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Was versteht die Medizin unter Krankheit? Lebensweltlicher und


wissenschaftlicher Krankheitsbegriff

Research · September 2015

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Peter Hucklenbroich
Universitätsklinikum Münster
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PETER HUCKLENBROICH

Was versteht die Medizin unter Krankheit?


Lebensweltlicher und wissenschaftlicher Krankheitsbegriff

1. Einleitung

Die Ausdrücke „Gesundheit“ und „Krankheit“, ebenso die Adjektive „gesund“ und „krank“,
gehören unserer alltäglichen Lebens- und Arbeitswelt an und werden von jedem kompetenten
Sprecher des Deutschen verstanden und ohne Schwierigkeiten verwendet. Zugleich ist der
Begriff der Krankheit aber auch der zentrale Begriff einer Wissenschaft und der darauf
gegründeten Praxis, nämlich der (wissenschaftlichen) Medizin. Als solcher Zentralbegriff ist
er ein theoretischer Begriff – ein Begriff, in dessen Bedeutung teilweise hochkomplizierte,
von der lebensweltlichen Erfahrung weit entfernte Theorien und Vorstellungen eingehen.
Diesen Doppelcharakter als zugleich lebensweltlicher und theoretisch-wissenschaftlicher
Begriff teilt der Krankheitsbegriff mit den Zentralbegriffen anderer Wissenschaften, so z. B.
dem Begriff des Lebens (Lebewesen, lebendig, lebender Organismus) in der Biologie und des
Stoffes (stoffliche Zusammensetzung, reiner Stoff, Gemisch, Element, Verbindung) in der
Chemie: Auch in diesen beiden Nachbarwissenschaften der Medizin werden zur Erklärung
dessen, was die Zentralbegriffe bedeuten – also was, wissenschaftlich gesehen, Leben und
Stoff eigentlich sind –, Theorien herangezogen, die auf komplizierte Vorstellungen
zurückgreifen. Dazu gehören z. B. Vorstellungen über den Aufbau der Materie aus Atomen
und Molekülen, über die innere Struktur solcher Atome, die Wechselwirkung zwischen
Elektronenhüllen von Atomen oder die autokatalytische Reproduktion komplexer Systeme
von Makromolekülen. Dieser theoretische Bedeutungskontext von Stoff und Leben ist kein
Hindernis dafür, dass die genannten Begriffe auch weiterhin in ihrem lebensweltlichen
Kontext gebraucht werden. Denn die wissenschaftlichen Begriffe sind ja keine völligen
Neuerfindungen, sondern sind aus den lebensweltlichen Begriffen heraus entwickelt worden
unter der Zielsetzung, ein möglichst genaues, vollständiges und systematisches Wissen über
den jeweiligen Gegenstandsbereich bereitzustellen, das dann wieder für lebensweltliche
Zwecke verfügbar ist. Deswegen braucht an der doppelten Verwendung solcher Begriffe kein
Anstoß genommen zu werden, solange der jeweilige Kontext klar ist und keine
Vermischungen oder Verwechslungen vorkommen.
Wenn allerdings diese Kontextabhängigkeit nicht beachtet wird, kann es leicht zu
Missverständnissen und Fehlern in der Kommunikation kommen: Vieles, was in der
Lebenswelt als ein Stoff bezeichnet wird, ist chemisch gesehen ein Gemisch oder ein
Konglomerat aus mehreren Stoffen – z. B. ein „Textilstoff“ aus verschiedenen Fasersorten
und Farbstoffen oder ein „Baustoff“ aus Holzspänen, Klebstoff, Konservierungsmitteln usw.
Vieles, was lebensweltlich nicht als ein Lebewesen oder lebendes Individuum angesehen
würde, stellt biologisch gesehen eine Erscheinungsform vollwertigen, artspezifischen Lebens
dar, z. B. auch einzelne Samen, Samenzellen und Sporen, ganze Geflechte von Pilzmycel,
oder in Kultur gehaltene Zellgewebe und Einzelzellen. Solche Bedeutungsunterschiede
zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Begriffsgebrauch können harmlos sein,
sie können aber auch zu großen Konflikten Anlass geben, z. B. wenn grundsätzliche
weltanschauliche oder ethische Positionen mit solchen Zentralbegriffen verbunden werden.1

1 Dass ein großer Teil der kontroversen bioethischen Debatten im Bereich der Reproduktionsbiologie und
Reproduktionsmedizin auf der Nichtbeachtung eines solchen Bedeutungswechsels beruht, habe ich an anderer
Stelle zu zeigen versucht, vgl. Hucklenbroich 2002.
erscheint in: Christoph Jamme et al.(Hrsg.): Krankheit und Gesundheit - Gesundheit als Utopie? Krankheit als Sinn? Zum
geistes- und medizingeschichtlichen Hintergrund ärztlichen Handelns und Forschens (im Erscheinen)
2

Besonders häufig und gravierend sind solche Missverständnisse im Bereich der Medizin, bei
den Begriffen von Krankheit, Gesundheit und den damit zusammenhängenden begrifflichen
Unterscheidungen. In diesem Bereich kann die Nichtbeachtung der Kontextabhängigkeit bis
zur Entwicklung ganzer philosophischer Theorien führen, die eine vermeintliche Unklarheit,
Unvollständigkeit oder Unkorrektheit der wissenschaftlichen Begriffsbildung beheben sollen
– während in Wirklichkeit nur der Unterschied zwischen lebensweltlicher und
wissenschaftlicher Begrifflichkeit übersehen worden ist.
Die folgende Darstellung soll die wichtigsten Unterschiede zwischen lebensweltlichem
und wissenschaftlichem Gebrauch der Begriffe von Krankheit und Gesundheit aufzeigen.
Insbesondere werde ich auf solche Unterschiede aufmerksam machen, die erfahrungsgemäß
zu Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten führen können, und Argumente für
deren Vermeidung oder Behebung aufzeigen. Dabei werde ich nicht auf irgendeine
philosophische oder sozialwissenschaftliche Theorie der Lebenswelt rekurrieren und auch
nicht versuchen, die Sprache der Lebenswelt durch Definitionen oder ähnliche Maßnahmen
zu fixieren. Vielmehr werde ich so vorgehen, dass ich den wissenschaftlichen Sprachgebrauch
der Medizin möglichst genau schildere, woraus sich bereits indirekt viele Unterschiede zum
lebensweltlichen ersehen lassen. Einige wichtige Unterschiede spreche ich dann noch einmal
direkt an, indem ich sie in die Form von typischen, oft gestellten Fragen und den Antworten
der Medizintheorie darauf kleide.

2. Allgemeine und spezielle Krankheitsbegriffe; Krankheiten und Kranksein

In der Lebenswelt spielt die allgemeine Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit,
die besonders durch die Verwendung der Adjektive – krank und gesund – betont werden
kann, eine deutlich größere Rolle als in der Medizin: In den praktischen Bezügen des Alltags-
und Arbeitslebens außerhalb der Medizin interessiert meistens nur, ob ein Mensch als solcher,
als Individuum eben krank ist oder nicht – denn daraus pflegen dann direkt praktische Folgen
für die Mitwelt zu erwachsen, während die Details einer Erkrankung primär nur für den Arzt
bzw. die medizinische Behandlung von Bedeutung sind. Für die Medizin und den
behandelnden Arzt ist dagegen viel wichtiger, welche Krankheit der Betroffene hat, welche
Diagnose zu stellen ist, da sich erst daraus der zu erwartende Krankheitsverlauf und die
Behandlungsmethode ergeben. Dementsprechend wenig Aufmerksamkeit wird in der
wissenschaftlichen Medizin der expliziten Definition (Nominaldefinition) eines allgemeinen
Krankheitsbegriffs gewidmet. Er wird in der Regel als implizit definiert behandelt, etwa in
dem Sinne, dass ein Mensch krank ist, wenn er irgendeine bestimmte Krankheit hat, oder
wenn eindeutig krankhafte Zustände, Vorgänge oder Ereignisse vorliegen, wie sie in der
allgemeinen Pathologie, Pathophysiologie und Symptomatologie katalogisiert sind. Für die
praktischen Zwecke, insbesondere die sog. "Krankschreibung", werden statt des
Krankheitsbegriffs primär die Begriffe der Arbeitsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit und
der Invalidität bzw. des Behinderungsgrades gewählt, die für den gewünschten
Verwendungszweck genauer und daher geeigneter sind.
Das bedeutet übrigens nicht, dass die allgemeine Unterscheidung zwischen gesund und
krank für die Medizin unwichtig oder sogar entbehrlich wäre, wie manche Theoretiker folgern
zu müssen glauben:2 Vielmehr ist die Rolle dieser Unterscheidung primär eine strukturelle,
die für die gesamte medizinische Theorie- und Begriffsbildung durchaus konstitutiv ist, sich
aber eben nicht in einer detaillierten, nominalen Einzelbegriffsdefinition, sondern vielmehr in
der Architektonik des medizinischen Wissens insgesamt ausdrückt.3

2 Hesslow 1993; Wiesing 1998.


3 Hucklenbroich 2012b; 2013, S. 15 ff., 25-39.
3

Zwar kennt auch die Lebenswelt eine Vorstellung von Einzel-Krankheiten, die im Plural
auftreten, und kennt Beispiele für verbreitete solche Krankheiten – wie Grippe, Herzinfarkt,
Beinbruch; auch ist geläufig, dass man solche Krankheiten in bestimmte Gruppen oder
Kategorien einteilen kann, z. B. in Kinderkrankheiten, Infektionen oder Herzerkrankungen.
Dass hinter diesen Krankheitsbezeichnungen und Kategorien aber eine Systematik steht, und
nach welchen Prinzipien sich diese Systematik richtet, das überschreitet eindeutig den
Horizont des lebensweltlichen Allgemeinwissens. Die wissenschaftliche Medizin fängt aber
sozusagen an dieser Stelle erst an, d. h. man kann von einem wissenschaftlichen Verständnis
erst dann sprechen, wenn Krankheiten und Krank-Sein im Rahmen eines Systems von
Kriterien und Theorien geordnet, voneinander unterschieden und erklärt werden können. Dies
ist auch eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung einer zielgenauen, dem
Einzelfall angepassten und wirksamen Therapie. Man kann aus diesen Gründen den
Unterschied zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Krankheitsbegriff pointiert
so ausdrücken, dass in der Lebenswelt das Krank-Sein im Vordergrund steht, während in der
Wissenschaft die vielen einzelnen Krankheiten interessieren. Allerdings sollte man diesen
Unterschied nicht zu einem Gegensatz hochstilisieren, da sich beide Betrachtungsweisen
keineswegs ausschließen. Dass bisweilen sogar gegen den wissenschaftlichen
Krankheitsbegriff polemisiert wird, weil er angeblich dazu verleite, die Individualität des
Krank-Seins zu übersehen, übersieht selbst, dass sich die den beiden Begriffen
zugrundeliegenden Betrachtungsweisen in der ärztlichen Praxis ergänzen müssen und daher
komplementär sind.
Für die weitere Klärung dieser begrifflichen Verhältnisse ist es notwendig, die hinter dem
wissenschaftlichen Krankheitsbegriff stehende Systematik genauer zu betrachten. Im nächsten
Abschnitt wird daher relativ ausführlich die Grundstruktur der Krankheitslehre dargestellt,
indem sieben konstitutive Prinzipien formuliert und erläutert werden. Diese Darstellung wird
zugleich zeigen, dass und wie weit die wissenschaftliche Krankheitslehre sich im Laufe ihrer
Entwicklung vom vorwissenschaftlich-lebensweltlichen Krankheitsverständnis entfernt hat.

3. Begriffliche und theoretische Struktur der Krankheitslehre: Sieben Prinzipien

Der Begriff der Krankheit ist, wie eingangs beschrieben, der zentrale Begriff der Medizin.
Dies ist nun zu differenzieren: Die medizinische Krankheitslehre kennt nicht die Krankheit –
im Singular – , sondern viele verschiedene Zustände und Vorgänge, die alle als Krankheiten –
im Plural – bezeichnet werden. „Krankheit“ ist also ein Universalbegriff (Prädikat), der sich
bezieht auf Zustände und Vorgänge wie Grippe, Herzinfarkt, Leistenbruch oder Panikattacke;
von diesen Zuständen und Vorgängen kann gesagt werden, dass sie Krankheiten sind. Damit
werden sie unterschieden von anderen Zuständen und Vorgängen am und im menschlichen
Organismus, die keine Krankheiten sind, wie Atmung, Verdauung, Schlaf oder
Schwangerschaft. Letztere Vorgänge werden auch als physiologische Vorgänge (oder
Funktionen) bezeichnet und von den ersteren als den pathologischen unterschieden.
Eine weitere Unterscheidung ist zu beachten und terminologisch festzuhalten: Liegt ein
konkreter Fall von – z. B. – Grippe bei einem Patienten vor, ist das eine Krankheit; betrachten
wir dagegen die Grippe als Krankheit im allgemeinen, so reden wir von der Krankheitsentität
Grippe (Influenza). Statt von Krankheitsentitäten wird wahlweise auch von Krankheits-
einheiten oder nosologischen Entitäten gesprochen; diese drei Ausdrücke sind in der heutigen
Systematik und Terminologie gleichbedeutend, da nicht mehr wie in früheren Formen der
Krankheitslehre angenommen wird, dass sich Krankheitsentitäten als selbständige
Wesenheiten oder Lebewesen von den betroffenen menschlichen Organismen ablösen
können, sondern dass sie Typen oder Muster von Vorkommnissen im Leben menschlicher
Organismen sind. Dies ist ganz analog zu sehen wie bei den physiologischen Vorgängen:
4

Niemand würde auf die Idee kommen, dass z. B. Verdauung oder Schlaf (auch) als
selbständige Wesenheiten existieren, d. h. ohne jemanden, der verdaut oder schläft.4 Ebenso
wenig gibt es ein rheumatisches Fieber oder eine intestinale Blutung ohne jemanden, der
fiebert oder blutet, oder eine Grippe und einen Herzinfarkt ohne jemanden, der diese
jeweilige Krankheit hat. Terminologisch ist daher festzuhalten, dass mit „Krankheit“ immer
der Einzelfall, die Instanz eines allgemeinen Typus oder Musters gemeint sein soll; letzteres
Muster wird im folgenden terminologisch immer als Krankheitsentität bezeichnet.
Unterscheidungen wie die bis hierhin genannten werden in der Philosophie der Medizin in
der Regel als ontologische Unterscheidungen bzw. als eine Sache der Ontologie der Medizin
betrachtet.5 Nimmt man diese Betrachtungsweise auf, dann kann man sagen, dass die
Krankheitslehre der heutigen Medizin eine bestimmte Ontologie impliziert, die sich z. B. von
der Ontologie der sog. „Naturhistorischen Schule“ der Medizin um 1830 unterscheidet.6 Es
steht der philosophischen Interpretation allerdings nicht frei, den Krankheitsbegriff und die
heutige Krankheitslehre nach eigenem Ermessen mit einer anderen ontologischen Position zu
verknüpfen, wenn sie sich nicht in Widerspruch zum wissenschaftlich-medizinischen
Erkenntnisstand setzen will.
Im folgenden wird immer kurz von der (medizinischen) Krankheitslehre gesprochen, wenn
die Gesamtheit des theoretisch-medizinischen Wissens über den menschlichen Organismus im
Hinblick auf Krankheit und Gesundheit gemeint ist. Ich schließe also insbesondere die sog.
Orthologie, d. h. die Lehre von der normalen, gesunden Anatomie, Physiologie, Biochemie
und Psychologie, in den Begriff "Krankheitslehre" ein, da die Orthologie sich zwar begrifflich
und analytisch, nicht aber erkenntnistheoretisch von der Krankheitslehre im engeren Sinne,
der Pathologie, trennen lässt. Das Ziel der im folgenden angegebenen 7 Prinzipien ist, eine
kurz gefasste, konzentrierte Übersicht über die grundlegenden Begriffe und zentralen
theoretischen Grundsätze auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens zu geben.

Prinzip 1. Die Krankheitslehre hat das individuelle menschliche Leben in seiner


Gesamtheit, unter dem Aspekt von Krankheit und Gesundheit, zum Gegenstand.

Das heißt: Als Einheit der theoretischen Betrachtung gilt prinzipiell das gesamte Leben eines
individuellen Menschen, von der Zeugung bis zum Tod. Leben ist hier also extensiv, als eine
zeitlich ausgedehnte, individuelle Biographie oder ein Lebenslauf, verstanden. Das gilt auch
dann, wenn im konkreten Fall nur ein Ausschnitt, eine Episode oder ein Zeitpunkt aus dem
gesamten Leben betrachtet wird, weil man den Rest aus guten Gründen vernachlässigen darf.
Die Theorie betrachtet aber immer nur die allgemeinen, d. h. verallgemeinerten oder
verallgemeinerbaren Aspekte individueller Lebensläufe in allen ihren möglichen Varianten,
soweit sie hinsichtlich Krankheit und Gesundheit relevant sind. Einzelschicksale bzw.
einzelne Individuen werden immer als "Fälle", d. h. Einzelfälle genereller Kategorien
betrachtet.

4 Um einem möglichen Einwand zuvorzukommen: Es ist allerdings in vielen Fällen möglich, physiologische und
pathologische Vorgänge im Experiment künstlich zu isolieren und außerhalb oder getrennt von einem
individuellen Organismus zu studieren, z. B. eine "Verdauung" im Reagenzglas ablaufen zu lassen, die
"Herzfunktion" an einem isolierten Herzpräparat zu messen oder die "Vergiftung" einzelner lebender Zellen
unter dem Mikroskop.zu beobachten. Diese experimentelle Isolierbarkeit von Vorgängen bedeutet aber natürlich
nicht, dass die jeweils assoziierte Funktion oder Krankheitsentität dadurch verselbständigt und als eigene
lebendige Wesenheit etabliert worden sei.
5 Vgl. z. B. Boorse 2011, Schramme 2012.
6 Zur Naturhistorischen Schule vgl. Bleker 1981.
5

Beispiel: In der Theorie gibt es beispielsweise die Kategorien "30jährige weibliche Person ohne
Vorerkrankungen"7 oder "Zustand nach erstmaliger Schwangerschaft und Geburt ("Primipara"),
Dass diese Kategorien auf Frau Anna Mustermann zutreffen, die gerade vor ihrem Hausarzt
sitzt, ist nicht mehr Sache der Theorie, sondern der konkreten Empirie und Praxis dieser beiden
Personen.

Die Zuwendung zum konkreten, einmaligen Individuum ist der (ärztlichen) Praxis
vorbehalten, in der die medizinische Theorie auf das Individuum angewendet wird, bzw. in
der das individuelle Schicksal im Lichte des theoretischen Wissens interpretiert wird.

Anmerkung: Der Begriff "Leben" wird auch in einer anderen Bedeutung, nämlich als eine
Eigenschaft oder ein qualitativer Zustand eines Körpers oder Wesens, gebraucht. Er ist dann
gleichbedeutend mit "lebendig" bzw. "Lebendig-Sein" Einem Stein oder Stern kommt diese
Eigenschaft prinzipiell nie zu, ein tierischer oder menschlicher Körper kann diese Eigenschaft
besitzen oder verloren haben, also sterben. Außerdem gibt es einige – selten beachtete –
Spezialfälle oder Zwischenstufen: Bei der Zeugung "entsteht" zwar (in der Regel) ein neuer
individueller Organismus mit einem Körper, hier der Zygote, aber dies ist kein Übergang von
"tot" zu "lebendig". Auch bei der Zellteilung einzelliger Mikroorganismen "endet" zwar das Leben
der "Mutterzelle", aber diese "stirbt" nicht, d. h. sie ist nicht tot und hinterlässt keine Leiche,
sondern "verschwindet". Schließlich gibt es Zwischenformen, die man als "potentielles Leben"
bezeichnen kann, z. B. Samen oder Sporen, die in ausgetrockneter Form Jahrtausende
unverändert und ohne jede Aktivität überdauern können, aber unter bestimmten Umständen
wieder zu einem lebendigen Wesen werden. Im Grenzfall könnte man auch noch Viren und
Phagen zu diesen Zwischenstufen rechnen, wenn man bereit ist, die infizierte, neue Viren bzw.
Phagen produzierende Wirtszelle als die zugehörige "Voll-Form" dieser Lebens-Vorstufen zu
sehen. All die hier aufgezählten Bedeutungsnuancen gehören nicht zum "extensiven" Begriff
des Lebens (= Lebenslauf), sondern zu der "qualitativen" Unterscheidung zwischen Leben und
Nicht-Leben.

Wenn gesagt wird, dass das Leben eines Individuums in seiner Gesamtheit von der Zeugung
bis zum Tod betrachtet wird, so ist das noch in folgenden Hinsichten zu ergänzen und zu
präzisieren:
a) Auch das "Vor-Leben" des Individuums, nämlich die Existenz und das "Schicksal" der
Keimzellen, aus denen es entstand, können noch zu seinem Leben gerechnet werden. Dass das
medizinisch sinnvoll ist, zeigt sich z. B., wenn die Keimzellen vor ihrem Zusammentreten
verändert oder beschädigt worden sind in einer Weise, die sich im späteren Leben irgendwie
auswirkt – z. B. in einer genetisch bedingten Erkrankung; oder wenn an Ei- oder Samenzelle
vor einer Befruchtung in vitro diagnostische Erkenntnisse gewonnen worden sind, die das
spätere Lebensschicksal des anschließend aus diesen Zellen gezeugten Individuums betreffen.
b) Auch das "Nach-Leben" des Individuums, nämlich in Form von postmortal noch weiter
am Leben gehaltenen Organen, Geweben oder Zellen, könnte prima facie noch zu seinem
Leben gerechnet werden, wenn diese überlebenden Teile z. B. Wirkungen in einem
Empfängerorganismus zeigen. Da allerdings das menschliche Individuum dann als tot
betrachtet wird, erscheint es begrifflich angemessener, diese überdauernden Organismusteile
als "neue" biologische Individuen anzusprechen, die von dem Spenderindividuum biologisch
– wenn auch nicht genetisch – unterschieden sind. Ähnlich würde man ja auch im Falle eines
geklonten Individuums argumentieren.
c) Das Leben eines (weiblichen) Individuums erstreckt sich natürlich auch auf die Phasen
und Zeiträume, in denen es biologisch mit einem anderen Individuum (oder mehreren) in der
speziellen Form der Schwangerschaft verbunden ist. Es handelt sich vom Augenblick der
Implantation an um eine biologische Wechselwirkung zweier unterschiedener, aber organisch

7 Systematisch betrachtet, würde diese Kategorie als zusammengesetzt dargestellt aus den Merkmalen:
Geschlecht = weiblich, Alter in Jahren = 30 und Liste der Vorerkrankungen = "keine" – also als
zusammengesetzt aus bestimmten in Universalbegriffen und quantitativen Parametern ausdrückbaren
Merkmalen.
6

verbundener Individuen. Diese Wechselwirkung kann bekanntlich auch krankhafte Formen


aufweisen, wenn z. B. von der Mutter aufgenommene Pharmaka oder Gifte auf den kindlichen
Organismus wirken, oder wenn der kindliche Organismus z. B. bei einer Extrauteringravidität
das Leben der Mutter gefährdet.
d) Das Leben des Individuums erstreckt sich auch sozusagen "nach oben" in die sozialen
Lebensgemeinschaften hinein, in denen es sein Leben führt. Hier liegen wiederum
Wechselwirkungen vor, die über "bio-psycho-soziale" und "sozio-psycho-somatische"
Interaktionswege für Leben ("Leben-Können"), Gesundheit und Krankheit bedeutsam sind.
Unter bestimmten Umständen erweitert sich hier der Gegenstandsbereich der Krankheitslehre
um Lebensgemeinschaften von Menschen und deren interne Formen und Entwicklungen:
Wenn die Entwicklung einer Lebensgemeinschaft zu einer Form geführt hat, in der die
gegenseitigen Interaktionen und Wechselwirkungen derart zyklisch rückgekoppelt sind, dass
dadurch einer, mehrere oder alle der Gemeinschaft Angehörenden in ihrem Leben oder ihrer
Gesundheit gefährdet oder beeinträchtigt werden, dann kann man diese Lebensgemeinschaft
als pathologisch verändert, gestört oder erkrankt begreifen. Als Teil der Lebensgemeinschaft
ist das betrachtete Individuum dann sowohl selbst erkrankt, als auch pathogener Faktor im
System. Die Unterscheidung zwischen pathogener Umwelt und pathologisch verändertem
Individuum lässt sich hier nicht mehr sinnvoll anwenden, da sowohl Individuum wie (soziale)
Umwelt zugleich und in derselben Hinsicht erkrankt und krankmachend sind. Solche Formen
spielen eine Rolle, wenn man z. B. Störungen in der Mutter-Kind-Dyade oder in
Familiensystemen mit psychodynamischen und systemtheoretischen Modellen erklären (und
erfolgreich behandeln) kann.

Beispiel: Das systemtheoretische Modell der Magersuchts-Familie. Das "Krankheitsbild" der


Anorexia nervosa oder Pubertätsmagersucht wird im systemtheoretischen Modell erklärt als
eine Störung, an der eine ganze Familie leidet. Dabei ist der "magersüchtige" Patient – meist
eine Patientin – nur der "Symptomträger" oder "Indexpatient", insofern er das äußerlich primär
imponierende körperliche Symptom der Abmagerung bis zum Hungertod zeigt, aber die Störung
besteht in einem zyklisch rückgekoppelten Interaktionsmuster innerhalb der Familie: Die
magersüchtige Indexpatientin ist erkrankt, insofern sie durch das Fasten ihre körperliche
Gesundheit und schlussendlich ihr Leben gefährdet; zugleich verursacht sie durch ihr Fasten
bei den Eltern massive Angst- und Erregungszustände und daraus resultierende Konflikte in der
Familie. Die Eltern wiederum leiden unter dem Zustand ihrer Tochter, der bei ihnen schlimmste
Befürchtungen weckt, und versuchen deswegen mit allen Mitteln, die Tochter zum Essen zu
bewegen. Damit verursachen sie zugleich eine Abwehrreaktion der Tochter, die ihr –
entwicklungsbedingt zunehmendes – Autonomiestreben durch die Kontrollversuche der Eltern
bedroht sieht und durch ihr Fasten, durch ihre Kontrolle über Nahrungsaufnahme und
Körpergewicht, sich ihrer Autonomie zu vergewissern sucht. Ohne eine systemische
Betrachtungsweise würde man hier vielleicht versuchen, die Tochter durch ein
verhaltenstherapeutisches Esstraining und die beiden Eltern jeweils durch eine Therapie der
Angst- und Erregungszustände zu behandeln – ohne bleibenden Erfolg, wie die Erfahrung zeigt.
Denn hier liegt als Grundstruktur ein inter-subjektiver circulus vitiosus vor, durch den das
"Krankheitsbild" bedingt und aufrechterhalten wird. Es ist in solchen Fällen sowohl begrifflich als
auch praktisch wichtig zu erkennen, dass nicht ein oder mehrere Individuen isoliert erkrankt und
daher einzeln, isoliert, zu behandeln sind, sondern dass die Lebensgemeinschaft insgesamt
erkrankt ist und daher gemeinschaftlich, als System, behandelt werden muss: Patient ist nicht
der Symptomträger als isoliertes Individuum, sondern die Familie.8

Krankheitsbilder wie die in d) geschilderte Magersuchtsfamilie zeigen, dass die


Krankheitslehre prinzipiell auch mit der Möglichkeit der Erkrankung überindividueller, inter-
subjektiver Systeme rechnen muss, auch wenn die in der bisherigen wissenschaftlichen

8 "Patient Familie" heißt ein Buch von Horst Eberhard Richter, in dem er diesen familien-systemischen Ansatz
darstellt (Richter 1970). Zur systemischen Theorie und Therapie der Pubertätsmagersucht, die oben im Text nur
stark vereinfacht dargestellt werden konnte, vgl. auch Weber/Stierlin 1989.
7

Diskussion vorgestellten Modelle dafür teilweise kontrovers oder ergänzungsbedürftig sind.9


In diesem Sinne dürfte daher eine Krankheitslehre für überindividuelle Systeme bzw.
Lebensgemeinschaften – eine "Sozialpathologie" – weiterhin eine nicht nur sinnvolle, sondern
sowohl theoretisch als auch praktisch-therapeutisch notwendige Ergänzung der
Psychopathologie sein.10

Prinzip 2. Die Krankheitslehre fasst Krankheiten als zeitlich und räumlich abgrenzbare
Anteile eines individuellen Lebens auf.

Unter den Voraussetzungen der Krankheitslehre ist es grundsätzlich möglich, dass ein
individuelles Leben völlig ohne Krankheiten verläuft. "Grundsätzlich möglich" bedeutet hier,
dass dieser Möglichkeit keines der theoretischen Prinzipien der Krankheitslehre direkt
widerspricht – auch wenn es de facto nie vorkommen sollte, dass jemand vollkommen gesund
bis zum "natürlichen" Tod lebt. Es ist aber für jedes Individuum ebenso grundsätzlich
möglich, im Laufe seines Lebens zu erkranken – einmal oder mehrmals: Jeder Mensch kann
erkranken und ist, mit einem Ausdruck von K. E. Rothschuh, pathibel; niemand ist
unverwundbar und "immun" gegen alle Krankheitsursachen. Krankheiten sind aber gegenüber
dem Leben als Ganzem immer nur Anteile, die zeitlich und/oder "räumlich" (im Organismus)
begrenzt, limitiert sind. Zwar kann eine Krankheit im Grenzfall lebenslang, als ererbte oder
von Zeugung an bestehende Erkrankung bis zum Tode "lebensbegleitend" sein, sie kann auch
"systemisch" sein, d. h. alle Zellen oder Zellgewebe betreffend; sofern aber alle Funktionen
im Organismus und somit alle Lebensfunktionen krankheitsbedingt aufgehoben wären, d. h.
sistieren würden, wäre das gleichbedeutend mit dem eingetretenen Tod. Insofern ist der
krankheitsbedingte Tod der äußerste Grenzfall von Krankheit.
Abgesehen von diesen Grenzfällen, sind Krankheiten aber begrenzte Anteile des Lebens:
Sie haben eine bestimmte zeitliche Dauer, einen Anfang und ein Ende, und sie beziehen
bestimmte anatomische Anteile und funktionelle Leistungen und Fähigkeiten des Organismus
ein und verändern diese in "pathologischer" Weise. Welche Anteile betroffen sind, wie die
pathologischen Veränderungen "aussehen" und sich bemerkbar machen, und in welchen
zeitlichen Formen dies verläuft – das macht die Eigenart der verschiedenen Krankheiten aus
und ist in extremem Maße unterschiedlich.

Beispiele: Krankheiten können extrem kurz dauernd sein: Ein Blitzschlag oder Starkstromschlag
kann evtl. nur Sekunden oder Bruchteile davon dauern, aber er kann u. U. alle Körperteile
betreffen und damit unmittelbar zum Tode führen. Oder die Reizung eines sensiblen Nerven
kann einen kurzen, starken Schmerz auslösen, ansonsten aber folgenlos bleiben. Eine
unbehandelte Tuberkulose oder Lues (Syphilis) können vom Zeitpunkt der Infektion an
lebenslang persistieren und in verschiedenen Organen (Lunge, Darm; Lymphknoten, Haut,
Rückenmark) akut aufflackern. Eine saisonal auftretende Pollenallergie ("Heuschnupfen") kann
regelmäßig jährlich in einer bestimmten Jahreszeit zu isolierten Symptomen an der
Nasenschleimhaut führen, ist aber als Disposition evtl. über Jahre oder Jahrzehnte konstant
vorhanden. Eine Schnittwunde im Weichteilgewebe der Fingerbeere heilt, sofern keine
Komplikationen vorliegen, innerhalb von Tagen. Nach einem moderaten Schlaganfall kann es
9 Insbesondere geht man heute bei der Anorexia nervosa davon aus, dass zusätzlich genetische Risikofaktoren
existieren, und dass die Symptomatik des Fastens sich beim Indexpatienten verselbständigen und chronifizieren
kann, womit sie sich von der familiären Interaktion abkoppelt. Vgl. die aktuelle Lehrbuchliteratur zur
Psychosomatik und Psychiatrie.
10 Es ist durchaus angebracht, vor einem möglichen Missbrauch sozialpathologischer Erklärungen zu warnen,

wie es z. B. Hermann Schmitz (2007) oder Thomas Schramme (2013) tun. Schramme hat aber zusätzlich
argumentiert, dass man die Rede von erkrankten sozialen Systemen, und damit die Notwendigkeit einer
Sozialpathologie, dadurch ganz vermeiden könnte, dass man hier ausschließlich von pathogenen sozialen
Umwelten spricht, die also nicht selbst erkrankt bzw. pathologisch verändert sind (a.a.O., S. 97 f.). Wenn man
solche Beispiele wie oben im Text angegeben betrachtet, wird man aber nicht umhin können, die Interaktionen
im System – und damit das System als Ganzes – als zugleich pathogen und pathologisch verändert zu
bezeichnen, aufgrund der hier "zirkulären" Kausalrelationen. Vgl. hierzu Watzlawick 2011.
8

im Laufe von Monaten zu einer vollständigen Erholung des Gehirns und seiner Funktionen
kommen.

Ein Individuum kann mehrere Krankheiten erleiden, auch gleichzeitig oder zeitlich
überlappend, und dann auch räumlich, d. h. anatomisch und funktionell miteinander
interferierend; man spricht von Multi-Morbidität und Ko-Morbidität. Die Interferenz von
Krankheiten impliziert eine kausale Interaktion, bei der sich die einzelnen Krankheitsbilder
stark gegenüber dem isolierten Auftreten verändern können.

Beispiel: Bei Vorliegen einer HIV-Infektion (Krankheit 1) mit schwerer Störung des
Immunsystems nehmen Infektionen mit Viren, Bakterien, Pilzen oder Parasiten (Krankheit 2)
einen sehr schweren, sogar tödlichen Verlauf, die bei immunkompetenten Personen nur zu
leichten oder sogar inapparenten Verläufen führen.

Prinzip 3. Jedes krankhafte Phänomen ist eine Krankheit oder eine Manifestation einer
Krankheit. Oder etwas genauer:
Jedes krankhafte Phänomen. das zu einem Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten
Zeitspanne bei einem Individuum auftritt, ist eine Krankheit (im oben erläuterten Sinn)
oder eine Manifestation einer Krankheit (oder mehrerer), die zu dieser Zeit bei dem
Individuum vorliegt/vorliegen.

Dies ist ein Grundprinzip der Krankheitslehre, das den Primat des Krankheitsbegriffs zum
Ausdruck bringt: Es gibt keine krankhaften Erscheinungen, Symptome oder Befunde ohne
eine Grundkrankheit, deren Teil oder Manifestation sie sind. Im Grenzfall kann das
betrachtete einzelne Phänomen mit der ganzen Krankheit zusammenfallen, aber in der Regel
ist zu unterscheiden zwischen der Grunderkrankung und vielen verschiedenen
Manifestationen, die Teile oder Symptome von ihr sind. Das bedeutet, dass man jedem
überhaupt beschreibbaren krankhaften Phänomen eine (oder mehrere gleichzeitig
vorliegende) Krankheiten zuordnen kann und muss: Für jedes krankhafte Phänomen muss
sich prinzipiell eine Diagnose stellen lassen, und diese Diagnose hat die Zuschreibung der
dem Phänomen zugrundeliegenden (Grund-) Erkrankung zum Inhalt.

Beispiel: Ein kurzfristig, für einige Minuten auftretender Brustschmerz mit Engegefühl im
Brustkorb kann als Phänomen der Angina pectoris ("Brustenge") beschrieben werden. Diese ist
jedoch keine Krankheit, sondern ein Symptom, dem prinzipiell verschiedene Grundkrankheiten
zugeordnet werden können, u. a. die Koronare Herzkrankheit (KHK), die vasospastische oder
Prinzmetal-Angina, oder die Herzphobie ("Herzneurose"). Um zu erkennen, welche
Grunderkrankung wirklich vorliegt, bedarf es differentialdiagnostischer Untersuchungen.

Beispiel: Das Krankheitsbild der Fremdkörperaspiration ist dadurch definiert, dass ein
körperfremder Gegenstand, z. B. ein Bonbon, ein Fleischbrocken oder ein kleiner Ball,
versehentlich oder durch falsches Schlucken in den Kehlkopf oder tiefer in die Luftröhre und
den Bronchialbaum gelangt. Dieses Krankheitsbild kann kompliziert und gefährlich sein, bis hin
zum Tod durch Ersticken. In einfachen Fällen wird es aber dadurch entschärft, dass der
Hustenreflex ausgelöst wird und durch den entstehenden Luftstoß der Fremdkörper wieder aus
dem Körperinneren ausgeworfen wird. Bei solchen unkritischen Verläufen besteht also die
ganze Krankheit aus dem Verschlucken und anschließenden "Aushusten" des Fremdkörpers,
was nur Sekunden dauert, so dass dieses beobachtbare Phänomen mit der "Grunderkrankung"
identisch ist. Nichtsdestoweniger ist die Fremdkörperaspiration im Allgemeinen eine echte
Krankheit, die bei schwereren Verläufen sogar tödlich endet.

Das Prinzip vom Vorrang (Primat) des Krankheitsbegriffs besagt erstens, dass, ontologisch
gesehen, Krankheiten das Vorgängige, Zugrundeliegende sind, von dem die beobachtbaren
und erfahrbaren Krankheitsphänomene eben "nur" die Erscheinungen, die Manifestationen
sind. Damit werden Krankheiten nicht etwa mystifiziert, sie sind nicht etwas prinzipiell
9

Verborgenes, sondern es wird festgestellt, dass Krankheitsphänomene in einem natürlichen


Kausalzusammenhang stehen, der als Ganzer zu betrachten ist: Die – jeweilige – Krankheit ist
ein kausal zusammenhängender Vorgang von bestimmten Erstursachen bis zum Ausgang. Im
Ablauf dieses Vorgangs – dem sog. natürlichen Verlauf oder Spontanverlauf der Krankheit –
treten mannigfache Teilvorgänge auf, die in der Regel nur zum Teil direkt beobachtbar oder
subjektiv erfahrbar sind, zum Teil nur mit sehr speziellen Untersuchungs- und Messtechniken
erkannt werden können. Diese Teilvorgänge müssen nicht spezifisch sein, sie können meist
bei mehreren oder vielen verschiedenen Krankheiten auftreten; nur ihre spezielle
Kombination und Verkettung ist krankheitsspezifisch. Beispielsweise treten Entzündungen
bestimmter Gewebe oder die Zerstörung von Körperzellen bei vielen verschiedenen
Krankheiten auf; aber welche Gewebe in welchem Ausmaß und welcher Reihenfolge
betroffen sind, welche histologische Form die Entzündung annimmt, und durch welche
Ursachen die Entzündung ausgelöst wurde, ist krankheitsspezifisch. Deswegen besagt das
Vorrangsprinzip zweitens, in erkenntnistheoretischer Wendung, dass erst wenn die
vorliegende (Grund-) Krankheit erkannt und diagnostiziert ist, die beobachtbaren und
subjektiv erfahrbaren Phänomene, ebenso wie die objektiven Untersuchungsbefunde, in den
richtigen Zusammenhang gestellt werden können. Daraus folgt drittens die bekannte
praktisch-therapeutische Grundregel, dass der Arzt die Krankheit und nicht die Symptome
kurieren soll.

Anmerkung: Um einem beliebten, aber unbegründeten Einwand gegen diese Formulierung


zuvorzukommen: Natürlich behandelt der Arzt immer den "ganzen" Patienten, d. h. eine
ungeteilte menschliche Person, die erkrankt ist. Aber das, was kuriert werden muss, ist nur der
erkrankte Anteil dieser Person, nicht der gesunde, und das ist eben die Krankheit. Es hat also
seinen guten Sinn zu sagen, der Arzt behandele eine Krankheit. Dass er dabei den Patienten
als Menschen notwendigerweise aus dem Blick verlieren müsse, ist eine durch nichts zu
begründende Unterstellung. Wenn Ärzte den Fehler machen, die Persönlichkeit und
Lebenssituation eines Patienten bei der Behandlung einer Krankheit nicht zu berücksichtigen,
ist das ein methodischer Fehler bei der Indikationsstellung und individuellen Anpassung der
Therapie und beruht nicht auf einer unzulässigen Anwendung des Krankheitsbegriffs.11

Das Prinzip vom Vorrang des Krankheitsbegriffs bekommt seine volle Bedeutung in
Verbindung mit einem weiteren Prinzip, dem Prinzip des Zusammenhangs aller Krankheiten
in einem nosologischen System. Diesem Prinzip wende ich mich jetzt zu.

Prinzip 4. Jede einzelne Krankheit ist ein Fall oder eine Instanz einer allgemeinen Art,
nämlich einer Krankheitseinheit oder Krankheitsentität. Diese Arten können nach
bestimmten Kriterien hierarchisch angeordnet werden.

Dieses sehr weitreichende theoretische Prinzip besagt nichts weniger, als dass alle Einzelfälle
von Erkrankungen individueller Personen eben Fälle, Instantiierungen von allgemeinen Arten
von Krankheiten ("species morborum") sind, und dass darüber hinaus diese allgemeinen
Arten ein System bilden, also nach bestimmten Prinzipien geordnet und eingeteilt werden
können. Diese allgemeinen Arten werden üblicherweise als Krankheitsbilder,
Krankheitseinheiten oder Krankheitsentitäten oder auch als nosologische Einheiten/Entitäten
bezeichnet. Man benennt jede Krankheitsentität mit einem Eigennamen, wie z. B. Masern,
Herzinfarkt, Schizophrenie oder Oberschenkelhalsbruch, manchmal auch mit Eponymen wie
Morbus Alzheimer oder Morbus Bechterew.

11 Die irrtümliche, meist mit erhobenem moralischem Zeigefinger vorgebrachte Anschuldigung des
Krankheitsbegriffs für therapeutisches Fehlverhalten findet sich seit der Entstehung der wissenschaftlichen
Medizin in der Literatur und in medizinphilosophischen Diskussionen, oft mit falschen philosophischen
Scheinbegründungen. Eine ausführlich ausgearbeitete Version findet sich z. B. bei Müller-Eckhard 1954.
10

Dieses Prinzip formuliert eine ontologische Aussage über den Gegenstandsbereich der
Krankheitslehre. Nur weil es möglich ist, Krankheiten als Fälle allgemeiner Entitäten zu
erkennen und dementsprechend zu bezeichnen, ist überhaupt eine intersubjektive
Verständigung und eine wissenschaftliche Erforschung von Krankheiten möglich. Ich habe
von dieser Möglichkeit in diesem Text schon ständig stillschweigend Gebrauch gemacht,
wenn ich in den Beispielen z. B. von "Koronarer Herzkrankheit" oder
"Fremdkörperaspiration" gesprochen habe: Stillschweigend habe ich dabei vorausgesetzt,
dass es diese Krankheitsbilder als allgemeine Entitäten, d. h. als Krankheitsentitäten gibt.
Diese Voraussetzung ist keineswegs selbstverständlich: Über viele Jahrhunderte, d. h. die
meiste Zeit der Medizingeschichte hinweg, wurde sie nicht geteilt, ja nicht einmal erwogen.
Erst ab dem 17. Jahrhundert wurde die Vorstellung der Existenz von "species morborum"
ernsthaft in Betracht gezogen, und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es, tatsächlich
empirisch und theoretisch tragfähige Systeme von Krankheitsentitäten zu entwickeln.
Neben der kausalanalytischen Erforschung der Ursachen und Pathogenese krankhafter
Zustände ist ihre Integration und systematische Ordnung in einer Nosologie, d. h. in einem
flächendeckenden System von Krankheitsbildern bzw. Krankheitsentitäten, die zweite große
Errungenschaft der modernen wissenschaftlichen Medizin, durch die sie sich von allen
früheren Formen und allen Medizinsystemen anderer Kulturen unterscheidet. Wichtig ist
dabei die Feststellung, dass es sich wirklich um eine flächendeckende Systematisierung
handelt, die sowohl in der Breite, mit Bezug auf die ganze Vielfalt krankhafter Phänomene
vollständig ist, als auch in der Tiefe, mit Bezug auf die morphologische und kausale
Feinstruktur, mit den Ergebnissen der Grundlagenforschung zur Deckung kommt. Dieses
Merkmal unterscheidet sie von den Systemen anderer Kulturen und Epochen, in denen auch
Taxonomien von Krankheiten oder krankhaften Erscheinungen existieren, die aber weder
empirisch vollständig sind, noch in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der
wissenschaftlichen Krankheitsforschung stehen. Da Krankheitsentitäten durch empirische
Forschung entdeckt und im Detail erklärt werden müssen, unterliegt die medizinische
Nosologie einer ständigen Weiterentwicklung und Vervollständigung, es ist also davon
auszugehen, dass weder alle existierenden Krankheitsentitäten bereits bekannt sind, noch alle
Details der bisher bekannten bereits vollständig und im richtigen Zusammenhang erkannt sind
– hier liegen die Aufgaben der Krankheitsforschung.
Wir fassen Krankheitsentitäten als etwas ontologisch fundiertes auf, also nicht als rein
konventionell konstruierte Klassen, sondern als Formen des Lebens, die durch die Struktur
des menschlichen Organismus vorgeprägt und prädeterminiert sind, auch wenn ihre
tatsächliche phänomenale Ausprägung durch die Verschiedenheit der Individuen und der
Umstände immer eine erhebliche Variabilität aufweist. Das bedeutet also, dass die
Unterscheidung zwischen verschiedenen Krankheitsentitäten letztlich immer auf eine
Unterscheidung im Gegenstand selbst, in der Struktur und Reaktionsweise des menschlichen
Organismus, zurückgeführt werden muss. Es bedeutet weiterhin, dass Krankheitsentitäten
entdeckt werden (müssen) und nicht per Beschluss oder Definition in die Welt gesetzt werden
können. Zwar ist Entdeckung wissenschaftsgeschichtlich ein viel komplexerer Vorgang als
früher gedacht wurde,12 die Analogie zur "Entdeckung" eines verborgenen Schatzes ist
ziemlich irreführend, aber der Unterschied zu einer rein konventionellen Festlegung, wie es
etwa die Namensgebung für eine neu entdeckte Krankheitsentität ist, bleibt fundamental:
Während die Frage, ob es sich bei bestimmten Phänomenen und Befunden um die
Manifestationen einer bis dato unbekannten Krankheit handelt, eine letztlich empirisch zu
entscheidende Frage ist, ist die Frage, wie diese neue Krankheit zu bezeichnen sein soll, eine
Sache der Einigung und Beschlussfassung unter Wissenschaftlern, wobei üblicherweise dem

12Hierzu ist immer noch Thomas S. Kuhns Beschreibung der Entdeckung des Sauerstoffs mustergültig, vgl.
Kuhn 1967, Kap. VI. Kuhn übertrifft in diesen Analysen noch seinen Vorgänger Ludwik Fleck (Fleck 1935) im
Hinblick auf wissenschaftstheoretische Begriffsschärfe.
11

Entdecker bzw. Erstbeschreiber das Namensgebungsrecht zugestanden wird, häufig sich aber
erst in der Praxis eine bestimmte Bezeichnung "einspielt" – solange noch keine systematische
Nomenklatur vorgeschrieben ist. Der gar nicht seltene Fall einer Doppel- oder
Mehrfachentdeckung derselben Krankheitsentität durch verschiedene Forscher unabhängig
voneinander führt dazu, dass mehrere Bezeichnungen für dieselbe Krankheit nebeneinander
existieren – ein Umstand, der das Verstehen der Nosologie für den Außenstehenden
zusätzlich erschwert.

Anmerkung: Die Namensgebung für Krankheitsentitäten beruht, in Ermangelung einer allgemein


akzeptierten Nomenklatur13, derzeit noch häufig auf historisch kontingenten Fakten, von den
zuerst auffällig gewordenen Symptomen (z. B. "Dreitagefieber") bis hin zu den Namen der
Entdecker (z. B. "Morbus Alzheimer"); sie würde aber auch bei einer systematischen
Nomenklatur der Krankheitslehre immer konventionell bleiben. Daraus aber den Schluss zu
ziehen, dass auch die Identifizierung und Unterscheidung der Krankheitsentitäten selbst
konventionell oder rein pragmatisch begründet sei, ist ein Fehlschluss. Diesen Fehlschluss
findet man schon angedeutet bei Wieland 1975, der die Heterogenität der Nosologie und ihrer
Einteilungskriterien beklagt und dies auf den angeblichen historisch-pragmatischen und
normativ-deontologischen Bedeutungsanteil im Krankheitsbegriff zurückführt. Wiesing 1996
dagegen rekurriert direkt auf die heterogene Benennung der Krankheitsentitäten und folgert
daraus die These, die gesamte Krankheitslehre sei rein pragmatisch-konventionell begründet –
woraufhin er der Medizin die Wissenschaftlichkeit bestreiten und einen "postmodernen
Pluralismus" der alternativen Medizinsysteme fordern zu müssen glaubt. Aber Wieland und
Wiesing unterlassen beide eine Analyse der begrifflichen Struktur von Krankheitsentitäten und
nosologischen Systemen und beziehen sich nur auf die Heterogenität der Kriterien für die
Einteilung und Namensgebung – ein zwar richtig beobachtetes, aber erkenntnistheoretisch und
ontologisch belangloses und daher von diesen Autoren irreführend interpretiertes Faktum.14
Insbesondere die Wissenschaftlichkeit der Krankheitslehre lässt sich auf dieser Grundlage wohl
kaum in Frage stellen.

Krankheitsentitäten haben ein "fundamentum in re", sie haben ontologischen Rang im


Gegensatz zu ihren rein konventionellen Bezeichnungen. Das heißt aber nicht und darf auch
nicht so missverstanden werden, dass Krankheitsentitäten etwas selbständig und unabhängig
von dem erkrankten Menschen Existierendes seien. Wir hatten schon darauf hingewiesen:
Ebenso wenig wie es eine Verdauung losgelöst von einem Verdauenden gibt, ebenso wenig
gibt es einen Herzinfarkt oder Oberschenkelhalsbruch ohne einen Menschen, dessen
Herzmuskel infarziert oder dessen Oberschenkelknochen frakturiert ist. Das ist eigentlich
selbstverständlich, muss aber explizit gesagt werden, um Fehldeutungen des Konzepts der
Krankheitsentität zu verhindern. Es wird noch deutlicher, wenn wir die Definition und
Struktur von Krankheitsentitäten an einigen Beispielen näher analysieren.

Prinzip 5. Krankheitsentitäten werden definiert durch eine einheitliche Kombination


von möglichen Erstursachen, von möglichen Bedingungen, unter denen diese Ursachen
auf einen menschlichen Organismus einwirken, von den möglichen Reaktionen und
Folgen im Organismus, von deren möglichen (spontanen, unbehandelten)
Verlaufsformen und von deren möglichem Ausgang.

Diese Charakterisierung der Art und Weise, wie eine spezifische Krankheitsentität definiert
wird, zeigt auf, dass es sich dabei immer um die Angabe eines ganzen Spielraums von
Möglichkeiten, von alternativen Verläufen einer identischen (allgemeinen) Krankheitsentität
handelt; Krankheitsentitäten bilden insofern Muster oder Typen für individuelle
Krankheitsverläufe. Wesentlich ist für solche Definitionen, dass sie zu disjunkten Klassen
13 Die schon länger existierenden Nomenklatur-Entwürfe SNOP und SNOMED sind noch nicht allgemein
akzeptiert und bedürfen in wissenschaftstheoretischer Hinsicht noch weiterer Diskussion. Dasselbe gilt für die
derzeitigen Entwürfe zu einer medizinischen und krankheitstheoretischen Ontologie.
14 Vgl. Wieland 1975, 100-141, und Wiesing 1996, S. 157 f. , sowie Wiesing 2004b.
12

führen, d. h. alle individuellen Verläufe oder Fälle einer Krankheitsentität müssen trennscharf
von denen anderer Krankheitsentitäten unterscheidbar sein. Begrifflich bedingte
Überlappungen darf es nicht geben, nur zeitliche und räumliche Überlappungen begrifflich
distinkter Krankheitsentitäten.15 Einige Beispiele mögen diese Art der Definition
illustrieren.16

Beispiele: Eine Erkältungskrankheit (banaler Schnupfen, common cold) ist dadurch definiert,
dass Viren bestimmter, genau angebbarer Arten in hinreichender Anzahl in die Schleimhaut des
oberen Atmungstraktes gelangen, um in deren Zellen eindringen zu können und diese zum
Absterben zu bringen. Bei immunkompetenten Personen erfolgt daraufhin eine Reaktion des
Immunsystems mit lokaler Entzündung und gesteigerter Sekretion, die eine typische
Allgemeinsymptomatik bewirkt und zur Abheilung mit Wiederherstellung der Schleimhaut
innerhalb weniger Tage führt.
Ein Herzinfarkt ist dadurch definiert, dass die Versorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff
aufgrund einer von mehreren möglichen Ursachen unter das aktuell benötigte Niveau sinkt, so
dass eine Anzahl Herzmuskelzellen absterben und im weiteren Verlauf entweder eine narbige
Reparatur erfolgt oder – bei grösseren Ausmaßen – eine von mehreren möglichen
Komplikationen (Folgekrankheiten) auftritt, die von Rhythmusstörungen über eine chronische
Herzinsuffizienz bis hin zu völligem Herzversagen (Pumpversagen) mit Kreislaufkollaps und Tod
reichen.
Ein Oberschenkelhalsbruch (Schenkelhalsfraktur, SHF) ist dadurch definiert, dass ein
mechanisches Trauma, dessen Stärke die Bruchfestigkeit der Knochensubstanz übersteigt, auf
den oberen Abschnitt des Oberschenkels ausgeübt wird, z. B. durch einen Sturz auf Hüfte oder
Gesäß, und infolgedessen der Knochen an der schwächsten Stelle bricht. Der weitere Verlauf
führt in Abhängigkeit von Art und Lage der Bruchstücke zu bestimmten Formen der Reparatur
und Wundheilung mit oder ohne bleibende Deformitäten.
Eine akute Kohlenmonoxid-Vergiftung ist dadurch definiert, dass eine so große Menge
Kohlenstoffmonoxid (CO) in die Blutbahn gelangt und sich an das Hämoglobin der roten
Blutzellen bindet, dass die Sauerstoff-Transportkapazität der verbleibenden roten Blutzellen
unter das lebensnotwendige Minimum sinkt und innerhalb von Minuten der Erstickungstod
eintritt.

Wie schon diese einfachen Beispiele zeigen, erstreckt sich die Variabilität des
Spontanverlaufs definierter Krankheiten nicht nur auf qualitative, sondern auch quantitative
Aspekte: Der Schweregrad, die Belastung und Bedrohlichkeit von Erkrankungsfällen
derselben Entität kann in weiten Grenzen variieren. Beispielsweise können ein Herzinfarkt
oder eine CO-Vergiftung im positiven Grenzfall subjektiv völlig unbemerkt bleiben – man
spricht deshalb auch von "klinisch stummen" Infarkten und "latenten" oder
"unterschwelligen" Vergiftungen – , im negativen Grenzfall können sie dagegen innerhalb
von Minuten tödlich ausgehen. Auch bei der Erkältung kennen wir unmerkliche,
"inapparente" und "massive" Verläufe, und ein Schenkelhalsbruch kann in seiner Form von
einer leichten, unbemerkten Knochenfissur bis zum Trümmerbruch reichen, und seine
Heilung kann von einem glatten neuen Zusammenwachsen bis zu starken Verkrümmungen
oder einem völligen Verlust des Zusammenhangs der Bruchstücke reichen. In praktischer
Hinsicht sind diese Verschiedenheiten des Schweregrads und Verlaufs von höchster
Bedeutung, aber für das theoretische Verständnis ist wichtig, dass es sich in allen Fällen per
definitionem jeweils um dieselbe Krankheitsentität handelt.
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Varianz in Verlauf und Schweregrad einer
Krankheitsentität nicht bedeutet, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen
Krankheitsentitäten dadurch aufgehoben würden, etwa im Sinne eines gleitenden Übergangs
ohne eindeutige Grenzen. Vielmehr ist durch die unterschiedlichen Definitionen zweier
Krankheitsentitäten eine klare Unterscheidung und Grenzziehung in jedem Fall möglich,
15 Wenn zwischen zwei zeitlich koinzidierenden, begrifflich distinkten Krankheiten kausale Wechselwirkungen
auftreten, die Verlauf und Erscheinungsbild erheblich verändern, ist allerdings zu erwägen, ob dies nicht auch
ontologisch als Auftreten einer eigenständigen komplexen Krankheitsentität aufzufassen ist.
16 Ich verzichte hierbei auf Details der pathologischen Beschreibung und gebe nur die Grundgedanken wieder.
13

jedenfalls theoretisch (in der Praxis kann es allerdings z. B. technisch-methodisch bedingte


Schwierigkeiten geben). Beispielsweise unterscheidet sich eine inapparent verlaufende
Virusgrippe von einem inapparent verlaufenden Dreitagefieber per definitionem dadurch,
dass in dem einen Fall Influenzaviren, in dem anderen Fall bestimmte Arten humaner
Herpesviren im Organismus vorhanden sind und spezifische, aber klinisch unmerkliche
Reaktionen hervorrufen, die mit einem hinreichend großen diagnostischen Aufwand
prinzipiell auch nachgewiesen und differenziert werden könnten. Für die betroffene Person ist
der Unterschied aber nicht bemerkbar, da sie nach Voraussetzung gar nichts von der
Erkrankung bemerkt.
Wenn Krankheiten, wie gerade erläutert, auch völlig inapparent und symptomfrei
verlaufen können, liegt die Frage nahe, wie sich Krankheitsentitäten dann begrifflich
überhaupt noch von Normalvorgängen oder normalen Varianten von Lebensvorgängen
unterscheiden. Muss man dann nicht die Konsequenz akzeptieren, dass auch
Vorgangsklassen, die nie zu irgendeinem Symptom führen würden – z. B. die normale
Atmung, Verdauung oder Körperbewegung – , als Krankheitsentitäten klassifiziert werden
könnten, sozusagen als Krankheitsentitäten, bei denen nur inapparente Verläufe vorkommen?
Diese Frage wird durch ein weiteres Grundprinzip der Krankheitslehre beantwortet.

Prinzip 6. Krankheitsentitäten sind dadurch gekennzeichnet, dass von den sie


definierenden Merkmalen mindestens eines Ausprägungen hat, die per definitionem
pathologisch sind. Die Pathologizität von Merkmalen ist durch ein System von
Krankheitskriterien festgelegt.

Dieses Prinzip besagt erstens, dass nur solche Lebensvorgänge Krankheitsentitäten sind, die
per definitionem, also notwendigerweise bestimmte Eigenschaften oder Merkmale aufweisen,
und zwar solche, die zumindest in bestimmten Fällen krankhaft (pathologisch) sind. Dadurch
ist ausgeschlossen, dass normale Lebensvorgänge als "generell inapparente"
Krankheitsentitäten aufgefasst werden können. Es besagt zweitens, dass es Kriterien gibt, um
zwischen krankhaft und nicht krankhaft zu entscheiden, und dass diese Kriterien ein
feststehendes System bilden. Für das Verständnis der Krankheitslehre ist daher die Kenntnis
dieses Systems notwendig. Dieses System ist in seinen Grundgedanken sehr plausibel und
leicht verständlich; diese werden im folgenden dargestellt. Die Anwendung der Kriterien auf
die Vielfalt von Lebenserscheinungen und Vorgängen im menschlichen Organismus macht
aber vielfache genaue Analysen, Präzisierungen und Differenzierungen notwendig, die nicht
in Kurzform dargestellt werden können und hier deshalb ganz übergangen werden müssen.17
Nur eine ganz zentrale Präzisierung sollte nicht unerwähnt bleiben: Lebensvorgänge, die
prima facie unter die folgenden Kriterien zu fallen scheinen, zu denen es aber keine
Alternative gibt oder wenigstens keine, die gemäß den Kriterien nicht noch klarer krankhaft
wäre, sind nicht krankhaft! Beispielsweise ist der Schlaf sicherlich ein Phänomen, das
gewisse Risiken der Schutzlosigkeit beinhaltet, so dass man das fünfte Krankheitskriterium
für erfüllt halten könnte; aber der generelle Verzicht auf Schlaf ist undurchführbar bzw. führt,
wenn er erzwungen wird, zu psychotischer Entwicklung und schließlich zum Tode. Daher ist
der "natürliche" (nicht künstlich erzwungene oder im Rahmen einer Erkrankung als Symptom
auftretende) Schlaf nicht krankhaft. Dieses Ausnahme-Kriterium gilt auch z. B. für Kindheit,
Alter, Schwangerschaft als Lebensphasen und für den Sexualdimorphismus.
Der Grundgedanke, der den Kriterien für Krankhaftigkeit zugrunde liegt, ist dieser: Das
Auftreten, bzw. häufig auch das Nicht-Auftreten oder der Verlust, von bestimmten
17 Eine vollständige Darstellung der Anwendung der Krankheitskriterien würde nicht weniger als eine
komprimierte Darstellung der gesamten Krankheitslehre erfordern, was jeden Umfang sprengen würde. Man
kann aber nahe liegende Fehlauffassungen und Missverständnisse durch einige weitergehende Erläuterungen
vermeiden, was ich an anderer Stelle versucht habe, vgl. Hucklenbroich 2007a, 2007b, 2008, 2010, 2011, 2012a,
2012b, 2012c, 2013.
14

Lebensvorgängen oder der Fähigkeit zu bestimmten Lebensvorgängen ist dann krankhaft,


wenn es das Leben oder Leben-Können in irgendeiner Hinsicht bedroht. Dieser Gedanke wird
durch die einzelnen Kriterien konkretisiert: Lebensvorgänge und Zustände im Organismus –
einschließlich von Zuständen des Fehlens oder Verlustes von Zuständen und Fähigkeiten –
sind krankhaft, wenn sie
1. unmittelbar zum Tode oder zur Verminderung der Lebenserwartung führen
2. mit Schmerz oder körperlich-seelischen Beschwerden verbunden sind
3. die Fähigkeit zur Fortpflanzung beeinträchtigen
4. die Fähigkeit zum Zusammenleben in den lebensnotwendigen Gemeinschaften
beeinträchtigen
5. die Gefahr, dass eines dieser Kriterien zutrifft, erhöhen.

Jedes dieser fünf Kriterien ist hinreichend für Krankhaftigkeit, obgleich nicht selten mehrere
zugleich erfüllt sind. Es ist auch einsichtig, dass alle eine bestimmte Art der Bedrohung des
Lebens oder der Lebensfähigkeit zum Ausdruck bringen. Dass dies auch bei Kriterium 2
zutrifft, sieht man, wenn man sich klar macht, was mit körperlich-seelischen Beschwerden
genau gemeint ist: Es geht neben Schmerz in jeder seiner Formen um solche Phänomene wie
Atemnot, Übelkeit, Heißhungerattacken, Panikanfälle, Schwindel, Ohnmacht,
Schlafstörungen, Tinnitus (Ohrgeräusche), Anhedonie (Unfähigkeit, sich zu freuen), und noch
sehr viele weitere Beschwerden, die in der medizinischen Symptomatologie systematisch
erfasst sind. Für alle diese Phänomene gilt, dass sie
a) entweder die sinnfällige Anzeige einer Gefährdung des Lebens oder der körperlichen
Integrität sind (Schmerz, Atemnot, Übelkeit)
b) oder eine solche Anzeige fälschlicherweise vortäuschen und damit selbst zur Gefahr und
zu biologisch widersinnigem Leiden werden (Heißhunger, Panik, Tinnitus)
c) oder den Verlust einer zum Lebensschutz benötigten Fähigkeit darstellen (Schwindel,
Ohnmacht, Schlafstörung, Anhedonie).

Alle drei Gruppen umfassen krankhafte Phänomene, wobei in Gruppe a) die Krankhaftigkeit
gleichzeitig mit einer Warnfunktion und teilweise mit Schutzreflexen direkt verbunden,
sozusagen "fest verdrahtet" ist.
Die angeführten fünf Krankheitskriterien kann man als primäre Kriterien bezeichnen, da
sie direkt die Bedeutung des Begriffs krankhaft widerspiegeln. Man muss aber in
systematischer Hinsicht auch der Tatsache Rechnung tragen, dass krankhafte Prozesse in sich
komplexe kausale Vorgänge einschließen können, die in einem gesunden Organismus spontan
nie auftreten würden, die aber – für sich betrachtet, also ohne ihren kausalen Zusammenhang
zu kennen oder zu berücksichtigen – nicht unter eines der primären Kriterien fallen würden.
Man denke an Veränderungen der Beschaffenheit, Farbe und Form der Haut oder ihrer Teile,
der inneren Organe oder des Skelettsystems, oder der Körpersekrete und Ausscheidungen:
Hier gibt es viele krankheitsbedingte Veränderungen, die nach den primären Kriterien
beurteilt nicht als krankhaft gelten würden, aber gleichwohl nur als Teile und Manifestationen
von Krankheiten auftreten. Für diese muss ein eigenes Kriterium hinzugefügt werden, das
ihnen eine sekundäre, abgeleitete Krankhaftigkeit bescheinigt. Und es muss noch einen
Schritt weiter gegangen werden: Da es viele Zustände gibt, die zwar krankheitsbedingt
auftreten können, grundsätzlich aber auch im gesunden Organismus vorkommen können,
muss man eine dritte Gruppe als tertiäre, nur fakultativ krankhafte Phänomene definieren. Bei
dieser letzten Gruppe strebt man an, durch statistische Erhebungen festzustellen, wie häufig
ihre Verbundenheit mit Krankheiten im Vergleich zum Auftreten bei Gesunden ist, um ihre
(fakultative) Krankhaftigkeit quantitativ angeben zu können. Auf der Basis solcher Statistiken
werden dann Normwerte und Normbereiche für viele Parameter definiert. Das bedeutet aber
in der Regel weder, dass alle außerhalb eines solchen Bereiches liegenden "pathologischen"
15

Werte wirklich zu einer Krankheit gehören, noch werden dadurch Krankheit oder
Krankhaftigkeit in ihrer Bedeutung identisch mit "statistischer Normabweichung"; vielmehr
ist die Grundintuition für die Bedeutung von Krankhaftigkeit in den primären Kriterien
ausgedrückt.18 Die systematische Erfassung aller sekundär und tertiär krankhaften Vorgänge
und die kausale Erklärung ihres Auftretens bei Erkrankungen ist der Inhalt der allgemeinen
und speziellen Pathologie, die insbesondere die Pathophysiologie, Pathobiochemie und
Pathologische Anatomie einschließt. Diese großen Teilgebiete der Krankheitslehre können
natürlich nur "Hand in Hand" mit der Erforschung der entsprechenden normalen, gesunden
Vorgänge ausgearbeitet werden, so dass in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Pathologie
und die "Orthologie" (Physiologie, Biochemie und Anatomie) nicht unabhängig voneinander
sind.19
Das Konzept der Krankheitsentität erlaubt es, den soeben angegebenen Satz der
Krankheitskriterien noch um ein theoretisches Krankheitskriterium zu ergänzen. Dies sei als
letztes zentrales Prinzip der Krankheitslehre dargestellt.

Prinzip 7. Ein Lebensvorgang oder Organismuszustand, der fraglich pathologisch ist


und dessen Pathologizität mithilfe der basalen Krankheitskriterien nicht eindeutig oder
nicht widerspruchsfrei geklärt werden kann, ist als krankhaft zu werten, wenn er auf
Ursachen oder Pathomechanismen zurückgeht, die Teil einer Krankheitsentität sind,
dagegen als nicht krankhaft, wenn der Wegfall seiner Ursachen oder verursachenden
Mechanismen krankhaft wäre bzw. eine Krankheitsentität darstellen würde.

Dieses Prinzip klärt die Frage der Krankhaftigkeit in sehr vielen Fällen, in denen die basalen
d. h. die primären bis tertiären – Krankheitskriterien entweder zu wenig trennscharf sind, um
eine eindeutige Entscheidung zu erlauben, oder wo sie prima facie zu widersprüchlichen oder
kontraintuitiven Folgerungen führen würden. Solche Entscheidungsprobleme ergeben sich
einmal bei den sogenannten Bagatellerkrankungen, wo man im Zweifel sein kann, ob es sich
überhaupt um eine Krankheit oder nur um eine Schwankung oder Abweichung innerhalb des
Bereichs normaler Gesundheit handelt; sie ergeben sich zum anderen bei Beschwerden und
Mißempfindungen, die grundsätzlich als etwas Normales gelten, in manchen Fällen aber
wegen ihrer über "Normalmaß" hinausgehenden Stärke als krankhaft verdächtigt werden.
Hier kann das Konzept der Krankheitsentität ein zusätzliches Entscheidungskriterium zur
Verfügung stellen, indem der fragliche Lebensvorgang oder Zustand in seinen ätiologischen
Kontext gestellt und dieser auf seine nosologische Wertigkeit geprüft wird. Dies kann
wiederum an Beispielen am besten klargemacht werden. Zunächst einige Beispiele für solche
Entscheidungsprobleme, bei denen das theoretische Kriterium hilft:
1. Kleinwüchsigkeit bzw. "Minderwuchs": Die Körpergröße (Länge) ist ein Merkmal,
das polygenetisch vererbt wird und daher eine große statistische Streuung um den
Mittelwert der Körpergröße der Eltern aufweist. Hierfür können zwar statistische
Normalbereiche der Streuung angegeben werden, die aber manchmal unterschritten
werden. In solchen Fällen kann es sich entweder um Extremfälle der Streuung oder
um Folgen von krankheitsbedingten Wachstumsstörungen handeln. Welcher Fall
vorliegt, kann nur durch eine diagnostische Abklärung der Frage beantwortet werden,
ob eine einschlägige Krankheitsentität ursächlich dahintersteht, wobei zu beachten ist,
dass sehr verschiedene Arten von Krankheitsentitäten in Frage kommen (genetische
Störungen, Ernährungsstörungen, Stoffwechseldefekte, Herzfehler, chronische
Infekte, etc.).

18 Hierzu ausführlicher Hucklenbroich 2008.


19 Dies Faktum dürfte eine unüberwindbare Schwierigkeit für philosophische Krankheitstheorien bilden, die den
Krankheitsbegriff ausgehend von einer bereits vorliegenden Physiologie definieren zu können glauben, wie es
v. a. die bekannte und vieldiskutierte "biostatistische" Theorie von Boorse voraussetzt; vgl. Boorse 2011.
16

2. Akute Ermüdungserscheinungen mit Übermüdung oder Erschöpfung ("Fatigue"):


Starke Müdigkeit kann sowohl eine normale Erscheinung nach entsprechend langer
oder starker Anstrengung sein, oder als pathologische Müdigkeit z. B. das Symptom –
evtl. Frühsymptom – einer ansonsten (noch) inapparenten Infektionserkrankung.
Beides ist abzugrenzen von chronischer Übermüdung, die andere Ursachen hat.
3. Niedergeschlagenheit bzw. Trauer: Traurige Verstimmtheit kann entweder eine
normale Reaktion auf Verluste, Niederlagen oder Enttäuschungen sein, oder das
Symptom einer psychischen Erkrankung. Um letzteres nachzuweisen, muss geprüft
werden, ob sich andere Symptome und Befunde aufzeigen lassen, die für eine Form
der Depression im Sinne der psychiatrischen Krankheitslehre beweisend sind.

Das theoretische Krankheitskriterium ist auch maßgebend für die Einordnung der
sogenannten benignen Krankheiten; darunter versteht man Krankheiten, die in den meisten
odr fast allen Fällen inapparent oder ohne Beschwerden verlaufen, die aber trotzdem aufgrund
ihrer Ursachen echte Krankheiten sind und in selteneren Fällen durchaus ernstere
gesundheitliche Probleme aufwerfen. Dazu gehören beispielsweise:
1. Warzen (Verrucae): Warzen sind kleine Geschwülste oder Wucherungen der obersten
Hautschicht. Sie werden verursacht durch die Infektion mit einer bestimmten Virusart.
In der Regel verursachen sie keine Belastungen oder Beschwerden, aber in manchen
Fällen können sie sich vermehren, sich über weite Flächen oder den ganzen Körper
ausbreiten und ernsthafte Störungen bis hin zur krebsigen Entartung auslösen.
Deswegen und wegen ihrer Verursachung durch eine Virusinfektion müssen sie als
(benigne) Krankheit eingeordnet werden.
2. Mitesser (Komedonen): Mitesser entstehen durch eine übermäßige Produktion von
Hornlamellen (Hyperkeratose), die den Ausgang der Talgdrüsen in der Haut
verstopfen und den Talgdrüsenfollikel anschwellen lassen. Abgesehen von
kosmetischen Problemen, sind Mitesser in der Regel harmlos und verschwinden
wieder von selbst. Es kann aber in Mitessern zur Vermehrung von Bakterien, zur
Entzündung und eitrigen Einschmelzung mit erheblichen Krankheitssymptomen
kommen.
3. Solitäre Nierenzyste: Solitärzysten entstehen durch eine unvollständige Ausreifung der
Niere in der embryonalen Entwicklungsphase. Sie bleiben meist lebenslang harmlos,
können aber auch aufgrund von Größenzunahme im Verlauf zur Kompression anderer
Organe mit Schädigung führen und in seltenen Fällen sogar zu schweren
Komplikationen wie Einblutung oder maligner Entartung führen.

Den benignen Krankheiten gegenüberzustellen sind Zustände und Erscheinungen, die als
krankhaft (miss-) verstanden werden können, die sich bei genauer Analyse aber als
unvermeidlich in dem Sinne erweisen lassen, dass ihr Fehlen oder der Wegfall ihrer Ursachen
selbst eine Krankheit wäre:
1. Schwangerschaft: Schwangerschaft ist eine besondere Lebensphase, in der spezifische
Belastungen und Risiken für die schwangere Frau und für den Embryo bzw. Fetus
bestehen. Manche Krankheitstheoretiker ziehen daraus den Schluss, dass
Schwangerschaft eine Krankheit sei.20 Dies widerspricht jedoch nicht nur unserem
intuitiven Verständnis von Krankheit, sondern lässt sich auch theoretisch widerlegen:
Erstens ist die Phase des vorgeburtlichen Lebens eine Phase der biologischen
Symbiose von Mutter und Kind, die jeder werdende Mensch durchlaufen muss.
Aufgrund dieser Unvermeidlichkeit kann sie nicht ein krankhafter Vorgang sein –
auch nicht im Hinblick auf die Mutter. Man müsste sonst sagen, dass Menschen nur
durch die Krankheit eines anderen Menschen überhaupt ins Leben treten können, was
20 Vgl. die Diskussion bei Clouser/Culver/Gert 1997, S. 205 ff.
17

kontraintuitiv ist. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass das Vorliegen spezifischer
Belastungen und Risiken nicht nur für die Phase der Schwangerschaft, sondern für
jede Phase der normalen menschlichen Entwicklung gilt, besonders auch für die Phase
der Kindheit und des Alters. Zum zweiten ist aber auch zu berücksichtigen, dass der
Übergang in die Phase der Schwangerschaft durch die Entstehung und anschließende
Implantation der Zygote beim Befruchtungsvorgang verursacht wird. Ist der weibliche
Organismus nicht fähig, eine Zygote zu bilden oder einer gebildeten Zygote die
Implantation und Entwicklung zu ermöglichen, so liegt eine Infertilität oder
Fertilitätsstörung vor. Diese sind krankhafte Zustände, denen mehrere verschiedene
Krankheitsentitäten zugrunde liegen können.
2. Dentitionsschmerz: Beim Durchbruch der Milchzähne kommt es oft zu
Schmerzzuständen. Aus dem Krankheitskriterium 2 könnte geschlossen werden, dass
die Dentition somit krankhaft sein muss. Dies wird widerlegt, indem man sich die
denkbaren Alternativen konkret ansieht: Entweder könnte die Bildung von Zähnen
ganz unterbleiben. Das wäre aber für die Überlebensfähigkeit des Individuums ein
schwerer Nachteil mit Krankheitswert, der in der Regel zum Hungertod führen würde.
In den Fällen, in denen es tatsächlich nicht zur Ausbildung einzelner oder mehrerer
Zähne kommt, lassen sich definierte erbliche Krankheiten, andere Primärerkrankungen
oder exogen verursachte Entwicklungsstörungen nachweisen. Oder, zweitens, die
Schmerzempfindungsfähigkeit könnte generell fehlen oder im Zahnhalteapparat
ausgeschaltet sein. Beides wären aber krankhafte Zustände, wobei das generelle
Fehlen eine Krankheit ist, die die Lebenserwartung stark einschränkt, während das
lokale Fehlen oder Ausfallen im Gebiss bedeuten würde, dass die Warnfunktion des
Schmerzes beim Beißen, Kauen und bei Zahnerkrankungen fehlen würde, was zu
großen Schädigungen führen würde. Diese Überlegung zeigt, dass hier das prima-
facie-Kriterium "Schmerz" durch das theoretische Kriterium sozusagen
"überschrieben" oder überspielt wird.
3. Geburtsschmerz: Auch für den Schmerz beim Geburtsvorgang wird immer wieder
diskutiert, inwieweit er "normal" und "natürlich" oder aber pathologisch sei – wobei
im letzteren Fall der Geburtsvorgang selbst etwas Pathologisches zu werden droht.
Dieses scheinbare Dilemma lässt sich aber auf analoge Weise wie beim
Dentitionsschmerz auflösen, wenn man berücksichtigt, dass einerseits ein völliges
Ausbleiben der Geburt – eine sogenannte Übertragung ohne terminalen
Geburtsvorgang – im Endergebnis für das Überleben von Kind und Mutter fatal enden
müsste; dass andererseits das Fehlen der Schmerzempfindungsfähigkeit, generell oder
lokal, aus analogen Gründen wie im Fall des Dentitionsschmerzes, den größeren
gesundheitlichen Nachteil mit sich bringen würde.

An diesen Beispielen zeigt sich, wie die Betrachtung des krankheitstheoretischen Kontextes
und der theoretisch möglichen Alternativen in Zweifelsfällen der Krankheitslehre eine
eindeutige Entscheidung herbeizuführen gestattet. Abschließend sei im selben
Zusammenhang noch eine Bemerkung zu einem weiteren Sachverhalt angefügt, der oft zu
Fehlschlüssen oder Irritationen führt: Die Vorgänge, die im "natürlichen Verlauf" einer
Krankheitsentität auftreten können, umfassen in den meisten Fällen auch solche Vorgänge,
die als gesundheitlich positive Reaktionen, protektive Mechanismen oder Heilungs- und
Reparaturvorgänge zu deuten sind. Deswegen kann es als unplausibel erscheinen, dass diese
Vorgänge Teil einer Krankheit und somit selbst krankhaft sind oder sein sollen. Diese
Bedenken werden dadurch ausgeräumt, dass explizit darauf hingewiesen wird, dass
krankhafte Lebensvorgänge 1. nicht unbedingt unter die primären Krankheitskriterien fallen
müssen, sondern ja auch im sekundären oder tertiären Sinn krankhaft sein können, 2. nicht
selten zugleich krankhaft im primären Sinn und förderlich für die Wiedergesundung sind, 3.
18

in manchen Fällen zugleich krankhaft im primären Sinn und vorteilhaft in einer anderen, aber
auch gesundheitsrelevanten Hinsicht sind. In den Fällen 2. und 3. spreche ich von
krankheitstheoretisch ambivalenten Vorgängen, da sich Krankheitswert und
"Gesundheitswert" beide gleichzeitig vorfinden, wobei es aber zum Umschlag in die rein
pathologische Wertigkeit kommen kann. Beispiele:
1. Fieber, das bei vielen Krankheiten, insbesondere Infektionskrankheiten auftritt,
bedeutet eine Abweichung der Körpertemperatur zu höheren Werten hin und damit
das Risiko einer lebensbedrohlichen Temperaturerhöhung. Der positive Aspekt ist
aber, dass eine Erhöhung der Körpertemperatur zunächst eine Beschleunigung des
Stoffwechsels und insbesondere der Abwehr- und Schutzmechanismen bewirkt, was
die Heilungschancen erhöht.
2. Schmerz ist immer ein Zeichen der Schädigung oder Gefährdung von Körpergeweben
und Strukturen, er ist also krankhaft (mit Ausnahme der Fälle von Geburt und
Dentition, s. o.), und er kann als chronischer oder unerträglicher Schmerz selbst die
eigentliche (Schmerz-) Krankheit sein. Zugleich dient der Schmerz aber als
Warnsignal und ist bei der individuellen Verhaltensentwicklung nicht ohne Schaden
zu entbehren – nur gebranntes Kind scheut das Feuer! Daher ist der Schmerz, generell
gesehen, als ambivalent zu betrachten.
3. Manche Krankheiten, wie die Sichelzellanämie, die Polyzythämie oder sogar die
Migräne21 können in bestimmten Umgebungen oder Situationen mit Vorteilen oder
Schutzwirkungen verbunden sein und sind in diesem Sinne ambivalent: Bei der
Sichelzellanämie als monogenetischer Krankheit gibt es die homozygote und die
heterozygote Form. Die homozygote Form ist durch einen schweren Verlauf mit
Durchblutungsstörungen und verringerter Lebenserwartung gekennzeichnet. Die
heterozygote Form beinhaltet zwar auch ein erhöhtes Risiko für
Durchblutungsstörungen, kann jedoch auch häufig mild bis inapparent verlaufen. Die
Träger dieser heterozygoten Anlage sind zusätzlich gegen schwere Verlaufsformen
der Malaria besser geschützt als Menschen mit Normalbefund, also ohne diese
Krankheitsanlage. – Im Falle der Polyglobulie oder sekundären Polyzythämie liegt
eine Vermehrung der roten Blutkörperchen (und evtl. weiterer Blutzellen) vor, die
z. B. durch längeren Aufenthalt in großen Gebirgshöhen hervorgerufen werden kann.
Diese Zellvermehrung ist eine Anpassung an den geringeren Sauerstoffgehalt der
Höhenluft und insofern ein Vorteil, führt aber auch zur Erhöhung der Blutviskosität
und damit zu einem erhöhten Risiko für die Entstehung von Thrombosen und
Embolien, also auch für Herzinfarkte und Schlaganfälle.

Mit diesen Hinweisen soll die Darstellung der wichtigsten Prinzipien der medizinischen
Krankheitslehre abgeschlossen werden. Anstatt weiterer Detailanalysen sollen im
abschließenden Abschnitt einige typische Fragen beantwortet werden, die sich aus den
Unterschieden zwischen lebensweltlichem und wissenschaftlichem Krankheitsverständnis
ergeben.

4. Häufig gestellte Fragen zum Krankheitsverständnis der Medizin

F1. Gibt es eine scharfe Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, oder ist der Übergang
fließend und die Unterschiede sind nur graduell?

A1. Da alle krankhaften Phänomene als Manifestationen von Krankheiten verstanden werden,
die Fälle bzw. Instanzen von definierten Krankheitsentitäten sind, ist die Grenze zwischen
Gesundheit und Krankheit im Sinne der Logik scharf gezogen: Die definitorischen Merkmale
21 Zur Ambivalenz der Migräne vgl. Evers 2013.
19

einer Krankheitsentität liegen entweder vor oder nicht – tertium non datur. Andererseits gibt
es bei vielen Krankheitsentitäten neben schweren auch milde bis inapparente Verläufe, bei
denen vom subjektiven Empfinden her gar keine Krankheit vorzuliegen scheint. Dies ist aber
im medizinischen Sinn keine Gesundheit; die Grenzziehung bleibt scharf, aber der
Schweregrad der Erkrankung variiert graduell.

F2: Gibt es zwischen Gesundheit und Krankheit noch einen dritten Bereich von Zuständen,
die man z. B. als neutral – weder gesund noch krank – bezeichnen könnte?

A2: In früheren Phasen der Geschichte der Medizin ist die Ansicht, es gebe einen dritten
Bereich der Neutralität neben Gesundheit und Krankheit, zeitweise vertreten worden.22 Nach
heutiger Auffassung gibt es dafür aber keinen Grund, da nicht ersichtlich ist, durch welches
Kriterium die neutralen von den gesunden Zuständen abgegrenzt werden sollen, sobald
klargestellt ist, dass keine Krankheit vorliegt. Die Medizin kann daher kein
Unterscheidungskriterium für einen solchen dritten Bereich angeben. Aber natürlich kann es
niemandem verwehrt werden, den Bereich der nicht krankhaften Zustände weiter zu
unterteilen und einen Teilbereich davon z. B. als "neutrale" Zustände zu bezeichnen.

F3. Kann die Medizin eine positive Definition oder Begriffsbestimmung von Gesundheit
angeben?

A3. Es gibt sowohl eine negative als auch eine positive Bestimmung dafür, was im
medizinischen Sinn Gesundheit ist. Die negative Bestimmung besagt, dass Gesundheit
identisch mit der Abwesenheit aller Krankheiten ist. Die positive Bestimmung lässt sich nicht
in einem Satz vollständig aufzählen, sondern wird durch den Begriff der Normalität im Sinne
der (normalen) Anatomie, der (normalen) Physiologie und Biochemie sowie der
psychosozialen Normalität gebildet: Gesund im positiven Sinne ist, wer nur solche
Eigenschaften aufweist, die in diesen medizinischen Teildisziplinen als normal dargestellt
werden. Hierbei sind die Unterschiede zwischen Geschlechtern, Lebensphasen und
Entwicklungsstadien bereits berücksichtigt. Eine noch etwas substantiellere Formulierung für
positive Gesundheit kann gegeben werden, indem explizit gefordert wird, dass insbesondere
die Abwehr-, Schutz- und Selbstheilungsfähigkeiten des Organismus vollständig vorhanden
und voll funktionsfähig sind. Diese Formulierung käme in die Nähe des Konzeptes der
Salutogenese (nach A. Antonovsky23).

F4. Kann man Gesundheit mit vollständigem subjektivem Wohlbefinden gleichsetzen?

A4, Diese häufig anzutreffende Auffassung kann medizinisch nicht akzeptiert werden, da ein
subjektives Wohlbefinden – auch ein "vollständiges" – auch dann vorliegen kann, wenn
inapparente Verläufe oder Stadien (Vorstufen, Intervallphasen) von Krankheiten bestehen.
Auch sehr ernste und tödlich verlaufende Krankheiten, z. B. viele Krebsformen, können
unbemerkte und unauffällige Anfangsphasen haben. Oft ist es so, dass sie in diesen
Frühphasen noch erfolgreicher behandelt werden können, als wenn sie erst subjektiv
bemerkbar geworden sind. Dies gilt analog auch für die sog. dispositionellen Krankheiten wie
Allergien oder Blutungsneigungen, bei denen in der Phase ohne Symptome erfolgreiche
Präventionsmaßnahmen möglich sind, während bei akuter Manifestation der Disposition
schwere Beschwerden oder sogar lebensbedrohliche Zustände zu erwarten sind. Begrifflich
darf man daher subjektiv beschwerdefreie Zustände keinesfalls mit Gesundheit gleichsetzen
oder verwechseln.

22 Schäfer 2012.
23 Vgl. Antonovsky 1997.
20

F5. Ist Krankheit etwas Unnatürliches oder Widernatürliches?

A5. In früheren Epochen der Medizingeschichte wurde häufiger die Auffassung vertreten,
dass Gesundheit der "natürliche" Zustand und Krankheit dementsprechend etwas Un-, Außer-,
Über- oder Widernatürliches sei.24 Die heutige wissenschaftliche Erkenntnis besagt aber, dass
die Verursachung und Entwicklung krankhafter Prozesse denselben grundlegenden
Mechanismen, Gesetzen und Bedingungen unterliegt wie die normalen, gesunden
Lebensvorgänge. Krankheitsprozesse sind nur dadurch unterschieden, dass sie einen
Teilbereich der natürlichen Prozesse darstellen, der zusätzliche Bedingungen erfüllt. Diese
zusätzlichen Bedingungen werden in den Krankheitskriterien begrifflich erfasst. Wie die
obige Darstellung der Prinzipien der Krankheitslehre aber zeigt, rekurrieren die
Krankheitskriterien nicht auf Un- oder Widernatürliches, sondern auf natürliche
Vorkommnisse wie Tod und körperliche Defekte und Beschwerden. Darüber hinaus sind
Krankheitsprozesse mit genau denselben Methoden erforschbar und erkennbar wie "normale"
Prozesse, so dass auch in dieser Hinsicht kein Unterschied besteht.

F6. Können Menschen auch dann gesund sein oder als gesund bezeichnet werden, wenn sie
eine Krankheit oder Behinderung haben?

A6. Erfahrungsgemäß bezeichnen sich nicht selten Menschen mit einer chronischen
Krankheit oder Behinderung als "gesund", "trotzdem gesund" oder "ansonsten gesund". Auch
manche Gesundheitstheoretiker, z. B. der Philosoph Nordenfelt25, definieren Gesundheit so,
dass diese das Vorliegen einer Krankheit im medizinischen Sinn nicht ausschließt. Aus
medizintheoretischer Sicht ist dazu zu sagen, dass hier zwei verschiedene Begriffe oder
Definitionen von Gesundheit vorliegen: Der medizinische Gesundheitsbegriff ist als
Gegenteil oder Komplement zum Krankheitsbegriff definiert und schließt daher das Vorliegen
irgendeiner Krankheit einschließlich der sog. Behinderungen aus (vgl. oben A3). Man kann
aber auch aus medizinischer Sicht eine "relative" Gesundheit definieren, indem man etwa
sagt, dass, abgesehen von einer bestimmten vorliegenden Krankheit oder Behinderung, sonst
keine krankhaften Zustände vorliegen; relativ zu dieser Einschränkung, liegt also Gesundheit
vor.

F7. Ist jemand krank, bei dem ein Risikofaktor festgestellt wird, der mit einer erhöhten
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bestimmten Krankheit verbunden ist?

A7. Als Risikofaktor für eine bestimmte Erkrankung bezeichnet man die – als Zahl
ausgedrückte – Wahrscheinlichkeit dafür, eine bestimmte Krankheit zu erleiden, wenn diese
bei Vorliegen einer bestimmten Eigenschaft höher ist als die entsprechende
Wahrscheinlichkeit in einer Vergleichsgruppe ohne diese Eigenschaft; meist wird ungenau
diese Eigenschaft selbst als "der" Risikofaktor bezeichnet. Beispielsweise ist für die
Eigenschaft "Tabakraucher" der Risikofaktor für die Entwicklung eines Bronchialkarzinoms
gleich 7,8, d. h. die Wahrscheinlichkeit, ein Bronchialkarzinom zu entwickeln, ist 7,8mal so
groß wie bei Nichtrauchern. Ob solche Risikofaktoren bzw. Eigenschaften als krankhafte
Merkmale gelten können, hängt von mehreren Bedingungen ab: Sofern es sich um
Eigenschaften der Umwelt eines Organismus handelt, z. B. Gifte in der umgebenden
Atemluft, handelt es sich um pathogene oder potentiell pathogene Merkmale der Umwelt, die
also nicht dem Organismus zuzurechnen sind. Sofern es sich um Eigenschaften des
Organismus selbst handelt, ist zu unterscheiden, ob die erhöhte

24 Schäfer (Fußnote 20), a.a.O.


25 Vgl. Nordenfelt 1987, 2012a, 2012b.
21

Erkrankungswahrscheinlichkeit ausschließlich durch Statistiken belegt ist, oder ob ein


kausaler Zusammenhang zwischen der fraglichen Eigenschaft und der Krankheit besteht oder
wenigstens zu vermuten ist. Bei rein statistischen Korrelationen kann nichts darüber
ausgesagt werden, ob das Vorliegen der Eigenschaft pathologisch ist. Ist dagegen ein kausaler
Zusammenhang bekannt oder anzunehmen, muss weiter differenziert werden: Dass die
Krankheit K bei Vorliegen der Eigenschaft E mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, aber
nicht mit Sicherheit auftritt, bedeutet ja, dass weitere Bedingungen bzw. Kausalfaktoren F
hinzutreten müssen, damit es wirklich zum Auftreten von K kommt. Nur wenn F bei dem
betrachteten Einzelindividuum ebenfalls vorliegt oder vorliegen wird, ist das Merkmal E im
medizinischen Sinne krankhaft (gemäß dem letzten der primären Krankheitskriterien). Auch
wenn das Auftreten von F in der Zukunft lediglich möglich ist, ist E aufgrund eben dieser
Möglichkeit als Prädisposition ein krankhaftes Merkmal.26 Man kann dies auch so
ausdrücken, dass in solchen Fällen nicht nur das statistische, sondern auch das individuelle
Risiko zu erkranken erhöht ist. Ist das Auftreten von F dagegen bei dem Individuum
unmöglich, dann ist E nicht krankhaft.

F8. Dürfen gegen eine Krankheit K nur Personen behandelt werden, bei denen entweder K
nachweislich vorliegt oder ein erhöhtes individuelles Risiko (im Sinne von A7) für K besteht?

A8. Eine Behandlung von K in kurativer oder prophylaktischer Absicht kann auch dann
sinnvoll sein, wenn ein Risikofaktor E bekannt ist, der nur statistisch mit K korreliert. Man
weiß dann zwar im Einzelfall nicht, ob überhaupt ein individuelles Risiko vorliegt. Wenn es
aber nicht möglich oder nicht zumutbar ist zu prüfen, ob auch ein echtes individuelles Risiko
besteht, muss abgewogen werden, ob nicht eine Behandlung vorsichtshalber angezeigt ist.
Hierbei muss eine Abwägung vorgenommen werden, bei der die Folgen einer möglichen
Erkrankung mit den Belastungen und Kosten einer möglicherweise unnötigen vorsorglichen
Behandlung verglichen werden müssen.

F9. a) Ist Krankheit immer ein Übel? b) Sollte daher der Krankheitsbegriff so definiert
werden, dass "negative Bewertung" ein notwendiges Merkmal von Krankheit ist?

A9. Die Frage, ob Krankheit immer ein Übel sei, wird in unserer Kultur fast immer spontan
bejaht. Dass Krankheit etwas Negatives im wertenden bzw. evaluativen Sinne sei, gilt als so
selbstverständlich, dass nicht wenige Autoren sogar vorschlagen, diese Negativität als das
eigentliche Wesen von Krankheit, die einzige überhistorische und kulturübergreifende
Konstante im Krankheitsverständnis oder den definitorischen Kern jedes Krankheitsbegriffs
zu verstehen.27 Wer die obige Frage 9 verneint, sieht sich mindestens einem allgemeinem
Unverständnis, ja ungläubigem Erstaunen bis unwilliger Empörung ausgesetzt und wird gar
einer unmoralischen, inhumanen Einstellung verdächtigt. Auf jeden Fall wird man die
Begründungspflicht für diese Ansicht ganz auf seiner Seite sehen.
Aber ist die spontane bejahende Antwort wirklich so selbstverständlich? Es wird ja gefragt,
ob Krankheit immer ein Übel, immer und unter allen Umständen negativ zu werten ist. Man
26 Ausnahme: Eigenschaften, die unter negative Krankheitskriterien (Ausnahme-Kriterien) fallen, wie
Geschlecht oder Altersgruppenzugehörigkeit, sind trotz des Bestehens bestimmter Geschlechts- und
Altersprädilektionen für Krankheiten keine pathologischen Merkmale.
27 Exemplarisch, aber repräsentativ für viele Positionen (z. B. auch die von Wieland und Wiesing) wird das von

Axel Bauer ganz explizit behauptet (und gegen meine Rekonstruktion der Krankheitslehre eingewendet), vgl.
Bauer 2007, S. 94, hier: Abs. ((8)): "Die negative Normativität ("Etwas ist oder verhält sich nicht so, wie es sein
oder sich verhalten sollte") repräsentiert den einzigen zeitinvarianten gemeinsamen Nenner des allgemeinen
theoretischen Krankheitsbegriffs." Bauer erkennt hier nicht, dass ein allgemeiner theoretischer
Krankheitsbegriff eine Sache der wissenschaftlich-medizinischen Systematik (und nicht der Medizinhistorie oder
der vergleichenden Kulturgeschichte) ist, und dass es hier gar nicht – wie er unterstellt – um die Unterscheidung
zwischen "brute facts" (= physikalische Fakten) und "institutional facts" (= soziokulturelle Fakten) geht.
22

darf also nicht nur an lebensweltliche Standardsituationen und Erkrankungsfälle denken, also
dass z. B. ein Kind oder ein Berufstätiger "aus voller Gesundheit heraus" einen Unfall oder
Infekt erleidet. In solchen Fällen wird Krankheit in der Tat regelmäßig als Störung,
Belastung, Behinderung oder Gefährdung bis hin zur schicksalhaften Lebensbedrohung
erfahren. Man muss aber für die hier gemeinte Frage alle möglichen und tatsächlich
vorkommenden Situationstypen in Betracht ziehen, in denen krankhafte Phänomene
überhaupt eine Rolle spielen können. Dann zeigt sich die (evaluative) Bedeutung von
Krankheitsphänomenen als erheblich vielgestaltiger und vor allem gegensätzlicher und
ambivalenter, als es die Standardintuition nahelegt. Um das zu zeigen, zähle ich nur einige
Beispiele auf, die durchaus allgemein bekannt sind, die in der Standardintuition aber unter
den Tisch fallen:
a) Es gibt Situationen, in denen ein schneller oder vorzeitiger Tod (= Krankheitskriterium 1)
dem Weiterleben vorgezogen wird und ggf. auch aktiv herbeigeführt wird. Man denke an
den freiwilligen Suizid oder den erbetenen "Gnadentod", z. B. um soziale Ächtung, Folter,
Einsperrung oder unerträgliche Schmerzen nicht erleben zu müssen; auch der aktiv
herbeigeführte Helden-, Opfer- und Märtyrertod gehören hierhin. Die zur Herbeiführung
eines solchen vorzeitigen Todes ergriffenen Maßnahmen wie Vergiftung, Verhungern,
Beibringung letaler Wunden oder Verletzungen etc. sind immer schwerwiegende
pathologische Prozesse mit letalem Ausgang, die hier erwünscht und insofern positiv
bewertet sind
b) Zur Verhütung von Zeugung und Schwangerschaft werden sehr häufig Zustände der
Infertilität herbeigeführt, z. B. durch medikamentöse Unterdrückung der "normalen"
Hormonzyklen (Anti-Konzeption), durch Vasektomie, Kastration und ähnliche
Maßnahmen. Der (pathologische) Zustand der Unfruchtbarkeit ist dabei erwünscht und
Ziel der Maßnahmen. Unter anderen Bedingungen werden gleichartige Zustände der
Unfruchtbarkeit als unerwünscht und als schwere Störung der Lebens- und
Familienplanung bewertet, deren Beseitigung mit ärztlicher Hilfe angestrebt wird.
c) Kulturelle Werte und Ideale können zur Herbeiführung von Zuständen führen, die eine
erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung darstellen:
 In der altchinesischen Kultur waren bis ins 20. Jahrhundert hinein die sogenannten
"Lotusfüßchen" ein sozial erstrebenswerter – und daher fast universell verbreiteter –
Körperzustand bei Frauen. Dabei wurden beide Füße durch Bandagieren und durch
Knochenbrüche so verformt, dass die Gehfähigkeit in der Art von Klumpfüßen stark
eingeschränkt wurde und zusätzlich lebenslange Schmerzen ertragen werden mussten.
 In der gegenwärtigen "westlichen" Kultur gilt extreme Schlankheit bei jungen Frauen
als ein Schönheitsideal. Dieses Ideal wird durch Maßnahmen wie Fasten oder
Erbrechen von Nahrung zu erreichen versucht, wodurch u. a. Untergewicht,
pathologisch erniedrigter Blutdruck und das Risiko einer Magersuchts- oder
Bulimieerkrankung auftreten.
 Die Einnahme stimulierender, berauschender, betäubender und anderer psychotroper
Gifte und Drogen ist in vielen Kulturen verbreitet, auch wenn dadurch gesundheitliche
Nachteile und Risiken entstehen. Man braucht hier nur an den Gebrauch und
"Missbrauch" von Alkohol, Nikotin und teerhaltigem Tabakrauch in der westlichen
Gegenwartskultur zu erinnern. Die suchterzeugende bzw. abhängig machende
Wirkung vieler solcher Substanzen ist eine zusätzliche pathologische Auswirkung und
steigert noch deren Gefährlichkeit.
 Zur Steigerung sportlicher Leistung oder der allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit
werden Dopingmethoden angewendet, die häufig gesundheitlich bedenkliche und
schädliche Folgen haben.
Man kann diese Aufzählung noch erheblich verlängern. Hier sollte aber nur gezeigt werden,
dass die Bewertung von Zuständen und Prozessen, die medizinisch eindeutig krankhaft oder
23

Krankheiten sind, je nach situativem Kontext und individuellen oder soziokulturellen


Randbedingungen variiert und zwischen negativer und positiver Wertung changieren kann.
Konkrete Erkrankungen müssen vom Subjekt immer mit den sonstigen situativen
Lebensbedingungen vergleichend bewertet werden, sobald es sie bemerkt. Diese subjektive
Bewertung ist zu unterscheiden von der subjektunabhängig vorgegebenen Erlebensqualität
der Symptome, insbesondere dem Leiden unter Schmerzen und Beschwerden und dem
Empfinden von Störung und Behinderung. Daraus folgt zweierlei:
a) Die spontane Bejahung der obigen Frage 9 ist voreilig und kann bei näherer Betrachtung
nicht beibehalten werden: Die subjektive Bewertung krankhafter Phänomene ist
situationsabhängig und kann negativ, positiv oder ambivalent sein.
b) Ein wissenschaftlicher Krankheitsbegriff kann daher keine generelle, situations-
unabhängig feststehende Wertkomponente beinhalten oder als notwendige Bedingung
vorgeben, etwa durch eine entsprechende Definitionsklausel. Vielmehr muss ein
wissenschaftlich-medizinischer Krankheitsbegriff sich von Wertungen gleich welcher Art
frei halten und Krankheit kontextunabhängig und rein deskriptiv charakterisieren.
Subjektunabhängig gegebene negative Erlebensqualitäten wie Schmerz, Leiden,
Behinderung und Störung gehören dagegen essentiell, als deskriptive ("objektive")
Kriterien, zum Begriff der Krankheit.
Man kann die letzte Feststellung auch folgendermaßen illustrieren: Ein wertbehafteter
("evaluativer") Krankheitsbegriff mag für bestimmte lebensweltliche Kontexte so passend
sein, wie der Begriff des Unkrauts für bestimmte praktisch-lebensweltliche (z. B.
landwirtschaftliche oder gärtnerische) Kontexte, sinnvoll ist. Er wäre aber ebenso wenig ein
wissenschaftlicher Begriff der Medizin, wie der des Unkrauts ein Begriff der
wissenschaftlichen Botanik ist. (Dagegen lässt sich der Begriff der Giftpflanze durchaus
wissenschaftlich objektivieren, da Giftwirkungen subjektunabhängige Phänomene sind!)

F10. Welche normativen Implikationen hat der wissenschaftliche Krankheitsbegriff?

A10. Bei dieser Frage muss sorgfältig unterschieden werden, was genau gemeint ist. Die
Erfahrung der bisherigen philosophischen Diskussion hat gezeigt, dass hier besonders leicht
Missverständnisse und Begriffsverwirrungen vorkommen können, die zu erheblichen
Fehlschlüssen führen. Bei der Beantwortung muss zunächst festgestellt werden, dass aus
einem Begriff logisch gar nichts gefolgert werden kann, es in diesem Sinn gar keine
Implikationen gibt. Gemeint ist aber in der Regel, welche Folgerungen aus einer Aussage der
Form "Person P ist krank" aufgrund der Bedeutung oder Definition des (wissenschaftlichen)
Krankheitsbegriffs gezogen werden können. Dann ist die Antwort, dass aus einer solchen
Aussage nicht mehr gefolgert werden kann als "Person P hat irgendeine Krankheit K, die eine
Instanz irgendeiner Krankheitsentität Ki ist". Diese Folgerung ist zwar nicht leer, aber sie ist
nicht normativ, und sie verweist weiter auf die Definition von Krankheitsentität. Verfolgt
man diese Definitionskette weiter, so wird man zu den Krankheitskriterien geführt; man kann
also schließen: "Person P erfüllt mindestens eines der fünf primären Krankheitskriterien oder
eine definitorische Bedingung für eine spezifische Krankheitsentität". Auch hier tauchen
keine normativen Implikationen auf. Dieses Ergebnis ändert sich auch nicht, wenn wir statt
des allgemeinen Krankheitsbegriffs einen speziellen nosologischen Begriff, z. B.
"Streptokokkenangina", betrachten: Ohne zusätzliche Prämissen können auch aus der
Anwendung (Zusprechung) spezieller nosologischer Begriffe keine normativen
Konsequenzen abgeleitet werden. Der logische Weg zur Ableitung normativer Konsequenzen
benötigt mehrere zusätzliche Schritte: Zunächst muss vom allgemeinen Krankheitsbegriff zu
einer Diagnose, d. h. zu einem speziellen Krankheitsbegriff übergegangen werden. Eigentlich
ist dies – die Diagnostik – selbst schon ein komplexer, normative Entscheidungen und
praktische Handlungen einschließender Teil des Behandlungsprozesses, wovon hier einmal
24

abgesehen sei.28 Steht die Diagnose fest, so können im nächsten Schritt aus dem praktisch-
therapeutischen Wissen heraus die sogenannten Indikationen und Kontraindikationen gestellt
werden, d. h. es kann abgeleitet werden, welche Maßnahmen zu einer Heilung oder
Verbesserung des Krankheitsbildes und welche zu einer Verschlimmerung führen können.
Auch diese Aussagen sind noch nicht strikt normativ, sondern konditional: Sie stellen dar,
was getan werden kann und was nicht getan werden darf, wenn bestimmte Ziele erreicht
werden sollen. Erst die Entscheidung über das Behandlungsziel und die Wahl der
Behandlungsmethode sind normative Akte, die sich in normativen Aussagen ausdrücken
lassen: "Patient P will und soll eine kurative Behandlung (z. B. seiner Streptokokkenangina)
erhalten" und "Die Behandlung der Streptokokkenangina soll durch orale Applikation von
Penicillin erfolgen". Diese normativen Aussagen lassen sich weder aus dem Krankheitsbegriff
oder der Krankheitszuschreibung, noch aus der Diagnose "P hat Streptokokkenangina", noch
aus der Indikationsstellung logisch ableiten; sie setzen vielmehr eine explizit normative
Prämisse voraus, indem z. B. der Patient dem Behandlungsziel und Behandlungsplan explizit
zustimmt, oder sie sind selbst eine logisch voraussetzungslose, "autonome" normative
Entscheidung. Dies zeigt sich auch daran, dass ein Patient sich einem ärztlichen
Behandlungsplan immer auch verweigern kann: Es gibt hier keine logische Automatik, auch
nicht aus der Definition des Krankheitsbegriffs heraus. Dies wird von solchen Autoren
übersehen, die behaupten, der Krankheitsbegriff enthalte eine normative Komponente, sei ein
deontischer oder deontologischer Begriff oder ein "dickes" Konzept, weil aus ihm – angeblich
– normative Konsequenzen ableitbar seien.29 Es ist daher auch unbegründet, ja abwegig zu
fordern, bei der Definition des Krankheitsbegriffs müsse die Ethik konsultiert werden oder sei
gar die Ethik allein zuständig und kompetent. Diese Behauptung zeigt vielmehr eindrücklich
die Gefahr, dass aus einer unzureichenden Analyse des wissenschaftlichen Krankheitsbegriffs
eine irrige Krankheitstheorie mit fragwürdigen praktischen Konsequenzen gefolgert werden
könnte. Offengelassen bleibt hier die Frage, ob der lebensweltliche Sprachgebrauch so
rekonstruiert werden kann oder muss, dass er einen Krankheitsbegriff mit einer
obligatorischen normativen Bedeutungskomponente enthält. Wäre dies so, dann dürfte man
folgern, dass hier die logischen Verhältnisse anders sind als in der wissenschaftlichen
Medizin. Es ist jedoch bisher keine solche Rekonstruktion vorgelegt worden30, und eine
genaue sprachanalytische Untersuchung macht es auch unwahrscheinlich, dass ein solcher
Krankheitsbegriff nachgewiesen werden kann. Der Unterschied zwischen lebensweltlichem
und wissenschaftlichem Krankheitsbegriff liegt in dieser Hinsicht wohl eher darin, dass die
Sprache der Lebenswelt weniger festgelegt ist und in Abhängigkeit von situativen,
sprachpragmatischen Umständen sowohl eine deskriptive wie eine normative, evaluative oder
appellative Verwendung des Krankheitsbegriffs in Aussagen erlaubt. 31 Die eingangs gestellte
Frage nach den "normativen Implikationen des Krankheitsbegriffs" würde daher besser und
weniger missverständlich in Form von zwei alternativen Fragen gestellt werden, nämlich als
"Welche Normen verbinden wir üblicherweise mit der Zuschreibung von Krankheit(en) zu
Personen?", und "Welche Normen sollten wir mit der Zuschreibung von Krankheit
verbinden?". Dann wäre auch auf dieser Ebene die Unterscheidbarkeit von Beschreibung und

28 Die Logik der Diagnostik ist aber analog zur Logik der Therapeutik, sie beruht u. a. auf diagnostischen
Indikationen und Kontraindikationen.
29 Solche Positionen wurden und werden z. B. von Wolfgang Wieland, Urban Wiesing und Ralf Stoecker

vertreten, vgl. Wieland 2004, Wiesing 2004a, Stoecker 2009.


30 Man kann vielleicht die Überlegungen zu einer Gesundheitstheorie, wie sie beispielsweise von Nordenfelt

vorgelegt worden sind, als Versuch einer solchen Rekonstruktion ansehen. Es bleibt aber fraglich, ob solche
Theorien wirklich den lebensweltlichen Sprachgebrauch nachzeichnen (wollen) oder nicht vielmehr Versuche zu
einem anderen wissenschaftlichen, z. B. handlungstheoretischen oder sozialwissenschaftlichen, Projekt einer
Gesundheitswissenschaft sind.
31Hierzu findet sich bei Hoffmann 2013 eine sehr sorgfältig ausgearbeitete Analyse.
25

Norm gewährleistet, und die zweite Frage wäre in der Tat ein Thema für die medizinische
Ethik.

Die letzten Fragen (F8 bis F10) verließen bereits das Thema des Krankheitsbegriffs im
engeren Sinne und führten zu den Begriffen und der Problematik der subjektiven Bewertung,
Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsindikation von Krankheiten. Diese Begriffe bilden
aber das Thema eines eigenen Kapitels der Medizintheorie, das in diesem Aufsatz nicht mehr
behandelt werden kann.32

LITERATURVERZEICHNIS

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– "“Normal – anders – krank”: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum
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Steinmetzer, Berlin, 2008, S. 3-31.

32Vgl. dazu etwas ausführlicher Hucklenbroich 2011 und 2012a. Zum Indikationsbegriff generell Anschütz
1984 und Gahl 2005.
26

– "Der Krankheitsbegriff: Seine Grenzen und Ambivalenzen in der medizinethischen


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