nickte. Dann schüttelte er sich, als wollte er auf diese
Weise einen klaren Kopf bekommen. Schließlich schwang er die
Beine aus dem Bett und machte eine beifällige Gebärde.
»Ich stehe Euch zu Diensten, Exzellenz«, sagte er. »Und ich werde
Euch jede Frage beantworten, so gut ich es vermag.«
»Um dich geht es nicht«, entgegnete der Khai. »Ich will nur, dass
du dein Geschöpf unter Kontrolle hältst.«
Heshai sah erst Maati, dann Samenlos an. Sein Gesicht wurde
aschfahl, und er presste die Lippen zusammen. Der Andat wurde
steif, ging so langsam zum Bett, als wate er durch hüfthohes
Wasser, und machte vor dem Khai eine ehrerbietige Gebärde.
Unwillkürlich trat Maati einen Schritt vor.
»Ich denke, du steckst dahinter - oder täusche ich mich da?«,
fragte der Khai, und Samenlos verneigte sich lächelnd. »Natürlich
nicht, Exzellenz«, erwiderte er.
»Und du hast es getan, um den Dichter zu quälen?«
»ja.«
Da Andat und Khai einander zornig anfunkelten, nahm nur Maati
Heshais Miene wahr, in die erst erschrockenes Staunen, dann eine
bleierne Reglosigkeit trat, die beunruhigender war als Zorn oder
Weinen. Maati drehte sich beinahe der Magen um. Er begriff, dass
Samenlos geplant hatte, Heshai zu verletzen, und dass selbst die
jetzige Begegnung - diese Erniedrigung! - seinen Absichten
entsprach.
»Wo steckt der Übersetzer Oshai?«, fragte der Khai.
»Ich weiß es nicht. Es ist zwar nachlässig, aber ich war immer
schlecht darin, mein Spielzeug im Auge zu behalten.«
»Das reicht«, sagte der Khai, trat ans Fenster, sah auf den Rasen
im Vorgarten hinunter und machte eine Handbewegung. In der
Ferne hörte Maati jemanden einen Befehl brüllen.
»Heshai«, sagte Khai Saraykeht, als er sich wieder umdrehte. »Ich
verstehe die Schwierigkeiten, mit denen ein Dichter zu kämpfen hat.
Ich hab die alten Romane gelesen. Aber du musst begreifen, dass
durch deine kleinen Schattenspiele Unschuldige zu Schaden
kommen. Und meine Stadt. Gestern habe ich sechs Gesandtschaften
empfangen, die mich allesamt gebeten haben, die Preise als
Ausgleich für die Gefahr zu senken, dass der Andat einen Weg
findet, gegen dich zu handeln, und so die Baumwollernte in
Mitleidenschaft zieht. Zwei der größten Handelshäuser der Stadt
haben mich gefragt, was ich tun werde, wenn der Andat flieht, und
wie ich dann den Handel aufrechterhalten will. Was soll ich diesen
Leuten antworten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Dichter leise. Seine Stimme
war brüchig.
»Ich auch nicht«, sagte der Khai.
Nun kamen Männer die Treppe hochgestapft. Maati hätte zu gern
nachgesehen, was da los war, wollte aber doch lieber wissen, was
der Khai als Nächstes sagen würde.
»Das geht so nicht weiter«, erklärte er nun. »Und offenbar muss
ich diesem Zustand ein Ende machen.«
Die Schritte erreichten die Tür, und zwei Männer in
Arbeitskleidung schoben sich mit einer schweren Holzkiste ins
Zimmer, die mit Eisen beschlagen war. Sie war gerade groß genug
für einen Erwachsenen, aber zu kurz, um sich darin richtig
auszustrecken, zu eng, um sich hinzusetzen, und zu flach, um sich zu
drehen. Maati hatte in Büchern des Dai Zeichnungen davon gesehen
- in Büchern, die von Exzessen an den Herrscherhöfen und von den
dort üblichen Strafmethoden handelten. Die Männer stellten die
Kiste senkrecht neben Heshais Bett an der Wand ab, verbeugten
sich unterwürfig vor dem Khai und gingen schnell wieder.
»Exzellenz«, begann Maati mit belegter Stimme. »Ihr … das ist …«
»Beruhige dich, Junge«, sagte der Khai, trat zur Kiste und
entriegelte die eiserne Gittertür. »Die ist nicht für meinen alten
Freund Heshai gedacht, sondern soll dazu dienen, seine Sachen
aufzubewahren, wenn er sie nicht benutzt.«
Quietschend ging das Eisengitter auf. Maati sah, dass sich
Samenlos’ Augen einen Moment lang weiteten, doch dann hatte er
schon wieder ein amüsiertes Lächeln auf den vollkommenen Lippen.
Heshai saß schweigend da und betrachtete die Kiste.
»Aber Exzellenz«, begann Maati erneut, und seine Stimme wurde
fester, »Dichter und Werk sind miteinander verbunden. Wenn Ihr
einen Teil von Heshai-kvo in eine Folterkiste sperrt …«
Der Khai hieß Maati mit unwilliger Gebärde schweigen und
musterte ihn, bis Samenlos lachend zwischen die beiden trat. Einen
flüchtigen Moment glaubte Maati, der Andat wolle ihn vor dem
Zorn schützen, der in der Miene des Khais stand.
»Vergiss nicht, mein Lieber«, sagte Samenlos, »dass Seine
Exzellenz zwei seiner Brüder getötet hat, um auf den Thron zu
gelangen. Er kennt sich mit Opfern besser aus als wir alle. So heißt
es jedenfalls.«
»Also, Heshai«, sagte der Khai, doch Maati sah keine Anstrengung
in die Miene seines Lehrers treten, als Samenlos rückwärts zur Kiste
ging und sich halb kniend, halb kauernd hineindrängte. Der Khai
schloss die Gittertür, verriegelte sie und sorgte mit einem Nagel
dafür, dass sie sich von innen nicht öffnen ließ. Über dem bleichen
Gesicht des Andaten lagen ein Metall- und ein Schattengitter. Der
Khai wandte sich dem Bett zu und stand reglos da, bis Heshai durch
eine Gebärde deutlich machte, dass er sich seiner Entscheidung
unterwarf.
»Der Andat darf sich nicht frei bewegen«, sagte der Khai. »Wenn
er nicht gebraucht wird, gehört er in den Käfig. Das ist ein Befehl.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte Heshai, legte sich wieder hin, drehte
sich zur Wand und zog die Bettdecke über den Kopf. Der Khai
schnaubte empört und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er
stehen.
»Junge«, sagte er im Befehlston. Maati verneigte sich
unwillkürlich. »Wenn du sein Nachfolger wirst, mach es besser!«
Der Khai und seine Männer waren längst gegangen, als Maati noch
immer zitternd dastand. Heshai regte sich nicht und sagte kein
Wort. Samenlos kauerte in seiner Folterkiste, hatte die Finger um
das Eisengitter geschlungen und blickte mit schwarzen Augen ins
Zimmer. Maati breitete das Mückennetz wieder über seinen Lehrer
und ging nach unten. Niemand war geblieben - nur Reste der aus
Mitleid oder Sorge mitgebrachten Geschenke standen noch herum.
Im Haus herrschte eine unheimliche Stille.
Otah, dachte er. Otah weiß bestimmt, was zu tun ist! Er nahm
rasch einen Apfel, etwas Brot und einen Krug Wasser und brachte
all dies dem reglosen Dichter. Dann zog er sich frische Sachen an
und eilte durch die Palastgärten auf die Straße und hinunter in die
Stadt. Auf halbem Weg zu Otahs Unterkunft merkte er, dass er
weinte, hätte aber nicht zu sagen gewusst, seit wann.
»Itani!«, brüllte Muhatia. »Komm runter!«
Otah, der in erstickender Hitze und Dunkelheit unterm Dach des
Lagerhauses gearbeitet hatte, stieg auf die Leiter und rutschte zum
Boden der Halle hinunter. Muhatia stand in der breiten Flügeltür,
durch die Licht und Lärm von der Straße drangen. Der Aufseher
blickte missmutig drein, doch in seiner Miene lag noch etwas - Eifer
womöglich oder Neugier.
»Du wirst auf dem Anwesen gebraucht. Keine Ahnung, was man
sich davon verspricht.«
»Jawohl, Muhatia-cha.«
»Sollte dein Schätzchen dahinterstecken und dich von der Arbeit
abhalten wollen, Itani, dann find ich das raus.«
»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn Sie mich gehen lassen«,
erklärte Otah, setzte sein bezauberndstes Lächeln auf und dachte
dabei, dass er Freundlichkeit noch nie so schamlos geheuchelt hatte
wie in diesem Moment. Muhatias Miene hellte sich etwas auf, und er
winkte Otah weiter.
»Hallo Itani!«, rief Kaimatis vertraute Stimme. Otah drehte sich
um. Sein alter Freund hatte den Karren, mit dem er zum Tor des
Lagerhauses unterwegs war, abgestellt und eine Pause eingelegt.
»Erzähl uns, was du rausbekommst, ja?«
Otah machte eine zustimmende Gebärde und wandte sich ab. Ihm
war klar, dass er sich nur einbildete, die Leute auf der Straße
würden ihn anstarren. Es gab keinen Grund, warum alle Welt ihm
nachsehen und sich Gedanken über ihn machen sollte. Er war
schließlich nur ein gewöhnlicher Arbeiter. Dass dies nicht stimmte,
war freilich nicht gerade dazu angetan, seine Anwandlung von
Verfolgungsangst zu lindern. Der traurige Eingriff war
schiefgegangen. Liat war daran beteiligt, Maati ebenfalls. Seit zwei
Tagen hatte er weder sie noch ihn gesehen. Liats Kammer im Haus
von Wilsin-cha war leer gewesen, das Haus des Dichters hingegen
so überlaufen, dass er nicht mal daran hatte denken können, sich
ihm zu nähern. Otah hatte sich mit den Gerüchten begnügen
müssen, die auf den Straßen und in den Badehäusern im Umlauf
waren.
Der Andat sei außer Rand und Band geraten und habe das
Mädchen und das Ungeborene getötet, hieß es; andere wollten
wissen, der Nachwuchs sei in Wirklichkeit vom Dichter oder vom
Khai oder - völlig unwahrscheinlich - von Samenlos gezeugt
worden; der Dichter habe sich umgebracht, vermuteten manche,
oder sei vom Khai oder vom Andaten getötet worden; der Dichter -
oder das Mädchen - liege im Bett und verzehre sich vor Kummer,
berichteten andere. Die Gerüchte wallten auf und zogen Kreise wie
ein Schwall Blut in einem Schwimmbecken und schienen alle
Möglichkeiten von Tat, Täter, Opfer und Motiv abdecken zu wollen.
Eine dieser Geschichten dürfte der Wahrheit entsprechen, aber
welche? Er hatte kaum geschlafen und war müde erwacht. Nun
schritt er zügig aus. Die Nachmittagssonne lastete auf seinen
Schultern, und der Schweiß drang ihm aus allen Poren.
Vor Marchat Wilsins Anwesen entdeckte er Liat. Er erkannte ihre
Gestalt, ehe er ihr Gesicht ausgemacht hatte. Ihre hängenden
Schultern zeigten ihm, wie erschöpft sie war. Sie war in Trauer. Als
sie ihn entdeckte, kam sie auf ihn zu. Ihre Augen lagen tief in den
Höhlen, ihre Haut war bleich, ihre Lippen blutleer. Sie sank ihm
wortlos in die Arme. Es ziemte sich natürlich nicht, dass ein
Arbeiter einer Aufseherin in aller Öffentlichkeit die Wange an die
Stirn legte. Und es war zu heiß, als dass die Berührung sich
angenehm angefühlt hätte. Sie aber klammerte sich geradezu an ihn,
und er spürte, wie tief sie Atem schöpfte.
»Was ist geschehen, Liebste?«, fragte er, doch Liat schüttelte nur
den Kopf. Otah strich ihr durchs offene Haar und wartete, bis sie
sich schaudernd und mit einem Seufzer aus seiner Umarmung löste.
Seine Hand allerdings ließ sie nicht los.
»Komm mit in meine Kammer«, sagte sie. »Dort können wir
reden.«
Im Gebäude war es still. Männer und Frauen erledigten eilig ihre
Aufgaben, als sei nichts geschehen, doch die Atmosphäre war
angespannt. Liat ging schweigend voran, drückte die Tür zu ihrer
Kammer auf und zog Otah ins Halbdunkel. Auf der Pritsche lag eine
dünne Gestalt in braunem Gewand. Maati setzte sich auf und
blinzelte schlaftrunken.
»Otah? Seid Ihr das?«
»Er ist heute Morgen gekommen und hat dich gesucht«, sagte Liat
zu Otah, ließ endlich seine Hand los und setzte sich an den
Schreibtisch. »Ich glaube nicht, dass er in den letzten Tagen etwas
gegessen oder getrunken hat. Ich hab ihn hierhergebracht und ihm
einen Apfel und Wasser gegeben. Dann habe ich ihn ins Bett
verfrachtet und einen Boten zu Muhatia geschickt.«
»Tut mir leid«, sagte Maati. »Ich wusste nicht, wo ich Euch finden
konnte, und dachte, Liat-cha »Das war eine gute Idee«, sagte Otah.
»Und sie hat funktioniert. Aber was ist passiert?«
Da Maati die Augen niederschlug, begann Liat zu erzählen. Ihre
Stimme war hart wie Schiefer und ebenso grau. Leise schilderte sie,
wie sie vom Übersetzer Oshai und vom Andaten beim traurigen
Eingriff hereingelegt worden war. Dann setzte Maati die Geschichte
fort und berichtete, der Dichter sei krank, esse wenig, trinke noch
weniger und liege die ganze Zeit im Bett. Und der Khai habe
Samenlos in seiner Wut in einen Käfig sperren lassen. Je mehr Otah
erfuhr, desto beklommener wurde ihm zumute. Liat wich seinem
Blick ständig aus, und er wünschte, Maati wäre anderswo, damit er
sie in die Arme schließen konnte. Doch er wusste, dass der Junge
keine andere Zuflucht hatte und sein Kommen richtig gewesen war.
Erst als Maati schon einige Zeit verstummt war, merkte Otah, dass
der Junge ihn ansah und auf etwas wartete. Auf eine Entscheidung.
»Also hat Samenlos es zugegeben«, sagte Otah gedankenverloren.
»Er hat es dem Khai gestanden.«
Maati machte eine bestätigende Gebärde.
»Warum hat er das bloß getan?«, fragte Otah. »Hat er wirklich
geglaubt, Heshais Geist damit brechen und entkommen zu können?«
»Natürlich hat er das!«, rief Liat, doch Maati schüttelte
nachdenklich den Kopf.
»Samenlos verabscheut Heshai zwar, doch es war ein
Übersetzungsfehler. Oder auch kein Fehler, aber… es hat irgendwie
damit zu tun. Vielleicht hat er es nur getan, weil ihm klar war, wie
sehr Heshai das verletzen würde.«
»Heshai?«, rief Liat. »Wie sehr Heshai das verletzen würde? Und
was ist mit Maj? Sie hat das nicht verdient. Sie hat sich nichts zu
Schulden kommen lassen.«
»Samenlos ist diese Maj völlig gleichgültig«, sagte Maati. »Ob
Heshai ihn freilassen wird? fragte Otah. »Ob die Rechnung des
Andaten wohl aufgeht?«
Maati konnte diese Frage nicht beantworten und machte deshalb
eine so ratlose wie bedauernde Gebärde. »Jedenfalls geht es Heshai
gar nicht gut. Und ich habe keine Ahnung, wie er darauf reagieren
wird, dass Samenlos eingesperrt ist …«
»Na und?«, meinte Liat bitter. »Ist doch egal, ob Heshai leidet.
Verdient hat er es. Er ist schließlich der Herr des Andaten. Und
wenn er es vor lauter Hurerei und Trinkerei nicht geschafft hat,
seine Arbeit zu erledigen und ihn unter Kontrolle zu halten, sollte er
bestraft werden.«
»Darum geht es doch nicht, Liebste«, sagte Otah und sah noch
immer Maati an.
»Doch, genau darum geht es«, erwiderte sie.
»Falls der Dichter sterben oder die jüngsten Ereignisse ihn in den
Selbstmord treiben sollten, ist der Andat frei. Es sei denn …
»Ich bin noch nicht so weit«, sagte Maati. »Ich bin kaum
angekommen. Ein Schüler braucht Jahre der Unterweisung durch
einen im Vollbesitz seiner Kräfte stehenden Dichter, ehe er seine
Last übernehmen kann. Und selbst dann erweist sich der eine oder
andere als ungeeignet. Gut möglich, dass ich unfähig bin, Samenlos
unter Kontrolle zu halten.«
»Könntest du es nicht versuchen?«
Maati schwieg lange und sagte dann ganz leise: »Sollte ich
scheitern, müsste ich einen Preis zahlen.«
»Und der wäre?«, fragte Liat.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Maati. »Um das zu erfahren,
müsste ich erst scheitern. Wahrscheinlich würde es mich das Leben
kosten. Aber … ich kann es ja versuchen. Wenn es sonst niemanden
gibt.«
»Das ist doch Irrsinn!«, sagte Liat und sah Otah flehentlich an.
»Das darf er nicht! Ebenso gut könnten wir ihn auffordern, von
einer Klippe zu springen und im Fallen fliegen zu lernen.«
»Wir haben keine Wahl. Es gibt nicht viele erfolgreiche
Beschwörungen und nur wenige Dichter, die sich trauen, eine
vorzunehmen. Kann sein, dass es keinen Ersatz für Samenlos gibt,
doch selbst wenn sich ein Nachfolger binden lässt, heißt das noch
lange nicht, dass er für den Baumwollhandel geeignet ist«, erklärte
Maati. Er war bleich und sah krank aus. »Wenn niemand sonst den
Platz des Dichters einnehmen kann, ist es meine Pflicht »So weit ist
es noch nicht«, entgegnete Otah. »Und wenn wir Glück haben, wird
es auch nicht dazu kommen. Vielleicht gibt es einen Dichter, der für
die Aufgabe geeigneter ist. Oder einen Andaten, der Samenlos
ersetzt, falls er wirklich fliehen kann …«
»Wir könnten uns an den Dai wenden«, sagte Liat. »Er weiß
bestimmt eine Antwort.«
»Ich kann hier nicht weg«, erklärte Maati. »Ich kann Heshai nicht
alleinlassen.«
»Aber du könntest einen Brief schreiben«, sagte Liat. »Und wir
könnten einen Kurier schicken.«
»Könntest du das tun?«, fragte Otah. »Kannst du alles aufschreiben
- den traurigen Eingriff und seine düsteren Umstände? Die Sache
mit Samenlos und die Reaktion des Khai? Und deine Befürchtungen,
was die Zukunft anbelangt?«
Maati nickte.
»Und wie lange wird das dauern?«, wollte Otah wissen. »Ich
könnte das wohl bis morgen früh schaffen.«
Otah schloss die Augen. Sein Herz verkrampfte sich, und seine
Hände zitterten. Jemand musste die Botschaft überbringen, und
Maati kam dafür nicht infrage. Also würde er selbst es tun müssen.
Der Entschluss dazu war einfach da, als habe er ihn schon lange
gefasst.
Tahi-kvos Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf, und
sofort spürte er wieder die Atmosphäre der Schule, die körperlichen
und seelischen Verletzungen, die Leere und Grausamkeit, aber auch
das Gefühl von Zugehörigkeit, das er dort - wenn auch nur kurz -
empfunden hatte. Wieder stieg die Wut in ihm auf, als habe sie all
die Jahre nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich in Erinnerung zu
bringen. Jemand musste zum Dai reisen, und Otah war bereit, ihn
wiederzusehen.
»Dann bring den. Brief morgen früh hierher«, sagte er. »Zu dieser
Jahreszeit laufen ständig Schiffe nach Yalakeht aus. Auf einem
davon wird sich schon eine Koje finden lassen.«
»Nein, du fährst nicht«, sagte Liat. »Das kannst du nicht tun. Dein
Vertrag …«
Otah öffnete die Tür, trat beiseite und begleitete Maati mit einer
dankbaren Gebärde hinaus.
»Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Maati.
Otah nickte nur und kehrte in Liats Kammer zurück. Kaum hatte
er die Tür geschlossen, lag das Zimmer wieder im Halblicht.
»Du darfst nicht gehen«, sagte sie. »Ich brauche dich hier. Ich
brauche jemanden an meiner Seite. Was Maj widerfahren ist, war
meine Schuld. Ich habe es zugelassen.«
Er ging zu ihr, setzte sich auf den Schreibtisch und strich ihr mit
den Fingerknöcheln über die seidenweiche Wange. Sie beugte sich
vor, nahm seine Rechte in die Hände und drückte sie an ihre Brust.
»Ich muss es tun. Nicht allein wegen dieser Sache. Meine
Vergangenheit liegt da oben im Norden. Es ist einfach nötig.«
»Sie weint noch immer. Sie weint sich in den Schlaf und schreckt
schluchzend wieder hoch. Ich bin zu ihr gegangen, als die Utkhais
mich freiließen. Sie war die Erste, die ich besucht habe. Wenn sie
mich jetzt ansieht und ich daran denke, wie sie vor dem Eingriff
war … Damals hielt ich sie für herzlos und dachte, es sei ihr gleich.
Ich war vollkommen blind!«
Otah glitt vom Tisch, kniete sich auf den Boden und schlang die
Arme um sie.
»Dass du gehst, hat nichts mit mir zu tun, oder?«, flüsterte sie.
»Du gehst doch nicht, um mich loszuwerden?«
Otah setzte sich auf, und sie legte den Kopf an seine Schulter. Er
spürte seinen Verstand arbeiten, ohne dass er einen Gedanken hätte
fassen können, und strich ihr durchs Haar, das weich wie Wasser
war.
»Natürlich nicht, Liebste«, sagte er.
»Denn eines Tages wirst du ein bedeutender Mann sein. Das weiß
ich. Und ich bin nur ein dummes Mädchen, das Ungeheuer wie
Oshai nicht davon abhalten kann, sich … Ach, Tani. Ich war blind.
Ich hab es einfach nicht gesehen.«
Liat weinte bittere Tränen, und er sprach beruhigend auf sie ein,
wiegte sie sanft, legte das Kinn auf ihren vorgebeugten Kopf, zog
sie zu sich heran und hielt sie fest, bis ihr Schluchzen nachließ. Ihr
Kopf lag schwer auf seiner Brust, und sie atmete fast so ruhig, als
schliefe sie.
»Du bist erschöpft, Liebste«, sagte er. »Komm ins Bett. Du musst
schlafen.«
»Nein«, erwiderte sie. »Bleib bei mir Du darfst jetzt nicht gehen.«
Vorsichtig hob er sie hoch, legte sie aufs Bett und setzte sich neben
sie. Ihre Hand klammerte sich an seine Rechte wie ein
Rankengewächs an eine Ziegelwand.
»Nach Yalakeht dauert es drei Wochen«, sagte er. »Dann, auch mit
dem Schiff, zwei Wochen flussaufwärts. Danach noch ein, zwei Tage
zu Fuß. Der Rückweg dauert nicht so lange, weil ich stromabwärts
reisen werde. Vor dem Winter bin ich zurück, Liebste.«
Im schwachen Licht, das durch die Fensterläden drang, erkannte
er, dass sie ihn Mit vor Kummer und Erschöpfung schwimmenden
Augen ansah. Ihre Miene allerdings war - wie im Vorgriff auf die
erlösende Wirkung des Schlafs - faltenlos und entspannt.
»Du freust dich schon darauf«, sagte sie. »Du willst fahren.«
Das stimmte natürlich. Otah legte ihr den Zeigefinger auf die
Lippen und küsste ihre Lider. Für dieses Gespräch war er noch nicht
bereit. Jedenfalls nicht ihr gegenüber.
Er küsste ihre Stirn und wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann
öffnete er leise die Tür und trat hinaus ins Licht.
11

Amat schrak im Finstern hoch. Sie atmete hastig, und ihr Herz
raste. Ovi Niit hatte begonnen, ihre Tür einzutreten, und erst nach
einiger Zeit war sie sicher, dass die dröhnenden Schläge, die sie
gehört hatte, aus den dunklen Wassern des Traums aufgestiegen
waren. Langsam klang ihre Panik ab und Amat ließ sich wieder in
die Kissen sinken. Im Schein der Nachtkerze glühte das Mückennetz
über ihr wie Kupfer und wurde erst heller, als das kalte Blau des
Morgens zögernd durch die geöffneten Lamellen der Fensterläden
kroch, die in der nach Meer riechenden Brise leise klapperten.
Auf dem Schreibtisch türmten sich Papiere, und leere Tintenfässer
standen am oberen Treppenabsatz zur Entsorgung bereit. Die
Unterlagen des Unternehmens waren in Amats Abwesenheit fast
hoffnungslos durcheinandergeraten. Sie hatte Tag um Tag bis tief in
die Nacht über den Hauptbüchern und über verschiedenen Listen
und Verzeichnissen gesessen und sich immer wieder ermahnt, sich
so sorgfältig und aufopfernd darum zu kümmern wie früher und
den Gedanken nicht zuzulassen, die Moral des Unternehmens und
damit auch ihre eigene Arbeit seien durch Marchat Wilsins übles
Geschäft vergiftet worden.
Amat seufzte, setzte sich auf und schob das Mückennetz beiseite.
Seit ihrer Rückkehr war es immer dasselbe: Auf Alpträume, die sie
bis zum Morgengrauen quälten, folgte ein langweiliger, zutiefst
unbefriedigender Arbeitstag, in dessen Verlauf sie bis
Sonnenuntergang Botschaften verfassen und empfangen und ständig
irgendwelche Treffen bestreiten musste. Als Marchat einmal am
Ende des Tages ihr tief erschöpftes Gesicht gesehen hatte, hatte er
ihr angeboten, nach Ende der Saison auf seine Kosten für eine
Woche nach Chaburi-Tan zu reisen. Sie malte sich aus, wie hübsch es
wäre, einmal fern von Saraykeht und seinem Hafen, fern von ihrem
Schreibtisch und dem Vergnügungsviertel zu sein und ausspannen
zu können, doch diese Vorstellung war von Schwermut unterlegt,
denn dazu würde es nie kommen.
Amat erhob sich, zog ein frisches Gewand an und ging - auf ihren
Stock gestützt - zu einem Stand an der Straßenecke, an dem ein
Mädchen aus der Vorstadt mit frischen Beeren gefüllte Pfannkuchen
verkaufte. Dieser Imbiss war nahrhaft genug, um bis zum Mittag
vorzuhalten. Sie aß den Pfannkuchen auf dem Rückweg, versuchte
dabei, sich zu vergegenwärtigen, welche Aufgaben heute auf sie
zukamen, stellte aber fest, wie schwer es ihr fiel, sich auf die
wechselnden Geschäftstreffen und Verpflichtungen zu
konzentrieren, und zog es vor, diese Erwägungen auf später zu
verschieben.
Seit Amat aus ihrem Versteck bei Ovi Mit zurückgekehrt war,
fühlte sie sich krank. Sie brachte die Tage nur mühsam hinter sich,
konnte sich nicht konzentrieren und entwickelte kein Interesse an
ihrer Arbeit. Etwas in ihr war zerbrochen, und so zu tun, als sei es
noch intakt, funktionierte einfach nicht. Das hatte sie insgeheim
befürchtet und daher einen Plan entwickelt - gleichsam hinter dem
Rücken ihres Bewusstseins, das sich noch immer an die Hoffnung
klammerte, alles würde wieder in Ordnung kommen.
Der Mann, der vor ihrer Haustür wartete, trug ein Gewand in den
Farben Gelb und Silber, was ihn als Mitglied des Hauses Tiyan
auswies. Er war jung, höchstens siebzehn, also in Liats Alter. Ein
Lehrling vermutlich, seiner Kleidung nach aber einer, der einer
wichtigen Persönlichkeit des Hauses zuarbeitete. Das konnte nur
eines bedeuten. Amat veränderte im Geiste ihre Tagesordnung und
schob sich den letzten, vor Beerensaft triefenden Bissen
Pfannkuchen in den Mund. Als der junge Mann sie sah, machte er
eine Gebärde, wie sie sich zur Begrüßung einer älteren
Respektsperson ziemte. Auch Amat entbot ihm einen Gruß.
»Kyaan-cha«, begann der Junge, »Annan Tiyan hat mich geschickt
…«
»Das ist nicht zu übersehen«, sagte sie und öffnete die Tür.
»Komm rein. Hast du das Verzeichnis dabei?«
Er zögerte einen Moment und folgte ihr dann. Sie stieg langsam
die Treppe hoch. Dank der Salbe und des eigenen Betts war ihre
Hüfte seit der Rückkehr viel besser geworden. Amat ging zum
Waschbecken und wusch sich die Beerenflecken von den Fingern.
Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, und der Junge trat heran.
Er hatte das Blatt Papier, das sie seinem Herrn geschickt hatte, aus
dem Ärmel gezogen. Sie streckte die Hand aus, und er reichte es
ihr.
Die Quittung war unterschrieben. Amat schob sie lächelnd in ihren
Ärmel. Später würde sie sie zu den übrigen Papieren legen - zu
denen, die sie mitnehmen würde, genauer gesagt, nicht zu denen
des Hauses Wilsin. Dann zog sie unter einem Stapel von Verträgen
ein Kistchen aus dunklem, mit Eisen beschlagenem Holz hervor, das
voller Edelsteine und Silbermünzen war, und gab es dem Jungen.
»Mein Herr begann er, »nein, ich, Kyaan-cha, ich hab mich gefragt,
ob …«
»Annan möchte wissen, warum er die Kiste aufbewahren soll, und
will, dass du das unauffällig rausfindest, nicht wahr?«
Der Junge wurde knallrot, doch Amat winkte ab.
»Das ist unhöflich, aber ich an seiner Stelle hätte auch so
gehandelt. Sag ihm, dass ich mich stets an die alte Sitte gehalten
habe, Wertgegenstände bei vertrauenswürdigen Freunden zu
hinterlegen. Doch einer meiner Freunde verlässt die Stadt, also
muss ich einen neuen Verwahrer finden. Sollte Annan je Wert
darauf legen, würde ich ihm diesen Gefallen natürlich auch tun. Mit
dem armen Inselmädchen hat das nichts zu tun.«
Natürlich stimmte das nicht, aber es war zweckmäßig.
Dies war nun das vierte Kistchen, das Amat an Männer und
Frauen der Stadt schickte, von denen sie glaubte, sie könnte sich an
sie wenden, wenn die Umstände sich wieder gegen sie kehren
würden. Die Quittung war nur so gut wie die Ehre der Leute, bei
denen sie die Kistchen versteckte. Zwar rechnete sie damit, dass es
zu gewissen Diebstählen kam, indem etwa ein Juwel durch einen
weniger wertvollen Edelstein ersetzt wurde oder ein paar
Silberstücke trotz des Schlosses verschwanden, doch es war
unwahrscheinlich, dass ihre Kistchen leer waren, wenn sie sie
abholen kam. Und das war im Notfall das weitaus Wichtigste.
Der Junge machte eine bestätigende Gebärde und verschwand.
Amat hatte die Lektion begriffen, die Saraykeht ihr durch Ovi Niit
erteilt hatte: Sie würde sich nie mehr in eine Situation bringen, in
der sie keinen Zugriff auf ihr Vermögen hatte. Dabei berief sich
Amat auf eine Gefälligkeit, die die großen Familien des Reiches den
Bürgern vor dessen Zusammenbruch erwiesen hatten, führte also
weit zurückliegende Präzedenzfälle ins Feld. Annan würde zwar
nicht glauben, das Verwahren des Kistchens habe nichts mit Maj und
dem traurigen Eingriff zu tun, doch er würde den Umstand, dass
sie ihm so viel Vertrauen schenkte, richtig deuten: als Aufforderung
nämlich, sich anderen gegenüber mit Mutmaßungen über den Sinn
und Zweck ihres Vorgehens zurückzuhalten. Und das war genug.
Eine knappe Stunde ging sie nun die Verträge durch und versah
sie hier und da mit Anmerkungen, und zwar sowohl in ihrer als
auch in der für das Unternehmen bestimmten Ausfertigung. So spät
im Jahr gab es an den Formulierungen kaum etwas zu ändern, doch
jeder Abmachung waren zwei, drei Briefe beigelegt, in denen im
Vertrag verwendete Begriffe und Formulierungen auf spezifische
Weise definiert wurden, und diese Definitionen enthielten
Fußangeln, die ein Unternehmen bei Nichtbeachtung unter
Umständen ruinieren konnten. Sie ging die Unterlagen durch, prüfte
die Übersetzung der Briefe ins Galtische und ins Khaiate und
vermerkte Abweichungen sowie womöglich mehrdeutige
Formulierungen. Das hatte sie viele Jahre getan und erledigte es
darum ohne großes Nachdenken. Anders als früher aber tat sie es
geradezu mechanisch und freudlos.
Als sie mit dem letzten Vertrag fertig war, vergewisserte sie sich,
dass die Tinte trocken war, rollte die Unterlagen zusammen,
schnürte sie zu und packte sie in einen leichten Rucksack, da sie
nicht alle in ihre Ärmel passten. Dann nahm sie ihren Stock, verließ
das Gebäude und schlug den Weg zum Haus Wilsin ein.
Als sie in den großen Hof von Marchats Anwesen kam, waren die
Vertreter der Utkhais schon zugegen. Diener in feiner Seide saßen
auf dem Brunnenrand, unterhielten sich und sahen am Galtischen
Baum vorbei auf die Straße. Amat zögerte, als sie die Männer sah,
und spürte eine diffuse Angst, schob sie aber beiseite, wie sie in
letzter Zeit all ihre Gefühle beiseitegeschoben hatte, und ging an
den Dienern vorbei zu Marchats Besprechungszimmer.
Epani Doru - Wilsins unterwürfiger Haushofmeister mit
Rattengesicht - saß vor dem Besprechungsraum. Als Amat sich
näherte, stand er auf und machte eine Begrüßungsgebärde, die
gerade ehrerbietig genug war, um den Eindruck zu erwecken, er
respektiere ihre Stellung in dem Unternehmen.
Amat antwortete mit einer entsprechenden Gebärde und sagte:
»Ich habe ein paar Unterlagen dabei, die ich Wilsin-cha gern zeigen
würde.«
»Er ist in einer Besprechung mit Vertretern des Hofes«, meinte
Epani entschuldigend.
Amat warf einen kurzen Blick auf die geschlossene Tür, seufzte
und fragte, wie lange das dauern mochte. Epani antwortete
ausweichend, doch es war klar, dass sie froh sein konnte, wenn es
ihr gelang, Wilsin vor Sonnenuntergang zu sprechen.
»Dann muss das eben warten«, sagte sie ergeben. »Geht es da drin
um den traurigen Eingriff? Setzen sie ihm deshalb zu?«
»Vermutlich, Amat-cha«, antwortete Epani. »Wenn ich die Diener
richtig verstanden habe, will der Khai das Ganze schnellstmöglich
erledigt und vergessen wissen. Es hat Ersuche gegeben, die Preise
zu senken.«
Amat schnaubte und schüttelte den Kopf. »Das alles ist eine
unerfreuliche Angelegenheit«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass
Wilsin-cha sich darin hat verwickeln lassen.«
Epani pflichtete ihr mit einer bedauernden Gebärde bei, doch
Amat glaubte, kurz etwas anderes in seiner Miene gesehen zu
haben. Womöglich wusste er Bescheid. Vielleicht hatte Marchat
seinen Haushofmeister sehr viel mehr ins Vertrauen gezogen als
seine Verwalterin. Bis hin zur Mittäterschaft. Amat machte eine
fragende Geste.
»Wo ist Liat?«
»Vermutlich in den Arbeitsräumen«, antwortete Epani. »Die
Utkhais haben nicht nach ihr gefragt.«
Amat sagte nichts. Die Arbeitsräume waren für jemanden in Liats
Position ein schlechter Aufenthaltsort. Akten fürs Archiv
herzurichten, Verträge zu kopieren und Bilanzen nachzurechnen - all
diese Arbeiten, die an niedrigen Schieferpulten getan wurden,
waren eigentlich für Neulinge gedacht. Amat kehrte in die stickige
und erdrückende Atmosphäre und den beißenden Geruch von
billigem Lampenöl zurück.
Liat saß allein über einen Tisch gebeugt. Amat hielt inne und
musterte sie. Ihrem allzu runden Gesicht war die Jugend kurzzeitig
abhanden gekommen, und Amat sah einen Moment lang, wie Liat
ausschauen würde, wenn es vorbei wäre mit ihrer mädchenhaften
Schönheit. Sie sah die Züge einer Frau - keiner schönen Frau
übrigens. Ein enormes Mitgefühl erfasste sie, und sie ging auf das
Mädchen zu.
Liat blickte auf. »Amat-cha«, rief sie überrascht und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Ich wusste nicht, dass Ihr mich braucht.
Sonst wäre ich -«
»Ich wusste es auch nicht. Also mach dir keine Sorgen. Woran
arbeitest du da?«
»An Sendungen aus den Westgebieten. Ich schreibe gerade die
Lieferscheine fürs Archiv ab.«
Amat sah sich die Blätter an. Liats Handschrift war sauber und
leserlich. Amat erinnerte sich an die Zeit, da auch sie in stickiger
Hitze über solchen Unterlagen gesessen hatte, und spürte ihr
Lächeln erstarren.
»Hat Wilsin-cha dir das aufgetragen?«, fragte sie.
»Nein, niemand. Ich hatte einfach nichts mehr zu tun und wollte
mich nützlich machen. Ich … ich bin in letzter Zeit ungern müßig. Es
fühlt sich irgendwie …
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Amat und tat noch immer, als
würde sie sich Liats Aufzeichnungen ansehen. »Es ist nicht deine
Schuld.«
Liat blickte ungläubig drein. Amat gab ihr die Blätter zurück.
»Du kannst nichts dafür«, bekräftigte sie.
»Ihr seid sehr nett.«
»Nein, nicht wirklich. Du konntest das nicht verhindern, Liat. Man
hat dich reingelegt. Genau wie das Mädchen. Und wie den Dichter
und den Khai.«
»Auch Wilsin-cha wurde reingelegt«, ergänzte Liat die Liste.
Oder geködert, dachte Amat, schwieg aber.
Liat rang sich ein Lächeln ab und meinte dankbar: »Es hilft, wenn
mir das jemand sagt. Itani tut es oft, aber ich kann ihm nicht immer
glauben. Und jetzt, wo er geht »Geht?«
»Nach Norden«, erwiderte Liat und zuckte zusammen, als habe sie
zu viel gesagt. »Er will seine Schwester zu besuchen, und … ich
vermisse ihn jetzt schon.«
»Natürlich, er ist schließlich dein Herzblatt«, sagte Amat
freundlich neckend, doch Müdigkeit und Angst in Liats Blick
nahmen nur zu. Amat holte tief Luft und legte dem Mädchen die
Hand auf die Schulter.
»Komm mit«, sagte sie. »Ich hab einiges für dich zu tun. Und zwar
an einem kühleren Ort.«
Amat führte sie in ein Besprechungszimmer auf der Nordseite des
Anwesens und gab ihr Unterlagen, mit denen sie sich befassen
sollte. Sie hatte Liat möglichst wenig zu tun geben wollen, doch
angesichts ihres traurigen Zustands packte sie noch ein paar Akten
dazu. Liat musste offenbar beschäftigt werden, um nicht in düstere
Grübeleien zu versinken. Die Arbeit war zwar nur ein schwacher
Trost, aber einen besseren konnte Amat ihr nicht bieten. Liat hörte
genau, ja grimmig zu.
Widerwillig kam Amat ans Ende ihrer Aufgabenliste. »Zuallererst
aber musst du mich zu dem Mädchen bringen«, sagte sie.
Liat erstarrte, nickte dann jedoch.
»Ich muss mit ihr reden«, erklärte Amat und merkte sofort, wie
unangemessen ihre Worte waren. Einen Moment war sie versucht,
die ganze Geschichte zu erzählen, um Liats Bürde zu erleichtern,
verkniff es sich aber. Für Mitleid war jetzt nicht die richtige Zeit.
Genauso wenig wie für Angst, Wut und Trauer.
Liat brachte sie zu einer Kammer im hinteren Teil des Hauses, die
nicht weit von Marchat Wilsins Gemächern entfernt lag. Amat
kannte das Zimmer - die feinen Intarsien des Parketts, die galtischen
Gobelins, die Fenstergitter aus Elfenbein. Hier beherbergte das
Haus Wilsin seine Ehrengäste. Amat glaubte nicht, dass das
Mädchen schon vor der Untat hier untergebracht gewesen war.
Dass sie nun hier schlief, zeigte Marchats Gewissensbisse.
Maj lag zusammengerollt auf der breiten Fensterbank, die bleichen
Finger am Gitter. Ihr seltsam schmutzgoldenes Haar wallte über die
Schultern bis halb zum Fußboden hinab. Amat stand hinter ihr und
sah sie ein- und ausatmen. Ihr Atem ging langsam, aber nicht so
träge wie im Schlaf.
»Ich kann bleiben, wenn Ihr mögt«, sagte Liat. »Sie … ich glaube,
sie fühlt sich besser, wenn Leute da sind, die sie kennt. Vertraute
Gesichter.«
»Nein«, entgegnete Amat. Das Inselmädchen bewegte sich beim
Klang ihrer Stimme und sah sie mit hellen Augen teilnahmslos an.
»Nein, Liat, ich habe dir für heute genug aufgebürdet.«
Liat machte eine ergebene Gebärde, ging und schloss die Tür
hinter sich. Amat zog einen mit geflochtenem Schilf bespannten
Stuhl neben das Mädchen und setzte sich. Maj beobachtete sie.
Kaum hatte Wilsins Verwalterin es sich auf der ächzenden und
knackenden Sitzgelegenheit bequem gemacht, begann das Mädchen
zu sprechen.
»Ihr habt sie verletzt«, sagte sie in der zischenden Sprache der
Insel Nippu. »Ihr habt sie weggeschickt, nicht?«
»Stimmt«, bestätigte Amat. »Ich will mit dir sprechen, nicht mit
ihr.«
»Ich habe alles erzählt, was ich weiß. Bestimmt schon hundert
Leuten. Ich werde es nicht noch einmal tun.«
»Ich bin nicht gekommen, um dir Fragen zu stellen, sondern, um
dir etwas zu erzählen.«
Ein spöttisches Lächeln breitete sich auf den vollen, bleichen
Lippen des Mädchens aus. Sie hob die blonden Brauen. »Wollt Ihr
mir sagen, wie ich mein Kind retten kann?«
»Nein.«
Maj zuckte die Achseln und brachte damit zum Ausdruck, dass es
dann wohl kaum etwas Hörenswertes sein konnte. »Wilsin-cha
betreibt deine Rückkehr nach Nippu«, sagte Amat. »Ich schätze, du
wirst binnen einer Woche reisen.« Maj nickte, und ihr Blick wurde
weich. Amat wusste, dass sie sich ausmalte, zu Hause zu sein und
Nippu nie verlassen zu haben. Es schien ihr fast grausam,
weiterzusprechen.
»Ich will nicht, dass du gehst. Ich will, dass du in Saraykeht
bleibst.«
Die hellen Augen wurden schmal. Maj stützte sich auf den
Ellbogen und drehte sich herum, um ihre Besucherin direkt
anzuschauen. Amat sah ihre misstrauische Miene und konnte den
Argwohn des Mädchens gut verstehen.
»Was dir zugestoßen ist, hat tiefere Ursachen, als es scheint«,
erklärte sie. »Es war ein Angriff auf meine Stadt und ihren Handel,
und nicht nur der Andat und Oshai stecken dahinter. Es wird nicht
einfach sein, das nachzuweisen, und wenn du gehst … wenn du
gehst, wird es mir wahrscheinlich nicht gelingen.«
»Was wird Euch nicht gelingen?«
»Dem Khai zu zeigen, dass mehr Leute in diese Sache verwickelt
sind, als er weiß.«
»Werdet Ihr dafür bezahlt?«
»Nein.«
»Warum tut Ihr es dann?«
Amat atmete tief ein, sammelte sich und sah dem Mädchen in die
Augen. »Weil es das Richtige ist.« Zum ersten Mal sprach sie diese
Worte laut aus, und kaum hatte sie es getan, fühlte sie sich
eigenartig befreit. Seit sie aus Ovi Niits Bordell geflohen war, hatte
es zwei Amat Kyaans gegeben: die Verwalterin des Hauses Wilsin
und die Frau, die wusste, dass sie dieses Gespräch führen und die
Konsequenzen daraus würde ziehen müssen. Sie schlang die Hände
ums Knie und lächelte ein wenig traurig, vor allem aber erleichtert
darüber, wieder nur eine Person zu sein. »Was geschehen ist, war
unrecht. Sie haben meine Stadt angegriffen. Meine Stadt. Und das
Unternehmen, für das ich arbeite, war daran beteiligt. Also war
auch ich daran beteiligt. Wenn ich nun herausfinden will, was
wirklich geschehen ist, bringt mir das nichts, Maj, im Gegenteil: Ich
verliere vieles, was mir lieb und teuer ist. Aber ich werde es tun -
ob mit dir oder ohne dich.«
»Das bringt mir mein Kind nicht wieder.«
»Nein.«
»Werde ich es so wenigstens rächen können?«
»Ja. Falls ich Erfolg habe.«
»Was würde Euer Khai tun, falls Ihr Erfolg habt?«
»Ich weiß es nicht. Alles, was er für richtig erachtet, denke ich. Er
könnte dem Haus Wilsin ein Bußgeld auferlegen. Oder er lässt es
niederbrennen und verbannt Marchat.«
»Könnte er ihn auch töten?«
»Das könnte er. Vielleicht hetzt er Samenlos auf das Haus Wilsin
oder den Galtischen Rat. Oder auf ganz Galtland. Ich weiß es nicht.
Und das habe ich auch nicht zu entscheiden. Ich kann ihn nur um
Gerechtigkeit bitten und darauf vertrauen, dass er dann das
Richtige tut.«
Maj wandte sich von Amat ab und sah wieder aus dem Fenster.
Ihre bleichen Finger strichen über das Gitterwerk und folgten ihm,
als seien in seinen Linien die Umrisse eines geliebten Gesichts
verborgen. Amat schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
Draußen rief ein Singvogel zweimal, hielt inne und sang erneut.
»Ich muss gehen«, sagte Amat.
Maj drehte sich nicht um. Amat erhob sich aus dem knackenden
und ächzenden Stuhl und nahm ihren Stock.
»Wirst du kommen, wenn ich dich rufe?«
Lastende Stille. Amat spürte den Wunsch, noch etwas zu sagen,
weitere Argumente zu liefern, Maj notfalls anzuflehen, doch
jahrelange Verhandlungserfahrung hatte sie abzuwarten gelehrt.
Stille verlangte viel dringlicher nach einer Reaktion als Worte. Als
Maj schließlich sprach, war ihre Stimme hart.
»Ich werde kommen.«
Saraykeht blieb weiter und weiter zurück. Sein großer Hafen
wurde immer unscheinbarer, und Kaianlagen, die so breit waren,
dass zehn Männer nebeneinander darauf Platz fanden, schmolzen zu
Zweigen zusammen. Otah saß am Heck, spürte die Wellen unter
dem Schiff hinwegrollen und genoss den Geruch der Gischt,
konzentrierte sich aber weiter auf die immer kleiner werdende
Stadt. Er sah nun alles auf einen Blick: die aus der Ferne grau
wirkenden Paläste des Khais auf dem Nordhügel; die großen
weißen Lagerhäuser am Ufer mit ihren roten und grauen
Dachziegeln; das Vergnügungsviertel, das im Frühlicht ruhig und
friedlich aussah. Küstenfischer warfen vor der Stadt ihre Netze aus,
während Otahs Schiff nach Osten segelte, an der schlammigen
Flussmündung und an Schilffeldern vorbei. Der Wind frischte auf,
nach kurzer Zeit hatten sie eine Landzunge umsegelt, und Saraykeht
war verschwunden. Otah stützte das Kinn auf das ölige Holz der
Reling.
Alle waren dort zurückgeblieben: Liat und Maati, Kirath, Tuui und
Epani, den jeder hinter seinem Rücken »Zikade« nannte. Doch auch
die Straßen, über die er ballenweise Baumwolle und Stoffe und
fässerweise Färbemittel gekarrt hatte, ließ er zurück; und die
Teehäuser, in denen er gesungen und getrunken hatte; den Garten,
wo er Liat zum ersten Mal geküsst und mit freudiger Überraschung
festgestellt hatte, dass sie ihn gern und innig zurückküsste; den
Feuerhüter, der ihn und seine Freunde gegen ein paar
Kupfermünzen Tauben überm Herd hatte rösten lassen. Er dachte
daran, wie fremd und beängstigend die Stadt anfangs auf ihn
gewirkt hatte. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein.
Und nun lag eine Reise in eine noch weiter zurückliegende
Vergangenheit vor ihm. Er war nie im Dorf des Dai gewesen und
hatte nie die Bibliotheken gesehen, die man nur dort besuchen
konnte, nie die Lieder gehört, die man nur dort sang. Diese Reise
würde ihn mit einem Leben konfrontieren, dem er vor Jahren hätte
folgen können, dem er sich aber verweigert hatte - einem Leben,
das anzustreben sein Vater ihm womöglich gewünscht hatte. Otah
fragte sich, wie es gewesen wäre, eines Tages - geschützt durch das
Brandmal des Dichters - in seine Heimatstadt Machi
zurückzukehren, um zu sehen, welche seiner Erinnerungen
stimmten und welche seiner jugendlichen Fantasie entsprangen. Als
er die Schule verlassen hatte, war ihm nicht klar gewesen, dass er
seine Entscheidung zur Flucht so teuer würde bezahlen müssen.
»Ich hasse das«, sagte eine fremde Stimme.
Otah blickte auf. Der Mann neben ihm trug eine tiefgrüne Robe.
Sein mit grauen Strähnen durchsetzter Bart stand in seltsamem
Kontrast zu seinem faltenlosen, jugendlich wirkenden Gesicht, und
die hellen schwarzen Augen schienen amüsiert, aber nicht
unfreundlich.
»Wie bitte?«, fragte Otah.
»Die ersten drei, vier Tage an Bord«, sagte der Mann. »Die Zeit,
die der Magen braucht, um sich an den Seegang zu gewöhnen. Ich
habe zwar Tropfen dabei, habe aber jedes Mal den Eindruck, dass
sie wirkungslos sind. Aber Ihr habt mit der Seekrankheit keine
Probleme, was?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Otah und setzte ein reizendes
Lächeln auf.
»Ihr seid zu beneiden«, meinte der Mann und fügte dann hinzu:
»Ich heiße Orai Vaukheter. Ich bin Kurier des Hauses Siyanti und
von Chaburi-Tan nach Machi unterwegs, reise also zwischen den am
weitesten entfernten Städten der Khais. Wie die Sache aussieht,
werde ich mich ausgerechnet dann im Norden aufs Maultier
schwingen, wenn der erste Schnee fällt. Und Ihr? Ich glaube, ich bin
Euch noch nicht begegnet. Dabei habe ich gedacht, ich kenne jeden.«
»Mein Name ist Itani Noyga«, sagte Otah, und diese Lüge kam
ihm noch immer ganz selbstverständlich über die Lippen. »Ich reise
nach Yalakeht, um meine Schwester zu besuchen.«
»Ah. Und Ihr seid aus Saraykeht?«
Otah nickte.
»Es heißt, da sei es im Moment schwierig. Wahrscheinlich ist es
klug, von dort zu verschwinden.«
»Ich will nur das Kind meiner Schwester sehen. Dann werde ich
zurückkehren, um meinen Arbeitsvertrag zu erfüllen.«
»Und das Mädchen?«
»Welches Mädchen?«
»Das Mädchen, an das Ihr dachtet, als ich Euch ansprach.« Otah
lachte und sah ihn ungläubig an. »Woher wollt Ihr wissen, dass ich
an ein Mädchen gedacht habe?«
Der Mann lehnte sich an die Reling und sah in die Ferne. Zwar
vermochte er zu lächeln, war aber etwas grün im Gesicht.
»Es gibt eine bestimmte Schwermut, die denjenigen befällt, für den
eine Schiffsreise erstmals wichtiger ist als das Zusammensein mit
einer Frau. Diese Schwermut lässt mit der Zeit nach, verschwindet
aber nie.«
»Sehr poetisch ausgedrückt«, sagte Otah und wechselte das
Thema. »Ihr reist also nach Machi?«
»Ja. Hinauf in die Winterstädte. Und ich freue mich im Moment
sogar darauf, weil man dort festen Boden unter den Füßen hat und
nicht mehr in einer Nussschale auf den Wellen treibt - merkwürdig,
was? Da oben sehne ich mich dann in diese Breiten zurück, in denen
man nicht ständig friert. Seid Ihr schon mal im Norden gewesen?«
»Nein«, sagte Otah. »Ich habe den Großteil meines Lebens in
Saraykeht verbracht. Wie ist es da oben denn so?«
»Kalt«, sagte der Mann. »Verdammt kalt. Aber auch wunderschön.
Dort verdienen sie ihr Geld mit Bergbau. Mit Bergbau und
Metallverarbeitung. Und die Steinmetze, die Machi errichtet haben -
ihr Götter, es gibt keine vergleichbare Stadt. Ihre Türme … von
denen habt Ihr sicher schon gehört?«
»Flüchtig«, sagte Otah.
»Ich war mal auf einem von den Großen. Er ist hoch wie ein Berg,
und man kann hunderte Meilen weit sehen. Ich hab runtergeschaut,
und unter mir flogen tatsächlich Vögel! Ich hatte das Gefühl, wenn
der Turm nur ein paar Meter höher wäre, könnte ich die Wolken
berühren.«
Wellen schlugen unter ihnen an die Bordwand, und Möwen
schrien, doch Otah bekam nichts davon mit. Für einen Augenblick
war er auf einem der hohen Türme. Zu seiner Linken zog der
Morgen rosa, golden und blassblau herauf, in Farben also, die an
das Ei eines Rotkehlchens erinnerten. Zu seiner Rechten war es noch
dunkel. Und vor ihm lagen schneebedeckte Berge, deren steinerne
Flanken das Rückgrat des Landes zu bilden schienen. Er roch etwas
- ein Parfüm oder ein Aroma, das ihn an Frauen denken ließ. Er
wusste nicht, ob es sich bei seiner Vision um einen Traum, eine
Erinnerung oder eine Mischung aus beidem handelte, doch eine
mächtige Trauer durchflutete ihn und wich auch dann nicht, als die
Bilder längst verschwunden waren.
»Das hört sich wunderbar an«, sagte er.
»Ich bin so schnell wie möglich wieder runtergeklettert«, erklärte
der Mann, und ihn schauderte trotz der Hitze. »So hoch oben
schwanken sogar Steinbauten.«
»Irgendwann würde ich gern mal dorthin reisen.«
»Ihr würdet dort gar nicht auffallen. Euer Gesicht passt in den
Norden.«
»Das höre ich oft.« Otah lächelte, obwohl er traurig war. »Aber ich
bin mir dessen nicht sicher. Ich habe viele Jahre im Süden gelebt und
fühle mich dort langsam heimisch.«
»Es ist schwer, Wurzeln zu schlagen«, sagte sein Begleiter. »Ich
schätze, deshalb reise ich immer wieder, obwohl es mir eigentlich
nicht liegt. Wo immer ich bin, muss ich an einen anderen Ort
denken. In Udun zum Beispiel an einen Krabbeneintopf in Chaburi-
Tan. Oder in Saraykeht an den Regen in Utani. Wenn ich die
schönsten Ecken aller Städte an einem Ort zusammenführen könnte,
wäre das wohl das Paradies. Aber das kann ich leider nicht. Wenn
ich mal zu alt bin, um ständig zu reisen, muss ich mich für eine Stadt
entscheiden, und ich fürchte, die Aussicht, die anderen Städte nie
mehr zu sehen, wird mir das Herz brechen.«
Sie schwiegen einen Moment. Dann veränderte sich die Miene des
Kuriers, und er musterte Otah sorgfältig.
»Ihr seid ein interessanter Bursche, Itani Noyga. Eigentlich wollte
ich nur locker mit einem jungen Mann plaudern, der seine erste
Reise unternimmt, und nun denke ich unversehens daran, dass ich
bald meine letzte Fahrt machen dürfte. Verbreitet Ihr immer solche
Schwermut?«
Otah lächelte und machte eine freundlich bedauernde Gebärde,
doch sein Gegenüber musterte ihn kühl. In der Nähe wurde ein
Vorhang beiseitegeschoben, und ein Mann brüllte vom Heck des
Schiffes Richtung Bug.
»Ja«, hörte Otah sich zu seiner Überraschung sagen. »Aber das
scheint nur sehr wenigen Leuten aufzufallen.«
»Dann ist das Inselmädchen eben weg«, sagte Amat. »Was macht
das schon? Ihr wolltet sie doch ohnehin demnächst wegschicken.«
Marchat Wilsin bewegte die Arme nervös hin und her und
erzeugte dadurch kleine Wellen, die sich am Rand des Beckens
brachen. Amat nippte an ihrem Tee und heuchelte Desinteresse.
»Wir wollten sie nach Hause schicken. So war es abgesprochen.
Warum mag sie weggelaufen sein?«, fragte er weniger Amat als sich
selbst oder das Wasser. Amat stellte ihre Teeschale auf dem
schwimmenden Tablett ab und machte eine fragende Gebärde. Was
sie dann sagte, ließ diese Gebärde freilich spöttisch erscheinen.
»Lasst mich mal überlegen, Wilsin-cha. Sie ist ein junges Mädchen,
das getäuscht, ausgenutzt und erniedrigt wurde; ein Mädchen, das
die Geschichten geglaubt hat, die man ihm von der großen Liebe
erzählte; ein Mädchen, dem das Kind genommen wurde, das es
unbedingt wollte. Warum sollte Maj da nicht zu denen
zurückkehren, die sie verlassen hat? Die würden sie doch bestimmt
nicht für eine leichtgläubige Närrin halten! Jedenfalls nicht mehr, als
es der Khai und die Utkhais schon tun. Am Hafen sind übrigens
Witze über sie im Umlauf. Arbeiter und Teehausbedienstete denken
sie sich aus und erzählen sie einander. Wollt Ihr einige davon
hören?«
»Nein«, sagte Marchat und schlug mit der flachen Hand aufs
Wasser. »Natürlich nicht. Mir ist das wirklich nicht recht, und ich
möchte davon verschont bleiben.«
»Sie schämt sich, Marchat. Sie ist weggelaufen, weil sie sich
schämt.«
»Ich verstehe nicht, wofür sie sich schämen sollte«, sagte er, und in
seiner Stimme lag etwas Rechtfertigendes, das nicht nur ihm,
sondern herzzerreißenderweise auch Maj galt. »Sie hat doch nichts
Böses getan.«
Amat ließ die Hände wieder ins Becken gleiten. Wilsins Lippen
bewegten sich tonlos, als spräche er mit sich selbst, sei aber kurz
davor, sich an sie zu wenden. Amat wartete.
Am Abend zuvor hatte sie Maj in ein Fischerdorf westlich der
Stadt gebracht. Ein außerhalb gelegener Unterschlupf würde
reichen, bis sich etwas Passenderes fand, hatte Amat gedacht. Sie
hoffte, das sei binnen einer Woche zu schaffen, war aber darauf
eingestellt, dass es länger dauern könnte. In den letzten Tagen hatte
sie sich innerlich immer mehr vom Haus Wilsin gelöst. Es würde
nicht mehr lange dauern, bis sich ihr Weg von dem ihres
Arbeitgebers und alten Freundes Marchat trennte. Mit ihm in
diesem Badehaus zu sitzen, in das er seit Jahren täglich kam, war
schlimm, weil er nichts von ihren Absichten wusste. Das Haus
Wilsin hatte sie vor einem Leben am Abgrund bewahrt, und
Marchat hatte von all seinen Angestellten ausgerechnet sie zu seiner
Verwalterin aufsteigen lassen. Und nun saßen sie hier wie seit
Jahren im Bad, doch es war beinahe zum letzten Mal.
Unwillkürlich beugte Amat sich vor und legte ihm die Hand auf
die Schulter. Er sah auf und rang sich ein Lächeln ab.
»Es ist vorbei«, erklärte er. »Wenigstens ist es vorbei.«
Das hatte er in den letzten Tagen oft gesagt, als würden Worte
durch Wiederholung wahr. Vielleicht war ihm unterbewusst ja klar,
dass die Sache noch längst nicht ausgestanden war. Er nahm ihre
Hand und tat etwas, das Amat überraschte: Er führte sie zum Mund
und küsste sie. Seine Barthaare fühlten sich auf ihrer vom Wasser
weichen Haut kratzig an. Sanft und gegen seinen Willen entzog sie
ihm die Hand. Er errötete. Ihr Götter, der arme Mann errötete! Sie
hätte weinen oder gehen oder ihn anschreien mögen, bis die Fliesen
durch das Echo ihres Zorns Risse bekamen: Wie könnt Ihr es nach
all dem, was Ihr getan habt, wagen, Euch so zu verhalten, dass ich
Mitleid für Euch empfinde? »Wilsin-cha«, sagte sie stattdessen. »Der
Frachtplan.«
»Ja«, sagte er. »Natürlich, der Frachtplan.«
Gemeinsam besprachen sie die belanglosen Angelegenheiten des
Tages. Ein kleines Feuer in einem Lagerhaus der Weber war schuld
daran, dass ihnen für das Schiff nach Bakta tausend laufende Meter
Baumwolle fehlten. Diese Menge würde es rechtfertigen, das Schiff
noch nicht auslaufen zu lassen, doch sie wollten es nicht zu lange
aufhalten, denn die Saison war bald vorbei. Dann galt es, über den
hartnäckigen Schimmel in einem Lagerhaus zu reden, der zwei
Ballen Seide verdorben hatte und beseitigt werden musste, ehe sie
das Lager wieder nutzen konnten.
Amat legte Wilsin dar, welche Möglichkeiten sie hatten, machte
Vorschläge, beantwortete Fragen und akzeptierte seine
Entscheidungen. Im Hauptgebäude des Badehauses fing ein Mann
an zu singen, und zwei andere fielen ein, trafen aber nicht immer
den Ton. Ein warmer Luftzug, der durchs Zederngitter der Fenster
drang, kräuselte die Wasserfläche. So quälend es auch war: Amat
musste gierig Beobachtungen in sich aufnehmen - das Rosarot von
Wilsins sonst so bleicher Haut; den dünnen Riss an der Seite des
lackierten Tabletts; den leicht bitteren Geschmack des Tees, der ein
wenig zu lange gezogen war. Als wäre ich ein Eichhörnchen, das
Nüsse für den Winter sammelt, dachte sie.
»Amat«, sagte Wilsin, als sie mit der Besprechung fertig waren
und sie sich erhob. Sie war erstaunt über die Bestimmtheit seines
Tons und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. »Da ist noch etwas …
Wir zwei haben fast eine Ewigkeit zusammengearbeitet … Du bist
immer sehr … sehr professionell gewesen. Doch ich hatte stets das
Gefühl, dass wir zugleich auch Freunde sind. Ich jedenfalls habe
immer größte Stücke auf dich gehalten. Ihr Götter, wie das klingt!
Größte Stücke! Ich mach das wirklich lausig.«
Er hob die Hände zu einer ungewissen Geste. Seine Fingerkuppen
waren verschrumpelt, und sein hochrotes Gesicht wirkte
angespannt. Amat runzelte verwirrt die Stirn. Dann überkam sie die
Erkenntnis wie eine plötzliche Übelkeit: Er war drauf und dran, ihr
seine Liebe zu gestehen! Sie senkte den Kopf, presste die Hand an
die Stirn und konnte nicht aufsehen. Ein kurzes Lachen, das
zwischen Schrecken und Heiterkeit schwankte, entrang sich ihrer
Kehle. Auf alles war sie gefasst gewesen und gegen alle Übel
innerlich gewappnet, doch diese Wendung der Dinge hatte sie kalt
erwischt. Marchat Wilsin glaubte, sie zu lieben! Deshalb also hatte er
sich bei Oshai für sie verwendet. Deshalb lebte sie überhaupt noch!
Wie lächerlich das war! »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nicht …
vergiss diese Sache. Ich wusste ja nicht … ich höre mich an wie ein
dummer Schuljunge. Ich sage dir ganz offen, Amat: Ich wollte in
diese Sache nicht hineingezogen werden. In den letzten Tagen habe
ich eine gewisse Distanz von deiner Seite gespürt. Und ich mache
mir Sorgen, dass wir zwei … etwas verloren haben könnten, das
Das musste aufhören, und sie musste dafür sorgen.
»Wilsin-cha«, begann sie und zwang sich eine förmliche Gebärde
der Ehrerbietung gegenüber einem Vorgesetzten ab. »Es ist wohl
noch zu früh … Die Wunden sind noch zu frisch. Womöglich sollten
wir dieses Gespräch verschieben.«
Er machte eine beipflichtende Geste und wirkte dabei so
erleichtert wie sie. Daraufhin bat Amat mit einer Gebärde, das Bad
verlassen zu dürfen, und er wiederholte seine Geste. Sie ging, ohne
ihm noch mal in die Augen zu sehen. In der Umkleide zog sie sich
an und wusch sich das Gesicht. Dann lehnte sie sich an das große
Granitbecken und umklammerte dessen Rand so fest, dass das Blut
aus ihren Knöcheln wich. Als sie sich beruhigt hatte, lockerte sie
ihren Griff, atmete tief und langsam durch und sammelte sich. Dann
nahm sie ihren Stock und trat auf die Straße hinaus, als wäre die
Welt nicht aus den Fugen und als müsste sie sich darin nicht
mühsam ihren Weg bahnen.
Sie ging zügigen Schrittes zu Wilsins Anwesen. Bein und Hüfte
setzten ihr dabei kaum zu. Sie gab die nötigen Anweisungen, leitete
alles so in die Wege, wie sie es mit Marchat besprochen hatte. Zum
Glück war Liat nicht da. Amats Tag war auch ohne Liats
Schuldgefühle und ohne ihren Schmerz schwer genug. Außerdem
musste Amat natürlich entscheiden, ob sie das Mädchen mitnehmen
sollte, wenn sie ihr altes Leben hinter sich ließ.
Als Amat den letzten Eintrag in die Bücher des Unternehmens
gemacht hatte, säuberte sie den Federkiel, schraubte das Tintenfass
zu, verließ das Arbeitszimmer und ging Richtung Hafen. Sie kam an
Ständen und Schiffen vorbei, an Wasserverkäufern, Feuerhütern
und an Karren, deren Besitzer in Ingwer und Kreuzkümmel
eingelegte Schweinefleischstreifen feilboten. Als sie den breiten
Nantan erreichte, machte sie eine Pause und betrachtete die
Bronzestatue des letzten Kaisers, dessen Blick aufs Meer gerichtet
war. Sein Gesicht wirkte gelassen, zugleich aber auch traurig, wie
sie fand. Shian Sho hatte mitansehen müssen, wie das Reich in einem
Krieg seiner obersten Berater, die über Dichter und Andaten
geboten, unterging. Wie traurig muss es sein, dachte Amat, so viel
zu besitzen, aber nicht über die Macht zu verfügen, es zu retten.
Erstmals fühlte sie mehr als nur Respekt oder historisches Interesse
oder Vertrautheit in Bezug auf das Abbild dieses Mannes, der seit
acht Generationen tot war. Sie ging zum Sockel der Statue und legte
die Hand auf den metallenen Fuß, der von der Sonne so erhitzt war,
dass es beinahe wehtat. Als sie sich abwandte, war sie so traurig
wie zuvor, doch ihre Trauer hatte jetzt etwas seltsam Beherztes.
Vielleicht fühlte sie sich ja nun all denen verwandt, die sich vor ihr
bemüht hatten, geliebte Städte zu retten. Sie ging zum Fluss, hielt
also auf die schlimmsten Teile der Stadt zu. Ihrer Stadt.
Das Teehaus wirkte ein bisschen schäbig, war aber nicht
heruntergekommen. Die Fensterläden konnten etwas Farbe
vertragen, und die Schmierereien an den Wänden waren nur
flüchtig überstrichen. All das ließ zwar auf Armut schließen, nicht
aber auf Verwahrlosung. Ein Mann, dessen tiefblaue Augen und
rote Haare ihn als jemanden aus den Westgebieten auswiesen,
beugte sich aus dem Fenster, versuchte aber den Eindruck zu
vermeiden, sie anzustarren. Amat hob die Brauen und trat durch
die blau gestrichene Tür in den halbdunklen Schankrauen.
Ein intensiver Geruch nach Lammbraten, Bier aus den
Westgebieten und billigem Tabak schlug ihr entgegen. Der
Steinboden war sauber, und die wenigen Männer und Frauen, die
an den Tischen saßen, schienen kaum Notiz von ihr zu nehmen.
Auch die Hunde unter den Tischen wandten ihr nur kurz den Kopf
zu und blickten dann wieder weg. Amat sah sich mit einer Miene
um, die hoffentlich selbstbewusst und ungeduldig wirkte. Kurz
darauf kam ein dunkelhaariges Mädchen auf sie zu und wischte sich
dabei die Hände an der Schürze ab.
»Hier gibt es Tische genug«, sagte sie nach einer knappen
Begrüßung. »Aber vielleicht hättet Ihr gern eine Nische nach hinten
raus? Von dort kann man den Fluss überblicken, falls »Ich bin
gekommen, um einen Mann namens Torish Weiss zu sprechen«,
erklärte Amat. »Er erwartet mich.«
Das Mädchen war kein bisschen überrascht, machte auf dem
Absatz kehrt und führte Amat durch einen kurzen Flur zu einer
offenen Tür. Amat machte eine dankbare Gebärde und trat über die
Schwelle.
Torish Weiss war ein großer, schwerer Mann. Er hatte dichtes,
honigfarbenes Haar und eine schlimme Narbe am Kinn. Er stand
nicht auf, als sie hereinkam, sondern musterte sie nur distanziert
und belustigt. Amat machte die Gebärde, mit der in Saraykeht
gemeinhin Geschäftsverhandlungen eröffnet wurden.
»Nein«, sagte der Mann in der Sprache der Westgebiete. »Wenn
Ihr etwas bereden wollt, dann nur mit Worten.«
Amat ließ die Hände sinken und setzte sich. Torish Weiss lehnte
sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Das
Messer an seinem Gürtel war so lang wie Amats Unterarm. Sie
spürte, dass sie vor Furcht einen Kloß im Hals bekam. Dieser Mann
war stark und brutal und neigte zu Gewalt. Und genau deshalb war
sie gekommen.
»Ich habe gehört, Ihr habt Männer, die man anheuern kann«,
begann sie.
»Stimmt.«
»Ich brauche zwölf.«
»Wofür? »Das kann ich Euch jetzt noch nicht sagen.«
»Dann könnt Ihr sie auch nicht kriegen.«
»Ich bin bereit, gut dafür zu bezahlen »Das interessiert mich nicht.
Es sind meine Leute, und die schick ich erst los, wenn ich weiß, was
sie erwartet. Wenn Ihr mir das nicht sagen könnt, bekommt Ihr sie
nicht.«
Er sah weg und schien gelangweilt. Amat schüttelte den Kopf und
unterdrückte ihre Empfindungen. Dies war keine Zeit für Gefühle,
sondern für eiskalte Berechnung. Ihr Gegenüber war Geschäftsmann
- auch wenn Gewalt sein Gewerbe war. Er war sicher nicht daran
interessiert, in den Ruf zu geraten, die Geheimnisse seiner Kunden
auszuplaudern.
»Ich trenne mich demnächst von meinem Arbeitgeber«, sagte sie.
Nachdem sie über ihre Absichten so lange geschwiegen hatte, war
es merkwürdig, diese Worte ausgesprochen zu hören. »Ich habe
etwas vor, das mich in Gegnerschaft zu ihm bringen wird. Um
Erfolg zu haben, brauche ich hohe und beständige Einkünfte.«
Torish Weiss beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Knie
und sah sich seine Besucherin genauer an. Er war neugierig
geworden. Sie hatte ihn am Haken.
»Und wie wollt Ihr das hinkriegen?«, fragte er.
»Es gibt da jemanden namens Ovi Mit. Er hat ein Bordell im
Vergnügungsviertel. Und das will ich ihm nehmen.«
12

Peitschender Regen, der an die Fensterläden schlug, ließ Maati


erwachen. Das Licht, das durch die Lamellen fiel, war diffus und
erlaubte keinen Rückschluss auf die Tageszeit. Die Nachtkerze
jedenfalls war heruntergebrannt. Als er das Mückennetz
beiseiteschob, fröstelte ihn kurz. Er stand auf, öffnete die
Fensterläden und hatte den Eindruck, die Stadt sei verschwunden,
denn vor ihm lag dichtes Grau. Selbst die Umrisse der Paläste
waren nur vage zu erkennen, doch auf dem Teich schienen die
Regentropfen zu tanzen, und das nass glänzende Grün der nahen
Bäume begann sich an den Adern der Blätter rötlich zu färben. Der
Regen, der ihm ins Gesicht und gegen die Brust schlug, war kühl. In
Saraykeht wurde es Herbst.
Vor fast vierzehn Tagen war Otah aufgebrochen, und seither hatte
sich ein fester Rhythmus entwickelt: Maati stand morgens auf, sah
nach Heshai-kvo und sprach mit ihm. Mitunter schaffte es der
Dichter, auf drei, vier Sätze seines Schülers zu reagieren. Manchmal
aber saßen sie nur unter dem finsteren Blick des Andaten da, der
schweigend in seiner Folterkiste hockte. Maati redete seinem
Meister immer wieder gut zu, von dem zu essen, was die Diener aus
der Palastküche brachten: zuckriges Fruchtgebäck, nahrhafte,
dickflüssige Brotsuppen oder Frischkäse mit Apfelschnitzen. Jeden
Morgen ließ Heshai sich dazu herab, ein, zwei Bissen zu essen und
eine Schale Tee zu trinken. Dann drehte er sich ächzend zur Wand.
Samenlos sagte nie auch nur ein Wort, doch Maati spürte seine
lastende Aufmerksamkeit wie eine Hand im Nacken.
Am Nachmittag las er oder ging im Park spazieren. Und bei
Sonnenuntergang wiederholte sich das morgendliche Ritual bei
einem Abendessen, das den Dichter genauso kalt ließ wie das
Frühstück. Dann zog Maati sich zurück, ließ in Heshais Zimmer die
Nachtkerze brennen, legte sich ins Bett, zündete auch für sich eine
Nachtkerze an, zog das Mückennetz zu und zwang sich zu schlafen.
Sein Tagesablauf war wie ein Fiebertraum, der sich ständig
wiederholte und dessen geringe Unterschiede nur zu unterstreichen
schienen, dass sich nichts Wesentliches geändert hatte.
Maati schloss die Fensterläden wieder, zog ein frisches Gewand
an, wusch sich das Gesicht und rasierte sich. Zwar gab es kaum
etwas zu rasieren, aber auch das gehörte zum Ritual. Und es
tröstete ihn. Er hätte alles gegeben, wenn er jetzt mit Otah hätte
reden können.
Er ging die Treppe hinunter und trat an den Tisch, auf dem die
Diener das Frühstück abgestellt hatten. Diesmal gab es Honigbrot
und schwarzen Tee. Mit dem Tablett ging er wieder die Treppe
hoch und den Flur entlang bis zu Heshais Zimmer. Die Tür war nur
angelehnt und schwang auf, kaum dass er mit dem Handgelenk die
Klinke berührte.
Das Bett war leer, das hauchdünne Mückennetz beiseite-gefegt,
und die Laken waren ganz durcheinander. Nur die Vertiefung der
Matratze zeigte, wo der Dichter tagelang gelegen hatte. Zitternd
stellte Maati das Tablett ab und trat an das leere Bett. Es gab keine
Nachricht, keinen ungewöhnlichen Gegenstand und auch sonst
keinen Hinweis darauf, was geschehen oder warum sein Lehrer
verschwunden war. Düstere Vorstellungen befielen ihn, in denen
der Dichter tot im Teich trieb. Er drehte sich langsam um und
fürchtete schon, auch die Folterkiste sei leer. Erst als er in die
schwarzen Augen von Samenlos blickte, atmete Maati aus. Er hatte
gar nicht gemerkt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Der Andat lachte. »Schön wär’s gewesen, mein Lieber«, sagte er so
amüsiert wie gelassen. »Der große Dichter lebt meines Wissens noch
und ist immerhin so klar im Kopf, mich nicht freizulassen.«
»Wo ist er?«
»Keine Ahnung. Er hat mich schließlich nicht gefragt, ob er gehen
darf. Weißt du, Maati, es ist seltsam - wir beide plaudern gar nicht
mehr miteinander.
»Wohin ist er verschwunden? Was hat er gesagt?«
Samenlos seufzte. »Nichts hat er gesagt. Er war so
mitleiderregend wie immer, hatte also die Anmut und Willenskraft
eines schmutzigen Waschlappens. Aber als die Nachtkerze beinahe
heruntergebrannt war, stand er auf, als hätte er sich an eine
Verabredung erinnert, zog seine Robe an und ging.«
Maati lief im Zimmer auf und ab und hatte Mühe, sich zu
beruhigen und seine Gedanken zu ordnen. Es musste doch
irgendeinen Hinweis darauf geben, wohin Heshai verschwunden
war und was er vorhatte! »Schlag Alarm«, rief Samenlos lachend.
»Der Dichter ist los!«
»Sei still!«, blaffte Maati. »Ich muss nachdenken.«
»Und wenn ich nicht still bin? Was machst du dann? Mich
bestrafen? Meine Güte, Maati - sieh doch, was sie mir bereits
angetan haben. Ich bin hier eingesperrt und kann mich nicht mal
strecken. Wenn ich ein Mensch wäre, würde diese Kiste bereits
fürchterlich stinken. Was könntest du mir da noch anhaben?«
»Hör auf … halt einfach den Mund.«
»Warum denn, mein Lieber? Was habe ich eigentlich verbrochen,
dass du so schlecht auf mich zu sprechen bist?«
»Du hast das Kind getötet!«, schrie Maati und erschrak darüber,
wie wütend er war.
Im Halbdunkel seines Gefängnisses lächelte der Andat traurig.
Seine blassen Finger umklammerten die Gitterstäbe, und er
verschob seinen bleichen Körper um einige Zentimeter.
»Dem Fötus ist das egal«, sagte er. »Frag ihn ruhig. Dann wird
sich zeigen, ob er nachtragend ist. Was ich getan habe, habe ich dem
Mädchen angetan. Und dem lieben Heshai. Und du weißt, warum
ich es getan habe.«
»Du bist böse«, sagte Maati.
»Ich bin ein Gefangener und ein Sklave und gezwungen, für den
zu arbeiten, der mich gebunden hat, obwohl ich nichts anderes
möchte als frei zu sein. Befreit von dieser Kiste, diesem Körper,
diesem Bewusstsein. Dieser Wunsch ist nicht weniger moralisch als
dein Wunsch zu atmen. Und du würdest jeden opfern, Maati, wenn
du am Ertrinken wärst.«
Maati wandte sich ab und tastete über die leeren Laken, um
irgendetwas zu finden. Doch da war nichts. Er musste gehen und
den Khai benachrichtigen. Soldaten mussten Heshai aufspüren und
zurückbringen. Trotz des trommelnden Regens hörte er, dass der
Andat sich bewegte.
»Ich hab dir ja gesagt«, erklärte Samenlos, »dass wir nicht immer
Freunde sein würden.«
Von unten rief jemand nach Maati - eine Frauenstimme, die
besorgt und angespannt klang. Er eilte die Treppe hinunter. Liat
Chokavi stand klatschnass im Vorraum. Gewand und Haarschopf
klebten ihr am Körper und ließen sie noch jünger erscheinen als
sonst. Sie presste die Hände zusammen. Als sie ihn sah, machte sie
zwei Schritte auf ihn zu. Maati nahm ihre Hände.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Der Dichter. Heshai. Er ist zum Haus Wilsin gekommen. Er tobt,
Maati. Wir können ihn nicht beruhigen. Epani-cha wollte schon nach
den Utkhais schicken, aber ich habe ihm gesagt, ich würde dich
holen. Er hat versprochen, solange zu warten.«
»Gehen wir!«, sagte Maati, und im Laufschritt überquerten sie die
Holzbrücke mit ihren von der Nässe schwarzen und rutschigen
Balken, eilten durch die Palastgärten mit ihren vom Regen schweren
Ästen und zu Boden gedrückten Blumen und wandten sich dann
nach Süden, hinunter in die Stadt. Liat hielt Maati die ganze Zeit an
der Hand und gab die Richtung vor. Sie liefen zu schnell, als dass
sie miteinander hätten reden können, und Maati verschwendete
keinen Gedanken daran, was er ihr andernfalls hätte sagen sollen,
denn er war viel zu sehr in Sorge, welche Situation er bei ihrer
Ankunft vorfinden würde.
Wenn Otah da gewesen wäre, hätte es jemanden gegeben, den er
hätte fragen können, was zu tun war - jemanden zudem, der eine
Antwort gewusst hätte. Während sie durch die dunklen Straßen
liefen, kam Maati in den Sinn, dass er fast sein ganzes Leben einen
Lehrer in Reichweite gehabt hatte. Jemanden, der ihm Orientierung
bieten konnte, wenn die Welt kompliziert wurde. Dazu waren
Lehrer schließlich da. Otah hatte den Dai sogar abgelehnt und war
dennoch stark genug, um zu wissen, was Not tat. Es war furchtbar,
dass nicht auch Heshai über eine solche Einsicht verfügte.
Im Hof von Marchat Wilsins Anwesen blieb Liat stehen. Maati
hielt neben ihr. Das zweistöckige Haus war um einen Innenhof
gebaut. Ein schmaler Übergang verband im ersten Stock die beiden
einander gegenüberliegenden Flügel. Von diesem Übergang aus
konnte man auf die Bronzeskulptur des Galtischen Baums sehen, auf
einen Springbrunnen, dessen Wasser infolge des starken Regens
über den Beckenrand quoll, und auf den Dichter, der zwischen
Baum und Brunnen saß, den Rücken zur Straße gewandt. Um ihn
herum lagen - Zeichen seines Tobsuchtsanfalls - zerrissene Papiere
und verschüttetes Essen. Eine Menschenmenge hatte sich
versammelt und geisterte im Halbdunkel der Türen und auf dem
schmalen Übergang herum. Die Farben der Gewänder dieser Leute
deuteten darauf hin, dass sich Angehörige aller großen
Handelshäuser unter den Schaulustigen befanden.
Maati legte Liat die Hand an die Taille und schob sie sanft zur
Seite. Das Hofpflaster stand ein paar Zentimeter unter Wasser, und
weißer Schaum zeigte, welchen Weg die Abwässer vom Haus auf
die Straße nahmen. Maati ging langsam und mit quietschenden
Sandalen durch die Brühe.
Heshai wirkte verwirrt. Der Regen ließ sein langes, schütteres
Haar wie angeklebt wirken. Sein Gewand war für das Wetter viel
zu dünn und gewährte da und dort einen Blick auf das ungesunde
Rot seiner Haut. Maati kauerte neben seinem Lehrer nieder und sah,
dass sich seine vollen, breiten Lippen leicht bewegten, als flüstere
er. Wassertropfen hingen wie Tau an seinem ungepflegten Bart.
»Heshai-kvo«, sagte Maati mit flehentlicher Gebärde. »Heshai-
kvo, wir sollten nach Hause gehen.«
Die blutunterlaufenen Augen des Dichters, deren Weiß an altes
Elfenbein denken ließ, wandten sich ihm zu und wurden schmal.
Dann leuchtete in seinem Gesicht Wiedererkennen auf. Er legte
Maati die dicken Hände aufs Knie und schüttelte den Kopf.
»Sie ist nicht da. Sie ist bereits verschwunden«, sagte er. »Wer ist
nicht da, Heshai-kvo?«
»Das Mädchen«, stieß er hervor. »Das Inselmädchen. Ich dachte,
wenn ich sie finden könnte, wenn ich ihr meinen Fehler erklären
könnte Maati unterdrückte den Wunsch, den Dichter zu schütteln,
bis er wieder zu sich käme. Stattdessen nahm er Heshai bei der
Hand und sagte ruhig und bestimmt: »Wir sollten gehen.«
»Wenn ich es ihr doch hätte erklären können, Maati Wenn ich ihr
doch nur hätte erklären können, dass nicht ich es war, sondern der
Andat! Dass ich niemals »Wozu hätte das gut sein sollen?«, fragte
Maati und hielt seine Wut und Verlegenheit nicht mehr zurück. »Es
gibt keine Worte, die das Geschehene entschuldigen könnten. Und
hier im Regen herumzusitzen, hilft auch nicht.«
Heshai runzelte verwirrt die Stirn, sah erst auf das Wasser zu
seinen Füßen, dann zu den halb verborgenen Gesichtern hinauf und
schürzte die Froschlippen.
»Ich habe mich lächerlich gemacht, was?«, fragte er, und seine
Stimme klang durch und durch vernünftig.
»Ja«, sagte Maati, denn er brachte es nicht fertig zu lügen. »Das
habt Ihr wohl.«
Heshai nickte und stand auf. Sein Gewand hing lose herab. Er
machte zwei unsichere Schritte, ehe Maati herantrat und ihn stützte.
Als sie auf die Straße kamen, gesellte sich Liat von der anderen
Seite zu ihnen und legte sich Heshais Arm um die Schulter, um die
Last mit Maati zu teilen. Hinter Heshais breitem Rücken spürte
Maati ihre Hand. Dann ergriff sie seinen Unterarm, und so
geleiteten sie den Dichter nach Hause.
Das Gewand, das Maati ihr lieh, als sie im Haus des Dichters
ankamen, war sehr flauschig, aus Baumwolle und Seide und weicher
als jeder Stoff, den Liat seit Jahren berührt hatte. Sie zog sich in
Maatis kleinem Zimmer um, während er sich um den Dichter
kümmerte. Die nassen Sachen hängte sie auf den
Garderobenständer. Dann wrang sie ihr Haar aus und flocht es
gedankenverloren, während sie wartete.
Sein einfaches Zimmer enthielt nur ein schmales Bett, einen
Schreibtisch und einen Schrank, den Garderobenständer und einen
Kerzenhalter. Einzig durch die vielen Bücher und Schriftrollen und
die Qualität der Möbel unterschied es sich von einer Kammer wie
der ihren. Aber auch Maati war ja nur ein Lehrling - genau wie sie
im Verhältnis zu Amat. Sie waren sogar fast genau gleich alt,
obwohl sie das oft vergaß.
Gemurmel drang an ihr Ohr. Erst sprachen nur der Dichter und
Maati miteinander, dann war auch die weiche, so reizende wie
beunruhigende Stimme von Samenlos zu hören. Der Dichter
ereiferte sich, ohne dass Liat hätte verstehen können worüber, und
Maati beruhigte ihn. Sie wollte in ihre Kammer zurückkehren, um
der entsetzlichen Spannung zu entrinnen, die im Haus des Dichters
herrschte. Doch der Regen wurde immer schlimmer und trommelte
nun geradezu wütend vom Himmel. Der Wind hatte gedreht, und
sie konnte Maatis Fensterläden öffnen, ohne dass es hereinregnete.
Draußen sah es aus, als läge alles voller Spinneneier. Die winzigen
Hagelkörner allerdings schmolzen so schnell, wie sie gefallen
waren.
»bat«, sagte Maati.
Sie drehte sich um und wollte dabei gleichzeitig die Fensterläden
schließen und eine entschuldigende Gebärde machen. Klar, dass ihr
beides misslang.
»Nein«, sagte Maati, »mir tut es leid. Ich hätte besser auf ihn
aufpassen sollen. Aber er hat nie versucht aufzustehen geschweige
denn, das Haus zu verlassen.«
»Schläft er jetzt?«
»Wenigstens hat er sich ins Bett gelegt. Samenlos … Ihr habt doch
gehört, dass er in einer Kiste eingesperrt ist?«
»Gerüchteweise«, sagte Liat.
Maati machte eine bestätigende Geste und sah kurz über die
Schulter. Sorge und Müdigkeit zeichneten sich auf seinem Gesicht
ab. Sein braunes Dichtergewand tropfte an den Ärmeln noch immer.
»Ich geh dann mal nach unten«, sagte sie.
»Warum?«
»Ich dachte, du würdest dich lieber allein umziehen«, sagte sie
langsam. Maati wurde knallrot und nickte eifrig.
»Das hatte ich ganz vergessen … Ich habe nicht mal bemerkt, dass
meine Sachen nass sind. Ja, natürlich. Ich komme Euch gleich nach.«
Sie lächelte und gab ihm überraschend selbstverständlich einen
Klaps auf die Schulter, wie sie es Itani und seine Freunde hatte tun
sehen.
»Ich finde, wir können uns ruhig duzen«, sagte sie.
Ein paar Minuten später kam er in einem Gewand nach unten, das
den gleichen Braunton hatte wie das alte. Sie saßen im Wohnzimmer
und hatten bei dem trüben Wetter Kerzen angezündet. Er saß ihr
auf einer niedrigen Holzliege gegenüber. Sein Gesicht wirkte ruhig,
aber abgespannt, und sogar wenn er lächelte, behielt seine
Mundpartie etwas eigenartig Starres. Es war ihm deutlich
anzusehen, wie nah ihm der Zusammenbruch seines Lehrers ging.
»Habt Ihr … hast du Nachricht von ihm bekommen?«, fragte
Maati.
»Nein, er dürfte noch nicht in Yalakeht sein. Und dann dauert es
noch mal genauso lange, bis wir ein Lebenszeichen von dort
erhalten.«
Maati nickte verständig, wirkte dabei aber ungeduldig. »Alles in
Ordnung?«, fragte sie.
»Es wird schon wieder. Es ist nur schwierig, nicht zu wissen, was
man tun soll. Wenn Otah zurückkommt, wird alles gut.«
»Ach ja?«, fragte Liat und sah in die Flamme. »Hoffentlich hast du
recht.«
»Sicher wird alles gut. Der Dai weiß besser als wir alle, wie wir
vorzugehen haben. Das sagt er dann Otah, und wir…
Der Optimismus in seiner Stimme hatte von Anfang an aufgesetzt
geklungen. Kein Wunder, dass ihm plötzlich die Worte fehlten. Liat
sah ihn an. Maati saß vorgebeugt da und rieb sich mit den Fingern
die Augen wie ein alter, erschöpfter Mann. … wir tun genau das,
was der Dai uns sagt«, führte sie seinen Satz zu Ende.
Maati stimmte ihr bekümmert zu. Ein Windstoß rüttelte an den
Fensterläden, und Liat schlang ihr Gewand fester um sich, als sei ihr
kalt, obwohl das Zimmer angenehm warm war.
»Und wie ist es bei dir?«, fragte Maati. »Steht alles gut im Haus
Wilsin? »Ich weiß nicht recht«, antwortete Liat. »Amat Kyaan ist
zurückgekommen. Sie versucht, mich zu beschäftigen, aber es
scheint nicht mehr so viel zu tun zu geben wie früher. Ich glaube …
ich glaube, sie traut mir nicht mehr. Das kann ich ihr nach dem, was
passiert ist, auch nicht verdenken. Mit Wilsin-cha ist es genauso. Die
beiden geben mir nur unwichtige Aufgaben. Niemand hat mir
bisher gesagt, dass ich wieder ein ganz gewöhnlicher Lehrling bin,
aber nach dem, was ich zu tun habe, könnte ich es gut sein.«
»Das tut mir leid. Und es ist ungerechtfertigt, dir zu misstrauen.
Schließlich bist nicht du schuld an dem, was geschehen ist. Du
solltest einfach -«
»Itani wird sich bald von mir trennen. Oder Otah. Wie auch
immer: Es wird nicht mehr lange dauern, bis er sich von mir
trennt.« Sie hatte das nicht sagen wollen, doch die Worte hatten sich
einfach Bahn gebrochen. Sie sah auf ihre Hände, und weitere Sätze
drängten aus ihr heraus: »Ich glaube, er weiß es noch nicht. Aber als
er sich von mir verabschiedete, hatte er so eine gewisse Art an sich,
mich zu behandeln … Er ist nicht mein erster Liebhaber, und ich
habe das schon erlebt. Es ist nur eine leichte Distanziertheit und
irgendwie doch mehr, und dann …«
»Da täuschst du dich bestimmt«, sagte Maati und klang zum ersten
Mal seit Stunden überzeugt. »Er wird sich nicht von dir trennen.«
»Die anderen haben es auch getan.«
»Er nicht.«
»Immerhin ist er gegangen, und das nicht nur, weil er musste. Er
wollte von mir weg, und wenn er zurückkehrt, hat er Zeit zum
Nachdenken gehabt, und dann …«
»Aber Liat … Wir kennen uns zwar noch kaum, aber Otah war
mein erster Lehrer - und mein bester, wie ich mitunter denke. Er ist
anders als andere. Und er liebt dich. Das hat er mir erzählt.«
»Ich weiß nicht.«
»Du liebst ihn doch, oder?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, und das Schweigen, das nun kam, war
schlimmer als der Marsch durch den Regen. Sie wischte mit dem
Handrücken eine Träne weg. »Ich liebe Itani, und Itani kenne ich
auch. Aber Otah? Den Sohn eines Khais? Er ist … er ist einfach nicht
der, für den ich ihn gehalten habe, und ich bin nur ein Lehrling -
und das vermutlich auch nicht mehr lange. Wie können wir
angesichts solcher Unterschiede zusammenbleiben?«
»Du warst mit ihm zusammen, als er nur ein einfacher Arbeiter
war - das ist doch im Prinzip das Gleiche.«
»Nein. Er war sich trotz der bescheidenen Umstände stets seiner
edlen Herkunft bewusst. Mit so etwas kann ich nicht dienen - ich
bin einfach nur ich.«
»Otah ist einer der klügsten Menschen, die ich kenne«, sagte
Maati. »Er wird dich nicht verlassen.«
»Und warum nicht?«
»Weil er einer der klügsten Menschen ist, die ich kenne.«
Sie lachte über den Ernst in der Stimme des Jungen, aber auch,
weil sie sich so sehr wünschte, er möge recht haben. Und schließlich
auch, weil sie sonst nur hätte weinen können. Maati kam zu ihr und
legte ihr den Arm um die Schultern. Er roch nach Zedernseife - der
Seife, mit der Itani sich zu rasieren pflegte. Sie lehnte sich an seine
Schulter.
»Die nächsten Wochen«, sagte sie, als sie sich einigermaßen
gefangen hatte, »werden nicht leicht.«
»Nein«, pflichtete Maati ihr mit einem schweren Seufzer bei, »das
werden sie nicht.«
»Aber wir können einander helfen, sie durchzustehen, oder? sagte
Liat und versuchte, diese Frage nicht flehentlich klingen zu lassen.
Das Rauschen des Regens erfüllte die Stille, und sie schloss die
Augen. Schließlich raffte sich Maati auf zu sagen, was sie nicht zu
sagen vermocht hatte.
»Ich denke, ich brauche einen Freund, um das Ganze hier
durchzustehen«, erklärte er. »Vielleicht sind wir ja in der gleichen
Lage. Wenn ein angeschlagener Dichterlehrling, der oft das Gefühl
hat, mit den Nerven völlig am Ende zu sein, dich irgendwie trösten
kann, hätte er nichts dagegen.«
»Du musst aber nicht.«
»Du auch nicht, doch ich hoffe, du möchtest.«
Der kurze Kuss, den sie ihm gab, war schwesterlich gemeint,
verschlug ihm aber den Atem. Er ist bestimmt nur überrascht und
verlegen, dachte sie und lächelte. Er lächelte zurück.
»Wir sind schon ein trauriges Paar«, sagte sie dann. »Itani er
kommt sicher bald wieder.«
»Ja-, erwiderte Maati. »Und dann wird alles besser.«
Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stürzte krachend auf
den Boden des Hinterzimmers. Für einen Moment drangen Stimmen
und Musik aus dem Teehaus herein. Dann folgten Torish Weiss und
zwei seiner Leute dem Mann, den sie ins Zimmer gestoßen hatten,
und schlossen die Tür. Nun war es wieder still wie zuvor. Amat, die
an einem langen Holztisch saß, sammelte sich. Der Mann neben ihr
trug das einfache Gewand eines Feuerhüters und hatte den
Gesichtsausdruck eines Menschen, der einem Hundekampf zusieht.
Der Gestürzte kam schwankend auf die Knie. Er hatte ein Tuch
über dem Kopf, und seine dünnen Arme waren hinterm Rücken
zusammengebunden. Torish Weiss packte ihn an der Schulter,
sorgte unsanft dafür, dass er den Oberkörper gerade hielt, und
nickte einem seiner Leute zu. Als der ihm das Tuch vom Kopf zog,
schluckte Amat die Furcht herunter, die ihr wie ein Kloß im Hals
saß.
»Ist er das? fragte Torish Weiss.
»Ja«, sagte sie.
Ovi Mit hatte einen glasigen Blick, der nicht nur von Furcht oder
Wut zeugte, sondern auch davon, dass er mit bestimmten Kräutern
betäubt worden war, die man seinem Wein beigemengt hatte. Er
brauchte drei lange Atemzüge, um Amat einigermaßen deutlich ins
Auge zu fassen und wiederzuerkennen. Langsam rappelte er sich
auf.
»Niit-cha«, sagte Amat, als würde sie ein ganz normales
Geschäftsgespräch führen. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Der Bordellbesitzer stieß eine Flut wüster Beschimpfungen aus,
die erst versiegte, als Torish Weiss’ Schläger ihm einen Hieb ins
Gesicht versetzte. Amat faltete die Hände im Schoß. Ein
Blutstropfen erschien in Ovi Niits Mundwinkel, funkelte wie ein
Edelstein und lenkte sie ab.
»Wenn Ihr tut, was ich sage, Niit-cha«, begann sie erneut, »muss
diese Angelegenheit nicht unerfreulich enden.«
Er grinste und ließ dabei schiefe, blutverschmierte Zähne sehen.
Angst hatte er nicht, nein, er lachte nun sogar, und zwar
ausgesprochen unbekümmert. Amat wünschte, Torish Weiss’ Leute
hätten ihn in nüchternem Zustand hergebracht.
»Ich habe kein Geld für die Arbeit gesehen, die ich in Eurem Haus
geleistet habe, Ovi-cha. Also habe ich beschlossen, mir einen Anteil
an Eurem Betrieb zu sichern. Genauer gesagt bin ich zu der
Entscheidung gekommen, Euch auszuzahlen.« Sie zog ein Bündel
Papiere aus dem Ärmel und legte es auf den Tisch. »Ich biete Euch
einen fairen Preis.«
»Mein Betrieb ist unbezahlbar« stieß er hervor. »Ich hab mit drei
Mädchen in einer dunklen Seitenstraße angefangen und alles selbst
aufgebaut.«
Der Feuerhüter beugte sich vor und lächelte dabei weiter
distanziert, doch sein Blick wurde neugierig Amat hatte das
seltsame Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dabei
handelte es sich hier immerhin um eine Geschäftsbesprechung, bei
der sie - vorsichtig ausgedrückt - im Vorteil war. Dennoch war sie
ins Schwimmen geraten.
»Du musst mich schon umbringen, du alte Hexe. Sonst bring ich
dich um.«
»Es ist nicht nötig…«, begann sie, brach dann aber ab und machte
eine zustimmende Gebärde. Ovi Niit hatte recht. Was sich hier
zutrug, hatte nur den Anschein einer Geschäftsbesprechung.
Tatsächlich war es Mord. Zum ersten Mal trat eine gewisse
Anspannung in Ovis Miene, und sein Blick glitt zur Seite, zu Torish
Weiss.
»Egal, was sie dir bietet - ich zahle das Dreifache« sagte er.
»Amat-cha«, begann der Feuerhüter. »Ich weiß Eure Bemühungen
zu schätzen, aber es scheint mir unwahrscheinlich, dass dieser Mann
Eure Papiere unterschreiben wird.«
Amat seufzte zustimmend. Im Schankraum kreischte jemand vor
Lachen, doch die dicken Wände schirmten den Lärm so gut ab, dass
dieses Kreischen seltsam geisterhaft klang.
»Du kannst mich töten, aber du wirst mich niemals brechen«
erklärte Ovi und spreizte sich dabei stolz wie ein Kampfhahn.
»Damit kann ich leben« sagte Amat und nickte. Daraufhin trat
Torish Weiss dem Bordellbesitzer in die Kniekehlen. Die beiden
anderen Männer hielten Ovi fest, während ihr Anführer dem
Knienden eine Schlinge über den Kopf warf und sie mit einer
schnellen Drehung des Handgelenks so fest zuzog, dass sie Ovi in
den Hals schnitt. Das Gesicht des Bordellbesitzers wurde tiefrot
und verfärbte sich rasch ins Purpurne. Amat sah mit abartiger
Faszination zu. Es dauerte länger, als sie erwartet hatte. Als die
Männer schließlich die Schlinge lockerten, kippte Ovi Niit um wie
ein Sack Getreide.
Der Feuerhüter langte über den Tisch, nahm das Bündel zwischen
Daumen und Zeigefinger und zog es zu sich herüber. Amat wandte
sich ihm zu, als läge keine Leiche auf dem Fußboden.
»Ich nehme an, Ihr wisst jemanden, der Ovis Unterschrift
überzeugend fälschen kann«, sagte der Feuerhüter.
»Ich kümmere mich darum«, erwiderte Amat.
»Sehr gut. Sollte es Probleme mit der Wache geben, werde ich
schwören, dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie er seine
Unterschrift unter diese Papiere gesetzt hat«, erklärte der
Feuerhüter und zog einen Federkiel und ein kleines silbernes
Tintenfass aus dem Ärmel. »Ihr habt Niit-cha den von ihm
verlangten Preis gezahlt, und er hat dem Verkauf erfreut
zugestimmt.«
»Meint Ihr denn, dass die Wache nachfragen wird?«
Der Feuerhüter schraubte das Tintenfass auf, tunkte den Federkiel
ein und beglaubigte, dass das Geschäft korrekt zustande gekommen
war. Das Kratzen seiner Feder hörte sich an wie das Scharren eines
Vogels.
»Natürlich«, sagte er und schob die Papiere wieder zu ihr hinüber.
»Dafür wird sie schließlich bezahlt. Aber solange Ihr die Wache
bezahlt, sie gelegentlich Eure Ware testen lasst und sie nicht
provoziert, wird sie kaum genauer nachhaken. Ovi Niit ist nicht im
Vergnügungsviertel gestorben - ihre Ehre ist also nicht in Gefahr.
Amat musterte kurz die Unterschrift des Feuerhüters, zog dann
einen kleinen Lederbeutel vom Gürtel und gab ihn ihm. Er hatte
Anstand genug, nicht gleich am Tisch nachzuzählen, doch sie sah ihn
den Beutel in der Hand wiegen, ehe er in seinem Ärmel
verschwand.
»Es ist seltsam, im Zusammenhang mit dem, was hier geschehen
ist, das Wort Ehre zu hören« sagte Amat.
Der Feuerhüter machte eine höflich belehrende Gebärde, mit der
ein Meister einen fremden Lehrling zurechtweisen mag, und
erklärte: »Hätte seine Ehre nicht auf dem Spiel gestanden, hätte
Torish-cha nicht Ovi Niit, sondern Euch getötet.«
Torish Weiss kicherte, und Amat nickte lässiger, als ihr zumute
war. Der Feuerhüter erhob sich, verabschiedete sich knapp von
Amat und Torish und hatte auch für den Toten ein kurzes Nicken
übrig. Als er die Tür hinter sich schloss, schob Amat die
unterschriebenen Papiere in ihren Ärmel und musterte den Toten.
Er war kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, und sie hätte nicht
gedacht, dass seine Arme so dünn waren. Wie er so leblos dalag,
wirkte er seltsam verletzlich. Amat fragte sich zum ersten Mal, wie
Ovi Niit als Kind gewesen sein mochte und ob seine Mutter oder
seine Schwester ihn vermissen würde. Nein, dachte sie dann,
vermutlich nicht.
»Was sollen wir mit ihm machen? fragte Torish Weiss.
»Das, was man in diesem Fall so macht, schätze ich.«
»Wollt Ihr, dass er gefunden wird?«
»Das ist mir egal«, erwiderte Amat.
»Die Wache kann Vorwürfe gegen Euch besser ignorieren, wenn
er verschwindet«, sagte Torish halb zu ihr, halb zu seinen Leuten.
»Wir erledigen das«, sagte der Mann, der den Sterbenden am
rechten Arm festgehalten hatte. Dann trugen sie den Toten raus.
Vermutlich haben sie in der Seitenstraße eine Schubkarre stehen,
dachte Amat.
»Wann wollt Ihr das Haus übernehmen?«, fragte Torish Weiss, als
die beiden verschwunden waren.
»Bald.«
»Ihr werdet Schutz brauchen. Diese Kerle aus dem
Vergnügungsviertel überlassen Euch Ovis Bordell nicht einfach so,
nur weil Ihr einen von ihm unterschriebenen Kaufvertrag habt.» »Ja,
darüber wollte ich mit Euch sprechen« sagte Amat und wunderte
sich ein wenig darüber, wie fremd ihr die eigenen Worte schienen.
»Ich brauche Wächter für das Haus. Seid Ihr an dem Geschäft
interessiert?«
»Vielleicht« erwiderte Torish Weiss lächelnd. Es kam also nur
darauf an, ob sie sich über die Bedingungen einigen konnten. Gut.
Ihr Blick glitt dorthin, wo Ovi Niit gelegen hatte. Sie sagte sich, ihr
Unbehagen sei ganz normal und rühre lediglich daher, dass es
einem nun mal auf den Magen schlage, einen Menschen sterben zu
sehen. Dass sie jetzt ein Bordell besaß, dass sie ihr Geld also damit
verdienen würde, die Frauen und jungen Männer, mit denen sie
kürzlich noch Ess- und Schlafsaal geteilt hatte, an Freier zu
vermieten, war nichts, worüber sie sich Gedanken zu machen hatte.
Im Gegenteil: Das geschah geradezu im Namen der Gerechtigkeit.
Torish Weiss räusperte sich und riss Amat dadurch aus ihren
Gedanken. Er hatte ein breites Gesicht und breite Schultern, Narben
an Armen und Kinn und ein brutales Lächeln. Sein Blick war so
nachdenklich wie amüsiert.
»Ja?«
»Ihr habt Angst vor mir, stimmt’s?«
Amat lächelte und tat gelangweilt. »Ja. Aber vergesst nicht, was
dem letzten Mann zugestoßen ist, vor dem ich Angst hatte.«
Torish machte ein verdrießliches Gesicht. »Diese Sache ist zu groß
für Euch«, erklärte er.
Sie machte eine bestätigende, zugleich aber auch herausfordernd
wirkende Gebärde. Seine Miene bewies ihr, dass er sie genau
verstanden hatte. Er respektierte sie. Genau das hatte sie gehofft.
Sie ließ die Hände sinken und lehnte sich an den Tisch.
»Als ich noch sehr klein war«, sagte sie, »stieß meine Schwester
mich von einem hohen Dach. Ich war mir sicher, dass ich sterben
würde, aber ich habe nicht geschrien. Ich wusste ja, dass das nicht
helfen würde.«
»Und?«
»Was ich jetzt tue, mag schwerer sein als mir lieb ist, doch ich
werde es tun. Mir Sorgen darüber zu machen, ob ich es schaffe, hilft
mir nicht.«
Er lachte leise, doch es klang wie ein Axthieb.
»Ihr seid hart im Nehmen«, sagte er anerkennend.
Bin ich nicht, dachte sie lächelnd. Aber es ist gut, dass du das so
siehst.
13

An einem kühlen, dunstigen Morgen passierte das Schiff die große


Insel mit dem weißen Wachturm und lief in die Bucht von Yalakeht
ein. Otah stand an der Reling und sah die vagen Umrisse der
bleichen Hügel näher kommen, bis das Blassgrün herbstlicher
Kiefern zu erkennen war. Die großen, grauen Gebäude von
Yalakeht lagen an einer ruhigen Bucht. Nur gedämpft drang der
Lärm des Hafens durch die Luft.
Von den Fahnen des Hafenmeisters eingewiesen, erreichte das
Schiff den Anleger, als die Sonne im Zenit stand. Otah hatte kaum
den Fuß aufs Kopfsteinpflaster gesetzt, da hörte er schon die große
Neuigkeit.
Alle schienen nur darüber zu sprechen, dass der dritte Sohn von
Khai Udun seinen letzten Bruder getötet hatte. Die beiden hatten
sich in Chaburi-Tan ausfindig gemacht und waren in Hafennähe mit
Messern aufeinander losgegangen. Oder der zweite Sohn, den Otah
am Hof von Khai Saraykeht gesehen hatte, war vergiftet worden.
Oder er hatte seinen jüngeren Bruder aus dem Hinterhalt
überfallen, dabei aber den Kürzeren gezogen. Im Hafen, auf den
Straßen und in den Teehäusern mischten sich die Versionen des
Tathergangs mit älteren, besser bekannten Geschichten, mit
Nachrichten vom Vorjahr und mit wilden, neuen Spekulationen über
das, was geschehen sein mochte. Otah setzte sich ins Hinterzimmer
eines Teehauses am Hafen und lauschte den wuchernden
Schilderungen. Der jüngste Sohn werde den Platz seines Vaters
einnehmen - das sei ein gutes Zeichen, hörte er. Wenn der Jüngste
an die Macht komme, zeige das, wie kraftvoll die Familie sei. Es
bedeute, dass der nächste Khai besonders begabt und tapfer sein
werde.
Für Otah hieß es dagegen, dass dieser Khai zwei seiner Brüder
getötet und die übrigen, die jünger waren als er, vertrieben hatte.
Sie trugen jetzt irgendwo Brandmale. Es sei denn, sie hatten das
Glück, Dichter wie Heshai von Saraykeht zu sein.
»Ihr macht ja ein Gesicht« sagte eine vertraute Stimme.
»Orai« rief Otah erstaunt und begrüßte ihn. Der Kurier setzte sich
ihm gegenüber und winkte der Bedienung. Kurz darauf wurden
zwei Schüsseln Fisch mit Reis und eine Kanne Rauchtee mit
zartgrünen Keramikschalen gebracht. Otah wollte der Bedienung
bedeuten, das habe er nicht bestellt, doch Orai hielt ihn zurück.
»Das ist bei meinem Unternehmen so üblich. Nach der Reise laden
wir unsere Weggefährten zum Essen ein.«
»Wirklich?«
»Nein« sagte der Kurier, »aber ich schätze, ich habe mehr Geld als
Ihr, und der Fisch schmeckt hier ausgezeichnet.«
Der Mann, der sie bediente, war bei ihnen stehen geblieben. Er
blickte besorgt, bis Otah schließlich lachte.
»Lasst mich wenigstens meine Hälfte bezahlen« sagte er, doch
Orai machte eine aufschiebende Gebärde, die »Nächstes Mal«
bedeutete.
»Also, Itani« sagte er dann. »Ist Eure Reise hier zu Ende? Oder
wie weit flussaufwärts lebt Eure Schwester?«
»Etwa einen Tag entfernt, jedenfalls mit dem Schiff«, log Otah.
»Zu Fuß zwei Tage. Das hat sie mir jedenfalls gesagt. Ich bin noch
nie dort gewesen.«
»Ein paar Tage mehr, und Ihr könntet das Dorf des Dichters
besuchen. Dort seid Ihr auch noch nicht gewesen, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Die Architektur ist wirklich eine Reise wert.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Der Fisch war sehr gut. Limone gab ihm etwas Frisches, und die
Soße war sehr scharf. Nach ein paar Bissen merkte Otah, wie
hungrig er war.
»Und wie gefallen Euch Seereisen - jetzt, wo Ihr die erste hinter
Euch habt?«
»Es ist seltsam« antwortete Otah, »doch ich habe noch immer das
Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen.«
»Das gibt sich mit der Zeit. Als ich jung war, hieß es, Seereisen
seien wie Frauen: Sie verändern einen. Und keine so sehr wie die
Erste.«
»Da geht es mir anders« sagte Otah. »Ich glaube, ich bin der
Gleiche wie bei der Abreise aus Saraykeht. Zehn Finger, zehn
Zehen, keine Flossen.«
Orai goss sich lachend noch eine Schale ein, nahm sie in die Hand
und blies darüber, um den Tee zu kühlen. Otah aß seinen letzten
Reis und lehnte sich zurück. Als er feststellte, dass der Kurier ihn
musterte, machte er eine fragende Gebärde, die Orai aus einem
Tagtraum zu holen schien.
»Ich muss gestehen, Itani, dass ich Euch nicht zufällig hier
getroffen habe. Der Fisch ist wirklich ausgezeichnet, aber entdeckt
hab ich Euch, weil ich nach Euch gefragt habe. Ich arbeite nun seit
acht Jahren für das Haus Siyanti, fünf Jahre davon auf Reisen. In
dieser Zeit hab ich einiges gelernt und bilde mir ein, Menschen recht
gut einschätzen zu können. In den letzten Wochen auf dem Schiff
seid Ihr mir als interessanter Mensch aufgefallen. Ihr seid klug,
verbergt es aber. Ihr seid getrieben, wisst aber noch nicht, wohin.
Und Ihr reist gern - Ihr habt geradezu eine Gabe dafür.«
»Das sagt Ihr nur, weil ich nicht seekrank wurde« erwiderte Otah,
um das Gespräch wieder ins Unverfängliche zu steuern.
»Am ersten Tag einer Schiffsreise mit gesundem Appetit essen zu
können ist eine Gabe, die man nicht unterschätzen sollte. Die ganze
Zeit über habe ich gedacht, dass Ihr alle Voraussetzungen für einen
guten Kurier mitbringt. Und ich habe inzwischen genug Einfluss in
meinem Unternehmen, um Euch mit einem Empfehlungsschreiben
helfen zu können, falls Ihr Interesse habt. Man würde Euch zwar
anfangs keine wichtigen Aufgaben anvertrauen, aber das macht es
nicht weniger spannend, sich die Städte anzusehen, in die einen die
Arbeit führt. Es ist kein leichtes Leben, aber abwechslungsreich.
Und es könnte Euch gefallen.«
Otah neigte den Kopf zur Seite und merkte, dass Dankbarkeit und
Verlegenheit ihn gleichermaßen erröten ließen. Der Kurier nippte an
seinem Tee und ließ seine Worte nachwirken. Schließlich machte
Otah eine zwar dankbare, aber ablehnende Gebärde.
»Ich gehöre nach Saraykeht«, sagte er. »Es gibt dort einiges, was
ich zu Ende bringen muss.«
»Euer Vertrag. Ich verstehe.«
»Es gibt mehr als den Vertrag. Ich habe Freunde dort.«
»Und das Mädchen«, sagte Orai.
»Ja, Liat. Es würde ihr kaum gefallen, einen Mann zu haben, der
immer unterwegs ist.«
Orai nickte, schien aber Vorbehalte zu haben, die sich schließlich
zu einer Frage verdichteten, obwohl er womöglich eine ganz andere
hatte stellen wollen.
»Wie alt seid Ihr?«
»Zwanzig.«
»Und sie?«
»Siebzehn.«
»Und Ihr liebt sie« sagte Orai. Otah hörte die gut verborgene
Enttäuschung in seiner Stimme. »Sie ist Euer Herzblatt.«
»Das weiß ich nicht. Aber ich will es herausfinden.«
Orai lächelte und machte eine ermunternde Gebärde, zog dann
aber zögernd etwas aus dem Ärmel. Es war ein vernähter
Briefumschlag, in dessen grünes Wachssiegel ein reich geschmückter
Stempel gedrückt war.
»Ich hatte gehofft, Ihr würdet meinen Vorschlag annehmen« sagte
der Kurier und reichte Otah den Umschlag. »Sollte sich
herausstellen, dass diese erstaunliche junge Frau Euer Herz doch
nicht besitzt, betrachtet mein Angebot weiter als gültig.«
Otah schob sich den Umschlag in den Ärmel und machte eine
Gebärde der Dankbarkeit. Er spürte ein unvernünftiges Zutrauen zu
diesem Mann. Und ein Behagen, das durch ihre dreiwöchige
Bekanntschaft - trotz der Enge auf dem Schiff - nicht zu erklären
war. Vielleicht, dachte er, hat meine erste Seereise mich doch
verändert.
»Orai« fragte er, »seid Ihr je verliebt gewesen?«
»Mehrmals. Und in sehr nette Frauen.«
»Kann man jemanden lieben, dem man nicht vertraut?«
»Aber ja«, sagte er. »Ich habe eine Schwester, der ich keine zwei
Kupfermünzen geben würde, wenn ich sie zurückhaben wollte.
Wenn man jemanden liebt, dem man nicht vertraut, kommt es
darauf an, den richtigen Abstand zu ihm zu finden.«
»Den richtigen Abstand.«
»Meine Schwester und ich sind einander herzlich zugetan, weil wir
in verschiedenen Städten leben. Müssten wir im selben Haus
wohnen, wäre es vermutlich ziemlich unerfreulich.«
»Bei Geschwistern verstehe ich das. Aber bei der Frau, die man
liebt?«
Orai schüttelte den Kopf. »Nach meiner Erfahrung kann man mit
einer Frau schlafen und ihr misstrauen oder sie lieben und ihr
misstrauen, aber Sex, Liebe und Misstrauen zugleich - das
funktioniert nicht.«
Otah nippte an seinem Tee. Er war nur noch lauwarm. Orai
wartete ab. Sein kindliches Gesicht mit dem ergrauenden Bart
blickte ernst. Nebenan brachen zwei Männer auf, und der kalte
Luftzug, als die Tür geöffnet wurde, ließ Otah erschauern. Er setzte
die grüne Schale ab, legte die Hände nebeneinander auf den Tisch
und fühlte sich seltsam benommen.
»Ehe ich Saraykeht verlassen habe« sagte er langsam, »habe ich
Liat einige Dinge erzählt. Über meine Familie.«
»Ohne ihr zu trauen?«
»Weil ich sie liebe und dachte, ich sollte ihr vertrauen.«
Er hob den Kopf und sah Orai in die Augen. Der Kurier machte
eine ebenso verstehende wie mitfühlende Geste. Daraufhin brachte
Otah mit einer Gebärde zum Ausdruck, er wolle sich höheren
Mächten fügen - den Göttern, dem Schicksal oder auch nur dem
Gewicht der Umstände.
Es schien nichts mehr zu reden zu geben, und Orai erhob sich.
»Passt gut auf den Brief auf«, sagte er. »Und egal, wie Ihr Euch
entscheidet, ich wünsche Euch nur das Beste. Es war schön, mit
Euch zu reisen, und so was ist selten.«
»Danke«, sagte Otah.
Der Kurier schlang sich das Gewand fester um den Leib und ging.
Otah trank seinen Tee aus und machte sich ebenfalls auf den Weg.
Die Bucht von Yalakeht lag breit und ruhig, ja reglos da. Das also
war der Hafen, in den ihn seine erste Seereise geführt hatte. Nervös
wandte er sich mal nach Norden, mal nach Westen und ging durch
die nassen, engen Straßen der Stadt zum Flusstor, um von dort
weiterzureisen.
»So ein Schwachsinn!« rief der Einäugige und warf die Unterlagen
zu Boden. Sein Gesicht war rot geworden; nur die Narben, die
kreuz und quer über sein Gesicht verliefen, leuchteten weiß.
Obwohl Amat den Blick nicht von Ovi Niits selbsternanntem
Sprecher abwandte, spürte sie, dass die Übrigen die Sache genauso
sahen. »Das hätte er nie getan.«
Der Schankraum des Bordells war überfüllt, doch die dort
Versammelten waren nicht als Kunden gekommen - zum einen, weil
es zu früh war und der abendliche Trubel noch nicht begonnen
hatte; zum anderen, weil die Wache Ovi Niits Bordell auf Amats
Ersuchen hin geschlossen hatte und noch immer zugegen war. Die
Wache bestand aus großen, finster dreinblickenden Männern, die
die Farben der großen Bordelle trugen und dadurch zum Ausdruck
brachten, dass sie sich keinem einzelnen Betrieb, sondern dem
Vergnügungsviertel im Ganzen verpflichtet fühlten. Sie waren die
Schutztruppe des Lasters.
Torish Weiss und seine Leute warteten ein gutes Stück hinter
Amat. Ihr gegenüber verteilten sich - an die Wand gelehnt oder auf
Tischen und Stühlen sitzend - die Wächter und Huren von Ovi Niits
Haus. Amat stutzte und konnte ein Lächeln nicht ganz
unterdrücken. Ovi Niits Haus? Nein, es gehörte nun ihr.
»Hat er aber«, sagte sie. »Wenn er Euch das nicht gesagt hat, habt
Ihr ihm vielleicht nicht so nahe gestanden, wie Ihr dachtet. Ihr
könnt diese Unterlagen übrigens gern verbrennen das ändert nicht
das Geringste.«
Der Einäugige wandte sich mit einer Gebärde, in der seine ganze
Verachtung für Amat lag, an den Anführer der Wache, einen
dunkeläugigen Mann mit dünnem, geflochtenem Bart, der darauf in
keiner Weise reagierte.
»Die sind doch gefälscht« sagte der Einäugige. »Sie sind gefälscht,
und das wisst Ihr genau. Wenn Niit-cha seinen Laden verkauft
hätte, dann sicher nicht an eine Hexe wie die da.«
»Ich habe mit dem Feuerhüter gesprochen, der das korrekte
Zustandekommen des Vertrags mit seiner Unterschrift bestätigt
hat«, sagte der Anführer der Wache.
»Und wer war das?«, fragte ein dünner, grauhaariger Mann.
»Marat Golu, ein Feuerhüter im Weberviertel.«
Ein Murmeln lief durch den Raum. Amat wurde mulmig zumute.
Dieses Detail hätte sie lieber unterschlagen. Der Grauhaarige war
schlau.
»Der?«, fragte der Einäugige. »Wir haben hier Mädchen, die
einiges mehr kosten als er.«
Amat stemmte die Hände in die Hüften und fragte mit strenger
Miene, aber freundlicher Stimme: »Wollt Ihr damit sagen, ein Utkhai
sei in einen Betrug verwickelt?«
»Allerdings!«, rief der Einäugige. Der Grauhaarige schürzte die
Lippen, schwieg aber. »Seit dem Tod von Rathvi Schwarz ist Bhadat
Coll Stellvertreter von Niit-cha und hat das Haus nach seinem Tod
bekommen sollen.«
»Niit-cha ist aber nicht tot«, sagte Amat. »Er hat mir sein Haus
verkauft. Ihr könnt den Vertrag gern lesen - vorausgesetzt, Ihr
könnt überhaupt lesen.«
»Steckt Euch den Vertrag sonst wohin«, rief der Einäugige. In
seinen Mundwinkeln sammelte sich Schaum. Seine gewalttätige Seite
stand kurz vor dem Ausbruch. Amat schnippte mit Daumen und
Ringfinger. Mochte sie auch eine geradezu panische Angst
verspüren: Einmal mehr erwiesen sich jene Qualitäten als stärker,
die sie zur Verwalterin eines großen Handelshauses gemacht hatten.
»Meine Herren«, sagte sie zur Wache, »dieser Mann ist entlassen.
Bitte schafft ihn raus.«
Das hatte die erhoffte Wirkung: Der Einäugige wetterte los,
brüllte wie ein Tier. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand, das
er wohl aus dem Ärmel gezogen hatte, und ging auf Amat los. Sie
zwang sich, nicht zusammenzuzucken, als die Wachen ihn
niederstachen.
Nun war es völlig still. Amat musterte die Bewohner des Hauses -
ihres Hauses! - und versuchte herauszufinden, was sie denken und
empfinden mochten. Viele Männer hier sahen ihr Leben in Trümmer
fallen. Bei den Frauen aber waren Unglaube, Verwirrung und
womöglich auch ein Hoffnungsschimmer auszumachen. Zwei von
Torishs Männern hoben den Sterbenden auf und schleppten ihn
raus. Die Wachen wischten sich das Blut von den Klingen, während
ihr Anführer sich nachdenklich über den Bart strich und sich an die
Versammlung wandte.
»Damit eines klar ist«, sagte er. »Die Wache erkennt den Vertrag
als gültig an. Das Haus ist rechtmäßiges Eigentum von Amat Kyaan.
Sie hat hier das Sagen, und falls es Streit gibt, der den Frieden des
Viertels gefährdet, kriegt ihr es mit uns zu tun.«
Der Grauhaarige trat von einen Fuß auf den anderen. Seine Stirn
war gerunzelt, seine Hände waren unruhig.
»Also keine Dummheiten« fügte der Anführer der Wache hinzu
und musterte dabei, wie Amat bemerkte, den Grauhaarigen scharf.
Für einen Moment lag Ärger in der Luft, doch dann war es vorbei.
Die ganze Sache stank zum Himmel, und das war allen klar. Aber es
war ohne Bedeutung, denn die Rückendeckung durch die Wache
bedeutete die Legalisierung ihres Betrugs.
»Heute Abend bleibt der Laden geschlossen« erklärte Amat.
»Torish-cha und seine Männer sind ab jetzt für die Sicherheit im
Haus verantwortlich. Wer Waffen besitzt, hat sie sofort abzugeben.
Jeder, bei dem Waffen gefunden werden, wird bestraft. Wer eine
Waffe zieht, wird sofort auf die Straße gesetzt. Denkt daran:
Solange eure Arbeitsverträge noch nicht abgelaufen sind oder ich
euch nicht entlassen habe, seid ihr mein Eigentum. Ich werde die
Wache bitten zu bleiben, bis das Haus vollständig auf Waffen
durchsucht ist. Torish-cha?«
Die Männer, die hinter Amat gestanden hatten, traten vor. Auch
der Anführer der Wache kam zu ihr.
»Da habt Ihr es ja mit ein paar feinen Vipern zu tun« sagte er,
während Amats Schläger und Halsabschneider begannen, Ovi Niits
Schläger und Halsabschneider zu entwaffnen. »Seid Ihr sicher, dass
Ihr mit diesem Gesindel arbeiten wollt?«
»Die gehören jetzt mir - im Guten wie im Bösen.«
»Die Wache wird Euch den Rücken stärken, doch Ihr könnt nicht
erwarten, dass sie begeistert ist. Egal, was Ihr getan habt, es hat
sich außerhalb unseres Viertels zugetragen. Doch einige Leute
halten das, was hier geschieht, für abgekartet. Eure Probleme sind
längst noch nicht ausgestanden.«
»Zeiten des Übergangs sind immer schwierig« entgegnete Amat
leichthin und machte dabei eine so beiläufige Gebärde, dass es fast
wie eine Zurückweisung wirkte. Der Anführer der Wache schüttelte
den Kopf und wandte sich ab.
Die Waffensuche ging mit langjähriger Erfahrung vonstatten.
Amat folgte den Wachen langsam und sah sich die verschlissenen
Matratzen und das Durcheinander in den Lagerräumen an. Das
Haus war in ebenso schlechtem Zustand wie früher Ovi Niits
Geschäftsbücher. Das würde sich ändern. Alles würde sich ändern.
Plötzlich überkam sie eine ebenso mächtige wie unerwartete
Traurigkeit. Sie wischte die Tränen weg. Dafür war jetzt keine Zeit.
Dafür wäre nie mehr Zeit. Nie wieder.
Kaum war die Suche beendet und die Wache gegangen, rief Amat
ihre Leute - ihre Vipern - im Aufenthaltsraum zusammen. Die Rede,
die sie vorbereitet und immer wieder im Kopf gehalten hatte, kam
ihr plötzlich kraftlos vor. Sie stand am Kopfende eines langen
Tisches und atmete tief ein und langsam aus.
»Nun …« sagte sie.
Dann erklang eine Stimme aus der Menge.
»Großmutter? Bist du es wirklich?«
Der das gefragt hatte, war ein Junge von fünf, sechs Jahren. Amat
erinnerte sich, dass er mal morgens auf einer Bank geschlafen hatte,
als sie aus ihrer höllischen kleinen Kammer gekommen war, um sich
einen Teller Essen zu holen. Er hatte geschnarcht.
»Ja«, sagte sie. »Ich bin zurückgekommen.«
In den nächsten Wochen besserte sich Heshais Zustand nicht,
schien sich aber auch nicht zu verschlechtern. Sein schütterer Bart
wurde länger, und er verlor einiges an Gewicht, legte dann aber
langsam wieder zu. Er stand inzwischen auf und streifte durchs
Haus, verließ es aber nur nachts, um zum Teich hinunterzugehen
und ins schwarze Wasser zu starren. Allein Maati wusste, dass
Heshai abends weniger als morgens aß, sich nur umkleidete, wenn
ihm frische Sachen hingelegt wurden, und bisweilen badete, wenn
sein Schüler ihm die Wanne mit Wasser füllte.
Zum Glück war die Baumwollernte vorüber, und es gab keine
offiziellen Anlässe, bei denen die Fähigkeiten des Dichters gefragt
waren. Der Khai sandte Heshai seine Ärzte, doch der Dichter
weigerte sich, sie zu empfangen. Diener, die ihn anzusprechen
wagten, lernten bald, seinem Schüler ihre Fragen zu stellen.
Manchmal war Maati Mittelsmann, oft aber traf er Entscheidungen
einfach selbst.
Was sein eigenes Leben anging, befand Maati sich in einem
seltsamen Schwebezustand. Wenn er sich nicht gerade um seinen
kranken Meister kümmerte, gab es nichts, womit er sich nicht
beschäftigte, und bald stellte er fest, dass er sich immer mehr von
seinen Empfindungen leiten ließ. Wenn er sich ängstlich oder
überfordert fühlte, las er in dem von Heshai verfassten Buch, um
dort Einsichten zu finden, die ihm helfen könnten, falls man ihm
befehlen sollte, Samenlos zum Einsatz zu bringen. Wenn er sich
schuldig fühlte, versuchte er, den Dichter in ein Gespräch zu
verwickeln. Und wenn er sich - wie so oft - einsam fühlte, machte er
Liat Chokavi ausfindig. Manchmal träumte er von ihr und dem
raschen Kuss, den sie ihm gegeben hatte.
Seine Empfindungen für sie waren vielschichtig, denn sie war
zugleich sehr schön, seine gute Freundin und die Geliebte seines
Freundes Otah. Doch das schadete nicht, weil er nicht vorhatte, an
diesem Zustand etwas zu ändern. So blieb sie seine gute Freundin
und die einzige Vertraute, die er in der Stadt hatte.
Weil er ihre Gewohnheiten und die Orte, an denen sie sich
aufhielt, inzwischen gut kannte, fand er Liat problemlos, als ein
Palastsklave ihm mit dem Frühstück die Nachricht brachte. Der
Ausblick lag westlich vom Hafen an einem schmalen Strand, den sie
ihm eines Abends gezeigt hatte. Teils schon entlaubte Bäume und
eine Biegung der Küstenlinie verbargen die Stadt. Liat saß an eine
Granitplatte gelehnt auf einem Felsvorsprung und blickte auf die
Wellen hinaus, ohne sie zu sehen. Beim Näherkommen raschelten
Maatis Füße im welken Laub. Liat drehte sich um, sah, dass er es
war, und wandte sich wortlos wieder dem Wasser zu. Er trat neben
sie, schob mit dem Fuß das Laub beiseite und setzte sich.
»Dann stimmt es also wirklich?« fragte er. »Amat Kyaan hat ihre
Stelle aufgegeben?«
Liat nickte.
»Wilsin-cha ist bestimmt wütend.«
Sie zuckte die Achseln. Maati beugte sich vor und stützte die
Ellbogen auf die Knie. Es war Flut. Die auflaufenden Wellen
schlugen an den Strand und ließen ihren Vorgängerinnen kaum Zeit
zum Rückzug. Im Osten schrien kreisende Möwen, und am Horizont
lag ein mächtiges galtisches Schiff auf Reede. Das waren die
einzigen Anzeichen der Stadt. Maati fuhr so lange mit dem Absatz
durch den Haufen welker Blätter unterhalb des Felsvorsprungs, bis
der dunkle Boden zum Vorschein kam.
»Hast du davon gewusst?«
»Sie hat es mir nicht erzählt« sagte Liat. Ihre Stimme klang ruhig,
zugleich aber kraftlos und leer. »Sie hat einfach aufgehört. Ihre
Wohnung war ausgeräumt - bis auf eine Kiste mit Unterlagen des
Hauses und einen Brief an Wilsin-cha.«
»Dann warst wenigstens nicht nur du überrascht. Sie hat es
niemandem gesagt. Weißt du, warum sie gegangen ist?«
»Nein«, antwortete Liat. »Aber ich mache mir Vorwürfe. Wenn ich
bessere Arbeit geleistet und das Unternehmen nicht derart in
Verlegenheit gebracht hätte …«
»Du hast nur getan, was Wilsin dir aufgetragen hat.«
»Vielleicht« sagte Liat. »Aber das dürfte ohne Bedeutung sein.
Amat ist weg, und Wilsin-cha traut mir nicht das Geringste zu. Ich
bin nur ein Lehrling ohne Ausbilderin.«
»Nun, da teilen wir immerhin das gleiche Schicksal.«
Sie lachte kurz auf. »Das tun wir wohl« sagte sie und nahm seine
Hand. Maatis Herz raste, und eine Art Panik ließ seinen Mund nach
Kupfer schmecken. Eine Art Panik - ins Strahlende gewendet. Er
bewegte sich nicht und tat nichts, was Liat dazu hätte bringen
können, seine Hand loszulassen.
»Wo mag er jetzt wohl sein?« fragte er und brachte ihren
gemeinsamen Freund ins Spiel, um deutlich zu machen, dass er
diesen Moment nicht missverstand. Zwischen uns beiden - so wollte
er ihr zu verstehen geben - herrschen allein freundschaftliche
Gefühle, nicht mehr.
»Er dürfte längst in Yalakeht sein« erwiderte Liat. »Vielleicht ist er
sogar schon im Dorf des Dai.«
»Dann wird er bald zurück sein.«
»Erst in ein paar Wochen.«
»Das ist eine lange Zeit« murmelte Maati.
»Geht es Herrn Heshai-kvo endlich besser? »Weder besser noch
schlechter. Er schläft zu viel und isst zu wenig, und sein Bart »Selbst
der macht keine Fortschritte? »Er wird länger, bleibt aber schütter.
Er sollte ihn wirklich abnehmen.«
Liat zuckte die Achseln, und Maati hatte den Eindruck, diese
Bewegung habe sie näherrücken lassen. So ist das also, wenn man
mit einer Frau einfach nur befreundet ist, sagte er sich. Diese
schlichte Vertrautheit ist wirklich angenehm.
»Als ich ihn besuchen kam, schien sich sein Zustand zu bessern«,
sagte Liat.
»Er gibt sich wahrscheinlich Mühe, wenn du da bist. Ich weiß
nicht, warum.«
»Weil ich ein Mädchen bin.«
»Ja, vielleicht.«
Liat ließ seine Hand los, streckte sich und stand auf. Maati seufzte
und spürte, dass ein ungreifbarer, herrlicher Moment seines Lebens
vorbei war. Er kannte Heldengedichte, die von Augenblicken in der
Jugend erzählten, die sich Männern für immer ins Herz gegraben
hatten, all die Jahre ihres Lebens frisch, süß und gegenwärtig
geblieben waren und am Totenbett auf sie warteten, um sie sicher in
den letzten Schlaf zu geleiten. Maati dachte, dass dies einer jener
Momente gewesen sein musste: der Geruch des Meeres, der
wunderbare Himmel, die Blätter, das Rauschen der Wellen und
seine Hand, auf der noch die Wärme von Liats Berührung zu liegen
schien.
»Dann sollte ich wohl öfter kommen«, erklärte sie. »Wenn ihm das
hilft.«
»Ich hab dir das nicht aufdrängen wollen«, sagte er und stand
ebenfalls auf. »Aber wenn du Zeit hast …«
»Ich glaube nicht, dass ich demnächst anspruchsvolle Aufgaben
bekommen werde. Außerdem gefällt mir das Haus des Dichters. Es
ist sehr schön.«
»Und noch schöner, wenn du da bist.«
Liat lächelte. Maati nickte zufrieden, und sie sah ihn fragend an.
»Ich habe dich aufgeheitert«, erklärte er.
Liat dachte darüber nach und sah mit zusammengekniffenen
Augen aufs Meer hinaus. Dann nickte sie, als habe er sie auf eine
Straße hingewiesen, die ihr noch nie aufgefallen war. Oder auf einen
Baum, der sich in besonderer Weise verzweigte. Als sie wieder
lächelte, war ihre Miene weicher geworden.
»Vermutlich« sagte sie. »Aber eigentlich ist alles noch immer ein
schreckliches Durcheinander.«
»Ich werde später versuchen, die Welt in Ordnung zu bringen.
Nach dem Mittagessen. Willst du zurückgehen?«
»Das wird das Beste sein. Man muss sich ja nicht den Ruf
erwerben, gleichzeitig unzuverlässig, unfähig und auch noch
beleidigt zu sein.«
Sie gingen in die Stadt zurück. Als er den Weg allein und in Sorge
um Liat gekommen war, schien er ihm länger gewesen zu sein.
Obwohl sie nun eigentlich nur schlenderten, war ihm, als hätten sie
die Stadt binnen Minuten erreicht. Sie gingen die Perlenstraße
entlang, hielten an einem Stand, wo ein Junge von kaum acht Jahren
mit großem Ernst in Puderzucker gewendetes Gebäck verkaufte,
und hörten einem alten Bettler zu, der mit einer rauen, aber
wohlklingenden Stimme sang, die von langer Trauer zeugte und
Maati fast zu Tränen rührte. Dann erreichten sie schließlich doch die
Kreuzung, an der Liat zum Anwesen von Wilsin-cha abbiegen
würde, während Maati in die bedrückende Atmosphäre des
Dichterhauses zurückkehren musste, ehe die Sonne im Zenit stand.
»Also«, fragte Liat so lässig, als wüsste sie die Antwort längst,
»soll ich vorbeikommen, wenn ich mit der Arbeit fertig bin?«
Maati tat, als müsse er überlegen, und machte dann eine
einladende Geste. Sie nickte, wandte sich aber nicht zum Gehen.
Maati merkte, dass er die Stirn runzelte. Sie sah ihn fragend an, und
er wusste nicht recht, was er sagen sollte.
»Liat, Ihr begann er.
»Ich dachte, wir duzen uns.«
Er hob abwehrend die Hände, als wollte er sagen: Lass mich bitte
ausreden.
»Liat, mir ist klar, dass Otah nur abreisen musste, weil alles
schiefgegangen ist. Und ich habe sicher nicht gewollt, was Samenlos
angestellt hat. Aber es ist sehr wichtig für mich, Euch näher kennen
gelernt zu haben, und ich möchte Euch sagen, wie sehr ich unsere
Freundschaft zu schätzen weiß.«
Liat musterte ihn, ohne dass er ihre Miene hätte deuten können.
Verärgert wirkte sie jedenfalls nicht.
»Habt Ihr diese Ansprache geübt?«, fragte sie dann.
»Nein. Das ist mir einfach in den Sinn gekommen.«
Sie lächelte kurz, doch dann verdüsterte sich ihr Blick, als habe
Maati einen wunden Punkt berührt. Ihm wurde bang ums Herz. Liat
sah ihm in die Augen und lächelte erneut.
»Es gibt da etwas, das Ihr sehen solltet, Maati. Kommt mit Mir.«
Er folgte ihr schweigend zu Wilsins Anwesen. Mit jedem Schritt
nahm seine Besorgnis zu. Die Leute, denen sie im Hof und auf den
Fluren begegneten, nickten ihnen zu und schienen kaum überrascht.
Maati bemühte sich, so zu wirken, als sei er rein geschäftlich
unterwegs. Als Liat ihre Tür schloss, machte er eine
entschuldigende Gebärde.
»Liat«, begann er, »falls ich etwas getan haben sollte, das Euch …«
Sie berührte seine Hände, und er ließ sie sinken. Überrascht stellte
er fest, wie nah sie ihm gekommen war, ja dass sie sich an ihn
schmiegte und ihn küsste. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu
bekommen. Als sie sich wieder von ihm löste, war ihre Miene
weich, traurig und sanftmütig. Sie strich ihm behutsam durchs Haar.
»Geh. Ich komme heute Abend ins Haus des Dichters.«
»Ja«, war alles, was ihm dazu einfiel.
Er hielt in den Gärten der niedriger gelegenen Paläste an, setzte
sich auf den Rasen und drückte die Fingerspitzen an den Mund, als
wollte er sich davon überzeugen, dass seine Lippen wirklich
existierten und noch an Ort und Stelle waren. Die Welt schien
plötzlich ganz und gar verändert, wie im Traum. Sie hatte ihn
geküsst - tatsächlich geküsst. Sie hatte ihm durchs Haar gestrichen.
Es war unglaublich. Und es war schrecklich. Als sei er einen
vertrauten Weg gegangen und plötzlich in einen Abgrund gestürzt.
Um nun zu fliegen.
14

Das Floß bot Platz für acht Personen. Vier Ochsen schleppten es
flussaufwärts und schritten langsam, aber unermüdlich den
Treidelpfad entlang, der sich seit Generationen am Ufer hinzog. In
seinen Umhang und in kratzige Wolldecken gehüllt, die der Schiffer
und seine kaum neunjährige Tochter ihm gegeben hatten, schlief
Otah am Heck. Morgens zündete das Mädchen ein Kohlebecken an
und kochte süßen Reis mit Mandelmilch und Zimt. Abends, wenn
sie am Ufer festgemacht hatten, bereitete ihr Vater das Essen zu -
meist ein Huhn und Gerstenbrei.
Während der Flussfahrt tat Otah kaum etwas anderes, als das
langsame Vorbeiziehen der Bäume zu beobachten, dem Wasser und
den Ochsen zu lauschen, die Sympathie des Mädchens mit Späßen
und gemeinsamem Singen zu gewinnen und den Schiffer durch
Fragen nach dem Leben auf dem Fluss und durch aufmerksames
Zuhören für sich einzunehmen. Am vorletzten Reisetag hatte sich
Otahs Verhältnis zu Vater und Tochter so gut entwickelt, dass der
Schiffer eine Schale Pflaumenwein mit ihm teilte, als die anderen
Reisenden sich schlafen gelegt hatten. Weder Vater noch Tochter
erwähnten je die Mutter des Mädchens, und Otah fragte nicht
danach.
Die Reise endete in einer Stadt, die größer war als alle Siedlungen,
die Otah seit Yalakeht gesehen hatte. Die breiten Straßen waren
gepflastert, und die bis zu drei Stockwerke hohen Häuser blickten
auf den Fluss oder in den Kiefernwald ringsum. Wie wohlhabend
der Ort war, zeigte sich nicht nur an den Gebäuden, sondern auch
an den Mienen der Einwohner und daran, was es zu essen gab.
Otah hatte den Eindruck, irgendein Viertel aus den prächtigen
Städten der Khais sei eines Nachts von Riesenhänden genommen
und in diese Wildnis verpflanzt worden.
Dass die Straße zum Dorf des Dai breit und in sehr gutem Zustand
war, erstaunte ihn nicht - wohl aber die Entdeckung, dass er zu
einem unangenehm hohen Preis eine Sänfte mieten konnte, in der er
die steil bergan führende Tagesreise bequem hinter sich hätte
bringen und sich direkt vor dem Tor des Dai-Palastes hätte absetzen
lassen können. Er begegnete Männern in feinen Wollsachen oder
Fellmänteln, bei denen es sich um Abgesandte der Khais, großer
Handelshäuser oder anderer Einrichtungen handelte. Essensstände
am Straßenrand boten den hohen Herren üppige Kost zu
überhöhten Preisen, hatten aber auch Weizenbrei mit Huhn für
einfache Leute wie Otah im Angebot.
So reich und verschwenderisch sich die Straße auch präsentierte -
der erste Anblick des Dorfes, in dem der Dai residierte, verschlug
Otah den Atem. In den Fels der Berge gehauen schien es halb der
Sphäre der Menschen, halb der Sonne und den großen
Naturgewalten zugehörig. Otah hielt mitten auf der Straße an und
sah zu den schimmernden Fenstern und Straßen, Treppen, Dächern
und Türmen hinauf. Das dünne Goldband eines Wasserfalls strömte
durch die Anlage, und das warme Licht des nahen
Sonnenuntergangs ließ die Steine links und rechts des Goldbandes
wie Bronze glühen. Windspiele klangen hell wie Vogelgesang oder
tief wie Glocken im Luftzug. Sollte dieser Anblick dazu dienen, dass
die Ankommenden sich klein fühlten, konnte man den Erbauer nur
beglückwünschen. Otah wurde plötzlich klar, dass Maati hier gelebt
und studiert hatte. Und dass er selbst sich dem verweigert hatte. Er
fragte sich, wie es sein mochte, als Junge diese Straße wie zur
Belohnung hochzukommen und diese Pracht vor sich ausgebreitet
zu sehen, als wäre sie nur um seinetwillen da.
Der Weg zur Großen Kanzlei war leicht zu finden und voller
Leute. Feuerhüter, die hier keine Utkhais, sondern nur Diener des
Dai waren, schürten an den Kreuzungen ihre Öfen, und Teehäuser
versprachen in der Abenddämmerung Wärme und Behaglichkeit.
Otah aber legte keine Pause ein.
Er kam zur Großen Kanzlei, einem enormen Hallengewölbe, das
nach Westen offen war, damit die Abendsonne die weißen Wände
orange erglühen lassen konnte. Otah fiel auf, dass nur Männer
unterwegs waren. Sie kamen oder verschwanden durch mit
Schnitzereien aus Rosenholz verzierte Eichentüren. Er musste einen
Lampenanzünder ansprechen, um zu erfahren, wie er zum
Verwalter des Dai kam.
Der Verwalter war ein alter Mann mit freundlichem Gesicht. Er
trug das braune Dichtergewand. Als Otah an seinen Tisch trat,
machte der Alte mit so fließender Anmut eine begrüßende und
zugleich fragende Gebärde, wie Otah es bisher nur bei Khai
Saraykeht und Samenlos gesehen hatte. Er erwiderte die Begrüßung
und war einen Moment lang wieder ein Junge in den kalten, leeren
Gängen seiner Schule.
Otah schob diese Erinnerung rasch beiseite und sagte: »Ich habe
einen Brief für den ehrwürdigen Dai. Von Maati Vaupathi aus
Saraykeht.«
»Tatsächlich? erwiderte der Verwalter. »Ausgezeichnet. Ich werde
dafür sorgen, dass er ihn umgehend bekommt.«
Eine schöne alte Hand streckte sich ihm entgegen, um das
Schreiben anzunehmen, der noch in Otahs Ärmel steckte. Der junge
Mann musterte die runzligen Finger, die ihn an eine Schnitzerei
denken ließen, und plötzliche Besorgnis ergriff ihn.
»Ich hatte gehofft, den ehrwürdigen Dai persönlich zu sprechen«
sagte er. Die Miene des Verwalters bekam etwas Mitleidiges.
»Er ist sehr beschäftigt, mein Freund. Er hat kaum Zeit, mit mir zu
reden - und das, obwohl ich seine Tage für ihn einteile. Gebt mir
den Brief, und ich kümmere mich darum, dass er davon erfährt.«
Otah zog das Schreiben aus dem Ärmel und gab es dem
Verwalter. Dabei empfand er tiefe Enttäuschung. Natürlich
empfängt der Dai keine einfachen Kuriere, dachte er traurig egal,
wie heikel ihre Botschaften sind. Ich hätte das nicht erwarten
dürfen.
»Bleibt Ihr, um eine Antwort abzuwarten? »Ja«, sagte Otah. »Falls
es denn eine gibt.«
»Ich lasse Euch morgen wissen, ob der ehrwürdige Dai den Brief
zu beantworten beabsichtigt. Wo seid Ihr zu finden?«
Otah machte eine entschuldigende Gebärde und erklärte, er habe
sich noch keine Unterkunft gesucht und kenne das Dorf nicht. Der
Verwalter empfahl ihm ein Quartier, beschrieb ihm den Weg und
brachte dabei eine Geduld auf, wie sie ein Großvater einem innig
geliebten, aber begriffsstutzigen Enkelkind gegenüber an den Tag
legen mag. Als Otah wieder auf die Straße trat, dämmerte es
bereits, obwohl die gerade erst versunkene Sonne den Horizont
noch golden und purpurrot erglühen ließ.
Auf dem Weg den Hügel hinunter hatte er Zeit, sich das Dorf
etwas genauer anzusehen, obwohl das Licht rasch abnahm. Ihm fiel
auf, dass er seit Verlassen der Landstraße keine Frau gesehen hatte.
Ob an den Öfen der Feuerhüter, an den Karren und Ständen mit
Esswaren oder im Gasthof, zu dem der Verwalter ihn geschickt
hatte - überall waren nur Männer zu sehen.
Als er genauer hinschaute, entdeckte er weitere Hinweise darauf,
dass der Alltag in diesem Dorf anders war als in allen Orten, die er
kannte. Anders als in Saraykeht lag keinerlei Dreck oder Staub auf
den Straßen, und kein Gras spross aus den Ritzen der Pflastersteine,
kein Moos wuchs in den Mauerwinkeln. Mehr noch als die
Abwesenheit von Frauen ließ diese seltsame Sauberkeit das Dorf
fremd, beunruhigend und beinahe kalt wirken.
Otah aß Reh mit Trauben und frischem Schwarzbrot zu Abend.
Vom Feuer abgewandt, saß er allein an einem niedrigen Tisch.
Schwermut hatte ihn gepackt. Bilder von Liat, einem Häuschen,
einer einfachen Arbeit, selbst gebackenem Brot und im eigenen
Herd geschmortem Schweinefleisch setzten ihm so lächerlich wie
unabweislich zu. Er hatte getan, was er Maati versprochen hatte.
Der Brief war in den Händen des Dai oder würde es demnächst
sein.
Doch er war auch aus persönlichen Gründen gekommen. Er war
Otah, der sechste Sohn von Khai Machi. Und er war einer, der
größte Macht verschmäht und das Angebot, einen Andaten zu
beherrschen, abgelehnt hatte. In diesem seltsam anmutenden Dorf
verstand er zum ersten Mal, was das für seine Brüder, seine Lehrer
und all seine Mitschüler, die diese Gelegenheit liebend gern
ergriffen hätten, bedeuten mochte. Für Leute wie Maati zum
Beispiel.
Und wer war dieser Itani Noyga, dieser einfache Arbeiter mit den
schlichten Träumen? Er begriff, dass er durch das halbe Reich der
Khais gereist war, um diese Frage zu klären, stattdessen aber einem
alten Mann einen Brief ausgehändigt hatte. Er dachte daran, dass
diese Fahrt ihm bei der Abreise als ein Abenteuer erschienen war,
das nicht nur für Heshai und Samenlos, für den Khai und die Stadt
Saraykeht von Bedeutung war, sondern auch für ihn persönlich.
Inzwischen aber wusste er nicht mehr, warum er gedacht hatte,
einen Brief zu überbringen bedeute mehr als das Überbringen eines
Briefes.
Seine Kammer war so klein, dass Bett und Nachttisch kaum
hineinpassten. Die Decken waren warm, dick und weich. Die
Matratze war sauber und beherbergte weder Läuse noch Flöhe. Das
Zimmer roch nach Zedernholz und nicht nach Rattenpisse oder
Menschenschweiß. So klein es war - es war so vollkommen wie alles
andere in diesem Dorf.
Die Kerze war gelöscht und Otah schon fast eingeschlafen, als
seine Tür aufging. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann trat mit hoch
erhobener Laterne ein. Buschige, grau melierte Brauen gaben
seinem Mondgesicht eine besondere Note. Otah sah dem Besucher
erst verschlafen, dann hellwach und aufmerksam in die Augen und
begrüßte ihn mit der Gebärde, die er als Junge gelernt hatte. Dazu
lächelte er freundlich, aber alles andere als aufrichtig.
»Eure Anwesenheit ehrt mich, ehrwürdiger Dai.«
Tahi blickte finster drein, kam näher und hielt Otah die Laterne
vors Gesicht. Der Junge war geblendet und konnte die Miene seines
alten Lehrers kaum erkennen, sah aber nicht weg.
»Du bist es tatsächlich.«
»Ja.«
»Zeig mir deine Hände« sagte sein alter Lehrer. Otah tat wie
geheißen. Die Laterne wanderte abwärts, und Tahi beugte sich über
Otahs schwielige Handflächen, bis der Junge seinen Atem auf den
Fingern spürte.
»Dann stimmt es also wirklich« sagte Tahi schließlich. »Du bist ein
Arbeiter.«
Otah ballte die Fäuste. Diese Worte waren für ihn nicht
überraschend gekommen, doch er war erstaunt, dass sie ihm so
wehtaten, denn er hatte angenommen, es sei ihm längst egal, was
Tahi über ihn dachte. Er setzte sein gewinnendes Lächeln auf und
antwortete mit sanfter, gelassener Stimme.
»Ich habe meinen eigenen Weg gewählt.«
»Eine wirklich großartige Wahl«, meinte Tahi trocken. »Ich hab es
so gewollt.«
Der Dai, also der mächtigste Mensch auf Erden, richtete sich auf
und schüttelte angewidert den Kopf. Sein Gewand Seide auf Seide -
raschelte bei jeder Bewegung. Er neigte den Kopf zur Seite, was ihn
wie einen bösartigen Vogel wirken ließ.
»Ich muss über deine Botschaft mit anderen beraten. Es kann ein
paar Tage dauern, ehe ich eine Antwort zu Papier bringe.«
Otah wartete auf eine verletzende Bemerkung oder das Schwirren
des Rohrstocks, doch Tahi stand nur da und wartete. Schließlich
machte Otah eine ergebene Gebärde.
»Ich werde warten.«
Einen Moment schimmerte etwas - Trauer? Ungeduld? - in Tahis
Augen. Dann war er verschwunden, ohne sich verabschiedet zu
haben. Die Tür ging hinter ihm zu, und Otah legte sich wieder hin.
Bis auf die allmählich leiser werdenden Schritte war die Dunkelheit
ganz still. Sie waren längst verhallt, ehe Otahs Herzschlag sich
beruhigte, sein Atem langsamer ging und sein innerer Aufruhr sich
legte.

Die Tage, die nun kamen, gehörten zu den schwierigsten, die


Amat Kyaan je erlebt hatte. Das Bordell war vorher schon in
Unordnung gewesen, und durch ihr Auftauchen hatte sich das
Durcheinander noch vergrößert. Ob es sich nun um Huren, Wächter
oder Bedienungen handelte - jeder einzelne Mitarbeiter stellte sie
auf die Probe. Dreimal kam es zu Prügeleien. Fast täglich musste
Amat irgendeine Frechheit unterbinden, die sich jemand mit der
schlichten Begründung herausgenommen hatte, bei Ovi Niit sei das
erlaubt gewesen. Man hätte glauben können, Ovi sei der
selbstloseste und großzügigste Mensch gewesen. Wie zu erwarten
war, ließ der Tod ihn in deutlich besserem Licht erscheinen.
Wenn das alles gewesen wäre, hätte Amat wohl keine schlaflosen
Nächte gehabt. Doch inzwischen war auch Maj bei ihr eingezogen,
und außer Amat sprach niemand Nippu, während das Inselmädchen
noch immer nicht genug Khaiate beherrschte, um sich einigermaßen
verständlich zu machen. Seit Majs Ankunft hatte sich Amat daher
mit allen möglichen Bedürfnissen des Mädchens befassen müssen.
Zum Glück hatte Torish Weiss sich als fähiger erwiesen, als sie
erwartet hatte. So war er zum Beispiel damit einverstanden, im
Hafen zu verbreiten, Amat Kyaan aus dem Vergnügungsviertel
suche Informationen über Perlenlieferungen aus Galtland. Der
Vorsatz, Beweise zusammenzutragen, mit denen das Haus Wilsin
eines Verbrechens überführt werden konnte, zwang Amat ein
Doppelleben auf. Wenn sie das Bordell erst auf Vordermann
gebracht hätte, würde es die finanzielle Grundlage für die
Verwirklichung ihres Ziels liefern. Mehr Sorgen als die Finanzierung
ihres Vorhabens machte ihr allerdings, dass es sehr viel Zeit kosten
würde, während sie längst nicht mehr die Jüngste war.
Die ersten Ermittlungsschritte immerhin konnte sie ihrem Söldner
Torish überlassen, obwohl sie sich an manchem Abend an
Unterhaltungen mit Händlern aus den Westgebieten erinnerte, die
darum kreisten, wie heikel es war, mit Leuten Handel zu treiben,
die auf Söldner angewiesen waren. Solange sie Torish Weiss und
seinen Leuten Mädchen und Geld bieten konnte, würden sie
vermutlich bleiben. Sollten sie ihr aber je unentbehrlich werden, war
sie verloren.
Ihr Zimmer, in dem früher Ovi Niit gewohnt hatte, war groß und
geräumig. Auf Schreibtisch, Bett und Fußboden lagen überall
Geschäftsbücher und andere Unterlagen herum. Die Morgensonne
drang durch Fenster, deren dicke, fest schließende Läden dazu
dienen sollten, sie bis zum Abend schlafen zu lassen. Amat nippte an
einer Schale Tee, während Mitat - ihre engste Beraterin, was die
Verhältnisse im Haus anlangte - im Zimmer auf und ab ging. Die
Papiere, die sie in der Hand hielt, raschelten beim Umblättern.
»Das ist zu viel«, erklärte sie. »Ich hätte nicht gedacht, das je zu
sagen, aber Ihr lasst ihnen zu viel Freiheit. Sie sollen wählen
können, mit welchen Männern sie ins Bett gehen? Amat-cha, bei
allem Respekt: Ihr seid eine Puffmutter! Wenn ein Mann hier mit
vollen Taschen ankommt, müsst Ihr ihm ein Mädchen geben. Oder
einen Jungen. Oder drei Mädchen und ein Huhn, wenn er dafür
bezahlt hat. Wenn die Mädchen das Recht bekommen, einen Kunden
abzuweisen »… sinkt ihr Verdienst«, sagte Amat gelassen, obwohl
sie wusste, dass Mitat recht hatte. »Wer am meisten anschafft,
verdient am meisten. Das Recht, Männer abzuweisen, wird Frauen
anziehen, die in einem wirklich guten Haus arbeiten wollen.«
Mitat blieb stehen. Sie sprach kein Wort, doch ihre zurückhaltende
Miene sagte genug. Amat schloss die Augen und lehnte sich auf dem
Stuhl zurück.
»Sorgt dafür, dass sie nicht grundlos geschlagen werden«, begann
Mitat, »lasst niemanden sie so verletzen, dass sie Narben
davontragen; gebt ihnen, was Ihr ihnen schuldig seid mehr vermögt
Ihr im Moment nicht zu tun, Großmutter. In einem Jahr, vielleicht in
zwei, könnt Ihr so etwas versuchen, aber gegenwärtig würde es
Euch als Schwäche ausgelegt werden.«
»Ja, wahrscheinlich. Danke, Mitat.«
Als Amat die Augen wieder öffnete, sah sie die besorgte Gebärde
ihrer Beraterin und winkte beruhigend ab.
»Ihr wirkt müde, Großmutter.«
»Es ist nichts.«
Mitat zögerte sichtlich, gab ihr dann aber die Unterlagen zurück.
Ehe Amat fragen konnte, was ihr Sorgen mache, waren Schritte auf
der Treppe zu hören, und ein höfliches Klopfen unterbrach die
Besprechung. Torish Weiss trat mit zurückhaltender Miene ein.
»Jemand möchte Euch sprechen«, sagte er zu Amat. »Wer?«
»Marchat Wilsin.«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Hat er jemanden dabei?«
»Nein. Er hat eine leichte Fahne, ist aber unbewaffnet und ohne
Begleitung.«
»Wo ist Maj?«, fragte sie.
»Sie schläft. Wir haben Eure alte Kammer zu ihrem Schlafzimmer
gemacht.«
»Lasst ihre Tür bewachen. Niemand darf zu ihr, und sie darf nicht
raus. Er soll nicht wissen, dass sie hier ist.«
»Wollt Ihr ihn wirklich empfangen?« fragte Mitat ungläubig.
»Er war jahrzehntelang mein Arbeitgeber« sagte Amat, als sei das
eine Antwort. »Torish, lasst einen Eurer Männer vor meiner Tür
Stellung beziehen. Wenn ich rufe, soll er sofort reinkommen. Wenn
ich mich nicht bemerkbar mache, soll er uns in Ruhe lassen. Wir
reden nachher weiter, Mitat.«
Die beiden gingen und schlossen die Tür hinter sich. Amat stand
auf, nahm den Stock und trat an die Dachterrasse. Es hatte in der
Nacht geregnet, und die Luft war noch immer sehr feucht. Das ist es
wohl, was mir das Atmen so schwer macht, sagte sie sich. Die Tür
hinter ihr öffnete und schloss sich. Sie drehte sich nicht gleich um.
Jenseits der Terrasse erstreckte sich das Vergnügungsviertel Straße
um Straße, Block für Block. Fahnen wehten, und Bettler sangen.
Saraykeht war eine herrliche Stadt, selbst in dieser Gegend. Deshalb
tat sie das alles ja. Deshalb und wegen des Mädchens Maj und des
Kindes, das Maj verloren hatte. Sie wappnete sich.
Marchat Wilsin stand bei der Tür. Sein prächtiges Gewand war so
dunkelgrün, dass das Gewebe schwarz durchwirkt schien. Sein
Gesicht war grau, die Augen blutunterlaufen. Er wirkte verängstigt
und verloren - wie eine in die Ecke getriebene Maus. Sein Anblick
rührte Amat.
»Hallo, alter Freund« sagte sie. »Wer hätte-gedacht, dass wir uns
hier wiedersehen würden?«
»Warum tust du das, Amat? Der Schmerz ließ seine Stimme
beinahe brechen. Sie spürte das Bedürfnis, zu ihm zu gehen und ihn
zu trösten. Sie hätte liebend gern seine Hand genommen und ihm
gesagt, alles werde gut ausgehen - nicht zuletzt, weil sie wusste,
dass es böse enden würde. Ihr kam vage in den Sinn, dass sie es
vermutlich nicht fertiggebracht hätte zu kündigen, wenn sie Marchat
seine Liebe hätte gestehen lassen.
»Was dem Dichter und dem Mädchen widerfahren ist, war ein
Angriff« sagte sie. »Ihr wisst das, und ich weiß es auch. Ihr habt
Saraykeht angegriffen.«
Er kam mit offen ausgestreckten Händen auf sie zu.
»Ich doch nicht!«, rief er. »Amat, das war nicht mein Werk -
begreif das doch!«
»Kann ich Euch Tee anbieten?«
Verblüfft sank er auf einen Diwan und fuhr sich in sprachloser
Verzweiflung mit den Händen durchs Haar. Sie erinnerte sich an
ihre erste Begegnung - an seinen dunklen Schopf und seine
fremdländischen Umgangsformen. Damals hatte er viel und gern
gelacht, und sein Blick war kraftvoll gewesen. Sie goss ihm eine
Schale Tee ein. Als er sie nicht nehmen wollte, stellte sie sie auf den
niedrigen Tisch, der vor ihm stand, und ging zu ihrem Schreibtisch.
»Es hat nicht geklappt, Amat. Es ist misslungen. Der Dichter lebt,
und der Andat ist noch immer gefangen. Sie haben begriffen, dass
es nicht funktionieren kann - also wird es auch nicht wieder
passieren. Lass die Sache bitte auf sich beruhen.«
»Das kann ich nicht«, entgegnete sie.
»Und warum nicht?«
»Wegen dem, was Ihr Maj angetan habt - sie hat das Kind
schließlich austragen wollen. Und weil Saraykeht mein Zuhause ist.
Und weil Ihr mich verraten habt.«
Marchat wurde rot und machte eine fahrige Gebärde, die alles und
nichts bedeuten mochte.
»Verraten? Wie habe ich dich denn verraten? Ich habe alles getan,
um dich aus dieser Sache herauszuhalten! Ich habe dich gewarnt, als
Oshai dir auflauerte! Und als du zurückkehrtest, war ich es, der sich
dafür eingesetzt hat, dich davonkommen zu lassen! Ich habe mein
Leben für dich riskiert!«
»Ihr habt mich in diese Sache reingezogen«, sagte Amat und war
überrascht, wie verärgert sie klang und wie heiß ihre Wangen
geworden waren. »Ja, das habt Ihr. Und Ihr habt mich in eine Lage
gebracht, in der ich alles, wirklich alles opfern muss, um mich
reinzuwaschen. Hätte ich von der Sache rechtzeitig erfahren, hätte
ich sie unterbunden. Deshalb habt Ihr mir ja aufgetragen, Euch einen
Leibwächter zu suchen. Ihr habt gehofft, ich würde einen Ausweg
finden.«
»Ich war damals ziemlich durcheinander. Jetzt sehe ich wieder
klar.
»Ach ja? Wie käme ich dazu, mich anders zu verhalten, Marchat-
kya? Wenn ich stillhielte, würde ich das Verbrechen gutheißen. Und
das tu ich nicht.«
Marchat sah woandershin, und sein Blick wurde hart. Langsam
führte er die Teeschale an die Lippen und trank sie in einem langen
Zug leer. Als er sie absetzte, war er wieder der Mann, den sie
kannte. Sie wusste, dass er seine Gefühle nun beiseitegeschoben
hatte und eine Verhandlung begann, die sein Leben und sein Haus
retten und Amat von ihrem Weg abbringen sollte. Sie spürte ein
mattes Lächeln auf den Lippen. Ein Teil von ihr hoffte wirklich, es
gelänge ihm, sie zu überzeugen.
»Zugegeben, es ist Böses geschehen« sagte er. »Zugegeben, ich
war daran beteiligt. Aber ich hatte keine Wahl. Ich wurde dazu
gezwungen. Nichts davon war meine Idee. Welche Vergeltung
willst du eigentlich? »Ich weiß es nicht« sagte sie. »Das müssen der
Khai und seine Leute entscheiden.«
Marchat machte eine unduldsame Gebärde.
»Du weißt genau, dass er mir, dem Unternehmen und Galtland im
Ganzen gegenüber keine Gnade walten lassen wird - und zwar nicht
um Majs willen, sondern um seiner selbst willen.«
»Um Saraykehts willen.«
»Und wie viel ist eine Stadt wert, Amat? Selbst im Namen der
Gerechtigkeit? Wenn der Khai beschließt, tausend galtische Mütter
mit einer Fehlgeburt zu strafen: Ist das ein gerechter Preis für eine
Stadt? Wenn sie hungern, weil unsere Felder keine Früchte tragen:
Ist das ein gerechter Preis? Du willst Gerechtigkeit, Amat, ich weiß.
Aber am Ende wird nur Rache dabei herauskommen.«
Ein nach Meer riechender Windstoß blähte die Vorhänge. Die
Terrassentür schlug zu, und im Zimmer wurde es düster.
»Du denkst mit dem Herzen«, fuhr er fort. »Was geschehen ist,
war schrecklich. Ich leugne das nicht. Wir waren da in etwas
Unseliges und Böses verstrickt. Aber mach dir doch die Kosten klar:
ein einziges Kind. Wie viele Fehlgeburten gibt es Jahr für Jahr? Wie
viele Mütter verlieren ihren Nachwuchs, weil ihr Mann sie schlägt,
weil sie stürzen oder krank werden? Mindestens sechs solcher Fälle
hat es in den letzten Monaten gegeben. Was geschehen ist, war
falsch, Amat, und ich schwöre dir, dass ich alles in meiner Macht
Stehende tun werde, um es wieder in Ordnung zu bringen. Aber
nicht um den Preis, dass die Dinge noch schlimmer werden.«
Er beugte sich vor. Ihre Erwiderung nahm nur langsam Gestalt an.
»Sie haben begriffen, dass es nicht funktionieren kann«
wiederholte er. »Sie haben es selbst dann nicht geschafft, Samenlos
zu befreien, als er noch mit ihnen verschworen war! Also wissen sie
jetzt, dass es ihnen nie gelingen wird, die gleichzeitige Befreiung
aller Andaten ins Werk zu setzen. Der Versuch ist gescheitert! Kann
sein, dass sie erneut etwas unternehmen werden, aber gewiss nicht
so bald. Sie werden ihre Bemühungen erst einmal auf die
Westgebiete, den Süden oder die Inseln richten. Hier wird es keinen
Krieg geben. Jedenfalls nicht, solange es ihnen nicht gelingt, die
Andaten auszuschalten.«
Amat erstarrte innerlich und blickte auf ihre Hände, um Marchat
den Schreck nicht sehen zu lassen, der in ihren Augen stand. Sie
hatte gedacht, es ginge um den Handel. Darum, dass er sich neue
Wege suchen würde, wenn Samenlos verschwunden wäre.
Saraykeht würde dann leiden, während andere Baumwollzentren
aufblühten. Doch sie hatte in zu kleinem Maßstab gedacht. Seit acht
Generationen hatte es keinen Krieg mehr gegeben. Acht
Generationen hatten sich des Reichtums und des Schutzes erfreut,
der dem von den Dichtern kontrollierten Walten der Andaten zu
verdanken war. Es ging nicht um den Baumwollhandel, sondern um
den ersten Schritt zu einer Invasion, und Marchat hatte gedacht, das
sei ihr klar.
Sie zwang sich, mit einem Lächeln aufzublicken. Ohne die Andaten
würden die Städte untergehen. Der Wohlstand des Reiches würde
verschwendet werden, um Söldnerheere zu bezahlen. Doch Amat
bezweifelte, dass sich angesichts der gewaltigen Armee von
Galtland viele Söldner bereitfinden würden, auf völlig verlorenem
Posten zu kämpfen. Oder sie würden sich verpflichten, aber bei
erster Gelegenheit die Flucht ergreifen.
Alles, was ihr lieb und teuer war, würde untergehen.
»Komm in das Unternehmen zurück«, sagte Marchat. »Die Saison
ist vorbei, und die Nachverhandlungen mit den Lieferanten und
Abnehmern stehen bevor. Ich brauche dich dabei. Ich bin auf dich
angewiesen.«
Sie stieß einen Ruf aus, und sofort war der Wächter da. Ihr alter
Freund und Arbeitgeber Marchat - der sture, lustige und
nachdenkliche Mann, dessen Unternehmen sie vor dem Leben auf
der Straße bewahrt hatte und der sie geliebt hatte, ohne den Mut
aufzubringen, es ihr zu gestehen - wirkte verloren. Amat entbot ihm
einen Abschiedsgruß, der etwas Endgültiges hatte, war aber
ziemlich sicher, dass ihm dies entging. Doch vielleicht war das
ohnehin mehr für sie als für ihn bestimmt.
»Die Vergangenheit war ein herrliches Land, Marchat-kya«, sagte
sie. »Ich vermisse es jetzt schon.« Dann wandte sie sich an den
Wächter. »Bring ihn raus.«

Heshais Zustand besserte sich mit der Plötzlichkeit eines


Wetterumschwungs. Liat saß im Wohnzimmer des Dichterhauses
und schälte eine Orange. Maati war in sein Zimmer gegangen, um
etwas zu suchen, und hatte gesagt, sie solle unten auf ihn warten.
Die Schritte, die in ihrem Rücken die Treppe herunterkamen, waren
langsam und schwer, als trüge Maati eine große, mühsam zu
handhabende Last. Sie drehte sich um und sah statt seiner Heshai -
gewaschen, rasiert und im Dichtergewand.
Liat sprang auf und machte eine Begrüßungsgebärde, wie sie sich
einem viel höher Gestellten gegenüber schickte. Die fast geschälte
Orange lag auf dem Diwan, auf dem sie gerade noch gesessen hatte.
Der Dichter antwortete mit einem flüchtigen Willkommensgruß und
kam auf Liat zu, ohne die Orange aus den Augen zu lassen. Als er
schließlich lächelte, wirkte er unsicher, als seien die breiten Lippen
nicht daran gewöhnt. Liat fragte sich, ob sie ihn je hatte lachen
sehen.
»Die Orange da reicht wahrscheinlich nicht für zwei, oder?«,
fragte er fast schüchtern.
»Doch, natürlich«, sagte sie, schnappte sich die Frucht, teilte sie
und gab ihm die größere Hälfte. Er dankte ihr, nahm einen Schnitz
und schob ihn in den Mund. Seine Haut war bleich wie der Bauch
eines Fisches, und er hatte dunkle Tränensäcke unter den Augen. Er
war dünner geworden, seit der traurige Eingriff vor Wochen
schiefgegangen war. Doch nun hatte sein Lächeln an Zuversicht
gewonnen, was sie zurück-lächeln ließ. Einen Moment sah sie klar,
wie er als Kind ausgesehen hatte.
»Es geht Euch offenbar wieder viel besser«, sagte sie.
»Ich bin es vermutlich leid, Trübsal zu blasen« erwiderte er. »Ich
möchte mal wieder ausgehen. Ich bin schon lange nicht mehr in
einem guten Teehaus gewesen.«
Die ihr vertrauten leichteren Schritte kamen hinter ihnen die
Treppe herunter und setzten dann aus. Maati dachte nicht mehr an
das Buch in seinen Händen. Sein Mund stand offen.
»Komm runter« sagte Heshai. »Wir haben keine Geheimnisse vor
dir. Wir teilen uns nur eine Orange. Ich schätze, auch für dich ist
noch etwas da.«
»Heshai-kvo …«
»Ich habe Liat gerade erzählt, dass ich mir heute Abend die Beine
vertreten will. Ich habe mich in letzter Zeit zu sehr zurückgezogen.
Und morgen müssen wir einiges erledigen. Es ist höchste Zeit,
richtig mit deiner Ausbildung zu beginnen, stimmt’s? Maati nickte
nur, und Liat merkte, dass er so erstaunt war, dass ihm sein Mangel
an Begeisterung gar nicht auffiel. Sie sah ihm in die Augen und
ermunterte ihn schweigend, sich zu freuen oder wenigstens so zu
tun.
»Ich bin bereit, Heshai-kvo« sagte er. Sollte seine Stimme leicht
verärgert geklungen haben, überhörte der Dichter es. Er
verabschiedete sich von Liat höflicher, als es ihre gesellschaftliche
Stellung erfordert hätte, warf Maati einen anerkennenden Blick zu,
der ihr wohl hätte entgehen sollen, und stapfte los. Maati und Liat
setzten sich auf die Stufen vor dem Haus und sahen ihn die Brücke
überqueren, den Weg entlanggehen und hinter einer Biegung
verschwinden. Maati zitterte vor Wut.
»Ich dachte, das hättest du gewollt« sagte Liat sanft.
Er ließ den Kopf sinken. Ihre Worte hatten ihn wieder in die
Gegenwart zurückgeholt.
»Aber nicht so.«
»Immerhin liegt er nicht mehr im Bett und geht wieder unter
Leute.«
»Als wäre nichts geschehen«, sagte Maati. »Er verhält sich, als
wäre nichts geschehen. Er hat die letzten Wochen einfach gestrichen
…«
Liat fuhr ihm über den Nacken. Erst verkrampften sich seine
Muskeln noch mehr als zuvor, doch dann spürte sie, wie er sich
langsam entspannte. Er wandte sich ihr zu.
»Du hast offenbar eine Entschuldigung erwartet«, sagte sie. »Oder
Anerkennung für das, was du die ganze Zeit über für ihn getan
hast.«
Maati legte das Buch neben sich auf die Treppenstufe und zog sein
Gewand enger. Lange saßen sie schweigend da. Das Laub war
prachtvoll verfärbt, und erste Blätter lagen auf dem Boden. Bald
würde der Spätherbst beginnen.
»Es ist nicht richtig von mir«, begann Maati mit vor Scham und
Wut belegter Stimme. »Ich sollte mich freuen, dass er auf dem Weg
der Besserung ist, aber …«
»Vielleicht tut er sein Möglichstes« sagte Liat. »Gib ihm Zeit.«
Maati nickte und nahm ihre Hand. Ihre Finger schlangen sich
ineinander. Mit der anderen Hand griff sie über seine Beine hinweg
nach dem Buch. Es war alt und für seine Größe schwer, denn es war
in Leder gebunden und an den Kanten mit Kupfer beschlagen.
»Und jetzt lies mir das Gedicht vor, von dem du erzählt hast«,
sagte sie.
Viel später, als es längst dunkel war, lag Liat mit Maati auf seinem
schmalen Bett und lauschte seinem Atem. Der Luftzug, der durch
das Mückennetz fuhr, ließ sie frösteln, doch Maati war weich und
warm wie eine Katze an sie geschmiegt. Sie strich ihm durchs Haar,
fühlte sich sicher und zufrieden und machte sich zugleich schlimmste
Vorwürfe. Nie zuvor war sie einem Liebhaber untreu gewesen. Sie
hatte das immer für schwierig gehalten und gedacht, die Leute
würden sie auf der Straße anstarren und empört über sie flüstern.
Tatsächlich aber schien es niemanden zu kümmern. Seit der Sache
mit Maj war Liat regelrecht vereinsamt: Amat, Wilsin-cha, ihre
Kollegen und vor allem Itani waren teils seltsam unzugänglich, teils
verschwunden, und das Zusammensein mit Maati half ihr, dies zu
ertragen. Auch war er ein guter Zuhörer, wenn sie über ihre
Verwicklung in den traurigen Eingriff sprach und über all das, was
sie damals falsch gemacht hatte, Die Nachtkerze flackerte, und drei
Motten flatterten träge um ihren gläsernen Aufsatz. Liat bewegte
sich, und Maati murmelte im Schlaf und drehte sich von ihr weg. Sie
schlug das Mückennetz beiseite, stand nackt auf und ließ die
Nachtkühle auf sich wirken. Nun, da sie miteinander geschlafen
hatten, fühlte sie sich verschwitzt. Sie überlegte, in ein Badehaus zu
gehen, doch die Vorstellung, lange durch die dunkle Stadt zu laufen
und Maati hier zurückzulassen, behagte ihr nicht. Sie hielt es für
besser, in der Nähe zu bleiben, auch wenn sie dann etwas frieren
musste. Sie fand, für ihre Sünden habe sie ein paar
Unbequemlichkeiten verdient. Also zog sie ihr Gewand an, band es
aber nicht zu.
Überall am Himmel funkelten Sterne. Die fernen Lichter der
Paläste und der Stadt schienen demgegenüber beinahe nicht
vorhanden. Liat musterte die strahlende Mondsichel, die einer
Schale glich, in der eine sternselige Dunkelheit stand. Frösche
quakten, Grillen zirpten, und der gepflegte Rasen am
Zierkarpfenteich kitzelte sie an den Füßen. Sie sah sich sorgfältig
um, ehe sie ihr Gewand abwarf. Der Teich war nicht kühler als das
Kaltwasserbecken im Badehaus. Die Fische nahmen in alle
Richtungen Reißaus und kehrten dann langsam zu ihr zurück. Das
von ihrem Schwimmen in Bewegung versetzte Schilf raschelte, als
würden Hände über Haut streichen.
Sie ließ sich auf dem Rücken treiben, bewegte nur langsam die
Beine auf und ab und dachte an Itani. Sie hatte nicht das Gefühl, ihn
zu betrügen, obwohl sie wusste, dass sie genau das tat. Maati und
Itani (oder Otah) schienen ganz verschiedene Regionen ihres
Herzens zu bewohnen, die kaum Verbindung miteinander hatten.
Itani war ihr Herzblatt, mit dem sie monatelang das Bett geteilt
hatte. Maati dagegen war ihr guter Freund, ihr Vertrauter und die
einzige Stütze ihres weitgehend isolierten Daseins. Besonders in
seiner Gegenwart konnte sie Schuld und Angst stundenlang
vergessen. Sie wusste nicht, warum das so leicht und dabei doch so
schwer war.
Erst als sie richtig ausgekühlt war, drehte sie um und schwamm
ans Ufer zurück. Der Schlamm klebte zwischen ihren Zehen. Nun,
da sie nass in der Nacht stand, schien die Luft ihr viel kühler als
noch im Wasser. Als sie endlich ihr Gewand gefunden hatte,
bibberte sie. Die Nacht ringsum war still. Insekten und Nachtvögel
machten keinerlei Geräusch.
»Auch für solche Situationen dürfte es Verhaltensregeln geben«,
sagte Samenlos aus dem Dunkel, »aber ich kenne sie leider nicht.«
Das Gesicht des Andaten schien in der Luft zu schweben. Seine
fahlen Lippen waren zu einem grimmig amüsierten Lächeln
verzogen. Er kam näher, während sie ihr Gewand anlegte. Er zog
etwas Dickes aus dem Ärmel und hielt es ihr hin: ein Handtuch für
ihre Haare.
»Ich habe Euch das mitgebracht« sagte er. »Als ich sah, was Ihr
hier treibt, habe ich gedacht, das könnte Euch nicht schaden.«
Liat nahm das Tuch und machte dabei unwillkürlich eine Gebärde
der Dankbarkeit. Der Andat winkte ab, hockte sich auf den zum
Teich abfallenden Rasen, legte die Hände auf die Knie und blickte
aufs Wasser.
»Du sitzt nicht mehr in der Folterkiste.«
»Jedenfalls nicht mehr in der Folterkiste, an die Ihr denkt.
Heshai hat mich rausgelassen. Das tut er schon seit ein paar Tagen.
Ich hab ihm versprechen müssen, in Sichtweite des Hauses zu
bleiben. Einen heiligen Eid hab ich geschworen, nehme aber an, dass
ich ihn letztlich brechen werde. Dass es Heshai besser geht, hängt
mit meiner Freilassung zusammen. Einen Teil seiner Persönlichkeit
wegzusperren - zumal einen schuldbeladenen -, lässt diesen Teil die
Herrschaft über das gesamte Selbst gewinnen. Das ist die große
Gefahr, wenn man Teile seines Wesens von sich abspaltet, findet Ihr
nicht?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest« antwortete Liat.
Samenlos lächelte ehrlich amüsiert. »Reibt Euch die Haare trocken«
sagte er. »Ich verurteile Euch nicht, meine Liebe. Ich habe ein Kind
auf dem Gewissen, und Ihr seid ein Mädchen von siebzehn Jahren,
das sich einen zweiten Liebhaber genommen hat. Ich kann wohl
kaum auf Euch herabblicken.«
Liat band sich das Handtuch um den Kopf und wandte sich zum
Gehen. Welkes Laub raschelte unter ihren Füßen. Die Worte, die sie
anhalten ließen, waren so leise, dass sie fast glaubte, sie sich nur
eingebildet zu haben.
»Ich weiß über Otah Bescheid.«
Sie zögerte. Wie auf ein Stichwort hin begannen die Grillen wieder
zu zirpen.
»Was weißt du?«, fragte sie.
»Genug.«
»Und wie bist du dahintergekommen?«
»Ich bin gerissen. Was habt Ihr vor, wenn er zurück ist?«
Liat antwortete nicht. Der Andat wandte sich ihr zu, musterte sie
und machte dann eine Gebärde, mit der er seine Frage zurücknahm.
In Liat flammte Wut auf.
»Ich liebe ihn. Er ist mein Herzblatt.«
»Und Maati?«
»Den liebe ich auch.«
»Aber Euer Herzblatt ist er nicht.«
Liat schwieg. Im Halblicht des Mondes und der Sterne lächelte der
Andat traurig und machte eine Gebärde, die Verständnis, Mitgefühl
und Anerkennung ausdrückte.
»Maati und ich … wir brauchen einander. Wir sind sonst ganz
allein. Wir beide sind sehr einsam.«
»Nun, das wenigstens wird nicht mehr lange so bleiben. Er kommt
bald zurück« sagte Samenlos. »Morgen vielleicht. Oder
übermorgen.«
»Wer?«
»Otah.«
Liat spürte sich flacher atmen als zuvor. Dieses Gefühl war dem
der Angst sehr ähnlich.
»Nein, das wird er nicht. Das ist unmöglich.«
»Ich schätze, das wird er schon«, erwiderte der Andat.
»Allein bis Yalakeht dauert es drei volle Wochen. Selbst wenn er
dann mit dem Boot rasch flussaufwärts gefahren ist, würde er
frühestens jetzt ankommen.«
»Seid Ihr sicher?«
»Natürlich.«
»Dann habe ich mich wohl geirrt« sagte der Andat so sanft, dass
Liat sprachlos war. Samenlos lachte und stützte den Kopf in die
Hände.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte sie.
»Ich bin vielleicht ein Idiot! Otah ist dieser Otah-kvo, von dem
Maati mir erzählt hat. Er trägt kein Brandmal und ist kein Dichter -
deshalb habe ich die beiden nicht miteinander in Verbindung
gebracht. Aber wenn Maati ihn zum Dai geschickt hat … ja, dann
muss es sich um ein und denselben Otah handeln.«
»Du sagtest doch, du wüsstest über Otah Bescheid«, meinte Liat.
Ihr wurde bang ums Herz.
»Da hab ich wohl übertrieben. Otah-kvo - eine Schwarzkutte, die
weder ein Brandmal hat, noch Dichter geworden ist. Nun … ich
glaube, ich hab schon mal so eine Geschichte gehört. Wenn ich
Heshai ein paar Fragen stelle, bekomme ich das sicher raus.«
Kaltes Grausen packte Liat. Was habe ich getan!, dachte sie und
sank zu Boden. Der Andat sah sie beunruhigt an.
»Du hast mich reingelegt« flüsterte sie.
Samenlos neigte den Kopf mit einem seltsamen, geradezu
wollüstig wirkenden Lächeln zur Seite, in dem Mitleid und
Erstaunen lagen. Dann hob er begütigend die Hände.
»Ihr seid nicht schuld daran, Liat-kya. Maati hat mir alles erzählt,
ehe er wusste, wer ich bin. Solltet Ihr Euer Herzblatt heute Nacht
betrogen haben - und dafür spricht wohl einiges -, dann jedenfalls
nicht mit mir. Und ob Ihr es glaubt oder nicht: Das Geheimnis ist bei
mir in sicheren Händen.«
»Dir glaube ich gar nichts.«
Der Andat lächelte, und der Ernst, der dabei in seinem Gesicht
stand, erinnerte sie einen Augenblick an Heshai.
»Ein Geheimnis zu haben, ist wie mit einem Stein auf dem
Dachfirst zu sitzen, Liat. Solange man ihn in Händen hält, hat man
über jeden Menschen dort unten die Macht über Leben und Tod.
Lässt man ihn aber einmal fallen, hat man nur noch eine schöne
Aussicht. Ich würde Euer Geheimnis nur verraten, wenn ich etwas
davon hätte, und wie die Dinge liegen, bringt es mir nichts, es
weiterzusagen. Solange alles bleibt, wie es ist, verrate ich kein
einziges Eurer Geheimnisse.«
Liat machte eine herausfordernde Gebärde.
»Schwöre es« sagte sie.
»Haltet Ihr es wirklich für denkbar, dass ein Eid mich Euch
gegenüber binden würde? Liat ließ die Arme sinken.
»Ich werde Euch nicht verraten« sagte Samenlos. »Erstens gibt es
keinen Grund dafür, und zweitens würde es Maati verletzen.«
»Maati?«
Der Andat zuckte die Achseln. »Ich mag ihn. Er ist jung und
weltfremd, denn er hat den Großteil seines Lebens in der
Abgeschiedenheit von Lehranstalten zugebracht. Aber er hat
Begabung und genug Charme, um diese Sache zu überstehen, wenn
er es schlau anpackt.«
»Du klingst wie Heshai, wenn du so redest.«
»Natürlich.«
»Liegt dir … Ich meine, Maati liegt dir doch nicht wirklich am
Herzen, oder?«
Samenlos stand auf. Er bewegte sich ungemein anmutig. Sein
Umhang war dunkler als die Nacht, sein Gesicht hingegen makellos
weiß wie eine Karnevalsmaske und genauso ausdruckslos. Das
Zirpen der Grillen wurde immer lauter, und Liat wunderte sich,
Samenlos, der recht leise sprach, dennoch verstehen zu können.
»Erinnert Euch in zehn Jahren an diese Begegnung, Liat-kya, und
denkt an das, was wir zwei heute Nacht besprochen haben. Und
dann fragt Euch, wer von uns beiden netter zu Maati war.
15

Die Tage im Dorf des Dai vergingen in luxuriösem Unbehagen.


Die reine Luft, die kalten, allzu sauberen Straßen, die
Vollkommenheit, Strenge und Schönheit waren wie ein Traum. Otah
schlenderte durch die Gassen, saß mit anderen Männern bei den
Öfen der Feuerhüter, schnappte manchen Klatsch und Tratsch auf
und lauschte dem Klingen der Windspiele. Boten suchten das Dorf
wie Motten heim und trieben sich überall herum. Tag für Tag
tauchten prächtig gekleidete Abgesandte aus allen möglichen
Städten auf und verschwanden wieder. Das Aroma der Macht war
allgegenwärtig.
Während Otah Baumwollballen gewuchtet und sich abends Zecken
aus den Armen gedreht hatte, hatte Maati in dieser Atmosphäre
gelebt. Entnervt vom Warten auf eine Antwort des Dai kehrte Otah
Nacht für Nacht in sein Zimmer zurück und fragte sich, was aus ihm
geworden wäre, wenn er das Angebot von Tahis Vorgänger
angenommen hätte und sein Schüler geworden wäre. Dann
erinnerte er sich der Schule, der Grausamkeit und Bosheit, der
kaltherzigen Lektionen, der Schläge und des Gelächters, mit dem
die Starken die Schwachen verhöhnt hatten, und fragte sich
stattdessen, wie Maati es geschafft haben mochte, all dies
hinzunehmen.
Am Nachmittag des fünften Tages fragte ihn ein Mann im weißen
Gewand eines hochgestellten Dieners auf der Veranda eines
Teehauses mit ehrerbietiger Gebärde: »Ihr seid der Kurier von
Maati Vaupathi, nicht wahr? Der ehrwürdige Dai möchte Euch
sprechen. Bitte folgt mir.«
Die Bibliothek war in Marmor gehalten. Auf hohen Regalen lagen
Schriftrollen und standen Bücher, während die Sonne durch
Oberlichter in den Saal fiel. Tahi - der neue Dai - saß an einem
langen, kunstvoll geschnitzten Tisch. Ein Kohlebecken wärmte den
Raum und roch nach heißem Metall und Weihrauch. Tahi blickte auf,
als der Diener mit einer unterwürfigen Gebärde zum Ausdruck
brachte, er habe die ihm übertragene Aufgabe erfüllt und sei bereit,
sofort wieder los-zueilen. Otah dagegen machte keine Gebärde.
»Geh« sagte der Dai. Der Diener im weißen Gewand verschwand
und schloss die Flügeltür hinter sich. Otah rührte sich nicht vom
Fleck, während Tahi ihn stirnrunzelnd musterte und dann einen
vernähten Brief über den Tisch schob. Otah trat vor, nahm das
Schreiben und steckte es in den Ärmel.
»Es war dumm von dir, hierherzukommen« sagte Tahi schließlich
ungerührt. »Wenn deine Brüder erfahren, dass du noch lebst,
werden sie aufhören, sich gegenseitig zu belauern, und sich
verbünden, um dich zu beseitigen.«
»Wahrscheinlich. Werdet Ihr es ihnen berichten?«
»Nein.« Tahi stand auf und ging zu einem Regal. »Mein Meister ist
gestorben. Ein Jahr nach deinem Verschwinden.«
»Das tut mir leid.«
»Warum bist du gekommen? Warum ausgerechnet du?«
»Maati ist ein Freund von mir. Und er hatte sonst niemanden, dem
er trauen konnte.« Otah hatte zwar noch weitere Gründe für seine
Reise, aber die wollte er nicht verraten.
Tahi ließ seine Finger über die Buchrücken gleiten. Obwohl das
Gesicht des Dai kaum zu erkennen war, sah Otah die Verbitterung
in seinem Lächeln.
»Und dir traut er? Er traut Otah Machi? Nun, er ist noch sehr jung.
Vermutlich kennt er dich nicht so gut wie ich. Willst du wissen, was
in dem Brief steht, den ich dir mitgegeben habe?«
»Wenn Ihr Wert darauf legt, es mir zu erzählen.«
Der Band, den Tahi aus dem Regal zog, war alt, hatte hölzerne
Buchdeckel mit Metallverschlüssen und war dick wie eine gespreizte
Hand. Er wuchtete ihn auf den Tisch, ehe er antwortete.
»In dem Brief steht, dass Maati nicht zulassen darf, dass Heshai
die Kontrolle über seinen Andaten verliert, da es für Samenlos
keinen Ersatz gibt und auch nicht geben wird. Sollte der Andat
entkommen, kann ich nichts machen, und Saraykeht wird zu einer
übergroßen Provinzstadt absinken. Genau das steht in dem Brief.«
Tahi hob herausfordernd die Brauen, und Otah machte jene
ergebene Gebärde, mit der er als Junge seinen Lehrern nach
erhaltener Unterweisung gedankt hatte.
»Mit jeder Generation ist es schwerer geworden« sagte Tahi und
schien verärgert, dies aussprechen zu müssen. »Immer weniger
junge Männer sind bereit, die Schwarzkutte zu tragen. Die Andaten,
denen die Flucht gelingt, sind immer schwerer zu fangen - eines
Tages wird es so weit sein, dass sie uns gänzlich im Stich lassen. Ich
werde das vermutlich nicht mehr erleben, aber mein erster oder
zweiter Nachfolger. Dann werden die Städte der Khais von den
Galten und von Leuten aus den Westgebieten überrannt werden.
Verstehst du, was das heißt?«
da« sagte Otah. »Aber ich begreife nicht, warum Ihr mir das
erzählt.«
»Weil du ein viel versprechender Schüler warst« erwiderte Tahi
bitter. »Und weil ich dich nicht mag. Aber ich muss dich danach
fragen: Otah Machi, hast du mir Maatis Brief gebracht, weil du
bereust, dich den Dichtern damals entzogen zu haben? Ist dein
Botendienst nur ein Vorwand, mich zu sprechen, weil du dich
danach sehnst, das Dichtergewand zu tragen?«
Otah lachte nicht, obwohl ihm diese Fragen töricht erschienen.
Töricht und auch ein wenig traurig, wenn er bedachte, wie er das
Dorf wahrgenommen hatte. Davon abgesehen aber hatte er den Dai
vielleicht wirklich besuchen wollen. Vielleicht hatte er
hierherkommen müssen, um sich davon zu überzeugen, dass sein
noch als Kind getroffener Entschluss, sich dem Dichterdasein zu
verweigern, auch jetzt, da er erwachsen war, Bestand hatte.
»Nein« sagte er.
Tahi nickte, öffnete die Verschlüsse des großen Buches und schlug
es auf. Die Schrift, in der es verfasst war, war Otah vollkommen
fremd. Der Dichter blickte auf und sah ihn unfreundlich an.
»Das hatte ich mir gedacht. Also verschwinde. Und komm erst
wieder, wenn du Manns genug bist, deine Aufgabe anzunehmen.
Ich habe keine Zeit für Kindereien.«
Otah setzte zu einer Abschiedsgeste an, zögerte dann aber.
»Es tut mir leid, Tahi-kvo, dass Euer Meister gestorben ist und Ihr
leben müsst, wie Ihr lebt. Ich bedaure, dass die Welt ist, wie sie ist.«
»Mach der Sonne ruhig auch noch den Vorwurf, dass sie
untergeht« sagte der Dai und sah nicht einmal auf.
Otah drehte sich um und verließ die Bibliothek. Die Paläste waren
von erstaunlicher Pracht. Ihr Glanz übertraf sogar den der Anlagen
von Saraykeht. An diesem Spätnachmittag waren die breiten
Straßen einmal mehr voller Männer, die überaus wichtigen
Geschäften nachgingen und in raschelnde Seide, kostbares Leinen
und samtweiches Leder gekleidet waren. Otah ließ den Glanz all
dieser Dinge auf sich wirken und begriff zum ersten Mal seit seiner
Ankunft, welche Hohlheit unter all dem verborgen war. Eine
Hohlheit, die der Leere in Heshais Blick entsprach. Der Dichter von
Saraykeht war wirklich ein Schüler des Dai und dieser prächtigen,
aber auch so kalten Anlage.
Als Otah das Dorf verließ, stellte er überrascht fest, dass er traurig
war. Die Tränen, die er nun weinte, mochten Maati oder Heshai
gelten, Tahi oder den Jungen aus seiner Klasse, die nun in alle Welt
verstreut waren, der Nichtigkeit der Macht oder auch sich selbst.
Die Frage, die ihn hierhergebracht hatte, die Frage nämlich, ob er
nun Otah Machi oder Itani Noyga war, der Sohn eines Khai oder ein
Arbeiter in einer Hafenstadt - diese Frage war ungelöst und doch
beantwortet.
Er war beides. Doch mit diesem Dorf hier hatte er sicher nichts zu
tun.

»Wann?« fragte Maj mit verschränkten Armen. Ihre Wangen


waren tiefrot, und ihr Atem roch nach Wein. »Ich lebe seit Wochen
unter Huren, mit Euch als Puffmutter. Ihr habt gesagt, die Männer,
die mein Kind getötet haben, werden zur Verantwortung gezogen.
Verratet mir endlich, wann!«
Das Inselmädchen nahm eine Vase von Amats Schreibtisch und
warf sie gegen die Wand. Das Gefäß zersprang in tausend Stücke,
und die Blumen segelten auf den Boden. Ehe Amat reagieren
konnte, stand der Wächter schon mit gezücktem Messer im Zimmer.
Amat schob ihn trotz seiner Proteste wieder auf den Flur und
schloss die Tür hinter ihm. Ihre Hüfte tat sehr weh. In den letzten
Wochen hatte der Schmerz stark zugenommen und trug neben
vielem anderen zu ihrer Reizbarkeit bei. Dennoch hielt sie sich sehr
aufrecht, als sie sich nun wieder zu dem Mädchen umdrehte, das ihr
mal Verbündete und mal eine Last war. Maj atmete rasch. Sie hatte
das Kinn vorgereckt, die Arme herausfordernd in die Hüften
gestemmt und wirkte wie ein kleiner Junge, der seinem Gegenüber
vermitteln will: Schlag mich doch, wenn du dich traust! Amat
lächelte, trat zwei Schritte auf sie zu und versetzte ihr blitzschnell
eine Ohrfeige.
»Ich arbeite vom frühen Morgen bis tief in die Nacht für dich«
sagte sie. »Ich führe dieses widerliche Haus so, dass ich Geld genug
habe, um in deiner Sache tätig zu werden. Ich habe mein Leben für
dich ruiniert und dich nicht mal um ein Dankeschön gebeten. Nur
um deine Mitarbeit.«
Tränen traten in Majs helle Augen und liefen über ihre geröteten
Wangen. Die lodernde Wut, die Amat ergriffen hatte, ließ nach.
Langsam ging sie zu den Scherben und kniete sich vorsichtig und
unter Schmerzen hin.
»Was ich tue, ist nicht einfach« sagte sie, ohne Maj anzusehen, und
schob Scherben und Blumen zusammen. »Wilsin-cha hat keine
Aufzeichnungen gemacht, die es erlauben würden, ihn in direkte
Verbindung mit dem traurigen Eingriff zu bringen. Die wenigen
Unterlagen, die es in dieser Sache gibt, ermöglichen keine
eindeutigen Rückschlüsse, ob Wilsin-cha von dem Betrug gewusst
hat oder nicht. Ich aber muss nachweisen, dass er davon wusste.
Wenn mir das nicht gelingt, kannst du genauso gut in deine Heimat
zurückkehren.«
Majs Schritte ließen die Dielen knarren, doch Amat blickte nicht
auf, sondern hob den Saum ihres Gewandes wie eine Schürze, warf
die Scherben der Vase hinein und legte die Blumen obendrauf. Sie
waren zwar geknickt, dufteten aber herrlich. Amat zögerte, sie
wegzuwerfen. Maj hockte sich neben sie und half ihr beim
Saubermachen.
»Wir sind vorangekommen« fuhr Amat leiser fort und merkte, wie
erschöpft sie klang. »Ich habe Aufzeichnungen aller geschäftlichen
Unternehmungen gesammelt. Die Perlen, die der Khai erhalten hat,
sind mit einem galtischen Schiff gekommen, aber ich weiß noch
nicht, mit welchem.«
»Und das reicht?«
»Das ist erst der Anfang. Torish-cha hat Männer in den Hafen
geschickt und den Matrosen Geld für Informationen geboten. Bisher
hat sich noch nichts ergeben, aber das kommt noch. So etwas
braucht Zeit.«
Maj beugte sich vor und ließ einen Schwung kleiner Scherben in
die improvisierte Schürze fallen. Amat wusste, dass sie es gut
gemeint hatte, aber leider hatte sie bei dieser Gelegenheit die
Blumen endgültig ruiniert. Sie sah ihr in die Augen, und Maj
versuchte zu lächeln.
»Du bist betrunken« sagte Amat sanft. »Du solltest schlafen gehen.
Morgen früh wird die Welt schon besser aussehen.«
»Und wieder schlimmer, wenn es Abend wird«, erwiderte Maj
kopfschüttelnd. Dann beugte sie sich plötzlich vor und küsste ihre
Beschützerin auf den Mund. Als sie gegangen war, schüttete Amat
die Scherben in die kleine Kiste neben ihrem Schreibtisch. Ihre
Glieder waren schwer, doch sie musste noch die Buchführung
machen und Bestellungen aufgeben.
Ihr war klar, dass sie die Arbeit von drei Frauen erledigte. Vierzig
Jahre früher wäre das vielleicht machbar gewesen, heutzutage
jedoch brachte jeder Tag sie dem Zusammenbruch näher. Wenn sie
morgens erwachte, fiel ihr als Erstes eine lange Liste zu
erledigender Dinge ein, die sich teils auf das Bordell, teils auf die
langwierige Vorbereitung ihrer Auseinandersetzung mit dem Haus
Wilsin bezogen; und wenn sie tief in der Nacht ins Bett sank, waren
noch immer drei, vier Sachen liegen geblieben.
Das Bordell verschaffte ihr zwar die Einnahmen, die sie für
Erkundungen, Bestechungen und Belohnungen brauchte, erwies sich
dabei aber als genau die Schlangengrube, vor der sie anfangs
gewarnt geworden war. Mitat war ihre Retterin, denn sie kannte
alle Mitarbeiter und hatte sogar das Vertrauen von Torish Weiss
gewonnen. Dennoch musste Amat letztlich selbst kleinste
Entscheidungen persönlich fällen. Welche Arbeitsverträge beendet
oder verlängert werden sollten; welche Strafmaßnahmen ihre
Huren, Wächter und Bedienungen gegebenenfalls zu erwarten
hatten. All das besprach Amat ausgerechnet mit Mitat, die früher
ziemlich viel Geld aus dem Betrieb abgezweigt hatte …
Die Nachtkerze - deutlich länger und aus härterem Wachs als jene,
die die kurzen Nächte des Sommers maß - war schon fast zur Hälfte
heruntergebrannt, als Amat die Feder weglegte. Dreimal hatte sie
eine Zahlenreihe zusammengezählt und dreimal ein anderes
Ergebnis errechnet. Sie warf ihr Gewand ab, legte sich ins Bett, zog
das Mückennetz zu und schlief sofort ein, wurde aber von Träumen
geplagt, in denen sie sich stets eine Sekunde zu spät an etwas
Entscheidendes erinnerte.
Ein vorsichtiges Klopfen an der Tür ließ sie erwachen. Kaum hatte
sie »Herein!« gerufen, trat Mitat mit zwei dicken Scheiben
Schwarzbrot und einer Schale starkem Tee ein. Amat setzte sich auf,
schob das Mückennetz beiseite und machte eine dankbare Gebärde,
als die rothaarige Frau das Tablett neben ihr aufs Bett stellte.
»Du hast dich heute Morgen aber hübsch gemachte, stellte Amat
fest.
So war es. Mitat trug ein schönes gelbes Gewand, das gut zu ihrer
Augenfarbe passte. Sie wirkte ausgeschlafen, was vermutlich zu
ihrem ansprechenden Äußeren beitrug.
»Wir müssen heute die Wache bezahlen gehen« sagte Mitat. »Ich
hatte gehofft, Euch begleiten zu dürfen.«
Amat schloss die Augen. Die Gebühr für die Wache - natürlich! Es
hätte ein schlechtes Bild abgegeben, sie zu vergessen, und doch
wäre ihr genau das beinahe passiert … Die Dunkelheit war
angenehm. Am liebsten hätte sie weitergeschlafen.
»Großmutter?«
»Natürlich« sagte Amat, öffnete die Augen wieder und - nahm
ihre Teeschale. »Deine Begleitung wäre mir sehr recht. Aber eines
muss klar sein: Ich kümmere mich um die Bezahlung.«
Mitat lächelte. »Das werdet Ihr mich nie vergessen lassen, oder?«
»Wahrscheinlich. Jetzt hol mir bitte ein gutes Gewand das blaue
mit dem grauen Ziersaum vielleicht. Ich schätze, das genügt für
diesen Anlass.«
Die Straßen des Vergnügungsviertels waren ruhig. Amat, deren
Ärmel mit zwei Rollen Silberstücken beschwert waren, ging auf
ihren Stock gestützt. Der Nachtregen hatte die Luft gereinigt, und
helles Sonnenlicht funkelte auf dem Pflaster und ließ die Fahnen der
großen Bordelle leuchten. Backstubengeruch erfüllte den Morgen.
Mitat ging neben Amat her, wich Pfützen und schmutzigen
Rinnsalen aus und tat, als wäre sie auch allein so langsam gegangen,
wie sie es nun zu tun gezwungen war. Im Hochsommer hätten Hitze
und Luftfeuchtigkeit eine unerträgliche Mischung ergeben. Die linde
Herbstkühle hingegen ließ den Morgen fast angenehm erscheinen.
Mitat informierte sie über die Neuigkeiten im Bordell: Chiyan
glaubte, schwanger zu sein; Torishs Leute ärgerten sich darüber,
nicht mehr kostenlos mit Amats Huren schlafen zu dürfen, zumal
andere Bordelle im Viertel ihren Wächtern dieses Vergnügen ohne
Gegenleistung gewährten; zwei Weber hatten beim Kartenspiel
betrogen, doch bis jetzt hatte sie niemand überführt.
»Wenn ihr die beiden erwischt habt, bringt sie zu mir«, sagte
Amat. »Falls sie nicht bereit sind, Entschädigung für den Schaden zu
zahlen, den sie verursacht haben, rufen wir die Wache, aber ich
würde diese Sache lieber unter uns regeln.«
Großmutter.«
»Und lass Urrat aus der Perlenstraße holen. Sie braucht Chiyan
nur anzusehen und wird wissen, ob sie wirklich schwanger ist. Und
sie hat einige Tees, um dem gegebenenfalls abzuhelfen.«
Mitat nickte beifällig, doch ihre leicht amüsierte Miene bewog
Amat zu einer fragenden Gebärde.
»Ovi Niit hätte auf sie eingeprügelt, bis sie blutet« erklärte Mitat.
»Weil das billiger ist, hätte er gesagt. Ihr wisst vermutlich gar nicht,
wie geachtet Ihr seid, Großmutter. Bis auf Torish und seine Leute
würden die Männer in Eurem Betrieb Euch zwar am liebsten
aufgeknüpft sehen, doch die Frauen sind heilfroh, dass Ihr
zurückgekehrt seid.«
»Ich habe das Haus nicht zu einem besseren Ort gemacht.«
»Natürlich habt Ihr das«, erklärte Mitat auf eine Weise, die keinen
Widerspruch duldete. »Ihr wisst offenbar nicht …«
Der Mann kam so plötzlich aus einer Seitengasse auf Amat
zugetorkelt, dass sie nicht reagieren konnte und durch den Aufprall
ins Stolpern geriet. Ein furchtbarer Schmerz durchzuckte sie vom
Knie bis zur Hüfte, doch ihr erster Gedanke galt dem Geld in ihren
Ärmeln. Der Betrunkene allerdings war kein Dieb. Das Silber für
die Wache war noch an Ort und Stelle, und der Mann verharrte in
einer Gebärde tiefsten Bedauerns.
»Was erlaubt Ihr Euch?« fuhr Mitat ihn an. Sie reckte angriffslustig
das Kinn, und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Es ist noch nicht
einmal Mittag. Wer ist denn um diese Zeit schon betrunken?«
Der dicke Mann in dem fleckigen braunen Gewand schüttelte den
Kopf und verbeugte sich so elegant wie beschämt.
»Es ist meine Schuld« lallte er. »Ganz und gar meine Schuld. Ich
habe mich lächerlich gemacht.«
Amat packte Mitat am Arm, hieß sie schweigen und trat trotz des
rasenden Schmerzes in ihrem Bein einen Schritt näher. Der
Betrunkene verbeugte sich noch tiefer und schüttelte weiterhin den
Kopf. Amat hätte beinahe die Hand nach ihm ausgestreckt, um sich
zu vergewissern, dass sie nicht träumte und nicht noch im Bett lag
und auf Brot und Tee wartete.
»Heshai-cha?«
Der Dichter blickte auf. Seine Augen waren blutunterlaufen, und
ihr Weiß war gelb wie altes Elfenbein. Er stank nach Wein und hatte
alle Mühe, sein Gegenüber ins Auge zu fassen. Als er Amat
schließlich zu erkennen schien, wurde sein Gesicht aschfahl.
»Es geht mir gut, Heshai-cha. Aber was bringt Euch -«
»Ich kenne Euch. Ihr arbeitet für das Haus Wilsin. Ihr … Ihr habt
doch das Mädchen gekannt, oder?«
»Maj«, entgegnete Amat. »Sie heißt Maj. Sie ist in guter Obhut,
aber wir beide müssen miteinander reden. Es ist mehr passiert, als
man auf den ersten Blick annehmen würde. Hinter dem Andaten
stehen andere Mächte, die -«
»Nein! Das war ganz allein meine Schuld! Es war mein Fehler!«
Auf der anderen Straßenseite öffnete sich ein Fensterladen, und
ein neugieriges Gesicht tauchte auf. Heshai machte eine
entschuldigende Gebärde, schwankte dabei allerdings wie eine
Weide im Wind. Seine Lippen verhärteten sich, und als er die Augen
wieder öffnete, wirkten sie beinahe schwarz. Er sah Amat an, als
habe sie ihn beleidigt, und in diesem Moment erkannte sie, dass
Samenlos mit seinem so schönen Gesicht und seiner vollkommenen
Stimme wirklich nach dem Vorbild dieses Mannes erschaffen
worden war.
»Ich habe mich lächerlich gemacht«, wiederholte er, verbeugte sich
steif vor Amat und Mitat, wandte sich ab und ging schwankend
davon.
»Ihr Götter!« sagte Mitat und sah dem breiten Rücken nach, der
langsam verschwand. »Wer war das denn?«
»Der Dichter von Saraykeht«, antwortete Amat und musterte die
Gasse, aus der er gekommen war. Sie war schmal, ungepflastert und
schlammig und stank nach Müll.
»Was dort wohl zu finden ist?« überlegte Amat.
»Keine Ahnung.«
Amat zögerte, denn sie ekelte sich vor dem, was sie nun würde
tun müssen. Wenn der Schlamm so kotig war, wie er roch, war der
Saum ihres Gewandes nicht zu retten.
»Komm mit« sagte sie.
Anhand der frischen Fußspur war die Wohnung leicht zu finden.
An der Tür prangte ein eisernes Schloss, und die Läden des
schmalen Fensters waren von innen verriegelt. Amat konnte ihre
Neugier nicht beherrschen, klopfte an die Tür und rief, aber
niemand kam.
»Männer, die nicht im Bordell gesehen werden wollen, mieten sich
mitunter Zimmer«, sagte Mitat.
»Solche wie dieses?«
»Normalerweise gehen sie irrbessere Unterkünfte«, räumte Mitat
ein. »Keine Hure würde einem Freier in so eine Gasse folgen. Na ja,
wenn er sehr viel zahlt, vielleicht Amat drückte mit der Hand gegen
die Tür. Sie war aus solidem Holz. Das Schloss ließe sich
aufbrechen, überlegte sie. Vorausgesetzt, man hat das richtige
Werkzeug. Fragt sich bloß, ob es in diesem traurigen Versteck etwas
gibt, das den Aufwand wert ist. Ein Angstgefühl überkam sie.
»Großmutter, wir sollten wirklich gehen.«
Amat nickte und wandte sich zur Straße. Ihre Neugier und die
Erleichterung, nicht mehr in der Nähe des Verstecks des Dichters
von Saraykeht zu sein, hielten einander die Waage. Auf dem Weg
zur Wache des Vergnügungsviertels fragte sich Amat immer wieder,
was wohl hinter der Tür lag, welche Verbindung es zu ihrem
heimlichen Feldzug gegen das Haus Wilsin haben mochte und ob sie
das alles wirklich wissen wollte.

Der Winter hielt Einzug in den Sommerstädten. Die letzten Blätter


fielen von den Bäumen, und kalter Nebel wallte durch die Stadt.
Maati trug wärmere Gewänder aus gekämmter Wolle, ließ seine
wärmsten Sachen aber im Schrank. Selbst im tiefsten Winter war es
in Saraykeht milder als an einem kühlen Frühlingstag im Norden.
Mitunter gingen Maati und Liat abends Arm in Arm durch die
Straßen. Zwar schmiegten sie sich der Kühle wegen aneinander,
doch nur selten war es so kalt, dass sie ihren Atem sahen. In der
Schule in Pathai und während seiner Ausbildung beim Dai war es
meist kühler gewesen als jetzt, doch nach der ständigen Hitze des
Sommers von Saraykeht war die Kälte doch sehr unangenehm.
Mit Heshais Genesung schien die Sache mit dem traurigen Eingriff
für die Utkhais erledigt. Im Laufe von Wochen, die wie im Fluge
vergangen waren, hatte der Dichter Maati zu privaten Feiern und
öffentlichen Festen mitgenommen, ihn bedeutenden Familien
vorgestellt und durch Wort und Tat zum Ausdruck gebracht, Liat
sei in seinem Haus stets willkommen. Dass Samenlos nunmehr unter
Hausarrest stand, schien dem Khai zu missfallen, doch er sagte
nichts dazu und ließ nichts dagegen unternehmen. Solange der
Dichter gesund genug war, das allgemeine Unbehagen zu
zerstreuen, schien alles in Ordnung.
Das Teehaus, das Maati und Liat aufsuchten, lag am Rand der
Altstadt. Die Bebauung erstreckte sich zwar am Fluss entlang weiter
nach Norden, bestand aber fast ausschließlich aus neueren
Gebäuden, die freilich spätestens zu Lebzeiten von Maatis
Ururgroßvater errichtet worden waren.
Sie hatten sich ein kleines Zimmer genommen, das nur einen Tisch
und ein Bett enthielt. Licht, Musik und der Duft von gebratenem
Schweinefleisch drangen durchs Schnitzwerk der Wände. Ein
kleines Kohlebecken hing über ihnen von der Decke und wärmte
wie eine schwarze Sonne.
Liat schenkte erst sich, dann Maati ein. Er dankte mit einem
Nicken und führte seine Schale Rauchtee zum Mund. Liat kuschelte
sich an ihn, und er genoss die Nähe und Wärme ihres ihm
inzwischen so vertrauten Körpers.
»Er wird bald zurück sein« sagte Maati.
Liat verkrampfte sich zwar nicht, wurde aber eigenartig reglos. Er
nippte an seinem Tee und verbrannte sich leicht die Lippen. Als sie
schließlich mit den Achseln zuckte, spürte er es mehr, als dass er es
sah.
»Sprechen wir nicht davon« meinte sie.
»Ich kann nicht so weitermachen, wenn er wieder da ist. Immer
wieder habe ich das Gefühl, etwas zerstört zu haben. Wenn er
zurück ist »Wenn er zurück ist, haben wir ihn wieder«, sagte Liat
leise. »Wir beide. Ich habe ihn als Liebhaber zurück und du als
Freund.«
»Das wage ich kaum zu hoffen« erwiderte Maati.
»Es wird sicher nicht einfach. Reden wir besser nicht darüber.
Lassen wir es auf uns zukommen, ohne uns den Kopf zu
zerbrechen.«
Maati nickte zwar, doch als Liat seine unglückliche Miene sah,
nahm sie ihn seufzend in den Arm und flüsterte: »Ich habe nicht
grausam sein wollen …«
»Das warst du auch nicht« erwiderte er.
»Nett, dass du das sagst.«
Vorn im Haus begann eine Frau oder ein Kind hoch, lieblich und
rein zu singen. Alles Reden erstarb zugunsten des Liedes.
Maati hatte die alte Ballade über gewonnene und zerronnene
Liebe, die noch aus der Zeit des Reiches stammte, schon oft gehört.
Er lehnte sich an die Wand und legte Liat den Arm um die
Schultern. Viele Gefühle, die er nur zum Teil zu benennen wusste,
gingen ihm durch den Kopf. Er schloss die Augen und ließ die
uralten Worte des Gesangs auf sich wirken. Dann merkte er, dass
Liat zitterte. Als er sie ansah, war ihr Gesicht rot, ihr Mund schmal.
In ihren Augen standen Tränen.
»Lass uns nach Hause gehen«, sagte er, und sie nickte. Er nahm
sechs Kupfermünzen aus einem Beutel, den er im Ärmel trug, und
legte sie in einer Reihe auf den Tisch. Es war mehr als genug für
ihren kurzen Aufenthalt. Sie standen auf, öffneten die Tür und
schlüpften hinaus. Das Lied war noch nicht zu Ende, als sie in die
Nacht traten. Am Himmel stand die schmale Sichel des gerade erst
zunehmenden Mondes. Bis auf die Fackeln an den Kreuzungen und
die Öfen der Feuerhüter waren die Straßen dunkel. Arm in Arm
gingen sie Richtung Norden.
Warum heißt ihr eigentlich Dichter?«, fragte Liat. »Ihr tragt doch
gar keine Lyrik vor. Wir zwei haben uns zwar mit Gedichten
beschäftigt, aber dabei hat es sich um etwas ganz anderes gehandelt
als um das, was du für den Khai tust.«
»Es gibt noch andere Bezeichnungen für uns«, sagte Maati. »Du
könntest uns auch Gestalter oder Schöpfer nennen. Oder
Gedankenweber. Der Begriff Dichter verweist auf die
Beschwörung, die wir ins Werk setzen.«
»Und die Andaten? Sind sie Gedichte?«
»Sie gleichen Gedichten. Sie sind Übersetzungen einer Idee in eine
willensbegabte Gestalt. Wenn man einen Brief aus dem Khaiate ins
Galtische übersetzt, kann man den Inhalt auf verschiedene Weise
ausdrücken, ohne dabei den Sinn zu verfälschen. Die Beschwörung
dagegen ist wie eine vollkommene Übersetzung. Als würde man -
sollte beispielsweise im Galtischen ein Wort oder ein Bild fehlen -
dies Fehlende erschaffen und so das Ganze zusammenhalten. Die
alten Grammatiken sind dafür hervorragend geeignet.«
»Und was macht man mit diesen Beschwörungen?«
»Man behält sie im Kopf und vergisst sie nie.«
Schweigend gingen sie weiter. Die hohen Mauern des
Lagerhausbezirks blieben hinter ihnen zurück, und die niedrigeren
Gebäude der Weber tauchten auf. Lampen und Fackeln funkelten
von den Palästen auf dem Hügel herüber, als sei ein Stück
Sternenhimmel zur Erde niedergesunken, und verschwanden
wieder hinter hohen Mauern, als Maati und Liat die Anwesen der
großen Händler und die Bauten der kleineren Unternehmen
erreichten.
»Hast du schon mal die Kerzennacht erlebt?« fragte Liat.
»Hier nicht, aber im Dorf des Dai. Es war herrlich. Die Straßen
waren voller Leute, und die vielen Lichter gaben einem das Gefühl,
der Berg habe sich in einen Tempel verwandelt.«
»Hier wird sie dir auch gefallen« sagte Liat. »Und vermutlich ist
dabei mehr Wein im Spiel als beim Dai.«
Maati lächelte und zog das zierliche Mädchen näher heran. »Das
kann ich mir vorstellen« sagte er. »In der Schule hatten wir keine -«
Der Schlag kam so unvermittelt, dass Maati kaum Zeit hatte, ihn
zu spüren. Er fand sich auf dem Straßenpflaster wieder. Ein Gefühl
von Dringlichkeit erfüllte ihn, ohne dass ihm klar war, worauf es
sich richtete. Liat lag reglos da. Ein großer, dicker Dachziegel lag
wie ein Kissen zwischen ihnen. Ein Geräusch, das sich anhörte, als
würden Ratten in Wänden huschen, drang in Maatis benommenes
Bewusstsein. Im nächsten Moment kam ein weiterer Ziegel
herabgerauscht und zerschellte neben Liat auf dem Pflaster. Jetzt
begriff er, worauf seine eben noch diffuse Angst zielte. Er taumelte
zu ihr. Das Gewand an ihrer Schulter war blutdurchtränkt, und sie
hatte die Augen geschlossen.
»Liat! Wach auf! Die Ziegel sind locker!«
Sie antwortete nicht. Maati sah hoch. Seine Hände zitterten, doch
er verspürte keine Angst, sondern allein die furchtbare
Notwendigkeit, etwas zu unternehmen, ohne aber zu wissen, was.
Kein Ziegel stürzte mehr herab, und etwas - ein Vogel vielleicht, ein
Eichhörnchen oder ein Kopf? - wich hinter die Dachkante zurück.
Maati zwang sich zur Ruhe. Sie waren in Gefahr und mussten
fliehen, aber Liat konnte sich nicht rühren.
Vorsichtig griff er ihr unter die Achseln und zog sie weg. Bei
jedem Schritt taten ihm die Rippen furchtbar weh, doch er konnte
sie aus dem Gefahrenbereich bergen, ehe die Schmerzen zu groß
wurden. Erst als er über ihr kauerte und nach Luft rang,
verwandelte sich seine Angst in Panik. Einen entsetzlich langen
Augenblick war er überzeugt, sie atme nicht mehr. Dann hob sich
ihr blutiges Gewand ein wenig, und er konnte sicher sein, dass sie
noch lebte. Aber sie brauchten dringend Hilfe.
Maati kam schwankend auf die Beine. Die Straße war leer, doch
ein breites, schmiedeeisernes Tor führte zu einer marmornen
Treppe, an deren oberem Absatz sich eine prächtige Flügeltür
befand. Er schleppte sich darauf zu, fühlte sich dabei aber außerhalb
seiner selbst. Er sah sich zu wie einer Marionette, die er nicht
angemessen bewegen konnte. Als er endlich an die Flügeltür schlug,
hatte er den Eindruck, ewig auf eine Reaktion warten zu müssen. Er
wischte sich den Schweiß von der Braue und stellte fest, dass es Blut
war.
Als er schon überlegte, ob er noch die Kraft habe, sich zu einem
anderen Haus, zum nächsten Feuerhüter oder in eine belebtere
Straße zu schleppen, öffnete sich die Tür, und ein alter, hagerer
Mann sah ihn an. Maati hob flehend die Hände.
»Ihr müsst ihr helfen«, sagte er. »Sie ist verletzt.«
»Ihr Götter!« rief der Mann, trat aus dem Haus und hielt Maati
davon ab, sich wieder die Treppe hinunterzuarbeiten. »Nicht
bewegen, Junge. Nur nicht bewegen. Chiyan! Komm her, aber
schnell! Hier sind zwei junge Leute verletzt!«
Sagt Otah Bescheid, dachte Maati, war aber zu schwach, es
auszusprechen. Findet Otah und erzählt ihm davon. Er wird wissen,
was zu tun ist.
Er kam in einem hell erleuchteten Zimmer zu sich und wusste
nicht, wie er dorthin gelangt war. Ein jüngerer Mann tupfte ihm die
Stirn und bereitete ihm dabei beißende Schmerzen. Maati versuchte,
seinen Arm wegzustoßen, war dafür aber zu schwach. Der Mann
sagte etwas, und er stimmte ihm zu, vergaß aber sofort, worum es
ging. Jemand flößte ihm dünnen, bitteren Tee ein. Dann verlor er
erneut das Bewusstsein.
16

Leise Schritte auf dem Flur genügten, um Marchat Wilsin aus


seinem unruhigen Schlaf zu schrecken. Als es klopfte, saß er bereits
aufrecht im Bett. Epani drückte die Tür auf und trat ein. Im
flackernden Licht der Nachtkerze wirkte sein Gesicht abgespannt.
»Wilsin-cha »Es ist der Andat, stimmt’s? Epani bejahte, und
Marchat spürte die Angst, die ihn im Schlaf verfolgt hatte, nach
seinem Herzen greifen. Er mimte den Entschlossenen, schob
seufzend das Mückennetz beiseite und schlüpfte in einen dicken
wollenen Hausmantel. Epani schwieg. Amat hätte etwas gesagt,
dachte Marchat.
Er ging zu seinem privaten Besprechungszimmer. Die Tür stand
offen, und Laternenlicht fiel in den Flur. Vor der Laterne ging eine
schwarze Gestalt wütend auf und ab. Das Angstgefühl in Wilsins
Brust nahm zu, und ihm wurde mulmig, doch er raffte sich auf und
trat ein.
Samenlos’ bleiches Gesicht war konzentriert wie das einer Katze
auf der Jagd. Sein schwarzes, rot durchwirktes Gewand ließ seine
Konturen im Halbdunkel verschwinden, was ihm etwas seltsam
Ätherisches verlieh. Marchat machte eine grüßende Gebärde, doch
der Andat hatte dafür nur ein abwesendes Lächeln übrig, das kurz
über seine vollkommenen Lippen spielte.
»Es war ein Versehen«, sagte Marchat. »Sie wussten nicht, dass er
es war. Sie sollten nur das Mädchen töten.«
Samenlos hielt inne. Sein Gesicht war vollkommen ruhig, sein Blick
kühl, und doch strahlte er glühende Wut aus.
»Ihr habt meinen Jungen verletzt«, sagte er.
»Wirf das Amat vor, wenn du unbedingt jemandem die Schuld
geben willst. Ihr Rachefeldzug ist die eigentliche Antriebskraft
hinter den Ereignissen. Sie versucht, uns zu entlarven. Sie hat ihr
Leben diesem Ziel geweiht. Also tu nicht so, als hätte ich den
Anschlag aus freien Stücken befohlen.«
Samenlos runzelte die Stirn. Marchat zwang sich, ihn weiter
anzusehen.
»Und Amat ist nahe dran, ihr Ziel zu erreichen«, fuhr er fort. »Sie
untersucht die Perlenlieferungen aus galtischen Häfen, um sie mit
Bestechung in Verbindung zu bringen, und bietet Geld für
Informationen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie bekommt, was
sie sucht. Liat in Ruhe zu lassen, wäre … Das Mädchen kann uns
schaden, wenn die Sache vor den Khai kommt.«
»Und das, obwohl Eure ehemalige Verwalterin ihre rechte Hand
nicht ins Vertrauen gezogen hat?«
»Hättest du das getan? Liat ist ein anständiges Mädchen, aber ich
würde ihr nicht mal meine Wäsche anvertrauen.«
»Haltet Ihr sie für unfähig?«
»Nein, sie ist einfach nur jung.«
Diese Bemerkung hatte zur Folge, dass Samenlos’ Groll
erstaunlicherweise ein wenig nachließ. Marchat atmete erstmals in
dieser Nacht tief durch.
»Also habt Ihr beschlossen, sie zu töten« meinte Samenlos. »Mit
Dachziegeln. Damit es wie ein Unfall aussieht.«
»Von Ziegeln war nicht ausdrücklich die Rede. Es musste nur
glaubwürdig wirken.«
»Und Ihr habt ihnen nicht gesagt, dass sie Maati verschonen
sollen?«
»Natürlich hab ich das. Aber Liat und er sind in letzter Zeit
ständig zusammen unterwegs. Die Männer wurden ungeduldig. Sie
dachten, sie schaffen es, ohne den Dichterlehrling in Mitleidenschaft
zu ziehen.
»Da haben sie sich getäuscht.«
»Ich weiß. Es wird nicht noch mal vorkommen.«
Der Andat schwebte heran und setzte sich neben der Laterne auf
den Konferenztisch. Marchat wich unwillkürlich einen Schritt
zurück. Samenlos schlang die bleichen Finger ineinander und zeigte
ein böses und dabei wunderschönes Lächeln, das man unmöglich für
menschlich halten konnte.
»Wenn Maati gestorben wäre« sagte er mit einer Stimme, die leise
wie fernes Donnergrollen klang, »hätte es in Galtland katastrophale
Missernten gegeben. Jede Kuh, jedes Mutterschaf wäre unfruchtbar
geworden, und die Bewohner Eures Heimatlandes wären
gestorben. Versteht Ihr? Da gäbe es nichts mehr zu verhandeln und
keine Drohungen im Vorfeld. Es wäre einfach passiert, und
vielleicht hätte niemand gewusst, warum. Dieser Junge sollte Euch
sehr kostbar sein, denn solange er lebt, leben die Galten.«
»Soll das ein Witz sein?« rief Marchat, begriff aber, dass es dem
Andaten bitterernst war. Also nickte er ergeben und hoffte, seine
Nachgiebigkeit würde das Gespräch auf ein weniger heikles Thema
lenken. »Wir müssen überlegen, was zu tun ist, wenn es Amat
gelingen sollte, genügend Beweise zusammenzutragen, um vor den
Khai zu treten. Wenn wir keine entlastenden Argumente
vorzuweisen haben, gelingt es ihr womöglich, ihn zu überzeugen.
Das kann sie hervorragend.«
»Stimmt. Ich fand sie immer beeindruckend.«
»Also?«, sagte Marchat, setzte sich auf einen Stuhl und sah zu der
dunklen Gestalt auf dem Tisch hoch. »Was sollen wir tun? Wenn sie
die Wahrheit herausfindet und beweisen kann - was dann?«
»Dann tue ich, wie mir befohlen. Ich bin ein Sklave. So läuft das
bei mir. Und Ihr? Euer Kopf und Gemächt werden an den
Galtischen Rat gesandt, damit er versteht, warum eine ganze
Generation von Müttern mit Fehlgeburten geschlagen ist. Das ist
natürlich nur eine Vermutung. Mag sein, dass der Khai nachsichtig
ist und Steine schwimmen« sagte Samenlos grinsend, »aber
verlassen würde ich mich darauf nicht.«
»So schlimm ist es nicht«, meinte Marchat. »Wenn du aussagst,
dass Oshai und seine Männer »Das werde ich nicht tun«, erklärte
der Andat und verwarf Wilsins Idee so beiläufig, wie man ein
unerwünschtes Getränk zurückgehen lässt. »Wenn die Sache vor
den Khai kommt und ich befragt werde, werde ich ihnen sagen, was
sie wissen wollen.«
Marchat lachte, spürte sich aber im selben Moment erbleichen.
Samenlos neigte den Kopf wie ein Vogel zur Seite.
»Das kannst du nicht tun« sagte der Kaufmann. »Du steckst so tief
in der Sache wie ich.«
»Aber nicht doch, Wilsin-kya. Was sollten sie mir schon anhaben?
Schließlich bin ich das Lebenselixier ihrer Stadt. Wenn unsere kleine
Verschwörung ans Licht kommt, werdet Ihr den Preis dafür zahlen,
nicht ich. Was wir getan haben, war herrlich. Heshais Gesicht beim
traurigen Eingriff war die Wochen und Monate wert, die es
gedauert hat, das Ganze in die Wege zu leiten. Es war wirklich
großartig. Aber glaubt nicht, dass wir Brüder sind, nur weil wir mal
zusammengearbeitet haben. Ich spiele neue Spiele. Mit neuen
Mitspielern. Und Ihr spielt keine Rolle mehr darin.«
»Das kann nicht dein Ernst sein« sagte Marchat. Der Andat stand
auf, verschränkte die Arme und sah in die Flamme der Laterne.
»Es wäre interessant, eine ganze Nation zu zerstören« sagte der
Andat. »Ich weiß nicht, ob Heshai davon begeistert wäre, aber …«
Samenlos seufzte, drehte sich um, kam zu Wilsins Stuhl und hockte
sich neben ihn. Marchat hatte den Eindruck, er rieche nach
Weihrauch und Asche. Die bleiche Hand des Andaten drückte sein
Knie, und sein bösartiges Lächeln war wie ein Messer, das ihm
lässig an die Kehle gesetzt wurde.
»… aber, Wilsin-kya, macht nicht noch einmal den Fehler
anzunehmen, Ihr oder Eure Heimat würden mir etwas bedeuten.
Unsere Wege haben sich getrennt, verstanden?«
»Das geht nicht« sagte Wilsin. »Wir haben von Anfang an
zusammengearbeitet - du und der Galtische Rat. Haben wir Galten
nicht alles getan, worum du uns gebeten hast?«
»Doch, vermutlich.«
»Dann schuldest du uns etwas«, sagte Wilsin und schämte sich der
Verzweiflung in seiner Stimme.
Der Andat dachte über diese Bemerkung nach, erhob sich dann
langsam und machte eine Gebärde, die bei aller Dankbarkeit etwas
Wegwerfendes und Spöttisches hatte.
»Dann vernehmt meinen Dank«, sagte er. »Wilsin-cha, Ihr seid
falsch, selbstsüchtig und kurzsichtig wie ein Floh, doch Ihr wart das
perfekte Werkzeug, und dafür danke ich Euch. Wenn Ihr Maati noch
einmal etwas zu Leide tut, wird Eure Nation untergehen. Wenn Ihr
meine Pläne durchkreuzt, erzähle ich Amat die ganze Geschichte,
und sie kann sich weitere Untersuchungen sparen. Dieses Spiel ist
über Euch hinausgewachsen, kleiner Mann. Es ist zu groß. Mischt
Euch da nicht ein.«
Wenn es denn ein Traum war, so war er quälend und zerrissen.
Liat hatte den Eindruck, jemanden weinen zu hören, und zwar vor
Schmerz. Die Schmerzen aber hatte sie selbst, während das Weinen
von anderswo kam. Wie mochte das zusammenhängen? Dann stand
sie plötzlich in einem Wolkenbruch vor dem Tempel, und alle Türen
waren verschlossen. Sie rief und rief, doch niemand öffnete, und
das Rauschen des Regens ging in Hagel über, und die Körner
wurden immer größer, groß wie Kinderfäuste, und sie konnte sich
nur zusammenrollen, während das Eis wütend auf sie einprasselte.
Als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, hatte sie dröhnende
Kopfschmerzen. Sie lag in einem unbekannten, aus Holz und Metall
gefertigten Bett in einem prächtigen Zimmer. Ein nach Regen
riechender Luftzug kam durch die geöffneten Lamellen der
Fensterläden und bauschte das seidenfeine Mückennetz. Ein raues
Husten und ein Räuspern ließen sie allzu schnell herumfahren, und
sofort schoss ihr ein stechender Schmerz vom Genick bis in den
Bauch. Betäubt schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah
sie den Dichter Heshai mit reuiger Gebärde am Bett sitzen.
»Ich hatte nicht gemerkt, dass du aufgewacht bist« sagte er und
lächelte verlegen. »Sonst wäre ich vorsichtiger gewesen. Du bist im
Zweiten Palast. Ich hätte dich lieber in mein Haus gebracht, aber
hier sind Ärzte in der Nähe.«
Liat wollte eine beschwichtigende Handbewegung machen, musste
aber feststellen, dass ihr rechter Arm in einem dicken Verband
steckte. Wo bin ich?, fragte sie sich. Und wie mag ich hergekommen
sein? Da war etwas … Erst war ich mit Maati in einem Teehaus, und
dann … da war doch etwas … Sie legte die linke Hand über die
Augen und wollte den Schmerz durch einen Willensakt stoppen, um
endlich nachdenken zu können. Dann hörte sie, wie das Mückennetz
beiseitegeschoben wurde, und spürte, dass sich die Matratze nach
links senkte, als der Dichter sich auf die Bettkante setzte.
»Maati?« fragte sie.
»Dem geht es gut« sagte Heshai. »Dich hat es schlimmer getroffen.
Er hat nur eine leichte Gehirnerschütterung und eine Schnittwunde
über dem Ohr. Der Arzt meint, es sei nicht weiter schlimm, wenn
ein junger Mann mal etwas blutet.«
»Was ist passiert?«
»Ihr Götter - du weißt es ja nicht. Zwei lose Ziegel. Die Utkhais
haben eine Geldbuße gegen den Hauseigentümer verhängt, weil er
sein Dach nicht besser in Stand gehalten hat. Deine rechte Schulter
und der Arm - nein, nicht bewegen! Sie sind aus gutem Grund so
fest verbunden. Der erste Ziegel hat dir schlimme Knochenbrüche
beschert. Als sich herausstellte, wer Maati ist, seid ihr zwei in den
Palastbezirk gebracht worden. Die Leibärzte des Khais haben sich
die letzten drei Tage um dich gekümmert. Ich habe das persönlich
veranlasst.«
Liat war verwirrt. So einfach seine Erklärung war, die
Einzelheiten trieben doch langsam an ihr vorbei und verschwanden
dann pfeilschnell in der Dunkelheit. Nur ein Detail konnte sie
festhalten.
»Drei Tage?« fragte sie. »Habe ich drei Tage geschlafen?«
»Geschlafen ist nicht ganz das richtige Wort« erklärte der Dichter.
»Wir haben dir Mohnsaft gegeben, um die Schmerzen zu stillen.
Maati war fast die ganze Zeit hier. Ich habe ihn erst heute Morgen
weggeschickt, damit er sich ausruht, und ihm versprochen, derweil
an deinem Bett zu wachen. Möchtest du Tee?«
Liat wollte eine dankbare Gebärde machen, spürte aber sofort
einen stechenden Schmerz in Schulter und Nacken und nickte nur.
Der Dichter erhob sich langsam, damit die Matratze nicht
hochschnellte und ihr womöglich noch mehr Pein bereitete. Gleich
darauf half er Liat, mit Honig gesüßten Zitronentee zu trinken.
Zwar zog sich ihr Magen zusammen, doch Mund und Kehle lechzten
nach Flüssigkeit wie die Wüste nach ergiebigem Regen. Als Heshai
die Teeschale abstellte und Liat half, sich wieder hinzulegen, sah sie
einen seltsamen Ausdruck in seiner Miene, den sie als Zärtlichkeit
deutete. Sie hatte Heshai immer als hässlich empfunden, doch in
diesem Licht und in diesem Moment schienen sein breiter Mund
und sein schütteres Haar die geläufigen Schönheitsvorstellungen
Lügen zu strafen. Er wirkte stark und doch sanftmütig. Seine
Bewegungen waren so schützend und leidenschaftlich wie die einer
Mutter. Liat fragte sich, warum ihr das nie aufgefallen war.
»Ich möchte dir danken« sagte er. »Dein Unfall hat mir
Gelegenheit gegeben, wenigstens etwas von dem, was Maati für
mich getan hat, zu vergelten. Natürlich reden wir darüber nicht mit
solchen Worten.«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
Der Froschmund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. »Ich
weiß, wie hart es für ihn gewesen ist, sich während meiner
Krankheit um mich zu kümmern. Es ist nicht leicht zu ertragen,
wenn der Meister, der einen ausbilden soll, den Boden unter den
Füßen verliert. Und es ist keine Kleinigkeit, ihm beizustehen, wenn
er sich mühsam wieder aufrappelt. Magst du noch Tee? Der Arzt
sagt, du kannst Tee trinken, so viel du willst, doch mit nahrhafteren
Sachen sollst du es langsam angehen lassen.«
»Nein, danke. Aber ich verstehe noch immer nicht …«
»Du hast Maati in den letzten Wochen sehr glücklich gemacht«
fuhr Heshai leiser fort. »Dass er mir erlaubt hat, nach dir zu sehen,
gibt mir die Möglichkeit, ihm etwas von der Zeit zurückzugeben,
die er sich um mich gekümmert hat.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr bemerkt habt, wie anstrengend
es für ihn war, Euch zu pflegen«, sagte Liat.
Der Dichter machte eine fragende Gebärde.
»Es sah aus, als wärt Ihr … zu sehr mit anderen Dingen
beschäftigt«, fuhr sie fort. »Entschuldigung - es ziemt sich nicht für
mich zu beurteilen, was Ihr »Ach, das ist schon in Ordnung. Ich …
Maati und ich haben noch kein richtiges Verhältnis zueinander
gefunden. Ich schätze, ihr zwei habt so eure Ansichten über mich.
Daran bin ich selber schuld. Ich hab es nicht anders verdient.
Liat schloss die Augen, um ihre Gedanken zu ordnen. Als sie sie
wieder öffnete, war es Nacht, und sie war allein.
Sie erinnerte sich nicht daran, eingeschlafen zu sein. Jemand
musste sie mit einem Federbett zugedeckt haben, und die
Nachtkerze war schon mehr als zur Hälfte niedergebrannt. Trotz
ihrer Schmerzen quälte sie sich aus dem Bett, benutzte den
Nachttopf und legte sich erschöpft wieder hin, konnte aber lange
nicht einschlafen. Sie war nun bei vollem Bewusstsein. So sehr ihr
Körper auch schmerzte: Sie war zuversichtlich, dass er sich wieder
erholen würde. Sie lag im schwachen Licht der Kerze da und
lauschte den leisen Geräuschen der Nacht, vor allem dem Wind, der
um die Fensterläden strich. Das Zimmer roch nach Pfefferminze und
gewürztem Wein. Jemand muss sich einen kräftigen Schluck
genehmigt haben, dachte sie. Oder die Ärzte meinen, das
angenehme Aroma ließe mich schneller gesunden. Immerhin machte
sich nun der Hunger bemerkbar.
Je näher der Morgen rückte, desto wacher wurde Liat und desto
klarer konnte sie denken. Sie probierte aus, wie weit sie die Glieder
zu rühren vermochte, ohne dass es wehtat, und ging sogar etwas im
Zimmer herum. Arm und Schulter waren zwar verbunden, und die
Rippen taten schon weh, wenn sie nur leicht drauf drückte, doch sie
konnte immerhin schmerzfrei atmen, sich aufsetzen und aufstehen.
Auch zu gehen war kein Problem, solange sie nirgendwo anstieß.
Sie stellte sich vor, wie Maati während ihres drei Tage währenden
Tiefschlafs an ihrem Bett gewacht hatte, ohne sich um seine eigenen
Verletzungen zu kümmern. Und sie dachte daran, dass Heshai sich
diese Aufgabe wie ein Freund oder Vater mit ihm geteilt hatte. Nun
hatten die beiden also endlich etwas gemeinsam, und es machte Liat
verlegen und doch seltsam stolz, die Ursache für diese
Gemeinsamkeit zu sein.
Ein dickes Wintergewand hing auf dem Garderobenständer neben
der Tür. Sie zog es mühsam an, schnürte es nicht minder mühsam
mit einer Hand zu und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Maati und
Heshai an ihrem Bett gewacht hatten. Als eine junge Dienerin
auftauchte, schärfte sie ihr ein, niemandem zu sagen, dass sie
aufgestanden war. Sie wollte Maati überraschen. Das Mädchen
nickte so eifrig und ehrerbietig, dass Liat sich fragte, ob Heshai
Ärzten und Pflegerinnen erzählt hatte, wer sie war, oder ob sie sie
für eine fremde Prinzessin hielten.
Maati kam allein. Sein Gewand war zerknittert, sein Haar
ungekämmt. Er trat leise ein und erstarrte, als er das Bett leer und
seinen Stuhl besetzt fand. Liat erhob sich so anmutig wie möglich
und streckte ihm den gesunden Arm entgegen. Er trat heran und
nahm ihre Hand, zog sie aber nicht an sich. Seine Augen waren
blutunterlaufen und glänzten. Er zog die Hand eher zurück als sie,
und sie lächelte fragend.
»Liat-cha« sagte er bekümmert. »Ich freue mich, dass es Euch
besser geht.«
»Was ist passiert?«
»Ich habe gute Nachrichten. Otah ist zurückgekehrt. Er ist gestern
Abend mit einem Brief des Dai angekommen. Offenbar gibt es
keinen Andaten, der Samenlos ersetzen könnte. Deshalb muss ich
alles tun, um Heshais Gesundung zu fördern. Da er bereits
weitgehend genesen ist, dürfte das nicht allzu schwer sein. Es sieht
so aus, als gäbe es niemanden, der seinen Platz einnehmen könnte,
und daran dürfte sich in den nächsten Jahren wenig ändern. Daher
ist es sehr wichtig, dass ich Er verstummte. Auf seinen Lippen lag
ein Lächeln, doch seine Augen sagten etwas ganz anderes. Liat
spürte etwas in sich ersterben. Sie schluckte und nickte.
»Wo ist er?« fragte sie. »Wo ist Itani?«
»Bei Heshai. Er ist vom Schiff aus direkt zu ihm gegangen. Es war
sehr spät, und er war müde. Er wollte sofort zu Euch, aber ich
dachte, Ihr würdet schlafen. Er wird kommen, wenn er sich etwas
erholt hat. Liat, ich hoffe … ich meine, ich …«
Er schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. Als er wieder
aufsah, lächelte er traurig und hilflos, und Tränen liefen ihm über
die Wangen.
»Wir-wussten, dass es schwer sein würde, nicht wahr?« sagte er.
Liat kam auf ihn zu und hatte dabei den Eindruck, wie in Trance
zu handeln. Sie schlang ihm den linken Arm um den Hals, schmiegte
sich an ihn und spürte seine Tränen. Ihre Kehle war wie
zugeschnürt, und sie konnte kein Wort sagen.
»Heshai war sehr …« begann er, doch sie brachte ihn mit einem
Kuss zum Schweigen. Seine Lippen, die ihr inzwischen so vertraut
waren, erwiderten den Kuss. Dann aber spürte sie, wie sie sich zu
einer Grimasse des Schmerzes verzogen. Er schloss den Mund und
trat einen Schritt zurück. Sie wollte ihn umarmen und von ihm
umarmt sein, doch Maatis Miene ließ sie innehalten: Der Junge war
verschwunden, und an seine Stelle war ein Mann getreten, in dessen
Augen etwas rätselhaft Tiefes und Neues lag - und ein großer
Schmerz.
»Liat-cha« sagte er. »Otah ist zurück - versteht doch.«
Liat atmete tief ein und langsam aus. »Ich danke Euch, Maati-cha«
sagte sie. »Vielleicht … vielleicht kann ich euch alle nachher
besuchen. Im Moment bin ich wohl doch erschöpfter als gedacht.«
»Natürlich« sagte Maati. »Ich schicke jemanden, der Euch beim
Auskleiden hilft«
Sie nickte, und Maati tat es ihr nach. Dann sahen sie sich in die
Augen, und in diesem Blick lag alles, worüber sie schwiegen: ihrer
beider Not und seine Entschlossenheit. Maati drehte sich um und
verließ das Zimmer sehr aufrecht. Wie förmlich und beherrscht er
war! Einen Atemzug lang wollte sie ihn zurückrufen, ihn ins Zimmer
und aufs Bett ziehen, um seine Wärme ein letztes Mal zu spüren. Es
war ungerecht, dass ihre Körper nicht voneinander hatten Abschied
nehmen können. Sie jedenfalls hätte diesen Abschied gewollt,
obwohl Itani … obwohl Otah heimgekehrt war und im Dichterhaus
schlief, das sie inzwischen so gut kannte. Sie hätte Maati am liebsten
gerufen, doch die Angst vor Zurückweisung hielt sie davon ab,
denn das hätte ihr das Herz gebrochen. Und er hätte sie
zurückgewiesen - das war ihr klar.
Stattdessen legte sie sich allein aufs Bett. Mochte ihr Körper auch
langsam gesunden: Ihre Lebensgeister lagen am Boden. Sie hatte
erwartet, zwischen Maati und Otah hin und her gerissen zu sein,
doch sie war einfach ausgeschlossen. Die Beziehung ihrer Liebhaber
zueinander war stärker als die Beziehung, die sie selbst zu ihnen
unterhielt. Sie würde beide verlieren. Diese Erkenntnis schnürte ihr
die Kehle zu.

Maati saß auf der Brücke, die über den schwarzen Teich vor dem
Dichterhaus führte. Sein Oberkörper war zusammengesunken, sein
Bauch bleischwer, seine Brust wie zugeschnürt. Es roch nach Regen,
obwohl der Himmel blau war. Die Welt schien tiefdunkel und wie
abgestorben.
Er hatte natürlich gewusst, dass Liat eigentlich nicht seine Geliebte
war. Sie hatten einander in diesen wenigen, kostbaren Wochen
lediglich freundschaftlichen Trost gewährt. Mehr nicht. Und nun, da
Otah zurück war, konnte alles wieder werden wie zuvor - so also,
wie es besser von vornherein geblieben wäre. Dumm nur, dass
Maati furchtbar unter der Wiederherstellung der alten Verhältnisse
litt. Die Erinnerung an Liats Körper und an ihre Küsse verfolgte ihn.
Und kaum sah er Otahs schmales, nachdenkliches Gesicht, plagten
ihn Gewissensbisse.
Und weil das so ist, dachte er, wird nichts mehr so wie es war.
Diese Möglichkeit hat sich als Illusion erwiesen. »Du hast es also
getan?«
Maati wandte sich nach links, in Richtung der Paläste. Samenlos
betrat die Brücke. Er trug ein dunkles Gewand, und seine Miene
war undurchdringlich.
»Ich weiß nicht, was du meinst« sagte Maati.
»Du hast mit der süßen Liat Schluss gemacht und sie dem
zurückgegeben, aus dessen Armen sie zu dir gekommen ist.«
»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst« sagte Maati und sah
wieder auf den dunklen Teich. Samenlos setzte sich neben ihn. Die
Wasseroberfläche reflektierte ihre bleichen, von sanftem
Wellenschwung bewegten Gesichter. Maati wünschte, er hätte einen
Stein, um das Spiegelbild zu zerstören.
»Schlechte Antwort« meinte der Andat. »Schließlich bin ich kein
Dummkopf. Ich weiß, wie hart es für dich ist, sie zu verlieren.«
»Ich habe nichts verloren. Die Lage hat sich nur etwas verändert.
Mir war ohnehin klar, dass es so kommen würde.«
»Na dann« sagte Samenlos sanft. »Das macht die Sache einfach,
nicht wahr? Er schläft noch, oder?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn heute noch nicht besucht.«
»Besucht? Er schläft auf deinem Sofa!«
»Trotzdem« sagte Maati achselzuckend. »Ich bin noch nicht so
weit, ihn wiederzusehen. Heute Abend vielleicht. Nur nicht jetzt.«
Sie schwiegen einen langen Moment. Krähen krächzten in den
Wipfeln und hüpften mit ausgestreckten Flügeln auf zweigdünnen
Beinen. Im Wasser war eine träge Bewegung zu erkennen: Ein
Zierkarpfen brachte die Wasseroberfläche zum Kräuseln.
»Würde es dir helfen, dir mein Beileid auszusprechen?«, fragte
Samenlos.
»Nicht besonders.«
»Trotzdem.«
»Ich kann mir kaum denken, dass dir das nahegeht. Ich vermute
eher, du amüsierst dich köstlich.«
»Eigentlich nicht. Einerseits empfinde ich - auch wenn du mir nicht
glauben solltest - bei deinem Leid kein wirkliches Vergnügen. Noch
nicht, jedenfalls. Wenn du eines Tages Heshais Aufgaben
übernimmst … nun, dann haben wir beide ohnehin keine Wahl
mehr. Andererseits lassen deine Erfahrungen dich ihm ähnlicher
werden, und das liegt sicher nicht in meinem Interesse. Eine Frau,
die man geliebt und verloren hat; der Schmerz, den man mit sich
herumträgt - dieser Schmerz treibt ihn an, und auch du lernst ihn
nun kennen.«
»Wenn du sagst, es tut dir leid, bedauerst du also, dass mein
Schmerz mir helfen wird, meine Aufgabe zu erfüllen?«
»Lässt der Schmerz dich etwa nicht daran zweifeln, dass die
Aufgabe es wert ist, angegangen zu werden?«, fragte Samenlos
belustigt, während seine Miene ernst blieb. »Der Dai dürfte diese
Zweifel freilich nicht teilen.«
»Nein«, seufzte Maati. »Wenigstens einer, der weiß, was richtig
ist.«
»Und doch sind wir schlau«, sagte Samenlos. »Na, du vielleicht
nicht. Du bist schwer mit Liebeskummer beschäftigt. Aber ich. Und
vielleicht fällt mir etwas ein.«
Maati wandte sich Samenlos zu, doch auf dem bleichen Gesicht des
Andaten lag nur eine distanzierte Heiterkeit.
»Denkst du an etwas Bestimmtes?«, fragte Maati, doch Samenlos
antwortete nicht.

Als Otah erwachte, fiel Tageslicht durch die halb geöffneten


Lamellen der Fensterläden. Im ersten Moment war ihm nicht klar,
dass er an Land war, und er glaubte sich noch immer auf See. Dann
ließen das helle Holz und der Weihrauch, die Schriftrollen und
Bücher und das Rauschen des Winterregens ihn begreifen, wo er
war, und er stand auf. Im Kamin verglomm ein Feuer. Heshai und
Maati waren verschwunden, doch auf dem Tisch stand ein Teller
mit Trockenobst und frischem Brot. Daneben lag der Brief des Dai.
Heshai musste ihn geöffnet und liegen gelassen haben. Otah setzte
sich an den Tisch und aß.
Die Rückreise war leicht gewesen. Der Fluss hatte ihn nach
Yalakeht getragen, von wo er auf einem Handelsschiff voller Pelze
aufgebrochen war, das nach Eddensea wollte. Er hatte angeheuert,
um sich die Fahrt zu verdienen, und Kapitän und Mannschaft waren
mit ihm zufrieden gewesen. Otah vermutete, dass sie gerade im
Vergnügungsviertel ihre Heuer ausgaben, ehe es auf die lange
Weiterreise ging.
Heshai schien weitgehend genesen und so aufmerksam und
geistesgegenwärtig wie seit Jahren nicht. Otah hatte sogar den
Eindruck, Maati und sein Lehrer kämen nun besser miteinander
zurecht. Vielleicht hatten die Schwierigkeiten, die sie gemeinsam
überstanden hatten, sie zusammengeführt. Ob es die schlechte
Nachricht von Liats Verletzung gewesen war oder Otahs
Erschöpfung und sein Gefühl, nicht wirklich willkommen zu sein:
Irgendwas stimmte nicht. Und die Müdigkeit in Maatis Augen
konnte Otah sich auch nicht erklären.
Zuerst brauchte er natürlich ein Bad. Und dann wollte er Liat
sehen. Und dann … dann war er sich nicht so sicher. Er war zum
Dai gereist und mit einer Nachricht zurückgekehrt, die schon jetzt
veraltet schien. Maati zufolge hatte Heshai seine Krankheit ohne die
Hilfe des Dai besiegt. Majs trauriges Los geriet langsam in
Vergessenheit, und andere Nachrichten beschäftigten die Stadt: die
Baumwollschädlinge, die die Felder im Norden heimsuchten; der
Färber, der sich umgebracht hatte, nachdem er den Verdienst eines
ganzen Jahres verspielt hatte; Liats alte Ausbilderin Amat Kyaan,
die ihre langjährige Position bei Marchat Wilsin aufgegeben hatte,
um ein Bordell im Vergnügungsviertel zu übernehmen; die so
banalen wie blutigen Erbstreitigkeiten, die die Söhne der Khais
untereinander austrugen.
So hatte Otahs Mission, die bei seiner Abreise so wichtig schien,
sich bei der Rückkehr als überflüssig erwiesen. Und obwohl er
gehofft hatte, sich auf der Reise über manches klar zu werden,
musste er feststellen, dass ihm auch dies nicht gelungen war. Er
könnte am Nachmittag zu Muhatia gehen - vielleicht würde das
Haus Wilsin ihn ja weiterbeschäftigen, bis er seinen Vertrag erfüllt
hatte. Aber vermutlich konnte er auch anderswo in der Stadt eine
Arbeit finden, mit der er eine Kammer und sein Essen würde
bezahlen können. Die Welt stand ihm offen. Wenn es nicht Liat,
Maati und sein Leben als Itani Noyga gäbe, hätte er womöglich Orai
Vaukheters Angebot angenommen und wäre Kurier geworden.
Er aß getrocknete Apfelschnitze und Pflaumenstücke, kaute
nachdenklich auf dem süßen Obst herum und schmeckte dem
langsamen Wandel der Aromen nach. Nein, sein Leben war
eigentlich gar nicht so schlecht. Seine Arbeit war einfach, und er war
gut darin. Wenn er sich nur etwas mehr Mühe gäbe, würde er als
freundlicher junger Mann, der lesen und schreiben konnte, in einem
Handelshaus, bei der Hafenbehörde oder anderswo eine Anstellung
finden. Und noch vor einem halben Jahr wäre er damit zufrieden
gewesen. Doch seither hatte sich eine Frage ergeben, die noch
immer ungelöst im Raum stand: Sollte er sich für ein Leben als Otah
oder als Itani entscheiden? »Ach, du bist aufgestanden?«, hörte er
eine leise Stimme. »Und die beiden Dichter sind noch immer
unterwegs. Das ist gut, denn wir zwei haben etwas zu besprechen.
Samenlos lehnte mit verschränkten Armen an einem Bücherregal
und musterte ihn. Otah schob sich das letzte Stück Pflaume in den
Mund und grüßte dann, wie es sich für jemanden von niederer
Stellung gegenüber einem Utkhai ziemte, da es seines Wissens
keinen Verhaltenskodex gab, der den Umgang zwischen Arbeitern
und Andaten regelte. Samenlos machte eine wegwerfende
Handbewegung und schwebte heran, wobei seine blauen und
schwarzen Gewänder aneinanderrieben und ein zischelndes
Geräusch erzeugten.
»Otah Machi«, sagte der Andat. »Otah ohne Brandmal. Der Mann,
der zu klug war, Dichter zu werden, und zu dumm, sich das
Brandmal verpassen zu lassen. Schön, dich zu sehen.«
Otah sah dem Andaten in die schimmernden schwarzen Augen
und spürte sich erröten. Er hatte bereits zu einer Gebärde angesetzt,
die alles abstreiten sollte, als ihn etwas in der bleichen,
maskenhaften Miene des Andaten innehalten ließ. Er senkte die
Arme.
»Gut« sagte Samenlos. »Ich hatte gehofft, wir würden uns das
ersparen. Wir sind gegenwärtig etwas unter Zeitdruck.«
»Wie hast du das herausgefunden? »Ich habe gelauscht und
gelogen, also nur getan, was jeder tut, der einem Geheimnis auf die
Spur kommen will. Warst du schon bei Liat? »Noch nicht.«
»Aber du weißt von der Sache mit den Ziegeln, oder?«
»Maati hat es mir erzählt.«
»Es war kein Unfall. Jemand hat sie töten wollen.«
Otah runzelte die Stirn und spürte, dass Samenlos ihn scharf
musterte. Er zwang sich, ruhig zu bleiben.
»Steckst du dahinter?«
»Ich doch nicht!« rief Samenlos und lümmelte sich aufs Sofa, als
wären sie alte Freunde, die nur ein wenig plauderten. »Erstens
würde ich so etwas nicht tun, und zweitens hätte ich sie nicht
verfehlt. Nein, das waren Marchat Wilsin und seine Leute.«
Otah beugte sich vor und verbarg seine Belustigung nicht. Der
Andat saß völlig reglos da.
»Du weißt doch wohl, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, dir
zu glauben, was du da sagst.«
»Ja« erwiderte Samenlos, »aber lass mich ausreden. Danach kannst
du meine kleine Geschichte im Ganzen verwerfen, statt jedes Detail
abzulehnen.«
»Wilsin hat keinen Grund, Liat angreifen zu lassen.«
»Doch. Seine Sünden kommen zu ihm zurück und drohen, ihn zu
vernichten, verstehst du? Hinter dem Vorfall mit dem Inselmädchen
steckt mehr als es scheint. Hör mir gut zu, denn was ich dir jetzt
anvertraue, ist so geheim, dass schon Menschen getötet wurden,
weil sie davon wussten. Der Galtische Rat hat die Sache mit dem
Inselmädchen in die Wege geleitet. Wilsin hat dem Rat dabei
geholfen. Seine Verwalterin Amat Kyaan hat das herausgefunden
und ihr Leben der Aufgabe gewidmet, diese schmutzige Sache ans
Licht zu bringen. Und Wilsin in seiner nicht sehr großen Weisheit
beseitigt nun, was Amat bei ihren Untersuchungen hilfreich sein
könnte. Und dazu gehört nun mal auch Liat.«
Otah machte eine unwillige Gebärde, stand auf und suchte sein
Gewand.
»Jetzt hab ich aber genug …«
»Ich weiß, wer du bist, Junge. Setz dich, oder ich werde dafür
sorgen, dass du den Rest deines Lebens vor deinen Brüdern um
eines Throns willen fliehen musst, auf dem du nicht einmal sitzen
möchtest.«
Otah hielt inne. Dann setzte er sich wieder.
»Gut. Der Galtische Rat wollte sich mit den Andaten verbünden
und hat uns armen, geknechteten Geistern im Gegenzug die Freiheit
versprochen. Die Galten wollen die Einfuhr von Rohstoffen
unterbinden, deren Verarbeitung die Städte der Khais ihren
einzigartigen Wohlstand verdanken. Dann wollen sie eure Städte
überrennen, als wären sie nur Verwaltungssitze von
Zwergmonarchien, in denen sich freilich mehr Gold und weniger
Soldaten befinden, als man es von solchen Staaten gewöhnt ist. Es
ist ein furchtbarer Plan.«
»Ach ja?«
»Ja. Das Verhalten von Andaten ist nicht vorhersagbar. Das macht
uns zwei so ähnlich. Ruhig bleiben, Otah! Du wirkst, als würde ich
dir ein Messer vor den Bauch halten.«
»So kommt es mir auch vor.«
Der Andat lehnte sich zurück und wies auf das leere Haus, in dem
sie saßen, auf das verglimmende Feuer und auf den Regen.
»Hier hört uns niemand. Was immer wir besprechen, bleibt unter
uns, solange wir es niemandem anvertrauen.«
»Und ich soll darauf zählen, dass du den Mund hältst?«
»Natürlich nicht. Sei kein Esel! Aber je weniger du sagst, desto
weniger kann ich anderen erzählen, oder? Also, Amat ist Wilsin auf
der Spur und wird nicht aufhören, ehe sie alle Beweise gegen ihn
zusammen hat. Im Grunde ihrer Seele ist sie ein Jagdhund. Und
weißt du, was dann passiert?«
»Sie wird mit ihren Beweisen zum Khai gehen.«
»Genau!« rief der Andat und klatschte in die Hände, als hätte
Otah eine gewinnbringende Preisfrage beantwortet. »Und was wird
Khai Saraykeht dann wohl tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nein? Jetzt enttäuschst du mich aber. Er wird etwas Blutiges,
Grelles und ganz Unverhältnismäßiges tun. Etwas, das sich anhört
wie eine Plage aus den alten Epen. Ich schätze und das ist natürlich
nur meine Meinung, doch ich halte mich für ziemlich beschlagen,
was uneingeschränkte Macht anlangt -, dass er mir und Heshai
befehlen wird, allen schwangeren Frauen in Galtland eine
Fehlgeburt zu bescheren. Ich werde also an sich das Gleiche tun
müssen wie sonst bei der Baumwollernte - mit freilich schlimmen
Folgen für womöglich Tausende von Schwangeren.«
»Das würde Heshai das Herz brechen« sagte Otah.
»Aber nein. Es wird ihn noch mehr verbiegen, als er schon
verbogen ist, aber brechen wird es ihn nicht. Schließlich hat ihn auch
Majs Fehlgeburt nicht dauerhaft niedergestreckt und je weiter weg
eine Tragödie sich zuträgt, desto weniger setzt sie uns zu. Wer
seinen Daumen nah vors Auge hält, kann einen Berg verdecken.
Einige tausend Fehlgeburten in Galtland werden Heshai nahegehen,
aber er muss es ja nicht mit ansehen. Er kann sich ein paar Flaschen
billigen Wein und ein paar schwarze Monate gönnen. Und dann
wird er Maati ausbilden. Der Junge wird bald genug Einsamkeit,
Selbsthass und Schmerz angehäuft haben, um mich bis an mein
Lebensende in Schach zu halten. Das gelingt ihm ja jetzt schon
bisweilen. Heshai hat sich verliebt und seine Liebe verloren, und
seither zerfressen ihn Schuldgefühle. Bei Maati wird es genauso
sein.«
»Wird es nicht« sagte Otah.
Samenlos lachte. »Na, lassen wir das. Betrachten wir lieber die
nähere Zukunft. Hier meine Prophezeiung, Otah von Machi: Amat
wird Anklage gegen Marchat Wilsin erheben - egal, ob Liat bis
dahin tot ist oder nicht. Dann müssen unschuldige Galten büßen,
Maati wird bis ans Ende seiner Tage leiden, und ich verrate dich an
deine Familie, obwohl ich finde, dass es schon sehr kleinlich von dir
ist, dir in dieser Situation darüber Sorgen zu machen. Deine
Probleme sind nämlich unbedeutend, weißt du.« Samenlos hielt kurz
inne und fragte dann: »Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Dann ist dir auch klar, warum wir handeln müssen?«
»Wir?«
»Du und ich, Otah. Wir können all das verhindern. Wir zusammen
können alle retten. Deshalb bin ich zu dir gekommen.«
Das Gesicht des Andaten war nun vollkommen ernst, und er hob
geradezu flehentlich die Hände. Otah sah ihn fragend an. Der Wind
rüttelte an den Fensterläden, und ein kühler Hauch berührte Otahs
Nacken.
»Wir können unsere Liebsten retten. Saraykeht wird untergehen,
und dagegen lässt sich nichts tun. Die Stadt wird fallen, aber wir
werden Liat und Maati und alle schwangeren Galtinnen retten, die
an dieser Sache völlig unschuldig sind. Du musst lediglich einen
Mann töten, der - ich schwöre es in dein Messer laufen würde,
wenn du es nur tapfer ausgestreckt hältst. Du musst mich töten.«
»Dich oder Heshai?«
»Das macht keinen Unterschied.«
Otah stand auf, und Samenlos tat es ihm nach. Sein vollkommenes
Gesicht wirkte schmerzerfüllt, und seine flehentliche Gebärde schien
aufrichtig.
»Bitte« sagte er. »Ich kann dir sagen, wohin er geht, wann er sich
wo aufhält und wie lange er braucht, um sich in den Schlaf zu
trinken. Du brauchst nur »Nein« sagte Otah. »Ich soll jemanden
umbringen? Auf deine Einflüsterungen hin? Das werde ich nicht
tun.«
Samenlos ließ die Hände sinken und schüttelte enttäuscht und
angewidert den Kopf.
»Dann wirst du jeden, an dem dir liegt, leiden und sterben sehen.
Mal schauen, ob dir das lieber ist. Aber solltest du es dir noch
anders überlegen, dann schnell. Amat ist ihrem Ziel näher, als sie
ahnt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
17

»Es muss etwas geschehen« sagte Torish Weiss. »Gestern ist sie
auf die Straße gelaufen. Nicht auszudenken, wie sie reagiert hätte,
wäre sie für eine Hure gehalten worden. Unbeherrscht, wie sie ist,
hätte sie uns die Wache auf den Hals hetzen können. Das darf nicht
so weitergehen.«
Amats Zimmer war dunkel. Vor den Fenstern und der
Terrassentür hingen dicke Stoffbahnen, um die Wärme im Haus zu
halten und das Tageslicht auszusperren. Ein Stockwerk tiefer
schliefen die Angehörigen des Hauses und Maj. Nur Amat und
Torish waren noch wach.
»Mir ist klar, was sein darf und was nicht« sagte Amat müde. »Ich
werde mich darum kümmern.«
Torish schüttelte düster den Kopf. »Bei allem Respekt,
Großmutter«, sagte er, »diese Litanei kenne ich schon. Das Inselkind
macht dauernd Schwierigkeiten. Ein ernstes Wort wird genauso
wenig bewirken wie letztes und vorletztes Mal.«
Amat richtete sich im Stuhl auf. Sie war wütend - nicht zuletzt
deswegen, weil er Recht hatte -, machte eine fragende Gebärde und
sagte dann: »Ich wusste gar nicht, dass Ihr hier die Geschäfte führt.«
Torish schüttelte erneut seinen Bärenschädel und sah bedauernd
oder auch beschämt zu Boden.
»Es ist Euer Haus« erklärte er. »Aber es sind meine Männer. Wenn
Euer Verhalten dazu führt, dass sie mit der Wache Ärger
bekommen, wird kein Geld der Welt reichen, sie hier zu halten. Tut
mir leid.«
»Würdet Ihr den Vertrag brechen?«
»Nein, aber ich will ihn nicht erneuern. Nicht zu diesen
Bedingungen. Das ist einer der besten Verträge, die wir je hatten,
aber ich lasse mich auf keinen Kampf ein, den wir nicht gewinnen
können. Wenn Ihr das Mädchen nicht an die Leine nehmt, können
wir nicht weiter für Euch arbeiten. Und bei allem Respekt: Ihr seid
auf uns angewiesen.«
»Sie hat letzten Sommer ihr Kind verloren«, sagte Amat. »Mitunter
passieren eben schlimme Sachen« erwiderte Torish Weiss
überraschend sanft. »Aber das Leben geht weiter.«
Damit hatte er natürlich Recht, und das war besonders ärgerlich.
Amat, die an seiner Stelle genauso reagiert hätte, machte eine
zustimmende Gebärde.
»Ich verstehe Euren Standpunkt, Torish-cha, und werde dafür
sorgen, dass Maj Eure Männer und den Vertrag nicht gefährdet.
Lasst mir ein, zwei Tage Zeit - dann ist die Sache erledigt.«
Er nickte, drehte sich um und verließ das Zimmer. Gut, dass er
den Anstand besaß, nicht zu fragen, was sie vorhatte, denn sie hätte
es nicht zu sagen vermocht. Amat stand auf, nahm ihren Stock und
trat auf die Terrasse. Der Regen hatte aufgehört, und eine fahle
Wolkendecke hing über der Stadt. Kreischende Möwen kreisten
über den Dächern. Amat atmete tief ein, gebot ihren Tränen keinen
Einhalt mehr und weinte vor Erschöpfung, aber auch aus vielen
anderen Gründen. Doch das Weinen brachte ihr keine
Erleichterung.
Wegen der ausgiebigen Regenfälle, die am Vortag begonnen und
erst am Vormittag aufgehört hatten, waren die Straßen des
Vergnügungsviertels fast ausgestorben. Daher fielen die beiden
jungen Männer, die nun um die Ecke bogen, Amat sofort ins Auge.
Der Ältere hatte die breiten Schultern eines Matrosen oder
Lagerarbeiters und ein schmales Gesicht und trug ein sehr
förmliches Gewand. Der Jüngere war kleiner, wirkte schwächer und
trug die braune Dichterrobe. Kaum hatte sie die beiden gesehen,
wusste Amat, dass sie sich noch immer nicht würde ausruhen
können. Sie beobachtete die zwei, bis sie dem Bordell so nahe
gekommen waren, dass sie sich übers Geländer hätte beugen
müssen, um sie im Blick zu behalten. Dann ging sie ins Zimmer
zurück und sammelte sich. Es dauerte länger als erwartet, bis der
Wächter kam und die beiden meldete. Vielleicht hatte Torish ja
gemerkt, wie müde sie war.
Der Ältere erwies sich als Itani Noyga, Liats verschwundener
Liebhaber, und der Jüngere war natürlich der angehende Dichter
Maati. Amat saß am Schreibtisch, hieß die beiden willkommen und
bot ihnen Stühle an. Die zwei setzten sich. Sie bildeten einen
interessanten Gegensatz. Beide wirkten ernst, doch Itanis Blick
schien ihr wesensverwandt, wie er ständig hin und her glitt, mal
ihr, mal einem Gegenstand im Zimmer galt und dabei die ganze Zeit
nach etwas zu suchen schien. Der Dichterlehrling hingegen war wie
sein Meister: grüblerisch und in sich gekehrt. Oder wie Marchat
Wilsin. Amat schlang die Hände ums Knie und beugte sich ein
wenig vor.
»Was führt Euch zu mir, junge Herren?« fragte sie. Das klang so
freundlich wie abwartend, war aber eine überflüssige
Vorsichtsmaßnahme, denn Itani war offensichtlich nicht auf seinen
persönlichen Vorteil aus.
»Amat-cha« begann er. »Ich habe gehört, Ihr versucht zu
beweisen, dass der Galtische Rat sich mit dem Andaten Samenlos
verschworen hat.«
»Ja, ich ermittle in diese Richtung und habe mich mit dem Haus
Wilsin überworfen« erklärte Amat, »aber ich weiß nicht, ob man
wirklich sagen kann, der Galtische Rat habe -«
»Amat-cha«, unterbrach Maati, der junge Dichter. »Jemand hat
versucht, Liat Chokavi zu töten. Und Itani meint, das habe etwas
mit Euch und Marchat Wilsin zu tun.«
Amat merkte, dass ihr der Atem stockte. Der alte Dummkopf
Marchat verlor offenbar die Nerven. Liat Chokavi war seine beste
Entlastungszeugin - vorausgesetzt, er konnte darauf vertrauen, dass
sie vor dem Khai das Richtige aussagte. Und genau das konnte er
nicht. Sie war zu jung und zu unerfahren in diesen Dingen. Deshalb
hatte er sie damals ja damit betraut, sich um Maj zu kümmern. Ihr
wurde flau im Magen.
»Möglich«, sagte sie. »Wie geht es Liat?«
»Sie erholt sich im Palast des Khai« sagte Itani. »Zum Glück hat
sich ihr Zustand sehr gebessert. Morgen kann sie wieder nach
Hause. Darauf wartet Wilsin-cha freilich nur.«
»Sie darf nicht wieder nach Hause« sagte Amat.
»Dann stimmt es also« erwiderte Itani finster. Amat machte eine
bestätigende Gebärde. »Ich konnte nicht verhindern, was Maj
widerfahren ist, aber Marchat Wilsin wusste, dass das Mädchen
getäuscht wurde. Ich glaube, auch der Galtische Rat war eingeweiht,
doch das kann ich noch nicht beweisen.
»Beschützt Liat«, bat Maati, »und wir werden für Euch alles
Erdenkliche tun.«
»Und du, Itani? Siehst du das genauso?«
»Ja« sagte der junge Mann »Das könnte bedeuten, dass auch du
vor dem Khai aussagen und ihm erzählen musst, wohin du in der
Nacht gegangen bist, als du Wilsins Leibwächter warst.«
Itani zögerte, machte dann aber eine zustimmende Gebärde.
Amat lehnte sich zurück und hob die Hand, um den beiden zu
bedeuten, dass sie einen Moment ungestört überlegen wollte. Diese
Entwicklung hatte sie nicht erwartet, doch vielleicht war sie genau
das, was sie brauchte. Falls der junge Dichter seinen Meister
beeinflussen oder eine Notiz finden konnte, die Heshais
Verhandlungen mit Marchat festhielt und aus der hervorging, dass
Wilsin wusste, dass alles ganz anders war, als es schien … Doch an
dieser Sache war mehr dran - das war ihr klar. Etwas stimmte noch
nicht.
»Ich verstehe ja, warum Itani gekommen ist« sagte Amat. »Aber
welches Interesse hat der Dichter an Liat Chokavi? »Wir sind
befreundet« sagte Maati und reckte leicht das Kinn. Seine Augen
schienen sie herausfordernd anzusehen.
Ah, dachte Amat, so ist das also. Sie fragte sich, wie weit diese
Freundschaft gediehen sein mochte und ob Itani davon wusste,
obwohl es für sie und für das, was vor ihr lag, nicht von Bedeutung
war.
Liat mochte zwar eine wichtige Zeugin sein und einige
bezeichnende Einzelheiten beitragen, die beweisen konnten, dass
Marchat vom doppelten Spiel des Übersetzers Oshai gewusst hatte,
doch Amat tat ihr sicher keinen Gefallen damit, sie in diese Sache
hineinzuziehen. Amat hatte darüber nachgedacht, seit sie das
Bordell übernommen hatte, war aber zu keinem Schluss gekommen.
Nun war sie zu einer Entscheidung gezwungen.
Liat könnte sich ein Zimmer mit Maj teilen, überlegte sie, doch
diese Idee riecht förmlich nach Katastrophe. Bei den Huren aber
kann ich sie unmöglich unterbringen. Vielleicht kann sie ein Notbett
in meinem Zimmer beziehen? Oder eine Wohnung in der Vorstadt?
Mit einem Wächter natürlich …
Um all das kann ich mich später kümmern, dachte sie dann und
stand auf. Die jungen Männer taten es ihr gleich.
»Bringt sie her« sagte sie. »Heute Abend. Und achtet darauf, dass
Marchat Wilsin nichts davon mitbekommt. Erzählt Liat so spät wie
möglich davon. Ich sorge von heute an für ihre Sicherheit - ihr könnt
mir vertrauen.«
»Danke, Amat-cha« sagte Itani. »Aber seid Ihr wirklich bereit,
dauerhaft Verantwortung für Liat zu übernehmen? Eure
Nachforschungen und deren gerichtliche Überprüfung können sich
schließlich jahrelang hinziehen.«
»Hoffentlich nicht« seufzte Amat. »Aber ich sage euch: Ich werde
diese Sache zu Ende bringen und die Verschwörung aufdecken -
koste es, was es wolle.«
»Ich glaube Euch« sagte Itani.
Sie hielt inne. Seine Stimme hatte geklungen, als habe er mit
diesem Bekenntnis gerechnet. Sie hatte ihm offenbar etwas
bestätigt, was er vermutet hatte, fragte sich aber vergebens, was
genau es gewesen sein mochte.
Sie rief Torish herein, machte ihn mit den Besuchern bekannt und
ließ sie miteinander einen Plan ausarbeiten. Das Mädchen würde am
Abend zur Hintertür des Bordells kommen, und zwar gleich nach
Sonnenuntergang. Zwei von Torishs Männern würden sie am
Palastbezirk abholen, um sicherzustellen, dass ihr auf dem Weg
nichts zustieß. Auch Itani würde mitkommen und Liat die Situation
erklären.
Amat schickte die drei kurz vor Mittag weg, legte sich ins Bett
und schloss die Augen. Alle Befürchtungen, die Aufregungen des
Vormittags könnten ihr den Mittagsschlaf rauben, erwiesen sich als
unbegründet, und sie schlummerte sofort ein. Stunden später
erwachte sie, als die Abendsonne ihr durch einen Spalt zwischen
Mauer und Stoff ins Gesicht schien.
Sie rief Mitat zur üblichen Besprechung. Die Rothaarige kam mit
einer Schale geschmortem Rindfleisch auf Reis und einer Flasche
gutem Rotwein ins Zimmer. Amat setzte sich an den Schreibtisch
und aß, während Mitat kurz das Wichtigste für sie zusammenfasste:
Einer der Männer glaubte herausgefunden zu haben, wie am
Spieltisch betrogen wurde, und wollte es im Lauf der Nacht
endgültig in Erfahrung bringen; der kleine Namya hatte einen
Ausschlag auf dem Rücken und musste zum Arzt, während Chiyan
sich von ihrem Besuch in der Perlenstraße gut erholte und in einigen
Tagen wieder würde arbeiten können; zwei Mädchen waren
offenbar weggelaufen, und Mitat war dabei, sich um Ersatz zu
kümmern. Amat nahm das alles aufmerksam zur Kenntnis und
passte die Einzelheiten in das vielschichtige Gebilde ein, zu dem ihr
Leben geworden war.
»Torish hat seine Männer losgeschickt, um das Mädchen zu holen,
über das Ihr am Vormittag mit Eurem Besuch gesprochen habt« fuhr
Mitat fort. »Sie dürften bald zurück »Ich brauche eine Liege für die
junge Frau«, sagte Amat. »Stell sie da drüben an der Wand auf.«
Mitat nickte gehorsam, lächelte dabei aber ein wenig. Als sie
merkte, dass ihrer Herrin dies nicht entging, grinste sie breit.
»Was gibt es?« fragte Amat.
»Die andere Sache«, sagte Mitat. »Eure Nachforschung zu Maj und
den Galten. Vorhin ist ein Mann aus einem Arbeiterwohnhaus
aufgetaucht und hat gefragt, ob Ihr nur für Informationen über das
Inselmädchen zahlen würdet oder ob Ihr auch etwas über das
andere Mädchen wissen wollt.«
Amat hörte auf zu kauen. »Welches andere Mädchen?« fragte sie.
»Oshai hat es wohl im Vorjahr hergebracht.«
Amat lehnte sich zurück und brauchte einige Sekunden, um zu
begreifen. So bleischwer ihre Erschöpfung war, nun keimte
Hoffnung in ihr auf. Hoffnung und Erleichterung.
»Es hat also noch ein Mädchen gegeben?«
»Ich habe mir doch gedacht, dass Euch das interessieren würde«,
sagte Mitat.

Maati saß auf den Holzstufen, die zur Tür des Dichterhauses
hinaufführten, und starrte ins schwarze Astwerk der kahlen Bäume,
auf die dunkle Oberfläche des Teichs und auf die Paläste des Khai,
deren Lampen wie Glühwürmchen funkelten. Es war Nacht
geworden, doch im Westen stand noch das letzte Abendrot am
Himmel. Ihn fror an Gesicht und Händen, und er saß vorgebeugt
und zusammengekauert da. Doch er ging nicht ins Warme, denn
ihm war nicht nach Trost zumute.
Otah und Liat waren kurz vor Sonnenuntergang aufgebrochen und
inzwischen wahrscheinlich schon im Vergnügungsviertel. Maati
stellte sich vor, wie sie raschen Schrittes durch die engen Straßen
gingen, wobei Otah ihr den Arm schützend um die Schulter gelegt
hatte. Er würde dafür sorgen, dass sie nicht in Gefahr geriet. Maatis
Anwesenheit war da vollkommen überflüssig.
Die Tür hinter ihm ging kratzend auf. Maati wandte sich nicht um.
An den langsamen, schwerfälligen Schritten erkannte er sofort, dass
sein Lehrer und nicht Samenlos aus dem Haus kam.
»Es ist noch Huhn da« sagte Heshai. »Und das Brot ist sehr gut.«
»Danke. Vielleicht später.«
Der Dichter ließ sich neben seinem Schüler nieder und beobachtete
mit ihm, wie die letzten Spuren der Dämmerung schwanden und es
Nacht wurde. Maati hörte den pfeifenden Atem des alten Mannes
trotz der krächzenden Krähen.
»Geht es ihr gut?« fragte Heshai.
»Das nehme ich an.«
»Sie wird bald wieder bei Wilsin-cha einziehen. Er -«
»Das wird sie nicht« unterbrach ihn Maati. »Amat Kyaan, seine
frühere Verwalterin, nimmt sie bei sich auf.«
»Damit verliert das Haus Wilsin schon wieder eine gute
Mitarbeiterin. Das wird Marchat nicht gefallen« sagte Heshai und
zuckte dann die Achseln. »Aber das hat der Kerl davon, seine Leute
so schlecht zu behandeln, schätze ich.«
»Wahrscheinlich.«
»Dein Freund ist zurück, der Lagerarbeiter, hm?«
Maati schwieg. Ihm war einfach nur kalt, äußerlich wie innerlich.
Heshai warf ihm einen Seitenblick zu, seufzte und tätschelte ihm
dann das Knie, wie sein Vater es womöglich getan hätte, wenn die
Welt eine andere gewesen wäre. Maati spürte, dass ihm Tränen in
die Augen traten.
»Komm rein« sagte der Dichter. »Ich mache uns warmen Wein mit
Gewürzen.«
Maati ließ sich überreden, zurück ins Haus zu gehen. Nun, da
Heshai genesen war, versank es allmählich wieder in dem Chaos,
das er bei seiner Ankunft vorgefunden hatte. Bücher und
Schriftrollen lagen offen auf allen Tischen und rings um die Sofas
herum. Ein Tintenfass stand ohne Unterlage auf dem Schreibtisch,
und Tintenflecken waren ringsum ins Holz gezogen. Maati hockte
sich ans Feuer und sah so nachdenklich in die Flammen wie zuvor in
die Dämmerung - und natürlich war das eine so fruchtlos wie das
andere.
Hinter ihm werkelte Heshai, und bald zog schwerer Weingeruch
durch die Wohnung. Maati knurrte der Magen. Also rappelte er sich
auf und ging zum Tisch, wo die Reste des Abendessens auf ihn
warteten. Er griff nach einer fettigen Hähnchenkeule und musterte
sie. Heshai ließ sich ihm gegenüber nieder und reichte ihm eine
dicke Scheibe Schwarzbrot. Maati nahm sie mit einer flüchtigen
Dankesgebärde. Dann füllte Heshai Wein in eine dicke Keramiktasse
und schob sie ihm hin. Der Wein war schwer und aromatisch, und
er wärmte ihn.
»Wir haben eine harte Woche vor uns« sagte Heshai. »Morgen gibt
es ein Essen für die Gesandten aus Cetani und Udun, an dem wir
teilnehmen sollten. Und übermorgen wird im Tempel ein Gelehrter
sprechen. Wenn du magst …«
»Ganz wie Ihr wollt, Heshai-kvo«, sagte Maati.
»Ich muss da nicht hin« erklärte der Dichter. »Ich habe diese
religiösen Gelehrten schon immer für Idioten gehalten.«
Er lächelte verschmitzt und schien über seine Respektlosigkeit
nicht wenig amüsiert. Maati glaubte kurz zu erkennen, wie Heshai
als junger Mann ausgesehen hatte, und lächelte unwillkürlich
zurück. Heshai schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Na bitte! rief er. »Ich wusste doch, dass du nicht ganz und gar in
Trübsal versunken bist.«
Maati schüttelte den Kopf und brachte seine Dankbarkeit dann
herzlicher und ernsthafter zum Ausdruck als eben noch. Heshai
reagierte mit einem onkelhaften Nicken. Maati seufzte. Er konnte es
genauso gut jetzt hinter sich bringen. Womöglich war dieser
Moment sogar geeigneter als viele andere.
»Ist Samenlos da?«, fragte er.
»Was? Nein. Ich schätze, der treibt sich irgendwo herum und zeigt
allen Leuten, wie schlau er ist«, sagte Heshai bitter. »Ich sollte ihn
zwar gefangen halten, aber diese Folterkiste …«
»Nein, das ist gut so. Ich muss etwas mit Euch besprechen und
möchte nicht, dass er in der Nähe ist.«
Der Dichter runzelte die Stirn, forderte Maati aber mit einem
Nicken auf, fortzufahren.
»Es geht um das Inselmädchen und darum, was sie erlitten hat. Ich
glaube, dahinter steckte mehr, als es den Anschein hatte. Und
Marchat Wilsin wusste das. Er hat alles in die Wege geleitet, weil
der Galtische Rat es ihm befohlen hat. Und Amat Kyaan, bei der
Liat nun wohnt, sammelt die entsprechenden Beweise, um sie dem
Khai vorzulegen.«
Das Gesicht des Dichters wurde erst kalkweiß, dann rot. Sein
breites Froschmaul verzog sich, und er schüttelte sein großes Haupt.
Dabei schien er so wütend wie resigniert.
»Sagt sie das, diese Verwalterin? fragte er schließlich. »Nicht nur
sie« entgegnete Maati.
»Tja, da täuscht sie sich. So war es nicht.«
»Ich fürchte doch, Heshai-kvo.«
»Unsinn« sagte der Dichter und stand auf. Seine Miene war
abweisend. Er setzte sich ans Feuer, wärmte sich die Hände und
wandte Maati dabei den Rücken zu. Das Holz knisterte, und Funken
stoben den Kamin hinauf. Maati legte das Brot, von dem er nichts
gegessen hatte, auf den Tisch und wandte sich zu Heshai um.
»Amat Kyaan ist nicht die Einzige, die -«
»Dann täuschen sie sich alle. Denk doch mal nach, Maati. Denk
einfach nach. Würde der Galtische Rat hinter dieser verdammten
Sache stecken, was würde geschehen, wenn der Khai den Beweis
dafür erhielte? Er würde die Galten bestrafen! Und was meinst du,
wie er das tun würde? »Er würde Euch und Samenlos gegen sie
einsetzen.«
»Ja, und du weißt doch wohl, welche furchtbaren Folgen das
hätte?«
Maati machte eine fragende Gebärde, doch Heshai wandte ihm
noch immer den Rücken zu. Nach ein paar Sekunden ließ er die
Hände wieder fallen. Das Feuer tanzte und flackerte, und es schien
fast, als gehöre auch der Dichter der Flammenwelt an. Maati ging zu
ihm.
»Es ist die Wahrheit« sagte er.
»Und wenn schon« erwiderte Heshai. »Manche Strafen sind
schlimmer als die Verbrechen, aufgrund deren sie verhängt werden.
Was geschehen ist, ist geschehen. Es bringt nichts, sich daran
festzubeißen.«
»Das glaubt Ihr doch selber nicht« sagte Maati und war
überrascht, wie hart seine Stimme klang. Heshai wandte sich zu ihm
um. Seine Augen waren trocken, sein Blick ruhig.
»Das Kind lässt sich nicht mehr zum Leben erwecken« sagte er.
»Was soll es bringen, in dieser Sache weiterzuforschen?«
»Gerechtigkeit« antwortete Maati, und der Dichter lachte, doch es
klang seltsam freudlos, beinahe wütend. Dann stand er auf und kam
auf seinen Schüler zu. Unwillkürlich trat Maati einen Schritt zurück.
»Gerechtigkeit? Ihr Götter, du willst Gerechtigkeit, Junge? Wir
zwei haben viel größere Sorgen. Wir müssen ein weiteres Jahr
überstehen, ohne dass einer dieser kleinen Götter eine Stadt unter
Wasser setzt oder die Welt in Brand steckt. Darauf kommt es an.
Wir müssen für die Sicherheit unserer Stadt sorgen und auf die
höfische Politik einwirken, damit die Khais nicht auf die Idee
kommen, einander ihr Spielzeug und ihre Frauen zu rauben. Und du
willst, dass wir uns obendrein um Gerechtigkeit kümmern? Ich habe
mein ganzes Dasein einer Welt geopfert, die sich aus mir nicht das
Geringste macht. Wir zwei wurden gewaltsam von unseren
Geschwistern getrennt. Der Junge aus Udun, den wir bei Hofe
gesehen haben, hat seinen Bruder niedergemetzelt, und wir haben
dabei noch Beifall geklatscht. Soll ich den etwa auch bestrafen?«
»Ihr sollt tun, was richtig ist« sagte Maati.
Heshai machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was wir tun,
ist zu wichtig, als dass es sich mit den Begriffen Richtig und Falsch
erfassen ließe« sagte er. »Sollte der Dai dir das nicht klargemacht
haben, dann begreife diese Erkenntnis als das Wichtigste, was ich
dir beizubringen vermag.«
»Ich kann mich Eurer Meinung nicht anschließen« beharrte Maati.
»Wenn wir nicht auf Gerechtigkeit drängen …«
Heshais Miene verdüsterte sich. Er tat, als wollte er vom Himmel
Rat erflehen, verhöhnte damit aber natürlich nur seinen
Gesprächspartner. Maati schluckte, gab aber nicht klein bei.
»Du liebst die Gerechtigkeit, was?« fragte Heshai. »Dabei ist sie
härter als Stein, Junge. Lieb sie ruhig - sie wird dich nicht lieben!«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass »Willst du mir etwa
weismachen, dass du nie gesündigt hast?« unterbrach Heshai ihn
schroff. »Dass du nie Essen aus der Küche gestohlen, nie einen
Lehrer angelogen hast? Willst du behaupten, du wärst nie mit der
Frau eines anderen ins Bett gestiegen?«
Maati spürte eine innere Erschütterung, die ihn durchfuhr wie ein
Knochenbruch und die doch ganz schmerzlos war. In seinen Ohren
summte es. Er hob den Tisch an einer Ecke an, und Essen, Wein,
Schriftrollen und Bücher segelten zu Boden. Er nahm einen Stuhl
und schleuderte ihn in die Ecke. Dann schnappte er sich den irdenen
Weintopf, in dem noch ein Rest roter Flüssigkeit schwappte, und
knallte ihn an die Wand. Die Keramik zersprang mit einem lauten,
herrlich befreienden Geräusch. Der Dichter sah Maati mit offenem
Mund an, als seien seinem Schüler Flügel gewachsen.
So schnell er gekommen war, war der Zorn verraucht, und Maati
sank in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden
durchgeschnitten hatte. Schluchzer erschütterten ihn so heftig, als
müsse er sich übergeben. Er merkte kaum, dass der Dichter
herantrat, sich zu ihm beugte und ihn mit feisten Armen an sich zog.
Er umklammerte Heshais dicken Leib und weinte in die braunen
Falten seines Gewands, während der Dichter ihn leise wiegte und
flüsterte: »Es tut mir so leid, so leid, so leid.«
Es schien, als würde es ewig so weitergehen. Als könnte der
Schmerz nie enden. Aber so war es natürlich nicht, denn mit der
Zeit ließen ihn die Erschöpfung und alles andere zur Ruhe kommen.
Maati saß neben seinem Meister, und hinter beiden lag der
umgeworfene Tisch. Das Feuer war heruntergebrannt. Die Glut
glomm rot und golden zwischen verkohlten Holzresten, die noch
immer die Äste erahnen ließen, die sie einmal gewesen waren.
»Nun« sagte Maati schließlich mit belegter Stimme, »ich hab mich
gerade ganz schön lächerlich gemacht, was?«
Heshai lachte, denn diese Worte waren ihm nur zu geläufig. Auch
Maati konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Für den ersten Versuch war es schon ganz gut« erklärte der
Dichter. »Mit der Zeit wirst du das sicher noch besser
hinbekommen. Ich habe dir das nicht antun wollen, weißt du. Es
war gemein von mir, Liat in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Es ist nur so, dass … das Inselmädchen … Wenn ich damals, als ich
Samenlos erschuf, bessere Arbeit geleistet hätte, wäre das nicht
passiert. Ich will nur, dass es nicht noch schlimmer kommt. Ich will,
dass diese Sache erledigt ist.«
»Ich weiß« sagte Maati.
Sie schwiegen eine Zeitlang. Die Glut ließ weiter nach, und die
verkohlten Scheite sanken in sich zusammen.
»Es heißt, über zwei Frauen komme man nie hinweg« sagte
Heshai. »Über die erste Liebe und über das Mädchen, mit dem man
das erste Mal geschlafen hat. Wenn es sich dann noch um ein und
dasselbe Mädchen handelt …«
»So ist es« stellte Maati fest.
»Ja« sagte Heshai, »so war es bei mir auch. Sie hieß Ariat Miu und
hatte die schönste Stimme, die ich je gehört habe. Ich weiß nicht, wo
sie jetzt lebt.«
Maati beugte sich vor und legte den Arm um Heshai. Der Dichter
nickte, als hätte sein Schüler etwas gesagt. Dann atmete er tief ein
und langsam aus.
»Nun, wir machen das hier besser sauber, ehe die Diener es zu
sehen kriegen. Schür bitte das Feuer. Ich zünde ein paar Kerzen an.
Es wird inzwischen einfach zu früh dunkel.«
»Ja, Heshai-kvo.«
»Und Maati - dir ist doch wohl klar, dass ich niemandem etwas
davon erzählen werde, oder?«
Maati machte eine anerkennende Gebärde. Da er nicht wusste, ob
der Dichter sie im schwachen Licht gesehen hatte, räusperte er sich
und sagte ins Halbdunkel hinein: »Danke.«

Einen von Torishs Männern als Vorhut, den anderen als Nachhut,
gingen Otah und Liat hinunter in die Stadt. Wegen der
Verletzungen des Mädchens kamen sie nur langsam voran. Anfangs,
in der Nähe des Palastbezirks, legte Otah ihr den Arm um die
Taille, weil er dachte, das wäre tröstlich und beruhigend für sie,
spürte aber rasch, dass ihre Schulter, ihr Arm und ihre Rippen dafür
noch zu empfindlich waren, und er war seltsam erleichtert darüber,
einfach nur neben ihr zu gehen. So nämlich konnte er die Türen und
Gassen, die Dächer und Essensstände sowie die Öfen der
Feuerhüter aufmerksamer beobachten.
Aus vielen Kaminen roch es nach verfeuertem Holz. Ein kühler
Wasserschleier - zu dicht, um Nebel, zu ungreifbar, um Regen zu
sein - benetzte Kopfsteinpflaster und Häusermauern. In ihrem
übergroßen Wollumhang war Liat nicht zu erkennen. Otah stellte
fest, dass er unwillkürlich die Hände dehnte und streckte, als
bereite er sich auf einen Angriff vor, der freilich ausblieb.
Als sie das Vergnügungsviertel erreichten und an der Tür von
Amat Kyaans alter Bleibe vorbeikamen, die inzwischen leer stand,
machte Liat mit einer Handbewegung deutlich, dass sie anhalten
wollte. Torishs Männer sahen erst Otah, dann einander ungeduldig
an, blieben aber stehen.
Otah beugte sich weit zu der vorspringenden Kapuze von Liats
Umhang und fragte: »Geht es dir nicht gut? Soll ich dir Wasser
besorgen?«
»Nein« sagte sie. Einen Moment später fügte sie hinzu: »Tani, ich
möchte da nicht hin.«
»Wohin?« fragte er und berührte ihren verbundenen Arm mit den
Fingerspitzen.
»Zu Amat Kyaan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich gern
aufnimmt. Außerdem …«
»Liebling«, sagte Otah, »bei ihr bist du sicher. Bis wir wissen, was
hinter der …«
Liat sah ihm in die Augen. In ihrem verschatteten Gesicht lagen
Ungeduld und Angst.
»Ich habe ja nicht gesagt, dass ich nicht dorthin gehe», erklärte sie.
»Ich gehe nur nicht gerne hin.«
Otah beugte sich vor und küsste sie behutsam. Mit ihrer gesunden
Hand zog sie ihn an sich.
»Verlass mich nicht« flüsterte sie.
»Wohin sollte ich denn gehen?«, sagte er sanft, um zu verbergen,
dass diese Antwort auch eine Frage war. Sie lächelte schwach, aber
tapfer. Dann nickte sie und ließ seine Hand für den Rest des Weges
nicht mehr los.
Im Vergnügungsviertel war es abends nie richtig ruhig. Flackernde
Laternen erhellten die Straßen, und aus den Türen der Teehäuser
und Bordelle drangen Stimmen sowie Trommel-, Flöten- und
Hörnerklang. Zweimal kamen sie an Häusern vorbei, auf deren zur
Straße hinausgehenden Balkonen spärlich bekleidete, fröstelnde
Huren standen und sich weit übers Geländer beugten. Der Reichtum
von Saraykeht, der wohlhabendsten und mächtigsten Sommerstadt,
stürmte von allen Seiten auf sie ein. Otah stellte fest, dass er weder
erregt noch verunsichert war, obwohl er es womöglich hätte sein
sollen.
Sie erreichten das Bordell und traten durch eine Eisentür in einen
traurigen kleinen Garten, der hinter einer hohen Mauer lag und die
Küche vom Hauptgebäude trennte. Dann gingen sie ins Haus und
kamen in den Aufenthaltsraum. Dort herrschte reger Betrieb. Die
rothaarige Mitat und Amat hatten jede Menge Papiere und
Schriftrollen auf die langen Esstische gelegt. Das Inselmädchen Maj
ging hinter ihnen auf und ab und nagte ungeduldig am
Daumennagel. Während die beiden Männer, die sie begleitet hatten,
im Flur verschwanden und dabei andere Männer grüßten, die
ähnlich bewaffnet und gerüstet waren, fielen Otah zwei Jungen auf,
von denen einer die Farben des Hauses Yanaani trug, der andere
das Abzeichen des Hafenzolls. Beide Boten warteten ungeduldig. Es
musste etwas passiert sein.
Amat ist ihrem Ziel näher, als sie ahnt. Es bleibt nicht mehr viel
Zeit.
»Liat«, sagte Amat und hob den Arm zu einem ungezwungenen
Gruß. »Komm. Ich möchte dich etwas fragen.«
Liat trat vor, und Otah folgte ihr. In Amats Augen lag ein
triumphierendes Leuchten. Sie umarmte Liat behutsam, und Otah
sah Tränen in den Augen seiner Liebsten, als sie den unverletzten
Arm um ihre alte Lehrerin legte.
»Es tut mir leid«, sagte Amat. »Ich glaubte dich in Sicherheit. Und
es gab so viel zu erledigen, dass … Ich hab die Situation einfach
nicht richtig eingeschätzt. Ich hätte dich warnen müssen.«
»Geehrte Lehrerin« begann Liat und wusste dann nichts mehr zu
sagen. Amats Lächeln wärmte wie die Sommersonne.
»Maj kennst du ja schon. Das ist Mitat, und der Mann an der Wand
ist Torish Weiss, der Anführer meiner Wache.«
Das Inselmädchen meldete sich auf Khaiate zu Wort. Trotz ihres
starken Akzents konnte Otah sie verstehen.
»Ich habe nicht gedacht, ich müsste dich noch mal sehen.«
Liats Lächeln wurde schwächer. »Du hast richtig gut Khaiate
gelernt, Maj.«
»Ich warte hier ja auch schon seit Wochen«, entgegnete sie kühl.
»Womit sollte ich mich sonst beschäftigen?«
Otah bemerkte, dass Mitat erst Amat, dann das Inselmädchen
ansah und dann wegschaute.
Die Spannung im Raum ließ alle Gespräche ersterben. Selbst die
beiden Boten hörten mit ihrem Gezappel auf und warteten
neugierig auf das, was geschehen würde.
»Sie ist gekommen, um uns zu helfen« sagte Amat.
»Sie ist gekommen, weil du sie gerufen hast«, widersprach Maj.
»Und weil sie dich braucht.«
»Wir sind aufeinander angewiesen«, erklärte Amat bestimmt. Sie
stand auf und stützte sich auf ihren Stock. »Wir haben fast alles
Nötige beisammen, sind ohne sie aber nicht bereit.«
Maj musterte Amat, wandte sich dann langsam Liat zu und grüßte
sie mit kindlich unbeholfener Gebärde. Otah sah das Rot auf ihren
bleichen Wangen und ihre glänzenden Augen und begriff, dass sie
betrunken war. Amat zog Liat zu sich an den Tisch und stellte ihr
viele Fragen, die sich um Oshai und Marchat Wilsin drehten. Otah
saß nah genug, um alles hören und beobachten zu können, wurde
seinerseits aber nicht befragt.
Kurze Zeit fühlte er sich unsichtbar. Die Aufregung und die
unterschwellige Gewalt ringsum schienen ihn zum Zuschauer eines
Theaterstücks zu machen. Er nahm alles wie von außen wahr. Als er
dem Inselmädchen unbeabsichtigt in die Augen sah, lächelte sie und
nickte. Eine wortlose, ungezwungene und unmissverständliche
Geste war das, ein Sicherkennen zweier Fremder. Mit ihrer sehr
lückenhaften Kenntnis von Sprache und Gebräuchen der
Sommerstädte konnte Maj nicht wirklich Teil der Verschwörung
sein, die sich nun vor ihnen entfaltete. Otah hingegen konnte es
nicht, weil ihm noch immer in den Ohren klang, welche
Konsequenzen Samenlos für den Fall angekündigt hatte, dass Amat
mit ihren Bemühungen Erfolg haben würde: den möglichen Tod
Liats, das Leiden unschuldiger Galten, Maatis lebenslanges Elend
und Otahs Verrat an die Familie. Dieses Wissen war wie eine
Krankheit. Jeder Schritt, den Amat unternahm, brachte sie alle
dieser Katastrophe näher.
Und zu seinem Unbehagen stellte Otah fest, dass seine
Verweigerung dem Andaten gegenüber nicht so gewiss war, wie er
gedacht hatte.
Gut zwei Stunden lang sprachen Amat, Mitat, Liat und Torish
Weiss miteinander und gingen alles gründlich durch. Die Boten
wurden befragt, und ihre Schreiben ließen die Stapel noch etwas
anwachsen. Dann wurden sie mit Amats Antwortbriefen
weggeschickt. Otah hörte zu und musterte die Szene, während die
Beweise, die Khai Saraykeht vorgelegt werden sollten, immer
klarere Konturen annahmen. Amat hatte längst schriftliche
Aussagen, zahlreiche Unstimmigkeiten und Briefe aus Galtland
zusammengetragen. Und sie hatte Maj, die als Hauptzeugin das
Herzstück ihrer Anklage war. Außerdem hatte sich herausgestellt,
dass es im Vorjahr mit einem anderen Mädchen, dem angeblich
allerdings die Flucht gelungen war, einen ganz ähnlichen Fall
gegeben hatte, was freilich nicht durch schlüssige Beweise bestätigt
war.
Aber was den zweiten Fall betraf, hatte Amat Beweise genug. Und
sollte der Hof sich von diesen Beweisen in Bann schlagen lassen,
würde das eine Lawine lostreten. Und wenn der Khai erst mit der
Sache befasst war, würden auch Heshai und Samenlos aussagen
müssen. Und unter Zwang blieb dem Andaten nichts anderes übrig,
als die Wahrheit zu sagen. Vielleicht würde ihm das sogar Spaß
machen, denn so könnte er zumindest eine weitere Unglückswelle
auslösen, wenn er schon nicht freikäme.
Im Laufe des Abends verließen Liat allmählich die Kräfte. Amat
merkte das und tauschte einen Blick mit Otah.
»Liat, ich bin wirklich furchtbar« sagte Amat mit entschuldigender
Gebärde. »Du bist verletzt und müde, und ich habe dich die ganze
Zeit wachgehalten.«
Liats schwacher Protest bewies nur, wie recht Amat hatte. Otah
half seiner Liebsten auf die Beine, und sie stützte sich seufzend auf
ihn.
»Oben ist eine Liege für dich hergerichtet« sagte Mitat. »In Amat-
chas Zimmer.«
»Und wo schläft Tani?«
»Keine Sorge« sagte Otah, ehe Amat, die von dieser Frage deutlich
überrascht war, auch nur erwägen konnte, ihm ihre
Gastfreundschaft anzubieten. »Ich werde bei Freunden schlafen, mit
denen ich früher zusammengearbeitet habe. Wenn ich nicht
auftauche, machen sie sich nur Sorgen.«
Das war gelogen, aber darauf kam es kaum an. Die Aussicht, im
Bordell zu bleiben, während Amats Pläne endgültig reiften, hatte
für Otah keinen Reiz. Nur der Kummer, der Liat trotz aller
Schläfrigkeit so deutlich in den Augen stand, ließ ihn wünschen, er
könnte um ihretwillen bleiben.
»Ich warte, bis du eingeschlafen bist«, sagte er, was sie zu trösten
schien. Die beiden wünschten den anderen gute Nacht und stiegen
vorsichtig die breite Holztreppe hinauf. Otah hörte die
Unterhaltung aufs Neue beginnen.
Er schloss die Tür von Amats Zimmer hinter sich. Die
Fensterläden waren verriegelt, aber das schwache Orange von als
Straßenlaternen dienenden Fackeln drang durch die Ritzen der
Lamellen. Die Nachtkerze auf Amats Schreibtisch war schon mehr
als zur Hälfte heruntergebrannt und flackerte beim Vorbeigehen.
Liats Lager war eine drei Finger dicke, mit einem Leintuch
bespannte Matratze, die auf einem hölzernen Bettgestell lag. Auch
ein Mückennetz war vorhanden, obwohl im Winter kaum Getier
unterwegs war.
»Sie hasst mich« sagte Liat leise und gefasst.
»Wie kommst du denn darauf? Amat war doch sehr -«
»Nicht Amat. Maj.«
Otah verstummte. Er hätte auch das abstreiten und Liat sagen
können, niemand denke schlecht über sie und alles komme wieder
in Ordnung, wenn sie den Dingen nur etwas Zeit gäbe. Doch er
wusste nicht, ob das stimmte. Sie hatten Wilsin nicht für einen bösen
Mann gehalten, und diese Arglosigkeit hatte Liat fast das Leben
gekostet. Er spürte, dass sein Schweigen sich wie Kälte ausbreitete.
Liat schüttelte ihn ab und zog an den Bändern ihres Umhangs.
»Lass mich das machen« sagte Otah. Liat hielt still, während er ihr
den Umhang öffnete und ihn unters Bett schob.
»Mein Gewand auch?« fragte sie. Im Halbdunkel spürte er ihren
Blick mehr, als dass er ihn sah. Otah zögerte - und das aus mehr als
einem Grund.
»Bitte« sagte Liat.
»Du bist verletzt, Liebes. Es war schon anstrengend genug für
dich, nur die Treppe hochzusteigen …«
»Itani.«
»Wir sind in Amats Zimmer. Sie könnte reinkommen.«
»Das dauert noch Stunden da unten. Hilf mir, mein Gewand
auszuziehen. Bitte.» Trotz starker Vorbehalte gab Otah ihrem und
seinem Begehren nach. Vorsichtig schnürte er ihr Gewand auf und
entkleidete sie, bis sie - vom Verband abgesehen - nackt vor ihm
stand. Selbst im Halbdunkel konnte er ihre Blutergüsse erkennen.
Sie nahm seine Hand, küsste sie und fingerte dann nach den
Bändern seines Gewands. Er hielt sie nicht zurück, denn das wäre
grausam gewesen. Außerdem wollte er sie gar nicht zurückhalten.
Sie liebten sich langsam und vorsichtig, und er hatte das Gefühl,
Lust und Trauer hielten sich dabei die Waage. Ihre Hautfarbe
erinnerte ihn an dunklen Honig bei Kerzenlicht, und ihr Haar war
rabenschwarz. Hinterher lag Otah mit dem Rücken an der kühlen
Wand, damit Liat genug Platz hatte, um bequem zu liegen. Sie hatte
die Augen nur halb geöffnet, und ihre Mundwinkel wiesen nach
unten. Als es sie schauderte, erhob er sich und zog die Decke über
sie. Er selbst schlüpfte nicht darunter, obwohl ihm die Wärme sehr
willkommen gewesen wäre.
»Du warst so lange weg« sagte Liat. »An manchen Tagen habe ich
mich gefragt, ob du zurückkehren würdest.«
»Hier bin ich.«
»Ja« sagte sie. »Da bist du. Wie war die Reise? Erzähl mir Also
berichtete er ihr von dem Schiff und wie es war, wenn das Deck
unter einem schaukelte, die Taue knarrten und man immerzu das
Meer hörte. Er erzählte ihr von dem Kurier Orai mit seinen Späßen
und seinen Reisegeschichten. Und von Yalakeht mit den hohen
grauen Gebäuden und den schmalen Gassen mit ihren eisernen
Toren, die nachts zugesperrt wurden und hinter denen man sich
dann wie hinter seiner Wohnungstür fühlte.
Und er hätte fortfahren und ihr von der Straße erzählen können,
die hinauf in die Berge und ins Dorf des Dai führte, in dem nur
Männer lebten. Er hätte vom Dai und seinem seltsamen,
halbherzigen Angebot erzählen können, ihn wieder in Gnaden
aufzunehmen. Er hätte womöglich sogar von den Drohungen des
Andaten berichten können und davon, dass es ihn noch immer
beschäftigte, dass Samenlos Itani Noyga als einen Sohn von Khai
Machi bloßstellen und damit dem sicheren Tod ausliefern konnte.
Doch Liat atmete schwer, tief und regelmäßig. Als er vorsichtig
über sie hinweg aus dem Bett stieg, murmelte sie etwas und
kuschelte sich fester in ihre Decke. Otah zog sich an. Die Nachtkerze
war schon zu drei Vierteln heruntergebrannt, und es würde bald
hell werden. Zum ersten Mal spürte er, wie müde er war. Er würde
einen Schlafplatz brauchen. Ein Zimmer vielleicht oder eine Koje in
einer der Matrosenabsteigen am Hafen, wo er sich mit neun
Männern, die sich am Abend in den Schlaf getrunken hatten, ein
Kohlebecken würde teilen müssen.
Im buttergelben Licht des Aufenthaltsraums wurde noch immer
geredet. Maj, die zuvor wie er selbst die Szene lediglich beobachtet
hatte, saß nun allerdings Amat Kyaan gegenüber, zeigte mit dem
Finger ein ums andere Mal auf die Tischplatte und sprach sehr
schnell, ohne dabei auch nur einmal Luft zu holen. Ihr Gesicht war
gerötet, und er hörte den Zorn in ihrer Stimme, ohne verstehen zu
können, was sie sagte. Zorn und Wein. Amat sah auf, als er die
Treppe herunterkam. Sie wirkte älter als sonst.
Maj folgte ihrem Blick, sah kurz zu der Tür hoch, die er hinter sich
geschlossen hatte, und sagte noch etwas. Amat antwortete ihr ruhig,
aber nicht beschwichtigend in der gleichen Sprache. Maj stand auf,
schob die Sitzbank dabei laut zurück und kam auf Otah zu.
»Schläft deine Frau?« wollte sie wissen.
»Ja.«
»Ich habe Fragen. Weck sie«, sagte Maj mit herrischer Geste. Otah
sah Amat hinter ihrem Rücken den Kopf schütteln und machte
daraufhin Maj gegenüber eine höflich verneinende Gebärde. Seine
Weigerung schien sie tief zu treffen. Tränen liefen ihr über die
Wangen.
»Seit Wochen« rief sie flehend. »Ich warte hier seit Wochen - für
nichts! Hier gibt es keine Gerechtigkeit. Ihr habt hier keine
Gerechtigkeit! Mitat kam zu Otah und Maj und legte dem
Inselmädchen die Hand auf den Arm. Maj entzog sich ihr, ging auf
eine andere Tür zu und wischte sich dabei die Tränen mit dem
Handrücken ab. Als sie den Aufenthaltsraum verlassen hatte, hob
Otah fragend die Hände.
»Sie hat nicht verstanden, dass Khai Saraykeht womöglich eine
eigene Untersuchung durchführt« erklärte Mitat. »Sie hat gedacht,
er würde sofort handeln. Als sie erfuhr, dass es eine weitere
Verzögerung geben würde …«
»Es ist nicht nur ihre Schuld«, sagte Amat. »All das ist nicht leicht
für sie gewesen.« Der Anführer ihrer Wache ein Bär von einem
Mann - hustete. Die Art, wie er und Amat sich ansahen, zeigte Otah,
dass das Mädchen nicht zum ersten Mal Gegenstand der
Unterhaltung war. Amat fuhr fort: »Das alles ist bald vorbei. Oder
wenigstens unsere Rolle darin. Falls Maj als Zeugin vor dem Khai
aussagt, kommt der Stein ins Rollen. Wenn sie nach ihrer Aussage in
ihre Heimat zurückkehrt, soll es mir recht sein.«
»Und wenn sie schon vorher verschwindet?«, fragte Mitat und ließ
sich dabei auf dem Tisch nieder.
»Das wird sie nicht«, entgegnete Amat. »Es geht ihr zwar nicht
gut, aber sie wird nicht aufbrechen, ehe jemand für den Verlust
ihres Kindes zur Verantwortung gezogen wird. Was ist mit Liat?
Schläft sie?«
»Ja« antwortete Otah mit einer Gebärde der Dankbarkeit.
»Marchat Wilsin weiß inzwischen bestimmt, dass sie nicht zu ihm
zurückkehrt« sagte Amat. »Sie muss im Haus bleiben, bis diese
Sache vorbei ist.«
»Noch eine? Wie lange soll das noch dauern, Großmutter?« fragte
Torish Weiss.
Amat stützte den Kopf in die Hände. Sie schien kleiner als früher,
als wäre sie mit den Jahren und der stets zunehmenden Müdigkeit
geschrumpft, wirkte aber keineswegs gebrochen. Todmüde
vielleicht, aber ungebrochen. In diesem Augenblick stellte Otah fest,
dass er Liats alte Ausbilderin sehr bewunderte.
»Ich schicke morgen früh einen Boten los« sagte sie. »Um diese
Jahreszeit müssen wir wohl etwa eine Woche auf eine Audienz
warten.«
»Aber wir sind doch noch gar nicht fertig!« rief Mitat. »Wir wissen
noch nicht einmal, wo das erste Mädchen gefangen gehalten wurde
und wohin es verschwunden ist. Und wir haben keine Zeit, es zu
finden!«
»Wir haben vieles zusammengetragen« entgegnete Amat. »Und
was wir nicht haben, werden die Utkhais herausfinden, wenn der
Khai sich erst mit der Sache befasst. Es ist nicht so viel, wie ich
gehofft hatte, aber es wird reichen. Es muss reichen.«
18

Marchat Wilsin wusste, dass manche Nachrichten sich wie ein


Lauffeuer verbreiten. Amat Kyaans Ersuchen hatte kurz vor
Morgengrauen die Diener des Gezeitenmeisters erreicht.
Gezeitenmeister, dachte Marchat - was für ein idiotischer Titel für
einen verfetteten Minister. Eine knappe Stunde nach Sonnenaufgang
war ein Bote des Unternehmens mit einer Nachricht von Epani zu
Wilsin ins Badehaus gekommen. Der überängstliche Haushofmeister
hatte die wichtigsten Punkte von Amats Ersuchen so hastig zu
Papier gebracht, dass sein Gekritzel kaum zu lesen war. Aber das
war ohnehin unwichtig. Dass Amat ihre Eingabe gemacht hatte,
reichte vollauf. Der Stein war ins Rollen gekommen.
Epanis Brief trieb auf der Wasseroberfläche. Da es - wenn auch
halbherzig - Winter geworden war, hatte Marchat sich ein
dampfend heißes Bad einlaufen lassen und sah nun zu, wie die Tinte
sich in dunklen, rasch ausdünnenden Schlieren im Wasser verlor. Es
war vorbei. Er konnte nichts mehr tun, um seine Welt wieder
einzurenken, und das erleichterte ihn auf seltsame Weise. Seit
Samenlos, dieser elende Gottgeist von Saraykeht, ihn besucht hatte,
hatte er Nacht für Nacht wachgelegen. Er hatte mal einen sehr gut
funktionierenden Verstand gehabt. Doch in all den Nächten war
ihm kein Plan, kein gerissener Schachzug eingefallen, der hätte
verhindern können, was nun eingetreten war. Und da es nicht mehr
aufzuhalten war, konnte er wenigstens aufhören, nach einem
Ausweg zu suchen. Er schloss die Augen und ließ den Kopf unter
die Wasseroberfläche gleiten. Ja, es war befreiend, nicht mehr
versuchen zu müssen, den Gang der Dinge aufzuhalten.
Er blieb selbst dann noch kurz unter Wasser, als ihn die Lunge
schmerzte, um diesen Augenblick des Friedens möglichst
auszukosten. Doch da die Atemnot ihn gebieterisch nach Luft
verlangen ließ, tauchte er auf und verließ das Becken. Er bekam eine
Gänsehaut und trocknete sich auf dem Weg zum Umkleideraum
schnell ab. Die Hitze eines großen Kohlebeckens und der Dampf der
heißen Bäder ringsum hatten die Luft stickig werden lassen. Schon
der kleinste Frost ließ die Bewohner von Saraykeht über die
grässliche Kälte jammern. In den Sommerstädten konnte man sich
richtige Winter gar nicht vorstellen, und nach all den Jahren, die
Wilsin hier gelebt hatte, vermochte selbst er sich kaum mehr daran
zu erinnern. Als er sein dickes Wollgewand anzog, kam ihm in den
Sinn, dass er nicht mehr wusste, wann er zuletzt Schnee gesehen
hatte. Jedenfalls hatte er damals nicht geahnt, dass es für ihn das
letzte Mal war, denn sonst hätte er dem mehr Beachtung geschenkt.
Zwei Männer mit Mondgesicht und schwarzem Haar kamen herein
und sprachen in Worten und Gebärden gleichermaßen, wie man es
in Saraykeht nun mal tat. Mit seiner bleichen Haut, dem welligen
Haar und dem Vollbart war Marchat ein Außenseiter. Er war als
junger Mann hierhergekommen und hatte sich nie wirklich
eingelebt, sondern immer auf den Tag gewartet, an dem man ihn
nach Galtland zurückriefe.
Das war ein bitterer Gedanke. Als die beiden ihn bemerkten,
grüßten sie ihn mit einer Gebärde, und er grüßte unwillkürlich
zurück. Seine Hände wussten einfach, was sie zu tun hatten.
Er ging langsam zu seinem Anwesen zurück. Nicht aus Angst,
obwohl er der Zukunft sicher nicht freudig entgegensah, sondern
weil sein Scheitern ihn sehend gemacht zu haben schien. Die Laute
und Gerüche der Stadt waren frisch und unvertraut. Wenn er als
junger Mann auf Reisen gewesen war, hatte es sich so angefühlt,
wenn er nach Hause kam. Das Viertel, in dem seine Familie lebte,
war ihm dann so vertraut und doch fremd gewesen, wie ihm nun
Saraykeht erschien. Damals hatte er gedacht, dieser Eindruck habe
sich nur eingestellt, weil er lange unterwegs gewesen war, doch
inzwischen vermutete er, dass die Reisen ihn verändert hatten - so
wie Epanis Brief ihn gerade wiederum verändert hatte. Die Stadt
war gleich geblieben, doch er erlebte sie neu: die alten Mauern; die
Kletterpflanzen an den Hauswänden, die jedes Jahr beschnitten
wurden, um sich im Jahr darauf wieder die Mauern hochzuranken;
die Sprachen aus aller Welt, die am Hafen zu hören waren; die
Lieder der Bettler; das Vogelgezwitscher.
Viel zu schnell erreichte er sein Anwesen, wo der Galtische Baum
wie immer im Hof stand und der Springbrunnen daneben
plätscherte. Er fragte sich, wer nach ihm hier einziehen würde.
Wieder ein armer Kerl, den seine Familie hatte loswerden wollen?
Irgendein junger Mann, der in der reichsten und doch einsamsten
Außenstelle des Unternehmens unbedingt beweisen wollte, dass er
ein ausgezeichneter Kaufmann war? Vielleicht rissen sie die
Gebäude auch ab und verbrannten die gesamte Einrichtung. Das
war gar nicht unwahrscheinlich.
Epani wartete vor Wilsins Privatgemächern und rang verzweifelt
die Hände. Marchat empfand allenfalls eine leichte Verärgerung
über ihn.
»Wilsin-cha, ich habe gerade erfahren, dass Amat Kyaan eine
Audienz bekommt - und zwar in sechs Tagen!«
Marchat hob die Hand, und die Grille hörte auf zu zirpen.
»Schick einen meiner höheren Angestellten als Boten zum Palast.
Oder geh besser selbst. Sag den Beratern des Khai, dass Amat
Kyaans Audienz Angelegenheiten meines Hauses betrifft, und bitte
sie, die Audienz zu verschieben, bis wir uns zu der Sache äußern
können.«
»Ja, Wilsin-cha.«
»Und bring mir Papier und Tinte« sagte Marchat. »Ich muss ein
paar Briefe schreiben.«
Etwas in seinem Ton, ein gewisser Ernst vielleicht, hatte den
Verwalter beruhigt, denn Epani machte sofort eine ergebene
Gebärde und hastete offensichtlich erleichtert davon. Marchat folgte
ihm, bis er auf einen Diener stieß, den er um warmen, gewürzten
Wein bat, setzte sich dann an den Schreibtisch und sammelte sich.
Die winzige Flasche aus der schmalen Schublade zu seinen Knien
war aus Silber, ihr Stöpsel mit grünem Wachs versiegelt. Als er sie
schüttelte, klang es, als sei darin keine Flüssigkeit, sondern etwas
Metallenes - dabei befand sich in dem Fläschchen ein
Kräuterdestillat, das im Vergnügungsviertel als Rauschmittel in den
Wein gemischt wurde, hochkonzentriert aber pures Gift war. Der
Inhalt des daumengroßen Fläschchens reichte, um für immer
einzuschlafen. Er schloss die Faust darum.
So hatte er sich seinen Abgang nicht vorgestellt. Aber es würde
ihm nichts anderes übrig bleiben.
Als Epani mit Papier, Tinte und neuen Federkielen kam, legte
Marchat das Fläschchen wieder an seinen Platz, dankte seinem
Verwalter, schickte ihn weg und wandte sich dem leeren Blatt zu,
das vor ihm lag.
Ich bin Marchat aus dem galtischen Haus Wilsin, begann er und
tunkte die Feder dann wieder ins Tintenfass. Ich schreibe dies, um
meine Verbrechen zu gestehen und zu erklären. Ich allein…
Er hielt inne. Ich allein. Das konnte er natürlich behaupten.
Er konnte alle Schuld auf sich nehmen, um denen, die schuldiger
waren als er, die Strafe zu ersparen. Das mochte Galtland vor dem
Zorn der Khais retten. Zum ersten Mal, seit er Epanis Gekritzel
gelesen hatte, war Marchat wirklich traurig. Es war kein guter
Zeitpunkt, um allein zu sein.
Der Diener kam mit dem Wein. Marchat trank ihn langsam und
sah dabei auf die wenigen Worte, die er zu Papier gebracht hatte. Er
würde sich die ganze Geschichte natürlich aus den Fingern saugen:
wie er gehofft hatte, die Vormachtstellung Saraykehts im
Baumwollgeschäft untergraben und so seine Verbannung beenden
zu können; wie er sich Hoffnungen gemacht und dumme Träume
gehegt hatte und sich von seinem bösen Charakter zu schlimmen
Taten hatte verleiten lassen. Dann würde er sich beim Khai für seine
Sünden entschuldigen, seine Feigheit gestehen und sein Schicksal in
die Hände des Inselmädchens Maj legen, dem er unrecht getan
habe; und in die Hände von Amat Kyaan, deren Loyalität sie dazu
gebracht habe, jene in Galtland zu verdächtigen, die ihm Weisungen
erteilen konnten, da sie nicht habe glauben wollen, dass er sich den
widerwärtigen Plan ganz allein ausgedacht habe.
Diese letzte Wendung war, wie er fand, ein hübscher Einfall. Amat
als eine Frau zu zeichnen, die ihm so treu ergeben und so zugetan
war, dass sie die Wahrheit nicht erkannte, gefiel ihm. Und er war
sicher, sie wüsste die Ironie dieses Kunstgriffs zu schätzen.
Ich allein.
Er nahm das Bekenntnis, mit dessen Abfassung er kaum begonnen
hatte, blies darüber, um die Tinte zu trocknen, und legte es
vorläufig beiseite. Es hatte keine Eile. Er konnte es genauso gut
irgendwann in den nächsten sechs Tagen zu Papier bringen. Und
wenn der Khai ihm Aufschub gewährte, vermochte er sogar ein paar
Sonnenuntergänge mehr zu genießen. Außerdem musste er noch
andere Briefe verfassen.
An seine Familie in Galtland zum Beispiel. Und ein Schreiben an
den Galtischen Rat, in dem er seine bösen Machenschaften bereute -
und das die Utkhais hoffentlich abfangen würden. Oder etwas
Persönlicheres. Vielleicht sogar etwas Aufrichtiges.
Er tunkte die Feder erneut ein und begann einen zweiten Brief:

Amat, meine gute alte Freundin. Siehst du, was ich für einer bin? Selbst
bei meinem letzten Innehalten auf der Lebensreise bin ich zu feige, die
richtigen Worte zu finden. Amat, meine Liebe. Amat, der ich mich aus
Angst, sie würde lachen oder mich - schlimmer noch - mit höflicher
Nachsicht strafen, nie offenbart habe. Wer hätte je gedacht, dass es mit uns
einmal so weit kommen würde?

Otah erwachte am Spätnachmittag aus einem bleiernen, sehr


unruhigen Schlaf. Das Zimmer war leer. Die Mieter der anderen
Betten waren ihrer Wege gegangen. Das Kohlebecken war kalt,
doch die Sonne glühte auf dem mit dünnem, beinahe durchsichtigem
Leder bespannten Fensterloch. Er zog seine Sachen aus dem
schmalen Spalt zwischen sich und der Wand. Dort hatte er sie
hingelegt, damit Langfinger Mühe hätten, sie zu stehlen. Dennoch
vergewisserte er sich, ob noch alles da war. Ja, auch sein Geld war
vollzählig vorhanden. Er zog sich langsam an und wartete darauf,
dass seine Träume, die ihm noch bruchstückhaft vor Augen standen,
sich auflösten und verschwanden. Bilder einer Flut, in der
Wildhunde ertrunken waren, geisterten durch seinen Kopf.
Auf den Straßen am Hafen war auch im Winter viel los, obwohl
weniger Schiffe anlegten und abfuhren als sonst. Die auslaufenden
Boote nahmen in aller Regel Südkurs, um andere Häfen mit
warmem Klima anzusteuern. Eine Reise nach Yalakeht hinauf wäre
zu dieser Jahreszeit überaus unangenehm gewesen. An einem
Verkaufsstand am Kai erwarb Otah ein Tütchen in Butter
gebackener Apfelschnitze, die so heiß waren, dass er sie von einer
Hand in die andere nehmen musste. Er dachte an Orai in Machi und
an die beißende Kälte des hohen Nordens, in der die Äpfel seiner
Meinung nach noch besser schmeckten als in Saraykeht.
In allen Teehäusern, am Ofen eines jeden Feuerhüters, in
sämtlichen Straßen und an jeder Ecke gab es nur ein
Gesprächsthema: Amat Kyaans Ersuchen, den Khai zu sprechen und
Anklage gegen das Haus Wilsin zu erheben. Otah hörte genau zu
und lächelte freundlich, ohne dass ihm nach lächeln zumute gewesen
wäre. Amat werde einen Steuerbetrug von Wilsins Unternehmen
aufdecken, hieß es. Andere wollten wissen, das Fehlschlagen des
traurigen Eingriffs sei nicht allein Schuld der Andaten; vielmehr
habe die Konkurrenz dies eingefädelt, um Wilsin in Verruf zu
bringen, und Amat setze diese Rache fort und werde dafür von
einem unbekannten Schurken bezahlt. Wieder andere vermuteten,
Amat werde nachweisen, Marchat Wilsin oder ein Khai - womöglich
gar Khai Saraykeht - habe das Inselmädchen geschwängert und die
Herrscher der Sommerstädte hätten nicht Gefahr laufen wollen, sich
eines Tages einem Dichter gegenüberzusehen, dessen Vorfahren
mütterlicherseits von den Inseln stammten.
Es war das übliche Gerede, wie es die Gerüchteküchen von
Saraykeht bei tausend Gelegenheiten hervorzubringen pflegten.
Selbst wenn Otah Leuten begegnete, die er kannte, behielt er seine
Meinung für sich. Die Wahrheit wird sich bald genug erweisen,
dachte er.
Als er die breiten Straßen zum Palastbezirk hinaufging und durch
die Parkanlagen auf das Dichterhaus zuhielt, versank die Sonne im
Westen hinter Hügeln und Zuckerrohrfeldern. Im Vergleich zur
Pracht der Paläste des Khai und seiner Utkhais wirkte das
Dichterhaus klein und beengt. Otah ließ die kahlen Bäume hinter
sich und ging über die Holzbrücke. Knapp unter der
Wasseroberfläche zogen die Zierkarpfen ihre schwerfälligen
Bahnen. Anhaltenden Frost gab es in Saraykeht praktisch nie.
Ehe er die Haustür erreichte, öffnete Maati ihm bereits, und Otah
schlug warme, rauchige Luft entgegen, die nach gewürztem Wein
roch. Maati begrüßte ihn mit einer Gebärde, wie sie sich für Schüler
Lehrern gegenüber geziemte, aber Otah schob seine Hände lachend
weg. Erst als Maati ernst blieb, begriff er, dass sein Freund keinen
Witz gemacht hatte, und führte eine entschuldigende Gebärde aus,
doch Maati schüttelte nur den Kopf und bedeutete ihm, ins Haus zu
kommen.
Drinnen herrschte noch größeres Chaos als sonst - überall lagen
Bücher und Schriftrollen herum, mitten im Zimmer standen zwei
alte Stiefel, und das Frühstück war erst zur Hälfte gegessen. Ein
kleines Feuer brannte im Kamin, und Maati setzte sich auf einen der
beiden Stühle davor. Otah ließ sich auf dem anderen nieder.
»Warst du die Nacht über bei ihr?«, fragte Maati.
»Fast die ganze Nacht, ja« antwortete Otah und beugte sich vor.
»Dann habe ich mir ein Bett am Hafen genommen. Ich wollte nicht
im Bordell bleiben. Du hast wahrscheinlich gehört, dass Amat
Kyaan …«
»Ja. Ich glaube, Heshai-kvo hat es früher erfahren als der Khai.«
»Und wie hat er reagiert?«
»Er ist ins Vergnügungsviertel gegangen. Ich glaube nicht, dass er
bald zurückkehrt.«
»Wollte er zu Amat?«
»Wohl kaum. Er hat auf mich nicht wie ein Problemlöser gewirkt,
sondern wie ein Teil des Problems.«
»Weiß er davon? Ich meine, hast du ihm erzählt, was Amat dem
Khai sagen wird?«
Maati stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen Lachen und
Stöhnen lag. »Ja. Aber er hat es nicht geglaubt oder nicht zugeben
wollen, dass er es tut. Er meinte, einen so hohen Preis sei die
Gerechtigkeit nicht wert.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen« sagte Otah. »Aber vielleicht
kann man ohnehin keine Gerechtigkeit erlangen.«
Auf diese Worte folgte eine lange Pause. Otah sah einen großen
Becher beim Feuer stehen, in dem kaum noch ein Tropfen Wein war.
»Und wie hat die Nachricht von Amats Ersuchen auf dich
gewirkt?«, fragte er.
Maati zuckte die Achseln. Er sah müde und gar nicht gut aus.
Seine Haut wirkte seltsam grau, und die Ringe unter den Augen
mochten von zu viel oder zu wenig Schlaf herrühren. Nun, da er
darauf achtete, fiel Otah auf, dass sich Maatis Kopf im Rhythmus
seines Herzschlags leicht vor und zurück bewegte: Er war
betrunken.
»Was ist los, Maati?« fragte er.
»Du solltest hierbleiben. Schlaf nicht in der Hafengegend oder im
Bordell. Du bist hier willkommen.«
»Danke für das Angebot, aber ich schätze, die Leute würden es
etwas seltsam finden, wenn ich -«
»Die Leute!«, sagte Maati zornig und verstummte dann. Otah
stand auf, sah den Weintopf auf einem kleinen Kohlebecken stehen,
schob die Papiere beiseite, die der Glut zu nahe lagen, und schenkte
sich einen Becher ein. Maati sah verlegen auf, als er sich wieder
setzte.
»Ich hätte dir etwas davon anbieten sollen.«
»Ist doch egal. Jetzt habe ich ja was zu trinken. Geht es dir
eigentlich gut, Maati? Du wirkst … besorgt.«
»Diesen Eindruck machst du auf mich schon länger. Seit du vom
Dai zurückgekehrt bist, scheint es zwischen uns … schwierig zu
sein, findest du nicht?«
»Doch« sagte Otah und nippte an dem Wein. Er war heiß genug,
um ihn noch etwas abkühlen zu lassen, hatte aber nicht so lange
überm Feuer gestanden, dass der Alkohol verdampft war. Und er
wärmte die Kehle sehr angenehm. »Es ist meine Schuld. Es gibt
Dinge, vor denen ich die Augen verschließen wollte. Orai hat
gesagt, Seereisen verändern den Menschen von Grund auf.«
»Das dürfte nicht alles sein«, sagte Maati leise.
»Nein?«
Maati beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und sah
beim Reden ins Feuer. Seine Stimme war hart wie Schiefer.
»Es gibt etwas, über das ich zu schweigen versprochen habe. Und
dieses Versprechen breche ich jetzt. Ich habe etwas Furchtbares
getan, Otah. Ich wollte es nicht, und wenn ich es ungeschehen
machen könnte, würde ich es tun. Als du weg warst, haben Liat und
ich … Wir hatten ja sonst niemanden, mit dem wir reden konnten.
Wir waren die Einzigen, die die ganze Wahrheit kannten. Und
deshalb haben wir viel Zeit zusammen verbracht …«
Ich brauche dich hier, hatte Liat gesagt, bevor er zum Dai
aufgebrochen war. Ich brauche jemanden an meiner Seite.
Und nach seiner Rückkehr hatte Samenlos zu ihm gesagt: Heshai
hat sich verliebt und seine Liebe verloren, und seither zerfressen ihn
Schuldgefühle. Bei Maati wird es genauso sein.
Otah lehnte sich zurück, und sein Stuhl knarrte. Plötzlich begriff
er, was passiert war, und setzte den Becher ab. Maati schwieg, und
sein Kopf bewegte sich langsam vor und zurück. Sein Gesicht war
gerötet, und obwohl seine Stimme nicht belegt war und sein Atmen
nicht klang, als müsse er ein Schluchzen unterdrücken, hing ihm eine
Träne an der Nasenspitze. Otah hätte das witzig gefunden, wenn es
nicht ausgerechnet seinem Freund Maati widerfahren wäre.
»Sie ist eine wunderbare Frau« sagte Otah vorsichtig.
»Manchmal mag es etwas schwer sein, ihr zu trauen, doch sie ist
dennoch eine anständige Frau.«
Maati nickte.
»Vielleicht sollte ich jetzt gehen« sagte Otah leise.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Maati ins Feuer. »Otah, es tut mir so
unendlich leid.«
»Du hast nichts getan, was nicht schon tausende Male von
Tausenden von Menschen getan worden wäre.«
»Aber ich habe es dir angetan. Ich habe dich betrogen. Du liebst
sie!«
»Aber ich traue ihr nicht«, sagte Otah leise.
»Und mir auch nicht. Nicht mehr« sagte Maati.
»Und dir auch nicht« pflichtete Otah ihm bei, schlang sein Gewand
fester um sich, verließ das Dichterhaus und trat in die Dunkelheit.
Er schloss die Haustür, hielt inne und hieb dann so fest dagegen,
dass er sich die Fingerknöchel blutig schlug.
Er spürte Schmerz und Wut in seiner Brust. Zugleich fühlte er sich
seltsam belustigt und erleichtert. Er ging langsam zum Teich und
wünschte innig, der Kurier Orai wäre nicht nach Machi, sondern
nach Saraykeht unterwegs. Aber die Dinge lagen nun mal anders.
Maati und Liat waren ein Paar gewesen, und das verzehrte Maati,
wie eine andere Tragödie seinen Meister gebrochen hatte. Amat
Kyaan würde binnen weniger Tage vor dem Khai Anklage gegen
Marchat Wilsin erheben. Alles, was Samenlos ihm gesagt hatte,
schien wahr. Und so stand er wartend in der Kälte am
Zierkarpfenteich, warf Steine hinein und hörte sie die dunkle
Wasseroberfläche durchschlagen und ins Vergessen sinken. Er
wusste, dass der Andat zu ihm kommen würde, wenn er nur
Geduld hatte - und er stand erst eine halbe Handbreit dort
draußen.
»Er hat es dir also erzählt« sagte Samenlos.
Das bleiche Gesicht schien in der Nacht zu schweben. Auf den
sinnlichen, so vollkommen wirkenden Lippen des Andaten lag ein
trauriges Lächeln.
»Du hast davon gewusst?«
»Alle haben es gewusst« erwiderte der Andat, trat neben ihn und
sah auf den schwarzen Teich. »Die beiden waren nicht gerade
diskret. Ich hatte nur gehofft, du würdest es erst erfahren, nachdem
du mir den kleinen Gefallen getan hast. Das ist wirklich schade.
Aber ich trage Misserfolge mit Fassung, findest du nicht?«
Otah atmete tief ein und langsam aus und glaubte, seinen Atem in
der kalten Luft dampfen zu sehen. Der Andat neben ihm atmete
nicht, denn obwohl er aussah wie ein Mensch, war er doch keiner.
»Und … ich bin gescheitert«, fügte Samenlos plötzlich vorsichtig,
ja tastend hinzu. »Oder etwa nicht? Ich könnte dein Geheimnis
ausplaudern, Otah Machi, aber mit dieser Drohung dürfte ich dich
nicht zu einem Mord bewegen können. Und ich kann kaum von dir
erwarten, dass du einen Menschen tötest, um deine treulose Liebste
und den guten Freund, der mit ihr geschlafen hat, zu beschützen,
oder?«
Otah hatte wieder Maatis von Zorn, Selbsthass und Leere geprägte
Miene vor Augen und spürte, wie sich ihm der Magen
zusammenzog. Diese spontane Regung hatte er zum ersten Mal in
einem halb umgegrabenen Garten empfunden, und sie machte seine
Verletzung nicht ungeschehen und brachte seine Wut nicht zum
Verschwinden, sondern komplizierte sie noch.
»Jemand hat mir mal gesagt, man könne eine Frau lieben und ihr
misstrauen, oder man könne mit ihr schlafen und ihr misstrauen,
aber es sei unmöglich, sie zu lieben und mit ihr zu schlafen und ihr
zu misstrauen.«
»Was du nicht sagst« erwiderte der Andat. »In Liebesdingen habe
ich leider nur sehr wenig Erfahrung.«
»Sag mir, was ich wissen muss.«
Bleiche Hände machten im Mondlicht eine Erklärung heischende
Gebärde.
»Du hast gesagt, du weißt, wo er ist und wie lange er braucht, um
sich in den Schlaf zu trinken. Sag es mir.«
»Und du wirst tun, worum ich dich gebeten habe?«
»Sag mir, was ich wissen muss« wiederholte Otah. »Und dann lass
dich überraschen.«

Am Morgen nach ihrer Ankunft im Bordell war Liat von Amats


leisem Schnarchen erwacht. Nur ein Hauch von Tageslicht fiel durch
die Lamellen der Fensterläden. Amats Zimmer schien der
Unterschlupf einer Eule zu sein. Beim Aufwachen hatte Liat in den
Laken noch einen schwachen Geruch von Itani erschnuppern
können. Als sie sich dann unbeholfen und unter Schmerzen
aufrappelte und schon beinahe bereute, in der Nacht auf körperliche
Liebe bestanden zu haben, erwachte auch Amat und nahm sie mit
nach unten. Die Anlage des Gebäudes war einfach: In den
Schlafzimmern der Huren standen Reihen von Stockbetten, und statt
seidener Mückennetze war vor jedem Bett ein billiges Leinentuch
angebracht; die Küche lag im hinteren Bereich des Hauses; das
große Bad wurde tagsüber zum Wäschewaschen und zur
Körperpflege benutzt und gegen Abend mit frischem Wasser befüllt
und mit Duftölen angereichert und stand dann den Freiern zur
Verfügung. Amat erklärte Liat, sie habe keinen Zutritt zum
vorderen Teil des Hauses und dürfe das Bordell bis auf Weiteres
nicht verlassen; auch die Freier dürften nichts von ihr
mitbekommen; es stehe einfach zu viel auf dem Spiel, und Wilsin
habe schon einmal Gewalt gegen sie eingesetzt.
Seither hatte Liat geschlafen, gegessen, sich gewaschen, an Amats
Schreibtisch gesessen und den Musikern zugehört, die unten auf der
Straße gespielt hatten, doch weder von Itani noch von Maati hatte
sie Nachricht bekommen. Am zweiten Abend hatte sie eine
Botschaft in die Baracke geschickt, in der Itanis Kollegen
untergebracht waren. Am nächsten Morgen war ihr Schreiben mit
einem Zusatz von Muhatia-cha zurückgekommen, wonach Itani
Noyga seinen Arbeitsvertrag gebrochen und sich aus dem Staub
gemacht habe; er wohne nicht bei seinen früheren Kollegen und sei
dort auch nicht erwünscht. Als Liat diese Worte las, überkam sie ein
beklemmendes Angstgefühl. Kaum hatte sie Amat Kyaan die
Nachricht gebracht, runzelte ihre alte Ausbilderin die Stirn und
steckte den Brief in den Ärmel.
»Vielleicht hat Wilsin-cha ihn umbringen lassen«, sagte Liat und
versuchte, weniger panisch zu klingen, als ihr zumute war.
Amat machte eine beschwichtigende Gebärde.
»Nein. Schließlich können du und Maj das Gleiche aussagen wie er.
Ihn zu töten, würde unsere Position nur stärken. Außerdem habe
ich den Eindruck, dass dein Freund auf sich aufpassen kann«, sagte
Amat. Als sie sah, wie wenig all dies Liat tröstete, fügte sie hinzu:
»Ich kann ihn immer noch von Torishs Männern suchen lassen.«
»Er wäre zurückgekehrt, wenn alles in Ordnung wäre.«
»Es ist aber nicht alles in Ordnung«, sagte Amat mit harter und
doch auch müder Stimme. »Aber das heißt nicht, dass er in Gefahr
ist. Vielleicht hätte ich ihn doch aufnehmen sollen. Hast du auch
dem Dichterlehrling eine Nachricht zukommen lassen? Vielleicht hat
Maati etwas von ihm gehört. Vielleicht wohnt er sogar bei ihm.«
Amat nahm ihren Stock, stand auf und wies auf ein paar leere
Blätter und das Tintenfass auf dem Schreibtisch.
»Ich muss mich um einige Dinge kümmern«, sagte sie. »Schreib
ihm, und wir schicken einen Boten hin.«
Liat setzte sich dankbar, doch als sie die Feder nahm, zitterte ihre
Hand. Der Gänsekiel schwebte direkt über dem Blatt und schien
gespannt, welchen Namen sie schreiben würde. Schließlich entschied
sie sich, den Brief an Maati zu richten, denn sie wollte sicher sein,
dass jemand ihn las.
Als der Bote unterwegs war, blieb Liat wenig anderes zu tun, als
unruhig auf und ab zu gehen. Erst tat sie das in Amats Zimmer,
doch am frühen Nachmittag trieb die Sorge sie ins Erdgeschoss. Im
Aufenthaltsraum roch es nach gebratenem Schweinefleisch und
Wein, und das Geschirr war noch immer nicht abgeräumt. Die
Huren schliefen; die Männer, die in den vorderen Zimmern
arbeiteten, hatten sich entweder ebenfalls in ihre Stockbetten gelegt
oder sich in die eigenen vier Wände zurückgezogen. Das
Vergnügungsviertel hatte einen anderen Lebensrhythmus als die
Welt, die Liat kannte: Bei Tageslicht wurde hier ausgeruht und
geschlafen. Dass Amat wach war und das Haus mit Mitat und einer
bewaffneten Eskorte verlassen hatte, bedeutete, dass ihre alte
Ausbilderin zu wenig Schlaf bekam. Es waren nur noch fünf Tage,
bis sie ihre Anklage vor Khai Saraykeht bringen würde.
Liat, die im leeren Aufenthaltsraum auf und ab gegangen war,
hielt an, um einen alten schwarzen Hund hinter den Ohren zu
kraulen. Es wäre einfach, das Haus durch den Hintereingang zu
verlassen, als wollte sie nur hinüber in die Küche gehen, und
stattdessen auf die Straße zu treten. Sie stellte sich vor, Itani zu
entdecken und ihn in die Sicherheit des Bordells zurückzuholen.
Natürlich war das eine schlechte Idee, und sie würde ihr nicht
nachgeben, aber die Vorstellung, es doch zu tun, war verlockend. Es
war der Traum, alles irgendwie wieder ins Lot zu bringen.
Sie wurde auf ein leises Geräusch aufmerksam, kaum mehr als ein
Seufzen, das aus der langgezogenen Nische in der hinteren Ecke des
Raums kam, von dort also, wo die Nähtische standen, wo Stapel
von Baumwoll- und Ledersachen lagen und wo offenbar die
Kostüme des Bordells gefertigt wurden. Liat ging leise auf die
Nische zu. Hinter Stoffhaufen entdeckte sie Maj, die mit
Pferdeschwanz im Schneidersitz dasaß und an etwas in ihrem Schoß
herumfummelte. Ihre Miene war so konzentriert, dass Liat es kaum
wagte, sie zu stören. Als Maj sich kurz durchs Gesicht fuhr, sah Liat
einen winzigen Webstuhl und ein Stück schwarzen Stoff.
»Was ist das?« fragte sie. Neugier und schweifende Unruhe hatten
sie ihr Zögern überwinden lassen.
»Ein Trauerschal«, sagte Maj, ohne aufzublicken. Ihr Akzent war
so stark, dass Liat zunächst nicht sicher war, ob sie sie richtig
verstanden hatte, doch dann fügte das Mädchen hinzu: »Für das
tote Kind.«
Liat kam näher. Der schwarze Stoff war schmal, hauchdünn und
mit winzigen Glasperlen besetzt, die ein hübsches Muster formten.
Neben Maj lag schon eine Menge von diesem Stoff.
»Der ist wirklich schön« sagte Liat.
Maj zuckte die Achseln. »So kriecht die Zeit nicht so. Ich arbeite
schon ein paar Wochen daran.«
Liat kniete sich hin. Majs helle Augen sahen fragend, womöglich
herausfordernd zu ihr hoch und wandten sich dann wieder dem
Webstühlchen zu. Liat beobachtete, wie Maj in fast völliger Stille
Fäden und Perlen verwob. Es war ein sehr feines Garn, aus dem
sich kaum mehr als drei Handspannen Stoff pro Tag weben ließen.
Liat strich über den Stoff, der sich neben Maj bauschte. Er war etwa
zwei Handflächen breit und ungefähr so lang, wie Maj groß war.
»Wie lange arbeitet man daran?«
»Bis man fertig ist« antwortete Maj. »Normalerweise webt man so
einen Trauerschal, wenn der Schmerz frisch ist. Nach der Arbeit
oder wenn man nachts aufwacht und nicht mehr schlafen kann.
Wenn man lieber mit Freunden singen oder schwimmen gehen
möchte, ist es Zeit, damit aufzuhören.«
»Hast du früher schon Trauerschals gewebt?«
»Für meine Mutter und meinen Bruder. Damals war ich viel
jünger« sagte Maj mit schwerer, müder Stimme. »Und die Schals
waren viel kürzer.«
Liat setzte sich und sah Maj bei der Arbeit zu. Der Webstuhl war
nicht lauter als ihr Atem. Sie schwiegen lange.
»Was passiert ist, tut mir leid« sagte Liat schließlich. »Hattest du
das geplant?«
»Nein, ich wusste nicht, was wirklich vorging.«
»Warum tut es dir dann leid?«
»Weil ich es hätte wissen sollen«, sagte Liat. »Ich hätte es in
Erfahrung bringen müssen, aber ich habe es nicht getan.«
Maj blickte auf und stellte den Webstuhl beiseite. »Warum nicht?«
fragte sie und musterte Liat unverwandt und anklagend.
»Weil ich Wilsin-cha vertraut habe« sagte Liat. »Ich glaubte, er
handle in deinem Sinne und ich würde dir helfen.«
»Hat Wilsin dir das angetan?«, fragte Maj und zeigte auf den
Schulterverband.
»Seine Leute. Das sagt jedenfalls Amat-cha.«
»Und der vertraust du?«
»Natürlich. Du etwa nicht?«
»Ich bin jetzt ein paar Monate hier. Wenn jemand in meiner
Heimat etwas Böses tut, verurteilen ihn die Kiopia, und zack - Maj
klatschte in die Hände - »… wird er bestraft.
Hier sitze ich wochenlang in einer kleinen Kammer und warte. Ich
stelle fest, dass nichts passiert, und warte. Und jetzt heißt es, es
kann noch mal Wochen dauern, bis der Khai den bestraft, der mein
Kind getötet hat. Warum wartet er so lange? Doch nur, weil er
Amat nicht traut! Und wenn er ihr nicht traut, warum bin ich dann
noch hier? Warum soll ich warten, wenn die Gerechtigkeit doch
nicht ihren Lauf nimmt?«
»Es ist kompliziert« erwiderte Liat. »Es ist alles sehr kompliziert.«
Maj schnaubte wütend. »Es ist ganz einfach« sagte sie. »Ich dachte,
du wusstest damals schon von den Zusammenhängen und bist
gekommen, um zu verhindern, dass Klage gegen Marchat Wilsin
erhoben wird. Aber du bist einfach nur ein dummes, selbstsüchtiges
und schwaches Mädchen. Geh weg. Lass mich weben.«
Liat stand betroffen auf. Sie wollte etwas sagen, doch ihr fiel
nichts ein. Maj spuckte ihr vor die Füße.
Liat verbrachte die nächsten Stunden auf der Terrasse im
Obergeschoss, von wo sie die Straße im Blick hatte, und ließ ihren
Zorn verrauchen. Die Wintersonne war stark genug, um bei
Windstille zu wärmen, doch schon die leiseste Brise ließ sie frösteln.
Einzelne Wolken schwebten wie Watte über den Himmel. Liat war
beunruhigt, doch sie wusste nicht, ob das von den Vorwürfen des
Inselmädchens herrührte, von Itani und Maati oder davon, dass
Majs Schicksal demnächst vor dem Khai verhandelt wurde. Zweimal
war sie drauf und dran, zu Maj zu gehen und eine Entschuldigung
zu verlangen oder anzubieten, doch in beiden Fällen ließ sie -
bestürmt von Zweifeln - noch in Amats Zimmer davon ab. Sie war
noch immer beunruhigt und zerbrach sich den Kopf, um ein wenig
Klarheit zu gewinnen, als ihr eine Gestalt auf der Straße auffiel. Mit
flatternder brauner Robe kam Maati zum Bordell gerannt. Sein
Gesicht war gerötet. Sie spürte eine plötzliche Angst nach ihrem
Herzen greifen. Etwas war geschehen.
Sie sprang die breite Holztreppe hinunter und rannte in den
Aufenthaltsraum. Von der Hintertür war Maatis Stimme zu hören.
Er sprach laut und stritt offenbar mit jemandem.
Als sie den Riegel beiseiteschob und die Tür öffnete, stellte sie
fest, dass einer von Torishs Leuten ihm den Weg versperrte.
Der Junge machte eine herrische Gebärde und verlangte, sofort
eingelassen zu werden. Als er Liat erblickte, wurde er still und
erbleichte. Sie berührte den Wächter am Arm.
»Bitte«, sagte sie. »Er ist wegen mir gekommen.«
»Die alte Frau hat nichts von ihm gesagt«, entgegnete der
Wächter.
»Sie wusste nichts davon. Bitte. Sie wäre sicher dafür, dass er ins
Haus kommt.«
Der Mann machte ein finsteres Gesicht, gab aber den Weg frei.
Maati trat ein. Er sah krank aus: Seine Augen waren glasig und
blutunterlaufen, seine Haut grau. Die Robe war ganz zerknittert, als
hätte er darin geschlafen. Liat nahm ihn an der Hand, ohne
nachzudenken.
»Ich habe deine Nachricht erhalten« sagte Maati. »Ich bin so
schnell wie möglich gekommen. Er ist also nicht hier?«
»Nein. Da er nach der Rückkehr vom Dai bei dir gewohnt hat,
dachte ich, er sei vielleicht wieder bei dir aufgetaucht und …«
»Das ist er auch« sagte Maati und setzte sich. »Erst hat er dich
hierhergebracht und sich dann eine Schlafstelle am Hafen gemietet.
Und gestern Abend hat er mich besucht.«
»Und er ist nicht bei dir geblieben?«
Maati presste die Lippen zusammen und schaute weg. Liat wusste,
dass Maj in der Nische stand und zusah, doch die Scham in Maatis
Miene saß zu tief, als dass es sie gekümmert hätte, was das
Inselmädchen über die Situation denken mochte. Liat schluckte, um
den Kloß im Hals loszuwerden. Maati entzog ihr vorsichtig die
Hand, und sie ließ die Rechte kraftlos sinken.
»Er hat es also herausgefunden?« fragte sie leise. »Er weiß, was
passiert ist?«
»Ich habe es ihm gesagt. Ich musste es tun. Ich dachte, er würde
hierher zurückkehren, zu dir.«
»Er ist nicht zurückgekommen.«
»Meinst du … wenn Wilsin ihn nun gefunden hat …«
»Amat glaubt nicht, dass Wilsin ihm etwas tun würde. Davon
hätte er nichts. Wahrscheinlich will er uns einfach nur nicht sehen.«
Maati sank auf eine Bank und stützte den Kopf in die Hände. Liat
setzte sich neben ihn und legte ihm den gesunden Arm um die
Schulter. Itani war verschwunden. Sie hatte ihn verloren. Das
wusste sie so sicher wie ihren Namen. Sie legte den Kopf an Maatis
Schulter, schloss die Augen und verzweifelte fast bei dem
Gedanken, auch er könnte sie verlassen.
»Gib ihm Zeit«, murmelte sie. »Er braucht Zeit zum Nachdenken,
mehr nicht. Alles wird gut.
»Nein«, sagte Maati. Er klang nicht verzweifelt oder wütend,
sondern ganz nüchtern. »Alles geht zu Bruch, und ich kann nichts
dagegen tun.«
Sein Ein- und Ausatmen schien ihr wie das Kommen und Gehen
von Wellen am Strand. Sie spürte, wie er sich anders hinsetzte und
sie in die Arme schloss. Das ließ ihre Wunden schmerzen, doch sie
hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sich darüber zu
beschweren. Stattdessen strich sie ihm durchs Haar und weinte.
»Verlass mich nicht« sagte sie. »Ich könnte es nicht ertragen, euch
beide zu verlieren.«
»Eher sterbe ich. Ich schwöre, dass ich dich nicht verlassen werde,
solange ich lebe. Aber ich muss Otah finden.«
Seine Arme, die ihr Schmerzen bereiteten und doch so wunderbar
waren, lösten sich von ihr, und Maati stand auf. Er blickte sehr ernst
drein und nahm ihre Hand.
»Wenn Otah … wenn ihr zwei euch nicht versöhnen könnt … Liat,
ohne dich bin ich nur ein halber Mensch. Ich kann zwar nicht frei
über mein Leben verfügen, da ich dem Dai und den Khais
verpflichtet bin, doch ich möchte, dass du dein Leben mit mir
teilst.«
Liat blinzelte, damit ihr keine Tränen in die Augen traten. »Du
würdest dich also für mich entscheiden, nicht für ihn?«
Sie sah, wie sehr ihn diese Frage erschütterte, und wünschte einen
Moment sehnlich, sie nicht gestellt zu haben, doch die Zeit ließ sich
nicht zurückdrehen. Maati blickte ihr erneut in die Augen.
»Ich darf keinen von euch verlieren«, sagte er. »Sollten Otah und
ich Frieden schließen, dann geht dieser Friede nur uns etwas an.
Was ich für dich empfinde, Liat Du bist mein ein und alles. Und
wenn du bei ihm bleibst, werde ich immer dein Freund sein.«
Dieses Bekenntnis wirkte so lindernd wie kaltes Wasser auf einer
Brandwunde. Liat sank zurück.
»Dann geh. Und wenn du ihn findest, sag ihm, wie leid es mir tut.
Und egal, ob du ihn auftreibst oder nicht: Komm zurück, Maati.
Versprich mir das.«
Es dauerte noch ein wenig, bis er sich losriss und sich auf die
Suche nach Otah machte. Als er weg war, setzte Liat sich wieder auf
die Bank, schloss die Augen und spürte ihren wogenden Gefühlen
nach. Ja, sie fühlte sich schuldig, spürte aber auch Freude. Und sie
empfand Angst, doch zugleich Erleichterung. Sie liebte Maati - das
war ihr jetzt klar. Wie sie Itani geliebt hatte, als sie gerade
zusammengekommen waren. Wegen dieses Aufruhrs der Gefühle
bemerkte sie lange Zeit nicht, dass sie beobachtet wurde.
Maj stand mit tränenfeuchten Augen in der Nische und hatte die
Hand an die Lippen gepresst. Liat erhob sich langsam und machte
eine fragende Gebärde. Maj kam auf sie zu, schlang ihr die Arme
um den Hals und tat etwas sehr Irritierendes: Sie küsste sie auf den
Mund.
»Du armes Kaninchen«, sagte sie dann. »Du armes, dummes
Kaninchen. Es tut mir sehr leid. Dich und den Jungen zusammen zu
sehen, lässt mich an den Mann denken, mit dem ich … an den Vater.
Vorhin habe ich dich dumm, selbstsüchtig und schwach genannt,
weil ich immer mehr vergesse, was es bedeutet, jung zu sein. Auch
ich bin jung gewesen, und zurzeit geht es mir nicht gut. Was ich
gesagt habe, um dir wehzutun, nehme ich zurück, ja?«
Liat nickte, denn obwohl sie aus Majs Worten nicht recht schlau
geworden war, hatte sie doch verstanden, dass das Mädchen sich
entschuldigt hatte. Daraufhin ließ Maj einen verbalen Wasserfall auf
Nippu niedergehen, dem Liat nicht zu folgen vermochte. Immerhin
verstand sie die Worte für Wissen und für Schmerz. Schließlich
tätschelte Maj ihr sanft die Wangen und verließ den
Aufenthaltsraum.
19

»Bekümmert Euch das, Großmutter?«, fragte Mitat, als sie die


Straße entlanggingen. Sie sprach leise, damit niemand sonst sie
verstehen konnte, besonders die vierköpfige Eskorte nicht, von der
zwei Männer vorneweg, die anderen beiden hinterdrein gingen.
»Was genau? Mir fallen ein halbes Dutzend Probleme ein, die mir
auf der Seele liegen« entgegnete Amat.
»Bekümmert es Euch, gegen Marchat auszusagen?«
»Natürlich. Aber das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Immerhin ist das Haus Wilsin sehr lange sehr gut zu Euch
gewesen … Es war für Euch wie eine Familie, oder? Dass Ihr nun
einen ganz anderen Weg eingeschlagen habt …«
Amat runzelte die Stirn, was Mitat erröten und eine
entschuldigende Gebärde machen ließ, die ihre Vorgesetzte freilich
geflissentlich übersah.
Der auflandige Wind ließ Amat frösteln, und die sinkende Sonne
hatte keine wärmende Kraft mehr, sondern verlängerte nur die
Schatten und tauchte die Welt in ein rötliches Licht. Das Flattern der
Fahnen auf dem Dach der Wache hörte sich an wie das Murmeln
von Verschwörern. Die Eskorte öffnete die Tür, nickte den Wachen
drinnen zu und winkte Amat und ihre rechte Hand und Freundin
Mitat - ihre erste richtige Verbündete in dieser trüben
Angelegenheit - herein. Amat hielt inne.
»Wenn du dich mit deinem Mann aus dem Staub machen willst,
warte bitte, bis Anklage erhoben ist, und lass mich dir deine Mühe
entgelten. Sollten wir uns nicht einig werden, kannst du immer noch
mit meinem Segen davonziehen.«
»Die Bedingungen meines Vertrags sind streng, und Ihr könntet -«
»Unsinn«, sagte Amat. »Den Vertrag hast du mit Ovi Niit
abgeschlossen, und er interessiert mich nicht. Ich rede über unser
Arbeitsverhältnis - das ist etwas ganz anderes.«
Mitat lächelte ein wenig traurig und nickte. Auf der Wache
bezahlte Amat ihre Steuern, unterzeichnete ein paar Dokumente und
schob sich die Abschriften in den Ärmel, um sie daheim zu
verwahren. Einen weiteren Monat lang waren sie und die
Mitarbeiter ihres Hauses nun angesehene Bürger des
Vergnügungsviertels. Mit ihren fünf Begleitern und doch sehr
einsam kehrte Amat zu ihrem Bordell zurück.
Als sie am Verkaufsstand eines alten Mannes vorbeikam, führte
der Geruch seiner Knoblauchwürste sie in Versuchung. Amat
wünschte sich sehnlich, anhalten, die bewaffnete Eskorte
vorausschicken und sich mit Mitat zu einem freundschaftlichen
Gespräch an einen Tisch setzen zu können, um herauszufinden, zu
welchem Preis ihre Mitarbeiterin zu bleiben gewillt war. Sie glaubte
kaum, dass der Preis ihr zu hoch erschiene. Doch die Eskorte würde
ihnen keine Pause und keine Zweisamkeit gönnen, und auch Mitat
wäre so ein Aufenthalt nicht recht. Amat wusste zudem, dass so
eine Pause unklug war, da Marchat Wilsin sich irgendwo in der
Stadt in schierer Verzweiflung herumtreiben könnte und bewiesen
hatte, dass er vor Mord nicht zurückschreckte. Schon das Bordell
verlassen zu haben, war ein Risiko gewesen. Dennoch, sie sehnte
sich nach einem normalen Leben.
Schritt für Schritt ging Amat weiter. Später, so sagte sie sich, wäre
für all das noch Zeit. Später, wenn die Galten entlarvt wären und
ein anderer sich um diese Sache würde kümmern müssen. Wenn der
Tod des Kindes vergolten, ihre Heimatstadt sicher und ihr
Gewissen rein wäre. Dann könnte sie wieder sie selbst sein - wenn
von ihr dann noch etwas übrig war. Wenn nicht, müsste sie sich
eben neu erfinden.
Vor dem Bordell wartete ein Bote auf sie. Er war nicht älter als
Liat und hatte eng zusammenstehende Augen und eine dünne Nase.
Und er trug die Farben eines hohen Dieners. Also bringt er eine
Botschaft von Khai Saraykeht, dachte Amat, und ihr wurde bang
ums Herz.
»Suchst du Amat Kyaan?« sprach sie ihn an.
Der Bote machte eine Gebärde ehrerbietiger Zustimmung, wie sie
bei Hofe üblich war.
»Sie steht vor dir« erklärte sie.
Der junge Mann zog einen Brief, der das Siegel von Khai
Saraykeht trug, aus dem Ärmel. Amat riss ihn an Ort und Stelle auf.
Wie jede Botschaft aus dem Palast war auch diese Nachricht ein
kalligrafisches Meisterwerk von solcher Pracht und Schönheit, dass
sie kaum zu entziffern war, doch Amat hatte genug Erfahrung mit
solchen Schriftstücken. Sie seufzte, dankte dem Boten und entließ
ihn.
»Ich verstehe«, sagte sie dann. »Es gibt keine Antwort.«
»Was ist passiert?«, fragte Mitat auf dem Weg ins Haus. »Schlechte
Nachrichten?«
»Nein«, sagte Amat. »Nur die üblichen Verzögerungen. Der Khai
hat die Audienz um vier Tage verschoben. Die andere Seite möchte
zugegen sein.«
»Marchat Wilsin persönlich?«
»Das nehme ich an. Dieser Aufschub kommt uns so gelegen wie
ihm. Wir können die paar Tage gut gebrauchen, um uns besser
vorzubereiten.«
Amat blieb im Spielsaal des Bordells stehen und klopfte mit dem
gefalteten Brief an die Kante eines Würfeltischs. Aus dem hinteren
Teil des Hauses drang das Lachen eines jungen Mädchens - von
dort, wo die Huren auf Kundschaft warteten. Es war ein seltsames
Geräusch. Noch der kleinste Ausdruck von Freude schien ein
seltsames Geräusch geworden zu sein.
An Marchat Wilsins Stelle hätte Amat eine letzte große Geste
gewagt: Sie hätte einen letzten Wurfpfeil gen Himmel geschleudert
und auf ein Wunder gehofft.
»Hol Torish« sagte sie. »Ich will die Sicherheitslage des Hauses
noch mal mit ihm besprechen. Haben wir eigentlich schon Nachricht
von Liats Freund, von Itani?«
»Noch nicht« sagte der Wächter am Eingang. »Und Torish ist
vorhin aus dem Haus gegangen.«
»Wenn einer der beiden auftaucht, schick ihn gleich zu mir.«
Sie ging mit Mitat in den hinteren Teil des Gebäudes.
»Es ist vermutlich nur eine Verzögerung« sagte Amat, »aber wenn
Marchat einen Grund haben sollte, Zeit zu gewinnen, möchte ich
darauf vorbereitet sein.«
»Großmutter?«
Sie hatten den Aufenthaltsraum erreicht, wo zahlreiche Mädchen,
Croupiers und Jungen in ihrer exotischen Arbeitskleidung saßen, es
nach frischem Brot und gebratenem Lamm duftete und alle wild
durcheinanderredeten. Mitat stand mit verschränkten Armen in der
Tür. Als Amat das sah, machte sie eine fragende Gebärde.
»Jemand muss es Maj sagen« erklärte Mitat.
Amat schloss die Augen. Natürlich. Als ob das alles nicht
anstrengend genug wäre, musste auch noch jemand Maj die
Nachricht überbringen. Und selbstverständlich würde Amat das
tun. Sollte es dann eine Auseinandersetzung geben, könnten sie sich
wenigstens auf Nippu anbrüllen. Sie atmete zweimal tief durch und
öffnete die Augen wieder. Mitat blickte nun so traurig wie amüsiert
drein.
»Ich hätte Tänzerin werden können«, sagte Amat plötzlich. »Als
Kind war ich sehr anmutig. Ich hätte Tänzerin werden können.
Dann hätte ich nie durch diesen Unflat waten müssen.«
»Ich könnte es ihr ja sagen« meinte Mitat. Amat lächelte nur,
schüttelte den Kopf und ging auf die Tür zu Majs kleinem Zimmer
zu.

Otah Machi, der sechste Sohn von Khai Machi, saß am Ende der
Mole und blickte aufs Meer hinaus. Die Nacht war heraufgezogen,
und nur noch das Licht des Halbmonds schillerte auf dem Wasser.
Die Arbeit im Hafen war für heute vorbei, und die fast ebenso
lauten abendlichen Vergnügungen hatten begonnen. Er kümmerte
sich nicht weiter darum, sondern aß aus einer Papiertüte
Ingwerhuhnstücke, die er an einem Stand gekauft hatte, und dachte
an gar nichts.
Er besaß nur noch zwei Kupferstücke. Jahrelang hatte er gearbeitet
und in der Stadt auf eigenen Füßen gestanden, und nun war er bei
zwei Kupferstücken gelandet. Damit konnte er sich gerade noch ein
Glas Wein kaufen, einen billigen. Alles, was er sonst besaß, hatte er
ausgegeben, verloren oder weggeworfen. Doch immerhin war alles
vorbereitet. Es war Flut. Bevor der Morgen dämmerte, würde
wieder Ebbe sein.
Es war so weit.
Er ging am Hafen entlang, warf das fettige Papier in den Ofen
eines Feuerhüters und sah zu, wie es verbrannte und dabei kurz die
Gesichter der Männer und Frauen erleuchtete, die sich am Feuer
wärmten. Die Lagerhäuser standen dunkel und verriegelt da, und
auf dem Nantan war kein Mensch zu sehen. Vor einem Teehaus gab
eine Straßenmusikantin mit kläglicher Stimme Lieder zum Besten. In
dem Kistchen, das sie vor sich stehen hatte, lag immerhin das
Dreifache dessen, was Otah besaß. Er warf eines seiner beiden
Kupferstücke dazu und wünschte sich dabei etwas.
Im Vergnügungsviertel war es wie jede Nacht. Er war es, der
anders war. Die Trommeln und Flöten der Bordelle, der Geruch
von Weihrauch und stärkeren Kräutern, die traurigen Augen der
Frauen, die ihren Körper von niedrigen Brüstungen und hohen
Fenstern herab feilboten, all das war wie immer.
Und doch war ihm, als sei er ein Reisender aus einem fernen Land
und komme erstmals hierher. Es war noch Zeit umzukehren. Selbst
jetzt noch konnte er gehen, wie er vor vielen Jahren die Schule
hinter sich gelassen hatte. Er konnte gehen und sich einreden, er
habe es aus Überzeugung, Lauterkeit oder Unerschütterlichkeit
getan. Aber er würde stets um seine eigentlichen Beweggründe
wissen.
Der schmale Gang war dort, wo Samenlos gesagt hatte. Fast hätte
er ihn übersehen, so unauffällig verlief er zwischen den Häusern.
Otah blieb einen Moment stehen und zögerte. Ein gutes Stück
entfernt brannte eine Laterne. Ein Schaukämpfer, dem Blut aus den
Haaren floss, schleppte sich vorbei. Zwei Seeleute zeigten von der
anderen Straßenseite auf den Verwundeten und lachten. Otah trat in
die Dunkelheit.
Der Schlamm und der Schmutz unter seinen Schuhen ließen ihn an
ein Bachbett denken. Die Laterne kam näher, doch ehe er ihren
Lichtkegel erreicht hatte, stand er schon vor der Tür, die Samenlos
ihm beschrieben hatte. Er drückte die Hand dagegen. Das Holz war
stabil, das Schloss aus schwarzem Eisen. Das Licht, das durch die
Lamellen der Fensterläden fiel, verriet, dass drinnen ein Feuer
brannte. Der Dichter war in seiner Privatwohnung - dort, wo er sich
vor der Schönheit der Paläste und des Hauses verbarg, das sein
eigentlicher Wohnsitz war. Otah drückte vorsichtig die Klinke, doch
es war abgeschlossen. Also klopfte er, doch niemand kam. Mit
einem Messer hätte er die Tür aufbrechen können. Ein Betrunkener
wäre davon womöglich nicht mal erwacht, aber dafür hätte Otah
sehr viel später kommen müssen. Der Andat hatte ihm eingeschärft,
das Refugium des Dichters erst weit nach Mitternacht aufzusuchen,
und die Nachtkerze war noch nicht mal zu einem Viertel
heruntergebrannt.
»Heshai-kvo«, sagte er. Auch ohne zu rufen, war seine Stimme laut
genug, um von den Mauern ringsum widerzuhallen. »Öffnet mir
bitte.«
Einen langen Augenblick schien niemand zu kommen.
Dann aber war hinter dem Fensterladen eine Silhouette
auszumachen. Gleich darauf wurde die Tür entriegelt und öffnete
sich knarrend. Im Eingang stand die Gestalt des Dichters. Sein
Gewand sah so mitgenommen aus wie sein Haar. Er blickte böse
drein, und seine Mundwinkel waren tief herabgezogen.
»Was fällt dir ein, mich hier zu stören?«
»Wir müssen reden« sagte Otah.
wegen!« rief der Dichter, trat einen Schritt zurück und machte die
Tür wieder zu. »Verschwinde.«
Otah schob rasch die Schulter gegen die Tür und drückte sie mit
aller Kraft auf. Der Dichter wich zurück und stieß dabei ein
überraschtes Schnaufen aus. Das Wohnzimmer war klein, schmutzig
und verwahrlost. Eine Klappliege stand zu nah am Feuer, und um
die Liege herum lagen leere Flaschen verstreut. Dunkler Schimmel
zog sich streifenweise von den durchhängenden Deckenbalken bis
zum Fußboden. Es roch wie ein Sumpf im Sommer. Otah schloss die
Tür hinter sich.
»Was willst du?« fragte der Dichter. Sein bleiches Gesicht wirkte
verängstigt.
»Wir müssen reden« wiederholte Otah. »Samenlos hat mir gesagt,
wo ich Euch finden kann. Er hat mich hergeschickt, damit ich Euch
töte.«
»Damit du mich tötest?«, echote Heshai und lachte in sich hinein.
Seine Angst wich einer trostlosen Fröhlichkeit. »Damit du mich
tötest! Ihr Götter!«
Kopfschüttelnd tapste der Dichter zu seiner Klappliege und setzte
sich. Otah stand zwischen Kamin und Tür, um Heshai den Weg zu
versperren, falls er Reißaus nehmen wollte. Doch der Dichter
unternahm keinen Fluchtversuch.
»Du bist also gekommen, um mich zu erledigen, ja? Nun, du bist
ein großer, starker Junge. Und ich bin alt, dick und ganz schön
betrunken. Ich schätze, da wirst du keine Mühe haben.«
»Samenlos hat mir erzählt, das wäre Euch sehr recht«, sagte Otah.
»Aber ich vermute, er hat es übertrieben dargestellt. Wie auch
immer - ich bin nicht seine Marionette.«
Der Dichter machte ein finsteres Gesicht, und seine
blutunterlaufenen Augen wurden schmal. Otah trat näher und
kniete sich hin, wie er es als Kind in der Schule getan hatte.
»Ihr wisst, dass Amat Kyaan demnächst eine Audienz bei Khai
Saraykeht hat. Und die verheerenden Folgen dieser Audienz sind
Euch sicher klar.«
Heshai nickte langsam und widerwillig.
»Samenlos hofft, ich würde Euch töten, um zu verhindern, dass an
den Galten furchtbare Vergeltung geübt wird. Aber ich bin kein
Mörder«, sagte Otah. »Der Preis, den Unschuldige zahlen müssen …
und den Maati zahlen muss, ist einfach zu hoch. Ich kann das nicht
zulassen.«
»Verstehe«, brummte Heshai. Dann war nur noch das Knistern des
Feuers zu hören. Gedankenverloren langte der Dichter nach einer
halbvollen Flasche, die auf dem Fußboden stand. Otah sah zu, wie
der alte Mann ausgiebig trank. Schließlich fragte Heshai: »Und wie
willst du das Problem lösen?«
»Lasst den Andaten frei«, sagte Otah. »Ich bin gekommen, um
Euch zu bitten, Samenlos ziehen zu lassen.«
»Ist es wirklich so einfach?«
»Ja.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich denke schon, dass Ihr das könnt«, widersprach Otah. »Ich
meine ja nicht, dass es unmöglich wäre. Im Gegenteil - nichts wäre
leichter als das. Ich müsste ihn nur Er öffnete seine Linke, als würde
er einen Vogel aus der Faust fliegen lassen. »Das meine ich nicht. Es
ist so, dass ich es nicht kann. Ich bringe das einfach nicht über mich.
Tut mir leid, Junge. Ich weiß, dass es für dich ganz einfach aussieht.
Aber es ist nicht einfach. Ich bin der Dichter von Saraykeht, und
dieses Amt kann ich nicht einfach aufgeben, nur weil ich seiner
müde bin, nur weil es mich verzehrt, nur weil es mich dazu
verpflichten mag, eine Welle von Fehlgeburten in Galtland
auszulösen. Wer die Wahl hat, ein glühendes Stück Kohle in der
Faust zu halten oder eine Stadt voller Unschuldiger zu zerstören,
wird sich verzweifelt bemühen, die Qualen der Verbrennung zu
ertragen. Wer das nicht wenigstens versucht, ist kein anständiger
Mensch.«
»Wärt Ihr denn ein anständiger Mensch, wenn Ihr Khai Saraykeht
Vergeltung üben ließet?«
»Ich wäre ein Dichter«, sagte Heshai mit melancholischem Lächeln.
»Du bist zu jung, um das zu verstehen. Ich habe dieses Kohlestück
schon gehalten, als du noch nicht geboren warst. Ich kann es jetzt
nicht fallen lassen, ich kann es einfach nicht. Mein Ich steht und fällt
damit, die glühende Kohle zu halten. Wenn ich sie losließe, einfach
so losließe, würde ich in gewisser Weise sterben.«
»Ich glaube, da habt Ihr unrecht.«
»Ich verstehe, dass du das so siehst, aber deine Meinung ist für
mich ohne Bedeutung. Und das dürfte dich kaum überraschen.«
Die Angst, die sich in Otahs Magen eingenistet hatte, war plötzlich
so lastend, als habe er einen Stein verschluckt. Er nickte. Der
Dichter beugte sich vor und legte seine breite, fleischige Linke
behutsam auf Otahs Rechte.
»Du wusstest, dass ich nicht einverstanden sein würde.«
»Ich … ich hatte gehofft …«
»Du musstest es versuchen«, sagte Heshai anerkennend. »Das
spricht für dich. Ja, du musstest es versuchen. Mach dir keine
Vorwürfe. Ich bin einfach nicht stark genug, diese unselige Situation
zu beenden, obwohl ich jahrzehntelang tief im Unflat gewatet bin.
Magst du einen Schluck?«
Otah trank aus der Flasche, die Heshai ihm hingehalten hatte. Der
Wein war ungewöhnlich stark und schmeckte nach Kräutern. Er gab
dem Dichter die Flasche zurück. Seine Kehle wurde ganz warm.
Heshai lachte, als er Otahs verdutztes Gesicht sah.
»Ich hätte dich warnen sollen. Dieser Wein ist etwas stärker als
der, den man gewöhnlich zu Lammkoteletts trinkt, aber mir
schmeckt er. Er lässt mich schlafen. Darf ich jetzt vielleicht fragen,
wie unser gemeinsamer Bekannter auf die Idee gekommen ist, du
würdest mich für ihn umbringen?«
Mit leiser Überraschung stellte Otah fest, dass er Heshai alles
erzählte: Marchat Wilsins Geheimnis, von dem Anschlag auf Liat
und der Gefahr, dass Maati seelisch verkrüppelt aus der
unglücklichen Liebe zu dem Mädchen hervorginge. Heshai hörte
ihm die ganze Zeit mit besorgtem Gesicht zu und nickte nur dann
und wann oder stellte Fragen, damit sein Besucher sich klarer
ausdrückte. Als Otah ihm verriet, dass er gar nicht Itani Noyga,
sondern der sechste Sohn von Khai Machi war, bekam der Dichter
große Augen, sagte aber nichts. Zweimal bot er Otah noch die
Weinflasche an, und der Junge trank daraus. Es war seltsam, alles
ausgesprochen zu hören und zu erleben, wie erst halb entwickelte
Gedanken mit den Worten, die er für sie zu finden vermochte, klare
Gestalt annahmen. Er wurde sich seines Schicksals und des Loses
anderer bewusster, und sein Sinn für Gerechtigkeit und Verrat
schärfte sich, für Loyalität und für die Veränderungen, die die
Seereise bei ihm bewirkt hatte. Der Wein, die Angst und die Qual,
die sich in Otahs Magen vermischten, ließen den alten Mann zu
seinem Vertrauten werden und für den Augenblick sogar zu seinem
Freund.
Die Nacht war fast halb um, als er mit seiner Geschichte fertig war
und all seine Gedanken und Ängste, Geheimnisse und Misserfolge
berichtet hatte. Oder doch fast alle. Es gab eine Sache, von der er
nicht zu erzählen bereit war: von dem Schiff nämlich, auf dem er mit
seinen letzten Silberstücken zwei Plätze gebucht hatte und das vor
Sonnenaufgang auslaufen würde. Es war ein kleiner Segler aus den
Westgebieten, der auch im Winter Seewege befuhr, auf denen kein
Eisgang zu befürchten war. Ein Fluchtgefährt für einen Mörder und
seine Komplizin. Diese Nachricht behielt er für sich.
»Das ist schlimm«, sagte der Dichter. »Wirklich schlimm. Maati ist
trotz allem ein anständiger Kerl. Er ist eben noch jung.
»Bitte, Heshai-kvo - bereitet dieser Sache ein Ende.«
»Das steht nicht in meiner Macht. Und selbst wenn ich das Biest
entkommen lassen würde, scheint diese Puffmutter doch eine gut
belegte, schlüssige Geschichte erzählen zu können. Der nächste
Andat, den der ehrwürdige Dai nach Saraykeht schickt, kann
ebenso furchtbar sein wie Samenlos. Oder ein anderer Khai wird
gezwungen, im Namen aller Sommerstädte Vergeltung zu üben.
Mich zu töten, mag Maati ein bitteres Schicksal ersparen und dafür
sorgen, dass dein Geheimnis gewahrt bleibt, aber Liat … und die
Galten …«
»Daran habe ich schon gedacht.«
»Wie auch immer - ich bin dafür zu alt. Seinen Namen zu
wechseln, sein Leben wie ein altes Kleidungsstück abzustreifen und
ein neues anzulegen - das ist etwas für junge Leute. In meinem Alter
ist es schwer, eingefahrene Wege zu verlassen. Wie hättest du es
eigentlich getan?«
Was?«
»Wie hättest du mich umgebracht?«
»Samenlos hat mir geraten, kurz vor Morgengrauen zu kommen«,
sagte Otah. »Er meinte, wenn ich Euch eine Schnur um den Hals
lege und fest zuziehe, könntet Ihr nicht schreien.«
Heshai lachte leise, doch es klang seltsam ernst. Er nahm den
letzten Schluck aus der Flasche, an deren Innenseite nun schwarze
Kräuterrückstände zu erkennen waren. Dann wühlte er im
Durcheinander unter seiner Klappliege, zog eine neue Flasche
hervor, öffnete sie und warf den Korken ins Feuer.
»Er ist ein Optimist«, sagte er dann. »Bei meinen
Trinkgewohnheiten bin ich schon Stunden früher hinüber.«
Otah runzelte die Stirn. Dann traf ihn die Bedeutung dessen, was
Heshai gesagt hatte, wie ein kalter Wasserschwall. Erneut zog sich
sein Magen vor Angst zusammen, doch er schwieg. Der Dichter sah
ins Feuer, dessen ersterbende Flammen sein elend wirkendes
Gesicht in ein gespenstisches Rot tauchten. Otah verspürte das
Bedürfnis, den alten Mann zu umarmen, doch diese Anwandlung
verging so rasch wie eine Welle am Strand. Als der Alte ihn
anblickte, sah Otah in Heshais Augen die eigene Dunkelheit
gespiegelt.
»Ich habe stets getan, was mir befohlen wurde, Junge. Das hat sich
nicht ausgezahlt. Du bist kein Mörder, und ich bin ein Dichter -
wenn wir die Entwicklung noch aufhalten wollen, muss sich einer
von uns beiden ändern.«
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Otah und rappelte sich auf.
Die beiden verabschiedeten sich so vertraulich, als seien sie
miteinander verwandt. Dabei sah Otah Tränen auf den Wangen des
Dichters, die den seinen kaum nachstanden.
»Ihr solltet hinter mir die Tür verriegeln« sagte er.
»Das mache ich später, falls ich daran denke.«
Als Otah die kühle, übelriechende Luft des schmalen Gangs
einatmete, war ihm, als würde er aus einem Traum erwachen. Über
den Halbmond trieben Wolkenschleier. Er ging mit hoch erhobenem
Kopf, doch obwohl er sich seiner Tränen schämte, konnte er nicht
aufhören zu weinen. Wie von außen beobachtete er seine Trauer
und seine teerschwarze Furcht. Er war dabei, zum Mörder zu
werden. Er fragte sich, wie seine Brüder damit umgehen würden,
wenn sie übereinander herfielen. Wie mochten sie es fertigbringen,
so kühlen wie klaren Kopfes einen Menschen zu töten? Amat Kyaans
Bordell leuchtete in der Dunkelheit wie die anderen Hurenhäuser.
Musik und Stimmen drangen durch die Nacht, Dirnengelächter und
das Fluchen von Männern, die am Spieltisch verloren. Der Reichtum
Saraykehts zirkulierte in diesen Etablissements wie in kleinen, nur
dem Vergnügen gewidmeten Städten innerhalb der großen Stadt. Er
wusste, dass es nicht immer so bleiben würde. Er stand auf der
Straße und ließ die Szene auf sich wirken - die Gerüche, das goldene
Licht, die grellen Fahnen, die Freude und den Kummer. Morgen
schon ist all das Bestandteil einer völlig verwandelten Stadt, dachte
er.
Der Wächter an der Hintertür erkannte ihn. »Großmutter will dich
sprechen« sagte er.
Otah stand noch immer seltsam neben sich und sah sich nicken und
sein reizendes Lächeln aufsetzen.
»Wo ist sie denn?«
»In ihrem Zimmer. Zusammen mit dem Mädchen, das früher für
Marchat Wilsin gearbeitet hat.«
Otah bedankte sich und ging ins Haus. Im Aufenthaltsraum saßen
einige Frauen plaudernd beim Essen. Ein schwarzhaariges Mädchen
stand beinahe nackt in der Nische und ließ ihre Brüste mit der
Routine eines Kabeljau verpackenden Fischhändlers hinter
durchscheinender Seide verschwinden. Otah betrachtete die breite
Holztreppe, die zu Amat Kyaans Zimmer und damit zu Liat führte.
Die Tür am oberen Treppenabsatz war geschlossen. Er drehte sich
um und klopfte vorsichtig an die Zimmertür, durch die er Maj in der
Nacht hatte verschwinden sehen, in der er Liat hergebracht und mit
dem Inselmädchen ein paar Worte gewechselt hatte.
Die Tür ging gerade weit genug auf, damit das Mädchen den Kopf
hinausstrecken konnte. Ihre bleiche Haut war gerötet, und ihre
blutunterlaufenen Augen leuchteten. Otah beugte sich zu ihr vor.
»Bitte … ich muss mit dir sprechen.«
Ihre Augen wurden schmal, doch einen Atemzug später wich sie
zurück. Otah trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
Maj stand mit in die Hüften gestemmten Händen und gerecktem
Kinn wie ein Kind da, das kurz davor war, sich zu prügeln. Eine
Laterne stand auf einem Tisch und beleuchtete ihre Klappliege, den
winzigen Webstuhl und den Stapel von schmutziger Kleidung. Ein
Weinglas lag in der Ecke. Sie war betrunken. Otah bedachte das
rasch und kam zu dem Schluss, dies würde ihm vermutlich zupass-
kommen.
»Maj«, sagte er, »verzeih mir, aber ich brauche deine Hilfe. Und
ich glaube, auch ich kann dir zu Diensten sein.«
»Ich wohne hier nur«, erwiderte sie, »ich arbeite hier nicht. Ich
gehöre nicht zu diesen Mädchen. Verschwinde.«
»Darum geht es mir auch nicht«, sagte Otah. »Maj, ich kann dir
noch heute Nacht zu deiner Rache verhelfen. Ich kann dich zu dem
Mann bringen, der den Andaten befehligt und dafür verantwortlich
ist, dass du dein Kind verloren hast.«
Maj runzelte die Stirn, schüttelte langsam den Kopf und sah Otah
dabei unverwandt in die Augen. Er sprach rasch und leise und
verwendete einfache Worte, die er mit Gesten untermalte. Er
erklärte, die Galten seien das Werkzeug von Samenlos gewesen,
Heshai aber sei der Herr des Andaten, und er, Otah, könne sie zu
diesem Heshai bringen, wenn sie nur unverzüglich aufbrächen.
Langsam schien sich so etwas wie Hoffnung in ihrer Miene
abzuzeichnen.
»Aber danach« fuhr er fort, »musst du dich von mir in deine
Heimat bringen lassen. Die Reise ist schon vorbereitet - das Schiff
lichtet vor dem Morgengrauen die Anker.«
»Ich frage Großmutter« sagte Maj und wollte zur Tür gehen. Otah
vertrat ihr den Weg.
»Nein. Sie darf nichts davon wissen. Sie will die Galten stoppen,
nicht den Dichter. Wenn du ihr davon erzählst, musst du den Weg
gehen, den sie eingeschlagen hat. Du musst dem Khai darlegen, was
dir angetan wurde, und akzeptieren, was er für angebracht hält. Ich
kann dir deine Rache noch heute Nacht verschaffen. Aber du musst
Amat verlassen und auf eine Aussage vor dem Khai verzichten. Das
ist meine Bedingung.«
»Hältst du mich für dumm? Warum sollte ich dir trauen? Warum
tust du das alles?«
»Du bist nicht dumm. Und du solltest mir trauen, weil ich habe,
was du willst: Gewissheit, ein Ende der ewigen Warterei,
Vergeltung und Rückkehr in deine Heimat. Ich tue das, weil ich
nicht noch mehr Frauen erleiden sehen will, was du erlitten hast,
und weil uns deine Rache den Andaten, der dieses Leiden bewirkt
hat, für immer vom Hals schafft.«
Und ich tue es, um Maati und Liat zu retten, dachte Otah. Und
Heshai. Und weil es gerechtfertigt ist, diesen Samenlos zu
vernichten. Und weil ich dich aus diesem Haus bekommen muss.
Ein schwaches Lächeln trat auf Majs volle, bleiche Lippen.
»Bist du ein Mensch?«, fragte sie dann. »Oder ein Geist?«
Otah machte eine fragende Gebärde. Maj streckte die Linke aus
und drückte ihm sanft die Fingerspitzen gegen die Schulter, als
wollte sie sich davon überzeugen, dass er kein Gespenst, sondern
ein Wesen aus Fleisch und Blut war.
»Ich bin es müde, immer aufs Neue hereingelegt zu werden.
Solltest du ein Mensch sein und mich belogen haben, beiße ich dir
die Gurgel durch. Wenn du ein Geist bist, dann vielleicht der,
dessen Kommen ich seit langem auf Knien erflehe.«
»Jedenfalls dürfte ich dir bringen, was du dir sehnlich wünschst.
Und jetzt pack schnell deine Sachen. Wir müssen los und können
nicht zurückkehren.«
Sie schwankte kurz. Dann blitzten Wut und Verzweiflung, die er
schon früher in ihren Augen gesehen hatte, wieder auf. Darauf hatte
er gesetzt. Sie blickte sich in dem winzigen Zimmer um, hob auf,
was wie ein noch nicht fertig gewebter Schal aussah, und spuckte
mit Nachdruck auf den Boden.
»Mehr nehme ich nicht mit«, erklärte sie. »Also, führ mich zu ihm.
Und wenn die Dinge anders liegen, als du gesagt hast, bringe ich
dich um. Hast du daran Zweifel?«
»Nein.«
Otah übertölpelte den Wächter spielend, indem er ihn zu Amat
Kyaan hinaufschickte, um mit ihr zu sprechen. Die
Sicherheitsvorkehrungen im Haus waren darauf ausgerichtet,
Angriffe abzuwehren, nicht darauf, eine Flucht zu verhindern. Er
brauchte nur vier, fünf Atemzüge, um Maj über die Hintertür auf
die Straße zu führen. Zehn Atemzüge später waren sie im
Gassengewirr des Vergnügungsviertels verschwunden.
Maj blieb dicht bei ihm. Im Flackern der Straßenbeleuchtung
konnte Otah ihr Gesicht erkennen. In ihren Zügen stand wilde
Freude darüber, endlich frei zu sein. Und eine ungemeine Wut. Als
er schließlich in dem dunklen Gang vor Heshais Refugium stand,
stellte er fest, dass die Tür noch immer nicht abgesperrt war.

Maati betrat das Dichterhaus. Die Füße taten ihm weh, und er
hatte quälende Kopfschmerzen. Es war still, dunkel und kalt. Nur
die Nachtkerze, die schon über die Hälfte heruntergebrannt war,
leuchtete in ihrer Laterne. Er ließ sich auf ein Sofa fallen und schlang
die schwere Tagesdecke um sich. In jedem Teehaus war er gewesen
und hatte alle gefragt, die er kannte. Otah war verschwunden,
schien sich im nebligen Hafen aufgelöst zu haben. Jeder Schritt war
Maati wie eine Reise vorgekommen, jedes Vorrücken des Mondes
schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Als er unter der schweren
Tagesdecke lag, rechnete er damit, schnell einzuschlafen, doch das
schwache Licht der Nachtkerze irritierte ihn und ließ ihn die Augen
gerade in dem Moment öffnen, da er den Eindruck hatte, die
Anspannung des Tages würde endlich nachlassen. Er wälzte sich hin
und her, denn sein Gewand warf mal am Arm, mal unter den
Rippen unbequeme Falten. Als er schließlich aufgab und sich
hinsetzte, glaubte er, sich viele Stunden lang gequält zu haben.
Tatsächlich aber war die Nachtkerze noch nicht einmal zu drei
Vierteln niedergebrannt.
»Wein könnte helfen« sagte eine vertraute Stimme aus Richtung
der dunklen Treppe. »Und er hat den Vorteil der Tradition. Unser
edler Dichter hat viele Nächte neben seinem Erbrochenen
geschlafen, das nach halb verdauten Trauben gestunken hat.«
»Sei still«, sagte Maati, doch seine Stimme klang schwach und
hatte keine Kraft, den Andaten zurückzuweisen. Langsam kamen
das vollkommene Gesicht und die nicht weniger vollkommenen
Hände die Treppe herunter. Sein weißes Gewand war bleich wie
seine Haut. Ein Trauergewand. Als er sich auf die zweitunterste
Stufe setzte und lächelnd die Beine ausstreckte, war sein Auftreten
wie eh und je: amüsiert, durchtrieben, alles andere als
vertrauenerweckend und zugleich traurig. Doch vielleicht war da
noch etwas anderes, eine tiefer liegende Kraft, die Maati nicht
verstand.
»Ich meine bloß, dass man einen harten Abend beenden kann,
wenn man nur will. Und wenn es einem nichts ausmacht, eines
Tages den Preis dafür zu zahlen.«
»Lass mich in Ruhe« sagte Maati. »Ich will nicht mit dir reden.«
»Auch nicht, wenn dein kleiner Freund vorbeigekommen sein
sollte? Der Mann, der am Hafen arbeitet?«
Maati stockte der Atem. Er machte eine fragende Gebärde, und
Samenlos lachte.
»Nein, nein, er ist nicht aufgetaucht«, sagte er dann. »Ich hab mich
nur gefragt, ob du keinesfalls bereit bist, mit mir zu reden, oder ob
es da vielleicht Ausnahmen gibt. Ein bloßes Gedankenspiel.«
Maati spürte sich vor Wut und Verlegenheit erröten, griff nach
dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn nach Samenlos. Es war
ein perlenbesetztes Kissen, das von den Knien des Andaten
abprallte. Samenlos machte eine reuige Gebärde, stand auf und legte
das Kissen wieder an seinen Platz.
»Ich wollte dich nicht verletzen, mein Lieber. Aber du siehst aus,
als hätte dir jemand dein Hündchen weggenommen, und ich dachte,
ein Scherz könnte deine Laune verbessern. Tut mir leid, wenn ich
mich da getäuscht habe.«
»Wo ist Heshai?«
Samenlos hielt inne und blickte auf, als könnten seine schwarzen
Augen durch Wände und Bäume sehen, jede Entfernung
überbrücken und den Dichter betrachten - egal, wo er sich aufhielt.
Ein dünnes Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Der ist weg« sagte er dann. »In seiner Folterkiste. Wie immer,
nehme ich an.«
»Also ist er nicht da?«
»Nein«, sagte der Andat.
»Ich muss ihn sprechen.«
Samenlos setzte sich zu Maati aufs Sofa und betrachtete ihn
schweigend. Dabei war seine Miene unendlich distanziert. Das
Trauergewand war nicht neu, aber offenbar selten getragen
worden. Es war einfach geschnitten und zerknittert und fiel so weit
aus, dass es eindeutig für eine erheblich stämmigere Gestalt als
Samenlos angefertigt war - für Heshai nämlich. Samenlos schien zu
merken, dass Maati all dies nicht entgangen war, und sah an sich
herunter, als nehme er zum ersten Mal wahr, was er trug.
»Das hat er beim Tod seiner Mutter anfertigen lassen«, sagte der
Andat. »Damals war er zur Ausbildung beim Dai. Er war nicht
dabei, als ihre Leiche auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde,
sondern hat davon durch einen Boten erfahren. Er hat es wohl
aufbewahrt, um sich kein neues Trauergewand kaufen zu müssen,
falls wieder jemand sterben sollte.«
»Und warum trägst du es?«
Samenlos zuckte lächelnd die Achseln und hob die Hände, was
alles und nichts bedeuten konnte.
»Aus Respekt vor den Toten«, erklärte er dann. »Warum sonst?«
»Für dich ist wirklich alles ein Witz« sagte Maati. Die Erschöpfung
setzte ihm so sehr zu, dass er Mühe hatte, deutlich zu sprechen,
obwohl er weiter vom Schlaf entfernt war als bei seiner Rückkehr.
Die Verbindung von Erschöpfung und innerer Unruhe fühlte sich an
wie eine Krankheit. »Nichts ist dir wichtig.
»Das stimmt nicht« erwiderte Samenlos. »Etwas kann ein Spiel und
doch ernst sein.«
»Ihr Götter! Hat Heshai dich etwa so geschaffen, dass du nur
dummes Zeug redest?«
»Ich äußere mich gern genauer, wenn du das möchtest«
entgegnete Samenlos. »Frag mich, was du willst.«
»ich habe keine Fragen an dich, und du hast mir nichts zu sagen«
meinte Maati und stand auf. »Ich gehe schlafen. Der morgige Tag
kann unmöglich schlimmer sein als der heutige.«
»Fast alles ist denkbar, mein Lieber. Etwas für unmöglich zu
halten, zeugt von Mangel an Fantasie« sagte Samenlos, doch Maati
wandte sich nicht mehr zu ihm um.
Seine Kammer war kühler als das Wohnzimmer. Er zündete ein
kleines Feuer im Kohlebecken an, ehe er die Wolldecken
zurückschlug, seine Schuhe auszog und erneut zu schlafen versuchte.
Die Ereignisse des Tages gingen ihm unaufhörlich und wild
durcheinander durch den Kopf: Liats Verzweiflung und ihr warmer
Körper; Otahs Abschiedsworte und die brennende Reue, die sie bei
ihm ausgelöst hatten. Wenn er ihn doch nur finden und noch mal
mit ihm reden könnte! Im Halbschlaf hielt Maati sich vor Augen, wo
er am Abend überall gewesen war, und fragte sich, ob er irgendeine
Ecke vergessen haben mochte. Als er sich die nächtlichen Straßen
von Saraykeht vorstellte, merkte er, dass er sich durch sie
hindurchbewegte, und wusste sofort, dass er träumte. Er kam durch
Straßen, Gassen und Gänge und überquerte Plätze und Höfe, bis er
an Orte geriet, die es in Saraykeht nicht gab, und nach Teehäusern
suchte, die allein in seinem enttäuschten und verzweifelten Kopf
existierten. Unterdessen war ihm ständig bewusst, dass er träumte,
aber nicht schlief.
Er schob die Decke weg, um sich freier zu fühlen, doch das kleine
Kohlenbecken konnte sein Zimmer nicht wirklich erwärmen, und
die Kälte ließ ihn bald wach werden. Er lag weinend im Dunkeln.
Als das keine Erleichterung brachte, stand er auf, zog sich frische
Sachen an und ging die Treppe hinunter.
Samenlos hatte im Kamin Feuer gemacht. Ein Kupferkessel mit
Wein hing über den Flammen, und ein süßer, würziger Duft erfüllte
das Zimmer. Der Andat saß auf einem Stuhl und hatte ein
geöffnetes Buch im Schoß: das in braunes Leder gebundene Werk,
in dem von seiner Erschaffung und den Fehlern die Rede war, die
Heshai dabei gemacht hatte. Er blickte nicht auf, als Maati
herunterkam und an den Kamin trat, um sich die Füße am Feuer zu
wärmen.
»Der Alkohol ist längst verdampft. Du kannst davon trinken, so
viel du magst, ohne dass es dich beeinträchtigt« sagte der Andat.
»Warum soll ich dann davon nehmen?«, fragte Maati.
»Weil es ein angenehmes Getränk ist, obwohl es vielleicht etwas
kräftig schmeckt. Ich hatte gedacht, du würdest früher
runterkommen. Man darf es nicht zu lange kochen lassen sonst wird
ein zäher Sud daraus.«
Maati wandte dem Andaten den Rücken zu und nahm eine alte
Kupferkelle, um seinen Becher zu füllen. Er probierte das Getränk
und stellte fest, dass es überaus aromatisch und sehr heiß war.
Tatsächlich hatte es eine tröstende Wirkung.
»Sehr gut«, sagte er.
Er hörte, wie Samenlos hinter ihm das Buch schloss. Dann war es
so lange still, dass er sich umsah. Der Andat saß starr wie eine
Statue da. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung.
»Was hättest du gesagt, wenn du ihn gefunden hättest?« fragte er
schließlich.
Maati setzte sich, führte seinen Becher an die Lippen und blies
darüber, ehe er antwortete: »Ich hätte ihn um Vergebung gebeten.«
»Meinst du denn, du hättest sie verdient?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Was ich getan habe, war
falsch.«
Samenlos lachte leise, beugte sich vor und schlang die langen,
anmutigen Finger ineinander.
»Natürlich«, sagte er. »Warum sollte man für etwas um Vergebung
bitten, das richtig war? Aber da wir uns gerade über das
Verurteilen und darüber, Milde walten zu lassen, unterhalten -
erzähl mir doch, warum du um etwas bitten würdest, das du ganz
und gar nicht verdienst.«
»Du klingst wie Heshai.«
»Natürlich - und du versuchst, mir auszuweichen. Wenn dir meine
Frage nicht gefällt, vergiss sie und beantworte mir stattdessen
diese: Würdest du mir vergeben? Was ich getan habe, war falsch,
und das weiß ich. Würdest du mir gewähren, was du von deinem
Freund erbitten wolltest?«
»Möchtest du das?«
»Ja« sagte Samenlos mit seltsam schwermütiger Stimme. Nicht,
dass Maati die melancholischen Anwandlungen des Andaten
wirklich neu gewesen wären. »Ja, ich wünsche mir Vergebung.«
Maati nippte an seinem Wein und schüttelte dann den Kopf. »Du
würdest es wieder tun. Wenn du Gelegenheit hättest, würdest du
alles und jeden opfern, um Heshai wehzutun.«
»Das glaubst du?«
»Ja.«
Samenlos senkte den Kopf, bis ihm das schwarze Haar auf die
Hände fiel. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er. »Dann also
folgende Frage: Würdest du Heshai seine Schwächen vergeben?
Deinem Lehrer und einem Dichter, der etwas so gefährlich
Fehlerhaftes geschaffen hat wie mich? Betrachte es, wie du willst: Er
hat in wirklich jeder Hinsicht versagt. Verdient er dennoch
Barmherzigkeit?«
»Vielleicht« sagte Maati. »Er hat nicht gewollt, was er getan hat.«
»Ah! Und weil ich planvoll vorgegangen bin, während er einfach
nur einen Fehler gemacht hat, bin ich an dem, was Maj widerfahren
ist, schuldiger als er?«
»Ja.«
»Du hast offenbar vergessen, in welchem Verhältnis er und ich
zueinander stehen. Aber lassen wir das. Wenn dein hart arbeitender
Freund … Du hast ihn übrigens Otah genannt und solltest mit
diesem Namen vorsichtiger sein Sollte Otah etwas falsch gemacht
und zum Beispiel ein Verbrechen begangen oder jemandem dabei
geholfen haben: Könntest du ihm das durchgehen lassen?«
»Woher weißt du …«
Ich weiß das seit Wochen, mein Lieber. Aber mach dir darüber
keine Gedanken. Ich habe es niemandem erzählt. Antworte auf
meine Frage: Würdest du ihm seine Verbrechen so sehr anlasten,
wie du mir die meinen anlastest?«
»Ich glaube nicht. Wer hat dir erzählt, dass Otah …« Samenlos
lehnte sich triumphierend zurück. »Und warum tust du seine
Sünden einfach ab und meine nicht?«
Maati lächelte. »Weil du nicht er bist.«
»Und weil du ihn liebst.«
Maati nickte.
»Und weil Liebe wichtiger ist als Gerechtigkeit«, fuhr Samenlos
fort.
»Manchmal ja.«
Samenlos nickte lächelnd. »Welch schrecklicher Gedanke«, sagte
er, »dass Liebe und Ungerechtigkeit Hand in Hand gehen.«
Maati machte eine wegwerfende Geste. Daraufhin nahm der
Andat das in braunes Leder gebundene Buch wieder zur Hand und
blätterte die handgeschriebenen Seiten durch, als suche er die Stelle,
bei der er die Lektüre unterbrochen hatte. Maati schloss die Augen
und atmete das Weinaroma ein. Er fühlte sich ungemein wohl, als
würde er in einen tiefen, erholsamen Schlaf gleiten, und spürte sich
langsam und im Rhythmus seines Herzens vor- und
zurückschaukeln. Doch dann beschlich ihn Unruhe, und ohne die
Augen zu öffnen, sagte er: »Du darfst niemandem von Otah
erzählen. Wenn seine Familie ihn findet …«
»Das wird sie nicht«, erklärte Samenlos. »Jedenfalls nicht durch
mein Zutun.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Kannst du diesmal aber. Heshai hat sein Bestes für dich getan. Ist
dir das eigentlich klar? Trotz all seiner und meiner Schwächen und
Fehler haben wir uns - soweit unser Kleinkrieg das erlaubte - gut
um dich gekümmert und Der Andat verstummte. Maati öffnete die
Augen. Samenlos schaute ihn nicht an und blickte auch nicht ins
Buch, sondern nach Süden. Es war, als würde er durch Wände und
Bäume sehen und in weiter Ferne ein faszinierendes Schauspiel
beobachten. Maati konnte nicht umhin, seinem Blick zu folgen, sah
aber nur die Zimmer im Erdgeschoss des Dichterhauses. Als er den
Andaten wieder ansah, lächelte Samenlos triumphierend.
»Was ist los?«, fragte Maati, und ein Frösteln der Angst lief ihm
über den Rücken.
»Das war Otah. Er hat dir vergeben.«
Die Nachtkerze brannte langsam herunter. Der Dichter schlief auf
seiner Liege. Im Halbdunkel war sein Gesicht vollkommen fahl.
Heshais Mund stand offen, und er atmete tief und gleichmäßig. Maj
kniete neben ihm und betrachtete das Gesicht des Schlafenden. Otah
schloss die Tür.
»Der ist es« sagte Maj so leise wie erregt. »Der hat mir das
angetan.«
Otah trat vorsichtig näher, um die Flaschen auf dem Fußboden
nicht klirren zu lassen und auch sonst kein Geräusch zu machen, das
den Schläfer wecken könnte.
»Ja«, bestätigte er. »Das ist er.«
Schweigend zog Maj ein Messer aus dem Ärmel. Die Schneide war
länger als ihre Hand, aber dünner als ein Finger. Otah hielt ihr
Handgelenk fest und schüttelte den Kopf.
»Es muss geräuschlos geschehen« flüsterte er.
»Und wie?«
Otah nestelte an seinem Ärmel und zog eine Schnur heraus. Sie
war aus geflochtenen Bambusfasern, dünn und geschmeidig, aber so
fest, dass sie sein Gewicht hätte tragen können, ohne zu reißen.
Holzgriffe an den Enden sorgten dafür, dass man sich beim
Zuziehen nicht ins Fleisch schnitt. Es war eine Mordwaffe, und Otah
sah sie wie mit fremden Augen in seinen Händen liegen. Seine
Angst hatte sich vom Bauch über den ganzen Körper, ja über die
Welt ausgebreitet und ihn zugleich von allem abgeschnitten, sogar
von sich selbst. Er fühlte sich wie eine Marionette, die an
unsichtbaren Fäden hing.
»Ich halte ihn fest« sagte Maj, »und du ziehst zu.«
Otah betrachtete den Schlafenden. Er spürte keinen Zorn, der ihm
die Tat erleichtert hätte, und keinen Hass, der sie hätte
rechtfertigen können. Einen Moment lang überlegte er, davon
abzulassen und den Dichter zu wecken oder die Wache zu rufen. Es
wäre noch immer so einfach, umzukehren. Maj schien seine
Gedanken zu lesen und blickte ihn mit ihren ungewöhnlich hellen
Augen an.
»Du ziehst zu«, wiederholte sie.
Es stand auf Messers Schneide.
»Ich kümmere mich um seine Arme« sagte Otah, »und du sorgst
dafür, dass er nicht um sich tritt.«
Maj beugte sich so dicht über die Liege, als wollte sie sich zu
Heshai legen. Ihre Hände schwebten über den Knien des Dichters.
Otah formte die Schnur zu einer Schlinge, um sie ihm über den Kopf
zu streifen. Dann trat er ans Kopfende der Liege. Mit dem Fuß stieß
er an eine Flasche, und in der Stille schien ihm das Geräusch, mit
dem sie über den Steinboden rollte, lauter als Gewitterdonner. Der
Dichter schrak hoch und stützte sich benommen auf den Ellbogen.
Als hätte er unterbewusst damit gerechnet, warf Otah ihm die
Schlinge über den Kopf und zog zu. Er nahm die schwachen
Geräusche kaum wahr, mit denen Maj die Beine des Dichters auf
der Liege hielt. Heshai hatte die Hände nun an der Kehle, um die
Schnur, die tief in seinen Hals einschnitt, doch noch wegzureißen.
Otah schmerzten Hände, Arme und Schultern, während er zuzog, so
fest er konnte. Heshais Gesicht war tiefrot, die vollen Lippen
nahezu schwarz. Otah schloss die Augen, ließ aber nicht nach. Die
Gegenwehr des Dichters wurde schwächer. Er fuchtelte nicht mehr
mit den Armen und krallte nicht mehr mit den Fingern nach der
Schnur, sondern patschte nur noch wie ein Kleinkind umher. Dann
war auch das vorbei. Otah, der die Augen noch immer geschlossen
hielt, zog die Schlinge weiterhin zu, denn er hatte Angst, von vorn
beginnen zu müssen, falls er zu früh losließe. Man hörte es
plätschern, und dann stank es nach Stuhlgang. Otah spürte, wie sich
seine Nackenmuskulatur verkrampfte, zählte aber zehn Atemzüge
und dann weitere fünf, ehe er die Augen öffnete.
Maj stand am Fußende der Liege. Ihr Gewand war verrutscht, und
an der Wange bildete sich ein Bluterguss. Dennoch wirkte ihr
Gesichtsausdruck heiter wie bei einer klassischen Statue. Otah ließ
die Schnur los. Seine Finger waren steif. Er hielt den Kopf hoch,
denn er wollte die Leiche um keinen Preis sehen.
»Es ist getan« erklärte er mit zittriger Stimme. »Gehen wir.«
Maj sagte etwas, doch es galt nicht ihm, sondern der Leiche
zwischen ihnen. Ihre Worte gingen fließend ineinander über und
klangen wunderschön, doch er wusste nicht, was sie bedeuteten.
Dann wandte sie sich ab und schritt feierlich, ja beinahe hoheitsvoll
aus dem Zimmer. Otah blieb nichts übrig, als ihr zu folgen. Er
zögerte an der Tür, war hin und her gerissen, ob er einen Blick auf
die Leiche werfen sollte oder nicht. Auch schwankte er zwischen
tiefem Schrecken über seine Tat und Erleichterung darüber, dass es
vorbei war. Merkwürdigerweise widerstrebte es ihm, Heshai
einfach liegen zu lassen, ohne von ihm Abschied zu nehmen.
»Danke, Heshai-kvo« sagte er schließlich und machte die Gebärde,
die sich für einen Schüler beim Abschied von einem geehrten Lehrer
ziemte. Dann richtete er sich auf, trat aus dem Haus und zog die
Tür hinter sich zu.
In der Gasse war es unangenehm kalt, und es sah nach Regen aus.
Einen beängstigenden Moment lang glaubte er, Maj sei ohne ihn
gegangen, doch dann hörte er sie würgen und entdeckte, dass sie
zusammengebrochen war und sich weinend übergab. Er legte ihr
sanft und beruhigend die Hand auf den Rücken, bis das Schlimmste
vorbei war. Als sie aufstand, klopfte er ihr den Schmutz vom
Gewand, legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie durch
den schmalen Gang auf die Straße und nach Westen zum Hafen
hinunter, um Saraykeht endlich zu verlassen.

»Was soll das heißen?« fragte Maati. »Wie hat Otah Dann
verstummte er, denn mit einem Seufzen hatte Samenlos sich in Luft
aufgelöst. Nur sein Trauergewand und ein Geruch von Regen waren
zurückgeblieben.
20

Fast eine Stunde lang schien es ein Morgen wie jeder andere zu
werden. Dann traf die Nachricht ein. Als Liat die Neuigkeit, Maj sei
verschwunden und der Dichter ermordet, durchs Bordell schwirren
hörte, rannte sie zum Palastbezirk. Sie dachte nicht an ihre
Sicherheit und zweifelte ohnehin daran, dass irgendwo Sicherheit zu
erlangen sei. Als sie schließlich die Holzbrücke über den Teich
erreichte, hatte sie Seitenstechen, und die verletzte Schulter klopfte
im Rhythmus ihres Herzschlags.
Sie wusste nicht, wie sie es ihm sagen sollte.
Als sie die Tür öffnete, war ihr klar, dass sie es ihm nicht würde
beibringen müssen.
Die schönen Möbel waren an die Wände geschoben, die Teppiche
aufgerollt. Der Holzboden lag nackt und offen da wie eine
Lichtung. Es roch nach Rauch und Regen. Maati kniete im schlecht
geschnürten Dichtergewand in der Mitte des Zimmers. Seine Haut
war aschfahl, sein Haar zerzaust. Ein in Leder gebundenes Buch in
herrlicher Handschrift lag aufgeschlagen vor ihm. Er sang, und sein
leiser Silbenfluss erfüllte den Raum mit fast sphärischen Klängen.
Liat sah fasziniert zu, wie Maati mit vor- und zurückschwankendem
Oberkörper dasaß und die Lippen bewegte. Ihr war, als wehe sie
ein Wind an, ohne dass ihr Gewand im Geringsten
durcheinandergeriet. Sie spürte eine starke Präsenz. Als stünde sie
vor dem Khai, nur tausendmal gewaltiger und durchgeistigter.
»Hör auf damit !«, schrie sie, als sie begriff, was sie sah. »Hör
auf!«
Sie stürmte zu ihm und hatte das Gefühl, dabei einen unsichtbaren
Luftwiderstand überwinden zu müssen, der dem Schwall ähnelte,
der einem entgegenschlug, wenn man einen heißen Ofen öffnete.
Maati schien ihre Stimme von ferne zu vernehmen. Er wandte den
Kopf, öffnete die Augen und verlor den Sangesfaden, so dass die
sphärische Musik aus ihrem labilen Gleichgewicht geriet. Dann war
es still, und die eigenartige Präsenz war verschwunden. Nur noch
Maati und Liat waren im Zimmer.
»Das darfst du nicht« erklärte sie. »Du hast doch gesagt, es sei
falsch, auf Heshais Spuren einen Andaten zu beschwören, weil er
demjenigen viel zu ähnlich wäre, den der Dichter erschaffen hat. Du
hast gesagt, das kann nie und nimmer funktionieren. Das hast du
doch gesagt, Maati!«
»Ich muss es versuchen«, antwortete er. Seine Worte kamen so
selbstverständlich, dass es sie ratlos machte. Sie sackte neben ihm zu
Boden. Maati blinzelte, als wäre er nur halb wach. »Ich muss es
versuchen. Wenn ich es sofort mache, schaffe ich vielleicht, dass …
Samenlos ist womöglich noch nicht ganz verschwunden … Vielleicht
kann ich ihn zurückholen, ehe Heshais Beschwörungsarbeit ganz
und gar Es half ihr, den Namen des Dichters zu hören - er war ein
Ansatzpunkt. Sie nahm Maatis Hand. Er zuckte leicht zusammen,
und sie lockerte ihren Griff, aber nicht so sehr, dass er sich ihr hätte
entziehen können.
»Heshai ist tot, Maati. Ob er vor einer Stunde oder einem Jahr
gestorben ist, ändert daran nicht das Geringste. Und Samenlos ist
verschwunden. Sie sind beide nicht mehr da.«
Maati schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht glauben«, sagte er.
»Ich verstehe Heshai besser als jeder andere. Und ich kenne
Samenlos. Ich habe noch etwas Zeit. Wenn es mir gelingt -«
»Es ist zu spät! Und wenn du tust, was du vorhast, kannst du dich
genauso gut im Teich ertränken! Du wirst sterben, Maati! Das hast
du mir selbst gesagt. Du selbst! Wenn es einem Dichter nicht
gelingt, seinen Andaten einzufangen, stirbt er. Und das da …« sagte
sie und wies mit dem Kopf auf das von Heshai handschriftlich
abgefasste Buch, das aufgeschlagen auf dem Fußboden lag. »Es
funktioniert nicht. Du selbst hast das gesagt!«
»Es ist anders«, erwiderte er.
»Wieso? »Weil ich es versuchen muss. Ich bin Dichter, Liebste. Das
ist meine Berufung. Und wenn Samenlos entkommt, wird es keinen
Andaten geben, der seine Stelle einnimmt. Das weißt du genauso
gut wie ich.«
»Dann hat Samenlos eben keinen Nachfolger.«
»Saraykeht …«
»Saraykeht ist eine Stadt, Maati. Ein Haufen Straßen, Mauern,
Menschen, Lagerhäuser und Denkmäler. Ein Haufen, der dich nicht
kennt und sich nicht für dich interessiert. Ich bin es, die sich für dich
interessiert und die dich liebt! Bitte, Maati, hör mit der
Beschwörung auf!«
Langsam und vorsichtig entzog er ihr seine Hand. Sein Lächeln
war ebenso traurig wie liebevoll.
»Geh jetzt« sagte er. »Ich muss es tun. Und wenn alles klappt,
komme ich dich suchen.«
Liat erhob sich. Da ihr Tränen in den Augen standen, nahm sie das
Zimmer nur verschwommen wahr, doch was sie innerlich aufwühlte
und was ihre Haut prickeln ließ, war nicht Trauer, sondern Zorn,
und der Schmerz, den sie dabei spürte, ließ diesen Zorn nur weiter
anschwellen.
»Bring dich doch um, wenn du willst«, rief sie. »Versuch dich an
dieser Beschwörung und stirb dabei. Vielleicht giltst du dann sogar
als Held. Aber ich weiß es besser!«
Sie drehte sich um und ging, wobei ihr schier das Herz brach. Auf
den Stufen, die zum Haus führten, blieb sie stehen. Die Sonne stieg
kraftlos über die kahlen Baumkronen. Liat schloss die Augen und
wartete darauf, dass Maati seinen fürchterlichen und überaus
seltsamen Gesang aufs Neue anstimmte. Krähen hüpften von Ast zu
Ast und flogen dann wie auf ein Zeichen hin gemeinsam in Richtung
Süden. Liat stand fast eine Viertelstunde vor der Tür. Die kalte Luft
ließ sie heftig frösteln.
Sie fragte sich, wie lange sie noch warten konnte, wo Itani sein
mochte und ob er wusste, was geschehen war. Dann fragte sie sich,
ob er ihr je würde vergeben können, mehr als einen Mann geliebt zu
haben. Dabei kaute sie auf ihrer Wange herum, bis es wehtat.
Hinter ihr ging die Haustür knarrend auf. Maati wirkte
geschlagen. Als er zu ihr herauskam, schob er sich das in Leder
gebundene Buch in den Ärmel.
»Gut« sagte er. »Ich muss zum Dai zurückkehren und ihm
mitteilen, dass ich versagt habe.«
Sie trat zu ihm und legte den Kopf an seine Schulter. Maati war
ganz warm, oder sie war ausgekühlter als angenommen. Einen
Moment lang erinnerte sie sich daran, wie sich Itanis starke Arme
anfühlten und wie seine Haut gerochen hatte.
»Danke« sagte sie.

Drei Wochen war der Dichter nun tot. Amat war klar, dass die
Stadt nicht drei Wochen lang den Atem hatte anhalten können. Die
Anspannung war noch immer da - die Ungewissheit und die Angst.
Sie zeigte sich auf den Gesichtern und in der Körpersprache der
Leute auf der Straße. Amat hörte sie auch im allzu lauten Lachen.
Und im zornigen Schimpfen der Trunkenbolde auf den Gassen des
Vergnügungsviertels. Doch der anfängliche Schock ließ langsam
nach. Die Zeit, die durch den plötzlichen Verlust des Andaten wie
angehalten schien, hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Und wie
vieles andere ließ auch dies Amat aus dem Schutz ihres Bordells
heraus und in die Stadt streben. In ihre Stadt.
Im grauen Winternebel waren die Straßen wie Erinnerungen.
Mitunter tauchte aus dem Dunst ein vertrauter Brunnen auf und
nahm Gestalt an. Der dunkelgrüne Stein glänzte als Schiff oder
Fisch, Adler oder Bogenschütze in der nassen Luft.
Und wenn sie ihn passiert hatte, verschwamm er hinter ihr bald zu
einem dunklen Fleck und versank im Nebel. Sie hielt an einem Stand
am Hafen, um sich frisch gebrannte Mandeln zu kaufen. Die Frau,
der sie ein Kupferstück gab, nickte dankbar. Amat ging an den Kai,
sah im Dunst auf die kaum auszumachenden Wellen und
konzentrierte sich auf die vielen Gerüche, die es hier gab. Es roch
nach Salz und scharf gewürzten Speisen, nach Abwasser und
Weihrauch. Mit gespitzten Lippen blies sie über die Mandeln, wie
sie es als Mädchen getan hatte, und wappnete sich für die letzte
Begegnung.
Das Haus Wilsin hatte als eines der ersten auf die Ereignisse
reagiert. Als Amat nordwärts zu Marchats Anwesen ging, kamen
ihr ständig Karren entgegen. Die Lagerhäuser wurden geräumt und
die Unterlagen in Kisten verpackt, die für Galtland und die
Westgebiete bestimmt waren. Als sie den ihr so vertrauten Hof des
Anwesens erreichte, ließen die Männer, die mit dem Abtransport
der Einrichtung beschäftigt waren, sie an einen Ameisenpfad
denken. Sie hielt am aus Bronze gefertigten Galtischen Baum und
betrachtete ihn widerwillig, zu ihrem Erstaunen aber auch amüsiert.
Auch sie hatte offenbar keine drei Wochen lang den Atem
angehalten.
»Amat-cha?«
Sie drehte sich um. Die Willkommensgebärde ihres so
schmalgesichtigen wie hasenfüßigen Nachfolgers Epani wurde
durch seine unbehagliche Miene Lügen gestraft. Amat antwortete
mit einer Gebärde, die anmutiger und angemessener war.
»Sagt ihm bitte, dass ich ihn sprechen möchte.«
»Er ist nicht … das heißt »Epani-cha, geht und meldet ihm, dass
ich gekommen bin und ihn sprechen will. Ich werde das Anwesen in
der Zwischenzeit schon nicht niederbrennen.«
Womöglich hatte diese spitze Bemerkung ihm Beine gemacht.
Jedenfalls verschwand er im Gebäude. Amat ging zum Brunnen und
lauschte dem Plätschern des Wassers wie einem alten Freund.
Jemand hatte die Kupferstücke, die als Glücksbringer im Becken
gelandet waren, herausgefischt. Das Haus Wilsin ließ eben nichts
zurück.
Epani kam wieder und führte sie wortlos über vertraute Flure zu
Wilsins Besprechungszimmer. Es wirkte so düster wie immer.
Marchat saß am Tisch. Zusätzlich zum kühlen Licht, das durch das
kleine Fenster fiel, war eine Laterne angezündet worden, die einen
warmen, orangefarbenen Schein gab. Mit einer bläulichen und einer
rötlichen Gesichtshälfte schien er fast aus zwei Personen zu
bestehen. Amat grüßte ihn ehrerbietig. Wilsin hieß sie mit unsicher
wirkender Gebärde willkommen.
»Ich hätte nicht gedacht, dich noch mal zu sehen« sagte er
misstrauisch.
»Und doch bin ich gekommen. Wie ich sehe, nimmt das Haus
Wilsin die Beine in die Hand. Darüber spricht man überall. Das ist
schlecht fürs Geschäft, Marchat-cha. Es sieht nach schwachen
Nerven aus.«
»Es sieht nicht nur so aus« sagte er und machte keinen Versuch,
die Lage zu beschönigen. »In Saraykeht zu bleiben, ist zu riskant
geworden. Mein Onkel hat mich zurück nach Hause beordert. Er
hatte wohl einen lichten Moment, und was er gesehen hat, dürfte
ihm Angst gemacht haben. Was wir bis zum Frühjahr nicht
weggeschafft haben, werden wir mit Verlust abstoßen. Das
Unternehmen wird Jahre brauchen, um sich von diesem Rückschlag
zu erholen. Und ich werde natürlich erst mit dem letzten Schiff die
Stadt verlassen. Nun, bist du gekommen, um mir zu sagen, dass du
vor dem Khai Anklage gegen mich erheben wirst?«
Amat gab ihm mit lässiger Gebärde zu verstehen, er möge sich
klarer ausdrücken. Das war ironisch gemeint, und Marchats
verlegenes Lächeln zeigte ihr, dass ihm dies nicht entgangen war.
»Meine Position ist nicht mehr so stark, seit das Opfer, das die
Herzen der Utkhais so wunderbar hätte rühren können, den Dichter
getötet und die Stadt in eine tiefe Krise gestürzt hat. Ich habe
einiges an Glaubwürdigkeit verloren.«
»War das Inselmädchen wirklich die Täterin?«
»Ich weiß es nicht genau. Vermutlich.«
»Ich würde dich ja bedauern, aber…«
Amat hatte die Jahre nicht gezählt, die sie mit Marchat an Tischen
wie diesem oder im Badehaus oder auf Spaziergängen durch die
Stadt verbracht hatte, doch sie spürte, dass diese lange Zeit und ihre
Gewohnheiten ihren Körper und ihren Geist gezeichnet hatten. Sie
setzte sich mit einem schweren Seufzer und schüttelte den Kopf.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte sie. »Aber wer würde mir
noch glauben? Und wozu sollte das heute gut sein?«
»Vielleicht würde ein anderer Khai dir Gehör schenken.«
»Wenn Ihr das glauben würdet, hättet Ihr mich längst töten
lassen.«
Wilsins Miene wurde düster. Seine faltigen Augenwinkel zeugten
von Schmerz. Oder von Trauer.
»Freude hätte ich daran keine« sagte er schließlich.
Trotz der ehrlichen Antwort lachte Amat. Oder vielleicht gerade
weil seine Antwort so ehrlich gewesen war.
»Wohnt Liat Chokavi noch bei dir?« fragte Marchat und machte
dann eine beschwichtigende Gebärde. »Keine Sorge - ich habe bloß
noch eine Kiste mit ihren Sachen. Kann sein, dass auch das eine oder
andere darin gelandet ist, was nicht ihr gehört. Ich möchte das nicht
als Abfindung bezeichnen, aber …«
»Leider nicht«, sagte Amat. »Ich habe ihr eine Stelle angeboten
und hätte eine fähige Mitarbeiterin für die Buchführung gut
brauchen können, aber sie hat sich mit dem Dichterlehrling auf den
Weg gemacht. Es scheint die große Liebe zu sein.«
Marchat lachte leise. »Das wird ein böses Erwachen geben«,
meinte er mit erstaunlich mildem Spott.
»Lasst Epani eine Kanne Tee bringen« sagte Amat. »Damit er sich
mal nützlich macht. Wir müssen etwas Geschäftliches besprechen.«
Marchat tat, worum sie gebeten hatte, und Minuten später hatte
sie eine kleine, wunderhübsche Schale mit dampfendem Tee in der
Hand. Marchat schenkte auch sich eine Tasse ein, trank sie aber
nicht. Stattdessen faltete er die Hände und stützte sein großes,
bärtiges Haupt darauf. Sein Schweigen war kein durchtriebener
Schachzug - das sah sie deutlich. Er wusste einfach nicht, was er
sagen sollte. Also musste sie das Spiel eröffnen.
»Ich will etwas von Euch« sagte sie.
»Mal sehen, was ich tun kann.«
»Eure Lagerhäuser am Nantan - ich möchte sie gern mieten.«
Er lehnte sich zurück und neigte den Kopf zur Seite - wie ein
Hund, der ein ungewohntes Geräusch gehört hat. Dann machte er
eine fragende Gebärde. Amat nippte an ihrem Tee, doch er war
noch zu heiß. Also stellte sie die Schale auf den Tisch.
»fetzt, wo der Andat verschwunden ist, will ich in eine
Baumwollkämmerei investieren. Ich habe zehn Männer gefunden,
die schon Baumwolle ausgekämmt haben, als Blütenfall noch Andat
von Saraykeht war. Sie wollen als Vorarbeiter anfangen. Das
Problem sind die anfänglichen Aufwendungen und die ersten
Verträge. Ich habe Leute an der Hand, die in so einen Betrieb
investieren würden, falls ich geeignete Gebäude finde. Sie sind
beunruhigt darüber, dass ich mich im Streit von meinem
langjährigen Arbeitgeber getrennt habe. Wenn Ihr mir die
Lagerhäuser am Nantan vermietet, kann ich zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen.«
»Aber Amat …«
»Ich habe verloren« sagte sie. »Ich weiß es, und Ihr wisst es auch.
Ich habe getan, was ich konnte, aber die Sache ist mir entglitten.
Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder erhebe ich die Anklage
trotzdem, säe bei all denen, die mir noch zuhören, möglichst viel
Misstrauen gegenüber den Galten und untergrabe so den Rest
meiner Glaubwürdigkeit. Oder ich baue dieses Unternehmen auf,
sorge dafür, dass die Bewohner unserer Stadt nicht den Mut
verlieren und stifte Frieden zwischen Leuten, die sich lange als
Gegner betrachtet haben. Beides zugleich geht jedenfalls nicht. Die
Leute dürfen nicht sagen, ich sei eine alte Frau, die sich vor Schatten
ängstigt, während ich versuche, Weber und Seiler, die einander seit
drei Generationen spinnefeind sind, zu versöhnen.«
Marchat Wilsin hob die Brauen. Sie beobachtete, wie er sie
musterte. Schuld und Angst, Enttäuschungen und Drohungen fielen
kurz von ihnen ab, und wie in ihren besten Zeiten waren sie wieder
Spieler in einem wechselseitigen Geben und Nehmen. Das machte
Amat das Herz schwer, doch sie ließ es sich genauso wenig
anmerken, wie Marchat seine Gefühle zeigte. Die Flamme der
Laterne zischte, flackerte und brannte dann ruhig weiter.
»Das wird nichts« sagte er schließlich. »Sie werden nicht von ihren
überkommenen Vorurteilen ablassen, sondern es schaffen, einander
die Hände zu schütteln und sich gleichzeitig übers Ohr zu hauen. Du
willst, dass sie gemeinsam für die Stadt einstehen? In den
Westgebieten, in Galtland und auf den Inseln könntest du damit
eine Chance haben. Aber in den Sommerstädten? Niemals!«
»Ich gebe mich erst geschlagen, wenn ich geschlagen bin«,
entgegnete Amat.
»Aber denk daran, dass ich dich gewarnt habe. Was bietest du mir
für die Lagerhäuser?«
»Sechzig Silberstücke pro Jahr und fünf Prozent vom Gewinn.«
»Das ist beleidigend wenig, und das weißt du.«
»Ihr habt nicht einberechnet, dass es mich davon abhält, aller Welt
zu erzählen, was der Galtische Rat im Sinn hatte, als er sich mit
Samenlos gegen den Dichter verbündete. Das allein wäre schon ein
guter Preis für die Gebäude, aber wir sollten den Schein wahren,
findet Ihr nicht?«
Er dachte darüber nach. Als sich seine Mundwinkel ein wenig
hoben und er ein kleines Lächeln sehen ließ, wusste sie, dass sie
gewonnen hatte.
»Und du glaubst wirklich, daraus ein gewinnbringendes
Unternehmen machen zu können? Baumwollsamen auszukämmen ist
eine äußerst unangenehme Tätigkeit.«
»Ich kenne jede Menge Frauen, die diese Arbeit gern anstelle eines
weit unangenehmeren Broterwerbs machen würden«, sagte Amat.
»Ich denke, es wird hervorragend laufen.«
»Und wenn ich mit deinem Vorschlag einverstanden bin -
Marchats Stimme war plötzlich weicher geworden, und es war
deutlich, dass die Verhandlungen unversehens die eingefahrenen
Wege verlassen hatten - »…vergibst du mir dann?«
»Ich denke, über Dinge wie Vergebung sind wir hinaus«, sagte sie.
»Wir sind Diener dessen, was wir zu tun haben. Nicht mehr und
nicht weniger.«
»Mit dieser Antwort kann ich leben. Gut, dann lasse ich Epani die
Verträge aufsetzen. Sollen wir sie dir ins Bordell schicken?«
»Ja«, sagte Amat. »Das wäre gut. Danke, Marchat-cha.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun konnte«, erwiderte er und
trank von seinem nur noch lauwarmen Tee. »Und zugleich wohl
auch das Äußerste. Ich glaube kaum, dass mein Onkel gleich
verstehen wird, warum ich mich darauf eingelassen habe. Galtische
Geschäfte sind nicht ganz so raffiniert wie die Abschlüsse, die hier
in Saraykeht üblich sind.«
»Das liegt daran, dass Eure Kultur noch nicht ganz aus dem Ei
gekrochen ist«, sagte Amat. »Wenn ihr erst mal tausend Jahre
Herrschaft hinter euch habt, dürften die Dinge anders liegen.«
Marchats Miene wurde verdrießlich, und er schenkte sich noch mal
Tee ein. Amat schob ihm ihre Schale hin, und er beugte sich vor, um
sie zu füllen. Der dampfende Tee ließ das hauchfeine Porzellan
knistern.
»Es wird Krieg geben«, sagte Amat schließlich. »Zwischen den
Galten und den Sommerstädten. Eines Tages wird es Krieg geben.«
»Galtland ist eine seltsame Gegend. Ich war schon so lange nicht
mehr dort, dass ich nicht weiß, ob ich mich wieder einleben werde.
Wir verdanken dem Krieg so manches. In der letzten Generation
haben wir unser Ackerland durch Kriegszüge fast verdoppelt. Ob
du es glaubst oder nicht: Bei uns gibt es Metropolen, die den
Sommerstädten ebenbürtig sind, wobei wir unsere Geschäfte
allerdings rücksichtslos und wild entschlossen abwickeln. Man muss
wirklich mal bei uns gewesen sein, um das zu verstehen. Die
Verhältnisse dort sind ganz anders als hier.«
Amat wollte sich dazu nicht äußern, sondern forderte Marchat auf,
zu einem künftigen Krieg zwischen Galtland und den
Sommerstädten Stellung zu nehmen. Wilsin stieß einen langen
Seufzer aus.
»Ja, eines Tages wird es Krieg geben, aber wir zwei werden das
nicht mehr erleben.«
Amat dankte für diese Antwort mit einer anerkennenden
Gebärde. Marchat spielte mit seiner Teeschale.
»Amat … ehe du gehst, möchte ich dir sagen, dass ich dir einen
Brief geschrieben habe. Das war, als es aussah, als würdest du vor
dem Khai Anklage gegen mich erheben und als würde es Galtland
und mir schlecht ergehen. Diesen Brief möchte ich dir geben.«
Er bemühte sich nicht im Mindesten, seine Gefühle hinter einer
Fassade zu verbergen. Amat fragte sich, wie er als Geschäftsmann
so verschlossen und vorsichtig sein, mit seinen und ihren Gefühlen
dagegen so ungeschickt umgehen konnte. Wenn sie ihn so
weitermachen ließe, würde er ihr als Nächstes eine Stelle in
Galtland anbieten. Und trotz allem würde ein Teil ihres Wesens
bedauern, dieses Angebot abzulehnen.
»Behaltet ihn erst einmal. Ich hole ihn mir später.«
»Wann?« fragte er, während sie sich erhob.
Sie antwortete ihm sanft, damit er ihre Worte nicht als Beleidigung
auffasste, sondern als Ausdruck geteilter Trauer. Schließlich hatten
die Ereignisse der letzten Monate zu gewaltigen Opfern geführt, zu
denen auch das einst so gute Verhältnis zwischen ihnen beiden
gehörte.
»Vielleicht nach dem Krieg. Dann könnt Ihr ihn mir geben.«

Im Traum fand Otah sich an einem Ort wieder, der eine seltsame
Mischung aus Bade- und Lagerhaus war. Es herrschte reges
Kommen und Gehen. Die Leute waren guter Dinge, und ihre
Gespräche plätscherten angenehm vor sich hin. Erschrocken
entdeckte Otah plötzlich Heshai in der Menge, der sich wie ein
Lebender bewegte und unterhielt, aber eindeutig tot war. In der
Logik des Traums ließ diese flüchtige Wahrnehmung eine Welle der
Panik über Otah zusammenschlagen.
Er fuhr hoch und rang nach Atem. Mit weit aufgerissenen Augen
starrte er in die verwirrende Finsternis. Erst als sein Herz
langsamer klopfte und er allmählich wieder regelmäßig atmete,
brachten ihm das Knarren des Schiffes und der Wellengang zu
Bewusstsein, wo er sich befand. Er presste die Daumenballen an die
Lider, bis bleiches Licht kam. Einen Meter unter ihm murmelte Maj
im Schlaf.
Die Kabine war winzig - zu niedrig, um aufrecht darin zu stehen,
und kaum groß genug, um zwei Hängematten übereinander zu
befestigen. Wenn er die Arme ausstreckte, konnte er die Hände
gegen die geölten Holzwände drücken. Für ein Kohlebecken war
kein Platz, weshalb sie in ihren Sachen schlafen mussten. Behutsam
schlüpfte er aus seiner Hängematte, erreichte den Boden, ohne Maj
zu wecken oder sie auch nur zu berühren, und verließ die
sargähnliche Kabine, in der ihn ständig Alpträume heimsuchten, um
an Deck zu gehen und im Mondlicht frische Seeluft zu atmen.
Die drei Männer von der Nachtwache grüßten ihn, als er aus dem
Schiffsbauch kam. Otah lächelte und schlenderte zu ihnen, obwohl
er nichts mehr ersehnte, als etwas allein zu sein. Ein wenig
Geplauder, ein paar derbe Witze - diesen kleinen Preis entrichtete er
für das Wohlwollen derer, denen er sein Schicksal anvertraut hatte.
Er zog sich bald an einen ruhigen Platz an der Reling zurück. Der
Horizont war unsichtbar, denn die Grenze von Meer und Himmel
war im Dunst verschwunden. Otah setzte sich, legte die Arme auf
das verwitterte Holz und wartete darauf, dass die Bilder seines
Traums abklangen. So hatte er es auf dieser Reise bisher jede Nacht
getan, und so würde er es wohl auch noch einige Zeit halten
müssen. Beim Wachwechsel um Mitternacht kamen drei andere
Seeleute an Deck, mit denen er ebenfalls ein paar Minuten
plauderte. Die neugierigen Seitenblicke und besorgten Mienen, die
ihm in den ersten Nächten gegolten hatten, waren verschwunden.
Die Männer hatten sich an ihn gewöhnt.
Otah schätzte, dass die Nachtkerze zu drei Vierteln
heruntergebrannt war, als Maj an Deck kam, war sich aber der
Tatsache bewusst, dass die nächtliche See das Zeitgefühl mitunter
gründlich durcheinanderbrachte. Womöglich habe ich wochenlang
auf die dunklen, von vielfach gebrochenem Mondlicht beschienenen
Wellen geschaut, und die Sonne hat einfach vergessen aufzugehen,
dachte er.
Maj schien im Mondlicht fast zu leuchten, so sehr rötete die Kälte
ihre Haut, die im Blaugrau der Nacht einen seltsam unwirklichen
Ton bekommen hatte. Das Mädchen musterte die schier unendliche
Wasserfläche, als würde sie ihr gehören, und wirkte von der Leere
ringsum unbeeindruckt. Otah beobachtete, wie sie ihn suchte und
schließlich zu ihm kam. Obwohl er wusste, dass mindestens einer
der Seeleute Nippu beherrschte, sprach keiner der Männer sie an.
Maj setzte sich neben ihm aufs Deck. Ihre hellen Augen schienen
beinahe farblos.
»Die Träume« sagte sie.
Otah nickte.
»Schade, dass wir den Handwebstuhl nicht dabeihaben, denn
dann könntest du weben«, sagte sie. »Es wäre besser, wenn du dich
mit praktischen Dingen beschäftigtest, damit die Gedanken dich
nicht auffressen.«
»Das wird schon wieder« meinte er.
»Du hast Heimweh. Das weiß ich, und das sehe ich auch.«
»Vermutlich« sagte Otah. »Und ich frage mich, ob das, was wir
getan haben, richtig war.«
»Wirklich?«
Otah sah erneut aufs Wasser. Ein Fisch kam hochgeschossen und
verschwand wieder im Meer. Es ging so schnell, dass er nicht mal
den Umriss des Tieres hatte erkennen können.
»Nun« sagte er, »ich denke, wir haben das Einzige getan, was uns
übrigblieb. Aber dass es richtig war, diese Sache zu tun -«
»Ihn zu töten«, unterbrach ihn Maj. »Nenn die Dinge beim Namen.
Wir haben nicht ‘diese Sache’ getan - wir haben ihn getötet. Wer
sich scheut, die Dinge beim Namen zu nennen, räumt dem, was er
verschweigt, Macht über sich ein.«
»Na gut - dass es richtig war, ihn zu töten, lässt mir keine Ruhe.
Jedenfalls nachts.«
»Und wenn du noch mal die Wahl hättest? Würdest du dich dann
anders entscheiden?«
»Nein, ich würde ihn wieder töten. Das beunruhigt mich.«
»Du hast zu lange in großen Städten gelebt« sagte Maj. »Es ist gut,
dass du Saraykeht verlassen hast.«
Otah sah das anders, sagte aber nichts. Die Nacht rückte weiter
vor. Es würde noch mindestens eine Woche dauern, ehe sie Quian
erreichten, die südlichste der Östlichen Inseln. Ihre Ladung - edle
Stoffe und Gewänder aus Saraykeht sowie Gewürze und
Metallarbeiten aus anderen Städten - würde erst gegen Perlen und
Muscheln getauscht werden, gegen die Felle seltsamer, nur auf den
Inseln heimischer Tiere und gegen prachtvolle Federn der dort
lebenden Vögel. Dann würden die Seeleute Fisch und
Trockenfrüchte, Holz und Sklaven an Bord nehmen. Und erst im
Vorfrühling - also in vielen Wochen und nachdem sie zuvor in
mindestens zehn Häfen vor Anker gegangen waren - würden sie
das im Norden der Inselgruppe gelegene Nippu erreichen.
Den Lohn jahrelanger Arbeit am Hafen und das, was Maati ihm
für die Reise zum Dai gegeben hatte - alles, was er besaß, hatte Otah
für diese Reise ausgegeben. Er fragte sich, was er tun würde, wenn
er in Nippu angekommen war und Maj nach ihrem langen Alptraum
wieder in die Obhut der Familie gegeben hatte.
Ich könnte als Seemann arbeiten, überlegte er. Ich weiß schon
genug, um einfache Tätigkeiten wie das Aufwickeln von Tauen oder
das Schrubben des Decks zu übernehmen. Vielleicht komme ich so
schließlich sogar in die Sommerstädte zurück … oder auch nicht.
Die Welt war voller Möglichkeiten, weil er nichts und niemanden
hatte. Und Maj hatte recht: Seine Gedanken bedrängten ihn, weil er
sich von allem Praktischen abgewandt hatte.
»Du denkst an sie«, sagte das Inselmädchen.
»An wen? An Liat? Eigentlich nicht. Jedenfalls im Moment nicht.«
»Du hast das Mädchen verlassen, das du liebst - aus Zorn auf sie
und den Jungen.«
Diese Bemerkung ärgerte ihn, doch er sagte ganz ruhig: »Was die
zwei getan haben, hat mich verletzt. Und ich vermisse Maati. Ich
vermisse sie beide. Aber …«
»Aber du erlebst deine Abreise auch als Befreiung«, sagte Maj.
»Mir geht es genauso, was mein Kind anlangt. Als ich nach
Saraykeht kam, war ich furchtbar verängstigt. Ich dachte, ich würde
dort nie hinpassen, nie dazugehören und nie eine gute Mutter sein,
wenn meine Itiru mir nicht erzählt, wie sie sich um mich gekümmert
hat, als ich klein war. All die Sorgen, die ich mir gemacht habe!
Ganz umsonst! Alles zu verlieren ist nicht das Schlimmste, was
einem passieren kann.«
»Nun heißt es, von vorn anzufangen, aus dem Nichts und ohne
alles«, sagte Otah.
»Genau«, pflichtete Maj ihm bei und fügte hinzu: »Man darf nicht
nur von vorn anfangen - man muss es auch besser machen als beim
letzten Mal.«
Noch war die Sonne hinterm Horizont verborgen, ließ Himmel
und Meer im Osten aber bereits hell werden. Sie saßen da und
sahen schweigend zu, wie der Morgen heraufzog. Der milchige
Dunst verschwand, als die Sonne orangerot aus dem Meer tauchte.
Alle Seeleute waren an Deck, um singend, rufend und mit nackten
Füßen die Segel zu setzen. Otah stand auf, denn vom langen,
reglosen Sitzen tat ihm der Rücken weh. Auch Maj erhob sich,
nachdem sie ihr Gewand glatt gestrichen hatte. Als der
morgendliche Trubel seinen Höhepunkt erreichte, stieg Otah hinter
ihr ins Dunkel des Schiffsbauchs hinab und hoffte, seinem schlechten
Gewissen ein paar Stunden Schlaf abluchsen zu können. Doch seine
Gedanken kehrten immer wieder zu der leeren, ungewissen
Zukunft zurück, die vor ihm lag. Und zu der Stadt, die er verlassen
hatte und deren Bewohnern erst langsam klar wurde, dass sie am
Ende war.

scan für http://ebookspender.me


Danksagung

Entgegen so mancher romantischen Vorstellung ist Schreiben


eigentlich keine einsame Beschäftigung. Ich möchte daher allen
danken, deren Beitrag dieses Buch verbessert hat besonders Walter
Jon Williams, Melinda Snodgrass, Steve und Jan Stirling, Terry
England, John Miller, Sally Gwylan, Yvonne Coats, Emily Mah, Sage
Walker, Victor Milan, George R. R. Martin und allen Mitgliedern
des New Mexico Critical Mass Workshop.
Dank schulde ich auch Shawna McCarthy, die immer an mein
Projekt geglaubt hat, und Jim Frenkel, der in das Lektorat dieses
Erstlingsromans viel Zeit und ebenso viel Geduld und Zuspruch
investiert hat.
Danken möchte ich auch Connie Willis und Tom Doherty, vor
allem aber Katherine Abraham, ohne die die Arbeit an diesem Buch
nicht halb so schön gewesen wäre.

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