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Abraham, Daniel - Die Magischen Städte 01 - Sommer Der Zwietracht
Abraham, Daniel - Die Magischen Städte 01 - Sommer Der Zwietracht
ISBN 978-3-442-24446-1
www.blanvalet-verlag.de
Das Buch
Der Rohrstock traf Otah so heftig, dass sein Ohr zu bluten begann.
Tahi hatte den Stab so energisch durch die Luft fahren lassen, dass
sein Schwirren an flatternde Vögel erinnerte. Otah blieb
vollkommen beherrscht, wich nicht zurück und gab keinen Laut von
sich. Tränen traten ihm in die Augen, doch seine Hände blieben in
grüßender Gebärde.
»Noch mal«, bellte Tahi. »Und diesmal richtig!«
»Eure Anwesenheit ehrt uns, ehrwürdiger Dai«, sagte Otah
freundlich, als versuche er sich zum ersten Mal an dieser rituellen
Begrüßung. Der alte Mann am Feuer musterte ihn und machte dann
eine zustimmende Gebärde. Tahi stieß ein zufriedenes Grunzen aus.
Otah verbeugte sich, verharrte drei Atemzüge lang in dieser
Stellung und hoffte, Tahi würde ihm keinen weiteren Stockschlag
dafür geben, dass er zitterte. Der Moment schien kein Ende zu
nehmen, und Otah hätte seinen Lehrer beinahe angesehen. Es war
der Alte mit seinem kaum mehr vernehmbaren Flüstern, der
schließlich die Worte sprach, die das Ritual beendeten und ihn
entließen.
»Geh, verstoßenes Kind, und widme dich deinen Studien.«
Demütig verließ Otah das Zimmer. Kaum hatte er die schwere
Holztür hinter sich zugezogen und den kühlen Flur betreten, der zu
den Gemeinschaftsräumen führte, befühlte er seine neue Wunde.
Die anderen Jungen schwiegen, als er über die Flure der Schule
ging, doch immer wieder fasste der eine oder andere ihn und sein
neues Schandmal ins Auge. Nur die älteren Jungen, deren
Schwarzkutten sie als Milahs Schüler auswiesen, lachten ihn aus.
Otah ging in den Schlafsaal seiner Klasse, zog das Festgewand aus,
achtete darauf, es nicht mit Blut zu beschmutzen, und wusch die
Wunde mit kaltem Wasser. Die stechende Salbe zur Behandlung von
Schnitten und Kratzern befand sich in einem Tontopf neben dem
Wasserbecken. Er tunkte zwei Finger ein und schmierte die nach
Essig riechende Salbe auf die Wunde am Ohr. Dann setzte er sich
auf seine Pritsche und weinte, wie er es schon so manches Mal getan
hatte, seit er in diese Schule gekommen war.
»Ihr setzt gewisse Erwartungen in diesen Jungen, stimmt’s? fragte
der Dai und führte dabei seine Teeschale zum Mund.
»Durchaus«, bestätigte Tahi, stellte den lackierten Rohrstock in die
Ecke und nahm neben seinem Meister Platz.
»Er kommt mir bekannt vor.«
»Es ist Otah Machi, der sechste Sohn von Khai Machi.«
»Ich erinnere mich an seine Brüder. Die waren auch recht
vielversprechend. Was ist aus ihnen geworden? »Sie haben ihre
Schulzeit abgesessen und das Brandmal bekommen und wurden
entlassen. Wie die meisten. Wir haben dreihundert Schüler und
dazu vierzig Schwarzkutten, die unter Milahs Obhut stehen -
durchweg Söhne von Khais oder aus ehrgeizigen Familien der
Utkhais.«
»So viele? Ich habe kaum welche gesehen.«
Tahi machte eine zustimmende Gebärde, hielt die Handgelenke
dabei aber so, dass Bedauern oder eine Entschuldigung
mitschwang.
»Nur wenige sind stark und zugleich klug genug. Und es steht viel
auf dem Spiel.«
Der Dai nahm einen Schluck Tee und blickte nachdenklich ins
Feuer.
»Wie viele von ihnen wohl merken«, sagte der Alte dann, »dass
wir ihnen nichts beibringen?«
»Alles bringen wir ihnen bei. Alles, was mit Buchstaben und
Zahlen zu tun hat. Jeder von ihnen kann nach der Schule ein
Handelsunternehmen gründen.«
»Aber wir bringen ihnen nichts Sinnvolles bei. Die Werke der
Dichter enthalten wir ihnen vor, und von den Andaten erfahren sie
nichts.«
»Falls sie das merken, ehrwürdiger Dai, sind sie auf dem besten
Weg, ihre Ausbildung bei Euch fortzusetzen. Und für diejenigen,
die wir nach der regulären Schulzeit entlassen, ist es ohnehin besser,
ahnungslos zu sein.«
»Wirklich?«
Tahi zuckte die Achseln und blickte ins Feuer. Er wirkt gealtert,
dachte der Dai, besonders um die Augen. Als ich ihm vor vielen
Jahren begegnet bin, war er ein ungestümer junger Mann. Dass sein
Gesicht nun so alt und grausam wirkt, dafür habe ich selbst gesorgt.
»Wenn sie versagen, bekommen sie das Brandmal und müssen sich
auf eigene Faust durchs Leben schlagen«, sagte Tahi.
»Wir rauben ihnen die einzige Hoffnung, ihre Familien
wiederzusehen und einen Platz am Hof der Khais einzunehmen«,
erwiderte der Dai. »Sie sind ganz allein und haben keine Macht über
einen Andaten. Wir entledigen uns dieser Jungen, wie ihre Väter es
getan haben. Ich frage mich, was aus ihnen wird.«
»Das, was aus den Leuten nun mal wird, schätze ich. Die Schüler
aus den Familien der Utkhais sind nach dem Besuch unserer Schule
kaum schlechter dran als zuvor. Und die Söhne der Khais … tja,
wenn sie das Brandmal bekommen haben, sind sie nicht mehr
erbberechtigt. Das bewahrt sie davor, von ihren Verwandten
getötet zu werden. Das ist immerhin etwas!«
Allerdings. In jeder Generation floss bei den Khais reichlich Blut.
So war es nun mal im Reich. Und sollten alle drei legitimen Söhne
eines Khais einander niedergemetzelt haben, zückten die edelsten
Familien der Utkhais die Messer, und eine Zeitlang gab es in den
Städten schlimme Gewaltausbrüche, von denen die Dichter sich so
sorgsam fernhielten wie die Priester von Hundekämpfen. Die
Jungen aber, die hier in die Schule gingen, blieben von diesen
Kämpfen verschont, mussten dafür aber den Preis zahlen, auf alles
zu verzichten, was sie in ihrem kurzen Leben im Kreis ihrer Familie
kennengelernt hatten. Und doch …
»Schande ist ein mickriges Geschenk«, sagte der Dai.
Sein alter Schüler Tahi, der auch mal wie die Jungen gewesen war,
die nun die Schule besuchten, seufzte.
»Mehr können wir ihnen nicht bieten.«
Otah drehte sich auf der Pritsche herum. Das Heizbecken glomm,
doch die Kohlen gaben zu wenig Licht, um etwas zu erkennen. Er
richtete den Blick auf die schwache Glut.
»Ich hab einen Fehler gemacht, Ansha.« So hatte er in den letzten
Tagen stets geantwortet, wenn jemand - selten genug - den Mut
aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen.
»Es heißt, der Dai kommt.«
»Vielleicht war es ja ein gravierender Fehler.«
Womöglich ist keiner je so hoch gestiegen und so tief gefallen,
dachte Otah. Vielleicht hat nie ein Unwürdigerer die Schwarzkutte
getragen. Die kahle Schneefläche kam ihm in den Sinn, über die er in
jener kalten Nacht gewandert war, in der Milah ihn in die schulische
Elite aufgenommen hatte. Jetzt begriff er, dass seine Flucht sicher
kein Zeichen von Stärke, sondern eine Vorahnung seines Scheiterns
gewesen war.
»Was hast du da bloß gemacht?«, fragte Ansha im Dunkeln.
Otah hatte wieder das Gesicht des kleinen Jungen vor Augen,
seine blutigen Hände und die Tränen der Erniedrigung, die ihm
über die schmutzigen Wangen rannen. Er, Otah, hatte dieses Leid
verursacht. Und er konnte die Scham über diese Untat nicht von der
Scham unterscheiden, zu schwach zu sein, erneut ähnliche Untaten
zu begehen. Er konnte unmöglich einem Kameraden erklären, dass
er diese Jungen nicht abzuhärten vermochte, weil er im Herzen noch
immer einer der ihren war.
»Ich war meiner Kutte nicht würdig«, erklärte er.
Ansha sagte nichts mehr, und bald hörte Otah an seinem Atmen,
dass er eingeschlafen war. Die anderen waren erschöpft von den
Mühen des Tages. Nur Otah war hellwach, nachdem er einmal mehr
ziellos und ohne Aufgaben durch die Säle und Flure der Schule
gelaufen war - und zwar in seiner Schwarzkutte, die er freilich nur
noch trug, weil er keine eigenen Sachen besaß.
Er wartete im Dunkeln, bis die letzte Glut verglommen war und er
sicher sein konnte, dass alle im Tiefschlaf lagen. Dann stand er auf,
schlüpfte in seine Kutte und trat leise auf den Gang hinaus. Zu den
unangenehm kalten Räumen, in denen die jüngeren Schüler
schliefen, war es nicht weit. Kurz darauf ging Otah zwischen den
schlafenden Kindern umher. Wie klein ihre Körper waren, wie dünn
ihre Decken! Ich trage die Schwarzkutte doch erst seit kurzem,
dachte er - wie habe ich so schnell so vieles vergessen können? Der
Junge, nach dem er suchte, lag zusammengerollt auf einer Pritsche
an der Wand und hatte dem Zimmer den Rücken gekehrt. Otah
beugte sich vorsichtig über ihn und legte ihm die Hand auf den
Mund, damit er nicht losschreien konnte. Doch das Kind erwachte
ohne jeden Laut - seine Augen öffneten sich langsam. Otah
beobachtete den Jungen, bis er sah, dass dieser ihn erkannte.
»Heilen deine Hände gut?«, fragte er flüsternd.
Der Junge nickte.
»Ausgezeichnet. Bleib ganz ruhig. Wir wollen die anderen ja nicht
wecken.«
Er zog die Hand weg, und der Junge machte sogleich eine
Gebärde tiefsten Bedauerns.
»Otah-kvo, ich habe Schande über Euch und die Schule gebracht.
Ich …«
Otah führte die Hände des Jungen sanft zusammen.
»Du hast dir nichts vorzuwerfen«, sagte er. »Ich habe einen Fehler
gemacht, und den Preis dafür werde ich bezahlen müssen.«
»Wenn ich härter gearbeitet hätte »Damit hättest du nichts
erreicht«, erklärte Otah. »Gar nichts.«
Das bronzene Tor dröhnte, und seine Flügel schwangen auf. Die
Jungen standen in Reih und Glied und waren in einer
Willkommensgebärde erstarrt, die sie Statuen gleichen ließ. Auch
Otah, der inmitten der Schwarzkutten stand, verharrte regungslos.
Er fragte sich, welche Gerüchte unter all den verstoßenen Kindern
über diesen Besuch kursierten. Wie viele Hoffnungen mochten da
keimen, zur verlorenen Familie zurückgebracht oder zum Dichter
erkoren zu werden? Träume. Nichts als Träume.
Der alte Mann trat ein. Er schien wackliger auf den Beinen denn je.
Nach der feierlichen Begrüßung segnete er alle mit seinem kaum
vernehmbaren Flüstern. Dann zog er sich mit den Lehrern zurück,
und alle Schwarzkutten bis auf Otah kümmerten sich um die ihnen
zugewiesenen Klassen. Otah kehrte auf sein Zimmer zurück, setzte
sich beklommen auf seine Pritsche und wartete darauf, zum Dai
gerufen zu werden. Lange musste er sich nicht gedulden.
»Otah« sagte Tahi von der Stubentür her. »Bring dem Dai einen
Tee.
»Aber mein Festgewand »Nicht nötig. Kümmere dich nur um den
Tee.«
Otah stand auf und machte eine unterwürfige Gebärde. Es war so
weit.
Wie die steinernen Türme von Machi die kalten Städte des
Nordens dominierten, so prägte der Hafen von Saraykeht die
Sommerstädte des Südens. Die Landungsbrücken führten ins klare
Wasser der Bucht hinaus, und Schiffe aus den anderen Hafenstädten
der Khais - aus Nantani, Yalakeht und Chaburi-Tan - legten dort an.
Unter ihnen waren die gedrungenen Boote aus den Westgebieten
mit ihrem flachen Kiel, aber auch die hohen Segelschiffe der Galten
mit ihrem mächtigen Schiffsbauch, an deren Masten so viele Segel
aufgezogen waren, dass sie wie aufs Meer geflohene Trockenböden
einer Großwäscherei wirkten. In den Straßen am Hafen boten
Verkäufer aus allen Städten und Landstrichen ihre Waren auf
großen, schmalen Tischen an, die mit farbenprächtigen Tüchern und
Wimpeln bedeckt waren, und priesen den Passanten über
Möwengeschrei und Wellenrollen hinweg ihre Herrlichkeiten. Ein
Dutzend Sprachen, hundert Dialekte und unzählige abenteuerliche
Sprachmixturen waren in der heißen Windstille zu hören, und sie
kannte sie alle.
Amat Kyaan, Verwalterin des galtischen Unternehmens Wilsin,
bahnte sich am Stock ihren Weg durch die Menge, obwohl sie gut zu
Fuß war. Sie genoss das schroffe Aufeinandertreffen verschiedener
Sprachwelten, das so laut und grell vonstatten ging, als würde ein
Rudel Kinder im Sand Fangen spielen. Viele Sprachen zu
beherrschen und sich in ihnen so höflich wie bestimmt
auszudrücken, war ihre Stärke. Diese Fähigkeit war es auch
gewesen, die aus dem Mädchen, das sich verzweifelt als
selbstständige Schreiberin auf öffentlichen Plätzen der Stadt
durchgeschlagen hatte, eine Frau werden ließ, die die Farben eines
angesehenen, wenn auch ausländischen Unternehmens trug und sich
nun zwischen Menschen und zu Ballen gepresster Baumwolle
hindurchkämpfte, um sich mit ihrem Arbeitgeber zu treffen. Um
von ihrer Wohnung am Rande des Vergnügungsviertels zu Marchat
Wilsins bevorzugtem Badehaus zu kommen, hätte Amat auch
andere, nicht am Hafen entlangführende Straßen nehmen können,
doch wann immer sie sich morgens im Badehaus einzufinden hatte,
wählte sie diesen Weg, denn der Hafen war Stolz und symbolischer
Inbegriff ihrer Stadt.
Auf dem Platz am Ende des Nantan hielt sie inne. Der Nantan war
eine breite, grau gepflasterte Straße, die den westlichen Abschluss
des Lagerhausbezirks bildete. Die alte bronzene Statue von Shian
Sho, dem letzten großen Kaiser, stand mit aufs Meer gerichtetem
Blick da. Der Herrscher schien in die Erinnerung an sein verlorenes
Reich versunken, das jetzt seit acht Generationen nur mehr aus
Trümmern und verwüsteten Landstrichen bestand. Lediglich die
Städte der Khais, bis zu denen der Aufruhr nie vorgedrungen war,
standen noch in Blüte. Unterhalb des Denkmals arbeiteten junge
Männer mit nacktem Oberkörper in der Hitze und zogen Karren,
die mit weißen, öligen Baumwollballen beladen waren. Einige
lachten, andere schrien, wieder andere arbeiteten mit geradezu
erschreckendem Ernst. Manche waren Freie, die sich hier für die
Saison verdingt hatten, andere waren durch langfristige
Ausbildungs- und Arbeitsverträge an große Unternehmen oder
einzelne Kaufleute gebunden, und einige Sklaven gab es auch. Und
sie alle waren wunderschön, sogar die Dicken und Schwerfälligen.
Ihre Jugend machte sie schön. Ihr Muskelspiel wirkte kunstvoller
und verführerischer als die herrlichsten Gewänder der Khais -
vielleicht, weil dieses Spiel unbewusst vonstatten ging. Wie viele
von diesen Männern, so fragte sich Amat, würden auf die Idee
kommen, dass eine alte Frau, die nur kurz auf dem Weg zu einem
Geschäftstreffen ausruhte, sich an ihrer erotischen Ausstrahlung
weidete? Sie alle vermutlich. All diese entzückenden und doch so
eitlen Geschöpfe. Amat seufzte, hob den Stock und ging weiter.
Als die Sonne etwa eine halbe Handbreit höher gestiegen war,
erreichte Amat ihr Ziel. Die Badehäuser standen dicht an dicht ein
Stück von der Küste entfernt an den Ufern des Qiit und an den
Aquädukten, die seinem Lauf folgten. Marchat Wilsin bevorzugte
eins der kleineren Bäder, und Amat war so oft dort gewesen, dass
die Wächter sie vom Sehen kannten und mit unbeholfener Gebärde
willkommen hießen. Sie hatte oft den Verdacht, Wilsin wähle dieses
Bad als Treffpunkt, weil er dort seine sprachliche Unzulänglichkeit
eine Weile vergessen konnte. Mit einer raschen Begrüßungsgebärde
passierte Amat die Wächter und betrat das Badehaus.
Für ein ausländisches Unternehmen zu arbeiten ist nie einfach, und
Verträge und Vereinbarungen zu übersetzen, ist dabei noch das
Leichteste. Die Galten waren schlau, angriffslustig und im Krieg
erfolgreich. Ihr Territorium war so groß und fruchtbar wie das
Reich zu seiner Blüte, und entsprechend respektiert und gefürchtet
waren die Galten auch. Doch ihre Vorgehensweise, Vereinbarungen
mit Schwertern zu erzwingen und Verhandlungen durch die
Drohung mit einer Invasion oder einer Blockade zu beschleunigen,
scheiterte bei den Städten der Khais. Die Galten mochten ihre
Truppen nach Eddensea oder Bakta schicken, doch wenn es um die
Sommerstädte ging, waren sie machtlos. Mochte Galtland auch den
Rest der Welt erobern - den Andaten musste es sich dennoch
beugen. Marchat Wilsin hatte lange genug in Saraykeht gelebt, um
diese Schwäche seiner so überheblichen Landsleute zu akzeptieren.
Seinen Marotten nachzugeben und etwa Geschäftstreffen in einem
Badehaus abzuhalten, war dafür ein geringer Preis.
Drinnen war es kühler als draußen. Kunstvoll geschnitzte
Holzgitter erlaubten keine neugierigen Einblicke durchs Fenster,
ließen aber gelegentliche Windstöße passieren, in denen der Duft
von Zedern lag. Stimmen hallten von den gefliesten Böden und
Wänden wider. Irgendwo in den Gemeinschaftsräumen sang
jemand, und seine Stimme dröhnte wie eine Kirchenglocke. Amat
ging in die Frauenumkleide, schüttelte ihr Gewand ab, zog die
Sandalen aus und genoss, wie die kühle Luft ihren nackten Körper
umspielte. Sie trank kaltes Wasser aus dem großen Granitbecken
und ging dann - nackt wie alle - quer durchs Gemeinschaftsbad, in
dem Männer und Frauen lärmten, lachten und einander mit Wasser
bespritzten, zu den Privatgemächern im hinteren Teil des
Badehauses, zu Marchat Wilsins Eckzimmer genauer gesagt, das am
weitesten vom Geschrei und Gelächter entfernt lag.
»In dieser ekelhaften Stadt ist es einfach zu heiß«, brummte Wilsin,
als sie eintrat. Er lag halb eingetaucht im Becken, und das Wasser
benetzte seine weiße, üppig behaarte Brust. Er war dünner
gewesen, als sie ihm das erste Mal begegnete. Damals waren auch
sein Haupthaar und sein Bart noch dunkel gewesen. »Man könnte
meinen, jemand drückt einem ein heißes Handtuch ins Gesicht.«
»Das ist nur im Sommer so«, sagte Amat, legte ihren Stock beiseite
und ließ sich vorsichtig ins Becken gleiten. Die Wellen brachten das
schwimmende Lacktablett mit seinen Teeschalen ein wenig zum
Schaukeln. »Wenn wir auch nur etwas weiter im Norden leben
würden, würdet Ihr den ganzen Winter darüber jammern, wie kalt
es ist.«
»Das wäre wenigstens mal eine Abwechslung.«
Er hob die rosafarbige, gerunzelte Hand aus dem Wasser und
schob Amat das Tablett zu. Der Tee war frisch aufgegossen und mit
Minze versetzt. Das Wasser war kalt. Amat lehnte sich an den
gefliesten Beckenrand.
»Also, was gibt es Neues?«, fragte Marchat und beendete damit
ihr übliches morgendliches Geplänkel.
Amat erstattete Bericht. Die Dinge liefen recht gut. Die Schiffe mit
unbehandelter Baumwolle aus Eddensea waren eingetroffen und
wurden entladen. Die Verträge mit den Webern waren so gut wie
ausgehandelt; nur ein paar Unklarheiten der Übersetzung aus dem
Galtischen ins Khaiate bereiteten ihr noch Sorgen. Schlimmer
allerdings war, dass die Ernte aus den Anbaugebieten im Norden
noch nicht eingetroffen war.
»Wird sie rechtzeitig kommen, damit der Andat sich noch um sie
kümmert?«
Amat nippte erneut an ihrem Tee und verneinte.
Marchat fluchte leise. »Die Leute aus Eddensea können uns ihre
gesamte Baumwolle liefern, und wir schaffen es nicht mal, die
eigene Ernte einzufahren?«
»Offensichtlich nicht.«
»Welche Einbußen bedeutet das?«
»Unser Lager wird nur zu neunzig Prozent gefüllt sein.« Marchat
machte ein finsteres Gesicht, starrte vor sich hin und schien Zahlen
zu sehen und in der leeren Luft wie in einem Buch zu lesen. Kurz
darauf seufzte er.
»Können wir das nicht mit dem Khai besprechen und unsere
Lieferbedingungen der veränderten Lage anpassen?«
»Das wäre völlig sinnlos.«
Marchat räusperte sich nervös. »Darum mache ich so ungern mit
euch Geschäfte. In Eymond oder Bakta würde man wenigstens
miteinander reden.«
»Weil es dort Soldaten gibt, die Eurem Anliegen mit Waffen
Nachdruck verleihen«, entgegnete Amat trocken.
»Genau. Und darum würden die Leute nachsehen, ob in dem
einen oder anderen Unternehmen nicht zu viel Baumwolle lagert«,
sagte Marchat.
Chadhami lagert sicher zu viel davon. Aber Tiyan und Yaanani
konkurrieren um einen Vertrag mit einem Auftraggeber im Westen.
Der Schnellere könnte ihn bekommen. Wir könnten ihm den
früheren Einsatz des Andaten schmackhaft machen und später,
wenn unsere Ernte eingetroffen ist, einen Teil seines Lagers in
Anspruch nehmen.«
Marchat dachte über diesen Vorschlag nach. Dann debattierten sie
eine Zeit lang über die Geschäftsstrategie des Unternehmens und
sprachen darüber, welches Zweckbündnis sie eingehen sollten und
wie sie es im Bedarfsfall möglichst gewinnbringend brechen
könnten.
Amat wusste natürlich weit mehr als das, was sie sagte. Schließlich
war es ihre Aufgabe, an alle Belange des Unternehmens zu denken,
ihren Arbeitgeber mit den notwendigen Fakten zu versorgen und
sich darüber hinaus um alles, was ihm nicht zur Kenntnis gekommen
war, selbst zu kümmern. Im Mittelpunkt des Ganzen stand natürlich
der Baumwollhandel. Das komplizierte Geflecht aus Webern,
Färbern, Segeltuchmachern, Spediteuren, Rohstoffproduzenten und
Alaunlieferanten hatte Saraykeht zu einer der reichsten Städte der
Welt werden lassen. Und wie allen Städten der Khais drohte
Saraykeht kein Krieg - anders als Galtland, Eddensea und Bakta,
anders auch als den Westgebieten und den Östlichen Inseln. Es
waren die Dichter und ihre Macht, die die Städte der Khais
beschützten, und dieser Schutz ließ Zusammenkünfte wie diese zu,
bei denen das todernste Spiel von Handel und Wandel gespielt
wurde.
Nachdem sie ihre Entscheidungen gefällt und sich über die
Einzelheiten verständigt hatten, vereinbarte Amat einen Zeitpunkt,
zu dem sie ihre Unterlagen zu Marchats Anwesen bringen würde.
Seine Geschäfte vom Badehaus aus zu erledigen war eine Marotte,
die Wilsin nicht überstrapazieren sollte, und Wasser auf frisch
aufgesetzte Verträge tropfen zu lassen, war für Amat absolut
inakzeptabel. Sie wusste, dass ihm das klar war. Als sie sich aus
dem Becken erheben wollte, um sich an ihr übriges Tagwerk zu
machen, bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, sitzen zu
bleiben.
»Eine Sache noch«, sagte er. Sie ließ sich wieder ins Wasser gleiten.
»Ich brauche gegen Mitternacht einen Leibwächter. Es ist nichts
Ernstes. Er soll mir nur den Rücken freihalten.«
Amat neigte den Kopf zur Seite. Marchats Stimme hatte ruhig und
gelassen geklungen, doch er wich ihrem Blick aus. Sie machte eine
fragende Gebärde.
»Ich hab ein Treffen. In der Vorstadt.«
»Geschäftlich?«, fragte sie.
Er nickte.
»Verstehe«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Also komme ich
gegen Mitternacht vorbei.«
»Nein. Amat, ich brauche einen unserer Schläger, um mir Tiere
und dunkles Gesindel vom Leib zu halten. Eine Frau mit Stock nutzt
mir gar nichts.«
»Ich bringe einen Leibwächter mit.«
»Schick ihn mir - das reicht«, sagte Wilsin mit einer Stimme, die
keinen Widerspruch duldete. »Ich kümmere mich dann schon
darum.«
»Wie Ihr meint. Seit wann macht das Haus Wilsin hinter meinem
Rücken Geschäfte?«
Marchat verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf und murmelte so
leise vor sich hin, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Dann seufzte
er und schlug dabei solche Wellen, dass Tee aus den Schalen
schwappte.
»Es handelt sich um eine heikle Sache, Amat. Und damit genug.
Ich kümmere mich persönlich darum. Ich weihe dich ja, so weit es
geht, in alle Einzelheiten des Geschäfts ein, aber…«
»Aber?«
»Es ist schwierig. Es gibt bei diesem Geschäft ein paar Dinge, über
die ich … Stillschweigen bewahren muss.«
»Warum?«
»Weil es um den traurigen Eingriff geht«, sagte er. »Das Mädchen
ist bereits unübersehbar schwanger. Und bei dieser Sache gibt es
einiges, das ich diskret behandeln muss.«
Amat spürte einen starken Widerwillen, antwortete aber völlig
ruhig: »Verstehe. Gut. Wenn Ihr glaubt, meiner Verschwiegenheit
sei nicht zu trauen, hättet Ihr darüber wohl am besten gar nicht erst
mit mir reden sollen. Vielleicht sollte ich Euch einen Nachfolger für
mich empfehlen.«
Marchat schlug unwillig mit der flachen Hand aufs Wasser. Amat
verschränkte die Arme. Was sie gesagt hatte, war ein Bluff
gewesen, denn sie beide wussten, dass das Unternehmen ohne sie in
größte Probleme geriete und Amat sich erheblich verschlechtern
würde, wenn sie ihren Posten bei Marchat aufgäbe. Ihre Drohung
war also nicht ernst gemeint. Doch Amat war die Verwalterin des
Hauses Wilsin und mochte es nicht, wenn Geschäfte ohne ihr Wissen
abgewickelt wurden.
Marchats bleiches Gesicht lief rot an, doch sie wusste nicht, ob aus
Zorn oder Verlegenheit. »Lass es wegen dieser Sache nicht zum
Bruch zwischen uns kommen, Amat. Mir gefällt die Angelegenheit
ebenso wenig wie dir, aber ich kann nun mal nicht anders handeln.
Mir bietet sich ein Geschäft, und ich werde es abschließen. Ich bitte
Khai Saraykeht, seinen Andaten einzusetzen, sorge dafür, dass man
sich vorher und hinterher um das Mädchen kümmert, und
veranlasse, dass alle Beteiligten bezahlt werden. Ich war schon im
Geschäft, bevor du bei mir angefangen hast, klar? Und ich bin dein
Arbeitgeber. Du kannst also davon ausgehen, dass ich weiß, was ich
tue.«
»Ich wollte gerade etwas Ähnliches sagen, aber mit
entgegengesetzter Stoßrichtung. Ihr beratet Eure Geschäfte nun seit
zwanzig Jahren mit mir. Wenn Ihr in all dieser Zeit nie an mir
gezweifelt habt »Niemals.«
»Warum schließt Ihr mich dann von dieser Sache aus? Das habt Ihr
noch nie getan!«
»Wenn ich dir das sagen könnte, müsste ich dich nicht davon
ausschließen«, entgegnete Marchat. »Ich habe einfach keine Wahl -
das muss dir genügen.«
»Hat Euer Onkel darum gebeten, mich außen vor zu lassen? Oder
Eure Kundin? »Ich brauche einen Leibwächter. Und zwar um
Mitternacht.«
Amat machte eine komplexe Gebärde des Einverständnisses, in
der eine gewisse Verärgerung mitschwang, die ihm freilich
entgehen würde. Wenn Marchat sie aufgeregt hatte, griff sie gern zu
solchen Gebärden, die seine sprachlichen Fähigkeiten überstiegen.
Dann erhob sie sich, während er das lackierte Tablett heranzog und
sich Tee nachschenkte.
»Eure Kundin - könnt Ihr mir ihren Namen sagen?«, fragte Amat.
»Nein. Und jetzt geh«, sagte Wilsin.
In der Frauenumkleide trocknete Amat sich ab und zog sich an.
Als sie auf die Straße trat, schien es dort lauter und lästiger als
zuvor. Sie ging zum Anwesen des Hauses Wilsin, also bergan nach
Norden. Bei einem Wasserverkäufer musste sie haltmachen, sich ein
Glas kühles Nass kaufen und sich im Schatten ausruhen, um sich zu
sammeln. Der traurige Eingriff - also der Einsatz des Andaten bei
einem Schwangerschaftsabbruch - hatte bisher nicht zu der Art von
Geschäften gehört, denen Wilsin nachging, obwohl andere
Unternehmen mitunter als Vermittler in solchen Dingen tätig
geworden waren. Amat fragte sich, warum Marchat Wilsin sein
Geschäftsgebaren geändert hatte, warum er sich in Schweigen hüllte
und warum er sie andererseits darum gebeten hatte, einen
Leibwächter zu besorgen. Wollte er vielleicht doch - womöglich
unbewusst -, dass sie der Sache nachging?
Der Regen hatte aufgehört, und die Nachtkerze war gerade zur
Hälfte heruntergebrannt, als Heshai zurückkehrte. Maati war auf
einem Lesesofa eingeschlafen und erwachte, als die Tür
geräuschvoll geöffnet wurde. Blinzelnd verscheuchte er vage
Traumbilder, stand auf und machte eine Begrüßungsgebärde.
Heshai schnaubte nur, zündete noch eine Kerze an und ging
schweren Schrittes durchs Haus, um alle Lampen und Kerzen im
Erdgeschoss anzustecken. Als die Zimmer leuchteten wie am
helllichten Tag und starker Wachsgeruch aufstieg, stellte der Lehrer
die tropfende Kerze an ihren Platz zurück und zog sich einen Sessel
heran. Kaum hatte er sich mit leisem Stöhnen niedergelassen, setzte
Maati sich wieder aufs Sofa.
Er schwieg reglos, während sein Lehrer ihn musterte. Heshais
Augen waren schmal, seine Lippen zu einem kalten Lächeln
verzogen. Schließlich stöhnte er laut und machte eine
entschuldigende Gebärde.
»Ich habe mich wie ein Schwein verhalten. Tut mir leid«, erklärte
er. »Das hatte ich schon früher sagen wollen, aber … ich hab’s eben
nicht getan. Was beim Khai passiert ist, war mein Fehler, nicht
deiner. Mach dir darüber keine Gedanken.«
»Heshai-kvo, es war nicht richtig von mir -«
»Du bist ein anständiger Junge. Herzensgut! Ich war gedankenlos.
Leichtsinnig. Ich hab mich von dem Bastard Samenlos unterkriegen
lassen. Wieder einmal. Und du? Du musst ja glauben, ich sei der
größte Dummkopf, der je die Dichterrobe getragen hat.«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Maati ernst. »Samenlos macht
Euch … alle Ehre, Heshai-kvo. Ich habe nie etwas gesehen, das ihm
gleichkäme.«
Heshai stieß ein schrilles, freudloses Lachen aus.
»Hast du denn schon andere Andaten gesehen? Irgendeinen?«
»Ich war dabei, als Choti Dausadar aus Amnat-Tan die Andatin
Höhlenmoos gebunden hat. Aber ich habe nie erlebt, wie er sich
ihrer Kräfte bediente.«
»Nun, er wird sicher rasch eine anständige Verwendung für eine
Andatin gefunden haben, die Höhlenmoos ans Licht bringen kann!
Der Dai hätte Choti dazu veranlassen müssen, ein
Beschwörungsgedicht zu schaffen, mit dem er etwas Sinnvolles
hätte bewirken können. Selbst Blütenfall war ein besseres Werkzeug
als Höhlenmoos. Höhlenmoos!«
Maati machte eine höflich beipflichtende Gebärde, wie es sich für
einen Schüler bei der Unterweisung geziemte, doch dabei wurde
ihm unvermittelt klar, dass sein Lehrer betrunken war.
»Wir leben in einer bleiernen Zeit, Junge. Die großen Dichter des
Reiches haben ganze Arbeit geleistet. Uns bleibt nur, an den
unbedeutenden Gedanken und Bildern zu zupfen, die in den Ecken
übrig sind. Wir gleichen Hunden, die nach Essensresten schnüffeln.
Wir sind keine Dichter - wir sind Gelehrte.«
Maati wollte schon eine zustimmende Gebärde machen, zögerte
dann aber. Er war verunsichert. Heshai hob die Brauen, vollendete
die Gebärde seines Schülers und musterte ihn dabei scharf, als
würde er fragen: Wolltest du diese hier machen? Dann winkte er ab.
»Samenlos war … die Lösung für ein Problem«, fuhr der Dichter
leiser fort. »Aber ich hatte sie nicht richtig durchdacht. Hast du mal
Miyani und Dreieinigkeit gehört? Ich hab mich in deinem Alter
damit beschäftigt, und zwar leidenschaftlich. Als der Dai mich
endlich rufen ließ und sagte, ich würde nicht einfach die Arbeit
eines Dichters fortführen, sondern müsse eine eigene Beschwörung
versuchen, nahm ich dieses Wissen zu Hilfe. Dreieinigkeit liebte ihn,
weißt du? Sie war eine Andatin, die ihren Dichter liebte. Darüber ist
sogar ein Epos geschrieben worden.«
»Ich habe die Bühnenfassung gesehen.«
»Tatsächlich? Nun, vergiss es! Das führt dich nur auf Abwege. Ich
war jung und dumm und fürchte inzwischen, nie mehr weise zu
werden.« Der Blick des Dichters richtete sich auf etwas, das Maati
nicht sehen konnte, weil es anderswo und in einer anderen Zeit lag.
Ein Lächeln spielte über Heshais breite Lippen. Dann stöhnte der
Dichter und kniff die Augen kurz fest zusammen. Danach erst
schien er Maati wieder zu sehen und befahl mit herrischer Geste:
»Lösch die verdammten Kerzen. Ich gehe schlafen.«
Ohne sich noch mal umzudrehen, stand er auf und polterte die
Treppe hoch. Maati ging durch die Zimmer und löschte die Lichter,
die Heshai entzündet hatte. Während es im Erdgeschoss dunkler
wurde, wirbelten ihm Fragen durch den Kopf, ohne klare Gestalt
anzunehmen. Er hörte Heshais Schritte über sich und dann das
Klappern, mit dem Fensterläden verrammelt wurden. Danach war
es still. Der Meister lag im Bett und schlief vermutlich bereits. Bis
auf die Nachtkerze waren alle Lichter gelöscht, als jemand Maati
ansprach.
»Du hast meine Entschuldigung nicht angenommen.«
Samenlos stand in der Tür. Seine bleiche Haut schimmerte im Licht
der letzten Kerze. Sein Gewand war dunkel ob tiefblau, schwarz
oder weinrot, vermochte Maati nicht zu erkennen.
»Warum sollte ich auch?«, fragte er.
»Aus Barmherzigkeit?«
Maati stieß ein freudloses Lachen aus und wandte sich zum Gehen,
aber der Andat kam auf ihn zu. Seine Bewegungen waren von
katzenhafter Anmut und so herrlich wie die des Khais, jedoch ohne
einstudiert zu sein. Sie gehörten so sehr zu seiner Natur wie der
Umriss der Blätter zu einem Baum.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Samenlos. »Und du solltest auch
unserem Meister vergeben. Er hatte einen schlechten Tag.«
»Ach ja?«
»Ja. Er hat sich mit dem Khai getroffen und erfahren, dass er
demnächst etwas erledigen muss, das ihm ganz und gar nicht
gefällt. Aber da wir gerade unter uns sind Der Andat setzte sich auf
die Treppe. Seine schwarzen Augen blickten belustigt, und mit
bleichen Händen umschlang er ein Knie.
»Frag mich«, sagte er.
»Wonach?«
»Nach dem, was dich so ein Gesicht machen lässt. Du siehst aus,
als hättest du in eine Zitrone gebissen.«
Maati zögerte. Wenn er einfach hätte gehen können, hätte er es
sicher getan. Doch der Weg in sein Zimmer war blockiert. Er
überlegte, nach Heshai zu rufen, damit sein Meister aufwachte und
dafür sorgte, dass er die Treppe hinaufsteigen konnte, ohne das
herrliche Wesen zu streifen.
»Bitte, Maati. Ich hab doch gesagt, dass mir mein kleines
Verwirrspiel leidtut. Ich mach’s auch nicht wieder.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Nein? Dann bist du schlauer, als man in deinem Alter zu sein
pflegt. Vermutlich werde ich dich irgendwann tatsächlich wieder
reinlegen. Aber hier und jetzt kannst du fragen, was immer du
willst, und ich werde dir ehrlich antworten unter einer Bedingung
…«
»Nämlich?«
»Dass du meine Entschuldigung annimmst.«
Maati schüttelte den Kopf.
»Na gut«, sagte Samenlos, stand auf und ging zu einem Regal.
»Dann frag eben nicht. Verkrampf und verknote dich nach Kräften,
wenn du meinst, dass dir das guttut.«
Die bleiche Hand glitt über die Buchrücken und zog einen braunen
Lederband heraus. Maati wandte sich ab, ging zwei Schritte die
Treppe hoch und zögerte dann. Als er sich umsah, hatte es sich
Samenlos mit angezogenen Beinen auf dem Sofa neben der Kerze
bequem gemacht. Er schien in das Buch auf seinem Schoß vertieft.
»Er hat dir die Geschichte von Miyani erzählt, oder?«, fragte der
Andat, ohne aufzublicken.
Maati schwieg.
»Das sieht ihm ähnlich. Er äußert sich nur selten klar und deutlich
und begnügt sich stattdessen mit Anspielungen. Es ging darum, wie
sehr Dreieinigkeit ihren Dichter liebte, nicht wahr? Hier - sieh dir
das mal an.«
Samenlos drehte das Buch um und hielt es ihm hin. Maati kam die
Treppe wieder herunter. Der Text war in Heshais Handschrift
verfasst. Auf der Seite, die der Andat ihm zeigte, befand sich eine
Darstellung, die die Parallelen zwischen der klassischen
Beschwörung von Dreieinigkeit und der Beschwörung von
Samenlos aufzeigte.
»Das ist seine Fehlerbeurteilung«, sagte der Andat. »Lies sie dir
durch. Ich denke, das wäre in seinem Sinne.«
Maati nahm den weichen Lederband. Die Seiten kratzten leise. »Er
hat dich gebunden und sich nicht auf deine Bedingungen
eingelassen«, sagte er. »Also gab es auch keinen Fehler. Es hat
funktioniert.«
»Manche Bedingungen sind subtiler Natur und halten länger vor
als andere. Erlaube mir, dass ich dir ein wenig mehr über unseren
Meister erzähle. Er sah nie gut aus, sondern war schon als Säugling
hässlich. Sein Vater hat ihn an die Luft gesetzt - es ist ihm also
ähnlich ergangen wie dir. Doch als Lehrling am Hof von Khai Pathai
hat er sich verliebt. Kaumau glauben, was? Unser watschelndes
Hängebauchschwein hatte sich verliebt! Und das Mädchen war
durchaus willig: die Faszination der Macht. Dichter verfügen über
Andaten, kommen also dem Wunsch, einem Gott zu befehlen, näher
als jeder andere.
Doch als er sie geschwängert hatte, wandte sie sich von ihm ab«,
fuhr Samenlos fort, »trank ein paar grässliche Tees und hatte eine
Fehlgeburt. Das hat ihm das Herz gebrochen. Zum einen wohl, weil
er gern Vater geworden wäre, zum anderen aber, weil es zeigte,
dass seine große Liebe nie vorhatte, ihr Leben an seiner Seite zu
verbringen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Das erzählt er auch nur wenigen. Aber … Maati, setz dich doch
bitte. Es ist wichtig, dass du das verstehst, und wenn ich die ganze
Zeit zu dir hochschauen muss, tut mir bald der Nacken weh.«
Maati war klar, dass er sich abwenden und in sein Zimmer gehen
sollte, doch er setzte sich.
»Gut«, sagte Samenlos. »Du weißt ja, dass Andaten nur Ideen sind.
Vorstellungen, die in eine willensbegabte Gestalt gebracht wurden.
Das Werk des Dichters ist es, all diese Gestalten mit Zügen
auszustatten, die die Idee allein nicht besitzt. So hatte zum Beispiel
die Andatin Niederschlag vollkommen weißes Haar. Warum?
Niederschlag hat schließlich nichts mit weißem Haar zu tun. Oder
mit einer tiefen Stimme. Oder mit Liebe, wie es bei Dreieinigkeit
der Fall war. Woher also stammen diese Attribute?«
»Aus der Vorstellungskraft des Dichters.«
»Genau«, pflichtete Samenlos ihm lächelnd bei. »Aus der
Vorstellungskraft des Dichters. Nun stell dir unseren Meister als
jungen Mann vor, nur wenig älter als du. Er hat gerade ein Kind
und eine Frau verloren, von der er glaubte, sie würde ihn lieben.
Der unausgesprochene Verdacht, sein Vater hasse ihn, und der
Gedanke an die qualvollen Selbstvorwürfe der Mutter, die sich der
Vertreibung ihres Sohnes nicht widersetzt hat, nagen an ihm wie ein
Scherenkrebs. Und nun wird er gerufen, Saraykeht zu retten, indem
er einen Andaten bindet, der die Räder des Handels am Laufen
hält. Und er entwirft mich.
Sieh dir an, wie er mich gestaltet hat, Maati!«, fuhr Samenlos fort
und breitete die Arme aus, als würde er zur Schau gestellt. »Ich bin
schön, klug und selbstbewusst. In alter Zeit schuf Miyani sich die
perfekte Partnerin. Heshai hingegen erschuf den, der er selbst gern
gewesen wäre - und zwar bis in alle Einzelheiten. Zugleich aber
pflanzte er mir seine Vorstellung davon ein, wie sein perfektes Ich
über ihn denken würde. Neben Schönheit, Scharfsinn und
Intelligenz verlieh er mir also auch all den Hass auf die Dichterkröte
Heshai.«
»Ihr Götter«, flüsterte Maati.
»Nein, das war brillant. Denk nur daran, wie sehr er sich hasste.
Und ich trage diese Leidenschaft in mir. Andaten sind absolut
künstlich und sehnen sich nach dem Naturzustand zurück, wie der
Regen sich nach dem Meer sehnt. Und dennoch wohnen in manchem
von uns zwei Seelen. Diesen Widerspruch hat Heshai von Miyani
übernommen. Dreieinigkeit wollte Freiheit, aber auch Liebe. Ich bin
innerlich zerrissen, weil ich Freiheit will, zugleich aber meinen
Meister leiden sehen möchte. Nicht, dass er das geplant hätte! Es ist
ein Detail seines Entwurfs, das er nicht bedacht hat … Du fragst
dich sicher, warum er dich so vernachlässigt, warum er es
vermeidet, dich zu unterrichten oder auch nur mit dir zu reden,
warum er dich bei seinen Erledigungen für den Khai nicht
mitnimmt. Er hat Angst um dich. Um seinen Platz einzunehmen,
musst du den schlimmsten Teil deiner Persönlichkeit kultivieren. Du
musst dich irgendwann so sehr hassen, wie der ekelhafte, traurige,
einsame Heshai sich hasst, den seine Mitschüler hänselten und dem
sie die Bücher zerrissen, der seit zwanzig Jahren mit keiner Frau
mehr geschlafen hat, ohne dafür zu bezahlen, und den selbst die
niedersten Utkhais für eine Peinlichkeit halten, die man leider
hinnehmen muss. Deshalb, mein Junge, hat er Angst um dich. Und
er flieht vor dem, was ihn ängstigt - genau wie vor dem, um das er
sich ängstigt.«
»Du lässt ihn als sehr schwachen Menschen erscheinen.«
»Aber nein. So was wird nun mal aus einem starken Menschen,
der sich antut, was Heshai sich angetan hat.«
»Und warum erzählst du mir all das?«
»Ah, deine erste Frage in diesem Gespräch«, sagte Samenlos.
»Wenn ich antworten soll, musst du meine Bedingung akzeptieren,
also meine Entschuldigung annehmen.«
Maati musterte die dunklen, erwartungsvollen Augen des
Andaten und lachte dann.
»Du erzählst tolle Gespenstergeschichten«, sagte er. »Aber ich
möchte diese Frage gar nicht beantwortet bekommen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde machte Samenlos ein finsteres
Gesicht, lachte dann aber und machte die Gebärde, mit der
Verlierer Siegern gratulieren. Unwillkürlich lachte Maati mit, stand
dann auf und nahm die Glückwünsche mit der dafür vorgesehenen
Dankesgebärde entgegen.
Als er die Treppe hochstieg, rief Samenlos ihm nach: »Heshai wird
dich nie auffordern, ihn zu begleiten. Aber er wird dich auch nicht
wegschicken, wenn du kommst. Nächste Woche nach den
Tempelfeierlichkeiten hält der Khai eine Generalaudienz ab. Dort
solltest du hingehen.«
»Ich wüsste wirklich nicht, mein guter Samenlos, warum ich deiner
Bitte entsprechen sollte.«
»Du sollst ihr auch gar nicht entsprechen«, erwiderte der Andat,
und in seiner Stimme lag eine seltsame Schwermut. »Du solltest stets
tun, wonach dir der Sinn steht. Aber ich fände es schön, dich dort
zu sehen. Wir Gespenster kennen nur wenige Leute, um mal ein
Schwätzchen zu halten. Und ob du mir glaubst oder nicht: Ich wäre
dein Freund. Vorläufig jedenfalls. Solange wir noch die Möglichkeit
dazu haben.«
Sie war, wie sie nun begriff, selbstgefällig geworden. Als Mädchen
und junge Frau hatte Amat gewusst, dass der Stadt nicht zu trauen
war. Als sie noch arm und unbedeutend gewesen war, hatte ihr
Schicksal sich immer wieder rasch gedreht. Eine kurze Krankheit,
eine Verletzung, eine unglückliche Begegnung - dies und vieles
mehr hatte darüber entschieden, wie sie ihr Geld verdiente, wo sie
lebte, wer sie war. Nachdem sie aber viele Jahre für ein und
denselben Arbeitgeber tätig gewesen war und sich wie ihren Herrn
hatte aufsteigen sehen, hatte sie ihre Vergangenheit vergessen - und
war nun nicht vorbereitet.
Zunächst hatte sie zu Freunden gehen wollen, dann aber
festgestellt, dass sie weniger hatte als gedacht. Und alle, die sie gut
genug kannte, um ihnen in dieser Angelegenheit vertrauen zu
können, waren womöglich auch dem mondgesichtigen Oshai und
seinem Messerstecher bekannt. Drei Nächte hatte sie auf dem
Dachboden eines Weinhändlers verbracht, mit dem sie in jungen
Jahren ein Verhältnis gehabt hatte. Er war damals schon verheiratet
gewesen - mit der Frau, die Amat nun ein Stockwerk tiefer rumoren
hörte. Damals hatte niemand von ihrer Liebesbeziehung gewusst.
Also würde wohl auch jetzt keiner darauf kommen.
Das Zimmer - wenn es diesen Namen denn verdiente - war
niedrig und dunkel. Amat konnte nicht mal sitzen, ohne mit dem
Kopf das Dach zu berühren. Die Sonne heizte die Ziegel über ihr so
sehr auf, dass sie sich kaum anfassen ließen. Wilsins Verwalterin lag
matt und elend auf einer groben Strohmatte und gab sich alle Mühe,
keine Geräusche zu machen, die ihre Anwesenheit verraten
könnten.
Sie träumte nicht, doch ihre Gedanken kreisten wieder und wieder
auf der gleichen Bahn, und was ihr dabei durch den Kopf ging, war
dem Wachbewusstsein mindestens so fern wie der
Traumverlorenheit. Marchat war irgendwie in einen traurigen
Eingriff verwickelt worden, der abscheulicherweise eine Frau
betraf, die belogen und betrogen und nach Saraykeht gebracht
worden war, damit der Andat den Eingriff durchführte. Aber
warum? Welches Kind mochte so wichtig sein? Vielleicht war es
wirklich von einem König der Östlichen Inseln gezeugt worden, und
das Mädchen wusste nicht, wessen Kind sie da austrug, und …
Nein. Es gab keinen Grund, sie hierherzubringen. Schließlich
konnte man unerwünschten Nachwuchs auf vielerlei Weise
loswerden. Auf den Andaten war man da wirklich nicht
angewiesen. Also von vorn.
Vielleicht war die junge Frau nicht, was sie zu sein schien.
Womöglich war sie verrückt und doch irgendwie kostbar.
Vielleicht vertrug sie keine Bluttees, und der Andat sollte ihren
Nachwuchs beseitigen, ohne ihr Medizin zu verabreichen. Und das
Haus Wilsin Nein. Wenn es einen echten, menschlichen Grund für
diese Farce gab, hätte Marchat ihn ihr nicht verheimlichen müssen.
Also noch mal von vorn.
Es ging nicht um die Frau, den Vater oder das Kind. So viel hatte
Marchat ihr verraten. Sie alle waren unbedeutend. Dann aber
blieben nur das Unternehmen und der Andat. Also lag die Lösung
dort. Wenn es denn eine Lösung gab und alles nicht nur ein
Fiebertraum war. Vielleicht wollte das Haus Wilsin mit Hilfe des
Khais ein Wunschkind abtreiben und die gemeinsame Schuld
alsdann nutzen, um vom Khai die eine oder andere Gefälligkeit zu
erlangen …
Amat rieb die Daumenballen gegen die Augen, bis sie grüne und
goldene Sterne leuchten sah. Ihre Gewänder waren verschwitzt und
völlig verknäult. Im Stockwerk unter ihr hämmerte jemand, und sie
hörte Holz auf Holz schlagen. Wenn sie an einem Ort mit
angenehmerer Temperatur über eine Lösung hätte nachdenken
können, hätte sie sie längst gefunden - davon war sie überzeugt.
Seit drei Tagen grübelte sie nun darüber nach.
Drei Tage. Und das war nur der Anfang von vier Wochen. Oder
fünf. Sie rollte sich zur Seite und nahm die Wasserflasche, die Kirath
- ihr ehemaliger Liebhaber - ihr am Morgen gebracht hatte. Sie war
schon mehr als halbleer. Ich muss zurückhaltender sein, dachte sie,
nippte an dem lauwarmen Wasser und legte sich wieder hin.
Irgendwann würde es Nacht werden.
Und langsam, quälend langsam, wurde es Nacht. In der
Dunkelheit unterm Dach nahm sie den Abend nur als Wechsel der
Geräuschkulisse wahr, als flüchtigen Geruch eines gekochten
Abendessens, als minimale Abkühlung ihres engen Gefängnisses.
Mehr brauchte sie nicht, um zu wissen, dass sie sich bereitmachen
musste. Sie kauerte neben der Falltür, bis sie Kirath kommen hörte,
der auf einer schmalen Leiter zu ihr hochstieg. Amat öffnete die
Luke, und er tauchte mit einer Blendlaterne aus der Dunkelheit
unter ihr auf. Ehe sie ein Wort sagen konnte, bedeutete er ihr, zu
schweigen und ihm zu folgen. Als sie die Leiter hinunterstieg,
fuhren ihr stechende Schmerzen durch Hüfte und Knie, und doch
war es besser, sich zu bewegen als reglos dazuliegen. So leise wie
möglich folgte sie Kirath durch das dunkle Haus und die Hintertür
in einen kleinen, mit Efeu bewachsenen Garten. So schwül der
Sommerwind auch war - es war herrlich, ihn im Gesicht zu spüren.
Auf einer Steinbank standen Quellwasser in Tonschalen, frisches
Brot, Käse und Obst, und Amat schlang dies alles in sich hinein,
während Kirath redete.
»Ich hab vielleicht etwas gefunden«, sagte er. Seine einst so
geschmeidige Stimme war rau und kratzig geworden. »Ein Bordell
im Vergnügungsviertel, und nicht mal eins von den besten. Aber
der Besitzer sucht jemanden, der seine Bücher prüft und in Ordnung
bringt. Ich hab erwähnt, dass ich jemanden kenne, der womöglich
bereit wäre, diese Arbeit gegen einige Wochen Unterschlupf zu
machen. Er ist interessiert.«
»Ist er vertrauenswürdig?«
»Ovi Niit? Ich weiß es nicht. Er zahlt seinen Wein immer im
Voraus, aber … Vielleicht sollte ich weitersuchen. In ein paar Tagen
zieht eine Karawane nach Norden. Vielleicht gelingt es mir »Nein«,
sagte Amat. »Da oben bleib ich keinen Tag länger. Jedenfalls nicht,
wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.«
Kirath fuhr sich über die Glatze. Im schwachen Lampenlicht wirkte
seine Miene gleichzeitig erleichtert und besorgt. Er wollte Amat so
dringend loswerden, wie sie ihr Versteck unter seinem Dach
verlassen wollte.
»Ich kann dich heute Nacht dorthin bringen, wenn du willst«,
schlug er vor. Das Vergnügungsviertel war ein langes Stück Weg
von Kiraths kleinem Anwesen entfernt. Amat biss in ein Stück Brot
und überlegte. Es wird furchtbar wehtun, doch wenn ich mich auf
meinen Stock und auf Kirath stütze, wird es schon gehen, dachte sie
und nickte.
»Dann hole ich jetzt deine Sachen.«
»Und einen Umhang mit Kapuze«, bat Amat.
Sie hatte sich noch nie so auffällig gefühlt wie auf diesem Marsch
ins Vergnügungsviertel. Dafür, dass es schon so spät war, schienen
ungewöhnlich viele Leute unterwegs zu sein. Aber die Ernte war
schließlich gerade vorbei, und zu dieser Zeit war in Saraykeht
immer besonders viel los. Dass Amat seit Jahren keine
Sommernächte mehr in Teehäusern und auf Straßenfesten verbracht
hatte, bedeutete ja nicht, dass es derlei nicht mehr gab. Anders als
Amat hatte die Stadt sich nicht verändert.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, die an einer
Straßenecke zusammengelaufen war. Dort hatte ein Feuerhüter
seinen Ofen geöffnet und warf mit vollen Händen Pulver in die
Flammen, die daraufhin blau, grün und blendend weiß
aufflackerten. Schweiß ließ die Haut des Feuerhüters glänzen, doch
er lächelte. Und die Zuschauer - allesamt weit genug entfernt, um
nicht von der Hitze geröstet zu werden klatschten begeistert. Amat
erkannte zwei Weber, die plaudernd auf der Straße saßen und der
Vorführung zusahen, ohne Notiz von ihr zu nehmen.
Das Bordell selbst brodelte vor Geschäftigkeit. Selbst draußen auf
der Straße standen die Leute trinkend und plaudernd herum. Amat
blieb ein kleines Stück entfernt an der Einmündung einer Gasse
stehen, während Kirath ins Haus ging. Das Gebäude hatte zwei
Ebenen. Zur Straße hin war es einstöckig, besaß jedoch einen
Dachgarten mit Pavillon. Der rückwärtige Teil des Hauses trug ein
Obergeschoss. Außerdem war eine hohe Mauer zu sehen, hinter der
womöglich ein Garten, sicher aber die Küche lag. Insgesamt gab es
nur wenige und sehr schmale Fenster, die allesamt hoch oben
angebracht waren. Das sollte vermutlich für Ungestörtheit sorgen.
Oder sicherstellen, dass niemand entkommen konnte.
Kiraths Silhouette erschien im von innen beleuchteten
Haupteingang des Hauses. Der Weinhändler winkte sie heran, und
auf ihren Stock gestützt humpelte Amat los.
Der große Saal war voller Spieler, die an Tischen saßen und ihr
Glück bei Karten, Würfeln oder ähnlichem suchten. Der Rauch
seltsamer Kräuter hing wie eine Dunstglocke in der Luft.
Wenigstens fanden keine Schaukämpfe zwischen Menschen oder
Tieren statt. Kirath führte sie durch eine dicke Holztür in den
hinteren Teil des Hauses. Dort befand sich ein weiterer Saal, wo
Huren es sich auf Sesseln und Sitzkissen bequem gemacht hatten.
Die Lampen sorgten für gedämpftes Licht und warfen so gut wie
keinen Schatten. An der Wand murmelte ein Zimmerspringbrunnen.
Die hier versammelten jungen Männer und Frauen wandten ihnen
beim Eintreten den Blick zu, kehrten aber gleich wieder zu ihrer
Unterhaltung zurück, da sofort klar war, dass weder Amat noch
Kirath gekommen waren, um sich einen Lustknaben oder ein
Freudenmädchen auszusuchen. Ein kurzer Flur, von dem rechts und
links Türen abzweigten, führte schließlich um die Ecke und endete
vor einer schweren, eisenbeschlagenen Holztür, die sich vor ihnen
öffnete.
Unvermittelt betrat Amat das schmutzige Hinterhaus. Sie stand in
einem großen Aufenthaltsraum mit Tischen, an dessen rechter Seite
sich Nischen entlangzogen, in denen sich Stoffe, Leder und
Nähbänke befanden. Einige Türen führten aus dem Zimmer, ohne
dass ihr klar war, wohin.
»Hier entlang«, sagte ein Mann. Er war hervorragend gekleidet,
hatte aber schlechte Zähne. Während er sie zwischen den Tischen
aus unbehandeltem Holz hindurch zu einer schmalen Tür führte,
wies Amat mit fragender Gebärde auf ihn, und Kirath nickte. Das
war der Besitzer. Ovi Niit.
Die Geschäftsbücher lagen auf einem niedrigen Tisch im
Hinterzimmer. Amats Laune verschlechterte sich, als sie die
Unterlagen sah, denn es handelte sich um einen Wust einzelner
Blätter und schlecht gebundener Hefte aus billigem Papier. Die
Einträge waren in sechs verschiedenen Handschriften erfolgt, und
jeder dieser Möchtegernbuchhalter schien seine eigene
Vorgehensweise gehabt zu haben. Beträge waren aufgeschrieben,
durchgestrichen und aufs Neue eingetragen worden.
»Hier kann es nur darum gehen zu retten, was zu retten ist«, sagte
Amat und legte das Heft, das sie prüfend in die Hand genommen
hatte, wieder auf den Tisch.
Ovi Mit lehnte hinter ihr im Türrahmen. Seine schweren Lider
erweckten den Eindruck, er werde gleich einnicken, und er roch
nach saurem Schweiß und altem Parfüm. Sie schätzte ihn jung genug,
um ihr Sohn sein zu können.
»Ich könnte diese Papiere binnen vier Wochen einigermaßen in
Ordnung bringen. Vielleicht brauche ich allerdings ein paar Tage
mehr.«
»Wenn ich die Unterlagen erst in einem Monat bräuchte, wäre das
für meine Leute kein Problem. Aber ich brauche sie jetzt«, sagte Ovi
Niit. Kirath, der hinter ihm stand, machte ein ernstes Gesicht.
»Ich kann Euch in einer Woche eine Schätzung vorlegen«, erklärte
Amat. »Die wird aber nur ungefähre Zahlen enthalten, deren
Richtigkeit ich nicht zu garantieren vermag.«
Ovi Niit musterte sie auf eine Weise, die sie trotz der heißen
Nacht frösteln ließ. Er neigte den Kopf erst nach rechts, dann nach
links, als erwäge er seine Möglichkeiten.
»Die Schätzung bekomme ich in drei Tagen«, entgegnete er. »Und
binnen zwei Wochen ist die ganze Arbeit erledigt.«
»Ich feilsche hier doch nicht mit Euch«, sagte Amat und machte mit
einer schroffen, aber nicht beleidigenden Gebärde klar, dass sie
nicht vorhatte, sich alles bieten zu lassen. »Ich sage Euch nur, wie
die Dinge liegen. Diese Arbeit ist in zwei Wochen nicht zu schaffen.
Binnen drei Wochen vielleicht, wenn es gutgeht, eher aber in vier.«
Stille folgte ihren Worten. Dann lachte Ovi Niit leise in sich hinein.
»Kirath hat mir erzählt, du wirst gesucht. Und deine Häscher bieten
eine Belohnung.«
Amat machte eine bestätigende Gebärde.
»Angesichts dessen hätte ich mehr Einsatzbereitschaft von dir
erwartet.« Ovi Na ließ seine Stimme verletzt klingen, doch seine
Augen waren eiskalt.
»Dann hätte ich lügen müssen, und das hilft weder Euch noch
mir.«
Ovi Niit ließ sich diesen Einwand durch den Kopf gehen und
nickte schließlich erst ihr, dann Kirath zu, den er - mit einer
entschuldigenden Geste, die ihr galt - aus dem Zimmer zog. Kaum
war die Tür hinter den beiden geschlossen, lehnte sich Amat an den
Tisch und presste die Hand an die schmerzende Hüfte. Der
Fußmarsch hatte ihre verspannten Muskeln ein wenig gelockert,
doch sie hätte noch immer einen Wochenlohn für die Salbe gegeben,
die in ihrer Wohnung zurückgeblieben war. Jetzt hörte sie Kirath
nebenan im Aufenthaltsraum lachen. Er klang erleichtert, und das
ließ Amat etwas ruhiger werden. Die Dinge schienen gut zu laufen.
Im Hinterkopf flüsterte kurz eine Stimme, das Ganze sei vielleicht
nur eine Falle, und Ovi Niit und Kirath hätten womöglich schon
einen Boten zu dem Mondgesicht Oshai gesandt, während sie noch
arglos wartete. Sie schob diesen Gedanken beiseite. Sie war müde.
Die drei höllischen Tage unterm Dach hatten an ihren Nerven
gezehrt - das war alles. Im Aufenthaltsraum öffnete und schloss sich
eine Tür, und kurz darauf trat Ovi Niit wieder ein.
»Ich habe unserem gemeinsamen Freund einige Silberstücke
gegeben und ihn nach Hause geschickt«, sagte der junge Mann. »Du
wirst bei den Huren schlafen. In der Morgendämmerung gibt es ein
Essen für alle, danach eins am frühen Nachmittag und ein letztes am
späten Abend.«
Amat Kyaan machte eine Gebärde der Dankbarkeit, die Ovi Niit
so förmlich beantwortete, dass es fast sarkastisch wirkte. Als er
dann zuschlug, geschah es so rasch, dass sie seine Hand nicht mal
hatte kommen sehen. Der Ring an seiner Rechten schnitt ihr in die
Lippen. Sie stürzte nach hinten und schlug hart auf. Ihre Hüfte tat
rasend weh.
»Die Schätzung binnen drei Tagen, die Bilanz binnen zwei
Wochen. Und für jeden Tag Verspätung lasse ich dich bluten«, sagte
er mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Wenn du mir noch einmal
sagst, ›wie die Dinge liegen‹, liefere ich dich sofort denen ans
Messer, die dich suchen. Und wenn du auf meinen Fußboden
blutest, machst du das sauber, du abgehalfterte Kaufmannshure.
Verstanden?«
Zuerst war Amat nur überrascht, dann verwirrt, dann verärgert.
Er musterte sie, und sie merkte, wie gierig er auf eine Antwort
wartete. Der Eifer, mit dem er ihrer Erniedrigung entgegensah,
wäre bemitleidenswert gewesen - wie der Anblick eines Kindes, das
mit der Peitsche nach Hunden schlägt -, doch leider war sie es, die
diese Peitsche traf. Sie hatte das Gefühl, sie müsse an ihrem Trotz
und ihrem Stolz ersticken, doch was sie im Mund spürte, war nur
Blut.
Verbeuge dich, dachte sie. Das ist nicht die Zeit, stur zu sein.
Unterwirf dich und überlebe.
Und Amat Kyaan, Verwalterin des Hauses Wilsin, machte eine
Gebärde dankbarer Ergebenheit.
4
»Ich schaff das nicht«, sagte Liat über das Plätschern des Wassers
hinweg. »Es ist einfach alles zu viel.«
Der Waschbereich lag vor den Unterkünften und bestand nur aus
einem offenen Zulauf und einem Abfluss. Itani stand nackt unter
dem Wasserstrahl und schrubbte sich Hände und Arme mit
Bimsstein.
Die Sonne stand zwar noch drei oder vier Handbreit über dem
Horizont, war aber schon hinter den Lagerhäusern verschwunden.
Bald würde es Abend werden. Liat saß auf einer Bank, lehnte sich
an die efeubewachsene Mauer und zupfte an den dicken,
wächsernen Blättern.
»Amat hat alles halb erledigt liegen lassen«, fuhr sie fort. »Die
Verträge mit dem alten Sanya - wie hätte ich wissen sollen, dass er
sie nicht zurückbekommen hat? Schließlich hat sie mir nicht gesagt,
ich solle sie ihm aushändigen lassen. Und die Lieferungen nach Obar
waren nicht abgestimmt darum steht das dritte Lagerhaus nun drei
Wochen halb leer. Und jedes Mal, wenn etwas schiefgeht, kommt
Wilsin-cha und … Er weist mich nicht zurecht, aber er sieht mich
immer so merkwürdig an. Ich bin ihm offenbar peinlich.«
Itani trat unter dem künstlichen Wasserfall hervor. Seine Hände
und Arme waren schmutzigblau und spielten dort, wo er sich die
Haut beinahe wundgescheuert hatte, ins Rötliche. Er und die
anderen Arbeiter hatten den ganzen Tag Farbpigmente zur Färberei
geschafft, und sie alle waren in den verschiedensten Farben davon
gezeichnet. Liat sah ihn verzweifelt an, da seine Fingernägel nun
wochenlang schmutzig aussehen würden.
»Hat er denn gar nichts gesagt?«, fragte Itani und wischte sich das
Wasser von Brustkorb und Armen.
»Doch, sicher. Immerhin habe ich Amats Aufgaben übernommen
und bereite mich obendrein auf eine Audienz beim Khai vor.«
»Ich meine, hat er angedeutet, dass er mit deiner Arbeit nicht
zufrieden ist? Oder bleibst du nur hinter deinen eigenen
Ansprüchen zurück?«
Liat spürte sich rot werden, machte aber eine fragende Gebärde.
Itani runzelte die Stirn und zog frische Sachen an. Das Untergewand
klebte an seinen Beinen.
»Denkst du, er will, dass eine unfähige Mitarbeiterin seine
Angelegenheiten beim Khai vertritt?«, fragte sie. »Warum sollte er?«
»Vielleicht verlangst du ja viel mehr von dir als er? Du hast diese
Aufgabe sehr plötzlich bekommen und bist nicht von Amat
eingearbeitet worden. Ich habe den Eindruck, dass du dich
angesichts dieser Umstände sehr gut schlägst. Und das ist sicher
auch Wilsin-cha bewusst. Wenn er dir nicht sagt, dass er
unzufrieden mit dir ist, dann vermutlich, weil du deine Arbeit
besser machst als du denkst.«
»Du meinst also, ich habe eine Entschuldigung, wenn was
schiefgeht«, stellte Liat fest. »Das tröstet mich wenig.«
Itani setzte sich mit einem resignierten Seufzer neben sie. Sein
Haar war noch tropfnass, und Liat rückte ein wenig von ihm ab,
damit ihr Gewand trocken blieb. An seiner seltsam beherrschten
Miene erkannte sie, dass er der Meinung war, sie sei übertrieben
streng mit sich. Ihr Verdacht, er könnte damit nicht ganz unrecht
haben, machte sie nur noch gereizter.
»Wenn du willst, können wir heute Abend in deine Kammer
gehen. Dort kannst du dich mit den Sachen beschäftigen, die deine
besondere Aufmerksamkeit erfordern«, bot er ihr an.
»Und womit würdest du dich unterdessen beschäftigen?«
»Ich wäre einfach bei dir«, sagte er schlicht. »Die anderen werden
das schon verstehen.«
»Ja, Liebster«, sagte Liat spöttisch. »Entzieh du dich nur der
Gesellschaft deiner Kollegen, weil ich Wichtigeres zu tun habe als
sie! Dann lästern sie nur umso mehr über mich. Sie denken ohnehin
schon, ich würde auf sie herabsehen.«
Itani seufzte erneut und lehnte sich in den Efeu zurück, bis er in
der Mauer zu verschwinden schien. Das Plätschern des Wassers
dämpfte die Geräusche der Stadt. Jeden Moment konnte einer
seiner Kollegen um die Ecke kommen oder aus der Unterkunft
treten, aber noch durften sie sich der Illusion hingeben, allein zu
sein. Normalerweise genoss Liat dieses Gefühl, doch nun war es
unangenehm wie ein Stein im Schuh.
»Du könntest mir ja sagen, dass ich mich täusche«, meinte sie.
»Nein. Sie denken wirklich so über dich. Aber wir könnten
dennoch gehen. Ist doch egal, was sie denken. Die sind nur
eifersüchtig. Wenn wir am Abend die Unterlagen für Wilsin-cha
durcharbeiten, kannst du morgen früh -«
»So funktioniert das nicht. Ich kann nicht einfach vier, fünf
Stunden mehr arbeiten, und die Probleme verschwinden. Da geht es
nicht darum, Baumwollballen im Lagerhaus von einem Ort zum
anderen zu wuchten. Da geht es um komplizierte Dinge. Dinge, die
ein Arbeiter nicht versteht.«
Itani nickte langsam und zupfte an den Efeuranken über seinem
Kopf. Seine sonst so vollen Lippen wurden einen Moment schmal,
und er machte die ergebene Geste eines Menschen, der eine
Belehrung akzeptiert, doch Liat merkte, wie förmlich er dabei war,
und begriff, dass sie ihn beleidigt hatte.
»Ihr Götter, Itani, ich hab es nicht so gemeint. Es gibt bestimmt
vieles, wovon ich keine Ahnung habe … Das Stemmen von Lasten
zum Beispiel. Oder wie man einen Karren zieht. Aber hier geht es
um schwierigere Dinge. Was Wilsin-cha von mir verlangt, ist
wirklich schwierig.«
Und ich versage, dachte sie dann. Merkst du denn nicht, dass ich
versage? »Lass mich dich wenigstens heute Abend ablenken«, schlug
Itani vor, erhob sich und bot ihr die Hand. Sein Blick war noch
immer verhärtet, obwohl er sich den Ärger nicht anmerken lassen
wollte. Liat stand auf, ohne seine Hand zu nehmen.
»In vier Tagen trete ich vor den Khai. In vier Tagen! Ich bin völlig
unvorbereitet. Amat hat mir mit keinem Wort gesagt, wie ich diese
Sache handhaben soll. Ich weiß nicht mal, wann sie zurückkommt.
Und du denkst ernsthaft, dass ein abendliches Besäufnis mit einer
Horde Arbeiter in einem billigen Teehaus mich das vergessen lassen
würde? Wirklich, Tani ich hab das Gefühl, gegen eine Wand zu
reden. Du hörst einfach nicht zu!«
»Ich hab dir die ganze Zeit zugehört. Ich habe nichts anderes
getan.«
»Das hat ja viel genützt! Nach dem, was du verstanden hast, hätte
ich auch ein Hund sein und dich anbellen können!«
»Liat«, begann Itani schroff, machte dann aber eine Pause. Er
wurde hochrot im Gesicht und breitete ergeben die Arme aus. Als
er fortfuhr, war der mühsam beherrschte Ärger in seiner Stimme
unüberhörbar. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Wenn ich
dir helfen soll, deine Aufgaben zur Zufriedenheit von Wilsin-cha zu
erfüllen, dann helle ich dir. Wenn du meine Gesellschaft suchst,
damit ich dich eine Weile von deinen beruflichen Verpflichtungen
ablenke, bin ich gern dazu bereit, …«
»Bereit? Wie reizend«, begann Liat, doch Itani ließ sich nicht
unterbrechen, sondern fuhr mit erhobener Stimme fort.
»… aber wenn du etwas anderes von mir erwartest, dann bin ich
einfacher Arbeiter wohl zu blöd, um es zu begreifen.«
Liat merkte, dass sie einen Kloß im Hals hatte, und hob
abwehrend die Hände. Schwere Verzweiflung senkte sich auf sie
herab. Sie sah ihn an - ihren Itani, der wirklich wütend war. Er
begriff es nicht. Er hatte keine Ahnung. Es konnte doch nicht so
schwer sein zu merken, wie verängstigt sie war! »Ich hätte nicht
kommen sollen«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Liat!«
»Nein«, rief sie, wandte sich ab und trocknete sich dabei mit dem
Ärmel die Tränen. »Es war ein Fehler. Vergnüg du dich mit deinen
Freunden - ich geh zurück in meine Kammer.«
Itani, dessen Ärger nun deutlich gemildert war, legte ihr die Hand
auf den Arm. »Ich komme mit dir, wenn du magst.«
Dann dauert das hier noch länger, dachte sie, sagte aber nichts,
sondern schüttelte nur den Kopf, entzog sich ihm sanft und machte
sich auf den weiten Weg, der sie bergauf und nach Norden zu ihrer
Kammer in Wilsins Anwesen führen würde. Auf halbem Weg hielt
sie am Karren eines Verkäufers, trank kaltes Zitronenwasser und
wartete, um zu sehen, ob Itani ihr gefolgt war. Er war ihr nicht
gefolgt, und sie wusste wirklich nicht, ob sie darüber enttäuscht
oder erleichtert war.
Die junge Frau, die sich ihm als Anet Nyoa vorgestellt hatte, hielt
ihm mit einladender Gebärde eine Pflaume hin. Maati nahm die
Frucht mit förmlichem Dank entgegen und fühlte sich dabei
zunehmend unwohl. Heshai hätte eine halbe Handbreit nach Mittag
von seiner Privataudienz bei Khai Saraykeht zurück sein und wieder
im Garten auftauchen sollen. Jetzt war es schon fast anderthalb
Handbreit später, und Maati saß noch immer auf seiner Bank, von
der er einen schönen Ausblick auf die Ziegeldächer der Stadt und
das Labyrinth der Gassen und Wege zwischen den Gärten und
Palästen hatte. Und um die Dinge noch unangenehmer zu machen,
war Anet Nyoa - Tochter aus einer Familie von Utkhais, die Maati
(wie er glaubte) unbedingt hätte kennen müssen - stehen geblieben,
um sich mit ihm zu unterhalten. Und ihm Obst anzubieten. Und
jedes Mal, wenn es Zeit für sie war, sich zu verabschieden, hatte sie
noch etwas zu reden gewusst.
»Du scheinst jung zu sein«, sagte sie nun. »Ich dachte, Dichter
seien ältere Männer.«
»Ich bin noch in der Ausbildung«, antwortete Maati. »Ich habe
gerade erst angefangen.«
»Und wie alt bist du?«
»Bald sechzehn.«
Die junge Frau machte eine anerkennende Gebärde, die er nicht
recht zu deuten wusste, denn er begriff nicht, was es daran zu
würdigen geben sollte, dass jemand ein bestimmtes Alter hatte.
Dann sah sie ihm auch noch auf eine Art in die Augen, die ihn
vermuten ließ, sie habe ihn womöglich mit jemandem verwechselt.
»Und Ihr?«
»Ich werde bald achtzehn«, antwortete sie. »Meine Familie ist aus
Cetani nach Saraykeht gezogen, als ich noch ein kleines Mädchen
war. Wo lebt deine Familie?«
»Ich habe keine«, erwiderte Maati. »Besser gesagt: Als ich auf die
Schule geschickt wurde, hat man mich … Meine Angehörigen leben
in Pathai, aber ich bin … ich gehöre nicht mehr zur Familie, sondern
bin jetzt ein Dichter.«
Ein Anflug von Bedauern trat in ihre Miene, und sie beugte sich
vor und strich ihm übers Handgelenk.
»Das muss schwer für dich sein«, sagte sie und sah ihm dabei tief
in die Augen. »So allein.«
»Es geht schon«, erwiderte Maati und gab sich alle Mühe, lässig zu
klingen. Aus ihrem Gewand stieg ein schweres, erdiges Aroma -
gerade stark genug, um die Blütenduftwolken des Gartens zu
durchdringen. »Ich hab mich ganz gut eingelebt.«
»Es ist tapfer, dass du dir den Kummer so wenig anmerken lässt.«
Als habe er Maatis Gebet erhört, trat die vollkommene Gestalt des
Andaten aus einem kleinen Gebäude am anderen Ende des Gartens.
Er trug ein schwarzes, mit scharlachroten Fäden durchwirktes
Gewand im Stil des Alten Reiches. Maati sprang auf, schob die
Pflaume in seinen Ärmel und verneigte sich zum Abschied.
»Ich bitte um Entschuldigung. Der Andat ist gekommen, und ich
fürchte, ich werde gebraucht.«
Die junge Frau machte eine zwar zustimmende, aber auch ein
wenig bedauernde Gebärde, doch Maati wandte sich rasch ab und
eilte den Weg hinunter, wobei der weiße Kies unter seinen Füßen
knirschte. Erst als er Samenlos erreicht hatte, sah er sich um.
»Na, mein Lieber, das war ja ein hastiger Rückzug.«
»Wie meinst du das?«
Samenlos hob eine dunkle Braue, und Maati spürte sich erröten.
Der Andat aber winkte ab und sagte: »Heshai ist den ganzen Tag
unterwegs und will, dass du ins Haus zurückkehrst und seine
Bücherregale abstaubst.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du kommst mir also langsam auf die Schliche«, sagte der Andat
lächelnd. »Heshai kommt gleich. Die Audienz beim Khai hat sich
hingezogen, aber die Pläne für den Nachmittag bleiben
unverändert.«
Maati ertappte sich dabei, das Lächeln des Andaten zu erwidern.
Was man auch sonst über ihn sagen mochte: Heshai betreffend, war
sein Ratschlag goldrichtig gewesen. Maati war am nächsten Morgen
aufgestanden, um seinen Meister bei jeder Erledigung zu begleiten,
die der Khai ihm aufgetragen hatte. Das schien dem alten Dichter
zunächst unangenehm, doch schon gegen Mittag hatte er Maati
mehr und mehr erklärt, was der Andat zu tun hatte, wie diese
Aufgaben mit den Sitten am Hof harmonierten und wie segensreich
das Wirken von Samenlos für die Geschäfte der Stadt war. Und in
den folgenden Tagen hatte der Andat einen Ton angeschlagen, der
weiterhin erschreckend respektlos und zu gerissen war, als dass
man ihm hätte trauen können, der ihn aber - anders als Maati zuerst
befürchtet hatte - keinesfalls als bösartige Kreatur erscheinen ließ.
»Du solltest den Alten wirklich in die Wüste schicken. Ich bin ein
viel besserer Lehrer«, sagte Samenlos nun. »Das Mädchen vorhin
zum Beispiel - ich könnte dir beibringen, wie man »Danke, mein
guter Samenlos, aber ich lasse mich von Heshai-kvo unterrichten.«
»Doch wohl nicht bei diesem Thema! Oder willst du nur lernen,
wie man mit Huren handelseinig wird?«
Maati machte eine wegwerfende Geste. In diesem Moment tauchte
Heshai mit zornig gerunzelten Brauen in einem Torbogen auf. Er
bewegte die Lippen, redete also mit sich selbst oder einem
unsichtbaren Zuhörer. Als er Maatis Begrüßungsgebärde sah,
reagierte er mit einem kurzen, gezwungen wirkenden Lächeln.
»Ich habe ein Treffen mit dem Haus Tiyan«, grollte der Dichter.
»Irgendwelche Dummköpfe haben den Khai um eine Privataudienz
gebeten. Es geht um einen Vertrag mit den Westgebieten.
Genaueres weiß ich nicht.«
»Ich würde Euch gern begleiten, wenn es Euch recht ist«, sagte
Maati. Dieser Satz war in den letzten Tagen zu einer stehenden
Redewendung geworden, und Heshai gewährte ihm seine Bitte mit
der für ihn offenbar typischen Zerstreutheit. Der alte Dichter
wandte sich nach Süden und hielt hügelabwärts auf die niedriger
gelegenen Paläste zu. Maati und Samenlos folgten ihm. Vor ihnen
lag die Stadt mit ihren grauen und roten Dächern und ihren Straßen,
die an den Hafen mit den vielen Schiffsmasten führten, hinter denen
das Meer begann. Über all dem aber stand der riesige Himmel, der
alles winzig wirken ließ. Das Ganze wirkte zu bunt und
vollkommen, um wahr zu sein, und schien der Fantasie eines Malers
entsprungen. Durch das Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies und
den fernen Gesang der Gartensklaven hindurch murmelte Heshai
fast unhörbar in sich hinein und machte dazu fahrige Gesten und
nur angedeutete Gebärden.
»Er war beim Khai«, sagte Samenlos ganz leise. »Es muss ein sehr
unerfreuliches Gespräch gewesen sein.«
»Worum ging es denn?«
Diese Frage bekam Maati von Heshai selbst beantwortet.
»Khai Saraykeht ist ein habsüchtiger, eingebildeter Widerling. Wer
den Kern des Problems benennen will, tut gut daran, dort
anzusetzen.«
Maati stolperte und stieß einen erschreckten Laut aus, der
zwischen Husten und Auflachen lag. Als der Dichter sich umdrehte,
versuchte der Junge, irgendeine Gebärde zu machen, brachte aber
nichts Rechtes zustande.
»Was?«, fragte der Dichter herrisch.
»Der Khai Ihr habt gerade …«, stotterte Maati.
»Er ist auch nur ein Mensch«, erwiderte Heshai. »Auch er kann
nicht essen, ohne auf die Toilette zu müssen. Und er redet im Schlaf
wie jeder andere.«
»Aber er ist der Khai!«
Heshai machte eine wegwerfende Handbewegung und kehrte
Maati und dem Andaten wieder den Rücken zu. Samenlos zupfte
den Jungen am Gewand und machte ihm ein Zeichen, sich näher zu
ihm zu beugen, was Maati auch tat, wobei er die Augen auf Kiesweg
und Dichter gerichtet hielt.
»Er hat den Khai gebeten, die Erfüllung eines Vertrags zu
verweigern«, flüsterte Samenlos. »Der Khai hat ihn ausgelacht und
gesagt, er soll nicht kindisch sein. Heshai hatte seine Bitte tagelang
vorbereitet und durfte nicht mal seine ganze Argumentation
vortragen. Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Es war wirklich
ein reizender Augenblick. Aber vermutlich hat der alte Ochse dir
genau deshalb nichts davon erzählt. Er mag es offenbar nicht, wenn
ein Schüler seine Erniedrigung mitbekommt. Ich schätze, er wird
sich heute schwer betrinken.«
»Um was für einen Vertrag ging es denn?«
»Das Haus Wilsin hat die Vermittlung eines traurigen Eingriffs
übernommen.«
»Eines traurigen Eingriffs?«
»Heshai soll meine Wenigkeit zu einer Fehlgeburt nutzen«,
erklärte Samenlos. »Das ist sicherer als Bluttees und funktioniert
auch bei fortgeschrittener Schwangerschaft. Und zur Freude von
Khai Saraykeht ist so ein Eingriff teuer.«
»Und wir Dichter tun so etwas?«, fragte Maati ungläubig.
Samenlos schien diese Frage für ironisch oder einen Witz zu halten
und machte eine Gebärde, die seine Wertschätzung von Maatis
Humor zum Ausdruck brachte. »Wir tun, was uns befohlen wird,
mein Lieber. Wir zwei sind die Marionetten einer Marionette.«
»Es wäre sehr nett, wenn ihr endlich aufhören würdet, so laut
hinter meinem Rücken zu reden«, grollte Heshai.
Maati machte sofort eine entschuldigende Gebärde, doch der
Dichter drehte sich nicht mal um. Nach ein paar Schritten ließ der
Junge die Hände sinken. Samenlos führte schweigend die Hand zum
Mund und biss in etwas Dunkles, in eine Pflaume. Maati sah in
seinen Ärmel, und tatsächlich: Er war leer! Er machte eine so
fragende wie anklagende Gebärde. Das bleiche, vollkommene
Gesicht des Andaten lächelte verschmitzt, und womöglich lag auch
noch etwas anderes in seiner Miene.
»Ich bin gerissen, was?«, sagte er und warf Maati die angebissene
Frucht zu.
Bei den tiefer gelegenen Palästen wurden sie von einem jungen
Mann im gelben und silbernen Gewand des Hauses Tiyan begrüßt
und in ein Besprechungszimmer geführt. Sie setzten sich an einen
mit schwarzen Tintenflecken übersäten Holztisch, tranken kaltes
Wasser und aßen frische Datteln, deren Kerne der Andat für sie
entfernt hatte. Maati folgte den Verhandlungen nur mit halbem Ohr
und beschäftigte sich stattdessen mit dem furchtbaren und kaum
verhohlenen Zorn und Schmerz in der Stimme seines Lehrers und
der klammheimlichen Freude, die sie bei Samenlos ausgelöst hatten.
Er hatte den Eindruck, die Gefühle der beiden hielten einander die
Waage. Heshai, so überlegte er, konnte nicht lächeln, ohne quälende
Unzufriedenheit in Samenlos auszulösen, und der Andat wiederum
konnte nur dann begeistert strahlen, wenn der Dichter verzweifelt
war. Maati stellte sich vor, seinerseits in diesen lebenslangen
emotionalen Kampf verwickelt zu werden, wenn er die Herrschaft
über Samenlos übernähme, und dieser Gedanke bereitete ihm
großes Unbehagen.
Der Tag der großen Audienz hatte grau und nass begonnen. Nach
den Tempelfeierlichkeiten mussten Liat und Marchat Wilsin ziemlich
lange warten, bis sie sich auf den Weg machen konnten, weil alle
Utkhai-Familien Vorrang hatten. Selbst die Feuerhüter als niederste
Utkhais bekleideten hier und bei der großen Audienz einen höheren
Rang als die Kaufleute. Epani brachte seinem Herrn und Liat in der
Zwischenzeit frisches Brot und Obst und geleitete Liat zur Toilette,
wo sich viele Frauen frisch machten.
Es regnete noch, aber nicht mehr so stark. Die Sonne war noch
nicht zum Vorschein gekommen, doch die Wolken hatten ihr
lastendes Grau verloren, und ihr Weiß verhieß klaren Himmel noch
vor Einbruch der Dunkelheit. Und Hitze. Endlich kamen die
Baldachinträger auch zu ihnen, und die beiden Vertreter des Hauses
Wilsin nahmen ihren Platz im Festzug zum Audienzpalast ein.
Genau genommen hatte er keine Mauern. Der Baldachin blieb
zurück, als sie die ersten Bögen erreichten, und Liat glaubte, in
einen Wald aus Marmorsäulen zu treten, dessen Decke so hoch und
luftig war, dass sie das bewölkte Firmament zu tragen schien. Der
Audienzsaal wirkte wie eine Lichtung in einem steinernen Wald,
und der Khai saß reglos und streng auf einem großen Divan aus
geschnitztem Ebenholz. Seine Berater und Diener würden erst bei
der eigentlichen Audienz zu ihm treten. Im Moment hatte er die
weite Fläche vor dem Thron noch für sich allein. Die Utkhais, die
diese Mitte umgaben wie die Besucher einer Theatervorstellung,
redeten nur sehr leise miteinander. Wilsin schien genau zu wissen,
wo er sich mit Liat einzufinden hatte, und steuerte sie sanft zu einer
Bank, auf der bereits andere Händler saßen.
»Weißt du«, sagte er, als sie sich gesetzt hatten, »das Geschäft ist
mitunter eine schwere Bürde. Was man da tun muss, ist längst nicht
immer, was man gern täte.«
»Ich weiß, Wilsin-cha«, entgegnete Liat, und ihr selbstgewisser
Ton klang etwas gezwungen. »Aber ich schaffe das schon.«
Einen Moment schien Wilsin noch etwas sagen zu wollen, doch
dann erklangen Flöte und Trommel, und die Darbietung der
Geschenke begann. Wie es Brauch war, hatte jede Utkhai-Familie
etwas dabei. Diesen Gaben folgten die Geschenke der
Handelshäuser und ausländischen Gäste. Diener in der Livree ihrer
Familie oder ihres Unternehmens traten elegant wie Tänzer mit
Truhen oder Wandteppichen heran und boten dem Khai vergoldete
Früchte, Ballen reiner Seide und andere wunderbare Dinge dar.
Khai Saraykeht musterte die Gaben und akzeptierte sie mit
förmlicher Gebärde. Liat spürte Wilsin das Gewicht verlagern, als
vier Männer seiner Firma dem Herrscher einen Wandteppich
präsentierten, der eine mit Silberfaden gearbeitete Karte der Städte
zeigte, die unter der Herrschaft der Khais standen. Die vier hielten
je eine Ecke des straff gezogenen Gewebes, traten langsam im
Gleichschritt heran und waren dabei so ernst wie Trauernde.
Jedenfalls drei davon. Der Vierte bewegte sich zwar abgestimmt
mit den Übrigen, warf aber ständig verstohlene Blicke in die
Menge. Sein Kopf bewegte sich leicht hin und her, als suche er
jemanden. Liat hörte erheitertes Murmeln. Die versammelten
Männer und Frauen genossen den Auftritt sichtlich. Ihr Herz
verkrampfte sich.
Der vierte Mann war Itani.
Marchat Wilsin musste eine Reaktion bei Liat bemerkte haben,
denn er warf ihr einen raschen Seitenblick zu, der so erstaunt wie
beunruhigt war. Liat aber verzog keine Miene. Sie spürte, dass sie
kurz vor dem Erröten stand, vermochte es aber durch eine
Willensanstrengung noch zu verhindern. Die vier Männer erreichten
den Khai, und die vorderen beiden knieten nieder, damit er das
Geschenk besser ins Auge fassen konnte. Itani, der hinten ging,
schien endlich zu begreifen, wo er war, und straffte sich. Der Khai
verriet kein Anzeichen von Belustigung oder Missfallen, sondern
nahm das Geschenk nur zur Kenntnis. Itani und die drei anderen
gingen davon, und die Träger des Hauses Kiitan traten vor den
Khai. Liat wandte sich an ihren Arbeitgeber.
»Wilsin-cha - gibt es hier vielleicht eine Toilette »Das geht mir
auch so, wenn ich ängstlich bin«, sagte er. »Epani zeigt dir den Weg.
Sei aber bitte zurück, ehe der Khai seine Berater einziehen lässt. So
langsam, wie das hier geht, hast du vermutlich eine halbe Stunde
Zeit, aber verlass dich nicht darauf.«
Liat machte eine dankbare Gebärde und arbeitete sich durch die
Menge hindurch nach hinten. Epani suchte sie nicht, war sich aber
gewiss, dass Itani dort auf sie warten würde. Und tatsächlich
entdeckte sie ihn schnell, wies mit den Augen auf eine Säule und
verschwand dahinter. Er folgte ihr.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, wollte sie wissen, als sie
den Blicken der Übrigen entzogen waren. »Erst gehst du mir
tagelang aus dem Weg, und dann … machst du so was!«
»Ich kenne den vierten Träger«, sagte er und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Er hat mir seinen Platz abgetreten. Ich
wollte dir nicht aus dem Weg gehen. Ich war nur … ich war
verärgert, Liebste. Und ich wollte dich damit nicht belasten. Ich
weiß doch, dass du eine schwere Aufgabe vor dir hast.«
»So stellst du es dir also vor, mich nicht zu belasten? Sein Lächeln
hatte etwas Entwaffnendes. »So zeige ich dir, dass ich hinter dir
stehe«, erwiderte er. »Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Es ist
nur ein Handel, und wenn Amat Kyaan und Wilsin-cha dich dazu
ausersehen haben, dir diese Aufgabe also zutrauen, bedeutet meine
Zuversicht wohl nicht mehr viel. Aber ich wollte sie doch zum
Ausdruck bringen. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.«
Unwillkürlich hatte sie nach seiner Hand getastet und merkte das
erst, als er sie an seine Lippen führte.
»Tani, du hast dir wirklich den schlechtesten Augenblick
ausgesucht, um die nettesten Dinge zu sagen.«
Kaum wechselten Trommel und Flöte den Rhythmus, wandte Liat
sich ab und entzog Itani die Hand. Die eigentliche Audienz stand
unmittelbar bevor. Gleich würden die Berater und Diener zum Khai
kommen Itani trat einen Schritt zurück und machte eine
aufmunternde Gebärde. Dabei sah er sie an und lächelte. Und seine
Fingernägel? Ihr Götter, die waren von den Farbpigmenten noch
immer verfärbt! »Ich warte auf dich«, sagte er, und sie ging los, um
sich möglichst rasch zwischen all den sitzenden Männern und
Frauen hindurchzuschlängeln, ohne dass es aussah, als würde sie
eilen. Kaum hatte sie wieder neben Wilsin-cha Platz genommen,
knieten die beiden Dichter und der Andat vor dem Khai nieder und
nahmen dann als letzte Berater ihre Plätze ein.
»Das war ja gerade noch rechtzeitig«, sagte Wilsin. »Geht es dir
gut?«
Gut? Mir geht’s großartig!, dachte Liat. Dann rief sie sich Amat
Kyaans respektvolle und doch selbstsichere Miene in Erinnerung
und gab sich alle Mühe, ihren Gesichtsausdruck dem ihrer
Ausbilderin gleichen zu lassen.
Maati saß auf einem Samtkissen und verlagerte das Gewicht bald
hierhin, bald dorthin, damit ihm die Beine nicht einschliefen. Khai
Saraykeht saß ein Stück zu seiner Linken auf einem Ebenholzdiwan.
Heshai und Samenlos saßen um einiges näher, und wenn der Khai
Maatis Unbehagen auch nicht bemerken konnte, so entging es seinen
Begleitern sicher nicht. Ein Bittsteller nach dem anderen trat vor
den Khai und brachte sein Anliegen vor.
Am schlimmsten war ein Mann aus den Westgebieten, der einen
kleinen Handkarren dabeihatte, dessen Feuer Wasser zum Kochen
brachte. Der Dampf trieb die Räder des Karrens an, doch das
Gefährt hatte sich selbstständig gemacht und war in die Menge
gerollt, sodass sein Erfinder ihm hatte nachsetzen müssen. Die
Utkhais hatten nur gelacht, als der Mann gewarnt hatte, die Galten
hätten größere Gefährte dieser Art entwickelt und würden sie als
Kriegsmaschinen nutzen; ganze Provinzen seien in kaum einem
Monat überrannt worden.
Der Khai hatte diese Warnung mit der Bemerkung abgefertigt, es
handle sich dabei offenbar um »eine Armee von Teekannen«. Maati
war aufgefallen, dass nur Heshai nicht in das allgemeine Lachen
eingestimmt hatte, und zwar vermutlich nicht, weil er den
lächerlichen Mann ernst nahm, sondern weil es ihn quälte zu
erleben, dass jemand sich derart unmöglich machte. Die Feinheiten
der galtischen Kriegsführung spielten für die Khais keine Rolle:
Solange die Andaten sie beschützten, waren die Kriege anderer
Nationen für sie eine Kuriosität, wie die Knochen uralter
Riesentiere.
Der interessanteste Auftritt war der des zweiten Sohnes von Khai
Udun. Er hatte den Hof mit der Beschreibung in Bann geschlagen,
wie sein jüngerer Bruder versucht hatte, ihn und seinen älteren
Bruder zu vergiften. Die grausigen Einzelheiten vom Tod des
älteren Bruders hatten Maati beinahe zu Tränen gerührt, und Khai
Saraykeht hatte mit einer bewegenden Rede geantwortet, die sicher
viermal länger gewesen war als jede seiner übrigen Stellungnahmen
an diesem Tag. Er hatte erklärt, Gift sei keine Waffe der Khais, und
Saraykehts Ordnungskräfte würden helfen, den Mörder zu
ergreifen.
»Nun«, sagte Samenlos, als die Menge jubelnd aufsprang, damit ist
klar, welcher Sohn des alten Udun nach dem Heimgang des
Patriarchen den Thron wärmen wird. Man könnte fast denken, kein
Ahne unserer Majestät habe je seinem Bruder schlechten Wein
angeboten.«
Maati sah zu Heshai hinüber und rechnete damit, der Dichter
werde seinen Khai verteidigen, doch er beobachtete nur, wie sich
der Sohn von Khai Udun vor dem Ebenholzdiwan niederwarf.
»Das ist alles bloß Theater«, fuhr Samenlos so leise fort, dass
lediglich Maati und Heshai ihn verstehen konnten. »Denkt daran,
dass diese Auseinandersetzungen nur ein Epos sind, das keiner
geplant, geschweige denn verfasst hat und niemand beaufsichtigt.
Deshalb greifen sie immer wieder auf Brudermord zurück. Den hat
es schon oft gegeben, und alle wissen mehr oder weniger, was sie
zu erwarten haben. Und sie tun gern, als sei ein Sohn des alten
Khais anständiger als die anderen.«
»Sei still«, brummte Heshai, und der Andat machte eine
entschuldigende Geste, lächelte Maati aber spöttisch zu, kaum dass
der Dichter sich abgewandt hatte. Heshai hatte wenig zu sagen
gehabt. Er war grimmig gewesen, seit sie am Morgen bei
strömendem Regen das Dichterhaus verlassen hatten, und während
der Audienz schien seine Miene noch strenger zu werden.
Zwei Feuerhüter standen nun vor dem Khai und stritten über
Feinheiten des Stadtrechts, bis der Herrscher eine alte Frau namens
Niania Tosogu aufforderte, ein Urteil zu fällen. Die greise
Historikerin des Hofs erzählte mit brüchiger Stimme Geschichten
aus den Sommerstädten, die bis in die Frühzeit der Khais
zurückführten, als das Reich gerade erst untergegangen war.
Scheinbar ohne diese Geschichten mit dem ihr vorgelegten Fall zu
verknüpfen, verkündete sie eine Entscheidung, die offenbar
niemandem recht war. Kaum hatten sich die Feuerhüter gesetzt, trat
ein alter Galte in grünem und bronzenem Gewand mit einem
Mädchen vor, das höchstens ein Jahr älter als Maati sein mochte und
in den gleichen Farben gekleidet war wie der Galte. Während sein
Benehmen allerdings sehr respektvoll war, wirkten ihre Miene und
ihr Gebaren beinahe überheblich. Selbst als sie eine ehrerbietige
Gebärde machte, tat sie das erhobenen Hauptes und mit einer in die
Höhe gezogenen Augenbraue.
»So eine schlechte Schauspielerin«, murmelte Samenlos.
Heshai, der neben ihm saß, überhörte diese Bemerkung, beugte
sich vor und fasste die beiden näher ins Auge. Samenlos hingegen
lehnte sich zurück und musterte den Dichter wie die beiden
Bittsteller gleichermaßen interessiert.
»Marchat Wilsin«, sagte Khai Saraykeht, und seine Stimme trug so
weit wie die eines Bühnenschauspielers. »Ich habe deine Bitte
gelesen. Das Haus Wilsin hat bisher keine traurigen Eingriffe
vermittelt.«
»Die Zeiten sind schlecht, Exzellenz«, erwiderte der Galte, und
seine Gebärde ließ trotz aller Förmlichkeit an einen Straßenkünstler
denken, der nach geglückter Vorführung den Hut herumgehen lässt.
»Wir Galten müssen jede Menge Teekannen herstellen.«
Ein kurzes Lachen ging durch die Menge, und der Khai machte mit
einer Gebärde klar, dass er den Scherz zu schätzen wusste. Heshais
Stirn legte sich in noch tiefere Falten.
»Wer verhandelt für dein Haus?«, fragte der Khai.
»Ich, Exzellenz«, sagte das Mädchen und trat vor. »Ich bin Liat
Chokavi, die Helferin von Amat Kyaan. Sie ist verhindert und hat
mich gebeten, das Geschäft in die Wege zu leiten.«
»Und ist auch die Frau zugegen, derentwillen ihr hier seid?«
Dem Alten schien diese Frage unangenehm, doch er antwortete,
ohne zu zögern. »Ja, Exzellenz. Sie versteht zwar kaum Khaiate,
aber wir haben einen Übersetzer, falls Ihr mit ihr sprechen wollt.«
»Das will ich«, sagte der Khai. Maatis Augen wanderten von den
beiden Bittstellern zu der Menge, aus der nun geführt von einem
angenehm wirkenden, mondgesichtigen Mann im schlichten dunklen
Dienergewand - eine junge Frau in seidenen Kleidern trat. Ihre
Augen waren ungemein hell, ihre Haut erschreckend weiß, und der
Schnitt ihres Kleides sollte den deutlich sichtbaren Mutterbauch
verbergen. Heshais Anspannung nahm noch mehr zu, und er beugte
sich mit schwer deutbarer Miene weiter vor.
Die junge Frau erreichte den Alten und seine jugendliche
Verwalterin, lächelte und nickte ihnen auf Aufforderung des
Übersetzers zu.
»Du bist gekommen, mich um Beistand zu bitten«, begann der
Khai.
Die Frau blickte ihn so fasziniert an wie ein Kind das Feuer. Ihr
Übersetzer murmelte ihr etwas zu. Sie sah ihn ganz kurz an, fasste
dann wieder den Khai ins Auge und antwortete dem Mann neben
ihr.
»Exzellenz«, sagte der Übersetzer, »die Dame stellt sich Euch als
Maj Toniabi aus Nippu vor und dankt für diese Audienz und für
Eure Hilfe in der Stunde ihrer Not.«
»Und du bist damit einverstanden, dass das Haus Wilsin deine
Angelegenheiten vertritt?«, fragte der Khai, als habe die Frau selbst
gesprochen.
Erneut verständigte sich die Angeredete flüsternd mit ihrem
Übersetzer, wobei sie den Blick nur kurz vom Khai abwandte. Sie
sprach leise, und Maati konnte kaum etwas verstehen, doch es klang
musikalisch und fließend.
»Ja, Exzellenz«, sagte der Übersetzer.
»Gut«, erklärte der Khai. »Ich akzeptiere den durch das Haus
Wilsin gebotenen Betrag und gewähre Liat Chokavi eine Audienz
beim Dichter Heshai, um die Einzelheiten zu regeln.«
Der Alte und das Mädchen an seiner Seite machten eine dankbare
Gebärde, und alle vier zogen sich in die Menge zurück. Heshai ließ
ein langes, leise zischendes Seufzen hören. Samenlos führte die
Hände zusammen und drückte die Zeigefinger an den Mund. Auf
seinen Lippen lag ein Lächeln.
»Tja«, sagte Heshai. »Nun ist es nicht mehr zu vermeiden. Ich
hatte zwar gehofft …« Der Dichter machte eine wegwerfende
Handbewegung, als verabschiede er Träume oder verlorene
Möglichkeiten.
Maati verlagerte sein Gewicht einmal mehr, denn sein linkes Bein
war eingeschlafen. Die Audienz dauerte noch anderthalb Handbreit,
drehte sich aber nur noch um Kleinigkeiten, bis der Khai sich erhob
und die Veranstaltung mit einer zeremoniellen Gebärde beendete.
Zu dem von Flöte und Trommel gespielten Lied, mit dem die
Audienz traditionell ausklang, schritt der Herrscher und oberste
Repräsentant der Stadt aus der Säulenhalle. Seine Berater folgten
ihm, wobei Maati und Samenlos sich dicht hinter Heshai hielten, der
am feierlichen Auszug der Würdenträger allenfalls flüchtig
interessiert schien. Die drei gingen gemeinsam durch den
Säulenwald und erreichten erst eine große Eichentür, dann einen
kleineren Saal, in dem Dutzende Flure und Treppen
zusammenliefen. Vier Sklaven sangen auf einer weiter oben
gelegenen Galerie sanfte, mehrstimmige Lieder, und ihre Stimmen
klangen traurig und schön. Heshai setzte sich auf eine niedrige Bank
und blickte ins Leere. Samenlos stand reglos und mit verschränkten
Armen einige Schritte von ihm entfernt.
Maati ging langsam zu seinem Lehrer. Der Dichter blickte ihn kurz
an und sah dann weg. Bevor er Heshai ansprach, bat Maati ihn mit
der entsprechenden Gebärde um Verzeihung.
»Ich verstehe das nicht, Heshai-kvo«, begann er. »Es muss doch
einen Weg geben, sich diesem Geschäft zu verweigern. Wenn der
Dai -«
»Der Dai mischt sich nicht in die tägliche Kleinarbeit der Khais
ein«, erklärte Heshai.
Maati kniete nieder. Immer mehr Utkhais kamen durch den Saal.
Einige trugen Schriftrollen und Papierstapel und sprachen wohl über
deren Inhalt.
»Ihr könntet Euch ja weigern.«
»Und wie würde dann über mich geredet?«, fragte Heshai und
zwang sich zu einem müden Lächeln. »Mach dir keine Gedanken,
Maati. Ich bin nur ein alter Mann, den dummerweise die Wehmut
gepackt hat. Es ist eine unangenehme Aufgabe, zugegeben, aber es
gehört nun mal zu meiner Arbeit.«
»Die überflüssigen Kinder reicher Frauen loszuwerden«, sagte
Samenlos dreist wie zuvor, aber mit einer Schärfe, die Maati noch
nicht gehört hatte, »ist also reines Tagesgeschäft, ja?«
Heshai sah zornig auf, ballte die Fäuste und runzelte grimmig
konzentriert die Brauen. Ehe Maati sich zu Samenlos umdrehen
konnte, hörte er ihn bereits zu Boden gehen. Der Andat lag auf dem
Bauch und hielt die Hände so unterwürfig und entschuldigend
gespreizt, wie er es nie von sich aus getan hätte. Heshais Lippen
zitterten.
»Ja, ich hab das schon getan«, sagte er mit fester Stimme. »Und
das wünscht sich keiner. Weder die Schwangere noch irgendwer
sonst. Der traurige Eingriff bestätigt seinen Namen immer wieder.«
»Heshai-cha?«, fragte eine Stimme.
Sie gehörte der jungen Frau, die bei der Audienz mit dem Alten
erschienen war. Nun stand sie neben dem am Boden liegenden
Andaten, und die seltsame Szene, deren Zeugin sie war, ließ ihre
Überheblichkeit wanken. Maati stand auf und machte eine
Begrüßungsgebärde. Heshai lockerte den spirituellen Griff, mit dem
er Samenlos zu Boden geworfen hatte, und der Andat durfte sich
erheben. Er schüttelte unsichtbaren Staub aus den Kleidern, warf
dem Dichter einen zutiefst vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich
dann an die junge Frau.
»Liat Chokavi«, sagte er und berührte mit vollkommenen Fingern
ihre Handgelenke, als sei er schon lange mit ihr befreundet. »Wir
freuen uns, dich zu sehen, stimmt’s nicht, Heshai?«
»Wir sind entzückt«, stieß der Dichter hervor. »Es geht doch
nichts darüber, mit schlecht ausgebildeten Lehrlingen verhandeln zu
müssen.«
Der Schreck in der Miene des Mädchens war sofort wieder
verschwunden. Ihre selbstsichere Maske war nur kurz ins Wanken
geraten, ihre Augen weiteten sich etwas, und ihre Lippen wurden
schmal. Dann war sie wie zuvor. Doch Maati wusste (oder glaubte
zu wissen), dass Heshais Bemerkung sie getroffen hatte.
Heshai stand auf und machte jene Gebärde, mit der man
Geschäftsverhandlungen zu eröffnen pflegte, doch seine eisige
Höflichkeit war aufs Neue beleidigend. Maati stellte plötzlich fest,
dass er sich seines Lehrers schämte.
»Zum Besprechungszimmer geht es da lang«, sagte Heshai, drehte
sich um und marschierte davon. Samenlos lief ihm nach und
kümmerte sich nicht darum, ob Liat Chokavi und Maati mit dem
forschen Tempo des Dichters Schritt halten konnten.
»Es tut mir leid«, sagte Maati leise. »Der traurige Eingriff setzt
ihm zu. Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen.«
Liats misstrauischer Blick wurde sanfter, als sie seine
Bekümmerung sah, und sie machte eine rasche, flüchtig ausgeführte
Dankesgebärde.
Das Besprechungszimmer war klein und unangenehm warm. Das
einzige Fenster war geschlossen, und Heshai stieß es verärgert auf.
Er setzte sich an den niedrigen Steintisch und winkte Liat auf den
Sitz vor ihm. Sie kam verlegen näher, nahm Platz und zog einige
Papiere aus dem Ärmel. Samenlos stand beim Fenster und sah mit
hämischem Grinsen auf den Dichter herab, der die Dokumente zu
sich herüberzog.
»Kann ich mich nützlich machen, Heshai-kvo?«, fragte Maati.
»Hol mir Tee«, erwiderte der Dichter, ohne aufzublicken. Maati
sah erst das Mädchen und dann seinen Meister an. Samenlos
bemerkte seinen Widerwillen und runzelte die Stirn, doch dann
erblühte Verständnis in seinen schwarzen Augen, und seine
vollkommenen Hände baten um Erlaubnis, ohne dass Maati wusste,
wofür.
»Mein guter Heshai, Ihr habt einen besseren Schüler als Ihr
verdient. Ich habe den Eindruck, er möchte Euch nicht alleinlassen«,
sagte Samenlos mit einem boshaften Lächeln. »Er fürchtet wohl, Ihr
werdet diese, zarte junge Frau weiter schikanieren. Wenn es nach
mir ginge - ich würde gern erleben, wie Ihr Euch als Widerling
aufführt, aber Heshai machte eine Handbewegung, und schon
zitterte der Andat vor Schmerz oder etwas vergleichbar
Unangenehmem. Erneut machte er eine entschuldigende Gebärde,
doch Maati sah, wie finster der Dichter dreinblickte. Samenlos hatte
erfolgreich an das Gewissen seines Meisters appelliert, dem
Mädchen gegenüber freundlicher zu sein. Jedenfalls vorläufig.
»Bring Tee. Und zwar auch für unseren Gast«, sagte Heshai und
wies auf Liat.
Maati machte eine dienstfertige Gebärde, fing beim Gehen einen
Blick aus den schwarzen Augen des Andaten auf und nickte ihm
dankbar zu. Samenlos antwortete mit dem kleinstmöglichen
Lächeln.
Die Galerien und Korridore waren voller Händler, Utkhais,
Diener, Sklaven und Wächter beiderlei Geschlechts. Maati schritt
eilig aus und hielt dabei nach einem Lakaien Ausschau. Er folgte
dem ihm bekannten Weg in den großen Saal, wollte so rasch wie
möglich zurück ins Besprechungszimmer. Im großen Saal war so viel
Trubel wie auf den Gängen, womöglich noch mehr. Unterhaltungen
schwirrten allerorten durch die Luft. Flüchtig sah er die hellgelbe
Livree eines auf den Haupteingang zuhaltenden Lakaien und setzte
ihm so schnell wie möglich nach.
Auf halbem Weg streifte er einen jungen Mann, dessen Gewand
genauso grün und bronzefarben war wie das von Liat Chokavi und
Marchat Wilsin, dessen Hände aber fleckig und schwielig waren
und dessen Schultern ihn als Arbeiter auswiesen. Weil Maati
glaubte, er könnte seinen Auftrag auf diesen Mann abwälzen, hielt
er an und packte ihn beim Arm. Das schmale Gesicht kam ihm
bekannt vor, doch erst als der Lakai etwas sagte, erbleichte der
Dichterschüler.
»Verzeihung«, murmelte der Arbeiter und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Ich weiß, dass ich draußen hätte warten
sollen, doch ich hatte gehofft, Liat Chokavi Er stockte, denn was er
in Maatis Augen sah, verunsicherte ihn.
»Otah-kvo?«, keuchte Maati.
Nach einem Moment erschrockenen Schweigens hielt der Arbeiter
ihm den Mund zu und zog ihn in einen Seitengang. »Sag kein Wort«,
raunte Otah. »Kein Wort!«
6
Jahre fielen von Otah ab, und die Ereignisse seines Lebens wurden
unwirklich, als er seinen eigentlichen Namen hörte. All die schwülen
Tage, die er an Saraykehts Küste geschuftet hatte, der ständige
Kampf um Nahrung und ein Dach überm Kopf, die hungrig im
Straßengraben verbrachten Nächte - sein Leben als Itani Noyga fiel
von ihm ab, und er erinnerte sich des Jungen, der glühend vor
Gewissheit und Selbstgerechtigkeit über kalte Frühlingsfelder zur
Landstraße getrottet war. Er glaubte gar, wieder genau dort zu
sein, und die Intensität seiner Erinnerung machte ihm Angst.
Der junge Dichter begleitete ihn schweigend und schien genauso
erschüttert wie Otah.
Sie fanden ein leeres Zimmer. Otah verriegelte die Tür des kleinen
Besprechungsraums, dessen Fenster auf einen abgelegenen Hof
voller kunstvoll beschnittener Bäume wies. Obwohl es weiterhin
regnete und die Tropfen auf die Blätter fielen, wirkte das Zimmer
hell. Otah setzte sich auf den Tisch, legte die Hände an den Mund
und betrachtete den Jungen. Er war etwa vier Jahre jünger als er -
älter mithin, als Otah gewesen war, als er sich einen neuen Namen
und eine neue Lebensgeschichte ausgedacht und sich auf Jahre ans
Haus Wilsin gebunden hatte. Sein Gegenüber hatte ein energisches
Kinn und Hände, die seit Jahren keine harte Arbeit kannten. Noch
verwirrender aber war, dass in seiner Miene die Freude eines
Menschen lag, der gerade einen Schatz gefunden hatte.
Otah wusste nicht, wo er anfangen sollte.
»Du … du bist also auf der Schule gewesen?«
»Maati Vaupathai«, sagte der Dichter. »Ich war in einer der
jüngsten Klassen, kurz bevor Ihr … gegangen seid. Ihr hattet uns im
Gemüsegarten Beete umgraben lassen, aber wir waren ziemlich
schlecht. Ich hatte Blasen an den Händen Plötzlich erkannte Otah
das Gesicht wieder. »Ihr Götter«, sagte er. »Das bist du gewesen?«
Maati Vaupathai, den Otah einst gezwungen hatte, Erde zu essen,
machte eine bestätigende Gebärde und strahlte dabei vor Glück,
wiedererkannt worden zu sein. Otah lehnte sich zurück.
»Bitte - du darfst niemandem erzählen, wer ich bin. Ich habe nie
das Brandmal bekommen. Wenn meine Brüder mich finden »…
werden sie versuchen, Euch zu töten«, beendete Maati den Satz.
»Das ist mir klar. Ich werde es niemandem sagen. Aber … Otah-kvo
»Itani«, unterbrach ihn Otah. »Ich heiße jetzt Itani.«
Die gehorsame Gebärde, die Maati daraufhin machte, war die
eines Schülers, wie Otah sie oft gesehen hatte, als er noch zu den
Schwarzkutten gehörte.
»Itani also. Damit hätte ich nicht gerechnet. Euch hier zu
begegnen, meine ich. Was macht Ihr hier?«
»Ich habe mich beim Haus Wilsin verdingt. Als Arbeiter.«
»Als Arbeiter?«
Otah machte eine bestätigende Gebärde. Der Dichter blinzelte, als
wollte er ein Wort einer fremden Sprache verstehen. Als er fortfuhr,
klang seine Stimme beunruhigt und womöglich enttäuscht.
»Es heißt, der Dai habe Euch zum Schüler erwählt, und Ihr hättet
Euch ihm verweigert.«
Eine schlichte Beschreibung, dachte Otah. Wenige Worte, die den
Lauf enthielten, den sein Leben genommen hatte. Damals waren
ihm die Geschehnisse deutlicher und doch vielschichtiger erschienen
- und eigentlich erschienen sie ihm noch immer so.
»Das ist wahr«, sagte er.
»Was … verzeiht, Otah-kvo, aber was ist passiert? - »Ich bin nach
Süden gezogen und habe Arbeit gefunden. Mir war klar, dass ich
einen neuen Namen brauche. Also hab ich mir einen ausgedacht …
Das ist vermutlich alles. Ich habe mich beim Haus Wilsin für
mehrere Jahre verpflichtet. Die Zeit ist bald um, und ich weiß noch
nicht, was ich dann tun werde.«
Maati nickte, als würde er verstehen, doch Otah sah an der
gerunzelten Stirn, dass er ihn ganz und gar nicht verstand. Er
seufzte, beugte sich vor und suchte nach Worten, um seinem
Gegenüber das Leben zu erklären, das er gewählt hatte. Zu den
übrigen Überraschungen des Tages musste er auch noch beunruhigt
feststellen, dass ihm die Worte fehlten. In all den Jahren seit seinem
Weggang hatte er nie versucht, seine Entscheidung zu erklären. Es
hatte ja auch nie jemanden gegeben, dem er sie hätte erklären
müssen.
»Und du?«, fragte er. »Du warst offenbar sein Schüler.«
»Der alte Dai starb kurz nach Eurem Verschwinden. Noch bevor
ich zu den Schwarzkutten kam. Tahi-kvo trat an seine Stelle, und ein
neuer Lehrer kam zu uns - Naani-kvo. Er war härter als Tahi-kvo.
Es hat ihm wohl mehr Spaß gemacht.«
»Das ist wirklich krank.«
»Nein«, sagte Maati. »Es ist nur schwer. Und grausam. Aber es
muss sein. Es steht so viel auf dem Spiel.«
In Maatis Stimme lag eine Zuversicht, die nach Otahs Eindruck
nicht von Überheblichkeit herrührte. Der Arbeiter machte eine
zustimmende Gebärde, doch Maati war offenbar klar, dass er es
nicht so meinte. Also tat er seine Geste mit einem Achselzucken ab.
»Womit hast du dir die Schwarzkutte eigentlich verdient?«
Maati errötete und sah weg. Auf dem Gang lachte jemand. Es war
unglaublich: Da hatte er kaum Zeit mit diesem Jungen verbracht,
den er praktisch gar nicht kannte, und doch hatte er fast schon
vergessen, wo sie waren.
»Ich hab Naani-kvo nach Euch gefragt«, sagte Maati. »Das kam
sehr schlecht an bei ihm. Ich musste eine Woche den großen Saal
wischen, aber dann hab ich erneut gefragt, und wieder musste ich
eine Woche den Boden putzen. Eines Abends habe ich ihn dann
geschrubbt, ohne dass es mir befohlen worden war. Milah-kvo
fragte mich, was ich da täte, und ich erklärte ihm, ich würde am
nächsten Morgen ohnehin wieder fragen und wolle darum schon
vorher einen Teil der Arbeit erledigen. Er fragte mich, ob ich
wirklich ein so begeisterter Schrubber sei. Dann hat er mir die Kutte
angeboten.«
»Und du hast sie genommen.«
»Natürlich«, sagte Maati.
Sie schwiegen eine Weile. Otah sah das Leben vor sich, das er
verschmäht hatte, und glaubte, im Gesicht des Jungen Bedauern zu
erkennen. Oder zumindest Zweifel.
»Du darfst niemandem von mir erzählen«, sagte Otah. »Das werde
ich nicht. Ich schwöre.«
Otah hob die Hand zum Schwur, und Maati tat es ihm nach. Sie
fuhren zusammen, als jemand an die Tür klopfte.
»Wer ist da drin?«, wollte eine Männerstimme wissen. »Das
Zimmer ist uns zugeteilt.«
»Ich muss gehen«, erklärte Maati. »Sonst versäume ich meine
Verhandlung mit … Liat. Sagtet Ihr nicht, Ihr wartet auf Liat
Chokavi? »Macht sofort die Tür auf!«, forderte die Stimme im Gang
mit Nachdruck. »Das ist unser Zimmer.«
»Sie ist meine Freundin«, sagte Otah und erhob sich. »Komm.
Gehen wir, ehe sie wegen dieser Sache zum Khai laufen.«
Die Männer vor der Tür trugen die fließenden Gewänder und
teuren Sandalen der Utkhais. Die Empörung und der Ärger, die auf
ihren Gesichtern erschienen, als Otah - ein einfacher Arbeiter und
obendrein bei einem galtischen Unternehmen beschäftigt - die Tür
öffnete, verwandelte sich in bloße Ungeduld, als sie Maati im
Dichtergewand sahen. Beide verschwanden den Flur entlang.
»Otah-kvo«, begann Maati, als sie den noch immer belebten Saal
erreichten.
»Ich heiße Itani.«
Maati machte eine entschuldigende Geste und wirkte beschämt.
»Itani. Ich … ich würde gern ein paar Dinge mit Euch besprechen,
und wir …«
»Ich komme auf dich zu«, versprach Otah. »Aber erzähl nichts von
dem hier. Niemandem. Vor allem nicht dem Dichter.«
»Nichts und niemandem.«
»Gut, ich komme auf dich zu. Und jetzt geh.«
Maati machte die wohl förmlichste Abschiedsgebärde, die je ein
Dichter einem Arbeiter entboten hatte, und ging dann sichtlich
widerstrebend davon. Otah merkte, dass ihn eine ältere Frau im
Utkhai-Gewand neugierig musterte, bedachte sie mit einer
ehrerbietigen Gebärde, wandte sich um und verließ das Gebäude.
Der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Die Sonne drang durch die
Wolken, und ihre Strahlen legten sich wie eine Hand auf seine
Schulter. Die anderen Diener, die Geschenke oder Zeltstangen
getragen hatten, warteten in einem der Gärten. Epani, Marchat
Wilsins Haushofmeister, saß bei ihnen und schien sich bestens zu
amüsieren. Die Hürden des Tages waren gemeistert, und die
Männer waren unbekümmert. Tuui Anagath, ein älterer Mann, der
Otah schon kannte, seit er Itani geworden war (also sein ganzes
falsches Leben lang), nickte ihm zur Begrüßung zu.
»Hast du schon gehört?«, fragte er, als Otah näher kam. »Nein,
was denn? »Der Khai stellt einen Suchtrupp zusammen, der Uduns
Sohn jagen soll. Du weißt schon - den Kerl, der seinen jüngeren
Bruder vergiftet hat. Die Utkhais sind ganz wild darauf, dabei zu
sein. Und viele Hunde sind des Hasen Tod.«
Otah zeigte sich erfreut, da er wusste, dass dies von ihm erwartet
wurde. Dann setzte er sich unter einen Baum voller winziger, süß
duftender Birnen und lauschte. Alle redeten über die bevorstehende
Jagd. Er kannte diese Männer und hatte lange mit ihnen gearbeitet.
Er traute einigen von ihnen zwar, keinem aber so sehr, dass er ihm
die Wahrheit erzählt hatte. Bis jetzt jedenfalls. Sie sprachen über den
Tod von Khai Uduns Sohn wie über einen Hundekampf. Es
kümmerte sie nicht, dass der Junge in die Verhältnisse, die ihm zum
Verhängnis geworden waren, hineingeboren wurde. Otah war klar,
dass sie die Ungerechtigkeit seines Schicksals nicht zu erkennen
vermochten. Für Männer aus kleinen Verhältnissen, die jede
Kupfermünze, die sie für Tee, Suppe und Brot ausgaben, dreimal
umdrehen mussten, waren die Khais beneidenswert und keinesfalls
zu bedauern. Sie alle würden sich abends in Kammern legen, die sie
mit anderen Männern teilten, oder in winzige Wohnungen
zurückkehren und dabei an die weitläufigen Paläste denken, in
denen sie Dienst taten, an die süß duftenden Gärten und die Lieder
der Sklaven. Sie empfanden kein Mitgefühl für wohlhabende und
mächtige Familien Für Leute also, dachte Otah verdrossen, die aus
der gleichen Gesellschaftsschicht stammen wie ich.
»Na?«, sagte Epani und stieß ihn mit der Schuhspitze an. »Welche
Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Itani? Du siehst traurig
aus.«
Otah rang sich ein Lächeln ab. Den Vergnügten spielen, das konnte
er gut. Nett, ja bezaubernd zu sein, beherrschte er prächtig.
Zugleich machte er eine entschuldigende Gebärde.
»Verderbe ich euch die Laune?«, wollte er wissen. »Ich bin gerade
aus dem Palast geworfen worden. Das ist alles.«
»Rausgeworfen hat man dich?«, fragte Tuui Anagath, und auch die
anderen wandten sich plötzlich neugierig zu ihm um.
»Ich war gerade dort, hab mich um meine Angelegenheiten
gekümmert und Liat nachgeschnüffelt!«, rief ein Zuhörer lachend.
»…und dabei offenbar Aufmerksamkeit erregt«, fuhr Otah
unbeirrt fort. »Eine Frau aus dem Haus Tiyaan fragte mich, ob ich
nicht Geschäfte für das Haus Wilsin mache. Ich verneinte, doch sie
hörte nicht auf, mit mir zu reden. Sie war sehr nett. Offenbar aber
hat sich ihr Liebhaber über unser Gespräch geärgert und mit den
Dienern des Palasts geredet …«
Otah zuckte die Achseln, als sei er die verfolgte Unschuld, und
brachte die anderen damit zum Lachen.
»Armer Itani«, sagte Tuui Anagath. »Selbst mit einem Dolch
könntest du dich der Zudringlichkeiten der Damenwelt nicht
erwehren, was? Wir können dir einen Gefallen tun und allen Frauen
sagen, du hättest dich unten herum wundgearbeitet und müsstest
jeden Monat drei Tage Kamillenwickel zwischen den Beinen
tragen.«
Jetzt lachte auch Otah. Wieder hatte er gewonnen. Er war einer
von ihnen - ein gewöhnlicher Mann wie sie. Sie scherzten und
plauderten noch eine halbe Handbreit. Dann stand er auf, reckte
sich und wandte sich an Epani.
»Braucht Ihr mich noch?«
Der dünne Mann blickte überrascht drein, schüttelte aber den
Kopf. Otahs Verbindung mit Liat war kein Geheimnis, doch da auch
Epani auf dem Anwesen von Wilsin-cha wohnte, wusste er besser
als die Übrigen, wie nah die beiden einander standen. Als Otah eine
Abschiedsgeste machte, tat er es ihm nach.
»Aber Liat dürfte gleich mit den Dichtern fertig sein«, sagte Epani.
»Willst du nicht auf sie warten?«
»Nein«, antwortete Otah lächelnd.
Zwei Tage später trat Otah nach der Arbeit - und nachdem seine
Freunde zu ihren abendlichen Vergnügungen aufgebrochen waren -
nachdenklich aus seiner Unterkunft. Die Straßen der Stadt funkelten
im Orange der Abendsonne, die die Mauern und Dächer in warmes
Licht tauchte, während im Osten schon erste Sterne am kobaltblauen
Himmel glitzerten. Otah stand auf der Straße und beobachtete, wie
der Tag in die Nacht überging. Glühwürmchen tanzten wie
Kerzenflammen. Die Lieder der Bettler änderten ihren Charakter,
als Nachtschwärmer die Straßen zu bevölkern begannen. Das
Vergnügungsviertel befand sich zu seiner Rechten und war so
festlich beleuchtet wie eh und je. Vor ihm lag der Hafen, wenngleich
Arbeiterunterkünfte anderer Unternehmen ihm die Sicht darauf
versperrten. Und irgendwo weit links von ihm hinterm Stadtrand
mündete der große, aus dem Norden kommende Fluss ins Meer.
Otah rieb sich langsam die Hände, während das Licht immer röter
und dann grau wurde. Einmal mehr war die Sonne hinter dem
Horizont verschwunden, und nun standen überall am Himmel
Sterne. Er vermutete Liat in ihrer Kammer in Wilsins Anwesen, das
unterhalb der Paläste des Khai lag.
Bei seinem Weg hügelan änderte sich das Aussehen der Straßen.
Das Arbeiterviertel war eigentlich recht klein. Otah ließ es rasch
hinter sich und kam durch Gassen voll kleiner Geschäfte. Ihnen
folgten die Häuser der Weber, aus deren Fenstern das Klacken der
Webstühle drang. Er passierte Gruppen von Männern und Frauen
und kam durch die Perlenstraße und dann durchs Blutviertel, in
dem Ärzte und Kurpfuscher um Kranke und Verletzte und die
Verabreichung teurer Arzneien konkurrierten.
Bald zogen sich große Anwesen wie Dörfer den Hügel hinauf. Die
Straßen waren nun breiter, die Mauern höher, und die Feuerhüter
trugen bessere Kleider als ihre Kollegen in Hafennähe. Otah hielt an
der Abzweigung zu Wilsins Anwesen. Von dort hätte er auf
vertrautem Weg zu Liats Kammer gelangen können, und es wäre
ganz einfach gewesen, sie aufzusuchen. Er blieb zehn Herzschläge
lang wie die Statue eines vergessenen Würdenträgers des Reiches an
der Kreuzung stehen und ging dann weiter nach Norden, die
Hände zu Fäusten geballt.
Die Paläste erhoben sich wie eine eigene Stadt über den von
einfachen Leuten bewohnten Gassen. Abwassergestank,
Körpergeruch und aus Tavernen dringende Bratenschwaden
verschwanden zugunsten von Gartenduft und Weihrauch. Die Wege
waren nicht mehr mit Steinen gepflastert, sondern aus Marmor,
feinem Sand oder kleinen, blütenweißen Kieseln. An die Stelle der
Bettlerlieder waren in beinahe nahtlosem Übergang Sklavengesänge
getreten. Die großen Gebäude standen leer und dunkel da oder
wirkten von der Straße her wie angezündete Laternen. Diener und
Sklaven bewegten sich mit der lautlosen Effizienz von Ameisen über
Wege und Stege, und die Utkhais, deren Gewänder strahlend wie
der Sonnenuntergang waren, standen in hell erleuchteten Höfen
und warfen sich voreinander in Pose, wie es nun mal geboten war.
Otah vermutete, dass sie darum wetteiferten, wer von ihnen die
Ehre haben würde, den ältesten Sohn von Khai Udun zu töten.
Unter dem Vorwand, eine Botschaft zu überbringen, ließ er sich
von einem Diener den Weg zeigen und hatte bald auch die Paläste
hinter sich gelassen. Der Pfad war dunkel und schlängelte sich
zwischen Baumgruppen hindurch. Wenn er sich umwandte, konnte
er noch immer die Paläste sehen, doch der menschenleere Park
vermittelte den Eindruck, das Dichterhaus sei weit entfernt. Er
überquerte eine lange Holzbrücke über einen Teich. Dahinter
tauchte ein schlichtes, aber elegantes Gebäude auf, dessen erste
Etage erleuchtet war, während die weit geöffnete Vorderfront im
Erdgeschoss den Eindruck vermittelte, dort solle ein Stück
aufgeführt werden. Auf einem Samtsessel saß der Junge. Maati
Vaupathai.
»Hoppla«, sagte eine leise Stimme, »das ist wirklich mal was
Neues. Es passiert nur selten, dass nach Hafen stinkende
Muskelpakete zum Tee vorbeisehen. Oder hast du uns etwa eine
Botschaft zu bringen?«
Der Andat Samenlos saß im Gras. Otah machte eine
entschuldigende Gebärde.
»Ich … ich möchte Maati-cha besuchen«, stieß er stockend hervor.
»Wir waren … ich meine …«
»He! Wer ist denn da unten?«, rief eine andere Stimme. »Wer bist
du?«
Samenlos sah mit zusammengekniffenen Augen zum Haus hinauf.
Ein fetter Mann in der braunen Robe des Dichters kam ächzend die
Treppe herunter. Maati folgte ihm.
»Itani vom Haus Wilsin«, rief Otah. »Ich möchte Maati-cha
besuchen.«
Auf den letzten Metern verlangsamte der Dichter das Tempo. In
seiner Miene standen Sorge, Missbilligung und eine seltsame
Freude.
»Bist du wirklich seinetwegen gekommen?«, fragte Heshai und
wies mit dem Daumen über die Schulter. Otah machte eine
bestätigende Gebärde.
»Itani und ich haben uns bei der großen Audienz getroffen«, sagte
Maati. »Er hat angeboten, mir den Hafen zu zeigen.«
»Ach ja?«, fragte Heshai, und Otah hatte den Eindruck, seine
Missbilligung würde zugunsten einer gewissen Erheiterung an
Boden verlieren. »Na dann. Itani heißt du also? Du weißt
hoffentlich, mit wem du dich auf den Weg machst? Dieser Junge ist
einer der wichtigsten Menschen von Saraykeht. Pass also auf, dass
er nicht in schlechte Gesellschaft gerät.«
»Ja, Heshai-cha«, sagte Otah. »Das tu ich bestimmt.«
Die Miene des Dichters entspannte sich. Er kramte kurz in seinem
Ärmel und hielt ihm dann etwas hin. Unschlüssig, wie er sich
verhalten sollte, trat Otah näher und streckte dem Dichter
seinerseits die Hand entgegen.
»Auch ich war mal jung«, sagte Heshai mit unübersehbarem
Augenzwinkern. »Etwas schlechte Gesellschaft kann gar nicht
schaden.«
Otah spürte die Münzen in der Hand und machte eine dankbare
Gebärde.
»Wer hätte das gedacht?«, meinte Samenlos leise und versonnen.
»Unser Musterschüler wird flügge.«
»Bitte, Itani-cha«, sagte Maati, trat vor und nahm ihn beim Ärmel.
»Ihr habt wegen mir schon einen Umweg gemacht. Wir sollten
gehen. Eure Freunde warten bereits.«
»Ja«, sagte Otah, »natürlich.«
Er machte eine Abschiedsgebärde, die der Dichter allzu beflissen
beantwortete, während Samenlos sich lässiger und anscheinend
gedankenverloren anschloss. Maati ging voran, als die beiden über
die Brücke schlenderten.
»Hattest du mit mir gerechnet?«, fragte Otah, kaum dass sie außer
Hörweite waren. Heshai und der Andat sahen ihnen noch immer
nach.
»Jedenfalls hatte ich gehofft, dass Ihr kommt«, gab Maati zu.
»Damit bist du nicht allein. Auch der Dichter schien froh, mich zu
sehen.«
»Er mag es nicht, dass ich die ganze Zeit im Haus hocke, und
findet, ich soll mir die Stadt genauer ansehen. Er ist einfach sehr
ungern in seinen vier Wänden und kann sich nicht vorstellen, dass
es mir dort gefällt.«
»Ah. Ich verstehe.«
»So ganz dürftet Ihr das nicht verstehen«, wandte Maati ein. »Das
ist eine komplizierte Sache. Aber was ist mit Euch, Otah? Es ist Tage
her, dass wir uns getroffen haben. Ich hatte schon befürchtet, Ihr
würdet nicht mehr kommen.«
»Ich musste einfach vorbeischauen«, entgegnete Otah und war von
seiner Offenheit überrascht. »Ich habe sonst niemanden, mit dem ich
reden kann. Ihr Götter - er hat mir drei Silberstücke gegeben!«
»Ist das wenig?«
»Im Gegenteil. Ich sollte nicht mehr im Hafen arbeiten, sondern
dich ausführen. Das wird besser bezahlt.«
Er hatte sich verändert. Das war klar, auch wenn seine Stimme
ziemlich gleich geblieben war. Doch obwohl sein Gesicht älter,
erwachsener wirkte, sah Maati in Otah noch immer den Jungen, der
damals im Gemüsegarten die Schwarzkutte getragen hatte. Auch
sein Selbstvertrauen hatte er nicht verloren (es sprach noch immer
aus Körperhaltung und Stimme), vielleicht aber seine
Selbstgewissheit. Das jedenfalls schloss Maati daraus, wie Otah den
Becher zum Mund führte und daraus trank. Seinem alten Lehrer lag
etwas auf der Seele, doch Maati wusste noch nicht, was es war.
»Ein Arbeiter«, sagte er nun. »Das ist nicht gerade das, was der
Dai von Euch erwartet hätte.«
»Oder sonst jemand«, ergänzte Otah und lächelte.
Von der Dachterrasse des Teehauses aus konnten sie die Straße
und die sich weit nach Süden erstreckende Stadt überblicken.
Zitronenkerzen erfüllten die Luft mit einem starken Duft, der ihnen
die meisten Stechmücken vom Leib hielt, den Wein aber seltsam
schmecken ließ. Auf der Straße sangen und tanzten ein paar junge
Männer, denen drei Frauen lachend zusahen. Otah nahm einen
großen Schluck Wein.
»Du hast das auch nicht erwartet, oder?«
»Nein«, räumte Maati ein. »Als Ihr verschwunden wart, hab ich
mir vorgestellt … genau wie wir alle »Was hast du dir vorgestellt?«
Maati seufzte, runzelte die Stirn und versuchte, Worte für
Tagträume und stets für sich behaltene Geschichten zu finden, die er
sich nie im Detail ausgemalt hatte. Otah hatte sein Leben fast mehr
geprägt als der Dai und sicher stärker als sein Vater. Er hatte sich
vorgestellt, Otah würde einen neuen Orden aufbauen, eine dunkle,
gefährliche, vielleicht gar freidenkerische Gruppe. Oder er würde
sich aufs Meer hinauswagen oder sich ins Chaos der Kriege in den
Westgebieten aufmachen. Maati hätte es nie zugegeben, doch dass
dieser Lehrer ein ganz gewöhnlicher Mensch geworden war,
enttäuschte ihn.
»Etwas anderes«, sagte er mit einer vagen Handbewegung.
»Es war schwer. In den ersten Monaten dachte ich, ich würde
verhungern. Was sie uns übers Jagen und das Sammeln von
Vorräten beigebracht haben, hat nicht wirklich gereicht. Als ich fürs
Ausmisten eines Hühnerstalls einen Teller Suppe und einen halben
Laib altbackenes Brot bekam, glaubte ich, man habe mir das beste
Essen meines Lebens vorgesetzt.«
Maati lachte. Otah sah ihn an und zuckte die Achseln.
»Aber was ist mit dir?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»War es im Dorf des Dai so, wie du es dir vorgestellt hattest? »Ich
schätze ja. Es war anstrengender als in der Schule, aber es ist mir
leichtgefallen, weil sie einen Sinn hatte. Sie war nicht einfach nur
schwer. Wir haben die alten Sprachen des Reiches studiert und ihre
Grammatiken verglichen. Mit der Geschichte der Andaten haben
wir uns auch beschäftigt - damit, wer sie wie gebunden hat und wie
es ihnen gelungen ist, sich dem Bann zu entziehen. Ich wusste gar
nicht, wie viel schwerer es ist, einen Andaten ein zweites Mal zu
binden. Es gibt zwar viele Geschichten von Andaten, die die Dichter
sich ein drittes oder viertes Mal gefügig gemacht haben, aber …«
Otah lachte warmherzig und fröhlich, aber ohne Spott. Als Maati
eine fragende Gebärde machte, antwortete er mit einer
entschuldigenden Geste und hätte dabei fast seinen Wein
verschüttet.
»Es hat sich nur so angehört, als hättest du all das sehr gern
getan«, erklärte Otah.
»Hab ich auch«, entgegnete Maati. »Es war faszinierend. Und ich
glaube, ich kann es gut. Meine Lehrer sahen das wohl genauso.
Heshai-kvo allerdings ist ganz anders, als ich erwartet hatte.«
»Ihm geht es mit dir wahrscheinlich ähnlich.«
»Möglich. Aber warum habt Ihr die Chance ausgeschlagen, Otah?
Warum habt Ihr Euch dem Dai verweigert, als er Euch zu seinem
Schüler machen wollte?«
»Weil das, was sie getan haben, falsch war«, sagte Otah schlicht.
»Ich will einfach nicht darin verwickelt werden.«
Maati blickte in seinen Becher, runzelte die Stirn und musterte sein
Spiegelbild, das ihm von der dunkel glänzenden Oberfläche
entgegensah.
»Wenn Ihr diese Chance ein zweites Mal bekämt, würdet Ihr sie
erneut ausschlagen?«
»Ja.«
»Selbst wenn Ihr dann ein bloßer Arbeiter sein müsstet?«
Otah tat zwei tiefe Atemzüge, drehte sich um, setzte sich aufs
Geländer und betrachtete Maati aus dunklen, bekümmerten Augen.
Seine Hände setzten zu einer vielleicht anklagenden, vielleicht
fragenden Gebärde an, doch dann ließ er sie sinken.
»Ist das, was ich tue, wirklich so schlimm?«, fragte er. »Ob du, Liat
oder andere - alle scheinen so zu denken. Ich habe auf der Straße
begonnen, ohne Familie, ohne Freunde. Ich habe nicht mal gewagt,
meinen Namen zu behalten. Aber ich habe mir etwas aufgebaut. Ich
habe Arbeit, Freunde und eine Geliebte. Ich esse gut und habe ein
Dach überm Kopf. Und abends kann ich ausgehen und Dichtern,
Philosophen und Sängern lauschen, Bade- oder Teehäuser besuchen
oder mit einem Segelboot aufs Meer fahren. Ist das so schlecht? So
wenig?«
Maati war überrascht, wie gequält, womöglich verzweifelt Otahs
Stimme klang. Er hatte den Eindruck, seine Worte hätten nicht in
erster Linie ihm gegolten. Dennoch dachte er über sie nach. Und
darüber, wo sie ihren Ursprung haben mochten.
»Natürlich nicht«, sagte er dann. »Nicht allein das Große ist
achtbar und ehrenwert. Wenn Ihr der Stimme Eures Herzens folgt,
ist es unwichtig, was andere denken.«
»So unwichtig ist das keineswegs.«
»Doch - jedenfalls, wenn Ihr Euch wirklich sicher seid.«
»Gibt es denn Menschen, die sich ihrer Entscheidungen völlig
gewiss sind? Bist du dir ganz sicher?«
»Nein«, gestand Maati. Diesen heimlichsten aller Zweifel
zuzugeben war leichter, als er gedacht hatte. In der Schule oder
dem Dai gegenüber hatte er ihn nie geäußert, und er wäre lieber
gestorben, als dass er ihn Heshai anvertraut hätte, doch Otah
gegenüber fiel ihm das gar nicht so schwer. »Aber es ist zu spät. Ich
habe meine Entscheidungen gefällt. Nun kommt es nur darauf an,
ob ich stark genug bin, durchzuhalten.«
»Das bist du«, sagte Otah.
»Daran habe ich große Zweifel.«
Sie schwiegen. Auf der Straße unter ihnen schrie eine Frau auf und
lachte dann. Ein paar Gassen weiter schlug wie zur Antwort ein
Hund an. Maati setzte seinen Becher ab und schlug nach einer
Stechmücke, die sich auf seinem Arm niedergelassen hatte. Otah
nickte vor sich hin und schien Maati beinahe vergessen zu haben.
»Nun, da kann man wohl nichts machen«, sagte er.
»Es ist spät, und wir sind betrunken«, erwiderte Maati. »Morgen
sieht die Sache schon besser aus - das ist immer so.«
Otah ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann. »Ich bin
froh, dich getroffen zu haben«, sagte Maati. »Vielleicht war es
Schicksal.«
»Möglich«, pflichtete Otah ihm bei.
»Wilsin-chak rief Epani flüsternd, aber so dringlich, dass Marchat
aus seinem Traum hochschreckte. Ohne schon ganz wach zu sein,
stützte er sich auf den Ellbogen und schob das Mückennetz beiseite.
Der Haushofmeister stand neben dem Bett und hielt sich mit der
Hand den Umhang zu. Sein nur von einer Kerze beleuchtetes
Gesicht wirkte müde.
»Was ist?«, fragte Marchat und war noch immer nicht ganz in der
Wirklichkeit angekommen. »Brennt es irgendwo?«
»Nein.« Epani wollte eine entschuldigende Gebärde machen, hätte
dafür aber die Hand vom Umhang nehmen müssen. »Jemand
möchte Euch sprechen. Er wartet in Eurem Arbeitszimmer.«
»Jemand? Wer denn?«
Epani zögerte. »Etwas möchte Euch sprechen«, sagte er dann.
Marchat brauchte einen halben Atemzug, um zu verstehen. Dann
nickte er und wies auf einen Hausmantel, der neben dem
Kleiderschrank hing. Die Nachtkerze war schon gut zur Hälfte
heruntergebrannt Vom leisen Rascheln abgesehen, mit dem er den
Morgenmantel anzog und zuband, war kein Laut zu hören. Er fuhr
sich mit der Hand durchs Haar und Bart und wandte sich dann an
Epani.
»Reicht das?«
Der Haushofmeister machte eine billigende Geste.
»Gut. Bring uns etwas zu trinken. Wein. Oder besser Tee.«
»Seid Ihr Euch dessen sicher, Wilsin-cha?«
Marchat zögerte und dachte nach. Jede nächtliche Unruhe barg das
Risiko, jemanden zu wecken. Eine gewisse Verärgerung darüber,
dass der Andat um diese Zeit aufgetaucht war, glomm am dunklen
Grund seines Unbehagens.
Er winkte ab. »Nein, bring uns nichts. Geh schlafen und vergiss,
was gerade vorgefallen ist. Du hast nur geträumt.«
Epani verschwand. Marchat nahm die Kerze und ging im
Halbdunkel in sein Arbeitszimmer, das sich wegen Besprechungen
wie dieser in der Nähe seiner Wohn- und Schlafgemächer befand.
Der Raum hatte kein Fenster, nur einen einzigen Eingang und einen
mit Kies bestreuten Vorplatz, damit man von drinnen hörte, wenn
jemand kam. Als er ins Zimmer trat, hockte der Andat wie ein
Vogel auf dem Besprechungstisch und hatte die Arme auf den
Knien. Sein Umhang wirkte wie ein riesiger schwarzer Fleck.
»Was spielst du eigentlich für ein Spiel, Wilsin?«
»Bis gerade eben habe ich noch Tiefschlaf gespielt«, erwiderte
Marchat, und Zorn wallte in ihm auf, der seine Angst verbergen
sollte. Die dunklen Augen seines fahlen Gegenübers musterten ihn.
Dann neigte Samenlos den Kopf zur Seite. Bis auf Marchats Atmen
war es still. Schließlich war er hier der Einzige, der atmete.
»Was ist?«, fragte der Kaufmann. »Und nimm die Stiefel vom
Tisch. Du bist hier nicht in einer Absteige.«
»Warum hat dein Junge sich mit meinem befreundet?«, wollte der
Andat wissen, ohne sich um Wilsins Anweisung zu kümmern.
Marchat stellte die Nachtkerze auf den Tisch. »Ich habe nicht die
leiseste Ahnung, wovon du redest«, sagte er und verschränkte die
Arme. »Sprich vernünftig mit mir oder verschwinde. Ich habe
morgen viel zu tun.«
»Hast du keinen deiner Leute geschickt, um Heshais Schüler ins
Teehaus auszuführen?«
»Nein.«
»Warum ist er dann gekommen?«
Marchat sah Misstrauen in der Miene des Andaten oder glaubte es
doch zu sehen, machte ein strenges Gesicht und beugte sich vor. Das
Wesen in Menschengestalt blieb reglos.
»Ich weiß nicht, wen du meinst«, sagte Wilsin bedächtig. »Und
wenn du dich auf den Kopf stellst.«
Samenlos kniff die Augen zusammen, als hörte er konzentriert zu.
Dann lehnte er sich zurück. Sein Ärger wich einer gewissen
Verblüffung.
»Einer deiner Arbeiter hat Maati heute Abend besucht«, sagte er.
»Er hat behauptet, er habe ihn bei der großen Audienz kennen
gelernt, und sie hätten verabredet, zusammen auszugehen.«
»Und?«, fragte Marchat. »Vielleicht haben sie sich ja bei der
großen Audienz kennen gelernt und verabredet, zusammen
auszugehen.«
»Ein Dichter und ein Arbeiter?«, fragte Samenlos verächtlich.
»Und vielleicht sind ja auch die feinen Damen der Utkhais heute
Abend unterwegs und ergötzen sich im Vergnügungsviertel. Heshai
war natürlich entzückt, aber mir kommt das äußerst merkwürdig
vor, Wilsin.«
Marchat ließ sich die Worte des Andaten durch den Kopf gehen
und kaute dabei an der Unterlippe. Diese Sache schien tatsächlich
seltsam. Und da der traurige Eingriff schon bald stattfinden würde,
stand viel auf dem Spiel. Er zog einen Stuhl unterm Tisch hervor
und setzte sich. Samenlos schwang die Beine herunter. Zwar blieb er
auf dem Tisch sitzen, wirkte aber nicht mehr so aggressiv wie
zuvor.
»Um wen handelt es sich?«, fragte Wilsin.
»Er hat gesagt, er heiße Itani. Ein großer Kerl mit breiten
Schultern. Dem Gesicht nach aus dem Norden.«
Also der, den Amat mir damals mitgegeben hat, überlegte Wilsin
und war alles andere als begeistert. Samenlos, dem das nicht
entgangen war, machte eine halb fragende, halb gebieterisch
Antwort fordernde Gebärde.
»Ich weiß, wen du meinst. Und du hast recht - das ist wirklich
seltsam. Er war mein Leibwächter, als ich in die Vorstadt ging. Und
er ist mit Liat Chokavi zusammen.«
Samenlos ließ sich diese Neuigkeit kurz durch den Kopf gehen.
Marchat beobachtete seine dunklen Augen und seinen herrlichen
Mund, der nun ganz schwach zu lächeln begann.
»Hat er Liat irgendwie gewarnt?«, fragte der Andat. »Meinst du,
sie ahnt etwas?«
»Sie hat keine Ahnung. Wenn sie Bedenken hätte, wäre ihr das
schon aus der Entfernung anzusehen. Liat ist womöglich die
schlechteste Lügnerin, die mir je begegnet ist. Auch darum ist sie für
diese Aufgabe so geeignet.«
»Wenn er Liat nichts gesagt hat, versucht er womöglich gar nicht,
unsere Pläne zu durchkreuzen. Hast du noch immer keine Nachricht
von deiner verschwundenen Verwalterin?«
»Nein«, sagte Marchat. »Oshais Schergen haben eine hohe
Belohnung für sie geboten, doch bis jetzt hat es keinen Hinweis
gegeben. Und niemand im Hafen oder entlang der Landstraßen
kann sich daran erinnern, sie gesehen zu haben. Aber selbst wenn
sie in der Stadt untergetaucht ist, gibt es keinen Grund
anzunehmen, dass sie daran arbeitet, den Eingriff zu verhindern.«
»Oshai kann sie nicht finden - das reicht, um mich nervös zu
machen. Und dieser Itani ist entweder in ihrem Auftrag unterwegs
oder nicht. Wenn ja Marchat seufzte. Es nahm einfach kein Ende.
Immer wenn er dachte, endlich das letzte Verbrechen in dieser
Sache begangen zu haben, tauchte die Notwendigkeit auf, ein
weiteres zu verüben. Liat Chokavi - dieses alberne, kurzsichtige,
nette und hübsche Mädchen - wäre gedemütigt, wenn es schief-
ginge. Und nun schien es, als hätte sie dann nicht mal mehr ihren
Freund, um ihr Trost zu spenden.
»Ich kann ihn töten lassen«, sagte Marchat schleppend. »Ich werde
morgen früh mit Oshai darüber sprechen.«
»Nein«, entgegnete Samenlos, lehnte sich zurück, schlug die Beine
übereinander und legte die gefalteten Hände auf sein Knie. Er hatte
Frauenhände, schmal und anmutig. »Nein. Wenn er geschickt
wurde, um die Geschichte zu erzählen, ist es zu spät. Maati wird
dann längst Bescheid wissen. Und wenn er nicht geschickt wurde,
würde seine Ermordung nur Aufsehen erregen.«
»Ich könnte auch den Schüler des Dichters umbringen lassen«,
wandte Marchat ein.
»Nein«, sagte Samenlos erneut. »Wir können den Arbeiter töten,
wenn es angebracht scheint, aber keiner rührt Maati an.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn mag«, sagte der Andat leicht überrascht, als fiele ihm
dies erst jetzt auf. »Er ist … gutherzig. Seit Jahren ist er der Erste,
der mich nicht nur als passendes Werkzeug oder als Inbegriff des
Bösen sieht.«
Marchat blinzelte. Einen Moment lang schien etwas wie Trauer
von Samenlos Besitz ergriffen zu haben. Trauer oder vielleicht
Sehnsucht. In den Monaten, die Marchat mit der Vorbereitung
seines bösen Plans verbracht hatte, hatte er sich ein Bild von der
Bestie gemacht, mit der er es zu tun hatte, und die eben beobachtete
Gefühlsregung passte nicht zu diesem Bild. Dann aber war der
Moment vorbei, und Samenlos grinste ihn an.
»Du zum Beispiel glaubst, ich sei das Fleisch gewordene Chaos,
weil ich eine Schwangere nur deshalb ihres Kindes beraube, um
Heshai leiden zu lassen«, sagte der Andat.
»Was ich denke, spielt keine Rolle.«
»Nach dem Brand hatten wir uns doch darauf geeinigt …«,
begann Amat, doch im nächsten Moment verpasste Ovi Niit ihr mit
dem Handrücken einen heftigen Schlag. Als sie ihm den Kopf
langsam wieder zuwandte, schmeckte sie Blut. Ihre Lippen zitterten
in Erwartung des Schmerzes, und ein warmer Tropfen, der ihr aufs
Kinn fiel, sagte dem Teil ihres Verstandes, der sich nicht vor Angst
wand, einer seiner Ringe habe sie geschnitten.
»Geeinigt!«, stieß Ovi Niit hervor. »Hier gilt nur, was ich sage.
Und wenn ich meine Meinung ändere, gilt etwas Neues. Sich einigen
gibt es bei mir nicht.«
Er ging im Zimmer auf und ab. Die Abendsonne lag auf den
geschlossenen Fensterläden, deren Umrisse durch die schmalen
Lichtstreifen erahnbar waren. Das Halbdunkel war hell genug, um
etwas zu erkennen und zu wissen, dass Ovi Niits Augen weit
aufgerissen waren, denn ihr fleckiges Weiß trat beinahe
halbkugelförmig hervor. Seine Lippen bewegten sich, als sei er
drauf und dran, etwas zu sagen.
»Du schindest doch nur Zeit!«, schrie er schließlich und schlug mit
der flachen Hand auf den Tisch. Amat ballte die Fäuste und zwang
sich, ruhig sitzen zu bleiben. Was immer sie sagen würde: Ovi Niit
würde es als Provokation empfinden. »Solange du die Erledigung
deiner Aufgabe hinauszögerst, wähnst du dich in Sicherheit«, rief
er. »Du versprichst dir etwas davon, den Dieb mich bestehlen zu
lassen. Aber da hast du dich getäuscht!«
Mit diesen Worten trat er so heftig gegen die Wand, dass der Putz
Sprünge bekam. Amat besah sich den Schaden (kleine Risse, die von
einer Delle ausstrahlten) und begriff, dass sie ihre Lage nun ganz
anders einzuschätzen hatte. Die Delle war nicht größer als ein Ei,
doch jetzt wusste sie, dass Ovi Niit seine Wut in naher Zukunft nicht
mehr auf die Wände, sondern auf sie richten und sie töten würde -
ob mit Absicht oder nicht.
Wie seltsam, dass dieser kleine Anfall mir die Augen geöffnet hat,
nachdem all die Gewalt, die er an Menschen verübt, mich nicht hat
wachrütteln können, dachte sie, als die Übelkeit sie überkam.
»Bis zum Morgengrauen will ich eine Antwort«, schrie er. »Wenn
du nicht tust, was ich sage, schneid ich dir die Daumen ab und
verkauf dich für die fünf Goldstücke, die als Belohnung ausgesetzt
sind. Oshai ist es nämlich egal, ob du verstümmelt bist.«
Amat machte eine Gebärde von derart unterwürfiger
Ehrerbietung, dass sie ekelte, und doch hatten ihre Hände sie ganz
selbstverständlich geformt. Ovi Niit packte sie bei den Haaren und
zog sie vom Stuhl, was ihre Stifte und Papiere auf dem Boden
landen ließ. Dann trat er ihren Schreibtisch kurzerhand um und
stolzierte davon. Ehe die Tür hinter ihm zuknallte, konnte Amat im
Nebenraum noch ein paar erschrockene Gesichter erkennen.
Sie lag im Dunkeln auf dem rauen Steinboden und war zu müde
und zu krank, um zu weinen. Das Blut aus ihrer Schnittwunde war
geronnen und spannte die Gesichtshaut. Sie würde eine Narbe
davontragen. Als sie wieder klar denken konnte, war es
stockfinster. Sie zwang sich zum Überlegen. Die Tage waren
ineinander verschwommen, denn kaum war sie erwacht, hatte sie
sich über kaum entzifferbare Geschäftsbücher gebeugt, bis die
Zahlen vor ihren Augen tanzten. Im Schlaf hatte sie von der
Buchführung geträumt, und kaum war sie wach geworden, hatte sie
sich erneut über die verworrenen Zahlen hermachen müssen, ohne
dass ihre Arbeit irgendeinen Sinn gehabt hätte. Ovi Niit war ein
Schläger und Zuhälter. Seine Angst und Gewalttätigkeit wurden nur
größer, je mehr Wein und Drogen er dagegen nahm. Mit gehörigem
Abstand hätte sie ihn bemitleiden können.
Doch leider war sie ihm ausgeliefert, und es kam auf jeden
einzelnen Tag an.
Sie gab sich alle Mühe, sich zu erinnern. Sie musste doch schon
mindestens drei Wochen hier sein. Eher länger. Sicher länger -
vielleicht schon vier. Aber bestimmt keine fünf. Es war also
eigentlich noch zu früh, um auf Marchats Versprechen, keine Strafe
mehr befürchten zu müssen, bauen zu können. Zu ihrer
Überraschung lachte sie in sich hinein. Wenn sie sich verzählt hatte,
würde sie schlimmstenfalls bäuchlings im Fluss treiben, und Ovi Niit
hätte fünf Goldstücke eingebüßt. Gar keine so schlechte Aussicht.
Mühsam setzte sie sich auf und kam langsam auf die Beine. Immer
wieder wollte der Schmerz ihr schier den Atem rauben, bis sie
endlich einigermaßen aufrecht dastand. Sie nahm ihren Stock und
setzte die Miene auf, hinter der sie schon lange ihre wahren
Empfindungen verbarg. Schließlich war sie Amat Kyaan, die
Verwalterin des Hauses Wilsin. Ein Straßenkind aus Saraykeht, das
es im Leben zu etwas gebracht hatte. Sie sollten sehen, dass sie
ungebrochen war. Wenn es ihr gelänge, die Huren in Ovi Niits
Bordell dies glauben zu lassen, würde auch sie selbst wieder
beginnen, daran zu glauben.
Der Aufenthaltsraum war fast leer, denn die Frauen gingen auf
den Zimmern ihrem Gewerbe nach. Ein Wächter saß am Tisch und
aß ein Stück Huhn, das nach Knoblauch und Rosmarin roch. Ein
alter schwarzer Hund lag zusammengerollt in der Ecke und hatte
einen halb zerkauten Knochen zwischen den Pfoten.
»Er ist nicht da«, sagte der Wächter. »Er sitzt vorn im Lokal und
spielt Karten.«
Amat nickte.
»An Eurer Stelle würde ich nicht zu ihm gehen, Großmutter.«
»Ich habe nicht vor, ihn zu stören. Schick mir bitte Mitat. Sie soll
mir helfen, mein Arbeitszimmer wieder in Ordnung zu bringen.
Nach jeder Besprechung sieht es aus, als habe dort ein Wirbelsturm
gewütet.«
Der Wächter sah sie an und nickte grinsend. Von der Straße her
waren Trommeln zu hören, die einen weiteren Abend im
Vergnügungsviertel ankündigten.
»Ich kümmere mich darum, dass sie Euch etwas für Eure Wunde
mitbringt«, sagte der Wächter.
»Danke«, antwortete Amat höflich und unbeteiligt, also so, wie sie
von allen wahrgenommen werden wollte. »Das ist sehr nett von
dir.«
Eine halbe Handbreit später erschien Mitat auf der Schwelle des
Zimmers. Ihr breites, blasses und mit Sommersprossen übersätes
Gesicht wirkte hart. Amat lächelte ihr freundlich zu und machte eine
Willkommensgebärde.
»Ich habe gehört, er hat Euch aufgesucht, Großmutter.«
»Das hat er allerdings. Mach doch bitte die Fensterläden auf. Als
ich kam, war ich groß genug, es selbst zu tun, aber anscheinend bin
ich inzwischen geschrumpft.«
Die Hure tat, wie ihr geheißen, und fahler Mondschein mischte
sich mit dem Licht der Laterne, die auf Amats Schreibtisch stand.
Das Durcheinander der Unterlagen hielt sich in Grenzen. Amat
winkte Mitat heran.
»Ihr müsst fliehen, Großmutter«, sagte die Hure. »Niit-cha wird
immer schlimmer.«
»Das wird er allerdings«, pflichtete Amat ihr bei. »Er hat Angst.
Und er trinkt zu viel. Ich brauche dich. Jetzt und später in der
Nacht.«
Mitat machte eine Gebärde des Einverständnisses. Amat lächelte
und nahm ihre Hand. Hinter der Hure prangte die kleine Delle, die
Ovi in die Wand getreten hatte. Im Vorbeigehen fragte sich Amat,
ob der Bordellbesitzer je begreifen würde, wie viel diese Delle ihn
gekostet hatte. Amat jedenfalls wollte, dass sie ihn teuer zu stehen
kam.
»Wen von den Männern hier schätzt Ovi Niit am meisten?«, fragte
sie. »Es gibt doch bestimmt Leute, denen er mehr traut als anderen,
oder?«
»Den Wächtern«, begann Mitat, doch Amat winkte ab. »Wem
vertraut er wie einem Bruder?«
Mitats Augen wurden schmal. Jetzt hat sie erkannt, worum es
geht, dachte Amat und lächelte.
»Rathvi Schwarz«, erklärte Mitat. »Er hat hier das Sagen, wenn
Mit nicht im Haus ist.«
»Kennst du seine Handschrift?«
»Nein. Aber ich weiß, wie hoch vorgestern die nächtlichen
Einnahmen an den Spieltischen waren, für die er verantwortlich ist.
Ich habe ihn sagen hören, es seien zwei Gold- und siebzig
Silberstücke gewesen.«
Amat blätterte durch das aktuelle Geschäftsbuch, bis sie diese
Summe aufgeführt fand. Rathvi hatte eine ausgreifende, aber wenig
charakteristische Handschrift, und neigte dazu, die Wortenden zu
unterschlagen. Amat kannte seine Schrift genau. Rathvi brachte nur
das Nötigste zu Papier, und sie hatte seit Beginn ihrer Arbeit
schwer mit seinen Einträgen zu kämpfen. Sie ertappte sich bei der
diebischen Freude darüber, dass er für seine lässige Buchführung
nun würde büßen müssen.
»Zwei Handbreit vor Tagesanbruch brauche ich einen Umhang mit
Kapuze«, sagte Amat.
»Ihr solltet auf der Stelle verschwinden«, erwiderte Mitat. »Niit-
cha ist im Moment beschäftigt, aber »Ich werde erst zwei Handbreit
vor dem Morgengrauen so weit sein. Wenn Ovi Niit sich Rathvi
Schwarz vorgeknöpft hat, solltet ihr zwei - du und dein Freund -
eine Zeitlang nicht mehr so dreist in die Kasse greifen. Wenigstens
ein paar Wochen lang. Wenn Ovi merkt, dass sich seine Lage
bessert, wird er sich darin bestätigt glauben, den Richtigen bestraft
zu haben. Hast du verstanden?«
Mitat machte eine zustimmende Gebärde, schien aber nicht recht
überzeugt. Amat zog fragend die Brauen hoch. Mitat sah erst weg,
dann wieder zu ihr hin. In ihrem Blick hielten sich Hoffnung und
Misstrauen eigentümlich die Waage - wie bei einem Menschen, der
glauben möchte, sich aber davor ängstigt.
»Könnt Ihr das denn?«, fragte sie schließlich.
»Ob ich die Zahlen so verändern kann, dass es aussieht, als sei
Rathvi der Übeltäter? Natürlich kann ich das. Und genau das werde
ich tun. Also? Kannst du mir einen Umhang beschaffen und dafür
sorgen, dass ich zumindest unbehelligt bis auf die Straße komme?«
»Wenn Ihr es schafft, dass die beiden einander an die Gurgel
gehen, tu ich alles für Euch«, sagte Mitat.
Es ging schneller als gedacht. Nun, da sie wusste, was sie mit den
Zahlen bewirken wollte, waren sie ganz einfach zu manipulieren. Sie
änderte sogar ein paar Originalbelege, indem sie Rathvis Zahlen
einschwärzte und durch gefälschte Beträge ersetzte. Als sie fertig
war, hätte ein guter Buchhalter die Täuschung entdecken können.
Doch hätte Ovi Niit einen fähigen Buchhalter gehabt, hätte er Amat
nie und nimmer beschäftigt.
Sie nutzte die restliche Zeit dazu, ihren Abschiedsbrief zu
verfassen, den sie sehr förmlich hielt und in dem sie all die Titel und
Höflichkeitsfloskeln anbrachte, die ihr für einen angesehenen
Kaufmann oder einen der niederen Utkhais zu Gebote standen. Sie
dankte Ovi Niit für die Zuflucht, die er ihr in seinem Haus gewährt
hatte, und für seine Verschwiegenheit. Zudem äußerte sie mit
Bedauern, sie habe nun, da ihre Arbeit getan sei, den Eindruck
gewonnen, es sei für sie das Beste, unauffällig zu verschwinden. Sie
habe nämlich (so schrieb sie und grinste dabei höhnisch) eine zu
hohe Meinung von Niit-chas Geschäftssinn, als dass sie glauben
könne, er werde eine Ware, für die er keine Verwendung mehr
habe, nicht umgehend meistbietend verkaufen. Dann hielt sie ihre
Ergebnisse fest und ließ den Verdacht auf Rathvi Schwarz fallen,
ohne freilich einen Namen zu nennen.
Amat faltete den Brief zweimal, knickte ihn an den Ecken, wie es
bei persönlichen Nachrichten üblich war, schrieb »Für Ovi Niit« auf
eine der Außenseiten und legte ihn gut sichtbar auf einen Stapel
Geschäftsbücher. Dann saß sie eine Weile da, lauschte der Musik
und den undeutlichen Stimmen, die von der Straße hereindrangen,
und wartete auf Mitat. Die Kerze brannte immer weiter herunter,
und Amat fragte sich allmählich, ob etwas schiefgegangen war.
Doch das war nicht der Fall.
Das Mädchen hatte alles arrangiert, und es war einfach, aus dem
Haus zu kommen. Amat musste nur den dunkelgrünen Umhang
überwerfen, den Stock nehmen, aus der Hintertür treten und einen
gepflasterten Weg entlanglaufen, an dessen Ende ein offenes Tor
auf die Straße führte. Im Osten ging das Schwarz des Himmels
bereits in Aschgrau über, und die schwächsten Sterne verblassten.
Der fast volle Mond war aufgegangen. Bis auf ein paar Zecher, die
sich von feuchtfröhlichen Gelagen nach Hause schleppten, waren
keine Leute mehr auf der Straße. Trotz schmerzender Gelenke war
Amat nicht die Langsamste.
An einem Stand hielt sie an und bestellte Schweinefleisch in
Mandelpanade und eine Schale Tee. Während sie aß, ging die Sonne
wie ein Gott auf. Amat war über ihre Ruhe und innere Heiterkeit
erstaunt. Ihre Qualen waren vielleicht noch nicht ganz vorbei, aber
so gut wie überstanden. Noch ein paar Tage, dann hatte Marchat
sein geheimnisvolles Geschäft abgeschlossen. Und nachdem ich es
nun wochenlang in der Hölle ausgehalten habe, dachte sie, bin ich
auch stark genug, die letzten Tage würdig durchzustehen.
Fast hätte sie das tatsächlich geglaubt, doch dann fragte das
Mädchen, dem der Stand gehörte, ob sie noch etwas Tee wolle.
Amat hätte über diese kleine freundliche Geste beinahe geweint.
Offenbar war sie längst nicht so unversehrt, wie sie es sich hatte
einreden wollen.
Als sie ihr Haus erreichte, waren die Straßen bereits voller
Menschen. An einem normalen Tag hätte sie etwa um diese Zeit die
Wohnung verlassen und sich für das Haus Wilsin in die Stadt
aufgemacht. In ihre Stadt. Sie schloss die Tür auf, schlüpfte hinein
und sperrte hinter sich ab. Es war ein Risiko, nach Hause
zurückzukehren, ohne zu wissen, welchen Verlauf Marchats
grausames Geschäft genommen hatte, doch sie brauchte Geld. Und
die Salbe, die ihren Gelenken so guttat. Und saubere Sachen. Und
Schlaf. Ihr Götter, Schlaf brauchte sie am nötigsten, doch der musste
noch eine Weile warten.
Sie packte schnell ihre Sachen und kämpfte sich die Treppe
hinunter, um das Haus möglichst rasch zu verlassen. Sie hatte genug
Silber im Ärmel, um für einen Monat ein Haus zu mieten. Das
würde doch sicher reichen, um drei, vier Tage heimlich irgendwo
unterzukommen! Wenn es ihr bloß gelänge …
Natürlich gelang es ihr nicht. Als sie die Haustür öffnete,
versperrten ihr drei Männer den Weg. Sie hielten Messer in den
Händen. Der Größte rührte sich als Erster, drückte ihr mit der
Pranke den Mund zu und schob sie zurück in den Flur. Die anderen
schlüpften katzenhaft schnell hinein und machten die Tür zu. Amat
schloss die Augen. Ihr Herz raste, und ihr war übel.
»Wenn du schreist, müssen wir dich umbringen«, sagte der Hüne
sanft, was seine Worte nur schlimmer machte. Amat nickte, und er
nahm die Hand weg. Die Messer blieben gezückt.
»Ich will mit Wilsin-cha sprechen«, verlangte Amat, als sie so weit
war, etwas sagen zu können.
»Gut, dass wir schon nach ihm geschickt haben«, erklärte einer der
anderen. »Setz dich, solange wir warten.«
Amat schluckte, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie machte
eine zustimmende Gebärde, drehte sich um und stieg wieder nach
oben, um an ihrem Schreibtisch zu warten. Zwei Männer folgten ihr,
während der Dritte unten blieb. Knapp zwei Handbreit später kam
Marchat die Treppe hoch und trat in ihr Arbeitszimmer.
Er wirkt gealtert, dachte sie. Oder vielleicht nicht gealtert,
sondern ungepflegt. Das Haar fiel ihm in die Stirn, sein Gewand saß
schlecht, und ein Fleck Eigelb verunzierte den Ärmel. Er ging
zweimal im Zimmer auf und ab und sah sie nicht an. Amat saß am
Schreibtisch, legte die gefalteten Hände aufs Knie und wartete.
Marchat blieb am Fenster stehen, drehte sich um und winkte die
beiden Schergen aus dem Zimmer.
»Raus mit euch. Wartet unten.«
Die beiden sahen sich an und überlegten offenbar, ob sie
gehorchen sollten. Also waren es nicht Marchats Leute. Jedenfalls
nicht wirklich. Vielleicht gehörten sie ja zu dem mondgesichtigen
Oshai. Dann zuckte der eine die Achseln, und der andere nickte. Sie
verließen das Zimmer, und Amat hörte ihre Schritte leiser werden.
Marchat sah wieder aus dem Fenster - wohl, um zu beobachten,
was sich auf der Straße tat. Zwar war es erst Vormittag, doch es
wurde bereits schwül. Unter seinen Achseln waren feuchte Flecken
zu sehen, und in seinen Brauen sammelte sich Schweiß.
»Du bist zu früh dran«, sagte er schließlich und sah sie noch immer
nicht an.
»Ach ja?«
»Drei Tage zu früh.«
Amat machte eine entschuldigende Gebärde, die lässiger ausfiel,
als ihr zumute war. Es folgte eine lange Stille, bis Marchat sie
endlich anblickte. Sie konnte seine Miene nicht deuten. War da Wut,
Trauer oder Erschöpfung? Ihr Arbeitgeber seufzte.
»Amat … die Dinge haben sich schlimm entwickelt schlimmer als
erwartet, obwohl ich ohnehin pessimistisch war.
Er ging zu ihr, ließ sich auf dem Kissen nieder, auf dem sonst Liat
saß, und stützte den Kopf in die Hände. Amat hatte den Wunsch,
ihn zu berühren, beherrschte sich aber.
»Es ist fast vorbei«, fuhr er fort. »Ich kann Oshai und seine Leute
überzeugen, dass es besser ist, dich am Leben zu lassen. Das kann
ich, Amat - doch du musst mir helfen.«
»Wie?«
»Erzähl mir, was du vorhast und was du getan oder gesagt hast,
um den Eingriff zu verhindern.«
Amat war versucht, zu lächeln oder sogar in ein leises,
warmherziges Lachen auszubrechen. Deshalb schüttelte sie sich und
machte eine erstaunte Gebärde. Die Absurdität seiner Frage glich
einer Welle, die einen Schwimmer aufwärts trägt. Marchat blickte
verwirrt drein.
»Was ich getan habe, um den Eingriff zu verhindern?«, fragte sie.
»Habt Ihr den Verstand verloren? Ich bin geflohen, um mein Leben
zu retten, bin untergetaucht und habe gebetet, dass Ihr zu Ende
bringt, was immer Ihr da begonnen habt. Wie kommt Ihr darauf, ich
hätte versucht, Eure Pläne zu durchkreuzen?«
»Dann hast du also nichts unternommen?«
»Ich habe furchtbare Wochen erlebt. Ich wurde geschlagen und
bedroht. Jemand hat einen Brandanschlag auf mich verübt. Ich habe
so viele üble Ecken der Stadt gesehen wie in Jahren nicht. Und ich
habe gearbeitet - länger und härter, als ich es je für Euch getan
habe.« Amat sprach immer schneller und lauter und spürte, dass sie
rot geworden war. »Glaubt Ihr, ich hätte in den wenigen
Augenblicken, da ich zur Ruhe kam, einen Plan ausgetüftelt, um die
Ehre des Hauses Wilsin zu retten und die Welt zu verbessern?
Glaubt Ihr, ich hätte Leute angeheuert, um Eure geschätzte Kundin
ausfindig zu machen und vor dem zu warnen, was Ihr mit ihr
vorhabt? All das habe ich nicht getan, Marchat, doch offenbar habt
Ihr mir genau das zugetraut!«
Amat merkte, dass sie sich vorgebeugt hatte und Wilsin das Kinn
entgegenreckte. Nach diesem Wutausbruch fühlte sie sich
vorübergehend besser. Fast, als hätte sie die Fäden in der Hand. Sie
begriff, dass dies eine Täuschung war, empfand sie aber als
tröstlich. Marchat wirkte missmutig.
»Was ist dann mit Itani?«
»Mit wem?«
»Mit Itani. Dem Freund von Liat.«
Amat machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll mit
ihm sein? Zugegeben, ich hab ihn gebraucht, um herauszufinden,
wohin Ihr in jener Nacht gegangen seid, aber das wisst Ihr sicher
längst. Ich habe damals nicht mit ihm geredet und seither auch
nicht.«
»Warum war er dann mit dem Schüler des Dichters an drei der
letzten fünf Abende unterwegs?«, wollte Marchat wissen. Seine
Stimme klang hart wie Stein. Er glaubte Amat nicht.
»Keine Ahnung, Marchat. Warum fragt Ihr ihn nicht? Wilsin
schüttelte ungeduldig den Kopf, stand auf und wandte ihr den
Rücken zu. Amats Zorn war verflogen, und sie wünschte sich
plötzlich nichts sehnlicher, als dass er ihr glaubte, sie verstand und
auf ihrer Seite war. Sie kam sich vor wie eine Lotsenflagge, die - je
nachdem, woher der Wind kam - in die eine oder andere Richtung
wehte. Wenn sie vor diesem Gespräch ein paar Stunden hätte
schlafen können, wenn sie nicht aus Ovi Niits Haus hätte fliehen
müssen, wenn die Welt nur gerecht oder wenigstens erklärbar
gewesen wäre, dann hätte sie vermocht, sie selbst zu sein:
ausgeglichen und gelassen. Angewidert schluckte sie ihre plötzliche
Sehnsucht hinunter und tat, als würde sie nach ihrem Wutausbruch
nun wieder zur Ruhe kommen.
»Doch wenn Ihr schlau sein wollt, solltet Ihr Liat danach fragen«,
erklärte sie. Dieser Satz ließ Marchat, der schon an der Treppe war,
innehalten.
»Liat? »Sie war es, die mir erzählt hat, wohin Ihr mit Itani
gegangen seid. Ihr Freund hat es ihr gesagt, und sie hat es mir
berichtet. Wenn Ihr befürchtet, dass Itani die Dichter gegen Euch
einnimmt, dann fragt Liat.«
»Sie würde nur misstrauisch werden!«, entgegnete er, doch seine
Stimme flehte geradezu darum, widerlegt zu werden. Amat schloss
die Augen. Wie gut sich das anfühlte! Wie tröstlich die Dunkelheit
war! Sie brauchte wirklich dringend Erholung.
»Aber nein«, sagte sie. »Tut, als würdet Ihr sie ausschimpfen. Sagt
ihr, Liebschaften ziemten sich nicht unter Kollegen, und fragt sie,
warum sie und Itani damit nicht warten konnten, bis einer von
beiden aus Eurem Dienst ausgeschieden ist. Schlimmstenfalls
leugnet sie, aber dann wisst Ihr, dass sie etwas zu verbergen hat.«
Amats Arbeitgeber und langjähriger Freund ließ sich diese Idee
durch den Kopf gehen und suchte nach Fehlern. Ein Windstoß, der
nach Meer roch, schlug Amat ins Gesicht. Dann sah sie an Marchats
Blick, dass er ihren Vorschlag angenommen hatte.
»Du bleibst zu Hause, bis es vorbei ist«, befahl er. »Ich werde
dafür sorgen, dass Oshais Leute dir Essen und Trinken bringen. Ich
muss die Sache mit Oshai und dem Mädchen noch abschließen, aber
das schaffe ich. Dir wird nichts passieren.«
Amat nickte ergeben. »Ich bin froh, wieder in meiner Wohnung zu
sein«, sagte sie und fragte dann: »Marchat, worum geht es eigentlich
bei der ganzen Sache?«
»Um Geld«, antwortete er. »Und um Macht. Worum sonst?«
Als er die Treppe hinunterging und sie allein ließ, war ihr alles
klar: Es ging nicht um das Kind oder die Mutter, sondern um den
Dichter. Also ging es auch um den Andaten. Falls Heshai die
Kontrolle über seine Schöpfung entglitt und Samenlos ihm entkam,
verlor der Baumwollhandel von Saraykeht seinen Vorteil gegenüber
anderen Häfen auf den Inseln, in den Westgebieten und in Galtland.
Selbst wenn ein neuer Andat käme, würde er den Baumwollhandel
kaum so stark beeinflussen können wie Samenlos oder Blütenfall.
Amat trat ans Fenster. Auf der Straße herrschte reger Betrieb. Die
Dächer der Stadt erstreckten sich weit nach Osten, und im Hafen
lagen viele Schiffe vor Anker. Handel. Das Mädchen Maj wurde
geopfert, um Saraykehts beherrschende Stellung im
Baumwollhandel zu untergraben. Das war die einzig sinnvolle
Erklärung.
»Oh, Marchat«, flüsterte Amat. »Was hast du getan?«
Das Teehaus war beinahe leer. Nur zwei, drei junge Männer
redeten noch miteinander und warfen sich unausgereifte und
unzusammenhängende Gedanken an den Kopf. Im Vorgarten war
ein älterer Mann beim Springbrunnen eingeschlafen, und seine
langen, ruhigen Atemzüge bildeten den Kontrapunkt zu dem fernen
Streitgespräch. Flackernd erlosch eine Zitronenkerze, deren langer
Rauchfaden nun grau in den Nachthimmel stieg. Der Geruch ihres
Dochts stach Otah in der Nase, und er hätte am liebsten eine neue
Kerze angezündet, gab diesem Bedürfnis aber nicht nach. Neben
ihm auf der Bank saß Maati und seufzte.
»Wird es hier eigentlich nie kalt, Otah?«, fragte er. »Wenn wir
noch beim Dai wären, würden wir längst frieren, selbst im
Hochsommer Es ist schon Mitternacht und noch immer fast so heiß
wie am Tage.«
»Das liegt am Meer. Es speichert die Hitze. Und wir sind weit im
Süden. Im Norden ist es kühler.«
»Im Norden. Erinnert Ihr Euch noch an Machi?«
Bilder stürmten auf Otah ein: zwei Meter dicke Mauern; Türme,
die in den weißen Himmel ragten; Steinstatuen, die den Tag über im
Feuer lagen, um nachts im Kinderzimmer Hitze abzustrahlen.
Er erinnerte sich daran, mit einer Schwester, deren Name er
vergessen hatte, auf einem Schlitten durch verschneite Straßen
gezogen worden zu sein und sich an sie geklammert zu haben, um
nicht zu frieren. Und an den Geruch von brennenden
Kiefernscheiten, heißen Steinen und warmem, gewürztem Wein.
»Nein«, antwortete er, »eigentlich nicht.«
»Ich betrachte den Sternenhimmel nur selten«, sagte Maati. »Ist
das nicht merkwürdig?«
»Vermutlich«, erwiderte Otah.
»Ich frage mich, ob Heshai es tut. Er ist dauernd unterwegs, wisst
Ihr. Selbst gestern war er noch nicht zurück, als ich nach Hause
kam.«
»Du meinst heute früh?«
Maati runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich. Es dämmerte aber noch
nicht, als ich ankam. Ihr hättet Samenlos sehen sollen: Wie eine
Katze ist er vor dem Haus herumgeschlichen. Er wollte unbedingt
wissen, wo ich gewesen war, aber ich habe nichts gesagt. Wohin
Heshai wohl nächtelang verschwindet?«
»Samenlos macht sich also Sorgen um dich?«, fragte Otah. »Dann
trink besser Wasser. Das ist gut gegen Kater.«
Maati nickte, stand aber nicht auf, um welches zu holen. Der Alte
schnarchte. Otah schloss kurz die Augen, um zu spüren, wie sich das
anfühlte. Als würde er rückwärts stürzen. Er war viel zu müde und
würde die nächste Schicht nie und nimmer durchstehen. Der Ärger
mit Muhatia war absehbar.
»Ich weiß nicht, wie Heshai das fertigbringt«, sagte Maati, dem
offenbar ähnliche Dinge durch den Kopf gingen. »Er hat einen
anstrengenden Tag vor sich. Ich glaube nicht, dass ich heute mehr
schaffe als gestern … als heute, meine ich … ach, ich weiß nicht, was
ich meine. Wenn ich zum Schlafen komme, ist es leichter, den
Überblick behalten. Was ist mit Euch?«
»Die kommen ohne mich zurecht«, sagte Otah. »Muhatia weiß,
dass mein Vertrag demnächst ausläuft. Der rechnet fast damit, dass
ich meine Pflichten vernachlässige. Das ist bei Leuten, die ihren
Vertrag nicht verlängern, recht verbreitet.«
»Und Ihr verlängert ihn nicht?«, fragte Maati.
»Das ist noch offen.«
Otah setzte sich anders hin und sah den jungen Dichter an, dessen
braune Gewänder im Mondlicht schwarz wirkten. »Ich beneide
Euch«, sagte Maati. »Das wisst Ihr, oder?«
»Möchtest du ziellos sein und nicht wissen, wie du in einem halben
Jahr dein Brot verdienst?«
»Ja«, erwiderte Maati, »ich glaube schon. Ihr habt Freunde, ein
Zuhause, Möglichkeiten. Und …
»Und?«
Selbst im Dunkeln konnte Otah ihn erröten sehen. Als Maati
weiterredete, machte er eine entschuldigende Gebärde. »Und Ihr
habt Liat. Sie ist sehr schön.«
»Wunderschön ist sie. Aber am Hof gibt es jede Menge Frauen.
Und du bist der Schüler des Dichters. Es gibt sicher Mädchen, die
sich mit dir einlassen würden.«
»Das nehme ich an. Vielleicht. Ich weiß nicht recht, aber … ich
versteh sie einfach nicht. Ich hatte nie mit Mädchen zu tun - weder
an der Schule noch in der Zeit beim Dai. Sie sind irgendwie …
anders.«
»Ja«, sagte Otah, »da hast du vermutlich recht.«
Liat. Seit der Audienz beim Khai hatte er sie nur an ein paar
Abenden gesehen. Seit Maati ihn enttarnt hatte. Sie war so damit
beschäftigt, Maj auf den traurigen Eingriff vorzubereiten, dass sie
seine häufige Abwesenheit nicht offen angesprochen hatte, doch die
vorgeblich unverfänglichen Fragen, die sie ihm mitunter stellte, und
ihr häufiges Schweigen deuteten darauf hin, dass sich etwas
zusammenbraute.
»Mit Liat und mir sieht es nicht gut aus«, sagte Otah und war über
sein Eingeständnis selbst erstaunt. Maati setzte sich auf und zwang
sich eine reichlich benebelte Konzentration ab. Seine besorgte Miene
wirkte auf Otah beinahe komisch. Jetzt machte Maati auch noch eine
fragende Gebärde … Otah wollte schon abwinken, verkniff es sich
aber. »Das geht nicht von ihr aus … Ich glaube, ich bin es, der ein
Problem hat.«
»Warum?«, fragte Maati mit unüberhörbarer Skepsis.
Otah fragte sich, wie er an dieses Thema hatte geraten können.
Maati schien ein Talent dafür zu haben, ihn Dinge aussprechen zu
lassen, die er kaum den Mut gehabt hatte zu durchdenken. Endlich
schien er jemanden gefunden zu haben, der ihn verstand. Jemanden,
der sein Wesen erkannte und ähnliche Verlusterfahrungen hatte
durchmachen müssen.
»Ich habe Liat nie erzählt, wer ich bin. Meinst du … Maati, kann
man jemanden lieben, ohne ihm zu vertrauen?«
»Das Leben ist seltsam«, sagte Maati und klang plötzlich älter und
trauriger. »Würden wir auf Menschen warten, denen wir vertrauen,
könnten wir womöglich nie jemanden lieben.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann stand Maati auf.
»Ich hol mir drin Wasser und versuche, dabei auch etwas Wasser
loszuwerden«, sagte er, und die düstere Stimmung schwand.
»Und dann sollten wir aufbrechen«, meinte Otah lächelnd.
Maati machte eine so bedauernde wie zustimmende Gebärde und
ging einigermaßen sicheren Schrittes ins Teehaus. Otah stand auf
und streckte sich, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann
legte er eine Silbermünze auf den Tisch, an dem sie gesessen hatten.
Das war mehr als genug für das, was sie an Brot, Käse und
Getränken zu sich genommen hatten. Als Maati zurückkam, brachen
sie nach Norden auf, in Richtung der Paläste. Die Straßen lagen im
fahlen Mondschein. Nur da und dort brannte eine Laterne und
tauchte ihre Umgebung in rötliches Licht. Nachtvogelgesang,
Grillenzirpen und die gelegentlichen Stimmen von Leuten, die so
spät noch wach waren, begleiteten sie.
All das war Otah vertraut wie sein Bett oder der Geruch des
Meeres, doch der Junge neben ihm ließ es ihn anders empfinden.
Fast ein Drittel seines Lebens lebte Otah jetzt in Saraykeht. Er
kannte alle Straßen der Stadt und wusste, welchen Händlern man
trauen und wo man kaufen konnte, welche Teehäuser alle Kunden
gleich behandelten und welche die besseren Waren für feinere
Kundschaft zurückhielten. Und er kannte seinen Platz in dieser
Gesellschaft und hätte darüber so wenig nachgedacht wie über das
Atemholen - wenn Maati nicht gewesen wäre.
Der Junge ließ ihn alles wie zum ersten Mal betrachten die Stadt,
die Straßen, Liat, sich selbst. Vor allem sich selbst. Nun kam ihm,
was er als seinen größten Erfolg verstanden hatte - dass nämlich er
die Stadt kannte, sie ihn aber nicht -, eigenartig schal, ja fast
unerträglich vor. Und er fand es seltsam, dass es ihm nie zuvor so
erschienen war.
Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf - Bilder seiner
vergessen geglaubten Kindheit, jener Zeit also, bevor er auf die
Schule geschickt worden war. Das Gesicht mit dem dunklen Bart
und Haupthaar beispielsweise mochte sein Vater gewesen sein.
Dann war da eine Frau, die ihm etwas vorgesungen und ihn
gebadet hatte, als er noch klein genug gewesen war, um ihn auf
dem Arm zu tragen. Er wusste nicht, ob sie seine Mutter, ein
Kindermädchen oder eine seiner Schwestern gewesen war, doch im
Kamin hatte ein Feuer gebrannt, die Badewanne war aus Kupfer,
und er war fasziniert davon gewesen.
Im Laufe der letzten Tage und Nächte hatten sich weitere Schemen
eingestellt. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter ein
Stoffkaninchen in seine Sachen geschmuggelt hatte, damit sein Vater
es nicht sah. Er erinnerte sich daran, dass ein älterer Junge -
vielleicht sein Bruder - gerufen hatte, es sei nicht gerecht, Otah
wegzuschicken, und dass er sich schuldig gefühlt hatte, so viel
Ärger ausgelöst zu haben. Er erinnerte sich an den Namen Oyin
Frey und an einen alten Mann mit langem, weißem Bart, der eine
Trommel geschlagen und dazu gesungen hatte, wusste aber nicht,
wer der Mann war oder wie er ihn kennen gelernt hatte.
Er hatte keine Ahnung, welche Erinnerungen der Realität
entsprachen und welche Wunschträume waren. Er fragte sich, ob er
in den hohen Norden würde zurückreisen müssen und ob seine
geisterhaften Erinnerungen ihn auf Wege führen würden, die er seit
Jahren nicht gegangen war. Würden sie ihn vom Kinderzimmer in
die Küche und weiter zu den Tunneln unterhalb von Machi führen,
oder würden sie ihn wie Irrlichter vom richtigen Weg locken? Auch
an die Schule erinnerte er sich - an die finsteren Blicke von Tahi-kvo
und das Schwirren seines Rohrstocks. Er hatte all dies verdrängt
und den Jungen, der all diese Verluste und Demütigungen erlitten
hatte, aus seinem Gedächtnis verbannt. Nun aber war ihm, als
würde er verfolgt von dem, der er hätte sein können, und von dem,
der er gewesen sein mochte.
»Ich fürchte, ich hab Euch verärgert«, sagte Maati leise. Otah sah
ihn an und machte eine fragende Gebärde. Maati runzelte die Stirn
und blickte zu Boden.
»Seit wir das Teehaus verlassen haben, habt Ihr kein Wort gesagt«,
erklärte er schließlich. »Falls ich Euch gekränkt habe …«
Otahs Lachen schien Maati nur in dieser Annahme zu bestätigen.
Spontan legte Otah ihm den Arm um die Schultern, als wäre er ein
alter Freund oder ein Bruder.
»Tut mir leid. Das passiert mir zur Zeit offenbar ständig. Nein,
Maati, ich bin nicht verärgert. Du bringst mich nur zum
Nachdenken. Was das angeht, bin ich wohl ziemlich aus der Übung
und verliere mich laufend in Grübeleien. Außerdem bin ich
unglaublich müde.«
»Ihr könnt im Haus des Dichters übernachten, wenn Ihr nicht in
Eure Unterkunft zurückkehren wollt. Im Erdgeschoss steht ein
wunderbares Sofa.«
»Lieber nicht«, erwiderte Otah. »Wenn ich Muhatia das Vergnügen
missgönne, mich morgens auszuschimpfen, lässt er mittags seinen
Zorn an mir aus.«
Maati machte eine so verständnisvolle wie bedauernde Gebärde
und legte Otah seinerseits den Arm um die Schultern. Sie gingen
weiter und plauderten wieder in jener Mischung aus Heiterkeit und
Ernst, die für ihre Unterhaltung an diesem und den früheren
Abenden typisch gewesen war. Maati fand sich mittlerweile besser
in der Stadt zurecht, und auch wenn er nicht immer den schnellsten
Weg nahm, ließ Otah ihn gewähren. Als sie sich dem Denkmal von
Kaiser Atami näherten, bei dem drei breite Straßen zusammenliefen,
fragte er sich, wie es wohl gewesen wäre, mit einem Bruder
aufzuwachsen.
»Otah?«, fragte Maati und ging plötzlich langsamer. »Siehst du den
Mann da? Den mit dem Umhang?«
Sein Begleiter blickte kurz zur Seite. Der Mann entfernte sich allein
in Richtung Osten. Doch Maati hatte recht: Es war der Mann, der im
Vorgarten des Teehauses geschlafen oder doch so getan hatte, als
schliefe er. Otah löste sich von Maati, um im Falle eines Kampfes die
Arme frei zu haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Bewohner
des Palastviertels auf dem Rückweg vom Teehaus verfolgt und
seiner Münzen wegen überfallen wurde.
»Komm«, sagte Otah und schritt mitten auf den Platz. Kaiser
Atami ragte über ihnen auf. Seine Augen wirkten im Dunkeln
tieftraurig. Otah drehte sich langsam um und musterte jede Straße,
jedes Gebäude.
»Was meint Ihr?«, fragte Maati unsicher. »Ist er uns gefolgt?«
Bis auf den Mann aus dem Teehaus, der nach Osten verschwand,
war kein Mensch zu sehen. Otah wartete zwanzig Atemzüge, doch
niemand tauchte auf. Kein Schatten bewegte sich durch die Nacht.
Der Platz lag einsam da.
»Vielleicht«, antwortete er dann. »Wahrscheinlich, aber ich bin mir
nicht sicher. Gehen wir weiter. Und wenn du etwas entdeckst, sag
Bescheid.«
Den restlichen Weg zu den Palästen sorgte Otah dafür, dass sie auf
breiten Straßen blieben, wo sie Entgegenkommende von Weitem
sehen konnten. In diesem Fall würde er Maati losrennen lassen, um
Hilfe zu holen, und ihm einen möglichst großen Vorsprung
erkämpfen. Ein hübscher Plan, solange ihnen nicht eine ganze Schar
entgegenkam oder die Angreifer mit Messern bewaffnet waren.
Doch nichts geschah, und Maati wünschte seinem Begleiter
unbehelligt gute Nacht.
Als Otah seine Unterkunft erreichte, war seine Angst
verschwunden, und er fühlte sich wieder todmüde. Erschöpft sank
er auf seine Pritsche und machte das Mückennetz zu. Das
Schnarchen und die übrigen Schlafgeräusche seiner Kollegen hätten
ihn einlullen sollen, doch so müde er auch war, er konnte keinen
Schlaf finden. Im Dunkeln beschäftigte er sich mal mit diesem, mal
mit jenem Problem. Jemand, der Maati womöglich weiter beschatten
würde, hatte sie verfolgt; sein Vertrag war beinahe abgelaufen, und
er wäre im Morgengrauen zu müde, um an die Arbeit zu gehen; er
hatte Liat nie von seiner Vergangenheit erzählt. Kaum hatte er sich
einem Gegenstand näher zugewandt, lenkte ihn schon ein anderer
ab, bis er seinen Gedanken nur noch nachjagte, die ihrerseits ihm
auf den Fersen schienen. Er wusste nicht, wann er endlich
eingeschlafen war.
Liat verließ Marchat Wilsins Arbeitszimmer sehr aufrecht und
kochend vor Zorn, marschierte zu ihrer Kammer, ohne einmal auf
den Boden zu sehen oder einen Blick zu erwidern, schloss die Tür
hinter sich ab, verriegelte die Fensterläden, damit niemand
hereinsehen konnte, setzte sich an den Schreibtisch und weinte.
Es war so ungerecht. Sie hatte getan, was sie konnte, hatte sich mit
der Etikette vertraut gemacht, hatte das Inselmädchen stets
pünktlich zu allen Treffen gebracht und mit dem Dichter sogar noch
verhandelt, als dieser ihr sehr deutlich gesagt hatte, dass er sie am
liebsten los wäre - und dann war Itani ihr in den Rücken gefallen.
Itani! Sie zog ihr Oberkleid aus, schleuderte es aufs Bett, riss den
Schrank auf und suchte nach einem Gewand, das ihrer Wut
angemessener war.
»Das ist durchaus unangebracht«, hörte sie Wilsin-cha noch immer
sagen. »So kurz vor einer Geschäftsabwicklung kann es den
Eindruck erwecken, das Unternehmen würde nach Vertragsschluss
noch Sonderbedingungen aushandeln wollen.«
Sie wusste, was Wilsin eigentlich gemeint hatte: dass sie sich
dadurch, ihren Liebhaber losgeschickt zu haben, auf dass er Vorteile
für sie heraushole, zum Gespött gemacht haben dürfte. Und
schlimmer noch: Der süße, freundliche, stets lächelnde Itani hatte ihr
nicht mal davon erzählt. All die Abende und Nächte, die sie sich mit
Arbeit um die Ohren geschlagen hatte und ihn mit seinen Freunden
unterwegs glaubte (oder in der Unterkunft, wo er darauf wartete,
dass sie endlich mit der Aufgabe fertig wurde, die ihr beim
traurigen Eingriff zugefallen war), war er in Wirklichkeit eifrig
beschäftigt gewesen, ihre Bemühungen zunichte zu machen, indem
er sich mit dem Schüler des Dichters herumtrieb, ohne auch nur
einen Gedanken daran zu verschwenden, wie das aussehen und in
welchem Licht es seine Freundin Liat erscheinen lassen würde.
Am schlimmsten aber war, dass er ihr mit keinem Wort davon
erzählt hatte.
Sie schnappte sich ein streng wirkendes Gewand, dessen rotes
Gewebe schwarz durchwirkt war, zog es über ihr Unterkleid und
gürtete es an der Taille. Dann band sie ihr Haar straff nach hinten.
Als sie damit fertig war, hob sie das Kinn, wie Amat Kyaan es getan
hätte, und schritt in die Stadt hinunter.
Auf den Straßen herrschte reges Treiben. Die Sonne stand noch
gut acht Handbreit überm Horizont, und Hitze lastete auf der Stadt.
Zudem war die Luft feucht, drückend und reglos, und es stank
geradezu nach Meer. Itani war sicher noch mit seinen Kollegen bei
der Arbeit, doch sie würde nicht warten und Gefahr laufen, dass ihr
Zorn nachließe, sondern herausfinden, was er sich dabei gedacht
hatte. Sie würde Wilsin-cha eine Erklärung liefern, und zwar vor
dem eigentlichen Eingriff. Ihr blieb also nur noch der kommende
Tag, um die Dinge in Ordnung zu bringen.
Als sie zu den Unterkünften kam, stellte sie fest, dass Itani nicht
mit den anderen zur Arbeit gegangen war. In der Nacht zuvor war
er zu lange unterwegs gewesen und hatte Krankheit vorgeschützt,
als Muhatia seine Leute abholte. Der klumpfüßige Junge, der die
Unterkünfte während der Arbeitszeit bewachte, versicherte ihr mit
offensichtlichem Vergnügen, Muhatia sei fuchsteufelswild gewesen.
Was Itani auch im Schilde führen mochte - er hielt es offenbar für
wichtig genug, dafür seinen Arbeitsplatz zu riskieren und Liats
Ansehen bei Wilsin-cha zu untergraben. Sie bedankte sich bei dem
klumpfüßigen Jungen und fragte ihn mit sehr förmlicher Gebärde,
wo sie Itani finden könne. Der Junge zuckte die Achseln und nannte
eine Reihe von Teehäusern, Badehäusern und Vergnügungsstätten
am Hafen. Erst zwei Handbreit später entdeckte Liat ihren Freund
in einem billigen Badehaus am Fluss. Ihr Zorn hatte ganz und gar
nicht nachgelassen.
Sie stolzierte ins Bad, ohne sich damit aufzuhalten, ihre Sachen
abzulegen. Die von den gefliesten Wänden widerhallenden
Gespräche erstarben bei ihrem Vorbeigehen. Die Männer und
Frauen in den Becken musterten sie, doch Liat ging einfach weiter
und tat, als beachte sie sie nicht, verhielt sich also, wie Amat es
getan hätte. Itani hatte einen Privatraum im Seitenflügel genommen.
Liat schritt über die rauen, nassen Steine des kurzen Flurs, blieb
einen Moment lang stehen, atmete zweimal tief durch, als enthielte
die schwüle, salzige Luft etwas Stärkendes, und drückte die Tür zu
dem Raum auf.
Er hockte im Becken, als säße er an einem Tisch: ein wenig
vorgebeugt, den Blick gedankenverloren aufs Wasser gerichtet. Erst
als sie die Tür hinter sich zuknallte, sah er auf, und seine Augen
wirkten müde. Liat machte eine fragende Gebärde, die durchaus
anklagend ausfiel.
»Ich habe dich besuchen wollen, Liebes«, sagte er.
»Ach ja?«, fragte sie.
»Ja.«
Er sah wieder auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche und zog
die Schultern nach vorn. Liat trat an den Beckenrand und funkelte
ihn zornig an, damit er zu ihr hochblickte, doch das tat er nicht.
»Es gibt da etwas, worüber wir uns unterhalten müssen, Liebes«,
sagte er. »Das hätten wir schon früher tun sollen, aber »Was bildest
du dir eigentlich ein, Itani? Was machst du für einen Unsinn? Wilsin-
cha hat mir vorhin eine halbe Handbreit sehr beherrscht erzählt,
dass du mich vor den Utkhais lächerlich gemacht hast. Wie kannst
du dich nur mit dem Schüler des Dichters herumtreiben?«
»Maati«, sagte Itani abwesend. »Er heißt Maati.«
Hätte Liat etwas Passendes in Reichweite gehabt, dann hätte sie es
ihm an den gesenkten Kopf geworfen. Stattdessen stieß sie einen
verzweifelten Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf. Itani
blinzelte mehrmals, als wäre er aus einem Traum hochgeschreckt
und müsse sich erst an die Umgebung gewöhnen. Dann lächelte er
sein reizendes, offenes und warmherziges Lächeln.
»Itani, ich stehe gedemütigt vor dem ganzen Hofstaat, und du -«
»Warum denn?«
»Was?«
»Warum bist du gedemütigt, wenn ich mit Maati ins Teehaus
gehe?«
»Weil es aussieht, als würde ich versuchen, mir so nach
Vertragsschluss Vorteile zu verschaffen«, stieß sie hervor.
Itani bat mit einer Gebärde um nähere Erläuterungen und sagte:
»Geht es zwischen der Baumwollernte und der Erfüllung der
Handelsverträge nicht vor allem darum? Hat Amat Kyaan dich nicht
immer mit Briefen losgeschickt, in denen um die Auslegung von
Vertragsbedingungen gestritten wurde?«
Das stimmte, war ihr aber nicht eingefallen, als Wilsin-cha ihr mit
furchtbar bedauernder Miene an seinem Schreibtisch
gegenübergesessen hatte. Vertragsunterzeichnungen bedeuteten ja
nicht, dass die Geschäftspartner darauf verzichteten, sich weiter um
Vorteile zu bemühen.
»Aber hier liegt der Fall anders«, sagte sie. »Dieser Vertrag wurde
mit dem Khai geschlossen, und da macht man solche Spielchen
nicht.«
»Tut mir leid«, erwiderte Itani, »aber das habe ich nicht gewusst.
Doch ich habe ohnehin nicht versucht, etwas an dem zu ändern, was
du ausgehandelt hast.«
»Sondern? Itani schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem
Becken und goss es sich über den Kopf. Sein schmales Gesicht
wirkte nun völlig entspannt. Er atmete zweimal tief durch, nickte,
schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Als er sprach,
klang seine Stimme gelassen.
»Ich kenne Maati von früher. Wir waren zusammen auf der
Schule.«
»Auf welcher Schule denn?«
»Auf der Schule, in die der Adel seine enterbten Söhne schickt,
von denen einige zu Dichtern bestimmt werden.« Liat runzelte die
Stirn. Itani blickte auf.
»Und was hast du dort gemacht?«, fragte sie. »Als Diener
gearbeitet, oder? Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Ich bin der Sohn von Khai Machi. Der sechste Sohn. Damals hieß
ich Otah Machi. Ich habe mich erst nach Verlassen der Schule Itani
genannt, damit meine Familie mich nicht findet. Ich bin ohne
Brandmal gegangen. Darum wäre es gefährlich gewesen, wenn ich
meinen Namen behalten hätte.«
Sein Lächeln verblasste, und er sah wieder weg. Liat konnte sich
nicht rühren. Das war ja lächerlich. Lachhaft! Und doch lachte sie
nicht. Ihr Zorn war wie weggeblasen, und sie hatte Mühe zu atmen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Und doch war es so. Sie wusste,
dass er nicht log. Da saß er nun vor ihr und ein gutes Stück unter
ihr, und seine Augen schwammen in Tränen. Er hustete und wischte
sich die Tränen mit dem Handrücken ab.
»Ich habe das noch nie jemandem erzählt«, sagte er.
»Du begann Liat, musste aber innehalten, schlucken und neu
ansetzen. »Du bist ein Sohn von Khai Machi?«
»Zuerst habe ich dir nichts davon erzählt, weil ich dich nicht
kannte. Und später habe ich geschwiegen, weil ich anfangs nichts
gesagt hatte. Aber ich liebe dich. Und ich vertraue dir. Wirklich.
Und ich möchte mit dir leben. Verzeihst du mir?«
»Ist das … lügst du mich etwa an, Tani? »Nein«, antwortete er.
»Es ist die Wahrheit. Du kannst Maati fragen, wenn du magst.«
Liats Kehle war wie zugeschnürt, und sie konnte nicht sprechen.
Itani erhob sich aus dem Wasser und streckte ihr flehend die Arme
entgegen. In seinen Augen stand die Angst, sie könnte sich von ihm
abwenden, doch sie ließ sich in seine Arme fallen. Ihre Gewänder
sogen sich voll Wasser und hingen wie schwere Gewichte an ihr,
doch das war ihr gleich. Sie zog ihn zu sich heran - nah, ganz nah -
und schmiegte ihre Wange an die seine. Er umarmte sie und hob sie
hoch. Wie sicher sie sich fühlte! Wie stark und wundervoll er war!
»Ich hab es gewusst«, sagte sie. »Ich habe gespürt, dass du nicht
irgendwer bist. Ich habe es immer gewusst.«
Er küsste sie. Es war unwirklich und mutete an wie etwas aus
einem alten Epos. Sie, Liat Chokavi, war die Geliebte des
untergetauchten Sohnes von Khai Machi. Und er war ihr Geliebter.
Sie lehnte den Kopf zurück, nahm sein Gesicht zwischen die Hände
und musterte ihn, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er.
»Als ob ich verletzt wäre!«, erwiderte sie. »Ich könnte fliegen,
Liebster. Fliegen könnte ich!«
Er umarmte sie so leidenschaftlich wie ein Ertrinkender sich an
eine rettende Planke klammert. Ihr ging es nicht anders. Dann riss
sie sich die Kleider vom Leib, die im Becken versanken und wie
Wasserpflanzen um ihre Knöchel spielten. Nackt standen sie im
hüfthohen Wasser, und Liat gab sich dem herrlichen Gedanken hin,
dass ihr Geliebter eines Tages Thron und Macht seines Vaters
übernehmen könnte. Gut möglich, dass er eines Tages Khai sein
würde.
9
Maati schreckte hoch, als Heshai ihn an der Schulter berührte. Der
Dichter wich etwas zurück und verzog dabei sein breites
Froschmaul. Maati setzte sich auf und schob das Mückennetz
beiseite. Sein Kopf dröhnte.
»Ich muss bald los«, sagte Heshai leise und amüsiert. »Und ich
wollte dich nicht so liegen lassen. Sonst verschläfst du noch den
ganzen Tag. Bei Sonnenuntergang aufzuwachen, macht es morgen
nur schlimmer.«
Maati sah ihn fragend an, und Heshai begriff.
»Es ist kurz nach Mittag«, erklärte er.
»Ihr Götter«, stöhnte Maati und kam auf die Beine. »Tut mir
wirklich leid. Ich bin gleich fertig Der Dichter winkte ab und ging
schwerfällig zur Tür. Er trug bereits sein braunes Gewand und seine
Sandalen.
»Nicht nötig. Heute passiert nichts, wovon du wissen müsstest. Ich
wollte nur nicht, dass du deinen Kater länger als nötig pflegst.
Unten sind Obst und frisches Brot. Wurst gibt es auch, wenn du die
verträgst, aber ich an deiner Stelle würde es langsam angehen
lassen.«
Maati machte eine entschuldigende Gebärde.
»Ich habe meine Pflichten vernachlässigt, Heshai-kvo. Ich hätte
nicht so lange in der Stadt bleiben und nicht so lange schlafen
dürfen.«
Heshai klatschte mit gespieltem Ärger in die Hände. »Bist du hier
der Lehrer?«
»Nein, Heshai-kvo.«
»Na also. Ich bestimme, wann du deine Pflichten vernachlässigt
hast«, sagte er und zwinkerte ihm zu.
Als er gegangen war, legte Maati sich wieder auf die Pritsche und
drückte die Handfläche gegen die Stirn. Als er die Augen schloss,
hatte er das Gefühl, sein Bett bewege sich und triebe langsam einen
Fluss hinab. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und merkte nun
erst, dass er beinahe wieder eingedöst wäre. Seufzend quälte er sich
aus dem Bett, tauschte sein Gewand von gestern gegen ein frisches
und stieg die Treppe hinunter, um das von Heshai versprochene
Frühstück in Augenschein zu nehmen.
Ein schwülheißer Nachmittag lag vor ihm. Maati nahm ein Bad
und brachte zum ersten Mal seit Tagen seine Sachen in Ordnung.
Als der Diener kam, um Teller und Abfälle abzuräumen, bat Maati
um einen Krug Zitronenwasser.
Bis der Diener ihm das Wasser brachte, hatte er das Buch, das er
lesen wollte, bereits gefunden und ging nach draußen, um sich am
Teich in den Schatten der Bäume zu setzen. Dort, wo er es sich
gemütlich machte, roch es herrlich nach frisch gemähtem Gras. Nur
das Summen der Insekten und das gelegentliche Platschen eines
auftauchenden Zierkarpfens waren zu hören, als Maati sich an die
Lektüre des in braunes Leder gebundenen Buches machte, das
folgendermaßen begann: Seit dem Untergang des ersten Reiches ist
es keinem Dichter mehr gelungen, mehr als einen Andaten zu
binden. Wir Heutigen mögen sehnsüchtig auf die damalige Fülle
blicken, da wir wissen, was unseren Vorfahren unbekannt war: dass
Andaten, denen es gelungen ist, sich zu befreien, selten erneut
gebunden werden können. Der Grund unserer gegenwärtigen
Genügsamkeit ist, dass für uns heutige Dichter die erste
Beschwörung auch die letzte ist. Darin ähneln wir Tischlern, deren
als Gesellenstück gefertigter Stuhl das Meisterwerk sein muss, mit
dem sie in Erinnerung bleiben. Daher ist es unsere Pflicht, unsere
Arbeit genau zu prüfen, damit kommende Generationen selbst aus
kleinsten Fehlern lernen können. In dieser Überzeugung schreibe
ich, Heshai Antaburi, hier die Beschwörung auf, mit der ich als
junger Mann den Andaten Samenlos gebunden habe. Zugleich
werde ich erläutern, wie ich bei seiner Bindung Fehler hätte
vermeiden können, wenn ich mich besser gekannt hätte.
Heshai hatte eine erstaunlich schöne Handschrift, und sein Werk
war so mitreißend aufgebaut wie ein Epos. Er begann mit der
Schilderung dessen, was er mit dem Andaten zu erreichen gehofft
hatte. Dann berichtete er ausführlich, wie er den Gedanken, der
Samenlos zugrunde lag, übersetzt, also aus dem Allgemeinen ins
Individuelle übertragen und ihm dabei Gestalt und Charakter
gegeben hatte. Nachdem er die Geschichte der Bindung erzählt
hatte, wandte sich Heshai den Fehlern seiner Beschwörungsarbeit
zu und wies im Detail nach, wo sich - jedenfalls alten Grammatiken
zufolge - Zweideutigkeiten fanden, wo also die Absichten des
Dichters mit dem, was bei der Beschwörung herauskam, über Kreuz
lagen.
Unstimmigkeiten, die Maati - wie er glaubte - nie aufgefallen
wären, wurden mit einer Offenheit dargestellt, die ihn beschämte:
Schönheit, die zu Überheblichkeit führte; Stärke, die zu
Mutwilligkeit verleitete; Selbstsicherheit, die mit der
Geringschätzung anderer einherging. Und damit nicht genug - der
Dichter beschrieb auch, wie jeder Charakterfehler des Andaten
seinen Ursprung in der Persönlichkeit seines Beschwörers hatte, in
der von Heshai also. Und obwohl es Maati peinlich war, diese
Bekenntnisse zu lesen, verlangten sie ihm stets zunehmenden
Respekt vor seinem Lehrer und dem Mut ab, den es erforderte,
solche Dinge zu Papier zu bringen.
Die Sonne war schon hinter den Baumkronen verschwunden, und
die Grillen hatten zu zirpen begonnen, als Maati den dritten Teil des
Buchs erreichte, wo Heshai die »korrigierte« Version seines
Geschöpfs beschrieb. Als er aufblickte, sah er, dass der Andat auf
der Brücke stand und ihn beobachtete. Einmal mehr fielen Maati
seine vollkommenen Wangen und sein ebenso intelligenter wie
amüsierter Blick auf. Zugleich aber war er noch vertieft in das Werk
des Mannes, der diese Wangen und diesen Blick erst hatte Gestalt
annehmen lassen.
Samenlos grüßte ihn mit einer formvollendeten Gebärde und
schritt das kurze Stück zu. Maati, der sein Buch schloss.
»Na? Fleißig?«, fragte der Andat beim Näherkommen. »Das Buch
ist faszinierend, nicht? Nutzlos, aber faszinierend.«
»Warum sollte es nutzlos sein?«
»Die ›korrigierte« Version ist dem Original einfach zu ähnlich.
Man kann mich nicht zweimal auf gleiche Art binden. Das weißt du
doch. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze,
oder?«
Der Andat streckte sich im Gras aus. Seine dunklen Augen
wandten sich nach Süden, also den Palästen zu, hinter denen die
Stadt lag, die freilich vom Teich aus nicht zu sehen war. Samenlos
zupfte mit seinen vollkommenen Fingern am Gras herum.
»Immerhin zeigt dieses Buch anderen, welche Fehler Heshai
begangen hat«, sagte Maati.
»Wenn er ihnen die Fehler zeigen würde, die sie selbst zu machen
im Begriff stehen, wäre es nützlich«, entgegnete der Andat.
»Manche Fehler aber kann man erst erkennen, nachdem man sie
begangen hat.«
Maati nickte vage - ob zustimmend oder aus reiner Höflichkeit,
blieb unklar. Samenlos lächelte und ließ einen Grashalm aufs Wasser
segeln.
»Wo ist Heshai-kvo?«, fragte Maati.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich im Vergnügungsviertel. Oder in
einem Teehaus am Hafen, wo es auch Gästezimmer gibt. Er blickt
dem morgigen Tag nicht gerade freudig entgegen. Und wie steht’s
mit dir, Junge? Du hast dich als besserer Schüler erwiesen, als ich
dachte. Du bist schon recht gut darin, dich nächtelang
herumzutreiben, unstandesgemäße Kontakte zu pflegen und
vereinbarte Treffen zu versäumen. Was das anlangt, hat Heshai
Jahre gebraucht, um den Dreh herauszufinden.«
»Warum so verbittert?«, fragte Maati. Samenlos lachte und setzte
sich so, dass er ihn direkt ansehen konnte. Sein schönes Gesicht
wirkte traurig und erheitert zugleich.
»Ich hatte einen schlechten Tag«, sagte der Andat. »Ich habe etwas
gefunden, das ich verloren hatte, und es hat sich als des
Wiederfindens nicht wert erwiesen. Und du? Fühlst du dich dem
großen Ereignis morgen gewachsen?«
Maati machte eine bestätigende Gebärde. Der Andat lächelte, doch
dann veränderte sich seine Miene und bekam etwas seltsam
Zweideutiges, das Maati nicht interpretieren konnte. Die Grillen in
den Bäumen waren plötzlich still, als könnten sie nur zusammen
zirpen oder gar nicht. Einen Moment später begannen sie von
neuem.
»Gibt es …«, sagte der Andat, verstummte, bat mit einer
Handbewegung, nicht unterbrochen zu werden, überdachte seine
Worte kurz und setzte neu an: »Maati, wenn du etwas von mir
willst, wenn du mich um einen Gefallen bitten möchtest, wenn ich
etwas tun oder unterlassen soll, dann bitte mich darum, und ich
werde es tun. Egal, worum es geht.«
Maati betrachtete das bleiche Gesicht, dessen Haut in der
Dämmerung wie Porzellan schimmerte.
»Warum bietest du mir das an?«
Samenlos lächelte, und das Geräusch, mit dem seine Kleidung
übers Gras strich, als er sich anders hinsetzte, zeigte, wie edel die
Stoffe waren, die er trug.
»Um zu wissen, worum du bitten würdest«, sagte er. »Und wenn
ich etwas erbäte, das du mir nicht geben willst? »Das wäre die Sache
wert«, antwortete Samenlos. »Es würde etwas über dich verraten,
und dieses Wissen hat seinen Preis. Bitte mich, etwas geschehen zu
lassen oder zu verhindern.«
Maati spürte sich langsam erröten, beugte sich vor und musterte
den Teich und die teils bleichen, teils goldenen Fische darin.
Schließlich sagte er leise: »Wenn es morgen so weit ist, dass …
wenn Heshai-kvo den traurigen Eingriff vornimmt, widersetze dich
ihm nicht. Kaum in Saraykeht angekommen, habe ich den Kleinkrieg
erleben müssen, den ihr zwei euch geliefert habt, ehe er dich dazu
hat bewegen können, die Baumwollsaat aus den geernteten Pflanzen
rieseln zu lassen. Und auch danach hat es immer wieder Rangeleien
gegeben. Du bringst ihn jedes Mal dazu, dir seinen Willen
aufzuzwingen. Du nötigst ihm immer wieder schwere Kämpfe ab.
Lass das morgen einfach bleiben.«
Samenlos nickte, und auf seinen wunderbaren, weichen Lippen lag
ein trauriges Lächeln. »Du bist ein lieber Junge. Du hast Besseres
verdient als uns«, sagte er. »Ich werde tun, worum du gebeten
hast.«
Sie saßen still in der Abenddämmerung. Erst funkelten nur ein
paar Sterne, dann eine Handvoll, dann tausende und abertausende.
In den Palästen leuchteten die Lichter, und mitunter drang eine
ferne Melodie an Maatis Ohr.
»Ich sollte die Nachtkerze anzünden«, sagte er.
»Wenn du meinst«, antwortete Samenlos, doch Maati stand nicht
auf. Stattdessen musterte er weiter die Gestalt vor ihm, und immer
wieder ging ihm der gleiche Gedanke durch den Kopf. Das kaum
spürbare Gewicht des in Leder gebundenen Buchs in seinem Ärmel
und die seltsam ruhige Miene des Andaten vermischten sich in
seiner Wahrnehmung eigenartig und rührten ihn.
»Samenlos - ich überlege, ob ich dich etwas fragen darf. Jetzt, da
wir noch Freunde sind.«
»Da will sich einer bei mir einschmeicheln«, sagte der Andat
amüsiert und nickte. »Frag ruhig.«
»Du und Heshai-kvo - ihr seid gewissermaßen eins, oder?«
»Manchmal bewegt die Hand die Marionette, und manchmal zieht
die Puppe die Hand, doch es ist ein und derselbe Faden, der
zwischen uns verläuft. Stimmt.«
»Und du hasst ihn.«
»Ja.«
»Musst du dich dann nicht auch selbst hassen?«
Der Andat glitt in die Hocke und sah mit der Miene eines
Menschen, der ein Gemälde betrachtet, zum Dichterhaus, dessen
dunkle Silhouette sich vom Sternenhimmel abhob. Er schwieg so
lange, dass Maati sich schon fragte, ob er überhaupt noch antworten
würde. Als er dann etwas sagte, war seine Stimme kaum mehr als
ein Flüstern.
»Ja. Immer.«
Maati wartete, doch der Andat sagte nichts mehr. Schließlich
sammelte der Dichterschüler seine Sachen zusammen, erhob sich
und wollte ins Haus gehen, blieb aber noch kurz neben dem
reglosen Samenlos stehen und berührte ihn am Ärmel. Der Andat
bewegte sich nicht, sagte kein Wort und nahm so wenig Trost an
wie ein Stein. Maati ging ins Haus, zündete Zitronenkerzen an, um
die Insekten zu vertreiben, und wusch sich.
Heshai kehrte kurz vor dem Morgengrauen zurück. Seine Robe
war fleckig und stank nach billigem Wein. Maati half ihm, sich für
den traurigen Eingriff herzurichten, und sorgte dafür, dass er ein
frisches Gewand anlegte, sich die Haare wusch und sich rasierte.
Gegen die rot unterlaufenen Augen des Dichters freilich konnte er
nichts ausrichten. Samenlos drückte sich die ganze Zeit in den
Zimmerecken herum und war ungewöhnlich schweigsam. Heshai
trank wenig und aß noch weniger. Als die Sonne über die
Baumkronen stieg, verließ er schwerfällig das Haus. Maati und
Samenlos folgten ihm.
Es war ein herrlicher Tag. Über dem Meer und im Osten türmten
sich die Wolken weiß und gebirgshoch. In den Palästen waren viele
Diener und Sklaven unterwegs, und die Utkhais gingen ihren
Geschäften mit gewohnter Anmut nach.
Die Abordnung des Hauses Wilsin war schon am Ort des
Ereignisses eingetroffen. Das schwangere Mädchen wurde noch
draußen von Dienern umsorgt, die an den Röcken nestelten, die für
diesen Tag geschneidert worden waren und ihre Scham verhüllen,
ihre Leibesfrucht aber nicht behindern sollten. Maati verspürte erste
Skrupel. Heshai schritt an Frauen, Dienern und Sklaven vorbei.
Seine blutunterlaufenen Augen hielten nach Liat Chokavi Ausschau,
die für die Überwachung des Eingriffs zuständig war.
Liat war bereits im Saal und ging leise murmelnd auf und ab. Sie
trug ein weißes, blau durchwirktes Gewand, war also in Trauer. Ihr
zurückgebundenes Haar ließ ihre weißen Wangen und den Hals zur
Geltung kommen. Kein Zweifel: Sie war wunderschön. Als Heshai,
Maati und Samenlos eintraten, hob sie den Blick und machte eine
grüßende Gebärde.
»Können wir es dann hinter uns bringen?«, fragte Heshai
ungehalten. Erst jetzt, da er seinen Lehrer länger kannte, begriff
Maati, wie viel Schmerz unter dieser Schroffheit lag. Und wie viel
Angst.
»Der Arzt kommt gleich«, entgegnete Liat.
»Hat er sich verspätet?«
»Wir sind zu früh dran, Heshai-kvo«, sagte Maati vorsichtig.
Der Dichter warf ihm einen verärgerten Blick zu, zuckte die
Achseln, ging ans andere Ende des Saals und sah missmutig aus
dem Fenster. Samenlos und Maati blickten sich an. Dann schürzte
der Andat die Lippen, zuckte ebenfalls die Schultern und ging in die
Sonne hinaus. Maati stand der Frau nun also allein gegenüber und
begrüßte sie sehr förmlich, was Liat mit einer nicht minder
förmlichen Gebärde erwiderte.
»Entschuldigt das Auftreten von Heshai-kvo«, sagte er so leise,
dass nur sie es hörte. »Er lehnt den traurigen Eingriff strikt ab.
Aber das ist eine lange Geschichte und des Erzählens kaum wert.
Verübelt ihm sein Verhalten bitte nicht zu sehr.«
»Keine Sorge«, sagte Liat umgänglich, fast lässig, und es schien
beinahe, als wollte sie lächeln. »Itani hat mir davon erzählt. Euch hat
er auch erwähnt.«
»Es war sehr nett von ihm … mir die Stadt zu zeigen«, sagte Maati
überrascht. »Vor meiner Ankunft habe ich kaum etwas über
Saraykeht gewusst.«
Liat lächelte und berührte ihn am Ärmel. »Ich möchte Euch
danken. Wer weiß, wann er ohne Euch den Mut aufgebracht hätte,
mir von seiner Familie zu erzählen.«
»Oh … dann wisst Ihr es also?«
Sie nickte komplizenhaft, was Maati als erregend und zugleich
beklemmend empfand. Nun kannten drei Menschen das Geheimnis.
Und mehr durften es nicht werden. Irgendwie verband ihn das mit
Liat. Sie hatten die Wertschätzung Otahs gemein.
»Vielleicht können wir uns nach dem Eingriff näher kennen
lernen«, sagte Maati. »Ich spreche natürlich von uns dreien.«
»Das wäre schön«, erklärte Liat lächelnd, und Maati stellte fest,
dass er ihr Lächeln erwiderte. Er fragte sich, wie es wirken mochte,
dass der Schüler des Dichters und eine Vertreterin des Hauses
Wilsin einander kurz vor einem traurigen Eingriff derart
anstrahlten, und er legte sich Zurückhaltung auf. »Mit dieser Maj ist
hoffentlich alles glattgegangen?«
Liat zuckte die Achseln und beugte sich vor. Ihr teures Parfüm
roch nicht nach Blüten, sondern nach umgegrabener Erde.
»Sie ist ein Alptraum, aber behaltet das für Euch«, sagte sie. »Sie
meint es vermutlich gut, ist aber unbeständig wie ein Kind und weiß
heute nicht mehr, was ich ihr gestern gesagt habe.«
»Ist sie … einfältig?«
»Das glaube ich nicht. Eher unbekümmert. Auf Nippu sieht man
die Welt mit anderen Augen. Ihr Übersetzer hat mir davon erzählt.
Dort gilt ein Kind erst beim ersten Atemzug als Person. Deshalb hat
sie noch nicht mal Trauer tragen wollen.«
»Wirklich? Das ist mir ganz neu. Ich hatte die Östlichen Inseln für
… strenger gehalten.«
»Dem ist anscheinend nicht so.«
»Ist der Übersetzer auch hier?«
»Nein«, sagte Liat mit unduldsamer Gebärde. »Irgendetwas ist
dazwischen gekommen, und er musste vorzeitig weg. Aber Wilsin-
cha hat dafür gesorgt, dass er mir alle Ausdrücke beibringt, die ich
für den Eingriff brauche. Ich habe sie lange geübt. Und ich kann
Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, wenn das hier vorbei ist.«
Maati sah zu seinem Lehrer hinüber. Heshai stand reglos und mit
niedergeschlagener Miene am Fenster. Samenlos lehnte mit
verschränkten Armen neben der offenen Eingangstür an der Wand
und starrte auf den Rücken des Dichters. Seine gespannte
Aufmerksamkeit ließ Maati an einen Wildhund denken, der seiner
Beute nachschleicht.
Der Arzt und sein Gefolge trafen zum vereinbarten Zeitpunkt ein.
Als Maj in den Saal gebracht wurde, errötete sie und zupfte an ihren
Röcken herum. Liat trat neben sie, während Maati sich zu Heshai
und Samenlos gesellte. Diener und Sklaven zogen sich ein
angemessenes Stück zurück, und die Flügeltür am Eingang wurde
geschlossen. Heshai wirkte gebeugt, als trüge er eine schwere Last.
Er gab Liat einen Wink, und sie trat vor, um die Zeremonie zu
eröffnen.
»Heshai-cha.«, begann sie. »Ich vertrete Euch gegenüber die
Angelegenheiten des Hauses Wilsin. Meine Kundin hat die vom
Khai bestimmte Geldsumme entrichtet, und die Buchführung hat
festgestellt, dass sie unserer Vereinbarung entspricht. Wir bitten
Euch nun, Euren Teil des Vertrags zu erfüllen.«
»Habt Ihr sie gefragt, ob sie sich auch sicher ist?«, wollte Heshai
wissen. Seine Worte entsprachen nicht dem Zeremoniell, und er
verzichtete auf die üblichen Gesten. Seine Lippen waren schmal, sein
Gesicht grau. »Ist sie sich sicher?«
Maati hatte den Eindruck, die Verzweiflung in der Stimme seines
Lehrers habe Liat, die nervös blinzelte, erschreckt.
Hätte ich ihr doch erklärt, warum Heshai dieser Eingriff so
schwerfällt, dachte er. Aber vielleicht ist das auch egal. Eigentlich
müssen wir das Ganze hier bloß hinter uns bringen.
»Ja«, sagte Liat und verstieß damit ebenfalls gegen die Regeln der
Zeremonie.
»Fragt sie erneut«, sagte Heshai halb fordernd, halb flehend.
»Fragt sie, ob es keinen anderen Weg gibt.«
In Liats Augen flackerte nackte Angst auf und verschwand
wieder. Maati begriff: Der Übersetzer hatte ihr diese Frage offenbar
nicht beigebracht, und sie konnte Heshais Bitte nicht erfüllen. Sie
hob das Kinn, und ihre Augen wurden auf eine Weise schmal, die
sie überheblich und herablassend wirken ließ. Maati aber vermochte
ihre Panik zu spüren.
»Heshai-kvo«, sagte er leise. »Könnten wir das Ganze bitte hinter
uns bringen?«
Sein Lehrer blickte zunächst verärgert, dann traurig und resigniert
und zog die Frage mit abwinkender Handbewegung zurück. Liat
warf Maati einen erleichterten Blick zu. Der Arzt nahm das als
Zeichen für seinen Einsatz, trat vor und bestätigte, die Frau sei bei
guter Gesundheit, und der Eingriff bedeute keine große Gefahr für
ihr Wohlbefinden. Heshai nickte knapp. Der Arzt führte Maj zu dem
dafür vorgesehenen Stuhl, ließ sie darauf Platz nehmen und stellte
ihr wortlos eine Silberschüssel zwischen die Beine.
»Ich hasse das«, murmelte Heshai so leise, dass nur Maati und
Samenlos es hören konnten. Dann machte er eine formelle Gebärde
und verkündete: »Im Namen von Khai Saraykeht und dem Dai stehe
ich Euch zur Verfügung.«
Liat wandte sich dem Mädchen zu und redete in einer
merkwürdig fließenden Sprache auf sie ein. Maj runzelte die Stirn
und schürzte die bleichen, vollen Lippen. Dann nickte sie und
antwortete etwas. Liat wandte sich wieder dem Dichter zu und
nickte.
»Bist du bereit?«, fragte Heshai und sah Maj dabei an. Das
Inselmädchen neigte den Kopf zur Seite, als habe sie ihn beinahe
verstanden. Heshai hob die Brauen und seufzte. Ohne sichtbare
Aufforderung trat Samenlos mit der Anmut eines Tänzers vor. In
seinen Augen lag Glanz, womöglich Freude. Maati spürte ein
unerklärliches Ziehen im Bauch.
»Ihr braucht Euch nicht anzustrengen, alter Freund«, sagte
Samenlos. »Ich habe Eurem Schüler versprochen, Euch diesmal nicht
zu zwingen, meinen Widerstand zu überwinden. Wie Ihr seht, kann
ich Wort halten, wenn es mir passt.«
Die Silberschüssel tönte, als sei eine Orange darin gelandet. Maati
sah hin und gleich wieder weg. Das Ding da drin bewegt sich nicht
selbst, sagte er sich, sondern kommt nur zur Ruhe. Es bewegt sich
nicht selbst.
Mit hörbarem Einatmen begann das Inselmädchen zu schreien.
Ihre graublauen Augen waren so weit aufgerissen, dass Maati
ringsum das Weiß der Augäpfel sehen konnte. Ihre vollen Lippen
schrumpften zu dünnen Strichen. Maj griff nach unten, um das Ding
zu berühren und an sich zu drücken, doch der Arzt stieß die
Schüssel beiseite. Liat konnte nur die Hände des Mädchens halten
und sie verwirrt ansehen, während ein Schrei nach dem anderen
durch den Saal hallte.
»Was ist los?«, fragte Heshai ängstlich und leise. »Was ist passiert?
10
Amat Kyaan ging wie jemand am Hafen entlang, der noch nicht
ganz aus einem Alptraum erwacht ist. Die Morgensonne ließ das
Meer so grell leuchten, dass sie es nicht ansehen konnte. Schiffe
lagen am Kai und wurden mit Stoffen, Öl und Zucker beladen,
während nebenan Nüsse und Indigo, Weizen und Roggen, Wein
und Marmor aus Eddensea angelandet wurden. An den schmalen
Marktständen herrschte noch immer reges Treiben, Fahnen
flatterten im Wind, und Möwen kreisten krächzend am Himmel. Es
war, als würde Amat in einer Erinnerung aufgehen. Jahrelang war
sie täglich diesen Weg gegangen. Wie schnell er ihr fremd
geworden war! Auf ihren Stock gestützt überquerte sie den breiten
Nantan und kam in die Gegend der Lagerhäuser. Einmal mehr hatte
sich der Rhythmus der städtischen Verkehrsströme entsprechend
der Jahreszeit geändert. Die fieberhafte Eile der Erntemonate war
vorbei, und obwohl die Arbeiten noch längst nicht abgeschlossen
waren, herrschte geradezu greifbar der Eindruck, das Ende der
Saison sei gekommen. Der Kunstgriff, dem Saraykeht verdankte,
Zentrum des Baumwollhandels zu sein, war einmal mehr ins Werk
gesetzt worden, und jetzt waren die Stadtbewohner damit
beschäftigt, die Segnungen dieses Kunstgriffs in Macht, Reichtum
und Ansehen umzumünzen.
Doch nicht nur der Abschluss der Saison war zu spüren, sondern
auch ein gewisses Unbehagen. Dem Dichter war etwas zugestoßen.
Allein am Vorabend hatte der Wind Amat drei oder vier Versionen
der Geschehnisse durchs Fenster zugetragen. Und jede
Unterhaltung, an der sie jetzt vorbeikam, drehte sich um das gleiche
Thema. Mit dem Dichter stimmte etwas nicht. Was da nicht stimmte,
hatte mit dem Haus Wilsin und dem traurigen Eingriff zu tun. Und
es musste furchtbar sein. Die jungen Männer und Frauen, die
einander davon auf der Straße erzählten, waren von der
krisenhaften Atmosphäre erregt und zu jung, zu arm oder zu
ungebildet, als dass die Nachrichten von den Ereignissen des
Vortags ihnen Angst gemacht hätten. Stattdessen lächelten sie sogar
noch! Angst war etwas für ältere Leute: Für Menschen mit Einsicht.
Amat atmete tief ein, und würzige Seeluft sowie der Geruch von
Fleisch, das an den Ständen gegrillt wurde, stieg ihr in die Nase,
aber auch der unangenehme Gestank der Färberbottiche, die ein
paar Straßen entfernt waren. Ja, so roch ihre Stadt, wenn der
Hochsommer vorbei war. Eigentlich fand sie es noch immer
unglaublich, zurückgekehrt und nicht mehr im Hinterzimmer von
Ovi Niits Bordell lebendig begraben zu sein. Als sie - schwer auf
ihren Stock gestützt - weiterging, wollte sie nicht daran denken,
was die Männer und Frauen, an denen sie vorbeikam, über sie sagen
mochten.
Am Eingang des Badehauses musterten die Wächter sie neugierig.
Sie erwiderte ihren Gruß nicht einmal, sondern betrat die gefliesten
Räume, die alle Geräusche widerhallen ließen und nach Zedern und
Quellwasser rochen, schlüpfte aus ihrem Gewand und ging an den
öffentlich zugänglichen Becken vorbei zu Marchat Wilsins privatem
Bad im hinteren Teil des Hauses, wie sie es immer getan hatte.
Er sah furchtbar aus.
»Es ist zu heiß«, sagte er, als sie ins Becken glitt. Das lackierte
Tablett schwankte ein wenig, doch kein Tropfen Tee ging verloren.
»Das sagt Ihr jedes Mal«, erwiderte Amat. Marchat seufzte und
sah weg. Seine dunklen Tränensäcke glichen Blutergüssen. Davon
abgesehen war seine finstere Miene aschfahl. Amat beugte sich vor
und zog das Tablett näher heran.
»Nun«, sagte sie, »ich nehme an, alles ist gut gelaufen.«
»Lass es.«
Amat nippte an ihrer Schale und musterte ihren Arbeitgeber und
Freund.
»Worüber könnten wir sonst reden?«, fragte sie.
»Übers Geschäft«, erwiderte er. »Wie immer.«
»Übers Geschäft also. Ich nehme an, alles ist gut gelaufen.«
Er warf ihr einen kurzen, wütenden Blick zu und sah weg. »Wir
könnten mit den Verträgen der Färber beginnen.«
»Wenn Ihr wollt«, sagte Amat. »Sind die besonders eilig?« Der
beißende Sarkasmus ihrer Stimme brachte all ihre Empörung, ihren
Zorn und ihre Angst zum Ausdruck. Marchat machte eine
unbeholfen beschwichtigende Geste und nahm seine Teeschale vom
Tablett.
»Ich treffe mich nachher mit dem Khai und einigen höheren
Utkhais. Ich muss mir schon die ganze Zeit dumme Fragen anhören,
was den traurigen Eingriff anlangt, und habe ihnen eine gründliche
Untersuchung versprochen.«
»Und was werdet Ihr dabei herausfinden?«
»Die Wahrheit, vermute ich. Kennst du das Geheimnis einer guten
Lüge? Irgendwann glaubt man sie selbst! Ich nehme an, dass meine
Untersuchung - wie die jedes anderen - zu dem Ergebnis kommen
wird, dass Oshai, der Übersetzer, der Übeltäter war. Er und seine
Leute haben alles unter Führung des Andaten Samenlos geplant. Sie
haben das Mädchen gefunden und unter Vorspiegelung falscher
Tatsachen zu uns gebracht. Ich besitze Einführungsschreiben, die
wir den Beamten des Khai aushändigen und die sich als Fälschungen
erweisen werden. Das Haus Wilsin wird als ein Haufen Tölpel
erscheinen. Günstigstenfalls kostet es uns Jahre, unser Ansehen
zurückzugewinnen.«
»Das wäre doch ein kleiner Preis«, erwiderte Amat trocken. »Viel
schlimmer würde es kommen, wenn sie Oshai finden.«
»Das werden sie nicht.«
»Seid Ihr Euch da so sicher?«
»Ja.« Wilsin seufzte schwer. »Da bin ich mir sicher.«
»Und Liat?«
»Sie wird noch verhört«, antwortete Marchat. »Ich nehme an, sie
lassen sie am Abend gehen. Wir müssen etwas für sie tun, denn wir
haben manches gutzumachen: Sie wird nach dieser Sache nicht
gerade in dem Ruf stehen, allzu fähig zu sein. Mit dem
Inselmädchen haben sie bereits gesprochen.
Sie hatte kaum etwas Zusammenhängendes zu sagen, fürchte ich.
Aber es ist vorbei, Amat. Das ist das einzig Gute, was sich über
dieses üble Geschäft sagen lässt. Der schlimmste Fall ist eingetreten,
und jetzt müssen wir die Scherben zusammenkehren und
weitermachen.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Die hab ich dir gerade gesagt«, entgegnete er. »Das jedenfalls ist
die einzige Wahrheit, die zählt.«
»Und die wirkliche Wahrheit? Von wem sind die Perlen? Erzählt
mir nicht, der Andat habe sie aus dem Meer gezaubert!«
»Wer weiß?«, erwiderte Marchat. »Oshai hat gesagt, sie stammen
aus Nippu, von der Familie des Mädchens. Wir haben keinen
Grund, etwas anderes anzunehmen.«
Amat schlug wütend mit der flachen Hand auf die
Wasseroberfläche. Ihr Zorn ließ Marchat ärgerlich werden. Sein
bleiches Gesicht lief rot an, und er streckte das Kinn kämpferisch
vor wie ein Junge beim Spielen.
»Ich rette dich hier«, sagte er. »Und ich rette das Unternehmen.
Ich tue, was ich kann, um die Sache abzuschließen und zu begraben,
und glaub mir, Amat: Ich weiß so gut wie du, dass es eine böse
Sache war. Aber was soll ich machen? Vor den Khai treten und mich
entschuldigen? Woher die Perlen sind? Sie stammen aus Galtland,
Amat. Aus Acton, Lanniston und Cole. Wer hat die Sache
eingefädelt? Galten. Und wer zahlt dafür, wenn das rauskommt und
meine Geschichte sich als Lüge erweist? Dann muss ich dran
glauben, du wirst - wenn du Glück hast - in die Verbannung
geschickt, und das Unternehmen wird zerschlagen. Und glaubst du
wirklich, das wäre alles, Amat? Ich nicht!«
»Es war böse, Marchat.«
»Ja, es war böse. Und falsch war es auch«, grollte Marchat und
gestikulierte dabei so wild, dass sein roter Tee überschwappte und
sich Schlieren ziehend im Badewasser verlor. »Aber es war
entschieden, ehe sich jemand mit uns beraten hat. Als ich, du oder
sonstwer davon Wind bekam, war es schon zu spät. Es musste
erledigt werden, also haben wir es erledigt. Sag mir, Amat, was du
tätest, wenn du Khai Saraykeht wärst und herausfändest, dass dein
Andat mit Handelsrivalen unter einer Decke steckt. Würdest du
dein Werkzeug dann wegwerfen, denn nichts als Werkzeug sind
wir schließlich? Oder würdest du den Galten eine Lehre erteilen,
die sie nicht so bald vergessen? Wir Galten haben keinen Andaten
und könnten dich weder aufhalten noch zurückschlagen. Stünde uns
also eine Missernte ins Haus? Würden alle Schwangeren in Galtland
eine Fehlgeburt erleiden? Sie sind unschuldig wie das Inselmädchen,
Amat, und haben das genauso wenig verdient wie sie.«
»Nicht so laut«, sagte Amat. »Man könnte Euch hören.« Marchat
lehnte sich zurück und ließ einen nervösen Blick über Tür und
Fenster schweifen. Amat schüttelte den Kopf. »Das war eine
hübsche Ansprache«, erklärte sie. »Habt Ihr die geübt?«
»Ein wenig.«
»Und wen wollt Ihr damit überzeugen? Mich oder Euch?«
»Uns beide. Die Strafe wäre erheblich schlimmer als das
Verbrechen, und viele Unschuldige müssten leiden.«
Amat musterte ihn. Wie sehr er sich wünschte, seine Worte wären
wahr! Wie er sich sehnte, sie würde ihm beipflichten! Er war wie ein
kleiner Junge, und das bedrückte sie.
»Vermutlich«, sagte sie. »Und jetzt?«
»Jetzt räumen wir auf und üben uns in Schadensbegrenzung. Aber
eines noch: dieser Itani - weißt du, warum der junge Dichter ihn
Otah nennt?«
Amat ließ sich ablenken und versuchte, sich an jemanden dieses
Namens zu erinnern, aber vergeblich. Sie stellte die Teeschale auf
den Beckenrand und machte eine so ratlose wie entschuldigende
Gebärde.
»Klingt wie ein Name aus dem Norden. Wann hat Maati ihn
benutzt?«
»Ich hab die beiden beschatten lassen. Mein Informant hat sie
belauscht.«
»Es passt ganz und gar nicht zu dem Itani, den ich aus Liats
Beschreibungen kenne.«
»Nun, wir werden die Sache im Auge behalten und abwarten, ob
sich etwas tut. Seltsamerweise hat sich bisher nichts ergeben.«
»Was ist mit Maj?«
»Mit wem? Ach, mit dem Inselmädchen? Tja, wir müssen sie noch
ein, zwei Wochen in Gewahrsam behalten. Danach werde ich sie
nach Hause bringen lassen. Über ein Handelsunternehmen, das
demnächst ein Schiff gen Osten schickt.
Ich bezahl die Überfahrt, falls die Männer des Khais rechtzeitig
mit ihr fertig sind. Wenn nicht, dauert es wohl noch länger, ehe sie
die Heimreise antreten kann.«
»Aber Ihr werdet Euch darum kümmern, dass sie sicheren Fußes
nach Hause zurückkehrt?«
»Ja, das werde ich«, sagte Marchat.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Amats Herz war bleischwer.
Marchat war so reglos, als wäre er schwer berauscht. Armer Wilsin-
cha, dachte sie. Er gibt sich größte Mühe, diese Sache mit seinem
Gewissen zu vereinbaren, doch er ist zu klug, um seinen
Argumenten zu glauben.
»Na dann«, sagte sie leise. »Die Verträge mit den Färbern wie
steht es damit?«
Marchat sah ihr in die Augen und hatte ein schwaches Lächeln auf
den Lippen. Fast zwei Handbreit über brachte er sie - was das
Alltagsgeschäft des Unternehmens anlangte auf den Stand der
Dinge, informierte sie also über die Vereinbarungen, die er mit dem
alten Sanya und den Färbern ausgehandelt hatte, über Probleme mit
den Lieferungen aus Obar und über die Steuererhebung seitens der
Utkhais. Amat hörte zu und glitt, ohne es recht zu wollen, wieder in
die Gewohnheiten ihrer Arbeit. Der Teil ihres Bewusstseins, der
sich mit den Angelegenheiten des Unternehmens befasste, war
wieder zum Leben erwacht, und prompt setzte sie sich erneut mit
allen Themen auseinander, die Wilsin ansprach. Sie stellte Fragen,
um sicherzugehen, ihren Vorgesetzten richtig verstanden zu haben,
oder um Marchat dazu zu bringen, das eine oder andere noch mal
mit ihr zu durchdenken. Und eine Zeitlang konnte sie sich beinahe
vormachen, es sei nichts geschehen, ihre Gefühle für Wilsin seien
unverändert, und das Unternehmen, für das sie so lange gearbeitet
hatte, sei für sie noch immer, was es einst gewesen war. Ja, es
gelang ihr beinahe, sich das vorzumachen. Aber nicht ganz.
Als sie ging, waren ihre Fingerkuppen vom langen Sitzen im Bad
ganz verschrumpelt, doch ihr Kopf war klar. Sie hatte einige lange
Arbeitstage vor sich, um die Angelegenheiten des Unternehmens
wieder in Ordnung zu bringen. Und danach kam die Arbeit des
Herbstes auf sie zu - erst die des Unternehmens (das zumindest war
sie Marchat schuldig), dann vielleicht auch ihre eigene.
Seit Heshai sich vor zwei Tagen ins Bett zurückgezogen hatte,
herrschte im Haus des Dichters Hochbetrieb. Utkhais, Diener des
Khais und Abgesandte der großen Handelsunternehmen kamen zu
jeder Tageszeit zu Besuch und brachten Essen und Trinken mit,
kaum verhüllte Neugier und schweigende Vorwürfe. Maati
begrüßte die Gäste, nahm ihre Geschenke entgegen und geleitete sie
zu den noch freien Sitzplätzen. Inzwischen hatte er so viele
Dankesgebärden vollführt, dass ihn der Rücken schmerzte, und
hätte die Besucher am liebsten rausgeworfen - und zwar allesamt.
Die erste Nacht war am schlimmsten gewesen. Maati hatte vor
Heshais Schlafzimmer gestanden, bis weit nach Mitternacht an die
Tür geklopft, gefragt, was los sei, und um Einlass gebettelt. Und als
die Tür schließlich knarrend aufging, hatte Samenlos vor ihm
gestanden.
Heshai hatte bleich und mit leerem Blick und schlaffen Lippen auf
dem Bett gelegen. Sein weißes Mückennetz hatte Maati an ein
Leichentuch denken lassen. Er hatte den Dichter an der Schulter
berühren müssen, um einen kurzen, abwesenden Blick zu erhaschen,
der gleich weiterwanderte. Daraufhin hatte Maati sich einen Stuhl
genommen und bis zum Morgen an seinem Lager gewacht.
Die ganze Nacht war Samenlos nervös im Zimmer auf und ab
gegangen. Manchmal hatte er leise in sich hineingelacht. Als Maati
aus einem kurzen, unruhigen Schlaf hochschrak, fand er den
Andaten so tief über Heshai gebeugt, dass die bleichen Lippen fast
sein Ohr berührten. Samenlos flüsterte schnell und zischend auf den
Dichter ein, doch seine Worte waren zu leise, als dass Maati sie
hätte verstehen können. Heshais Gesicht war tiefrot und verzerrt,
als habe er schlimme Schmerzen. In dem langen Moment, ehe Maati
schrie und den Andaten wegstieß, blickten die beiden einander in
die Augen, und Maati sah Samenlos lächeln, während er dem
Dichter weiter giftige Worte zumurmelte.
Als der Morgen kam und erste Besucher anklopften, raffte Heshai
sich so weit auf, Maati nach unten zu schicken, um sie zu begrüßen.
Seit die Schlafzimmertür hinter ihm zugefallen war, hatte der
Besucherstrom kaum nachgelassen. Die Gäste blieben bis tief in den
Abend, und schon vor dem Morgengrauen trafen neue ein.
»Ich bringe Grüße von Annan Tiyan aus dem Hause Tiyan«, sagte
ein älterer Mann an der Haustür. Er musste laut reden, um sich
trotz des Stimmengewirrs hinter Maati verständlich zu machen.
»Wir haben von der Krankheit des Dichters gehört und möchten
Maati begrüßte ihn mit einer knappen, Dankbarkeit bekundenden
Gebärde, die ganz und gar geheuchelt war, und geleitete ihn ins
Haus. Der Schwarm der Aasgeier plauderte munter und wartete
dabei auf Neues von Heshai. Maati nahm das Essen, das die
Besucher mitgebracht hatten, entgegen und servierte es ihnen gleich
wieder. Auch ihren Wein füllte er in Becher und setzte sie ihnen
alsbald gastfreundlich vor. Und oben lag Heshai und … Er mochte
nicht daran denken. Ein hoheitsvoll wirkender Mann in prächtiger
Seidenrobe winkte Maati heran und fragte freundlich, wie er dem
Dichter in dieser schweren Stunde beistehen könne.
Plötzlich eingetretene Stille zeigte Maati, dass sich etwas geändert
hatte. Alle Unterhaltung war verstummt, und er eilte zum Eingang,
wo er sich Khai Saraykeht gegenübersah, der ihn aus zornigen
dunklen Augen anblickte.
»Wo ist dein Herr?«, wollte er wissen. Dass er diese Frage nicht
mit einer Gebärde begleitete, gab seinen Worten etwas Hartes, ja
Erschreckendes.
Maati schlug die Augen nieder und machte eine sehr förmliche
Begrüßungsgebärde.
»Er ruht sich aus, Exzellenz.«
Der Khai ließ den Blick langsam durch den Raum gleiten, und
zwischen seine Brauen trat eine senkrechte Falte. Die Besucher
verneigten sich. Maati konnte ihre Gewänder rascheln hören.
»Was sind das für Leute?«, fragte der Khai.
»Sie sind gekommen, um dem Dichter Genesungswünsche zu
übermitteln«, antwortete Maati.
Der Khai schwieg. Die Stille wurde immer unerträglicher.
Schließlich trat er einige Schritte in den Raum, fasste Maati an der
Schulter und drehte ihn zur Treppe. Maati begriff und ging voraus.
»Wer noch hier ist, wenn ich runterkomme«, sagte der Khai ruhig
und fast im Plauderton, »hat die Hälfte seines Vermögens
verwirkt.«
Auf dem oberen Treppenabsatz wandte Maati sich nach rechts und
führte den Khai über den kurzen Flur zu Heshais Schlafzimmertür.
Er drückte die Klinke, doch es war abgeschlossen. Maati machte
eine entschuldigende Geste, aber der Khai schob ihn beiseite, ohne
ihn zu beachten.
»Heshai«, sagte er mit tiefer, lauter $Stimme. »Mach die Tür auf.«
Nach kurzer Stille waren leise Schritte zu hören. Die Tür wurde
scharrend entriegelt und öffnete sich. Samenlos wich zur Seite, als
der Khai eintrat. Maati folgte ihm. Der Andat sah dem Schüler des
Dichters in die Augen und schickte sich an, ihn wie einen alten
Freund zu begrüßen. Maati spürte Zorn in sich aufwallen und
wandte sich von ihm ab.
Der Khai war ans Fußende des Bettes getreten, und der Dichter
setzte sich mühsam auf. Irgendwann musste er sein braunes
Amtsgewand gegen helle Trauerkleidung getauscht haben. Seine
Mundwinkel hingen herab, und das Haar war völlig durcheinander.
Der Khai fegte das Mückennetz beiseite. Maati fiel auf, wie ähnlich
sich der Khai und der Andat waren, was Anmut, Schönheit und
Ausstrahlung anlangte. Allerdings hatte Khai Saraykeht winzige
Falten um die Augenwinkel und war nicht so liebenswürdig.
»Ich habe mit Marchat gesprochen, dem Herrn des Hauses
Wilsin«, sagte der Khai. »Seine Ausflüchte werden mir langsam zu
viel. Es wird eine Untersuchung geben - besser gesagt: Sie hat
bereits begonnen.«
Heshai schlug die Augen nieder, brachte aber mit einer Gebärde
Dankbarkeit zum Ausdruck. Der Khai sah darüber hinweg.
»Und wir haben mit dem Mädchen und der jungen Frau geredet,
die sich seitens des Hauses Wilsin um die Abwicklung des Eingriffs
gekümmert hat. Es gibt … Fragen.«
Heshai nickte. Dann schüttelte er sich, als wollte er auf diese
Weise einen klaren Kopf bekommen. Schließlich schwang er die
Beine aus dem Bett und machte eine beifällige Gebärde.
»Ich stehe Euch zu Diensten, Exzellenz«, sagte er. »Und ich werde
Euch jede Frage beantworten, so gut ich es vermag.«
»Um dich geht es nicht«, entgegnete der Khai. »Ich will nur, dass
du dein Geschöpf unter Kontrolle hältst.«
Heshai sah erst Maati, dann Samenlos an. Sein Gesicht wurde
aschfahl, und er presste die Lippen zusammen. Der Andat wurde
steif, ging so langsam zum Bett, als wate er durch hüfthohes
Wasser, und machte vor dem Khai eine ehrerbietige Gebärde.
Unwillkürlich trat Maati einen Schritt vor.
»Ich denke, du steckst dahinter - oder täusche ich mich da?«,
fragte der Khai, und Samenlos verneigte sich lächelnd. »Natürlich
nicht, Exzellenz«, erwiderte er.
»Und du hast es getan, um den Dichter zu quälen?«
»ja.«
Da Andat und Khai einander zornig anfunkelten, nahm nur Maati
Heshais Miene wahr, in die erst erschrockenes Staunen, dann eine
bleierne Reglosigkeit trat, die beunruhigender war als Zorn oder
Weinen. Maati drehte sich beinahe der Magen um. Er begriff, dass
Samenlos geplant hatte, Heshai zu verletzen, und dass selbst die
jetzige Begegnung - diese Erniedrigung! - seinen Absichten
entsprach.
»Wo steckt der Übersetzer Oshai?«, fragte der Khai.
»Ich weiß es nicht. Es ist zwar nachlässig, aber ich war immer
schlecht darin, mein Spielzeug im Auge zu behalten.«
»Das reicht«, sagte der Khai, trat ans Fenster, sah auf den Rasen
im Vorgarten hinunter und machte eine Handbewegung. In der
Ferne hörte Maati jemanden einen Befehl brüllen.
»Heshai«, sagte Khai Saraykeht, als er sich wieder umdrehte. »Ich
verstehe die Schwierigkeiten, mit denen ein Dichter zu kämpfen hat.
Ich hab die alten Romane gelesen. Aber du musst begreifen, dass
durch deine kleinen Schattenspiele Unschuldige zu Schaden
kommen. Und meine Stadt. Gestern habe ich sechs Gesandtschaften
empfangen, die mich allesamt gebeten haben, die Preise als
Ausgleich für die Gefahr zu senken, dass der Andat einen Weg
findet, gegen dich zu handeln, und so die Baumwollernte in
Mitleidenschaft zieht. Zwei der größten Handelshäuser der Stadt
haben mich gefragt, was ich tun werde, wenn der Andat flieht, und
wie ich dann den Handel aufrechterhalten will. Was soll ich diesen
Leuten antworten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Dichter leise. Seine Stimme
war brüchig.
»Ich auch nicht«, sagte der Khai.
Nun kamen Männer die Treppe hochgestapft. Maati hätte zu gern
nachgesehen, was da los war, wollte aber doch lieber wissen, was
der Khai als Nächstes sagen würde.
»Das geht so nicht weiter«, erklärte er nun. »Und offenbar muss
ich diesem Zustand ein Ende machen.«
Die Schritte erreichten die Tür, und zwei Männer in
Arbeitskleidung schoben sich mit einer schweren Holzkiste ins
Zimmer, die mit Eisen beschlagen war. Sie war gerade groß genug
für einen Erwachsenen, aber zu kurz, um sich darin richtig
auszustrecken, zu eng, um sich hinzusetzen, und zu flach, um sich zu
drehen. Maati hatte in Büchern des Dai Zeichnungen davon gesehen
- in Büchern, die von Exzessen an den Herrscherhöfen und von den
dort üblichen Strafmethoden handelten. Die Männer stellten die
Kiste senkrecht neben Heshais Bett an der Wand ab, verbeugten
sich unterwürfig vor dem Khai und gingen schnell wieder.
»Exzellenz«, begann Maati mit belegter Stimme. »Ihr … das ist …«
»Beruhige dich, Junge«, sagte der Khai, trat zur Kiste und
entriegelte die eiserne Gittertür. »Die ist nicht für meinen alten
Freund Heshai gedacht, sondern soll dazu dienen, seine Sachen
aufzubewahren, wenn er sie nicht benutzt.«
Quietschend ging das Eisengitter auf. Maati sah, dass sich
Samenlos’ Augen einen Moment lang weiteten, doch dann hatte er
schon wieder ein amüsiertes Lächeln auf den vollkommenen Lippen.
Heshai saß schweigend da und betrachtete die Kiste.
»Aber Exzellenz«, begann Maati erneut, und seine Stimme wurde
fester, »Dichter und Werk sind miteinander verbunden. Wenn Ihr
einen Teil von Heshai-kvo in eine Folterkiste sperrt …«
Der Khai hieß Maati mit unwilliger Gebärde schweigen und
musterte ihn, bis Samenlos lachend zwischen die beiden trat. Einen
flüchtigen Moment glaubte Maati, der Andat wolle ihn vor dem
Zorn schützen, der in der Miene des Khais stand.
»Vergiss nicht, mein Lieber«, sagte Samenlos, »dass Seine
Exzellenz zwei seiner Brüder getötet hat, um auf den Thron zu
gelangen. Er kennt sich mit Opfern besser aus als wir alle. So heißt
es jedenfalls.«
»Also, Heshai«, sagte der Khai, doch Maati sah keine Anstrengung
in die Miene seines Lehrers treten, als Samenlos rückwärts zur Kiste
ging und sich halb kniend, halb kauernd hineindrängte. Der Khai
schloss die Gittertür, verriegelte sie und sorgte mit einem Nagel
dafür, dass sie sich von innen nicht öffnen ließ. Über dem bleichen
Gesicht des Andaten lagen ein Metall- und ein Schattengitter. Der
Khai wandte sich dem Bett zu und stand reglos da, bis Heshai durch
eine Gebärde deutlich machte, dass er sich seiner Entscheidung
unterwarf.
»Der Andat darf sich nicht frei bewegen«, sagte der Khai. »Wenn
er nicht gebraucht wird, gehört er in den Käfig. Das ist ein Befehl.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte Heshai, legte sich wieder hin, drehte
sich zur Wand und zog die Bettdecke über den Kopf. Der Khai
schnaubte empört und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er
stehen.
»Junge«, sagte er im Befehlston. Maati verneigte sich
unwillkürlich. »Wenn du sein Nachfolger wirst, mach es besser!«
Der Khai und seine Männer waren längst gegangen, als Maati noch
immer zitternd dastand. Heshai regte sich nicht und sagte kein
Wort. Samenlos kauerte in seiner Folterkiste, hatte die Finger um
das Eisengitter geschlungen und blickte mit schwarzen Augen ins
Zimmer. Maati breitete das Mückennetz wieder über seinen Lehrer
und ging nach unten. Niemand war geblieben - nur Reste der aus
Mitleid oder Sorge mitgebrachten Geschenke standen noch herum.
Im Haus herrschte eine unheimliche Stille.
Otah, dachte er. Otah weiß bestimmt, was zu tun ist! Er nahm
rasch einen Apfel, etwas Brot und einen Krug Wasser und brachte
all dies dem reglosen Dichter. Dann zog er sich frische Sachen an
und eilte durch die Palastgärten auf die Straße und hinunter in die
Stadt. Auf halbem Weg zu Otahs Unterkunft merkte er, dass er
weinte, hätte aber nicht zu sagen gewusst, seit wann.
»Itani!«, brüllte Muhatia. »Komm runter!«
Otah, der in erstickender Hitze und Dunkelheit unterm Dach des
Lagerhauses gearbeitet hatte, stieg auf die Leiter und rutschte zum
Boden der Halle hinunter. Muhatia stand in der breiten Flügeltür,
durch die Licht und Lärm von der Straße drangen. Der Aufseher
blickte missmutig drein, doch in seiner Miene lag noch etwas - Eifer
womöglich oder Neugier.
»Du wirst auf dem Anwesen gebraucht. Keine Ahnung, was man
sich davon verspricht.«
»Jawohl, Muhatia-cha.«
»Sollte dein Schätzchen dahinterstecken und dich von der Arbeit
abhalten wollen, Itani, dann find ich das raus.«
»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn Sie mich gehen lassen«,
erklärte Otah, setzte sein bezauberndstes Lächeln auf und dachte
dabei, dass er Freundlichkeit noch nie so schamlos geheuchelt hatte
wie in diesem Moment. Muhatias Miene hellte sich etwas auf, und er
winkte Otah weiter.
»Hallo Itani!«, rief Kaimatis vertraute Stimme. Otah drehte sich
um. Sein alter Freund hatte den Karren, mit dem er zum Tor des
Lagerhauses unterwegs war, abgestellt und eine Pause eingelegt.
»Erzähl uns, was du rausbekommst, ja?«
Otah machte eine zustimmende Gebärde und wandte sich ab. Ihm
war klar, dass er sich nur einbildete, die Leute auf der Straße
würden ihn anstarren. Es gab keinen Grund, warum alle Welt ihm
nachsehen und sich Gedanken über ihn machen sollte. Er war
schließlich nur ein gewöhnlicher Arbeiter. Dass dies nicht stimmte,
war freilich nicht gerade dazu angetan, seine Anwandlung von
Verfolgungsangst zu lindern. Der traurige Eingriff war
schiefgegangen. Liat war daran beteiligt, Maati ebenfalls. Seit zwei
Tagen hatte er weder sie noch ihn gesehen. Liats Kammer im Haus
von Wilsin-cha war leer gewesen, das Haus des Dichters hingegen
so überlaufen, dass er nicht mal daran hatte denken können, sich
ihm zu nähern. Otah hatte sich mit den Gerüchten begnügen
müssen, die auf den Straßen und in den Badehäusern im Umlauf
waren.
Der Andat sei außer Rand und Band geraten und habe das
Mädchen und das Ungeborene getötet, hieß es; andere wollten
wissen, der Nachwuchs sei in Wirklichkeit vom Dichter oder vom
Khai oder - völlig unwahrscheinlich - von Samenlos gezeugt
worden; der Dichter habe sich umgebracht, vermuteten manche,
oder sei vom Khai oder vom Andaten getötet worden; der Dichter -
oder das Mädchen - liege im Bett und verzehre sich vor Kummer,
berichteten andere. Die Gerüchte wallten auf und zogen Kreise wie
ein Schwall Blut in einem Schwimmbecken und schienen alle
Möglichkeiten von Tat, Täter, Opfer und Motiv abdecken zu wollen.
Eine dieser Geschichten dürfte der Wahrheit entsprechen, aber
welche? Er hatte kaum geschlafen und war müde erwacht. Nun
schritt er zügig aus. Die Nachmittagssonne lastete auf seinen
Schultern, und der Schweiß drang ihm aus allen Poren.
Vor Marchat Wilsins Anwesen entdeckte er Liat. Er erkannte ihre
Gestalt, ehe er ihr Gesicht ausgemacht hatte. Ihre hängenden
Schultern zeigten ihm, wie erschöpft sie war. Sie war in Trauer. Als
sie ihn entdeckte, kam sie auf ihn zu. Ihre Augen lagen tief in den
Höhlen, ihre Haut war bleich, ihre Lippen blutleer. Sie sank ihm
wortlos in die Arme. Es ziemte sich natürlich nicht, dass ein
Arbeiter einer Aufseherin in aller Öffentlichkeit die Wange an die
Stirn legte. Und es war zu heiß, als dass die Berührung sich
angenehm angefühlt hätte. Sie aber klammerte sich geradezu an ihn,
und er spürte, wie tief sie Atem schöpfte.
»Was ist geschehen, Liebste?«, fragte er, doch Liat schüttelte nur
den Kopf. Otah strich ihr durchs offene Haar und wartete, bis sie
sich schaudernd und mit einem Seufzer aus seiner Umarmung löste.
Seine Hand allerdings ließ sie nicht los.
»Komm mit in meine Kammer«, sagte sie. »Dort können wir
reden.«
Im Gebäude war es still. Männer und Frauen erledigten eilig ihre
Aufgaben, als sei nichts geschehen, doch die Atmosphäre war
angespannt. Liat ging schweigend voran, drückte die Tür zu ihrer
Kammer auf und zog Otah ins Halbdunkel. Auf der Pritsche lag eine
dünne Gestalt in braunem Gewand. Maati setzte sich auf und
blinzelte schlaftrunken.
»Otah? Seid Ihr das?«
»Er ist heute Morgen gekommen und hat dich gesucht«, sagte Liat
zu Otah, ließ endlich seine Hand los und setzte sich an den
Schreibtisch. »Ich glaube nicht, dass er in den letzten Tagen etwas
gegessen oder getrunken hat. Ich hab ihn hierhergebracht und ihm
einen Apfel und Wasser gegeben. Dann habe ich ihn ins Bett
verfrachtet und einen Boten zu Muhatia geschickt.«
»Tut mir leid«, sagte Maati. »Ich wusste nicht, wo ich Euch finden
konnte, und dachte, Liat-cha »Das war eine gute Idee«, sagte Otah.
»Und sie hat funktioniert. Aber was ist passiert?«
Da Maati die Augen niederschlug, begann Liat zu erzählen. Ihre
Stimme war hart wie Schiefer und ebenso grau. Leise schilderte sie,
wie sie vom Übersetzer Oshai und vom Andaten beim traurigen
Eingriff hereingelegt worden war. Dann setzte Maati die Geschichte
fort und berichtete, der Dichter sei krank, esse wenig, trinke noch
weniger und liege die ganze Zeit im Bett. Und der Khai habe
Samenlos in seiner Wut in einen Käfig sperren lassen. Je mehr Otah
erfuhr, desto beklommener wurde ihm zumute. Liat wich seinem
Blick ständig aus, und er wünschte, Maati wäre anderswo, damit er
sie in die Arme schließen konnte. Doch er wusste, dass der Junge
keine andere Zuflucht hatte und sein Kommen richtig gewesen war.
Erst als Maati schon einige Zeit verstummt war, merkte Otah, dass
der Junge ihn ansah und auf etwas wartete. Auf eine Entscheidung.
»Also hat Samenlos es zugegeben«, sagte Otah gedankenverloren.
»Er hat es dem Khai gestanden.«
Maati machte eine bestätigende Gebärde.
»Warum hat er das bloß getan?«, fragte Otah. »Hat er wirklich
geglaubt, Heshais Geist damit brechen und entkommen zu können?«
»Natürlich hat er das!«, rief Liat, doch Maati schüttelte
nachdenklich den Kopf.
»Samenlos verabscheut Heshai zwar, doch es war ein
Übersetzungsfehler. Oder auch kein Fehler, aber… es hat irgendwie
damit zu tun. Vielleicht hat er es nur getan, weil ihm klar war, wie
sehr Heshai das verletzen würde.«
»Heshai?«, rief Liat. »Wie sehr Heshai das verletzen würde? Und
was ist mit Maj? Sie hat das nicht verdient. Sie hat sich nichts zu
Schulden kommen lassen.«
»Samenlos ist diese Maj völlig gleichgültig«, sagte Maati. »Ob
Heshai ihn freilassen wird? fragte Otah. »Ob die Rechnung des
Andaten wohl aufgeht?«
Maati konnte diese Frage nicht beantworten und machte deshalb
eine so ratlose wie bedauernde Gebärde. »Jedenfalls geht es Heshai
gar nicht gut. Und ich habe keine Ahnung, wie er darauf reagieren
wird, dass Samenlos eingesperrt ist …«
»Na und?«, meinte Liat bitter. »Ist doch egal, ob Heshai leidet.
Verdient hat er es. Er ist schließlich der Herr des Andaten. Und
wenn er es vor lauter Hurerei und Trinkerei nicht geschafft hat,
seine Arbeit zu erledigen und ihn unter Kontrolle zu halten, sollte er
bestraft werden.«
»Darum geht es doch nicht, Liebste«, sagte Otah und sah noch
immer Maati an.
»Doch, genau darum geht es«, erwiderte sie.
»Falls der Dichter sterben oder die jüngsten Ereignisse ihn in den
Selbstmord treiben sollten, ist der Andat frei. Es sei denn …
»Ich bin noch nicht so weit«, sagte Maati. »Ich bin kaum
angekommen. Ein Schüler braucht Jahre der Unterweisung durch
einen im Vollbesitz seiner Kräfte stehenden Dichter, ehe er seine
Last übernehmen kann. Und selbst dann erweist sich der eine oder
andere als ungeeignet. Gut möglich, dass ich unfähig bin, Samenlos
unter Kontrolle zu halten.«
»Könntest du es nicht versuchen?«
Maati schwieg lange und sagte dann ganz leise: »Sollte ich
scheitern, müsste ich einen Preis zahlen.«
»Und der wäre?«, fragte Liat.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Maati. »Um das zu erfahren,
müsste ich erst scheitern. Wahrscheinlich würde es mich das Leben
kosten. Aber … ich kann es ja versuchen. Wenn es sonst niemanden
gibt.«
»Das ist doch Irrsinn!«, sagte Liat und sah Otah flehentlich an.
»Das darf er nicht! Ebenso gut könnten wir ihn auffordern, von
einer Klippe zu springen und im Fallen fliegen zu lernen.«
»Wir haben keine Wahl. Es gibt nicht viele erfolgreiche
Beschwörungen und nur wenige Dichter, die sich trauen, eine
vorzunehmen. Kann sein, dass es keinen Ersatz für Samenlos gibt,
doch selbst wenn sich ein Nachfolger binden lässt, heißt das noch
lange nicht, dass er für den Baumwollhandel geeignet ist«, erklärte
Maati. Er war bleich und sah krank aus. »Wenn niemand sonst den
Platz des Dichters einnehmen kann, ist es meine Pflicht »So weit ist
es noch nicht«, entgegnete Otah. »Und wenn wir Glück haben, wird
es auch nicht dazu kommen. Vielleicht gibt es einen Dichter, der für
die Aufgabe geeigneter ist. Oder einen Andaten, der Samenlos
ersetzt, falls er wirklich fliehen kann …«
»Wir könnten uns an den Dai wenden«, sagte Liat. »Er weiß
bestimmt eine Antwort.«
»Ich kann hier nicht weg«, erklärte Maati. »Ich kann Heshai nicht
alleinlassen.«
»Aber du könntest einen Brief schreiben«, sagte Liat. »Und wir
könnten einen Kurier schicken.«
»Könntest du das tun?«, fragte Otah. »Kannst du alles aufschreiben
- den traurigen Eingriff und seine düsteren Umstände? Die Sache
mit Samenlos und die Reaktion des Khai? Und deine Befürchtungen,
was die Zukunft anbelangt?«
Maati nickte.
»Und wie lange wird das dauern?«, wollte Otah wissen. »Ich
könnte das wohl bis morgen früh schaffen.«
Otah schloss die Augen. Sein Herz verkrampfte sich, und seine
Hände zitterten. Jemand musste die Botschaft überbringen, und
Maati kam dafür nicht infrage. Also würde er selbst es tun müssen.
Der Entschluss dazu war einfach da, als habe er ihn schon lange
gefasst.
Tahi-kvos Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf, und
sofort spürte er wieder die Atmosphäre der Schule, die körperlichen
und seelischen Verletzungen, die Leere und Grausamkeit, aber auch
das Gefühl von Zugehörigkeit, das er dort - wenn auch nur kurz -
empfunden hatte. Wieder stieg die Wut in ihm auf, als habe sie all
die Jahre nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich in Erinnerung zu
bringen. Jemand musste zum Dai reisen, und Otah war bereit, ihn
wiederzusehen.
»Dann bring den. Brief morgen früh hierher«, sagte er. »Zu dieser
Jahreszeit laufen ständig Schiffe nach Yalakeht aus. Auf einem
davon wird sich schon eine Koje finden lassen.«
»Nein, du fährst nicht«, sagte Liat. »Das kannst du nicht tun. Dein
Vertrag …«
Otah öffnete die Tür, trat beiseite und begleitete Maati mit einer
dankbaren Gebärde hinaus.
»Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Maati.
Otah nickte nur und kehrte in Liats Kammer zurück. Kaum hatte
er die Tür geschlossen, lag das Zimmer wieder im Halblicht.
»Du darfst nicht gehen«, sagte sie. »Ich brauche dich hier. Ich
brauche jemanden an meiner Seite. Was Maj widerfahren ist, war
meine Schuld. Ich habe es zugelassen.«
Er ging zu ihr, setzte sich auf den Schreibtisch und strich ihr mit
den Fingerknöcheln über die seidenweiche Wange. Sie beugte sich
vor, nahm seine Rechte in die Hände und drückte sie an ihre Brust.
»Ich muss es tun. Nicht allein wegen dieser Sache. Meine
Vergangenheit liegt da oben im Norden. Es ist einfach nötig.«
»Sie weint noch immer. Sie weint sich in den Schlaf und schreckt
schluchzend wieder hoch. Ich bin zu ihr gegangen, als die Utkhais
mich freiließen. Sie war die Erste, die ich besucht habe. Wenn sie
mich jetzt ansieht und ich daran denke, wie sie vor dem Eingriff
war … Damals hielt ich sie für herzlos und dachte, es sei ihr gleich.
Ich war vollkommen blind!«
Otah glitt vom Tisch, kniete sich auf den Boden und schlang die
Arme um sie.
»Dass du gehst, hat nichts mit mir zu tun, oder?«, flüsterte sie.
»Du gehst doch nicht, um mich loszuwerden?«
Otah setzte sich auf, und sie legte den Kopf an seine Schulter. Er
spürte seinen Verstand arbeiten, ohne dass er einen Gedanken hätte
fassen können, und strich ihr durchs Haar, das weich wie Wasser
war.
»Natürlich nicht, Liebste«, sagte er.
»Denn eines Tages wirst du ein bedeutender Mann sein. Das weiß
ich. Und ich bin nur ein dummes Mädchen, das Ungeheuer wie
Oshai nicht davon abhalten kann, sich … Ach, Tani. Ich war blind.
Ich hab es einfach nicht gesehen.«
Liat weinte bittere Tränen, und er sprach beruhigend auf sie ein,
wiegte sie sanft, legte das Kinn auf ihren vorgebeugten Kopf, zog
sie zu sich heran und hielt sie fest, bis ihr Schluchzen nachließ. Ihr
Kopf lag schwer auf seiner Brust, und sie atmete fast so ruhig, als
schliefe sie.
»Du bist erschöpft, Liebste«, sagte er. »Komm ins Bett. Du musst
schlafen.«
»Nein«, erwiderte sie. »Bleib bei mir Du darfst jetzt nicht gehen.«
Vorsichtig hob er sie hoch, legte sie aufs Bett und setzte sich neben
sie. Ihre Hand klammerte sich an seine Rechte wie ein
Rankengewächs an eine Ziegelwand.
»Nach Yalakeht dauert es drei Wochen«, sagte er. »Dann, auch mit
dem Schiff, zwei Wochen flussaufwärts. Danach noch ein, zwei Tage
zu Fuß. Der Rückweg dauert nicht so lange, weil ich stromabwärts
reisen werde. Vor dem Winter bin ich zurück, Liebste.«
Im schwachen Licht, das durch die Fensterläden drang, erkannte
er, dass sie ihn Mit vor Kummer und Erschöpfung schwimmenden
Augen ansah. Ihre Miene allerdings war - wie im Vorgriff auf die
erlösende Wirkung des Schlafs - faltenlos und entspannt.
»Du freust dich schon darauf«, sagte sie. »Du willst fahren.«
Das stimmte natürlich. Otah legte ihr den Zeigefinger auf die
Lippen und küsste ihre Lider. Für dieses Gespräch war er noch nicht
bereit. Jedenfalls nicht ihr gegenüber.
Er küsste ihre Stirn und wartete, bis sie eingeschlafen war. Dann
öffnete er leise die Tür und trat hinaus ins Licht.
11
Amat schrak im Finstern hoch. Sie atmete hastig, und ihr Herz
raste. Ovi Niit hatte begonnen, ihre Tür einzutreten, und erst nach
einiger Zeit war sie sicher, dass die dröhnenden Schläge, die sie
gehört hatte, aus den dunklen Wassern des Traums aufgestiegen
waren. Langsam klang ihre Panik ab und Amat ließ sich wieder in
die Kissen sinken. Im Schein der Nachtkerze glühte das Mückennetz
über ihr wie Kupfer und wurde erst heller, als das kalte Blau des
Morgens zögernd durch die geöffneten Lamellen der Fensterläden
kroch, die in der nach Meer riechenden Brise leise klapperten.
Auf dem Schreibtisch türmten sich Papiere, und leere Tintenfässer
standen am oberen Treppenabsatz zur Entsorgung bereit. Die
Unterlagen des Unternehmens waren in Amats Abwesenheit fast
hoffnungslos durcheinandergeraten. Sie hatte Tag um Tag bis tief in
die Nacht über den Hauptbüchern und über verschiedenen Listen
und Verzeichnissen gesessen und sich immer wieder ermahnt, sich
so sorgfältig und aufopfernd darum zu kümmern wie früher und
den Gedanken nicht zuzulassen, die Moral des Unternehmens und
damit auch ihre eigene Arbeit seien durch Marchat Wilsins übles
Geschäft vergiftet worden.
Amat seufzte, setzte sich auf und schob das Mückennetz beiseite.
Seit ihrer Rückkehr war es immer dasselbe: Auf Alpträume, die sie
bis zum Morgengrauen quälten, folgte ein langweiliger, zutiefst
unbefriedigender Arbeitstag, in dessen Verlauf sie bis
Sonnenuntergang Botschaften verfassen und empfangen und ständig
irgendwelche Treffen bestreiten musste. Als Marchat einmal am
Ende des Tages ihr tief erschöpftes Gesicht gesehen hatte, hatte er
ihr angeboten, nach Ende der Saison auf seine Kosten für eine
Woche nach Chaburi-Tan zu reisen. Sie malte sich aus, wie hübsch es
wäre, einmal fern von Saraykeht und seinem Hafen, fern von ihrem
Schreibtisch und dem Vergnügungsviertel zu sein und ausspannen
zu können, doch diese Vorstellung war von Schwermut unterlegt,
denn dazu würde es nie kommen.
Amat erhob sich, zog ein frisches Gewand an und ging - auf ihren
Stock gestützt - zu einem Stand an der Straßenecke, an dem ein
Mädchen aus der Vorstadt mit frischen Beeren gefüllte Pfannkuchen
verkaufte. Dieser Imbiss war nahrhaft genug, um bis zum Mittag
vorzuhalten. Sie aß den Pfannkuchen auf dem Rückweg, versuchte
dabei, sich zu vergegenwärtigen, welche Aufgaben heute auf sie
zukamen, stellte aber fest, wie schwer es ihr fiel, sich auf die
wechselnden Geschäftstreffen und Verpflichtungen zu
konzentrieren, und zog es vor, diese Erwägungen auf später zu
verschieben.
Seit Amat aus ihrem Versteck bei Ovi Mit zurückgekehrt war,
fühlte sie sich krank. Sie brachte die Tage nur mühsam hinter sich,
konnte sich nicht konzentrieren und entwickelte kein Interesse an
ihrer Arbeit. Etwas in ihr war zerbrochen, und so zu tun, als sei es
noch intakt, funktionierte einfach nicht. Das hatte sie insgeheim
befürchtet und daher einen Plan entwickelt - gleichsam hinter dem
Rücken ihres Bewusstseins, das sich noch immer an die Hoffnung
klammerte, alles würde wieder in Ordnung kommen.
Der Mann, der vor ihrer Haustür wartete, trug ein Gewand in den
Farben Gelb und Silber, was ihn als Mitglied des Hauses Tiyan
auswies. Er war jung, höchstens siebzehn, also in Liats Alter. Ein
Lehrling vermutlich, seiner Kleidung nach aber einer, der einer
wichtigen Persönlichkeit des Hauses zuarbeitete. Das konnte nur
eines bedeuten. Amat veränderte im Geiste ihre Tagesordnung und
schob sich den letzten, vor Beerensaft triefenden Bissen
Pfannkuchen in den Mund. Als der junge Mann sie sah, machte er
eine Gebärde, wie sie sich zur Begrüßung einer älteren
Respektsperson ziemte. Auch Amat entbot ihm einen Gruß.
»Kyaan-cha«, begann der Junge, »Annan Tiyan hat mich geschickt
…«
»Das ist nicht zu übersehen«, sagte sie und öffnete die Tür.
»Komm rein. Hast du das Verzeichnis dabei?«
Er zögerte einen Moment und folgte ihr dann. Sie stieg langsam
die Treppe hoch. Dank der Salbe und des eigenen Betts war ihre
Hüfte seit der Rückkehr viel besser geworden. Amat ging zum
Waschbecken und wusch sich die Beerenflecken von den Fingern.
Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, und der Junge trat heran.
Er hatte das Blatt Papier, das sie seinem Herrn geschickt hatte, aus
dem Ärmel gezogen. Sie streckte die Hand aus, und er reichte es
ihr.
Die Quittung war unterschrieben. Amat schob sie lächelnd in ihren
Ärmel. Später würde sie sie zu den übrigen Papieren legen - zu
denen, die sie mitnehmen würde, genauer gesagt, nicht zu denen
des Hauses Wilsin. Dann zog sie unter einem Stapel von Verträgen
ein Kistchen aus dunklem, mit Eisen beschlagenem Holz hervor, das
voller Edelsteine und Silbermünzen war, und gab es dem Jungen.
»Mein Herr begann er, »nein, ich, Kyaan-cha, ich hab mich gefragt,
ob …«
»Annan möchte wissen, warum er die Kiste aufbewahren soll, und
will, dass du das unauffällig rausfindest, nicht wahr?«
Der Junge wurde knallrot, doch Amat winkte ab.
»Das ist unhöflich, aber ich an seiner Stelle hätte auch so
gehandelt. Sag ihm, dass ich mich stets an die alte Sitte gehalten
habe, Wertgegenstände bei vertrauenswürdigen Freunden zu
hinterlegen. Doch einer meiner Freunde verlässt die Stadt, also
muss ich einen neuen Verwahrer finden. Sollte Annan je Wert
darauf legen, würde ich ihm diesen Gefallen natürlich auch tun. Mit
dem armen Inselmädchen hat das nichts zu tun.«
Natürlich stimmte das nicht, aber es war zweckmäßig.
Dies war nun das vierte Kistchen, das Amat an Männer und
Frauen der Stadt schickte, von denen sie glaubte, sie könnte sich an
sie wenden, wenn die Umstände sich wieder gegen sie kehren
würden. Die Quittung war nur so gut wie die Ehre der Leute, bei
denen sie die Kistchen versteckte. Zwar rechnete sie damit, dass es
zu gewissen Diebstählen kam, indem etwa ein Juwel durch einen
weniger wertvollen Edelstein ersetzt wurde oder ein paar
Silberstücke trotz des Schlosses verschwanden, doch es war
unwahrscheinlich, dass ihre Kistchen leer waren, wenn sie sie
abholen kam. Und das war im Notfall das weitaus Wichtigste.
Der Junge machte eine bestätigende Gebärde und verschwand.
Amat hatte die Lektion begriffen, die Saraykeht ihr durch Ovi Niit
erteilt hatte: Sie würde sich nie mehr in eine Situation bringen, in
der sie keinen Zugriff auf ihr Vermögen hatte. Dabei berief sich
Amat auf eine Gefälligkeit, die die großen Familien des Reiches den
Bürgern vor dessen Zusammenbruch erwiesen hatten, führte also
weit zurückliegende Präzedenzfälle ins Feld. Annan würde zwar
nicht glauben, das Verwahren des Kistchens habe nichts mit Maj und
dem traurigen Eingriff zu tun, doch er würde den Umstand, dass
sie ihm so viel Vertrauen schenkte, richtig deuten: als Aufforderung
nämlich, sich anderen gegenüber mit Mutmaßungen über den Sinn
und Zweck ihres Vorgehens zurückzuhalten. Und das war genug.
Eine knappe Stunde ging sie nun die Verträge durch und versah
sie hier und da mit Anmerkungen, und zwar sowohl in ihrer als
auch in der für das Unternehmen bestimmten Ausfertigung. So spät
im Jahr gab es an den Formulierungen kaum etwas zu ändern, doch
jeder Abmachung waren zwei, drei Briefe beigelegt, in denen im
Vertrag verwendete Begriffe und Formulierungen auf spezifische
Weise definiert wurden, und diese Definitionen enthielten
Fußangeln, die ein Unternehmen bei Nichtbeachtung unter
Umständen ruinieren konnten. Sie ging die Unterlagen durch, prüfte
die Übersetzung der Briefe ins Galtische und ins Khaiate und
vermerkte Abweichungen sowie womöglich mehrdeutige
Formulierungen. Das hatte sie viele Jahre getan und erledigte es
darum ohne großes Nachdenken. Anders als früher aber tat sie es
geradezu mechanisch und freudlos.
Als sie mit dem letzten Vertrag fertig war, vergewisserte sie sich,
dass die Tinte trocken war, rollte die Unterlagen zusammen,
schnürte sie zu und packte sie in einen leichten Rucksack, da sie
nicht alle in ihre Ärmel passten. Dann nahm sie ihren Stock, verließ
das Gebäude und schlug den Weg zum Haus Wilsin ein.
Als sie in den großen Hof von Marchats Anwesen kam, waren die
Vertreter der Utkhais schon zugegen. Diener in feiner Seide saßen
auf dem Brunnenrand, unterhielten sich und sahen am Galtischen
Baum vorbei auf die Straße. Amat zögerte, als sie die Männer sah,
und spürte eine diffuse Angst, schob sie aber beiseite, wie sie in
letzter Zeit all ihre Gefühle beiseitegeschoben hatte, und ging an
den Dienern vorbei zu Marchats Besprechungszimmer.
Epani Doru - Wilsins unterwürfiger Haushofmeister mit
Rattengesicht - saß vor dem Besprechungsraum. Als Amat sich
näherte, stand er auf und machte eine Begrüßungsgebärde, die
gerade ehrerbietig genug war, um den Eindruck zu erwecken, er
respektiere ihre Stellung in dem Unternehmen.
Amat antwortete mit einer entsprechenden Gebärde und sagte:
»Ich habe ein paar Unterlagen dabei, die ich Wilsin-cha gern zeigen
würde.«
»Er ist in einer Besprechung mit Vertretern des Hofes«, meinte
Epani entschuldigend.
Amat warf einen kurzen Blick auf die geschlossene Tür, seufzte
und fragte, wie lange das dauern mochte. Epani antwortete
ausweichend, doch es war klar, dass sie froh sein konnte, wenn es
ihr gelang, Wilsin vor Sonnenuntergang zu sprechen.
»Dann muss das eben warten«, sagte sie ergeben. »Geht es da drin
um den traurigen Eingriff? Setzen sie ihm deshalb zu?«
»Vermutlich, Amat-cha«, antwortete Epani. »Wenn ich die Diener
richtig verstanden habe, will der Khai das Ganze schnellstmöglich
erledigt und vergessen wissen. Es hat Ersuche gegeben, die Preise
zu senken.«
Amat schnaubte und schüttelte den Kopf. »Das alles ist eine
unerfreuliche Angelegenheit«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass
Wilsin-cha sich darin hat verwickeln lassen.«
Epani pflichtete ihr mit einer bedauernden Gebärde bei, doch
Amat glaubte, kurz etwas anderes in seiner Miene gesehen zu
haben. Womöglich wusste er Bescheid. Vielleicht hatte Marchat
seinen Haushofmeister sehr viel mehr ins Vertrauen gezogen als
seine Verwalterin. Bis hin zur Mittäterschaft. Amat machte eine
fragende Geste.
»Wo ist Liat?«
»Vermutlich in den Arbeitsräumen«, antwortete Epani. »Die
Utkhais haben nicht nach ihr gefragt.«
Amat sagte nichts. Die Arbeitsräume waren für jemanden in Liats
Position ein schlechter Aufenthaltsort. Akten fürs Archiv
herzurichten, Verträge zu kopieren und Bilanzen nachzurechnen - all
diese Arbeiten, die an niedrigen Schieferpulten getan wurden,
waren eigentlich für Neulinge gedacht. Amat kehrte in die stickige
und erdrückende Atmosphäre und den beißenden Geruch von
billigem Lampenöl zurück.
Liat saß allein über einen Tisch gebeugt. Amat hielt inne und
musterte sie. Ihrem allzu runden Gesicht war die Jugend kurzzeitig
abhanden gekommen, und Amat sah einen Moment lang, wie Liat
ausschauen würde, wenn es vorbei wäre mit ihrer mädchenhaften
Schönheit. Sie sah die Züge einer Frau - keiner schönen Frau
übrigens. Ein enormes Mitgefühl erfasste sie, und sie ging auf das
Mädchen zu.
Liat blickte auf. »Amat-cha«, rief sie überrascht und machte eine
entschuldigende Gebärde. »Ich wusste nicht, dass Ihr mich braucht.
Sonst wäre ich -«
»Ich wusste es auch nicht. Also mach dir keine Sorgen. Woran
arbeitest du da?«
»An Sendungen aus den Westgebieten. Ich schreibe gerade die
Lieferscheine fürs Archiv ab.«
Amat sah sich die Blätter an. Liats Handschrift war sauber und
leserlich. Amat erinnerte sich an die Zeit, da auch sie in stickiger
Hitze über solchen Unterlagen gesessen hatte, und spürte ihr
Lächeln erstarren.
»Hat Wilsin-cha dir das aufgetragen?«, fragte sie.
»Nein, niemand. Ich hatte einfach nichts mehr zu tun und wollte
mich nützlich machen. Ich … ich bin in letzter Zeit ungern müßig. Es
fühlt sich irgendwie …
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Amat und tat noch immer, als
würde sie sich Liats Aufzeichnungen ansehen. »Es ist nicht deine
Schuld.«
Liat blickte ungläubig drein. Amat gab ihr die Blätter zurück.
»Du kannst nichts dafür«, bekräftigte sie.
»Ihr seid sehr nett.«
»Nein, nicht wirklich. Du konntest das nicht verhindern, Liat. Man
hat dich reingelegt. Genau wie das Mädchen. Und wie den Dichter
und den Khai.«
»Auch Wilsin-cha wurde reingelegt«, ergänzte Liat die Liste.
Oder geködert, dachte Amat, schwieg aber.
Liat rang sich ein Lächeln ab und meinte dankbar: »Es hilft, wenn
mir das jemand sagt. Itani tut es oft, aber ich kann ihm nicht immer
glauben. Und jetzt, wo er geht »Geht?«
»Nach Norden«, erwiderte Liat und zuckte zusammen, als habe sie
zu viel gesagt. »Er will seine Schwester zu besuchen, und … ich
vermisse ihn jetzt schon.«
»Natürlich, er ist schließlich dein Herzblatt«, sagte Amat
freundlich neckend, doch Müdigkeit und Angst in Liats Blick
nahmen nur zu. Amat holte tief Luft und legte dem Mädchen die
Hand auf die Schulter.
»Komm mit«, sagte sie. »Ich hab einiges für dich zu tun. Und zwar
an einem kühleren Ort.«
Amat führte sie in ein Besprechungszimmer auf der Nordseite des
Anwesens und gab ihr Unterlagen, mit denen sie sich befassen
sollte. Sie hatte Liat möglichst wenig zu tun geben wollen, doch
angesichts ihres traurigen Zustands packte sie noch ein paar Akten
dazu. Liat musste offenbar beschäftigt werden, um nicht in düstere
Grübeleien zu versinken. Die Arbeit war zwar nur ein schwacher
Trost, aber einen besseren konnte Amat ihr nicht bieten. Liat hörte
genau, ja grimmig zu.
Widerwillig kam Amat ans Ende ihrer Aufgabenliste. »Zuallererst
aber musst du mich zu dem Mädchen bringen«, sagte sie.
Liat erstarrte, nickte dann jedoch.
»Ich muss mit ihr reden«, erklärte Amat und merkte sofort, wie
unangemessen ihre Worte waren. Einen Moment war sie versucht,
die ganze Geschichte zu erzählen, um Liats Bürde zu erleichtern,
verkniff es sich aber. Für Mitleid war jetzt nicht die richtige Zeit.
Genauso wenig wie für Angst, Wut und Trauer.
Liat brachte sie zu einer Kammer im hinteren Teil des Hauses, die
nicht weit von Marchat Wilsins Gemächern entfernt lag. Amat
kannte das Zimmer - die feinen Intarsien des Parketts, die galtischen
Gobelins, die Fenstergitter aus Elfenbein. Hier beherbergte das
Haus Wilsin seine Ehrengäste. Amat glaubte nicht, dass das
Mädchen schon vor der Untat hier untergebracht gewesen war.
Dass sie nun hier schlief, zeigte Marchats Gewissensbisse.
Maj lag zusammengerollt auf der breiten Fensterbank, die bleichen
Finger am Gitter. Ihr seltsam schmutzgoldenes Haar wallte über die
Schultern bis halb zum Fußboden hinab. Amat stand hinter ihr und
sah sie ein- und ausatmen. Ihr Atem ging langsam, aber nicht so
träge wie im Schlaf.
»Ich kann bleiben, wenn Ihr mögt«, sagte Liat. »Sie … ich glaube,
sie fühlt sich besser, wenn Leute da sind, die sie kennt. Vertraute
Gesichter.«
»Nein«, entgegnete Amat. Das Inselmädchen bewegte sich beim
Klang ihrer Stimme und sah sie mit hellen Augen teilnahmslos an.
»Nein, Liat, ich habe dir für heute genug aufgebürdet.«
Liat machte eine ergebene Gebärde, ging und schloss die Tür
hinter sich. Amat zog einen mit geflochtenem Schilf bespannten
Stuhl neben das Mädchen und setzte sich. Maj beobachtete sie.
Kaum hatte Wilsins Verwalterin es sich auf der ächzenden und
knackenden Sitzgelegenheit bequem gemacht, begann das Mädchen
zu sprechen.
»Ihr habt sie verletzt«, sagte sie in der zischenden Sprache der
Insel Nippu. »Ihr habt sie weggeschickt, nicht?«
»Stimmt«, bestätigte Amat. »Ich will mit dir sprechen, nicht mit
ihr.«
»Ich habe alles erzählt, was ich weiß. Bestimmt schon hundert
Leuten. Ich werde es nicht noch einmal tun.«
»Ich bin nicht gekommen, um dir Fragen zu stellen, sondern, um
dir etwas zu erzählen.«
Ein spöttisches Lächeln breitete sich auf den vollen, bleichen
Lippen des Mädchens aus. Sie hob die blonden Brauen. »Wollt Ihr
mir sagen, wie ich mein Kind retten kann?«
»Nein.«
Maj zuckte die Achseln und brachte damit zum Ausdruck, dass es
dann wohl kaum etwas Hörenswertes sein konnte. »Wilsin-cha
betreibt deine Rückkehr nach Nippu«, sagte Amat. »Ich schätze, du
wirst binnen einer Woche reisen.« Maj nickte, und ihr Blick wurde
weich. Amat wusste, dass sie sich ausmalte, zu Hause zu sein und
Nippu nie verlassen zu haben. Es schien ihr fast grausam,
weiterzusprechen.
»Ich will nicht, dass du gehst. Ich will, dass du in Saraykeht
bleibst.«
Die hellen Augen wurden schmal. Maj stützte sich auf den
Ellbogen und drehte sich herum, um ihre Besucherin direkt
anzuschauen. Amat sah ihre misstrauische Miene und konnte den
Argwohn des Mädchens gut verstehen.
»Was dir zugestoßen ist, hat tiefere Ursachen, als es scheint«,
erklärte sie. »Es war ein Angriff auf meine Stadt und ihren Handel,
und nicht nur der Andat und Oshai stecken dahinter. Es wird nicht
einfach sein, das nachzuweisen, und wenn du gehst … wenn du
gehst, wird es mir wahrscheinlich nicht gelingen.«
»Was wird Euch nicht gelingen?«
»Dem Khai zu zeigen, dass mehr Leute in diese Sache verwickelt
sind, als er weiß.«
»Werdet Ihr dafür bezahlt?«
»Nein.«
»Warum tut Ihr es dann?«
Amat atmete tief ein, sammelte sich und sah dem Mädchen in die
Augen. »Weil es das Richtige ist.« Zum ersten Mal sprach sie diese
Worte laut aus, und kaum hatte sie es getan, fühlte sie sich
eigenartig befreit. Seit sie aus Ovi Niits Bordell geflohen war, hatte
es zwei Amat Kyaans gegeben: die Verwalterin des Hauses Wilsin
und die Frau, die wusste, dass sie dieses Gespräch führen und die
Konsequenzen daraus würde ziehen müssen. Sie schlang die Hände
ums Knie und lächelte ein wenig traurig, vor allem aber erleichtert
darüber, wieder nur eine Person zu sein. »Was geschehen ist, war
unrecht. Sie haben meine Stadt angegriffen. Meine Stadt. Und das
Unternehmen, für das ich arbeite, war daran beteiligt. Also war
auch ich daran beteiligt. Wenn ich nun herausfinden will, was
wirklich geschehen ist, bringt mir das nichts, Maj, im Gegenteil: Ich
verliere vieles, was mir lieb und teuer ist. Aber ich werde es tun -
ob mit dir oder ohne dich.«
»Das bringt mir mein Kind nicht wieder.«
»Nein.«
»Werde ich es so wenigstens rächen können?«
»Ja. Falls ich Erfolg habe.«
»Was würde Euer Khai tun, falls Ihr Erfolg habt?«
»Ich weiß es nicht. Alles, was er für richtig erachtet, denke ich. Er
könnte dem Haus Wilsin ein Bußgeld auferlegen. Oder er lässt es
niederbrennen und verbannt Marchat.«
»Könnte er ihn auch töten?«
»Das könnte er. Vielleicht hetzt er Samenlos auf das Haus Wilsin
oder den Galtischen Rat. Oder auf ganz Galtland. Ich weiß es nicht.
Und das habe ich auch nicht zu entscheiden. Ich kann ihn nur um
Gerechtigkeit bitten und darauf vertrauen, dass er dann das
Richtige tut.«
Maj wandte sich von Amat ab und sah wieder aus dem Fenster.
Ihre bleichen Finger strichen über das Gitterwerk und folgten ihm,
als seien in seinen Linien die Umrisse eines geliebten Gesichts
verborgen. Amat schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden.
Draußen rief ein Singvogel zweimal, hielt inne und sang erneut.
»Ich muss gehen«, sagte Amat.
Maj drehte sich nicht um. Amat erhob sich aus dem knackenden
und ächzenden Stuhl und nahm ihren Stock.
»Wirst du kommen, wenn ich dich rufe?«
Lastende Stille. Amat spürte den Wunsch, noch etwas zu sagen,
weitere Argumente zu liefern, Maj notfalls anzuflehen, doch
jahrelange Verhandlungserfahrung hatte sie abzuwarten gelehrt.
Stille verlangte viel dringlicher nach einer Reaktion als Worte. Als
Maj schließlich sprach, war ihre Stimme hart.
»Ich werde kommen.«
Saraykeht blieb weiter und weiter zurück. Sein großer Hafen
wurde immer unscheinbarer, und Kaianlagen, die so breit waren,
dass zehn Männer nebeneinander darauf Platz fanden, schmolzen zu
Zweigen zusammen. Otah saß am Heck, spürte die Wellen unter
dem Schiff hinwegrollen und genoss den Geruch der Gischt,
konzentrierte sich aber weiter auf die immer kleiner werdende
Stadt. Er sah nun alles auf einen Blick: die aus der Ferne grau
wirkenden Paläste des Khais auf dem Nordhügel; die großen
weißen Lagerhäuser am Ufer mit ihren roten und grauen
Dachziegeln; das Vergnügungsviertel, das im Frühlicht ruhig und
friedlich aussah. Küstenfischer warfen vor der Stadt ihre Netze aus,
während Otahs Schiff nach Osten segelte, an der schlammigen
Flussmündung und an Schilffeldern vorbei. Der Wind frischte auf,
nach kurzer Zeit hatten sie eine Landzunge umsegelt, und Saraykeht
war verschwunden. Otah stützte das Kinn auf das ölige Holz der
Reling.
Alle waren dort zurückgeblieben: Liat und Maati, Kirath, Tuui und
Epani, den jeder hinter seinem Rücken »Zikade« nannte. Doch auch
die Straßen, über die er ballenweise Baumwolle und Stoffe und
fässerweise Färbemittel gekarrt hatte, ließ er zurück; und die
Teehäuser, in denen er gesungen und getrunken hatte; den Garten,
wo er Liat zum ersten Mal geküsst und mit freudiger Überraschung
festgestellt hatte, dass sie ihn gern und innig zurückküsste; den
Feuerhüter, der ihn und seine Freunde gegen ein paar
Kupfermünzen Tauben überm Herd hatte rösten lassen. Er dachte
daran, wie fremd und beängstigend die Stadt anfangs auf ihn
gewirkt hatte. Das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein.
Und nun lag eine Reise in eine noch weiter zurückliegende
Vergangenheit vor ihm. Er war nie im Dorf des Dai gewesen und
hatte nie die Bibliotheken gesehen, die man nur dort besuchen
konnte, nie die Lieder gehört, die man nur dort sang. Diese Reise
würde ihn mit einem Leben konfrontieren, dem er vor Jahren hätte
folgen können, dem er sich aber verweigert hatte - einem Leben,
das anzustreben sein Vater ihm womöglich gewünscht hatte. Otah
fragte sich, wie es gewesen wäre, eines Tages - geschützt durch das
Brandmal des Dichters - in seine Heimatstadt Machi
zurückzukehren, um zu sehen, welche seiner Erinnerungen
stimmten und welche seiner jugendlichen Fantasie entsprangen. Als
er die Schule verlassen hatte, war ihm nicht klar gewesen, dass er
seine Entscheidung zur Flucht so teuer würde bezahlen müssen.
»Ich hasse das«, sagte eine fremde Stimme.
Otah blickte auf. Der Mann neben ihm trug eine tiefgrüne Robe.
Sein mit grauen Strähnen durchsetzter Bart stand in seltsamem
Kontrast zu seinem faltenlosen, jugendlich wirkenden Gesicht, und
die hellen schwarzen Augen schienen amüsiert, aber nicht
unfreundlich.
»Wie bitte?«, fragte Otah.
»Die ersten drei, vier Tage an Bord«, sagte der Mann. »Die Zeit,
die der Magen braucht, um sich an den Seegang zu gewöhnen. Ich
habe zwar Tropfen dabei, habe aber jedes Mal den Eindruck, dass
sie wirkungslos sind. Aber Ihr habt mit der Seekrankheit keine
Probleme, was?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Otah und setzte ein reizendes
Lächeln auf.
»Ihr seid zu beneiden«, meinte der Mann und fügte dann hinzu:
»Ich heiße Orai Vaukheter. Ich bin Kurier des Hauses Siyanti und
von Chaburi-Tan nach Machi unterwegs, reise also zwischen den am
weitesten entfernten Städten der Khais. Wie die Sache aussieht,
werde ich mich ausgerechnet dann im Norden aufs Maultier
schwingen, wenn der erste Schnee fällt. Und Ihr? Ich glaube, ich bin
Euch noch nicht begegnet. Dabei habe ich gedacht, ich kenne jeden.«
»Mein Name ist Itani Noyga«, sagte Otah, und diese Lüge kam
ihm noch immer ganz selbstverständlich über die Lippen. »Ich reise
nach Yalakeht, um meine Schwester zu besuchen.«
»Ah. Und Ihr seid aus Saraykeht?«
Otah nickte.
»Es heißt, da sei es im Moment schwierig. Wahrscheinlich ist es
klug, von dort zu verschwinden.«
»Ich will nur das Kind meiner Schwester sehen. Dann werde ich
zurückkehren, um meinen Arbeitsvertrag zu erfüllen.«
»Und das Mädchen?«
»Welches Mädchen?«
»Das Mädchen, an das Ihr dachtet, als ich Euch ansprach.« Otah
lachte und sah ihn ungläubig an. »Woher wollt Ihr wissen, dass ich
an ein Mädchen gedacht habe?«
Der Mann lehnte sich an die Reling und sah in die Ferne. Zwar
vermochte er zu lächeln, war aber etwas grün im Gesicht.
»Es gibt eine bestimmte Schwermut, die denjenigen befällt, für den
eine Schiffsreise erstmals wichtiger ist als das Zusammensein mit
einer Frau. Diese Schwermut lässt mit der Zeit nach, verschwindet
aber nie.«
»Sehr poetisch ausgedrückt«, sagte Otah und wechselte das
Thema. »Ihr reist also nach Machi?«
»Ja. Hinauf in die Winterstädte. Und ich freue mich im Moment
sogar darauf, weil man dort festen Boden unter den Füßen hat und
nicht mehr in einer Nussschale auf den Wellen treibt - merkwürdig,
was? Da oben sehne ich mich dann in diese Breiten zurück, in denen
man nicht ständig friert. Seid Ihr schon mal im Norden gewesen?«
»Nein«, sagte Otah. »Ich habe den Großteil meines Lebens in
Saraykeht verbracht. Wie ist es da oben denn so?«
»Kalt«, sagte der Mann. »Verdammt kalt. Aber auch wunderschön.
Dort verdienen sie ihr Geld mit Bergbau. Mit Bergbau und
Metallverarbeitung. Und die Steinmetze, die Machi errichtet haben -
ihr Götter, es gibt keine vergleichbare Stadt. Ihre Türme … von
denen habt Ihr sicher schon gehört?«
»Flüchtig«, sagte Otah.
»Ich war mal auf einem von den Großen. Er ist hoch wie ein Berg,
und man kann hunderte Meilen weit sehen. Ich hab runtergeschaut,
und unter mir flogen tatsächlich Vögel! Ich hatte das Gefühl, wenn
der Turm nur ein paar Meter höher wäre, könnte ich die Wolken
berühren.«
Wellen schlugen unter ihnen an die Bordwand, und Möwen
schrien, doch Otah bekam nichts davon mit. Für einen Augenblick
war er auf einem der hohen Türme. Zu seiner Linken zog der
Morgen rosa, golden und blassblau herauf, in Farben also, die an
das Ei eines Rotkehlchens erinnerten. Zu seiner Rechten war es noch
dunkel. Und vor ihm lagen schneebedeckte Berge, deren steinerne
Flanken das Rückgrat des Landes zu bilden schienen. Er roch etwas
- ein Parfüm oder ein Aroma, das ihn an Frauen denken ließ. Er
wusste nicht, ob es sich bei seiner Vision um einen Traum, eine
Erinnerung oder eine Mischung aus beidem handelte, doch eine
mächtige Trauer durchflutete ihn und wich auch dann nicht, als die
Bilder längst verschwunden waren.
»Das hört sich wunderbar an«, sagte er.
»Ich bin so schnell wie möglich wieder runtergeklettert«, erklärte
der Mann, und ihn schauderte trotz der Hitze. »So hoch oben
schwanken sogar Steinbauten.«
»Irgendwann würde ich gern mal dorthin reisen.«
»Ihr würdet dort gar nicht auffallen. Euer Gesicht passt in den
Norden.«
»Das höre ich oft.« Otah lächelte, obwohl er traurig war. »Aber ich
bin mir dessen nicht sicher. Ich habe viele Jahre im Süden gelebt und
fühle mich dort langsam heimisch.«
»Es ist schwer, Wurzeln zu schlagen«, sagte sein Begleiter. »Ich
schätze, deshalb reise ich immer wieder, obwohl es mir eigentlich
nicht liegt. Wo immer ich bin, muss ich an einen anderen Ort
denken. In Udun zum Beispiel an einen Krabbeneintopf in Chaburi-
Tan. Oder in Saraykeht an den Regen in Utani. Wenn ich die
schönsten Ecken aller Städte an einem Ort zusammenführen könnte,
wäre das wohl das Paradies. Aber das kann ich leider nicht. Wenn
ich mal zu alt bin, um ständig zu reisen, muss ich mich für eine Stadt
entscheiden, und ich fürchte, die Aussicht, die anderen Städte nie
mehr zu sehen, wird mir das Herz brechen.«
Sie schwiegen einen Moment. Dann veränderte sich die Miene des
Kuriers, und er musterte Otah sorgfältig.
»Ihr seid ein interessanter Bursche, Itani Noyga. Eigentlich wollte
ich nur locker mit einem jungen Mann plaudern, der seine erste
Reise unternimmt, und nun denke ich unversehens daran, dass ich
bald meine letzte Fahrt machen dürfte. Verbreitet Ihr immer solche
Schwermut?«
Otah lächelte und machte eine freundlich bedauernde Gebärde,
doch sein Gegenüber musterte ihn kühl. In der Nähe wurde ein
Vorhang beiseitegeschoben, und ein Mann brüllte vom Heck des
Schiffes Richtung Bug.
»Ja«, hörte Otah sich zu seiner Überraschung sagen. »Aber das
scheint nur sehr wenigen Leuten aufzufallen.«
»Dann ist das Inselmädchen eben weg«, sagte Amat. »Was macht
das schon? Ihr wolltet sie doch ohnehin demnächst wegschicken.«
Marchat Wilsin bewegte die Arme nervös hin und her und
erzeugte dadurch kleine Wellen, die sich am Rand des Beckens
brachen. Amat nippte an ihrem Tee und heuchelte Desinteresse.
»Wir wollten sie nach Hause schicken. So war es abgesprochen.
Warum mag sie weggelaufen sein?«, fragte er weniger Amat als sich
selbst oder das Wasser. Amat stellte ihre Teeschale auf dem
schwimmenden Tablett ab und machte eine fragende Gebärde. Was
sie dann sagte, ließ diese Gebärde freilich spöttisch erscheinen.
»Lasst mich mal überlegen, Wilsin-cha. Sie ist ein junges Mädchen,
das getäuscht, ausgenutzt und erniedrigt wurde; ein Mädchen, das
die Geschichten geglaubt hat, die man ihm von der großen Liebe
erzählte; ein Mädchen, dem das Kind genommen wurde, das es
unbedingt wollte. Warum sollte Maj da nicht zu denen
zurückkehren, die sie verlassen hat? Die würden sie doch bestimmt
nicht für eine leichtgläubige Närrin halten! Jedenfalls nicht mehr, als
es der Khai und die Utkhais schon tun. Am Hafen sind übrigens
Witze über sie im Umlauf. Arbeiter und Teehausbedienstete denken
sie sich aus und erzählen sie einander. Wollt Ihr einige davon
hören?«
»Nein«, sagte Marchat und schlug mit der flachen Hand aufs
Wasser. »Natürlich nicht. Mir ist das wirklich nicht recht, und ich
möchte davon verschont bleiben.«
»Sie schämt sich, Marchat. Sie ist weggelaufen, weil sie sich
schämt.«
»Ich verstehe nicht, wofür sie sich schämen sollte«, sagte er, und in
seiner Stimme lag etwas Rechtfertigendes, das nicht nur ihm,
sondern herzzerreißenderweise auch Maj galt. »Sie hat doch nichts
Böses getan.«
Amat ließ die Hände wieder ins Becken gleiten. Wilsins Lippen
bewegten sich tonlos, als spräche er mit sich selbst, sei aber kurz
davor, sich an sie zu wenden. Amat wartete.
Am Abend zuvor hatte sie Maj in ein Fischerdorf westlich der
Stadt gebracht. Ein außerhalb gelegener Unterschlupf würde
reichen, bis sich etwas Passenderes fand, hatte Amat gedacht. Sie
hoffte, das sei binnen einer Woche zu schaffen, war aber darauf
eingestellt, dass es länger dauern könnte. In den letzten Tagen hatte
sie sich innerlich immer mehr vom Haus Wilsin gelöst. Es würde
nicht mehr lange dauern, bis sich ihr Weg von dem ihres
Arbeitgebers und alten Freundes Marchat trennte. Mit ihm in
diesem Badehaus zu sitzen, in das er seit Jahren täglich kam, war
schlimm, weil er nichts von ihren Absichten wusste. Das Haus
Wilsin hatte sie vor einem Leben am Abgrund bewahrt, und
Marchat hatte von all seinen Angestellten ausgerechnet sie zu seiner
Verwalterin aufsteigen lassen. Und nun saßen sie hier wie seit
Jahren im Bad, doch es war beinahe zum letzten Mal.
Unwillkürlich beugte Amat sich vor und legte ihm die Hand auf
die Schulter. Er sah auf und rang sich ein Lächeln ab.
»Es ist vorbei«, erklärte er. »Wenigstens ist es vorbei.«
Das hatte er in den letzten Tagen oft gesagt, als würden Worte
durch Wiederholung wahr. Vielleicht war ihm unterbewusst ja klar,
dass die Sache noch längst nicht ausgestanden war. Er nahm ihre
Hand und tat etwas, das Amat überraschte: Er führte sie zum Mund
und küsste sie. Seine Barthaare fühlten sich auf ihrer vom Wasser
weichen Haut kratzig an. Sanft und gegen seinen Willen entzog sie
ihm die Hand. Er errötete. Ihr Götter, der arme Mann errötete! Sie
hätte weinen oder gehen oder ihn anschreien mögen, bis die Fliesen
durch das Echo ihres Zorns Risse bekamen: Wie könnt Ihr es nach
all dem, was Ihr getan habt, wagen, Euch so zu verhalten, dass ich
Mitleid für Euch empfinde? »Wilsin-cha«, sagte sie stattdessen. »Der
Frachtplan.«
»Ja«, sagte er. »Natürlich, der Frachtplan.«
Gemeinsam besprachen sie die belanglosen Angelegenheiten des
Tages. Ein kleines Feuer in einem Lagerhaus der Weber war schuld
daran, dass ihnen für das Schiff nach Bakta tausend laufende Meter
Baumwolle fehlten. Diese Menge würde es rechtfertigen, das Schiff
noch nicht auslaufen zu lassen, doch sie wollten es nicht zu lange
aufhalten, denn die Saison war bald vorbei. Dann galt es, über den
hartnäckigen Schimmel in einem Lagerhaus zu reden, der zwei
Ballen Seide verdorben hatte und beseitigt werden musste, ehe sie
das Lager wieder nutzen konnten.
Amat legte Wilsin dar, welche Möglichkeiten sie hatten, machte
Vorschläge, beantwortete Fragen und akzeptierte seine
Entscheidungen. Im Hauptgebäude des Badehauses fing ein Mann
an zu singen, und zwei andere fielen ein, trafen aber nicht immer
den Ton. Ein warmer Luftzug, der durchs Zederngitter der Fenster
drang, kräuselte die Wasserfläche. So quälend es auch war: Amat
musste gierig Beobachtungen in sich aufnehmen - das Rosarot von
Wilsins sonst so bleicher Haut; den dünnen Riss an der Seite des
lackierten Tabletts; den leicht bitteren Geschmack des Tees, der ein
wenig zu lange gezogen war. Als wäre ich ein Eichhörnchen, das
Nüsse für den Winter sammelt, dachte sie.
»Amat«, sagte Wilsin, als sie mit der Besprechung fertig waren
und sie sich erhob. Sie war erstaunt über die Bestimmtheit seines
Tons und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. »Da ist noch etwas …
Wir zwei haben fast eine Ewigkeit zusammengearbeitet … Du bist
immer sehr … sehr professionell gewesen. Doch ich hatte stets das
Gefühl, dass wir zugleich auch Freunde sind. Ich jedenfalls habe
immer größte Stücke auf dich gehalten. Ihr Götter, wie das klingt!
Größte Stücke! Ich mach das wirklich lausig.«
Er hob die Hände zu einer ungewissen Geste. Seine Fingerkuppen
waren verschrumpelt, und sein hochrotes Gesicht wirkte
angespannt. Amat runzelte verwirrt die Stirn. Dann überkam sie die
Erkenntnis wie eine plötzliche Übelkeit: Er war drauf und dran, ihr
seine Liebe zu gestehen! Sie senkte den Kopf, presste die Hand an
die Stirn und konnte nicht aufsehen. Ein kurzes Lachen, das
zwischen Schrecken und Heiterkeit schwankte, entrang sich ihrer
Kehle. Auf alles war sie gefasst gewesen und gegen alle Übel
innerlich gewappnet, doch diese Wendung der Dinge hatte sie kalt
erwischt. Marchat Wilsin glaubte, sie zu lieben! Deshalb also hatte er
sich bei Oshai für sie verwendet. Deshalb lebte sie überhaupt noch!
Wie lächerlich das war! »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nicht …
vergiss diese Sache. Ich wusste ja nicht … ich höre mich an wie ein
dummer Schuljunge. Ich sage dir ganz offen, Amat: Ich wollte in
diese Sache nicht hineingezogen werden. In den letzten Tagen habe
ich eine gewisse Distanz von deiner Seite gespürt. Und ich mache
mir Sorgen, dass wir zwei … etwas verloren haben könnten, das
Das musste aufhören, und sie musste dafür sorgen.
»Wilsin-cha«, begann sie und zwang sich eine förmliche Gebärde
der Ehrerbietung gegenüber einem Vorgesetzten ab. »Es ist wohl
noch zu früh … Die Wunden sind noch zu frisch. Womöglich sollten
wir dieses Gespräch verschieben.«
Er machte eine beipflichtende Geste und wirkte dabei so
erleichtert wie sie. Daraufhin bat Amat mit einer Gebärde, das Bad
verlassen zu dürfen, und er wiederholte seine Geste. Sie ging, ohne
ihm noch mal in die Augen zu sehen. In der Umkleide zog sie sich
an und wusch sich das Gesicht. Dann lehnte sie sich an das große
Granitbecken und umklammerte dessen Rand so fest, dass das Blut
aus ihren Knöcheln wich. Als sie sich beruhigt hatte, lockerte sie
ihren Griff, atmete tief und langsam durch und sammelte sich. Dann
nahm sie ihren Stock und trat auf die Straße hinaus, als wäre die
Welt nicht aus den Fugen und als müsste sie sich darin nicht
mühsam ihren Weg bahnen.
Sie ging zügigen Schrittes zu Wilsins Anwesen. Bein und Hüfte
setzten ihr dabei kaum zu. Sie gab die nötigen Anweisungen, leitete
alles so in die Wege, wie sie es mit Marchat besprochen hatte. Zum
Glück war Liat nicht da. Amats Tag war auch ohne Liats
Schuldgefühle und ohne ihren Schmerz schwer genug. Außerdem
musste Amat natürlich entscheiden, ob sie das Mädchen mitnehmen
sollte, wenn sie ihr altes Leben hinter sich ließ.
Als Amat den letzten Eintrag in die Bücher des Unternehmens
gemacht hatte, säuberte sie den Federkiel, schraubte das Tintenfass
zu, verließ das Arbeitszimmer und ging Richtung Hafen. Sie kam an
Ständen und Schiffen vorbei, an Wasserverkäufern, Feuerhütern
und an Karren, deren Besitzer in Ingwer und Kreuzkümmel
eingelegte Schweinefleischstreifen feilboten. Als sie den breiten
Nantan erreichte, machte sie eine Pause und betrachtete die
Bronzestatue des letzten Kaisers, dessen Blick aufs Meer gerichtet
war. Sein Gesicht wirkte gelassen, zugleich aber auch traurig, wie
sie fand. Shian Sho hatte mitansehen müssen, wie das Reich in einem
Krieg seiner obersten Berater, die über Dichter und Andaten
geboten, unterging. Wie traurig muss es sein, dachte Amat, so viel
zu besitzen, aber nicht über die Macht zu verfügen, es zu retten.
Erstmals fühlte sie mehr als nur Respekt oder historisches Interesse
oder Vertrautheit in Bezug auf das Abbild dieses Mannes, der seit
acht Generationen tot war. Sie ging zum Sockel der Statue und legte
die Hand auf den metallenen Fuß, der von der Sonne so erhitzt war,
dass es beinahe wehtat. Als sie sich abwandte, war sie so traurig
wie zuvor, doch ihre Trauer hatte jetzt etwas seltsam Beherztes.
Vielleicht fühlte sie sich ja nun all denen verwandt, die sich vor ihr
bemüht hatten, geliebte Städte zu retten. Sie ging zum Fluss, hielt
also auf die schlimmsten Teile der Stadt zu. Ihrer Stadt.
Das Teehaus wirkte ein bisschen schäbig, war aber nicht
heruntergekommen. Die Fensterläden konnten etwas Farbe
vertragen, und die Schmierereien an den Wänden waren nur
flüchtig überstrichen. All das ließ zwar auf Armut schließen, nicht
aber auf Verwahrlosung. Ein Mann, dessen tiefblaue Augen und
rote Haare ihn als jemanden aus den Westgebieten auswiesen,
beugte sich aus dem Fenster, versuchte aber den Eindruck zu
vermeiden, sie anzustarren. Amat hob die Brauen und trat durch
die blau gestrichene Tür in den halbdunklen Schankrauen.
Ein intensiver Geruch nach Lammbraten, Bier aus den
Westgebieten und billigem Tabak schlug ihr entgegen. Der
Steinboden war sauber, und die wenigen Männer und Frauen, die
an den Tischen saßen, schienen kaum Notiz von ihr zu nehmen.
Auch die Hunde unter den Tischen wandten ihr nur kurz den Kopf
zu und blickten dann wieder weg. Amat sah sich mit einer Miene
um, die hoffentlich selbstbewusst und ungeduldig wirkte. Kurz
darauf kam ein dunkelhaariges Mädchen auf sie zu und wischte sich
dabei die Hände an der Schürze ab.
»Hier gibt es Tische genug«, sagte sie nach einer knappen
Begrüßung. »Aber vielleicht hättet Ihr gern eine Nische nach hinten
raus? Von dort kann man den Fluss überblicken, falls »Ich bin
gekommen, um einen Mann namens Torish Weiss zu sprechen«,
erklärte Amat. »Er erwartet mich.«
Das Mädchen war kein bisschen überrascht, machte auf dem
Absatz kehrt und führte Amat durch einen kurzen Flur zu einer
offenen Tür. Amat machte eine dankbare Gebärde und trat über die
Schwelle.
Torish Weiss war ein großer, schwerer Mann. Er hatte dichtes,
honigfarbenes Haar und eine schlimme Narbe am Kinn. Er stand
nicht auf, als sie hereinkam, sondern musterte sie nur distanziert
und belustigt. Amat machte die Gebärde, mit der in Saraykeht
gemeinhin Geschäftsverhandlungen eröffnet wurden.
»Nein«, sagte der Mann in der Sprache der Westgebiete. »Wenn
Ihr etwas bereden wollt, dann nur mit Worten.«
Amat ließ die Hände sinken und setzte sich. Torish Weiss lehnte
sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Das
Messer an seinem Gürtel war so lang wie Amats Unterarm. Sie
spürte, dass sie vor Furcht einen Kloß im Hals bekam. Dieser Mann
war stark und brutal und neigte zu Gewalt. Und genau deshalb war
sie gekommen.
»Ich habe gehört, Ihr habt Männer, die man anheuern kann«,
begann sie.
»Stimmt.«
»Ich brauche zwölf.«
»Wofür? »Das kann ich Euch jetzt noch nicht sagen.«
»Dann könnt Ihr sie auch nicht kriegen.«
»Ich bin bereit, gut dafür zu bezahlen »Das interessiert mich nicht.
Es sind meine Leute, und die schick ich erst los, wenn ich weiß, was
sie erwartet. Wenn Ihr mir das nicht sagen könnt, bekommt Ihr sie
nicht.«
Er sah weg und schien gelangweilt. Amat schüttelte den Kopf und
unterdrückte ihre Empfindungen. Dies war keine Zeit für Gefühle,
sondern für eiskalte Berechnung. Ihr Gegenüber war Geschäftsmann
- auch wenn Gewalt sein Gewerbe war. Er war sicher nicht daran
interessiert, in den Ruf zu geraten, die Geheimnisse seiner Kunden
auszuplaudern.
»Ich trenne mich demnächst von meinem Arbeitgeber«, sagte sie.
Nachdem sie über ihre Absichten so lange geschwiegen hatte, war
es merkwürdig, diese Worte ausgesprochen zu hören. »Ich habe
etwas vor, das mich in Gegnerschaft zu ihm bringen wird. Um
Erfolg zu haben, brauche ich hohe und beständige Einkünfte.«
Torish Weiss beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Knie
und sah sich seine Besucherin genauer an. Er war neugierig
geworden. Sie hatte ihn am Haken.
»Und wie wollt Ihr das hinkriegen?«, fragte er.
»Es gibt da jemanden namens Ovi Mit. Er hat ein Bordell im
Vergnügungsviertel. Und das will ich ihm nehmen.«
12
Das Floß bot Platz für acht Personen. Vier Ochsen schleppten es
flussaufwärts und schritten langsam, aber unermüdlich den
Treidelpfad entlang, der sich seit Generationen am Ufer hinzog. In
seinen Umhang und in kratzige Wolldecken gehüllt, die der Schiffer
und seine kaum neunjährige Tochter ihm gegeben hatten, schlief
Otah am Heck. Morgens zündete das Mädchen ein Kohlebecken an
und kochte süßen Reis mit Mandelmilch und Zimt. Abends, wenn
sie am Ufer festgemacht hatten, bereitete ihr Vater das Essen zu -
meist ein Huhn und Gerstenbrei.
Während der Flussfahrt tat Otah kaum etwas anderes, als das
langsame Vorbeiziehen der Bäume zu beobachten, dem Wasser und
den Ochsen zu lauschen, die Sympathie des Mädchens mit Späßen
und gemeinsamem Singen zu gewinnen und den Schiffer durch
Fragen nach dem Leben auf dem Fluss und durch aufmerksames
Zuhören für sich einzunehmen. Am vorletzten Reisetag hatte sich
Otahs Verhältnis zu Vater und Tochter so gut entwickelt, dass der
Schiffer eine Schale Pflaumenwein mit ihm teilte, als die anderen
Reisenden sich schlafen gelegt hatten. Weder Vater noch Tochter
erwähnten je die Mutter des Mädchens, und Otah fragte nicht
danach.
Die Reise endete in einer Stadt, die größer war als alle Siedlungen,
die Otah seit Yalakeht gesehen hatte. Die breiten Straßen waren
gepflastert, und die bis zu drei Stockwerke hohen Häuser blickten
auf den Fluss oder in den Kiefernwald ringsum. Wie wohlhabend
der Ort war, zeigte sich nicht nur an den Gebäuden, sondern auch
an den Mienen der Einwohner und daran, was es zu essen gab.
Otah hatte den Eindruck, irgendein Viertel aus den prächtigen
Städten der Khais sei eines Nachts von Riesenhänden genommen
und in diese Wildnis verpflanzt worden.
Dass die Straße zum Dorf des Dai breit und in sehr gutem Zustand
war, erstaunte ihn nicht - wohl aber die Entdeckung, dass er zu
einem unangenehm hohen Preis eine Sänfte mieten konnte, in der er
die steil bergan führende Tagesreise bequem hinter sich hätte
bringen und sich direkt vor dem Tor des Dai-Palastes hätte absetzen
lassen können. Er begegnete Männern in feinen Wollsachen oder
Fellmänteln, bei denen es sich um Abgesandte der Khais, großer
Handelshäuser oder anderer Einrichtungen handelte. Essensstände
am Straßenrand boten den hohen Herren üppige Kost zu
überhöhten Preisen, hatten aber auch Weizenbrei mit Huhn für
einfache Leute wie Otah im Angebot.
So reich und verschwenderisch sich die Straße auch präsentierte -
der erste Anblick des Dorfes, in dem der Dai residierte, verschlug
Otah den Atem. In den Fels der Berge gehauen schien es halb der
Sphäre der Menschen, halb der Sonne und den großen
Naturgewalten zugehörig. Otah hielt mitten auf der Straße an und
sah zu den schimmernden Fenstern und Straßen, Treppen, Dächern
und Türmen hinauf. Das dünne Goldband eines Wasserfalls strömte
durch die Anlage, und das warme Licht des nahen
Sonnenuntergangs ließ die Steine links und rechts des Goldbandes
wie Bronze glühen. Windspiele klangen hell wie Vogelgesang oder
tief wie Glocken im Luftzug. Sollte dieser Anblick dazu dienen, dass
die Ankommenden sich klein fühlten, konnte man den Erbauer nur
beglückwünschen. Otah wurde plötzlich klar, dass Maati hier gelebt
und studiert hatte. Und dass er selbst sich dem verweigert hatte. Er
fragte sich, wie es sein mochte, als Junge diese Straße wie zur
Belohnung hochzukommen und diese Pracht vor sich ausgebreitet
zu sehen, als wäre sie nur um seinetwillen da.
Der Weg zur Großen Kanzlei war leicht zu finden und voller
Leute. Feuerhüter, die hier keine Utkhais, sondern nur Diener des
Dai waren, schürten an den Kreuzungen ihre Öfen, und Teehäuser
versprachen in der Abenddämmerung Wärme und Behaglichkeit.
Otah aber legte keine Pause ein.
Er kam zur Großen Kanzlei, einem enormen Hallengewölbe, das
nach Westen offen war, damit die Abendsonne die weißen Wände
orange erglühen lassen konnte. Otah fiel auf, dass nur Männer
unterwegs waren. Sie kamen oder verschwanden durch mit
Schnitzereien aus Rosenholz verzierte Eichentüren. Er musste einen
Lampenanzünder ansprechen, um zu erfahren, wie er zum
Verwalter des Dai kam.
Der Verwalter war ein alter Mann mit freundlichem Gesicht. Er
trug das braune Dichtergewand. Als Otah an seinen Tisch trat,
machte der Alte mit so fließender Anmut eine begrüßende und
zugleich fragende Gebärde, wie Otah es bisher nur bei Khai
Saraykeht und Samenlos gesehen hatte. Er erwiderte die Begrüßung
und war einen Moment lang wieder ein Junge in den kalten, leeren
Gängen seiner Schule.
Otah schob diese Erinnerung rasch beiseite und sagte: »Ich habe
einen Brief für den ehrwürdigen Dai. Von Maati Vaupathi aus
Saraykeht.«
»Tatsächlich? erwiderte der Verwalter. »Ausgezeichnet. Ich werde
dafür sorgen, dass er ihn umgehend bekommt.«
Eine schöne alte Hand streckte sich ihm entgegen, um das
Schreiben anzunehmen, der noch in Otahs Ärmel steckte. Der junge
Mann musterte die runzligen Finger, die ihn an eine Schnitzerei
denken ließen, und plötzliche Besorgnis ergriff ihn.
»Ich hatte gehofft, den ehrwürdigen Dai persönlich zu sprechen«
sagte er. Die Miene des Verwalters bekam etwas Mitleidiges.
»Er ist sehr beschäftigt, mein Freund. Er hat kaum Zeit, mit mir zu
reden - und das, obwohl ich seine Tage für ihn einteile. Gebt mir
den Brief, und ich kümmere mich darum, dass er davon erfährt.«
Otah zog das Schreiben aus dem Ärmel und gab es dem
Verwalter. Dabei empfand er tiefe Enttäuschung. Natürlich
empfängt der Dai keine einfachen Kuriere, dachte er traurig egal,
wie heikel ihre Botschaften sind. Ich hätte das nicht erwarten
dürfen.
»Bleibt Ihr, um eine Antwort abzuwarten? »Ja«, sagte Otah. »Falls
es denn eine gibt.«
»Ich lasse Euch morgen wissen, ob der ehrwürdige Dai den Brief
zu beantworten beabsichtigt. Wo seid Ihr zu finden?«
Otah machte eine entschuldigende Gebärde und erklärte, er habe
sich noch keine Unterkunft gesucht und kenne das Dorf nicht. Der
Verwalter empfahl ihm ein Quartier, beschrieb ihm den Weg und
brachte dabei eine Geduld auf, wie sie ein Großvater einem innig
geliebten, aber begriffsstutzigen Enkelkind gegenüber an den Tag
legen mag. Als Otah wieder auf die Straße trat, dämmerte es
bereits, obwohl die gerade erst versunkene Sonne den Horizont
noch golden und purpurrot erglühen ließ.
Auf dem Weg den Hügel hinunter hatte er Zeit, sich das Dorf
etwas genauer anzusehen, obwohl das Licht rasch abnahm. Ihm fiel
auf, dass er seit Verlassen der Landstraße keine Frau gesehen hatte.
Ob an den Öfen der Feuerhüter, an den Karren und Ständen mit
Esswaren oder im Gasthof, zu dem der Verwalter ihn geschickt
hatte - überall waren nur Männer zu sehen.
Als er genauer hinschaute, entdeckte er weitere Hinweise darauf,
dass der Alltag in diesem Dorf anders war als in allen Orten, die er
kannte. Anders als in Saraykeht lag keinerlei Dreck oder Staub auf
den Straßen, und kein Gras spross aus den Ritzen der Pflastersteine,
kein Moos wuchs in den Mauerwinkeln. Mehr noch als die
Abwesenheit von Frauen ließ diese seltsame Sauberkeit das Dorf
fremd, beunruhigend und beinahe kalt wirken.
Otah aß Reh mit Trauben und frischem Schwarzbrot zu Abend.
Vom Feuer abgewandt, saß er allein an einem niedrigen Tisch.
Schwermut hatte ihn gepackt. Bilder von Liat, einem Häuschen,
einer einfachen Arbeit, selbst gebackenem Brot und im eigenen
Herd geschmortem Schweinefleisch setzten ihm so lächerlich wie
unabweislich zu. Er hatte getan, was er Maati versprochen hatte.
Der Brief war in den Händen des Dai oder würde es demnächst
sein.
Doch er war auch aus persönlichen Gründen gekommen. Er war
Otah, der sechste Sohn von Khai Machi. Und er war einer, der
größte Macht verschmäht und das Angebot, einen Andaten zu
beherrschen, abgelehnt hatte. In diesem seltsam anmutenden Dorf
verstand er zum ersten Mal, was das für seine Brüder, seine Lehrer
und all seine Mitschüler, die diese Gelegenheit liebend gern
ergriffen hätten, bedeuten mochte. Für Leute wie Maati zum
Beispiel.
Und wer war dieser Itani Noyga, dieser einfache Arbeiter mit den
schlichten Träumen? Er begriff, dass er durch das halbe Reich der
Khais gereist war, um diese Frage zu klären, stattdessen aber einem
alten Mann einen Brief ausgehändigt hatte. Er dachte daran, dass
diese Fahrt ihm bei der Abreise als ein Abenteuer erschienen war,
das nicht nur für Heshai und Samenlos, für den Khai und die Stadt
Saraykeht von Bedeutung war, sondern auch für ihn persönlich.
Inzwischen aber wusste er nicht mehr, warum er gedacht hatte,
einen Brief zu überbringen bedeute mehr als das Überbringen eines
Briefes.
Seine Kammer war so klein, dass Bett und Nachttisch kaum
hineinpassten. Die Decken waren warm, dick und weich. Die
Matratze war sauber und beherbergte weder Läuse noch Flöhe. Das
Zimmer roch nach Zedernholz und nicht nach Rattenpisse oder
Menschenschweiß. So klein es war - es war so vollkommen wie alles
andere in diesem Dorf.
Die Kerze war gelöscht und Otah schon fast eingeschlafen, als
seine Tür aufging. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann trat mit hoch
erhobener Laterne ein. Buschige, grau melierte Brauen gaben
seinem Mondgesicht eine besondere Note. Otah sah dem Besucher
erst verschlafen, dann hellwach und aufmerksam in die Augen und
begrüßte ihn mit der Gebärde, die er als Junge gelernt hatte. Dazu
lächelte er freundlich, aber alles andere als aufrichtig.
»Eure Anwesenheit ehrt mich, ehrwürdiger Dai.«
Tahi blickte finster drein, kam näher und hielt Otah die Laterne
vors Gesicht. Der Junge war geblendet und konnte die Miene seines
alten Lehrers kaum erkennen, sah aber nicht weg.
»Du bist es tatsächlich.«
»Ja.«
»Zeig mir deine Hände« sagte sein alter Lehrer. Otah tat wie
geheißen. Die Laterne wanderte abwärts, und Tahi beugte sich über
Otahs schwielige Handflächen, bis der Junge seinen Atem auf den
Fingern spürte.
»Dann stimmt es also wirklich« sagte Tahi schließlich. »Du bist ein
Arbeiter.«
Otah ballte die Fäuste. Diese Worte waren für ihn nicht
überraschend gekommen, doch er war erstaunt, dass sie ihm so
wehtaten, denn er hatte angenommen, es sei ihm längst egal, was
Tahi über ihn dachte. Er setzte sein gewinnendes Lächeln auf und
antwortete mit sanfter, gelassener Stimme.
»Ich habe meinen eigenen Weg gewählt.«
»Eine wirklich großartige Wahl«, meinte Tahi trocken. »Ich hab es
so gewollt.«
Der Dai, also der mächtigste Mensch auf Erden, richtete sich auf
und schüttelte angewidert den Kopf. Sein Gewand Seide auf Seide -
raschelte bei jeder Bewegung. Er neigte den Kopf zur Seite, was ihn
wie einen bösartigen Vogel wirken ließ.
»Ich muss über deine Botschaft mit anderen beraten. Es kann ein
paar Tage dauern, ehe ich eine Antwort zu Papier bringe.«
Otah wartete auf eine verletzende Bemerkung oder das Schwirren
des Rohrstocks, doch Tahi stand nur da und wartete. Schließlich
machte Otah eine ergebene Gebärde.
»Ich werde warten.«
Einen Moment schimmerte etwas - Trauer? Ungeduld? - in Tahis
Augen. Dann war er verschwunden, ohne sich verabschiedet zu
haben. Die Tür ging hinter ihm zu, und Otah legte sich wieder hin.
Bis auf die allmählich leiser werdenden Schritte war die Dunkelheit
ganz still. Sie waren längst verhallt, ehe Otahs Herzschlag sich
beruhigte, sein Atem langsamer ging und sein innerer Aufruhr sich
legte.
Maati saß auf der Brücke, die über den schwarzen Teich vor dem
Dichterhaus führte. Sein Oberkörper war zusammengesunken, sein
Bauch bleischwer, seine Brust wie zugeschnürt. Es roch nach Regen,
obwohl der Himmel blau war. Die Welt schien tiefdunkel und wie
abgestorben.
Er hatte natürlich gewusst, dass Liat eigentlich nicht seine Geliebte
war. Sie hatten einander in diesen wenigen, kostbaren Wochen
lediglich freundschaftlichen Trost gewährt. Mehr nicht. Und nun, da
Otah zurück war, konnte alles wieder werden wie zuvor - so also,
wie es besser von vornherein geblieben wäre. Dumm nur, dass
Maati furchtbar unter der Wiederherstellung der alten Verhältnisse
litt. Die Erinnerung an Liats Körper und an ihre Küsse verfolgte ihn.
Und kaum sah er Otahs schmales, nachdenkliches Gesicht, plagten
ihn Gewissensbisse.
Und weil das so ist, dachte er, wird nichts mehr so wie es war.
Diese Möglichkeit hat sich als Illusion erwiesen. »Du hast es also
getan?«
Maati wandte sich nach links, in Richtung der Paläste. Samenlos
betrat die Brücke. Er trug ein dunkles Gewand, und seine Miene
war undurchdringlich.
»Ich weiß nicht, was du meinst« sagte Maati.
»Du hast mit der süßen Liat Schluss gemacht und sie dem
zurückgegeben, aus dessen Armen sie zu dir gekommen ist.«
»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst« sagte Maati und sah
wieder auf den dunklen Teich. Samenlos setzte sich neben ihn. Die
Wasseroberfläche reflektierte ihre bleichen, von sanftem
Wellenschwung bewegten Gesichter. Maati wünschte, er hätte einen
Stein, um das Spiegelbild zu zerstören.
»Schlechte Antwort« meinte der Andat. »Schließlich bin ich kein
Dummkopf. Ich weiß, wie hart es für dich ist, sie zu verlieren.«
»Ich habe nichts verloren. Die Lage hat sich nur etwas verändert.
Mir war ohnehin klar, dass es so kommen würde.«
»Na dann« sagte Samenlos sanft. »Das macht die Sache einfach,
nicht wahr? Er schläft noch, oder?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn heute noch nicht besucht.«
»Besucht? Er schläft auf deinem Sofa!«
»Trotzdem« sagte Maati achselzuckend. »Ich bin noch nicht so
weit, ihn wiederzusehen. Heute Abend vielleicht. Nur nicht jetzt.«
Sie schwiegen einen langen Moment. Krähen krächzten in den
Wipfeln und hüpften mit ausgestreckten Flügeln auf zweigdünnen
Beinen. Im Wasser war eine träge Bewegung zu erkennen: Ein
Zierkarpfen brachte die Wasseroberfläche zum Kräuseln.
»Würde es dir helfen, dir mein Beileid auszusprechen?«, fragte
Samenlos.
»Nicht besonders.«
»Trotzdem.«
»Ich kann mir kaum denken, dass dir das nahegeht. Ich vermute
eher, du amüsierst dich köstlich.«
»Eigentlich nicht. Einerseits empfinde ich - auch wenn du mir nicht
glauben solltest - bei deinem Leid kein wirkliches Vergnügen. Noch
nicht, jedenfalls. Wenn du eines Tages Heshais Aufgaben
übernimmst … nun, dann haben wir beide ohnehin keine Wahl
mehr. Andererseits lassen deine Erfahrungen dich ihm ähnlicher
werden, und das liegt sicher nicht in meinem Interesse. Eine Frau,
die man geliebt und verloren hat; der Schmerz, den man mit sich
herumträgt - dieser Schmerz treibt ihn an, und auch du lernst ihn
nun kennen.«
»Wenn du sagst, es tut dir leid, bedauerst du also, dass mein
Schmerz mir helfen wird, meine Aufgabe zu erfüllen?«
»Lässt der Schmerz dich etwa nicht daran zweifeln, dass die
Aufgabe es wert ist, angegangen zu werden?«, fragte Samenlos
belustigt, während seine Miene ernst blieb. »Der Dai dürfte diese
Zweifel freilich nicht teilen.«
»Nein«, seufzte Maati. »Wenigstens einer, der weiß, was richtig
ist.«
»Und doch sind wir schlau«, sagte Samenlos. »Na, du vielleicht
nicht. Du bist schwer mit Liebeskummer beschäftigt. Aber ich. Und
vielleicht fällt mir etwas ein.«
Maati wandte sich Samenlos zu, doch auf dem bleichen Gesicht des
Andaten lag nur eine distanzierte Heiterkeit.
»Denkst du an etwas Bestimmtes?«, fragte Maati, doch Samenlos
antwortete nicht.
»Es muss etwas geschehen« sagte Torish Weiss. »Gestern ist sie
auf die Straße gelaufen. Nicht auszudenken, wie sie reagiert hätte,
wäre sie für eine Hure gehalten worden. Unbeherrscht, wie sie ist,
hätte sie uns die Wache auf den Hals hetzen können. Das darf nicht
so weitergehen.«
Amats Zimmer war dunkel. Vor den Fenstern und der
Terrassentür hingen dicke Stoffbahnen, um die Wärme im Haus zu
halten und das Tageslicht auszusperren. Ein Stockwerk tiefer
schliefen die Angehörigen des Hauses und Maj. Nur Amat und
Torish waren noch wach.
»Mir ist klar, was sein darf und was nicht« sagte Amat müde. »Ich
werde mich darum kümmern.«
Torish schüttelte düster den Kopf. »Bei allem Respekt,
Großmutter«, sagte er, »diese Litanei kenne ich schon. Das Inselkind
macht dauernd Schwierigkeiten. Ein ernstes Wort wird genauso
wenig bewirken wie letztes und vorletztes Mal.«
Amat richtete sich im Stuhl auf. Sie war wütend - nicht zuletzt
deswegen, weil er Recht hatte -, machte eine fragende Gebärde und
sagte dann: »Ich wusste gar nicht, dass Ihr hier die Geschäfte führt.«
Torish schüttelte erneut seinen Bärenschädel und sah bedauernd
oder auch beschämt zu Boden.
»Es ist Euer Haus« erklärte er. »Aber es sind meine Männer. Wenn
Euer Verhalten dazu führt, dass sie mit der Wache Ärger
bekommen, wird kein Geld der Welt reichen, sie hier zu halten. Tut
mir leid.«
»Würdet Ihr den Vertrag brechen?«
»Nein, aber ich will ihn nicht erneuern. Nicht zu diesen
Bedingungen. Das ist einer der besten Verträge, die wir je hatten,
aber ich lasse mich auf keinen Kampf ein, den wir nicht gewinnen
können. Wenn Ihr das Mädchen nicht an die Leine nehmt, können
wir nicht weiter für Euch arbeiten. Und bei allem Respekt: Ihr seid
auf uns angewiesen.«
»Sie hat letzten Sommer ihr Kind verloren«, sagte Amat. »Mitunter
passieren eben schlimme Sachen« erwiderte Torish Weiss
überraschend sanft. »Aber das Leben geht weiter.«
Damit hatte er natürlich Recht, und das war besonders ärgerlich.
Amat, die an seiner Stelle genauso reagiert hätte, machte eine
zustimmende Gebärde.
»Ich verstehe Euren Standpunkt, Torish-cha, und werde dafür
sorgen, dass Maj Eure Männer und den Vertrag nicht gefährdet.
Lasst mir ein, zwei Tage Zeit - dann ist die Sache erledigt.«
Er nickte, drehte sich um und verließ das Zimmer. Gut, dass er
den Anstand besaß, nicht zu fragen, was sie vorhatte, denn sie hätte
es nicht zu sagen vermocht. Amat stand auf, nahm ihren Stock und
trat auf die Terrasse. Der Regen hatte aufgehört, und eine fahle
Wolkendecke hing über der Stadt. Kreischende Möwen kreisten
über den Dächern. Amat atmete tief ein, gebot ihren Tränen keinen
Einhalt mehr und weinte vor Erschöpfung, aber auch aus vielen
anderen Gründen. Doch das Weinen brachte ihr keine
Erleichterung.
Wegen der ausgiebigen Regenfälle, die am Vortag begonnen und
erst am Vormittag aufgehört hatten, waren die Straßen des
Vergnügungsviertels fast ausgestorben. Daher fielen die beiden
jungen Männer, die nun um die Ecke bogen, Amat sofort ins Auge.
Der Ältere hatte die breiten Schultern eines Matrosen oder
Lagerarbeiters und ein schmales Gesicht und trug ein sehr
förmliches Gewand. Der Jüngere war kleiner, wirkte schwächer und
trug die braune Dichterrobe. Kaum hatte sie die beiden gesehen,
wusste Amat, dass sie sich noch immer nicht würde ausruhen
können. Sie beobachtete die zwei, bis sie dem Bordell so nahe
gekommen waren, dass sie sich übers Geländer hätte beugen
müssen, um sie im Blick zu behalten. Dann ging sie ins Zimmer
zurück und sammelte sich. Es dauerte länger als erwartet, bis der
Wächter kam und die beiden meldete. Vielleicht hatte Torish ja
gemerkt, wie müde sie war.
Der Ältere erwies sich als Itani Noyga, Liats verschwundener
Liebhaber, und der Jüngere war natürlich der angehende Dichter
Maati. Amat saß am Schreibtisch, hieß die beiden willkommen und
bot ihnen Stühle an. Die zwei setzten sich. Sie bildeten einen
interessanten Gegensatz. Beide wirkten ernst, doch Itanis Blick
schien ihr wesensverwandt, wie er ständig hin und her glitt, mal
ihr, mal einem Gegenstand im Zimmer galt und dabei die ganze Zeit
nach etwas zu suchen schien. Der Dichterlehrling hingegen war wie
sein Meister: grüblerisch und in sich gekehrt. Oder wie Marchat
Wilsin. Amat schlang die Hände ums Knie und beugte sich ein
wenig vor.
»Was führt Euch zu mir, junge Herren?« fragte sie. Das klang so
freundlich wie abwartend, war aber eine überflüssige
Vorsichtsmaßnahme, denn Itani war offensichtlich nicht auf seinen
persönlichen Vorteil aus.
»Amat-cha« begann er. »Ich habe gehört, Ihr versucht zu
beweisen, dass der Galtische Rat sich mit dem Andaten Samenlos
verschworen hat.«
»Ja, ich ermittle in diese Richtung und habe mich mit dem Haus
Wilsin überworfen« erklärte Amat, »aber ich weiß nicht, ob man
wirklich sagen kann, der Galtische Rat habe -«
»Amat-cha«, unterbrach Maati, der junge Dichter. »Jemand hat
versucht, Liat Chokavi zu töten. Und Itani meint, das habe etwas
mit Euch und Marchat Wilsin zu tun.«
Amat merkte, dass ihr der Atem stockte. Der alte Dummkopf
Marchat verlor offenbar die Nerven. Liat Chokavi war seine beste
Entlastungszeugin - vorausgesetzt, er konnte darauf vertrauen, dass
sie vor dem Khai das Richtige aussagte. Und genau das konnte er
nicht. Sie war zu jung und zu unerfahren in diesen Dingen. Deshalb
hatte er sie damals ja damit betraut, sich um Maj zu kümmern. Ihr
wurde flau im Magen.
»Möglich«, sagte sie. »Wie geht es Liat?«
»Sie erholt sich im Palast des Khai« sagte Itani. »Zum Glück hat
sich ihr Zustand sehr gebessert. Morgen kann sie wieder nach
Hause. Darauf wartet Wilsin-cha freilich nur.«
»Sie darf nicht wieder nach Hause« sagte Amat.
»Dann stimmt es also« erwiderte Itani finster. Amat machte eine
bestätigende Gebärde. »Ich konnte nicht verhindern, was Maj
widerfahren ist, aber Marchat Wilsin wusste, dass das Mädchen
getäuscht wurde. Ich glaube, auch der Galtische Rat war eingeweiht,
doch das kann ich noch nicht beweisen.
»Beschützt Liat«, bat Maati, »und wir werden für Euch alles
Erdenkliche tun.«
»Und du, Itani? Siehst du das genauso?«
»Ja« sagte der junge Mann »Das könnte bedeuten, dass auch du
vor dem Khai aussagen und ihm erzählen musst, wohin du in der
Nacht gegangen bist, als du Wilsins Leibwächter warst.«
Itani zögerte, machte dann aber eine zustimmende Gebärde.
Amat lehnte sich zurück und hob die Hand, um den beiden zu
bedeuten, dass sie einen Moment ungestört überlegen wollte. Diese
Entwicklung hatte sie nicht erwartet, doch vielleicht war sie genau
das, was sie brauchte. Falls der junge Dichter seinen Meister
beeinflussen oder eine Notiz finden konnte, die Heshais
Verhandlungen mit Marchat festhielt und aus der hervorging, dass
Wilsin wusste, dass alles ganz anders war, als es schien … Doch an
dieser Sache war mehr dran - das war ihr klar. Etwas stimmte noch
nicht.
»Ich verstehe ja, warum Itani gekommen ist« sagte Amat. »Aber
welches Interesse hat der Dichter an Liat Chokavi? »Wir sind
befreundet« sagte Maati und reckte leicht das Kinn. Seine Augen
schienen sie herausfordernd anzusehen.
Ah, dachte Amat, so ist das also. Sie fragte sich, wie weit diese
Freundschaft gediehen sein mochte und ob Itani davon wusste,
obwohl es für sie und für das, was vor ihr lag, nicht von Bedeutung
war.
Liat mochte zwar eine wichtige Zeugin sein und einige
bezeichnende Einzelheiten beitragen, die beweisen konnten, dass
Marchat vom doppelten Spiel des Übersetzers Oshai gewusst hatte,
doch Amat tat ihr sicher keinen Gefallen damit, sie in diese Sache
hineinzuziehen. Amat hatte darüber nachgedacht, seit sie das
Bordell übernommen hatte, war aber zu keinem Schluss gekommen.
Nun war sie zu einer Entscheidung gezwungen.
Liat könnte sich ein Zimmer mit Maj teilen, überlegte sie, doch
diese Idee riecht förmlich nach Katastrophe. Bei den Huren aber
kann ich sie unmöglich unterbringen. Vielleicht kann sie ein Notbett
in meinem Zimmer beziehen? Oder eine Wohnung in der Vorstadt?
Mit einem Wächter natürlich …
Um all das kann ich mich später kümmern, dachte sie dann und
stand auf. Die jungen Männer taten es ihr gleich.
»Bringt sie her« sagte sie. »Heute Abend. Und achtet darauf, dass
Marchat Wilsin nichts davon mitbekommt. Erzählt Liat so spät wie
möglich davon. Ich sorge von heute an für ihre Sicherheit - ihr könnt
mir vertrauen.«
»Danke, Amat-cha« sagte Itani. »Aber seid Ihr wirklich bereit,
dauerhaft Verantwortung für Liat zu übernehmen? Eure
Nachforschungen und deren gerichtliche Überprüfung können sich
schließlich jahrelang hinziehen.«
»Hoffentlich nicht« seufzte Amat. »Aber ich sage euch: Ich werde
diese Sache zu Ende bringen und die Verschwörung aufdecken -
koste es, was es wolle.«
»Ich glaube Euch« sagte Itani.
Sie hielt inne. Seine Stimme hatte geklungen, als habe er mit
diesem Bekenntnis gerechnet. Sie hatte ihm offenbar etwas
bestätigt, was er vermutet hatte, fragte sich aber vergebens, was
genau es gewesen sein mochte.
Sie rief Torish herein, machte ihn mit den Besuchern bekannt und
ließ sie miteinander einen Plan ausarbeiten. Das Mädchen würde am
Abend zur Hintertür des Bordells kommen, und zwar gleich nach
Sonnenuntergang. Zwei von Torishs Männern würden sie am
Palastbezirk abholen, um sicherzustellen, dass ihr auf dem Weg
nichts zustieß. Auch Itani würde mitkommen und Liat die Situation
erklären.
Amat schickte die drei kurz vor Mittag weg, legte sich ins Bett
und schloss die Augen. Alle Befürchtungen, die Aufregungen des
Vormittags könnten ihr den Mittagsschlaf rauben, erwiesen sich als
unbegründet, und sie schlummerte sofort ein. Stunden später
erwachte sie, als die Abendsonne ihr durch einen Spalt zwischen
Mauer und Stoff ins Gesicht schien.
Sie rief Mitat zur üblichen Besprechung. Die Rothaarige kam mit
einer Schale geschmortem Rindfleisch auf Reis und einer Flasche
gutem Rotwein ins Zimmer. Amat setzte sich an den Schreibtisch
und aß, während Mitat kurz das Wichtigste für sie zusammenfasste:
Einer der Männer glaubte herausgefunden zu haben, wie am
Spieltisch betrogen wurde, und wollte es im Lauf der Nacht
endgültig in Erfahrung bringen; der kleine Namya hatte einen
Ausschlag auf dem Rücken und musste zum Arzt, während Chiyan
sich von ihrem Besuch in der Perlenstraße gut erholte und in einigen
Tagen wieder würde arbeiten können; zwei Mädchen waren
offenbar weggelaufen, und Mitat war dabei, sich um Ersatz zu
kümmern. Amat nahm das alles aufmerksam zur Kenntnis und
passte die Einzelheiten in das vielschichtige Gebilde ein, zu dem ihr
Leben geworden war.
»Torish hat seine Männer losgeschickt, um das Mädchen zu holen,
über das Ihr am Vormittag mit Eurem Besuch gesprochen habt« fuhr
Mitat fort. »Sie dürften bald zurück »Ich brauche eine Liege für die
junge Frau«, sagte Amat. »Stell sie da drüben an der Wand auf.«
Mitat nickte gehorsam, lächelte dabei aber ein wenig. Als sie
merkte, dass ihrer Herrin dies nicht entging, grinste sie breit.
»Was gibt es?« fragte Amat.
»Die andere Sache«, sagte Mitat. »Eure Nachforschung zu Maj und
den Galten. Vorhin ist ein Mann aus einem Arbeiterwohnhaus
aufgetaucht und hat gefragt, ob Ihr nur für Informationen über das
Inselmädchen zahlen würdet oder ob Ihr auch etwas über das
andere Mädchen wissen wollt.«
Amat hörte auf zu kauen. »Welches andere Mädchen?« fragte sie.
»Oshai hat es wohl im Vorjahr hergebracht.«
Amat lehnte sich zurück und brauchte einige Sekunden, um zu
begreifen. So bleischwer ihre Erschöpfung war, nun keimte
Hoffnung in ihr auf. Hoffnung und Erleichterung.
»Es hat also noch ein Mädchen gegeben?«
»Ich habe mir doch gedacht, dass Euch das interessieren würde«,
sagte Mitat.
Maati saß auf den Holzstufen, die zur Tür des Dichterhauses
hinaufführten, und starrte ins schwarze Astwerk der kahlen Bäume,
auf die dunkle Oberfläche des Teichs und auf die Paläste des Khai,
deren Lampen wie Glühwürmchen funkelten. Es war Nacht
geworden, doch im Westen stand noch das letzte Abendrot am
Himmel. Ihn fror an Gesicht und Händen, und er saß vorgebeugt
und zusammengekauert da. Doch er ging nicht ins Warme, denn
ihm war nicht nach Trost zumute.
Otah und Liat waren kurz vor Sonnenuntergang aufgebrochen und
inzwischen wahrscheinlich schon im Vergnügungsviertel. Maati
stellte sich vor, wie sie raschen Schrittes durch die engen Straßen
gingen, wobei Otah ihr den Arm schützend um die Schulter gelegt
hatte. Er würde dafür sorgen, dass sie nicht in Gefahr geriet. Maatis
Anwesenheit war da vollkommen überflüssig.
Die Tür hinter ihm ging kratzend auf. Maati wandte sich nicht um.
An den langsamen, schwerfälligen Schritten erkannte er sofort, dass
sein Lehrer und nicht Samenlos aus dem Haus kam.
»Es ist noch Huhn da« sagte Heshai. »Und das Brot ist sehr gut.«
»Danke. Vielleicht später.«
Der Dichter ließ sich neben seinem Schüler nieder und beobachtete
mit ihm, wie die letzten Spuren der Dämmerung schwanden und es
Nacht wurde. Maati hörte den pfeifenden Atem des alten Mannes
trotz der krächzenden Krähen.
»Geht es ihr gut?« fragte Heshai.
»Das nehme ich an.«
»Sie wird bald wieder bei Wilsin-cha einziehen. Er -«
»Das wird sie nicht« unterbrach ihn Maati. »Amat Kyaan, seine
frühere Verwalterin, nimmt sie bei sich auf.«
»Damit verliert das Haus Wilsin schon wieder eine gute
Mitarbeiterin. Das wird Marchat nicht gefallen« sagte Heshai und
zuckte dann die Achseln. »Aber das hat der Kerl davon, seine Leute
so schlecht zu behandeln, schätze ich.«
»Wahrscheinlich.«
»Dein Freund ist zurück, der Lagerarbeiter, hm?«
Maati schwieg. Ihm war einfach nur kalt, äußerlich wie innerlich.
Heshai warf ihm einen Seitenblick zu, seufzte und tätschelte ihm
dann das Knie, wie sein Vater es womöglich getan hätte, wenn die
Welt eine andere gewesen wäre. Maati spürte, dass ihm Tränen in
die Augen traten.
»Komm rein« sagte der Dichter. »Ich mache uns warmen Wein mit
Gewürzen.«
Maati ließ sich überreden, zurück ins Haus zu gehen. Nun, da
Heshai genesen war, versank es allmählich wieder in dem Chaos,
das er bei seiner Ankunft vorgefunden hatte. Bücher und
Schriftrollen lagen offen auf allen Tischen und rings um die Sofas
herum. Ein Tintenfass stand ohne Unterlage auf dem Schreibtisch,
und Tintenflecken waren ringsum ins Holz gezogen. Maati hockte
sich ans Feuer und sah so nachdenklich in die Flammen wie zuvor in
die Dämmerung - und natürlich war das eine so fruchtlos wie das
andere.
Hinter ihm werkelte Heshai, und bald zog schwerer Weingeruch
durch die Wohnung. Maati knurrte der Magen. Also rappelte er sich
auf und ging zum Tisch, wo die Reste des Abendessens auf ihn
warteten. Er griff nach einer fettigen Hähnchenkeule und musterte
sie. Heshai ließ sich ihm gegenüber nieder und reichte ihm eine
dicke Scheibe Schwarzbrot. Maati nahm sie mit einer flüchtigen
Dankesgebärde. Dann füllte Heshai Wein in eine dicke Keramiktasse
und schob sie ihm hin. Der Wein war schwer und aromatisch, und
er wärmte ihn.
»Wir haben eine harte Woche vor uns« sagte Heshai. »Morgen gibt
es ein Essen für die Gesandten aus Cetani und Udun, an dem wir
teilnehmen sollten. Und übermorgen wird im Tempel ein Gelehrter
sprechen. Wenn du magst …«
»Ganz wie Ihr wollt, Heshai-kvo«, sagte Maati.
»Ich muss da nicht hin« erklärte der Dichter. »Ich habe diese
religiösen Gelehrten schon immer für Idioten gehalten.«
Er lächelte verschmitzt und schien über seine Respektlosigkeit
nicht wenig amüsiert. Maati glaubte kurz zu erkennen, wie Heshai
als junger Mann ausgesehen hatte, und lächelte unwillkürlich
zurück. Heshai schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Na bitte! rief er. »Ich wusste doch, dass du nicht ganz und gar in
Trübsal versunken bist.«
Maati schüttelte den Kopf und brachte seine Dankbarkeit dann
herzlicher und ernsthafter zum Ausdruck als eben noch. Heshai
reagierte mit einem onkelhaften Nicken. Maati seufzte. Er konnte es
genauso gut jetzt hinter sich bringen. Womöglich war dieser
Moment sogar geeigneter als viele andere.
»Ist Samenlos da?«, fragte er.
»Was? Nein. Ich schätze, der treibt sich irgendwo herum und zeigt
allen Leuten, wie schlau er ist«, sagte Heshai bitter. »Ich sollte ihn
zwar gefangen halten, aber diese Folterkiste …«
»Nein, das ist gut so. Ich muss etwas mit Euch besprechen und
möchte nicht, dass er in der Nähe ist.«
Der Dichter runzelte die Stirn, forderte Maati aber mit einem
Nicken auf, fortzufahren.
»Es geht um das Inselmädchen und darum, was sie erlitten hat. Ich
glaube, dahinter steckte mehr, als es den Anschein hatte. Und
Marchat Wilsin wusste das. Er hat alles in die Wege geleitet, weil
der Galtische Rat es ihm befohlen hat. Und Amat Kyaan, bei der
Liat nun wohnt, sammelt die entsprechenden Beweise, um sie dem
Khai vorzulegen.«
Das Gesicht des Dichters wurde erst kalkweiß, dann rot. Sein
breites Froschmaul verzog sich, und er schüttelte sein großes Haupt.
Dabei schien er so wütend wie resigniert.
»Sagt sie das, diese Verwalterin? fragte er schließlich. »Nicht nur
sie« entgegnete Maati.
»Tja, da täuscht sie sich. So war es nicht.«
»Ich fürchte doch, Heshai-kvo.«
»Unsinn« sagte der Dichter und stand auf. Seine Miene war
abweisend. Er setzte sich ans Feuer, wärmte sich die Hände und
wandte Maati dabei den Rücken zu. Das Holz knisterte, und Funken
stoben den Kamin hinauf. Maati legte das Brot, von dem er nichts
gegessen hatte, auf den Tisch und wandte sich zu Heshai um.
»Amat Kyaan ist nicht die Einzige, die -«
»Dann täuschen sie sich alle. Denk doch mal nach, Maati. Denk
einfach nach. Würde der Galtische Rat hinter dieser verdammten
Sache stecken, was würde geschehen, wenn der Khai den Beweis
dafür erhielte? Er würde die Galten bestrafen! Und was meinst du,
wie er das tun würde? »Er würde Euch und Samenlos gegen sie
einsetzen.«
»Ja, und du weißt doch wohl, welche furchtbaren Folgen das
hätte?«
Maati machte eine fragende Gebärde, doch Heshai wandte ihm
noch immer den Rücken zu. Nach ein paar Sekunden ließ er die
Hände wieder fallen. Das Feuer tanzte und flackerte, und es schien
fast, als gehöre auch der Dichter der Flammenwelt an. Maati ging zu
ihm.
»Es ist die Wahrheit« sagte er.
»Und wenn schon« erwiderte Heshai. »Manche Strafen sind
schlimmer als die Verbrechen, aufgrund deren sie verhängt werden.
Was geschehen ist, ist geschehen. Es bringt nichts, sich daran
festzubeißen.«
»Das glaubt Ihr doch selber nicht« sagte Maati und war
überrascht, wie hart seine Stimme klang. Heshai wandte sich zu ihm
um. Seine Augen waren trocken, sein Blick ruhig.
»Das Kind lässt sich nicht mehr zum Leben erwecken« sagte er.
»Was soll es bringen, in dieser Sache weiterzuforschen?«
»Gerechtigkeit« antwortete Maati, und der Dichter lachte, doch es
klang seltsam freudlos, beinahe wütend. Dann stand er auf und kam
auf seinen Schüler zu. Unwillkürlich trat Maati einen Schritt zurück.
»Gerechtigkeit? Ihr Götter, du willst Gerechtigkeit, Junge? Wir
zwei haben viel größere Sorgen. Wir müssen ein weiteres Jahr
überstehen, ohne dass einer dieser kleinen Götter eine Stadt unter
Wasser setzt oder die Welt in Brand steckt. Darauf kommt es an.
Wir müssen für die Sicherheit unserer Stadt sorgen und auf die
höfische Politik einwirken, damit die Khais nicht auf die Idee
kommen, einander ihr Spielzeug und ihre Frauen zu rauben. Und du
willst, dass wir uns obendrein um Gerechtigkeit kümmern? Ich habe
mein ganzes Dasein einer Welt geopfert, die sich aus mir nicht das
Geringste macht. Wir zwei wurden gewaltsam von unseren
Geschwistern getrennt. Der Junge aus Udun, den wir bei Hofe
gesehen haben, hat seinen Bruder niedergemetzelt, und wir haben
dabei noch Beifall geklatscht. Soll ich den etwa auch bestrafen?«
»Ihr sollt tun, was richtig ist« sagte Maati.
Heshai machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was wir tun,
ist zu wichtig, als dass es sich mit den Begriffen Richtig und Falsch
erfassen ließe« sagte er. »Sollte der Dai dir das nicht klargemacht
haben, dann begreife diese Erkenntnis als das Wichtigste, was ich
dir beizubringen vermag.«
»Ich kann mich Eurer Meinung nicht anschließen« beharrte Maati.
»Wenn wir nicht auf Gerechtigkeit drängen …«
Heshais Miene verdüsterte sich. Er tat, als wollte er vom Himmel
Rat erflehen, verhöhnte damit aber natürlich nur seinen
Gesprächspartner. Maati schluckte, gab aber nicht klein bei.
»Du liebst die Gerechtigkeit, was?« fragte Heshai. »Dabei ist sie
härter als Stein, Junge. Lieb sie ruhig - sie wird dich nicht lieben!«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass »Willst du mir etwa
weismachen, dass du nie gesündigt hast?« unterbrach Heshai ihn
schroff. »Dass du nie Essen aus der Küche gestohlen, nie einen
Lehrer angelogen hast? Willst du behaupten, du wärst nie mit der
Frau eines anderen ins Bett gestiegen?«
Maati spürte eine innere Erschütterung, die ihn durchfuhr wie ein
Knochenbruch und die doch ganz schmerzlos war. In seinen Ohren
summte es. Er hob den Tisch an einer Ecke an, und Essen, Wein,
Schriftrollen und Bücher segelten zu Boden. Er nahm einen Stuhl
und schleuderte ihn in die Ecke. Dann schnappte er sich den irdenen
Weintopf, in dem noch ein Rest roter Flüssigkeit schwappte, und
knallte ihn an die Wand. Die Keramik zersprang mit einem lauten,
herrlich befreienden Geräusch. Der Dichter sah Maati mit offenem
Mund an, als seien seinem Schüler Flügel gewachsen.
So schnell er gekommen war, war der Zorn verraucht, und Maati
sank in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden
durchgeschnitten hatte. Schluchzer erschütterten ihn so heftig, als
müsse er sich übergeben. Er merkte kaum, dass der Dichter
herantrat, sich zu ihm beugte und ihn mit feisten Armen an sich zog.
Er umklammerte Heshais dicken Leib und weinte in die braunen
Falten seines Gewands, während der Dichter ihn leise wiegte und
flüsterte: »Es tut mir so leid, so leid, so leid.«
Es schien, als würde es ewig so weitergehen. Als könnte der
Schmerz nie enden. Aber so war es natürlich nicht, denn mit der
Zeit ließen ihn die Erschöpfung und alles andere zur Ruhe kommen.
Maati saß neben seinem Meister, und hinter beiden lag der
umgeworfene Tisch. Das Feuer war heruntergebrannt. Die Glut
glomm rot und golden zwischen verkohlten Holzresten, die noch
immer die Äste erahnen ließen, die sie einmal gewesen waren.
»Nun« sagte Maati schließlich mit belegter Stimme, »ich hab mich
gerade ganz schön lächerlich gemacht, was?«
Heshai lachte, denn diese Worte waren ihm nur zu geläufig. Auch
Maati konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Für den ersten Versuch war es schon ganz gut« erklärte der
Dichter. »Mit der Zeit wirst du das sicher noch besser
hinbekommen. Ich habe dir das nicht antun wollen, weißt du. Es
war gemein von mir, Liat in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Es ist nur so, dass … das Inselmädchen … Wenn ich damals, als ich
Samenlos erschuf, bessere Arbeit geleistet hätte, wäre das nicht
passiert. Ich will nur, dass es nicht noch schlimmer kommt. Ich will,
dass diese Sache erledigt ist.«
»Ich weiß« sagte Maati.
Sie schwiegen eine Zeitlang. Die Glut ließ weiter nach, und die
verkohlten Scheite sanken in sich zusammen.
»Es heißt, über zwei Frauen komme man nie hinweg« sagte
Heshai. »Über die erste Liebe und über das Mädchen, mit dem man
das erste Mal geschlafen hat. Wenn es sich dann noch um ein und
dasselbe Mädchen handelt …«
»So ist es« stellte Maati fest.
»Ja« sagte Heshai, »so war es bei mir auch. Sie hieß Ariat Miu und
hatte die schönste Stimme, die ich je gehört habe. Ich weiß nicht, wo
sie jetzt lebt.«
Maati beugte sich vor und legte den Arm um Heshai. Der Dichter
nickte, als hätte sein Schüler etwas gesagt. Dann atmete er tief ein
und langsam aus.
»Nun, wir machen das hier besser sauber, ehe die Diener es zu
sehen kriegen. Schür bitte das Feuer. Ich zünde ein paar Kerzen an.
Es wird inzwischen einfach zu früh dunkel.«
»Ja, Heshai-kvo.«
»Und Maati - dir ist doch wohl klar, dass ich niemandem etwas
davon erzählen werde, oder?«
Maati machte eine anerkennende Gebärde. Da er nicht wusste, ob
der Dichter sie im schwachen Licht gesehen hatte, räusperte er sich
und sagte ins Halbdunkel hinein: »Danke.«
Einen von Torishs Männern als Vorhut, den anderen als Nachhut,
gingen Otah und Liat hinunter in die Stadt. Wegen der
Verletzungen des Mädchens kamen sie nur langsam voran. Anfangs,
in der Nähe des Palastbezirks, legte Otah ihr den Arm um die
Taille, weil er dachte, das wäre tröstlich und beruhigend für sie,
spürte aber rasch, dass ihre Schulter, ihr Arm und ihre Rippen dafür
noch zu empfindlich waren, und er war seltsam erleichtert darüber,
einfach nur neben ihr zu gehen. So nämlich konnte er die Türen und
Gassen, die Dächer und Essensstände sowie die Öfen der
Feuerhüter aufmerksamer beobachten.
Aus vielen Kaminen roch es nach verfeuertem Holz. Ein kühler
Wasserschleier - zu dicht, um Nebel, zu ungreifbar, um Regen zu
sein - benetzte Kopfsteinpflaster und Häusermauern. In ihrem
übergroßen Wollumhang war Liat nicht zu erkennen. Otah stellte
fest, dass er unwillkürlich die Hände dehnte und streckte, als
bereite er sich auf einen Angriff vor, der freilich ausblieb.
Als sie das Vergnügungsviertel erreichten und an der Tür von
Amat Kyaans alter Bleibe vorbeikamen, die inzwischen leer stand,
machte Liat mit einer Handbewegung deutlich, dass sie anhalten
wollte. Torishs Männer sahen erst Otah, dann einander ungeduldig
an, blieben aber stehen.
Otah beugte sich weit zu der vorspringenden Kapuze von Liats
Umhang und fragte: »Geht es dir nicht gut? Soll ich dir Wasser
besorgen?«
»Nein« sagte sie. Einen Moment später fügte sie hinzu: »Tani, ich
möchte da nicht hin.«
»Wohin?« fragte er und berührte ihren verbundenen Arm mit den
Fingerspitzen.
»Zu Amat Kyaan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich gern
aufnimmt. Außerdem …«
»Liebling«, sagte Otah, »bei ihr bist du sicher. Bis wir wissen, was
hinter der …«
Liat sah ihm in die Augen. In ihrem verschatteten Gesicht lagen
Ungeduld und Angst.
»Ich habe ja nicht gesagt, dass ich nicht dorthin gehe», erklärte sie.
»Ich gehe nur nicht gerne hin.«
Otah beugte sich vor und küsste sie behutsam. Mit ihrer gesunden
Hand zog sie ihn an sich.
»Verlass mich nicht« flüsterte sie.
»Wohin sollte ich denn gehen?«, sagte er sanft, um zu verbergen,
dass diese Antwort auch eine Frage war. Sie lächelte schwach, aber
tapfer. Dann nickte sie und ließ seine Hand für den Rest des Weges
nicht mehr los.
Im Vergnügungsviertel war es abends nie richtig ruhig. Flackernde
Laternen erhellten die Straßen, und aus den Türen der Teehäuser
und Bordelle drangen Stimmen sowie Trommel-, Flöten- und
Hörnerklang. Zweimal kamen sie an Häusern vorbei, auf deren zur
Straße hinausgehenden Balkonen spärlich bekleidete, fröstelnde
Huren standen und sich weit übers Geländer beugten. Der Reichtum
von Saraykeht, der wohlhabendsten und mächtigsten Sommerstadt,
stürmte von allen Seiten auf sie ein. Otah stellte fest, dass er weder
erregt noch verunsichert war, obwohl er es womöglich hätte sein
sollen.
Sie erreichten das Bordell und traten durch eine Eisentür in einen
traurigen kleinen Garten, der hinter einer hohen Mauer lag und die
Küche vom Hauptgebäude trennte. Dann gingen sie ins Haus und
kamen in den Aufenthaltsraum. Dort herrschte reger Betrieb. Die
rothaarige Mitat und Amat hatten jede Menge Papiere und
Schriftrollen auf die langen Esstische gelegt. Das Inselmädchen Maj
ging hinter ihnen auf und ab und nagte ungeduldig am
Daumennagel. Während die beiden Männer, die sie begleitet hatten,
im Flur verschwanden und dabei andere Männer grüßten, die
ähnlich bewaffnet und gerüstet waren, fielen Otah zwei Jungen auf,
von denen einer die Farben des Hauses Yanaani trug, der andere
das Abzeichen des Hafenzolls. Beide Boten warteten ungeduldig. Es
musste etwas passiert sein.
Amat ist ihrem Ziel näher, als sie ahnt. Es bleibt nicht mehr viel
Zeit.
»Liat«, sagte Amat und hob den Arm zu einem ungezwungenen
Gruß. »Komm. Ich möchte dich etwas fragen.«
Liat trat vor, und Otah folgte ihr. In Amats Augen lag ein
triumphierendes Leuchten. Sie umarmte Liat behutsam, und Otah
sah Tränen in den Augen seiner Liebsten, als sie den unverletzten
Arm um ihre alte Lehrerin legte.
»Es tut mir leid«, sagte Amat. »Ich glaubte dich in Sicherheit. Und
es gab so viel zu erledigen, dass … Ich hab die Situation einfach
nicht richtig eingeschätzt. Ich hätte dich warnen müssen.«
»Geehrte Lehrerin« begann Liat und wusste dann nichts mehr zu
sagen. Amats Lächeln wärmte wie die Sommersonne.
»Maj kennst du ja schon. Das ist Mitat, und der Mann an der Wand
ist Torish Weiss, der Anführer meiner Wache.«
Das Inselmädchen meldete sich auf Khaiate zu Wort. Trotz ihres
starken Akzents konnte Otah sie verstehen.
»Ich habe nicht gedacht, ich müsste dich noch mal sehen.«
Liats Lächeln wurde schwächer. »Du hast richtig gut Khaiate
gelernt, Maj.«
»Ich warte hier ja auch schon seit Wochen«, entgegnete sie kühl.
»Womit sollte ich mich sonst beschäftigen?«
Otah bemerkte, dass Mitat erst Amat, dann das Inselmädchen
ansah und dann wegschaute.
Die Spannung im Raum ließ alle Gespräche ersterben. Selbst die
beiden Boten hörten mit ihrem Gezappel auf und warteten
neugierig auf das, was geschehen würde.
»Sie ist gekommen, um uns zu helfen« sagte Amat.
»Sie ist gekommen, weil du sie gerufen hast«, widersprach Maj.
»Und weil sie dich braucht.«
»Wir sind aufeinander angewiesen«, erklärte Amat bestimmt. Sie
stand auf und stützte sich auf ihren Stock. »Wir haben fast alles
Nötige beisammen, sind ohne sie aber nicht bereit.«
Maj musterte Amat, wandte sich dann langsam Liat zu und grüßte
sie mit kindlich unbeholfener Gebärde. Otah sah das Rot auf ihren
bleichen Wangen und ihre glänzenden Augen und begriff, dass sie
betrunken war. Amat zog Liat zu sich an den Tisch und stellte ihr
viele Fragen, die sich um Oshai und Marchat Wilsin drehten. Otah
saß nah genug, um alles hören und beobachten zu können, wurde
seinerseits aber nicht befragt.
Kurze Zeit fühlte er sich unsichtbar. Die Aufregung und die
unterschwellige Gewalt ringsum schienen ihn zum Zuschauer eines
Theaterstücks zu machen. Er nahm alles wie von außen wahr. Als er
dem Inselmädchen unbeabsichtigt in die Augen sah, lächelte sie und
nickte. Eine wortlose, ungezwungene und unmissverständliche
Geste war das, ein Sicherkennen zweier Fremder. Mit ihrer sehr
lückenhaften Kenntnis von Sprache und Gebräuchen der
Sommerstädte konnte Maj nicht wirklich Teil der Verschwörung
sein, die sich nun vor ihnen entfaltete. Otah hingegen konnte es
nicht, weil ihm noch immer in den Ohren klang, welche
Konsequenzen Samenlos für den Fall angekündigt hatte, dass Amat
mit ihren Bemühungen Erfolg haben würde: den möglichen Tod
Liats, das Leiden unschuldiger Galten, Maatis lebenslanges Elend
und Otahs Verrat an die Familie. Dieses Wissen war wie eine
Krankheit. Jeder Schritt, den Amat unternahm, brachte sie alle
dieser Katastrophe näher.
Und zu seinem Unbehagen stellte Otah fest, dass seine
Verweigerung dem Andaten gegenüber nicht so gewiss war, wie er
gedacht hatte.
Gut zwei Stunden lang sprachen Amat, Mitat, Liat und Torish
Weiss miteinander und gingen alles gründlich durch. Die Boten
wurden befragt, und ihre Schreiben ließen die Stapel noch etwas
anwachsen. Dann wurden sie mit Amats Antwortbriefen
weggeschickt. Otah hörte zu und musterte die Szene, während die
Beweise, die Khai Saraykeht vorgelegt werden sollten, immer
klarere Konturen annahmen. Amat hatte längst schriftliche
Aussagen, zahlreiche Unstimmigkeiten und Briefe aus Galtland
zusammengetragen. Und sie hatte Maj, die als Hauptzeugin das
Herzstück ihrer Anklage war. Außerdem hatte sich herausgestellt,
dass es im Vorjahr mit einem anderen Mädchen, dem angeblich
allerdings die Flucht gelungen war, einen ganz ähnlichen Fall
gegeben hatte, was freilich nicht durch schlüssige Beweise bestätigt
war.
Aber was den zweiten Fall betraf, hatte Amat Beweise genug. Und
sollte der Hof sich von diesen Beweisen in Bann schlagen lassen,
würde das eine Lawine lostreten. Und wenn der Khai erst mit der
Sache befasst war, würden auch Heshai und Samenlos aussagen
müssen. Und unter Zwang blieb dem Andaten nichts anderes übrig,
als die Wahrheit zu sagen. Vielleicht würde ihm das sogar Spaß
machen, denn so könnte er zumindest eine weitere Unglückswelle
auslösen, wenn er schon nicht freikäme.
Im Laufe des Abends verließen Liat allmählich die Kräfte. Amat
merkte das und tauschte einen Blick mit Otah.
»Liat, ich bin wirklich furchtbar« sagte Amat mit entschuldigender
Gebärde. »Du bist verletzt und müde, und ich habe dich die ganze
Zeit wachgehalten.«
Liats schwacher Protest bewies nur, wie recht Amat hatte. Otah
half seiner Liebsten auf die Beine, und sie stützte sich seufzend auf
ihn.
»Oben ist eine Liege für dich hergerichtet« sagte Mitat. »In Amat-
chas Zimmer.«
»Und wo schläft Tani?«
»Keine Sorge« sagte Otah, ehe Amat, die von dieser Frage deutlich
überrascht war, auch nur erwägen konnte, ihm ihre
Gastfreundschaft anzubieten. »Ich werde bei Freunden schlafen, mit
denen ich früher zusammengearbeitet habe. Wenn ich nicht
auftauche, machen sie sich nur Sorgen.«
Das war gelogen, aber darauf kam es kaum an. Die Aussicht, im
Bordell zu bleiben, während Amats Pläne endgültig reiften, hatte
für Otah keinen Reiz. Nur der Kummer, der Liat trotz aller
Schläfrigkeit so deutlich in den Augen stand, ließ ihn wünschen, er
könnte um ihretwillen bleiben.
»Ich warte, bis du eingeschlafen bist«, sagte er, was sie zu trösten
schien. Die beiden wünschten den anderen gute Nacht und stiegen
vorsichtig die breite Holztreppe hinauf. Otah hörte die
Unterhaltung aufs Neue beginnen.
Er schloss die Tür von Amats Zimmer hinter sich. Die
Fensterläden waren verriegelt, aber das schwache Orange von als
Straßenlaternen dienenden Fackeln drang durch die Ritzen der
Lamellen. Die Nachtkerze auf Amats Schreibtisch war schon mehr
als zur Hälfte heruntergebrannt und flackerte beim Vorbeigehen.
Liats Lager war eine drei Finger dicke, mit einem Leintuch
bespannte Matratze, die auf einem hölzernen Bettgestell lag. Auch
ein Mückennetz war vorhanden, obwohl im Winter kaum Getier
unterwegs war.
»Sie hasst mich« sagte Liat leise und gefasst.
»Wie kommst du denn darauf? Amat war doch sehr -«
»Nicht Amat. Maj.«
Otah verstummte. Er hätte auch das abstreiten und Liat sagen
können, niemand denke schlecht über sie und alles komme wieder
in Ordnung, wenn sie den Dingen nur etwas Zeit gäbe. Doch er
wusste nicht, ob das stimmte. Sie hatten Wilsin nicht für einen bösen
Mann gehalten, und diese Arglosigkeit hatte Liat fast das Leben
gekostet. Er spürte, dass sein Schweigen sich wie Kälte ausbreitete.
Liat schüttelte ihn ab und zog an den Bändern ihres Umhangs.
»Lass mich das machen« sagte Otah. Liat hielt still, während er ihr
den Umhang öffnete und ihn unters Bett schob.
»Mein Gewand auch?« fragte sie. Im Halbdunkel spürte er ihren
Blick mehr, als dass er ihn sah. Otah zögerte - und das aus mehr als
einem Grund.
»Bitte« sagte Liat.
»Du bist verletzt, Liebes. Es war schon anstrengend genug für
dich, nur die Treppe hochzusteigen …«
»Itani.«
»Wir sind in Amats Zimmer. Sie könnte reinkommen.«
»Das dauert noch Stunden da unten. Hilf mir, mein Gewand
auszuziehen. Bitte.» Trotz starker Vorbehalte gab Otah ihrem und
seinem Begehren nach. Vorsichtig schnürte er ihr Gewand auf und
entkleidete sie, bis sie - vom Verband abgesehen - nackt vor ihm
stand. Selbst im Halbdunkel konnte er ihre Blutergüsse erkennen.
Sie nahm seine Hand, küsste sie und fingerte dann nach den
Bändern seines Gewands. Er hielt sie nicht zurück, denn das wäre
grausam gewesen. Außerdem wollte er sie gar nicht zurückhalten.
Sie liebten sich langsam und vorsichtig, und er hatte das Gefühl,
Lust und Trauer hielten sich dabei die Waage. Ihre Hautfarbe
erinnerte ihn an dunklen Honig bei Kerzenlicht, und ihr Haar war
rabenschwarz. Hinterher lag Otah mit dem Rücken an der kühlen
Wand, damit Liat genug Platz hatte, um bequem zu liegen. Sie hatte
die Augen nur halb geöffnet, und ihre Mundwinkel wiesen nach
unten. Als es sie schauderte, erhob er sich und zog die Decke über
sie. Er selbst schlüpfte nicht darunter, obwohl ihm die Wärme sehr
willkommen gewesen wäre.
»Du warst so lange weg« sagte Liat. »An manchen Tagen habe ich
mich gefragt, ob du zurückkehren würdest.«
»Hier bin ich.«
»Ja« sagte sie. »Da bist du. Wie war die Reise? Erzähl mir Also
berichtete er ihr von dem Schiff und wie es war, wenn das Deck
unter einem schaukelte, die Taue knarrten und man immerzu das
Meer hörte. Er erzählte ihr von dem Kurier Orai mit seinen Späßen
und seinen Reisegeschichten. Und von Yalakeht mit den hohen
grauen Gebäuden und den schmalen Gassen mit ihren eisernen
Toren, die nachts zugesperrt wurden und hinter denen man sich
dann wie hinter seiner Wohnungstür fühlte.
Und er hätte fortfahren und ihr von der Straße erzählen können,
die hinauf in die Berge und ins Dorf des Dai führte, in dem nur
Männer lebten. Er hätte vom Dai und seinem seltsamen,
halbherzigen Angebot erzählen können, ihn wieder in Gnaden
aufzunehmen. Er hätte womöglich sogar von den Drohungen des
Andaten berichten können und davon, dass es ihn noch immer
beschäftigte, dass Samenlos Itani Noyga als einen Sohn von Khai
Machi bloßstellen und damit dem sicheren Tod ausliefern konnte.
Doch Liat atmete schwer, tief und regelmäßig. Als er vorsichtig
über sie hinweg aus dem Bett stieg, murmelte sie etwas und
kuschelte sich fester in ihre Decke. Otah zog sich an. Die Nachtkerze
war schon zu drei Vierteln heruntergebrannt, und es würde bald
hell werden. Zum ersten Mal spürte er, wie müde er war. Er würde
einen Schlafplatz brauchen. Ein Zimmer vielleicht oder eine Koje in
einer der Matrosenabsteigen am Hafen, wo er sich mit neun
Männern, die sich am Abend in den Schlaf getrunken hatten, ein
Kohlebecken würde teilen müssen.
Im buttergelben Licht des Aufenthaltsraums wurde noch immer
geredet. Maj, die zuvor wie er selbst die Szene lediglich beobachtet
hatte, saß nun allerdings Amat Kyaan gegenüber, zeigte mit dem
Finger ein ums andere Mal auf die Tischplatte und sprach sehr
schnell, ohne dabei auch nur einmal Luft zu holen. Ihr Gesicht war
gerötet, und er hörte den Zorn in ihrer Stimme, ohne verstehen zu
können, was sie sagte. Zorn und Wein. Amat sah auf, als er die
Treppe herunterkam. Sie wirkte älter als sonst.
Maj folgte ihrem Blick, sah kurz zu der Tür hoch, die er hinter sich
geschlossen hatte, und sagte noch etwas. Amat antwortete ihr ruhig,
aber nicht beschwichtigend in der gleichen Sprache. Maj stand auf,
schob die Sitzbank dabei laut zurück und kam auf Otah zu.
»Schläft deine Frau?« wollte sie wissen.
»Ja.«
»Ich habe Fragen. Weck sie«, sagte Maj mit herrischer Geste. Otah
sah Amat hinter ihrem Rücken den Kopf schütteln und machte
daraufhin Maj gegenüber eine höflich verneinende Gebärde. Seine
Weigerung schien sie tief zu treffen. Tränen liefen ihr über die
Wangen.
»Seit Wochen« rief sie flehend. »Ich warte hier seit Wochen - für
nichts! Hier gibt es keine Gerechtigkeit. Ihr habt hier keine
Gerechtigkeit! Mitat kam zu Otah und Maj und legte dem
Inselmädchen die Hand auf den Arm. Maj entzog sich ihr, ging auf
eine andere Tür zu und wischte sich dabei die Tränen mit dem
Handrücken ab. Als sie den Aufenthaltsraum verlassen hatte, hob
Otah fragend die Hände.
»Sie hat nicht verstanden, dass Khai Saraykeht womöglich eine
eigene Untersuchung durchführt« erklärte Mitat. »Sie hat gedacht,
er würde sofort handeln. Als sie erfuhr, dass es eine weitere
Verzögerung geben würde …«
»Es ist nicht nur ihre Schuld«, sagte Amat. »All das ist nicht leicht
für sie gewesen.« Der Anführer ihrer Wache ein Bär von einem
Mann - hustete. Die Art, wie er und Amat sich ansahen, zeigte Otah,
dass das Mädchen nicht zum ersten Mal Gegenstand der
Unterhaltung war. Amat fuhr fort: »Das alles ist bald vorbei. Oder
wenigstens unsere Rolle darin. Falls Maj als Zeugin vor dem Khai
aussagt, kommt der Stein ins Rollen. Wenn sie nach ihrer Aussage in
ihre Heimat zurückkehrt, soll es mir recht sein.«
»Und wenn sie schon vorher verschwindet?«, fragte Mitat und ließ
sich dabei auf dem Tisch nieder.
»Das wird sie nicht«, entgegnete Amat. »Es geht ihr zwar nicht
gut, aber sie wird nicht aufbrechen, ehe jemand für den Verlust
ihres Kindes zur Verantwortung gezogen wird. Was ist mit Liat?
Schläft sie?«
»Ja« antwortete Otah mit einer Gebärde der Dankbarkeit.
»Marchat Wilsin weiß inzwischen bestimmt, dass sie nicht zu ihm
zurückkehrt« sagte Amat. »Sie muss im Haus bleiben, bis diese
Sache vorbei ist.«
»Noch eine? Wie lange soll das noch dauern, Großmutter?« fragte
Torish Weiss.
Amat stützte den Kopf in die Hände. Sie schien kleiner als früher,
als wäre sie mit den Jahren und der stets zunehmenden Müdigkeit
geschrumpft, wirkte aber keineswegs gebrochen. Todmüde
vielleicht, aber ungebrochen. In diesem Augenblick stellte Otah fest,
dass er Liats alte Ausbilderin sehr bewunderte.
»Ich schicke morgen früh einen Boten los« sagte sie. »Um diese
Jahreszeit müssen wir wohl etwa eine Woche auf eine Audienz
warten.«
»Aber wir sind doch noch gar nicht fertig!« rief Mitat. »Wir wissen
noch nicht einmal, wo das erste Mädchen gefangen gehalten wurde
und wohin es verschwunden ist. Und wir haben keine Zeit, es zu
finden!«
»Wir haben vieles zusammengetragen« entgegnete Amat. »Und
was wir nicht haben, werden die Utkhais herausfinden, wenn der
Khai sich erst mit der Sache befasst. Es ist nicht so viel, wie ich
gehofft hatte, aber es wird reichen. Es muss reichen.«
18
Amat, meine gute alte Freundin. Siehst du, was ich für einer bin? Selbst
bei meinem letzten Innehalten auf der Lebensreise bin ich zu feige, die
richtigen Worte zu finden. Amat, meine Liebe. Amat, der ich mich aus
Angst, sie würde lachen oder mich - schlimmer noch - mit höflicher
Nachsicht strafen, nie offenbart habe. Wer hätte je gedacht, dass es mit uns
einmal so weit kommen würde?
Otah Machi, der sechste Sohn von Khai Machi, saß am Ende der
Mole und blickte aufs Meer hinaus. Die Nacht war heraufgezogen,
und nur noch das Licht des Halbmonds schillerte auf dem Wasser.
Die Arbeit im Hafen war für heute vorbei, und die fast ebenso
lauten abendlichen Vergnügungen hatten begonnen. Er kümmerte
sich nicht weiter darum, sondern aß aus einer Papiertüte
Ingwerhuhnstücke, die er an einem Stand gekauft hatte, und dachte
an gar nichts.
Er besaß nur noch zwei Kupferstücke. Jahrelang hatte er gearbeitet
und in der Stadt auf eigenen Füßen gestanden, und nun war er bei
zwei Kupferstücken gelandet. Damit konnte er sich gerade noch ein
Glas Wein kaufen, einen billigen. Alles, was er sonst besaß, hatte er
ausgegeben, verloren oder weggeworfen. Doch immerhin war alles
vorbereitet. Es war Flut. Bevor der Morgen dämmerte, würde
wieder Ebbe sein.
Es war so weit.
Er ging am Hafen entlang, warf das fettige Papier in den Ofen
eines Feuerhüters und sah zu, wie es verbrannte und dabei kurz die
Gesichter der Männer und Frauen erleuchtete, die sich am Feuer
wärmten. Die Lagerhäuser standen dunkel und verriegelt da, und
auf dem Nantan war kein Mensch zu sehen. Vor einem Teehaus gab
eine Straßenmusikantin mit kläglicher Stimme Lieder zum Besten. In
dem Kistchen, das sie vor sich stehen hatte, lag immerhin das
Dreifache dessen, was Otah besaß. Er warf eines seiner beiden
Kupferstücke dazu und wünschte sich dabei etwas.
Im Vergnügungsviertel war es wie jede Nacht. Er war es, der
anders war. Die Trommeln und Flöten der Bordelle, der Geruch
von Weihrauch und stärkeren Kräutern, die traurigen Augen der
Frauen, die ihren Körper von niedrigen Brüstungen und hohen
Fenstern herab feilboten, all das war wie immer.
Und doch war ihm, als sei er ein Reisender aus einem fernen Land
und komme erstmals hierher. Es war noch Zeit umzukehren. Selbst
jetzt noch konnte er gehen, wie er vor vielen Jahren die Schule
hinter sich gelassen hatte. Er konnte gehen und sich einreden, er
habe es aus Überzeugung, Lauterkeit oder Unerschütterlichkeit
getan. Aber er würde stets um seine eigentlichen Beweggründe
wissen.
Der schmale Gang war dort, wo Samenlos gesagt hatte. Fast hätte
er ihn übersehen, so unauffällig verlief er zwischen den Häusern.
Otah blieb einen Moment stehen und zögerte. Ein gutes Stück
entfernt brannte eine Laterne. Ein Schaukämpfer, dem Blut aus den
Haaren floss, schleppte sich vorbei. Zwei Seeleute zeigten von der
anderen Straßenseite auf den Verwundeten und lachten. Otah trat in
die Dunkelheit.
Der Schlamm und der Schmutz unter seinen Schuhen ließen ihn an
ein Bachbett denken. Die Laterne kam näher, doch ehe er ihren
Lichtkegel erreicht hatte, stand er schon vor der Tür, die Samenlos
ihm beschrieben hatte. Er drückte die Hand dagegen. Das Holz war
stabil, das Schloss aus schwarzem Eisen. Das Licht, das durch die
Lamellen der Fensterläden fiel, verriet, dass drinnen ein Feuer
brannte. Der Dichter war in seiner Privatwohnung - dort, wo er sich
vor der Schönheit der Paläste und des Hauses verbarg, das sein
eigentlicher Wohnsitz war. Otah drückte vorsichtig die Klinke, doch
es war abgeschlossen. Also klopfte er, doch niemand kam. Mit
einem Messer hätte er die Tür aufbrechen können. Ein Betrunkener
wäre davon womöglich nicht mal erwacht, aber dafür hätte Otah
sehr viel später kommen müssen. Der Andat hatte ihm eingeschärft,
das Refugium des Dichters erst weit nach Mitternacht aufzusuchen,
und die Nachtkerze war noch nicht mal zu einem Viertel
heruntergebrannt.
»Heshai-kvo«, sagte er. Auch ohne zu rufen, war seine Stimme laut
genug, um von den Mauern ringsum widerzuhallen. »Öffnet mir
bitte.«
Einen langen Augenblick schien niemand zu kommen.
Dann aber war hinter dem Fensterladen eine Silhouette
auszumachen. Gleich darauf wurde die Tür entriegelt und öffnete
sich knarrend. Im Eingang stand die Gestalt des Dichters. Sein
Gewand sah so mitgenommen aus wie sein Haar. Er blickte böse
drein, und seine Mundwinkel waren tief herabgezogen.
»Was fällt dir ein, mich hier zu stören?«
»Wir müssen reden« sagte Otah.
wegen!« rief der Dichter, trat einen Schritt zurück und machte die
Tür wieder zu. »Verschwinde.«
Otah schob rasch die Schulter gegen die Tür und drückte sie mit
aller Kraft auf. Der Dichter wich zurück und stieß dabei ein
überraschtes Schnaufen aus. Das Wohnzimmer war klein, schmutzig
und verwahrlost. Eine Klappliege stand zu nah am Feuer, und um
die Liege herum lagen leere Flaschen verstreut. Dunkler Schimmel
zog sich streifenweise von den durchhängenden Deckenbalken bis
zum Fußboden. Es roch wie ein Sumpf im Sommer. Otah schloss die
Tür hinter sich.
»Was willst du?« fragte der Dichter. Sein bleiches Gesicht wirkte
verängstigt.
»Wir müssen reden« wiederholte Otah. »Samenlos hat mir gesagt,
wo ich Euch finden kann. Er hat mich hergeschickt, damit ich Euch
töte.«
»Damit du mich tötest?«, echote Heshai und lachte in sich hinein.
Seine Angst wich einer trostlosen Fröhlichkeit. »Damit du mich
tötest! Ihr Götter!«
Kopfschüttelnd tapste der Dichter zu seiner Klappliege und setzte
sich. Otah stand zwischen Kamin und Tür, um Heshai den Weg zu
versperren, falls er Reißaus nehmen wollte. Doch der Dichter
unternahm keinen Fluchtversuch.
»Du bist also gekommen, um mich zu erledigen, ja? Nun, du bist
ein großer, starker Junge. Und ich bin alt, dick und ganz schön
betrunken. Ich schätze, da wirst du keine Mühe haben.«
»Samenlos hat mir erzählt, das wäre Euch sehr recht«, sagte Otah.
»Aber ich vermute, er hat es übertrieben dargestellt. Wie auch
immer - ich bin nicht seine Marionette.«
Der Dichter machte ein finsteres Gesicht, und seine
blutunterlaufenen Augen wurden schmal. Otah trat näher und
kniete sich hin, wie er es als Kind in der Schule getan hatte.
»Ihr wisst, dass Amat Kyaan demnächst eine Audienz bei Khai
Saraykeht hat. Und die verheerenden Folgen dieser Audienz sind
Euch sicher klar.«
Heshai nickte langsam und widerwillig.
»Samenlos hofft, ich würde Euch töten, um zu verhindern, dass an
den Galten furchtbare Vergeltung geübt wird. Aber ich bin kein
Mörder«, sagte Otah. »Der Preis, den Unschuldige zahlen müssen …
und den Maati zahlen muss, ist einfach zu hoch. Ich kann das nicht
zulassen.«
»Verstehe«, brummte Heshai. Dann war nur noch das Knistern des
Feuers zu hören. Gedankenverloren langte der Dichter nach einer
halbvollen Flasche, die auf dem Fußboden stand. Otah sah zu, wie
der alte Mann ausgiebig trank. Schließlich fragte Heshai: »Und wie
willst du das Problem lösen?«
»Lasst den Andaten frei«, sagte Otah. »Ich bin gekommen, um
Euch zu bitten, Samenlos ziehen zu lassen.«
»Ist es wirklich so einfach?«
»Ja.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich denke schon, dass Ihr das könnt«, widersprach Otah. »Ich
meine ja nicht, dass es unmöglich wäre. Im Gegenteil - nichts wäre
leichter als das. Ich müsste ihn nur Er öffnete seine Linke, als würde
er einen Vogel aus der Faust fliegen lassen. »Das meine ich nicht. Es
ist so, dass ich es nicht kann. Ich bringe das einfach nicht über mich.
Tut mir leid, Junge. Ich weiß, dass es für dich ganz einfach aussieht.
Aber es ist nicht einfach. Ich bin der Dichter von Saraykeht, und
dieses Amt kann ich nicht einfach aufgeben, nur weil ich seiner
müde bin, nur weil es mich verzehrt, nur weil es mich dazu
verpflichten mag, eine Welle von Fehlgeburten in Galtland
auszulösen. Wer die Wahl hat, ein glühendes Stück Kohle in der
Faust zu halten oder eine Stadt voller Unschuldiger zu zerstören,
wird sich verzweifelt bemühen, die Qualen der Verbrennung zu
ertragen. Wer das nicht wenigstens versucht, ist kein anständiger
Mensch.«
»Wärt Ihr denn ein anständiger Mensch, wenn Ihr Khai Saraykeht
Vergeltung üben ließet?«
»Ich wäre ein Dichter«, sagte Heshai mit melancholischem Lächeln.
»Du bist zu jung, um das zu verstehen. Ich habe dieses Kohlestück
schon gehalten, als du noch nicht geboren warst. Ich kann es jetzt
nicht fallen lassen, ich kann es einfach nicht. Mein Ich steht und fällt
damit, die glühende Kohle zu halten. Wenn ich sie losließe, einfach
so losließe, würde ich in gewisser Weise sterben.«
»Ich glaube, da habt Ihr unrecht.«
»Ich verstehe, dass du das so siehst, aber deine Meinung ist für
mich ohne Bedeutung. Und das dürfte dich kaum überraschen.«
Die Angst, die sich in Otahs Magen eingenistet hatte, war plötzlich
so lastend, als habe er einen Stein verschluckt. Er nickte. Der
Dichter beugte sich vor und legte seine breite, fleischige Linke
behutsam auf Otahs Rechte.
»Du wusstest, dass ich nicht einverstanden sein würde.«
»Ich … ich hatte gehofft …«
»Du musstest es versuchen«, sagte Heshai anerkennend. »Das
spricht für dich. Ja, du musstest es versuchen. Mach dir keine
Vorwürfe. Ich bin einfach nicht stark genug, diese unselige Situation
zu beenden, obwohl ich jahrzehntelang tief im Unflat gewatet bin.
Magst du einen Schluck?«
Otah trank aus der Flasche, die Heshai ihm hingehalten hatte. Der
Wein war ungewöhnlich stark und schmeckte nach Kräutern. Er gab
dem Dichter die Flasche zurück. Seine Kehle wurde ganz warm.
Heshai lachte, als er Otahs verdutztes Gesicht sah.
»Ich hätte dich warnen sollen. Dieser Wein ist etwas stärker als
der, den man gewöhnlich zu Lammkoteletts trinkt, aber mir
schmeckt er. Er lässt mich schlafen. Darf ich jetzt vielleicht fragen,
wie unser gemeinsamer Bekannter auf die Idee gekommen ist, du
würdest mich für ihn umbringen?«
Mit leiser Überraschung stellte Otah fest, dass er Heshai alles
erzählte: Marchat Wilsins Geheimnis, von dem Anschlag auf Liat
und der Gefahr, dass Maati seelisch verkrüppelt aus der
unglücklichen Liebe zu dem Mädchen hervorginge. Heshai hörte
ihm die ganze Zeit mit besorgtem Gesicht zu und nickte nur dann
und wann oder stellte Fragen, damit sein Besucher sich klarer
ausdrückte. Als Otah ihm verriet, dass er gar nicht Itani Noyga,
sondern der sechste Sohn von Khai Machi war, bekam der Dichter
große Augen, sagte aber nichts. Zweimal bot er Otah noch die
Weinflasche an, und der Junge trank daraus. Es war seltsam, alles
ausgesprochen zu hören und zu erleben, wie erst halb entwickelte
Gedanken mit den Worten, die er für sie zu finden vermochte, klare
Gestalt annahmen. Er wurde sich seines Schicksals und des Loses
anderer bewusster, und sein Sinn für Gerechtigkeit und Verrat
schärfte sich, für Loyalität und für die Veränderungen, die die
Seereise bei ihm bewirkt hatte. Der Wein, die Angst und die Qual,
die sich in Otahs Magen vermischten, ließen den alten Mann zu
seinem Vertrauten werden und für den Augenblick sogar zu seinem
Freund.
Die Nacht war fast halb um, als er mit seiner Geschichte fertig war
und all seine Gedanken und Ängste, Geheimnisse und Misserfolge
berichtet hatte. Oder doch fast alle. Es gab eine Sache, von der er
nicht zu erzählen bereit war: von dem Schiff nämlich, auf dem er mit
seinen letzten Silberstücken zwei Plätze gebucht hatte und das vor
Sonnenaufgang auslaufen würde. Es war ein kleiner Segler aus den
Westgebieten, der auch im Winter Seewege befuhr, auf denen kein
Eisgang zu befürchten war. Ein Fluchtgefährt für einen Mörder und
seine Komplizin. Diese Nachricht behielt er für sich.
»Das ist schlimm«, sagte der Dichter. »Wirklich schlimm. Maati ist
trotz allem ein anständiger Kerl. Er ist eben noch jung.
»Bitte, Heshai-kvo - bereitet dieser Sache ein Ende.«
»Das steht nicht in meiner Macht. Und selbst wenn ich das Biest
entkommen lassen würde, scheint diese Puffmutter doch eine gut
belegte, schlüssige Geschichte erzählen zu können. Der nächste
Andat, den der ehrwürdige Dai nach Saraykeht schickt, kann
ebenso furchtbar sein wie Samenlos. Oder ein anderer Khai wird
gezwungen, im Namen aller Sommerstädte Vergeltung zu üben.
Mich zu töten, mag Maati ein bitteres Schicksal ersparen und dafür
sorgen, dass dein Geheimnis gewahrt bleibt, aber Liat … und die
Galten …«
»Daran habe ich schon gedacht.«
»Wie auch immer - ich bin dafür zu alt. Seinen Namen zu
wechseln, sein Leben wie ein altes Kleidungsstück abzustreifen und
ein neues anzulegen - das ist etwas für junge Leute. In meinem Alter
ist es schwer, eingefahrene Wege zu verlassen. Wie hättest du es
eigentlich getan?«
Was?«
»Wie hättest du mich umgebracht?«
»Samenlos hat mir geraten, kurz vor Morgengrauen zu kommen«,
sagte Otah. »Er meinte, wenn ich Euch eine Schnur um den Hals
lege und fest zuziehe, könntet Ihr nicht schreien.«
Heshai lachte leise, doch es klang seltsam ernst. Er nahm den
letzten Schluck aus der Flasche, an deren Innenseite nun schwarze
Kräuterrückstände zu erkennen waren. Dann wühlte er im
Durcheinander unter seiner Klappliege, zog eine neue Flasche
hervor, öffnete sie und warf den Korken ins Feuer.
»Er ist ein Optimist«, sagte er dann. »Bei meinen
Trinkgewohnheiten bin ich schon Stunden früher hinüber.«
Otah runzelte die Stirn. Dann traf ihn die Bedeutung dessen, was
Heshai gesagt hatte, wie ein kalter Wasserschwall. Erneut zog sich
sein Magen vor Angst zusammen, doch er schwieg. Der Dichter sah
ins Feuer, dessen ersterbende Flammen sein elend wirkendes
Gesicht in ein gespenstisches Rot tauchten. Otah verspürte das
Bedürfnis, den alten Mann zu umarmen, doch diese Anwandlung
verging so rasch wie eine Welle am Strand. Als der Alte ihn
anblickte, sah Otah in Heshais Augen die eigene Dunkelheit
gespiegelt.
»Ich habe stets getan, was mir befohlen wurde, Junge. Das hat sich
nicht ausgezahlt. Du bist kein Mörder, und ich bin ein Dichter -
wenn wir die Entwicklung noch aufhalten wollen, muss sich einer
von uns beiden ändern.«
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Otah und rappelte sich auf.
Die beiden verabschiedeten sich so vertraulich, als seien sie
miteinander verwandt. Dabei sah Otah Tränen auf den Wangen des
Dichters, die den seinen kaum nachstanden.
»Ihr solltet hinter mir die Tür verriegeln« sagte er.
»Das mache ich später, falls ich daran denke.«
Als Otah die kühle, übelriechende Luft des schmalen Gangs
einatmete, war ihm, als würde er aus einem Traum erwachen. Über
den Halbmond trieben Wolkenschleier. Er ging mit hoch erhobenem
Kopf, doch obwohl er sich seiner Tränen schämte, konnte er nicht
aufhören zu weinen. Wie von außen beobachtete er seine Trauer
und seine teerschwarze Furcht. Er war dabei, zum Mörder zu
werden. Er fragte sich, wie seine Brüder damit umgehen würden,
wenn sie übereinander herfielen. Wie mochten sie es fertigbringen,
so kühlen wie klaren Kopfes einen Menschen zu töten? Amat Kyaans
Bordell leuchtete in der Dunkelheit wie die anderen Hurenhäuser.
Musik und Stimmen drangen durch die Nacht, Dirnengelächter und
das Fluchen von Männern, die am Spieltisch verloren. Der Reichtum
Saraykehts zirkulierte in diesen Etablissements wie in kleinen, nur
dem Vergnügen gewidmeten Städten innerhalb der großen Stadt. Er
wusste, dass es nicht immer so bleiben würde. Er stand auf der
Straße und ließ die Szene auf sich wirken - die Gerüche, das goldene
Licht, die grellen Fahnen, die Freude und den Kummer. Morgen
schon ist all das Bestandteil einer völlig verwandelten Stadt, dachte
er.
Der Wächter an der Hintertür erkannte ihn. »Großmutter will dich
sprechen« sagte er.
Otah stand noch immer seltsam neben sich und sah sich nicken und
sein reizendes Lächeln aufsetzen.
»Wo ist sie denn?«
»In ihrem Zimmer. Zusammen mit dem Mädchen, das früher für
Marchat Wilsin gearbeitet hat.«
Otah bedankte sich und ging ins Haus. Im Aufenthaltsraum saßen
einige Frauen plaudernd beim Essen. Ein schwarzhaariges Mädchen
stand beinahe nackt in der Nische und ließ ihre Brüste mit der
Routine eines Kabeljau verpackenden Fischhändlers hinter
durchscheinender Seide verschwinden. Otah betrachtete die breite
Holztreppe, die zu Amat Kyaans Zimmer und damit zu Liat führte.
Die Tür am oberen Treppenabsatz war geschlossen. Er drehte sich
um und klopfte vorsichtig an die Zimmertür, durch die er Maj in der
Nacht hatte verschwinden sehen, in der er Liat hergebracht und mit
dem Inselmädchen ein paar Worte gewechselt hatte.
Die Tür ging gerade weit genug auf, damit das Mädchen den Kopf
hinausstrecken konnte. Ihre bleiche Haut war gerötet, und ihre
blutunterlaufenen Augen leuchteten. Otah beugte sich zu ihr vor.
»Bitte … ich muss mit dir sprechen.«
Ihre Augen wurden schmal, doch einen Atemzug später wich sie
zurück. Otah trat über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich.
Maj stand mit in die Hüften gestemmten Händen und gerecktem
Kinn wie ein Kind da, das kurz davor war, sich zu prügeln. Eine
Laterne stand auf einem Tisch und beleuchtete ihre Klappliege, den
winzigen Webstuhl und den Stapel von schmutziger Kleidung. Ein
Weinglas lag in der Ecke. Sie war betrunken. Otah bedachte das
rasch und kam zu dem Schluss, dies würde ihm vermutlich zupass-
kommen.
»Maj«, sagte er, »verzeih mir, aber ich brauche deine Hilfe. Und
ich glaube, auch ich kann dir zu Diensten sein.«
»Ich wohne hier nur«, erwiderte sie, »ich arbeite hier nicht. Ich
gehöre nicht zu diesen Mädchen. Verschwinde.«
»Darum geht es mir auch nicht«, sagte Otah. »Maj, ich kann dir
noch heute Nacht zu deiner Rache verhelfen. Ich kann dich zu dem
Mann bringen, der den Andaten befehligt und dafür verantwortlich
ist, dass du dein Kind verloren hast.«
Maj runzelte die Stirn, schüttelte langsam den Kopf und sah Otah
dabei unverwandt in die Augen. Er sprach rasch und leise und
verwendete einfache Worte, die er mit Gesten untermalte. Er
erklärte, die Galten seien das Werkzeug von Samenlos gewesen,
Heshai aber sei der Herr des Andaten, und er, Otah, könne sie zu
diesem Heshai bringen, wenn sie nur unverzüglich aufbrächen.
Langsam schien sich so etwas wie Hoffnung in ihrer Miene
abzuzeichnen.
»Aber danach« fuhr er fort, »musst du dich von mir in deine
Heimat bringen lassen. Die Reise ist schon vorbereitet - das Schiff
lichtet vor dem Morgengrauen die Anker.«
»Ich frage Großmutter« sagte Maj und wollte zur Tür gehen. Otah
vertrat ihr den Weg.
»Nein. Sie darf nichts davon wissen. Sie will die Galten stoppen,
nicht den Dichter. Wenn du ihr davon erzählst, musst du den Weg
gehen, den sie eingeschlagen hat. Du musst dem Khai darlegen, was
dir angetan wurde, und akzeptieren, was er für angebracht hält. Ich
kann dir deine Rache noch heute Nacht verschaffen. Aber du musst
Amat verlassen und auf eine Aussage vor dem Khai verzichten. Das
ist meine Bedingung.«
»Hältst du mich für dumm? Warum sollte ich dir trauen? Warum
tust du das alles?«
»Du bist nicht dumm. Und du solltest mir trauen, weil ich habe,
was du willst: Gewissheit, ein Ende der ewigen Warterei,
Vergeltung und Rückkehr in deine Heimat. Ich tue das, weil ich
nicht noch mehr Frauen erleiden sehen will, was du erlitten hast,
und weil uns deine Rache den Andaten, der dieses Leiden bewirkt
hat, für immer vom Hals schafft.«
Und ich tue es, um Maati und Liat zu retten, dachte Otah. Und
Heshai. Und weil es gerechtfertigt ist, diesen Samenlos zu
vernichten. Und weil ich dich aus diesem Haus bekommen muss.
Ein schwaches Lächeln trat auf Majs volle, bleiche Lippen.
»Bist du ein Mensch?«, fragte sie dann. »Oder ein Geist?«
Otah machte eine fragende Gebärde. Maj streckte die Linke aus
und drückte ihm sanft die Fingerspitzen gegen die Schulter, als
wollte sie sich davon überzeugen, dass er kein Gespenst, sondern
ein Wesen aus Fleisch und Blut war.
»Ich bin es müde, immer aufs Neue hereingelegt zu werden.
Solltest du ein Mensch sein und mich belogen haben, beiße ich dir
die Gurgel durch. Wenn du ein Geist bist, dann vielleicht der,
dessen Kommen ich seit langem auf Knien erflehe.«
»Jedenfalls dürfte ich dir bringen, was du dir sehnlich wünschst.
Und jetzt pack schnell deine Sachen. Wir müssen los und können
nicht zurückkehren.«
Sie schwankte kurz. Dann blitzten Wut und Verzweiflung, die er
schon früher in ihren Augen gesehen hatte, wieder auf. Darauf hatte
er gesetzt. Sie blickte sich in dem winzigen Zimmer um, hob auf,
was wie ein noch nicht fertig gewebter Schal aussah, und spuckte
mit Nachdruck auf den Boden.
»Mehr nehme ich nicht mit«, erklärte sie. »Also, führ mich zu ihm.
Und wenn die Dinge anders liegen, als du gesagt hast, bringe ich
dich um. Hast du daran Zweifel?«
»Nein.«
Otah übertölpelte den Wächter spielend, indem er ihn zu Amat
Kyaan hinaufschickte, um mit ihr zu sprechen. Die
Sicherheitsvorkehrungen im Haus waren darauf ausgerichtet,
Angriffe abzuwehren, nicht darauf, eine Flucht zu verhindern. Er
brauchte nur vier, fünf Atemzüge, um Maj über die Hintertür auf
die Straße zu führen. Zehn Atemzüge später waren sie im
Gassengewirr des Vergnügungsviertels verschwunden.
Maj blieb dicht bei ihm. Im Flackern der Straßenbeleuchtung
konnte Otah ihr Gesicht erkennen. In ihren Zügen stand wilde
Freude darüber, endlich frei zu sein. Und eine ungemeine Wut. Als
er schließlich in dem dunklen Gang vor Heshais Refugium stand,
stellte er fest, dass die Tür noch immer nicht abgesperrt war.
Maati betrat das Dichterhaus. Die Füße taten ihm weh, und er
hatte quälende Kopfschmerzen. Es war still, dunkel und kalt. Nur
die Nachtkerze, die schon über die Hälfte heruntergebrannt war,
leuchtete in ihrer Laterne. Er ließ sich auf ein Sofa fallen und schlang
die schwere Tagesdecke um sich. In jedem Teehaus war er gewesen
und hatte alle gefragt, die er kannte. Otah war verschwunden,
schien sich im nebligen Hafen aufgelöst zu haben. Jeder Schritt war
Maati wie eine Reise vorgekommen, jedes Vorrücken des Mondes
schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Als er unter der schweren
Tagesdecke lag, rechnete er damit, schnell einzuschlafen, doch das
schwache Licht der Nachtkerze irritierte ihn und ließ ihn die Augen
gerade in dem Moment öffnen, da er den Eindruck hatte, die
Anspannung des Tages würde endlich nachlassen. Er wälzte sich hin
und her, denn sein Gewand warf mal am Arm, mal unter den
Rippen unbequeme Falten. Als er schließlich aufgab und sich
hinsetzte, glaubte er, sich viele Stunden lang gequält zu haben.
Tatsächlich aber war die Nachtkerze noch nicht einmal zu drei
Vierteln niedergebrannt.
»Wein könnte helfen« sagte eine vertraute Stimme aus Richtung
der dunklen Treppe. »Und er hat den Vorteil der Tradition. Unser
edler Dichter hat viele Nächte neben seinem Erbrochenen
geschlafen, das nach halb verdauten Trauben gestunken hat.«
»Sei still«, sagte Maati, doch seine Stimme klang schwach und
hatte keine Kraft, den Andaten zurückzuweisen. Langsam kamen
das vollkommene Gesicht und die nicht weniger vollkommenen
Hände die Treppe herunter. Sein weißes Gewand war bleich wie
seine Haut. Ein Trauergewand. Als er sich auf die zweitunterste
Stufe setzte und lächelnd die Beine ausstreckte, war sein Auftreten
wie eh und je: amüsiert, durchtrieben, alles andere als
vertrauenerweckend und zugleich traurig. Doch vielleicht war da
noch etwas anderes, eine tiefer liegende Kraft, die Maati nicht
verstand.
»Ich meine bloß, dass man einen harten Abend beenden kann,
wenn man nur will. Und wenn es einem nichts ausmacht, eines
Tages den Preis dafür zu zahlen.«
»Lass mich in Ruhe« sagte Maati. »Ich will nicht mit dir reden.«
»Auch nicht, wenn dein kleiner Freund vorbeigekommen sein
sollte? Der Mann, der am Hafen arbeitet?«
Maati stockte der Atem. Er machte eine fragende Gebärde, und
Samenlos lachte.
»Nein, nein, er ist nicht aufgetaucht«, sagte er dann. »Ich hab mich
nur gefragt, ob du keinesfalls bereit bist, mit mir zu reden, oder ob
es da vielleicht Ausnahmen gibt. Ein bloßes Gedankenspiel.«
Maati spürte sich vor Wut und Verlegenheit erröten, griff nach
dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn nach Samenlos. Es war
ein perlenbesetztes Kissen, das von den Knien des Andaten
abprallte. Samenlos machte eine reuige Gebärde, stand auf und legte
das Kissen wieder an seinen Platz.
»Ich wollte dich nicht verletzen, mein Lieber. Aber du siehst aus,
als hätte dir jemand dein Hündchen weggenommen, und ich dachte,
ein Scherz könnte deine Laune verbessern. Tut mir leid, wenn ich
mich da getäuscht habe.«
»Wo ist Heshai?«
Samenlos hielt inne und blickte auf, als könnten seine schwarzen
Augen durch Wände und Bäume sehen, jede Entfernung
überbrücken und den Dichter betrachten - egal, wo er sich aufhielt.
Ein dünnes Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Der ist weg« sagte er dann. »In seiner Folterkiste. Wie immer,
nehme ich an.«
»Also ist er nicht da?«
»Nein«, sagte der Andat.
»Ich muss ihn sprechen.«
Samenlos setzte sich zu Maati aufs Sofa und betrachtete ihn
schweigend. Dabei war seine Miene unendlich distanziert. Das
Trauergewand war nicht neu, aber offenbar selten getragen
worden. Es war einfach geschnitten und zerknittert und fiel so weit
aus, dass es eindeutig für eine erheblich stämmigere Gestalt als
Samenlos angefertigt war - für Heshai nämlich. Samenlos schien zu
merken, dass Maati all dies nicht entgangen war, und sah an sich
herunter, als nehme er zum ersten Mal wahr, was er trug.
»Das hat er beim Tod seiner Mutter anfertigen lassen«, sagte der
Andat. »Damals war er zur Ausbildung beim Dai. Er war nicht
dabei, als ihre Leiche auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde,
sondern hat davon durch einen Boten erfahren. Er hat es wohl
aufbewahrt, um sich kein neues Trauergewand kaufen zu müssen,
falls wieder jemand sterben sollte.«
»Und warum trägst du es?«
Samenlos zuckte lächelnd die Achseln und hob die Hände, was
alles und nichts bedeuten konnte.
»Aus Respekt vor den Toten«, erklärte er dann. »Warum sonst?«
»Für dich ist wirklich alles ein Witz« sagte Maati. Die Erschöpfung
setzte ihm so sehr zu, dass er Mühe hatte, deutlich zu sprechen,
obwohl er weiter vom Schlaf entfernt war als bei seiner Rückkehr.
Die Verbindung von Erschöpfung und innerer Unruhe fühlte sich an
wie eine Krankheit. »Nichts ist dir wichtig.
»Das stimmt nicht« erwiderte Samenlos. »Etwas kann ein Spiel und
doch ernst sein.«
»Ihr Götter! Hat Heshai dich etwa so geschaffen, dass du nur
dummes Zeug redest?«
»Ich äußere mich gern genauer, wenn du das möchtest«
entgegnete Samenlos. »Frag mich, was du willst.«
»ich habe keine Fragen an dich, und du hast mir nichts zu sagen«
meinte Maati und stand auf. »Ich gehe schlafen. Der morgige Tag
kann unmöglich schlimmer sein als der heutige.«
»Fast alles ist denkbar, mein Lieber. Etwas für unmöglich zu
halten, zeugt von Mangel an Fantasie« sagte Samenlos, doch Maati
wandte sich nicht mehr zu ihm um.
Seine Kammer war kühler als das Wohnzimmer. Er zündete ein
kleines Feuer im Kohlebecken an, ehe er die Wolldecken
zurückschlug, seine Schuhe auszog und erneut zu schlafen versuchte.
Die Ereignisse des Tages gingen ihm unaufhörlich und wild
durcheinander durch den Kopf: Liats Verzweiflung und ihr warmer
Körper; Otahs Abschiedsworte und die brennende Reue, die sie bei
ihm ausgelöst hatten. Wenn er ihn doch nur finden und noch mal
mit ihm reden könnte! Im Halbschlaf hielt Maati sich vor Augen, wo
er am Abend überall gewesen war, und fragte sich, ob er irgendeine
Ecke vergessen haben mochte. Als er sich die nächtlichen Straßen
von Saraykeht vorstellte, merkte er, dass er sich durch sie
hindurchbewegte, und wusste sofort, dass er träumte. Er kam durch
Straßen, Gassen und Gänge und überquerte Plätze und Höfe, bis er
an Orte geriet, die es in Saraykeht nicht gab, und nach Teehäusern
suchte, die allein in seinem enttäuschten und verzweifelten Kopf
existierten. Unterdessen war ihm ständig bewusst, dass er träumte,
aber nicht schlief.
Er schob die Decke weg, um sich freier zu fühlen, doch das kleine
Kohlenbecken konnte sein Zimmer nicht wirklich erwärmen, und
die Kälte ließ ihn bald wach werden. Er lag weinend im Dunkeln.
Als das keine Erleichterung brachte, stand er auf, zog sich frische
Sachen an und ging die Treppe hinunter.
Samenlos hatte im Kamin Feuer gemacht. Ein Kupferkessel mit
Wein hing über den Flammen, und ein süßer, würziger Duft erfüllte
das Zimmer. Der Andat saß auf einem Stuhl und hatte ein
geöffnetes Buch im Schoß: das in braunes Leder gebundene Werk,
in dem von seiner Erschaffung und den Fehlern die Rede war, die
Heshai dabei gemacht hatte. Er blickte nicht auf, als Maati
herunterkam und an den Kamin trat, um sich die Füße am Feuer zu
wärmen.
»Der Alkohol ist längst verdampft. Du kannst davon trinken, so
viel du magst, ohne dass es dich beeinträchtigt« sagte der Andat.
»Warum soll ich dann davon nehmen?«, fragte Maati.
»Weil es ein angenehmes Getränk ist, obwohl es vielleicht etwas
kräftig schmeckt. Ich hatte gedacht, du würdest früher
runterkommen. Man darf es nicht zu lange kochen lassen sonst wird
ein zäher Sud daraus.«
Maati wandte dem Andaten den Rücken zu und nahm eine alte
Kupferkelle, um seinen Becher zu füllen. Er probierte das Getränk
und stellte fest, dass es überaus aromatisch und sehr heiß war.
Tatsächlich hatte es eine tröstende Wirkung.
»Sehr gut«, sagte er.
Er hörte, wie Samenlos hinter ihm das Buch schloss. Dann war es
so lange still, dass er sich umsah. Der Andat saß starr wie eine
Statue da. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung.
»Was hättest du gesagt, wenn du ihn gefunden hättest?« fragte er
schließlich.
Maati setzte sich, führte seinen Becher an die Lippen und blies
darüber, ehe er antwortete: »Ich hätte ihn um Vergebung gebeten.«
»Meinst du denn, du hättest sie verdient?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Was ich getan habe, war
falsch.«
Samenlos lachte leise, beugte sich vor und schlang die langen,
anmutigen Finger ineinander.
»Natürlich«, sagte er. »Warum sollte man für etwas um Vergebung
bitten, das richtig war? Aber da wir uns gerade über das
Verurteilen und darüber, Milde walten zu lassen, unterhalten -
erzähl mir doch, warum du um etwas bitten würdest, das du ganz
und gar nicht verdienst.«
»Du klingst wie Heshai.«
»Natürlich - und du versuchst, mir auszuweichen. Wenn dir meine
Frage nicht gefällt, vergiss sie und beantworte mir stattdessen
diese: Würdest du mir vergeben? Was ich getan habe, war falsch,
und das weiß ich. Würdest du mir gewähren, was du von deinem
Freund erbitten wolltest?«
»Möchtest du das?«
»Ja« sagte Samenlos mit seltsam schwermütiger Stimme. Nicht,
dass Maati die melancholischen Anwandlungen des Andaten
wirklich neu gewesen wären. »Ja, ich wünsche mir Vergebung.«
Maati nippte an seinem Wein und schüttelte dann den Kopf. »Du
würdest es wieder tun. Wenn du Gelegenheit hättest, würdest du
alles und jeden opfern, um Heshai wehzutun.«
»Das glaubst du?«
»Ja.«
Samenlos senkte den Kopf, bis ihm das schwarze Haar auf die
Hände fiel. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er. »Dann also
folgende Frage: Würdest du Heshai seine Schwächen vergeben?
Deinem Lehrer und einem Dichter, der etwas so gefährlich
Fehlerhaftes geschaffen hat wie mich? Betrachte es, wie du willst: Er
hat in wirklich jeder Hinsicht versagt. Verdient er dennoch
Barmherzigkeit?«
»Vielleicht« sagte Maati. »Er hat nicht gewollt, was er getan hat.«
»Ah! Und weil ich planvoll vorgegangen bin, während er einfach
nur einen Fehler gemacht hat, bin ich an dem, was Maj widerfahren
ist, schuldiger als er?«
»Ja.«
»Du hast offenbar vergessen, in welchem Verhältnis er und ich
zueinander stehen. Aber lassen wir das. Wenn dein hart arbeitender
Freund … Du hast ihn übrigens Otah genannt und solltest mit
diesem Namen vorsichtiger sein Sollte Otah etwas falsch gemacht
und zum Beispiel ein Verbrechen begangen oder jemandem dabei
geholfen haben: Könntest du ihm das durchgehen lassen?«
»Woher weißt du …«
Ich weiß das seit Wochen, mein Lieber. Aber mach dir darüber
keine Gedanken. Ich habe es niemandem erzählt. Antworte auf
meine Frage: Würdest du ihm seine Verbrechen so sehr anlasten,
wie du mir die meinen anlastest?«
»Ich glaube nicht. Wer hat dir erzählt, dass Otah …« Samenlos
lehnte sich triumphierend zurück. »Und warum tust du seine
Sünden einfach ab und meine nicht?«
Maati lächelte. »Weil du nicht er bist.«
»Und weil du ihn liebst.«
Maati nickte.
»Und weil Liebe wichtiger ist als Gerechtigkeit«, fuhr Samenlos
fort.
»Manchmal ja.«
Samenlos nickte lächelnd. »Welch schrecklicher Gedanke«, sagte
er, »dass Liebe und Ungerechtigkeit Hand in Hand gehen.«
Maati machte eine wegwerfende Geste. Daraufhin nahm der
Andat das in braunes Leder gebundene Buch wieder zur Hand und
blätterte die handgeschriebenen Seiten durch, als suche er die Stelle,
bei der er die Lektüre unterbrochen hatte. Maati schloss die Augen
und atmete das Weinaroma ein. Er fühlte sich ungemein wohl, als
würde er in einen tiefen, erholsamen Schlaf gleiten, und spürte sich
langsam und im Rhythmus seines Herzens vor- und
zurückschaukeln. Doch dann beschlich ihn Unruhe, und ohne die
Augen zu öffnen, sagte er: »Du darfst niemandem von Otah
erzählen. Wenn seine Familie ihn findet …«
»Das wird sie nicht«, erklärte Samenlos. »Jedenfalls nicht durch
mein Zutun.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Kannst du diesmal aber. Heshai hat sein Bestes für dich getan. Ist
dir das eigentlich klar? Trotz all seiner und meiner Schwächen und
Fehler haben wir uns - soweit unser Kleinkrieg das erlaubte - gut
um dich gekümmert und Der Andat verstummte. Maati öffnete die
Augen. Samenlos schaute ihn nicht an und blickte auch nicht ins
Buch, sondern nach Süden. Es war, als würde er durch Wände und
Bäume sehen und in weiter Ferne ein faszinierendes Schauspiel
beobachten. Maati konnte nicht umhin, seinem Blick zu folgen, sah
aber nur die Zimmer im Erdgeschoss des Dichterhauses. Als er den
Andaten wieder ansah, lächelte Samenlos triumphierend.
»Was ist los?«, fragte Maati, und ein Frösteln der Angst lief ihm
über den Rücken.
»Das war Otah. Er hat dir vergeben.«
Die Nachtkerze brannte langsam herunter. Der Dichter schlief auf
seiner Liege. Im Halbdunkel war sein Gesicht vollkommen fahl.
Heshais Mund stand offen, und er atmete tief und gleichmäßig. Maj
kniete neben ihm und betrachtete das Gesicht des Schlafenden. Otah
schloss die Tür.
»Der ist es« sagte Maj so leise wie erregt. »Der hat mir das
angetan.«
Otah trat vorsichtig näher, um die Flaschen auf dem Fußboden
nicht klirren zu lassen und auch sonst kein Geräusch zu machen, das
den Schläfer wecken könnte.
»Ja«, bestätigte er. »Das ist er.«
Schweigend zog Maj ein Messer aus dem Ärmel. Die Schneide war
länger als ihre Hand, aber dünner als ein Finger. Otah hielt ihr
Handgelenk fest und schüttelte den Kopf.
»Es muss geräuschlos geschehen« flüsterte er.
»Und wie?«
Otah nestelte an seinem Ärmel und zog eine Schnur heraus. Sie
war aus geflochtenen Bambusfasern, dünn und geschmeidig, aber so
fest, dass sie sein Gewicht hätte tragen können, ohne zu reißen.
Holzgriffe an den Enden sorgten dafür, dass man sich beim
Zuziehen nicht ins Fleisch schnitt. Es war eine Mordwaffe, und Otah
sah sie wie mit fremden Augen in seinen Händen liegen. Seine
Angst hatte sich vom Bauch über den ganzen Körper, ja über die
Welt ausgebreitet und ihn zugleich von allem abgeschnitten, sogar
von sich selbst. Er fühlte sich wie eine Marionette, die an
unsichtbaren Fäden hing.
»Ich halte ihn fest« sagte Maj, »und du ziehst zu.«
Otah betrachtete den Schlafenden. Er spürte keinen Zorn, der ihm
die Tat erleichtert hätte, und keinen Hass, der sie hätte
rechtfertigen können. Einen Moment lang überlegte er, davon
abzulassen und den Dichter zu wecken oder die Wache zu rufen. Es
wäre noch immer so einfach, umzukehren. Maj schien seine
Gedanken zu lesen und blickte ihn mit ihren ungewöhnlich hellen
Augen an.
»Du ziehst zu«, wiederholte sie.
Es stand auf Messers Schneide.
»Ich kümmere mich um seine Arme« sagte Otah, »und du sorgst
dafür, dass er nicht um sich tritt.«
Maj beugte sich so dicht über die Liege, als wollte sie sich zu
Heshai legen. Ihre Hände schwebten über den Knien des Dichters.
Otah formte die Schnur zu einer Schlinge, um sie ihm über den Kopf
zu streifen. Dann trat er ans Kopfende der Liege. Mit dem Fuß stieß
er an eine Flasche, und in der Stille schien ihm das Geräusch, mit
dem sie über den Steinboden rollte, lauter als Gewitterdonner. Der
Dichter schrak hoch und stützte sich benommen auf den Ellbogen.
Als hätte er unterbewusst damit gerechnet, warf Otah ihm die
Schlinge über den Kopf und zog zu. Er nahm die schwachen
Geräusche kaum wahr, mit denen Maj die Beine des Dichters auf
der Liege hielt. Heshai hatte die Hände nun an der Kehle, um die
Schnur, die tief in seinen Hals einschnitt, doch noch wegzureißen.
Otah schmerzten Hände, Arme und Schultern, während er zuzog, so
fest er konnte. Heshais Gesicht war tiefrot, die vollen Lippen
nahezu schwarz. Otah schloss die Augen, ließ aber nicht nach. Die
Gegenwehr des Dichters wurde schwächer. Er fuchtelte nicht mehr
mit den Armen und krallte nicht mehr mit den Fingern nach der
Schnur, sondern patschte nur noch wie ein Kleinkind umher. Dann
war auch das vorbei. Otah, der die Augen noch immer geschlossen
hielt, zog die Schlinge weiterhin zu, denn er hatte Angst, von vorn
beginnen zu müssen, falls er zu früh losließe. Man hörte es
plätschern, und dann stank es nach Stuhlgang. Otah spürte, wie sich
seine Nackenmuskulatur verkrampfte, zählte aber zehn Atemzüge
und dann weitere fünf, ehe er die Augen öffnete.
Maj stand am Fußende der Liege. Ihr Gewand war verrutscht, und
an der Wange bildete sich ein Bluterguss. Dennoch wirkte ihr
Gesichtsausdruck heiter wie bei einer klassischen Statue. Otah ließ
die Schnur los. Seine Finger waren steif. Er hielt den Kopf hoch,
denn er wollte die Leiche um keinen Preis sehen.
»Es ist getan« erklärte er mit zittriger Stimme. »Gehen wir.«
Maj sagte etwas, doch es galt nicht ihm, sondern der Leiche
zwischen ihnen. Ihre Worte gingen fließend ineinander über und
klangen wunderschön, doch er wusste nicht, was sie bedeuteten.
Dann wandte sie sich ab und schritt feierlich, ja beinahe hoheitsvoll
aus dem Zimmer. Otah blieb nichts übrig, als ihr zu folgen. Er
zögerte an der Tür, war hin und her gerissen, ob er einen Blick auf
die Leiche werfen sollte oder nicht. Auch schwankte er zwischen
tiefem Schrecken über seine Tat und Erleichterung darüber, dass es
vorbei war. Merkwürdigerweise widerstrebte es ihm, Heshai
einfach liegen zu lassen, ohne von ihm Abschied zu nehmen.
»Danke, Heshai-kvo« sagte er schließlich und machte die Gebärde,
die sich für einen Schüler beim Abschied von einem geehrten Lehrer
ziemte. Dann richtete er sich auf, trat aus dem Haus und zog die
Tür hinter sich zu.
In der Gasse war es unangenehm kalt, und es sah nach Regen aus.
Einen beängstigenden Moment lang glaubte er, Maj sei ohne ihn
gegangen, doch dann hörte er sie würgen und entdeckte, dass sie
zusammengebrochen war und sich weinend übergab. Er legte ihr
sanft und beruhigend die Hand auf den Rücken, bis das Schlimmste
vorbei war. Als sie aufstand, klopfte er ihr den Schmutz vom
Gewand, legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie durch
den schmalen Gang auf die Straße und nach Westen zum Hafen
hinunter, um Saraykeht endlich zu verlassen.
»Was soll das heißen?« fragte Maati. »Wie hat Otah Dann
verstummte er, denn mit einem Seufzen hatte Samenlos sich in Luft
aufgelöst. Nur sein Trauergewand und ein Geruch von Regen waren
zurückgeblieben.
20
Fast eine Stunde lang schien es ein Morgen wie jeder andere zu
werden. Dann traf die Nachricht ein. Als Liat die Neuigkeit, Maj sei
verschwunden und der Dichter ermordet, durchs Bordell schwirren
hörte, rannte sie zum Palastbezirk. Sie dachte nicht an ihre
Sicherheit und zweifelte ohnehin daran, dass irgendwo Sicherheit zu
erlangen sei. Als sie schließlich die Holzbrücke über den Teich
erreichte, hatte sie Seitenstechen, und die verletzte Schulter klopfte
im Rhythmus ihres Herzschlags.
Sie wusste nicht, wie sie es ihm sagen sollte.
Als sie die Tür öffnete, war ihr klar, dass sie es ihm nicht würde
beibringen müssen.
Die schönen Möbel waren an die Wände geschoben, die Teppiche
aufgerollt. Der Holzboden lag nackt und offen da wie eine
Lichtung. Es roch nach Rauch und Regen. Maati kniete im schlecht
geschnürten Dichtergewand in der Mitte des Zimmers. Seine Haut
war aschfahl, sein Haar zerzaust. Ein in Leder gebundenes Buch in
herrlicher Handschrift lag aufgeschlagen vor ihm. Er sang, und sein
leiser Silbenfluss erfüllte den Raum mit fast sphärischen Klängen.
Liat sah fasziniert zu, wie Maati mit vor- und zurückschwankendem
Oberkörper dasaß und die Lippen bewegte. Ihr war, als wehe sie
ein Wind an, ohne dass ihr Gewand im Geringsten
durcheinandergeriet. Sie spürte eine starke Präsenz. Als stünde sie
vor dem Khai, nur tausendmal gewaltiger und durchgeistigter.
»Hör auf damit !«, schrie sie, als sie begriff, was sie sah. »Hör
auf!«
Sie stürmte zu ihm und hatte das Gefühl, dabei einen unsichtbaren
Luftwiderstand überwinden zu müssen, der dem Schwall ähnelte,
der einem entgegenschlug, wenn man einen heißen Ofen öffnete.
Maati schien ihre Stimme von ferne zu vernehmen. Er wandte den
Kopf, öffnete die Augen und verlor den Sangesfaden, so dass die
sphärische Musik aus ihrem labilen Gleichgewicht geriet. Dann war
es still, und die eigenartige Präsenz war verschwunden. Nur noch
Maati und Liat waren im Zimmer.
»Das darfst du nicht« erklärte sie. »Du hast doch gesagt, es sei
falsch, auf Heshais Spuren einen Andaten zu beschwören, weil er
demjenigen viel zu ähnlich wäre, den der Dichter erschaffen hat. Du
hast gesagt, das kann nie und nimmer funktionieren. Das hast du
doch gesagt, Maati!«
»Ich muss es versuchen«, antwortete er. Seine Worte kamen so
selbstverständlich, dass es sie ratlos machte. Sie sackte neben ihm zu
Boden. Maati blinzelte, als wäre er nur halb wach. »Ich muss es
versuchen. Wenn ich es sofort mache, schaffe ich vielleicht, dass …
Samenlos ist womöglich noch nicht ganz verschwunden … Vielleicht
kann ich ihn zurückholen, ehe Heshais Beschwörungsarbeit ganz
und gar Es half ihr, den Namen des Dichters zu hören - er war ein
Ansatzpunkt. Sie nahm Maatis Hand. Er zuckte leicht zusammen,
und sie lockerte ihren Griff, aber nicht so sehr, dass er sich ihr hätte
entziehen können.
»Heshai ist tot, Maati. Ob er vor einer Stunde oder einem Jahr
gestorben ist, ändert daran nicht das Geringste. Und Samenlos ist
verschwunden. Sie sind beide nicht mehr da.«
Maati schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht glauben«, sagte er.
»Ich verstehe Heshai besser als jeder andere. Und ich kenne
Samenlos. Ich habe noch etwas Zeit. Wenn es mir gelingt -«
»Es ist zu spät! Und wenn du tust, was du vorhast, kannst du dich
genauso gut im Teich ertränken! Du wirst sterben, Maati! Das hast
du mir selbst gesagt. Du selbst! Wenn es einem Dichter nicht
gelingt, seinen Andaten einzufangen, stirbt er. Und das da …« sagte
sie und wies mit dem Kopf auf das von Heshai handschriftlich
abgefasste Buch, das aufgeschlagen auf dem Fußboden lag. »Es
funktioniert nicht. Du selbst hast das gesagt!«
»Es ist anders«, erwiderte er.
»Wieso? »Weil ich es versuchen muss. Ich bin Dichter, Liebste. Das
ist meine Berufung. Und wenn Samenlos entkommt, wird es keinen
Andaten geben, der seine Stelle einnimmt. Das weißt du genauso
gut wie ich.«
»Dann hat Samenlos eben keinen Nachfolger.«
»Saraykeht …«
»Saraykeht ist eine Stadt, Maati. Ein Haufen Straßen, Mauern,
Menschen, Lagerhäuser und Denkmäler. Ein Haufen, der dich nicht
kennt und sich nicht für dich interessiert. Ich bin es, die sich für dich
interessiert und die dich liebt! Bitte, Maati, hör mit der
Beschwörung auf!«
Langsam und vorsichtig entzog er ihr seine Hand. Sein Lächeln
war ebenso traurig wie liebevoll.
»Geh jetzt« sagte er. »Ich muss es tun. Und wenn alles klappt,
komme ich dich suchen.«
Liat erhob sich. Da ihr Tränen in den Augen standen, nahm sie das
Zimmer nur verschwommen wahr, doch was sie innerlich aufwühlte
und was ihre Haut prickeln ließ, war nicht Trauer, sondern Zorn,
und der Schmerz, den sie dabei spürte, ließ diesen Zorn nur weiter
anschwellen.
»Bring dich doch um, wenn du willst«, rief sie. »Versuch dich an
dieser Beschwörung und stirb dabei. Vielleicht giltst du dann sogar
als Held. Aber ich weiß es besser!«
Sie drehte sich um und ging, wobei ihr schier das Herz brach. Auf
den Stufen, die zum Haus führten, blieb sie stehen. Die Sonne stieg
kraftlos über die kahlen Baumkronen. Liat schloss die Augen und
wartete darauf, dass Maati seinen fürchterlichen und überaus
seltsamen Gesang aufs Neue anstimmte. Krähen hüpften von Ast zu
Ast und flogen dann wie auf ein Zeichen hin gemeinsam in Richtung
Süden. Liat stand fast eine Viertelstunde vor der Tür. Die kalte Luft
ließ sie heftig frösteln.
Sie fragte sich, wie lange sie noch warten konnte, wo Itani sein
mochte und ob er wusste, was geschehen war. Dann fragte sie sich,
ob er ihr je würde vergeben können, mehr als einen Mann geliebt zu
haben. Dabei kaute sie auf ihrer Wange herum, bis es wehtat.
Hinter ihr ging die Haustür knarrend auf. Maati wirkte
geschlagen. Als er zu ihr herauskam, schob er sich das in Leder
gebundene Buch in den Ärmel.
»Gut« sagte er. »Ich muss zum Dai zurückkehren und ihm
mitteilen, dass ich versagt habe.«
Sie trat zu ihm und legte den Kopf an seine Schulter. Maati war
ganz warm, oder sie war ausgekühlter als angenommen. Einen
Moment lang erinnerte sie sich daran, wie sich Itanis starke Arme
anfühlten und wie seine Haut gerochen hatte.
»Danke« sagte sie.
Drei Wochen war der Dichter nun tot. Amat war klar, dass die
Stadt nicht drei Wochen lang den Atem hatte anhalten können. Die
Anspannung war noch immer da - die Ungewissheit und die Angst.
Sie zeigte sich auf den Gesichtern und in der Körpersprache der
Leute auf der Straße. Amat hörte sie auch im allzu lauten Lachen.
Und im zornigen Schimpfen der Trunkenbolde auf den Gassen des
Vergnügungsviertels. Doch der anfängliche Schock ließ langsam
nach. Die Zeit, die durch den plötzlichen Verlust des Andaten wie
angehalten schien, hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Und wie
vieles andere ließ auch dies Amat aus dem Schutz ihres Bordells
heraus und in die Stadt streben. In ihre Stadt.
Im grauen Winternebel waren die Straßen wie Erinnerungen.
Mitunter tauchte aus dem Dunst ein vertrauter Brunnen auf und
nahm Gestalt an. Der dunkelgrüne Stein glänzte als Schiff oder
Fisch, Adler oder Bogenschütze in der nassen Luft.
Und wenn sie ihn passiert hatte, verschwamm er hinter ihr bald zu
einem dunklen Fleck und versank im Nebel. Sie hielt an einem Stand
am Hafen, um sich frisch gebrannte Mandeln zu kaufen. Die Frau,
der sie ein Kupferstück gab, nickte dankbar. Amat ging an den Kai,
sah im Dunst auf die kaum auszumachenden Wellen und
konzentrierte sich auf die vielen Gerüche, die es hier gab. Es roch
nach Salz und scharf gewürzten Speisen, nach Abwasser und
Weihrauch. Mit gespitzten Lippen blies sie über die Mandeln, wie
sie es als Mädchen getan hatte, und wappnete sich für die letzte
Begegnung.
Das Haus Wilsin hatte als eines der ersten auf die Ereignisse
reagiert. Als Amat nordwärts zu Marchats Anwesen ging, kamen
ihr ständig Karren entgegen. Die Lagerhäuser wurden geräumt und
die Unterlagen in Kisten verpackt, die für Galtland und die
Westgebiete bestimmt waren. Als sie den ihr so vertrauten Hof des
Anwesens erreichte, ließen die Männer, die mit dem Abtransport
der Einrichtung beschäftigt waren, sie an einen Ameisenpfad
denken. Sie hielt am aus Bronze gefertigten Galtischen Baum und
betrachtete ihn widerwillig, zu ihrem Erstaunen aber auch amüsiert.
Auch sie hatte offenbar keine drei Wochen lang den Atem
angehalten.
»Amat-cha?«
Sie drehte sich um. Die Willkommensgebärde ihres so
schmalgesichtigen wie hasenfüßigen Nachfolgers Epani wurde
durch seine unbehagliche Miene Lügen gestraft. Amat antwortete
mit einer Gebärde, die anmutiger und angemessener war.
»Sagt ihm bitte, dass ich ihn sprechen möchte.«
»Er ist nicht … das heißt »Epani-cha, geht und meldet ihm, dass
ich gekommen bin und ihn sprechen will. Ich werde das Anwesen in
der Zwischenzeit schon nicht niederbrennen.«
Womöglich hatte diese spitze Bemerkung ihm Beine gemacht.
Jedenfalls verschwand er im Gebäude. Amat ging zum Brunnen und
lauschte dem Plätschern des Wassers wie einem alten Freund.
Jemand hatte die Kupferstücke, die als Glücksbringer im Becken
gelandet waren, herausgefischt. Das Haus Wilsin ließ eben nichts
zurück.
Epani kam wieder und führte sie wortlos über vertraute Flure zu
Wilsins Besprechungszimmer. Es wirkte so düster wie immer.
Marchat saß am Tisch. Zusätzlich zum kühlen Licht, das durch das
kleine Fenster fiel, war eine Laterne angezündet worden, die einen
warmen, orangefarbenen Schein gab. Mit einer bläulichen und einer
rötlichen Gesichtshälfte schien er fast aus zwei Personen zu
bestehen. Amat grüßte ihn ehrerbietig. Wilsin hieß sie mit unsicher
wirkender Gebärde willkommen.
»Ich hätte nicht gedacht, dich noch mal zu sehen« sagte er
misstrauisch.
»Und doch bin ich gekommen. Wie ich sehe, nimmt das Haus
Wilsin die Beine in die Hand. Darüber spricht man überall. Das ist
schlecht fürs Geschäft, Marchat-cha. Es sieht nach schwachen
Nerven aus.«
»Es sieht nicht nur so aus« sagte er und machte keinen Versuch,
die Lage zu beschönigen. »In Saraykeht zu bleiben, ist zu riskant
geworden. Mein Onkel hat mich zurück nach Hause beordert. Er
hatte wohl einen lichten Moment, und was er gesehen hat, dürfte
ihm Angst gemacht haben. Was wir bis zum Frühjahr nicht
weggeschafft haben, werden wir mit Verlust abstoßen. Das
Unternehmen wird Jahre brauchen, um sich von diesem Rückschlag
zu erholen. Und ich werde natürlich erst mit dem letzten Schiff die
Stadt verlassen. Nun, bist du gekommen, um mir zu sagen, dass du
vor dem Khai Anklage gegen mich erheben wirst?«
Amat gab ihm mit lässiger Gebärde zu verstehen, er möge sich
klarer ausdrücken. Das war ironisch gemeint, und Marchats
verlegenes Lächeln zeigte ihr, dass ihm dies nicht entgangen war.
»Meine Position ist nicht mehr so stark, seit das Opfer, das die
Herzen der Utkhais so wunderbar hätte rühren können, den Dichter
getötet und die Stadt in eine tiefe Krise gestürzt hat. Ich habe
einiges an Glaubwürdigkeit verloren.«
»War das Inselmädchen wirklich die Täterin?«
»Ich weiß es nicht genau. Vermutlich.«
»Ich würde dich ja bedauern, aber…«
Amat hatte die Jahre nicht gezählt, die sie mit Marchat an Tischen
wie diesem oder im Badehaus oder auf Spaziergängen durch die
Stadt verbracht hatte, doch sie spürte, dass diese lange Zeit und ihre
Gewohnheiten ihren Körper und ihren Geist gezeichnet hatten. Sie
setzte sich mit einem schweren Seufzer und schüttelte den Kopf.
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte sie. »Aber wer würde mir
noch glauben? Und wozu sollte das heute gut sein?«
»Vielleicht würde ein anderer Khai dir Gehör schenken.«
»Wenn Ihr das glauben würdet, hättet Ihr mich längst töten
lassen.«
Wilsins Miene wurde düster. Seine faltigen Augenwinkel zeugten
von Schmerz. Oder von Trauer.
»Freude hätte ich daran keine« sagte er schließlich.
Trotz der ehrlichen Antwort lachte Amat. Oder vielleicht gerade
weil seine Antwort so ehrlich gewesen war.
»Wohnt Liat Chokavi noch bei dir?« fragte Marchat und machte
dann eine beschwichtigende Gebärde. »Keine Sorge - ich habe bloß
noch eine Kiste mit ihren Sachen. Kann sein, dass auch das eine oder
andere darin gelandet ist, was nicht ihr gehört. Ich möchte das nicht
als Abfindung bezeichnen, aber …«
»Leider nicht«, sagte Amat. »Ich habe ihr eine Stelle angeboten
und hätte eine fähige Mitarbeiterin für die Buchführung gut
brauchen können, aber sie hat sich mit dem Dichterlehrling auf den
Weg gemacht. Es scheint die große Liebe zu sein.«
Marchat lachte leise. »Das wird ein böses Erwachen geben«,
meinte er mit erstaunlich mildem Spott.
»Lasst Epani eine Kanne Tee bringen« sagte Amat. »Damit er sich
mal nützlich macht. Wir müssen etwas Geschäftliches besprechen.«
Marchat tat, worum sie gebeten hatte, und Minuten später hatte
sie eine kleine, wunderhübsche Schale mit dampfendem Tee in der
Hand. Marchat schenkte auch sich eine Tasse ein, trank sie aber
nicht. Stattdessen faltete er die Hände und stützte sein großes,
bärtiges Haupt darauf. Sein Schweigen war kein durchtriebener
Schachzug - das sah sie deutlich. Er wusste einfach nicht, was er
sagen sollte. Also musste sie das Spiel eröffnen.
»Ich will etwas von Euch« sagte sie.
»Mal sehen, was ich tun kann.«
»Eure Lagerhäuser am Nantan - ich möchte sie gern mieten.«
Er lehnte sich zurück und neigte den Kopf zur Seite - wie ein
Hund, der ein ungewohntes Geräusch gehört hat. Dann machte er
eine fragende Gebärde. Amat nippte an ihrem Tee, doch er war
noch zu heiß. Also stellte sie die Schale auf den Tisch.
»fetzt, wo der Andat verschwunden ist, will ich in eine
Baumwollkämmerei investieren. Ich habe zehn Männer gefunden,
die schon Baumwolle ausgekämmt haben, als Blütenfall noch Andat
von Saraykeht war. Sie wollen als Vorarbeiter anfangen. Das
Problem sind die anfänglichen Aufwendungen und die ersten
Verträge. Ich habe Leute an der Hand, die in so einen Betrieb
investieren würden, falls ich geeignete Gebäude finde. Sie sind
beunruhigt darüber, dass ich mich im Streit von meinem
langjährigen Arbeitgeber getrennt habe. Wenn Ihr mir die
Lagerhäuser am Nantan vermietet, kann ich zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen.«
»Aber Amat …«
»Ich habe verloren« sagte sie. »Ich weiß es, und Ihr wisst es auch.
Ich habe getan, was ich konnte, aber die Sache ist mir entglitten.
Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder erhebe ich die Anklage
trotzdem, säe bei all denen, die mir noch zuhören, möglichst viel
Misstrauen gegenüber den Galten und untergrabe so den Rest
meiner Glaubwürdigkeit. Oder ich baue dieses Unternehmen auf,
sorge dafür, dass die Bewohner unserer Stadt nicht den Mut
verlieren und stifte Frieden zwischen Leuten, die sich lange als
Gegner betrachtet haben. Beides zugleich geht jedenfalls nicht. Die
Leute dürfen nicht sagen, ich sei eine alte Frau, die sich vor Schatten
ängstigt, während ich versuche, Weber und Seiler, die einander seit
drei Generationen spinnefeind sind, zu versöhnen.«
Marchat Wilsin hob die Brauen. Sie beobachtete, wie er sie
musterte. Schuld und Angst, Enttäuschungen und Drohungen fielen
kurz von ihnen ab, und wie in ihren besten Zeiten waren sie wieder
Spieler in einem wechselseitigen Geben und Nehmen. Das machte
Amat das Herz schwer, doch sie ließ es sich genauso wenig
anmerken, wie Marchat seine Gefühle zeigte. Die Flamme der
Laterne zischte, flackerte und brannte dann ruhig weiter.
»Das wird nichts« sagte er schließlich. »Sie werden nicht von ihren
überkommenen Vorurteilen ablassen, sondern es schaffen, einander
die Hände zu schütteln und sich gleichzeitig übers Ohr zu hauen. Du
willst, dass sie gemeinsam für die Stadt einstehen? In den
Westgebieten, in Galtland und auf den Inseln könntest du damit
eine Chance haben. Aber in den Sommerstädten? Niemals!«
»Ich gebe mich erst geschlagen, wenn ich geschlagen bin«,
entgegnete Amat.
»Aber denk daran, dass ich dich gewarnt habe. Was bietest du mir
für die Lagerhäuser?«
»Sechzig Silberstücke pro Jahr und fünf Prozent vom Gewinn.«
»Das ist beleidigend wenig, und das weißt du.«
»Ihr habt nicht einberechnet, dass es mich davon abhält, aller Welt
zu erzählen, was der Galtische Rat im Sinn hatte, als er sich mit
Samenlos gegen den Dichter verbündete. Das allein wäre schon ein
guter Preis für die Gebäude, aber wir sollten den Schein wahren,
findet Ihr nicht?«
Er dachte darüber nach. Als sich seine Mundwinkel ein wenig
hoben und er ein kleines Lächeln sehen ließ, wusste sie, dass sie
gewonnen hatte.
»Und du glaubst wirklich, daraus ein gewinnbringendes
Unternehmen machen zu können? Baumwollsamen auszukämmen ist
eine äußerst unangenehme Tätigkeit.«
»Ich kenne jede Menge Frauen, die diese Arbeit gern anstelle eines
weit unangenehmeren Broterwerbs machen würden«, sagte Amat.
»Ich denke, es wird hervorragend laufen.«
»Und wenn ich mit deinem Vorschlag einverstanden bin -
Marchats Stimme war plötzlich weicher geworden, und es war
deutlich, dass die Verhandlungen unversehens die eingefahrenen
Wege verlassen hatten - »…vergibst du mir dann?«
»Ich denke, über Dinge wie Vergebung sind wir hinaus«, sagte sie.
»Wir sind Diener dessen, was wir zu tun haben. Nicht mehr und
nicht weniger.«
»Mit dieser Antwort kann ich leben. Gut, dann lasse ich Epani die
Verträge aufsetzen. Sollen wir sie dir ins Bordell schicken?«
»Ja«, sagte Amat. »Das wäre gut. Danke, Marchat-cha.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun konnte«, erwiderte er und
trank von seinem nur noch lauwarmen Tee. »Und zugleich wohl
auch das Äußerste. Ich glaube kaum, dass mein Onkel gleich
verstehen wird, warum ich mich darauf eingelassen habe. Galtische
Geschäfte sind nicht ganz so raffiniert wie die Abschlüsse, die hier
in Saraykeht üblich sind.«
»Das liegt daran, dass Eure Kultur noch nicht ganz aus dem Ei
gekrochen ist«, sagte Amat. »Wenn ihr erst mal tausend Jahre
Herrschaft hinter euch habt, dürften die Dinge anders liegen.«
Marchats Miene wurde verdrießlich, und er schenkte sich noch mal
Tee ein. Amat schob ihm ihre Schale hin, und er beugte sich vor, um
sie zu füllen. Der dampfende Tee ließ das hauchfeine Porzellan
knistern.
»Es wird Krieg geben«, sagte Amat schließlich. »Zwischen den
Galten und den Sommerstädten. Eines Tages wird es Krieg geben.«
»Galtland ist eine seltsame Gegend. Ich war schon so lange nicht
mehr dort, dass ich nicht weiß, ob ich mich wieder einleben werde.
Wir verdanken dem Krieg so manches. In der letzten Generation
haben wir unser Ackerland durch Kriegszüge fast verdoppelt. Ob
du es glaubst oder nicht: Bei uns gibt es Metropolen, die den
Sommerstädten ebenbürtig sind, wobei wir unsere Geschäfte
allerdings rücksichtslos und wild entschlossen abwickeln. Man muss
wirklich mal bei uns gewesen sein, um das zu verstehen. Die
Verhältnisse dort sind ganz anders als hier.«
Amat wollte sich dazu nicht äußern, sondern forderte Marchat auf,
zu einem künftigen Krieg zwischen Galtland und den
Sommerstädten Stellung zu nehmen. Wilsin stieß einen langen
Seufzer aus.
»Ja, eines Tages wird es Krieg geben, aber wir zwei werden das
nicht mehr erleben.«
Amat dankte für diese Antwort mit einer anerkennenden
Gebärde. Marchat spielte mit seiner Teeschale.
»Amat … ehe du gehst, möchte ich dir sagen, dass ich dir einen
Brief geschrieben habe. Das war, als es aussah, als würdest du vor
dem Khai Anklage gegen mich erheben und als würde es Galtland
und mir schlecht ergehen. Diesen Brief möchte ich dir geben.«
Er bemühte sich nicht im Mindesten, seine Gefühle hinter einer
Fassade zu verbergen. Amat fragte sich, wie er als Geschäftsmann
so verschlossen und vorsichtig sein, mit seinen und ihren Gefühlen
dagegen so ungeschickt umgehen konnte. Wenn sie ihn so
weitermachen ließe, würde er ihr als Nächstes eine Stelle in
Galtland anbieten. Und trotz allem würde ein Teil ihres Wesens
bedauern, dieses Angebot abzulehnen.
»Behaltet ihn erst einmal. Ich hole ihn mir später.«
»Wann?« fragte er, während sie sich erhob.
Sie antwortete ihm sanft, damit er ihre Worte nicht als Beleidigung
auffasste, sondern als Ausdruck geteilter Trauer. Schließlich hatten
die Ereignisse der letzten Monate zu gewaltigen Opfern geführt, zu
denen auch das einst so gute Verhältnis zwischen ihnen beiden
gehörte.
»Vielleicht nach dem Krieg. Dann könnt Ihr ihn mir geben.«
Im Traum fand Otah sich an einem Ort wieder, der eine seltsame
Mischung aus Bade- und Lagerhaus war. Es herrschte reges
Kommen und Gehen. Die Leute waren guter Dinge, und ihre
Gespräche plätscherten angenehm vor sich hin. Erschrocken
entdeckte Otah plötzlich Heshai in der Menge, der sich wie ein
Lebender bewegte und unterhielt, aber eindeutig tot war. In der
Logik des Traums ließ diese flüchtige Wahrnehmung eine Welle der
Panik über Otah zusammenschlagen.
Er fuhr hoch und rang nach Atem. Mit weit aufgerissenen Augen
starrte er in die verwirrende Finsternis. Erst als sein Herz
langsamer klopfte und er allmählich wieder regelmäßig atmete,
brachten ihm das Knarren des Schiffes und der Wellengang zu
Bewusstsein, wo er sich befand. Er presste die Daumenballen an die
Lider, bis bleiches Licht kam. Einen Meter unter ihm murmelte Maj
im Schlaf.
Die Kabine war winzig - zu niedrig, um aufrecht darin zu stehen,
und kaum groß genug, um zwei Hängematten übereinander zu
befestigen. Wenn er die Arme ausstreckte, konnte er die Hände
gegen die geölten Holzwände drücken. Für ein Kohlebecken war
kein Platz, weshalb sie in ihren Sachen schlafen mussten. Behutsam
schlüpfte er aus seiner Hängematte, erreichte den Boden, ohne Maj
zu wecken oder sie auch nur zu berühren, und verließ die
sargähnliche Kabine, in der ihn ständig Alpträume heimsuchten, um
an Deck zu gehen und im Mondlicht frische Seeluft zu atmen.
Die drei Männer von der Nachtwache grüßten ihn, als er aus dem
Schiffsbauch kam. Otah lächelte und schlenderte zu ihnen, obwohl
er nichts mehr ersehnte, als etwas allein zu sein. Ein wenig
Geplauder, ein paar derbe Witze - diesen kleinen Preis entrichtete er
für das Wohlwollen derer, denen er sein Schicksal anvertraut hatte.
Er zog sich bald an einen ruhigen Platz an der Reling zurück. Der
Horizont war unsichtbar, denn die Grenze von Meer und Himmel
war im Dunst verschwunden. Otah setzte sich, legte die Arme auf
das verwitterte Holz und wartete darauf, dass die Bilder seines
Traums abklangen. So hatte er es auf dieser Reise bisher jede Nacht
getan, und so würde er es wohl auch noch einige Zeit halten
müssen. Beim Wachwechsel um Mitternacht kamen drei andere
Seeleute an Deck, mit denen er ebenfalls ein paar Minuten
plauderte. Die neugierigen Seitenblicke und besorgten Mienen, die
ihm in den ersten Nächten gegolten hatten, waren verschwunden.
Die Männer hatten sich an ihn gewöhnt.
Otah schätzte, dass die Nachtkerze zu drei Vierteln
heruntergebrannt war, als Maj an Deck kam, war sich aber der
Tatsache bewusst, dass die nächtliche See das Zeitgefühl mitunter
gründlich durcheinanderbrachte. Womöglich habe ich wochenlang
auf die dunklen, von vielfach gebrochenem Mondlicht beschienenen
Wellen geschaut, und die Sonne hat einfach vergessen aufzugehen,
dachte er.
Maj schien im Mondlicht fast zu leuchten, so sehr rötete die Kälte
ihre Haut, die im Blaugrau der Nacht einen seltsam unwirklichen
Ton bekommen hatte. Das Mädchen musterte die schier unendliche
Wasserfläche, als würde sie ihr gehören, und wirkte von der Leere
ringsum unbeeindruckt. Otah beobachtete, wie sie ihn suchte und
schließlich zu ihm kam. Obwohl er wusste, dass mindestens einer
der Seeleute Nippu beherrschte, sprach keiner der Männer sie an.
Maj setzte sich neben ihm aufs Deck. Ihre hellen Augen schienen
beinahe farblos.
»Die Träume« sagte sie.
Otah nickte.
»Schade, dass wir den Handwebstuhl nicht dabeihaben, denn
dann könntest du weben«, sagte sie. »Es wäre besser, wenn du dich
mit praktischen Dingen beschäftigtest, damit die Gedanken dich
nicht auffressen.«
»Das wird schon wieder« meinte er.
»Du hast Heimweh. Das weiß ich, und das sehe ich auch.«
»Vermutlich« sagte Otah. »Und ich frage mich, ob das, was wir
getan haben, richtig war.«
»Wirklich?«
Otah sah erneut aufs Wasser. Ein Fisch kam hochgeschossen und
verschwand wieder im Meer. Es ging so schnell, dass er nicht mal
den Umriss des Tieres hatte erkennen können.
»Nun« sagte er, »ich denke, wir haben das Einzige getan, was uns
übrigblieb. Aber dass es richtig war, diese Sache zu tun -«
»Ihn zu töten«, unterbrach ihn Maj. »Nenn die Dinge beim Namen.
Wir haben nicht ‘diese Sache’ getan - wir haben ihn getötet. Wer
sich scheut, die Dinge beim Namen zu nennen, räumt dem, was er
verschweigt, Macht über sich ein.«
»Na gut - dass es richtig war, ihn zu töten, lässt mir keine Ruhe.
Jedenfalls nachts.«
»Und wenn du noch mal die Wahl hättest? Würdest du dich dann
anders entscheiden?«
»Nein, ich würde ihn wieder töten. Das beunruhigt mich.«
»Du hast zu lange in großen Städten gelebt« sagte Maj. »Es ist gut,
dass du Saraykeht verlassen hast.«
Otah sah das anders, sagte aber nichts. Die Nacht rückte weiter
vor. Es würde noch mindestens eine Woche dauern, ehe sie Quian
erreichten, die südlichste der Östlichen Inseln. Ihre Ladung - edle
Stoffe und Gewänder aus Saraykeht sowie Gewürze und
Metallarbeiten aus anderen Städten - würde erst gegen Perlen und
Muscheln getauscht werden, gegen die Felle seltsamer, nur auf den
Inseln heimischer Tiere und gegen prachtvolle Federn der dort
lebenden Vögel. Dann würden die Seeleute Fisch und
Trockenfrüchte, Holz und Sklaven an Bord nehmen. Und erst im
Vorfrühling - also in vielen Wochen und nachdem sie zuvor in
mindestens zehn Häfen vor Anker gegangen waren - würden sie
das im Norden der Inselgruppe gelegene Nippu erreichen.
Den Lohn jahrelanger Arbeit am Hafen und das, was Maati ihm
für die Reise zum Dai gegeben hatte - alles, was er besaß, hatte Otah
für diese Reise ausgegeben. Er fragte sich, was er tun würde, wenn
er in Nippu angekommen war und Maj nach ihrem langen Alptraum
wieder in die Obhut der Familie gegeben hatte.
Ich könnte als Seemann arbeiten, überlegte er. Ich weiß schon
genug, um einfache Tätigkeiten wie das Aufwickeln von Tauen oder
das Schrubben des Decks zu übernehmen. Vielleicht komme ich so
schließlich sogar in die Sommerstädte zurück … oder auch nicht.
Die Welt war voller Möglichkeiten, weil er nichts und niemanden
hatte. Und Maj hatte recht: Seine Gedanken bedrängten ihn, weil er
sich von allem Praktischen abgewandt hatte.
»Du denkst an sie«, sagte das Inselmädchen.
»An wen? An Liat? Eigentlich nicht. Jedenfalls im Moment nicht.«
»Du hast das Mädchen verlassen, das du liebst - aus Zorn auf sie
und den Jungen.«
Diese Bemerkung ärgerte ihn, doch er sagte ganz ruhig: »Was die
zwei getan haben, hat mich verletzt. Und ich vermisse Maati. Ich
vermisse sie beide. Aber …«
»Aber du erlebst deine Abreise auch als Befreiung«, sagte Maj.
»Mir geht es genauso, was mein Kind anlangt. Als ich nach
Saraykeht kam, war ich furchtbar verängstigt. Ich dachte, ich würde
dort nie hinpassen, nie dazugehören und nie eine gute Mutter sein,
wenn meine Itiru mir nicht erzählt, wie sie sich um mich gekümmert
hat, als ich klein war. All die Sorgen, die ich mir gemacht habe!
Ganz umsonst! Alles zu verlieren ist nicht das Schlimmste, was
einem passieren kann.«
»Nun heißt es, von vorn anzufangen, aus dem Nichts und ohne
alles«, sagte Otah.
»Genau«, pflichtete Maj ihm bei und fügte hinzu: »Man darf nicht
nur von vorn anfangen - man muss es auch besser machen als beim
letzten Mal.«
Noch war die Sonne hinterm Horizont verborgen, ließ Himmel
und Meer im Osten aber bereits hell werden. Sie saßen da und
sahen schweigend zu, wie der Morgen heraufzog. Der milchige
Dunst verschwand, als die Sonne orangerot aus dem Meer tauchte.
Alle Seeleute waren an Deck, um singend, rufend und mit nackten
Füßen die Segel zu setzen. Otah stand auf, denn vom langen,
reglosen Sitzen tat ihm der Rücken weh. Auch Maj erhob sich,
nachdem sie ihr Gewand glatt gestrichen hatte. Als der
morgendliche Trubel seinen Höhepunkt erreichte, stieg Otah hinter
ihr ins Dunkel des Schiffsbauchs hinab und hoffte, seinem schlechten
Gewissen ein paar Stunden Schlaf abluchsen zu können. Doch seine
Gedanken kehrten immer wieder zu der leeren, ungewissen
Zukunft zurück, die vor ihm lag. Und zu der Stadt, die er verlassen
hatte und deren Bewohnern erst langsam klar wurde, dass sie am
Ende war.