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DER AUTOR

© Danny Fitzpatrick

CHRIS BRADFORD recherchiert stets genau, bevor er mit dem Schreiben


beginnt: Für seine neue Serie »Bodyguard« belegte er einen Kurs als
Personenschützer und ließ sich als Leibwächter ausbilden. Bevor er sich
ganz dem Bücherschreiben widmete, war Chris Bradford professioneller
Musiker und trat sogar vor der englischen Königin auf. Seine Bücher
wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet.
Chris Bradford lebt mit seiner Frau, seinen beiden Söhnen und zwei Katzen
in England.

Bereits erschienen:
Band 1: Bodyguard – Die Geisel
Band 2: Bodyguard – Das Lösegeld
Band 3: Bodyguard – Der Hinterhalt
Band 4: Bodyguard – Im Fadenkreuz

Mehr Informationen zur Bodyguard-Serie unter:


www.cbj-verlag.de/bodyguard

Mehr zu cbj auf Instagram @hey_reader


CHRIS BRADFORD

DER ANSCHLAG

Aus dem Englischen von


Karlheinz Dürr
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Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage
Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2017
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2017 Chris Bradford
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Assassin«
bei Puffin Books, einem Imprint von Penguin Books Ltd., Uk
Übersetzung: Karlheinz Dürr
Umschlaggestaltung: semper smile, München
unter Verwendung des Originalumschlags:
© Larry Rostant
MP · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-19844-2
V001

www.cbj-verlag.de
Für die Roys,
gute Freunde auf immer!
PROLOG

Tiefer Schnee dämpfte die Schritte der Männer, die auf das Bauernhaus
zuschlichen. Nur das schwache silberne Schimmern einer schmalen
Mondsichel lag über der stillen Winterlandschaft. Wie dunkle, geisterhafte
Schatten stahlen sich die fünf Männer durch die klirrende Kälte.
Im Haus jedoch war es hell und warm. Ein gut genährtes Feuer knisterte
im Ofen und selbstgebrannter Wodka wärmte die Mägen der vier Bauern,
die am alten hölzernen Esstisch saßen.
»Es ist eine Schande!«, fauchte ein bärtiger Mann, der so groß, stark
und schlecht gelaunt wie ein sibirischer Braunbär war. »Dieses Mal ist die
Bratwa mit ihren Forderungen zu weit gegangen!«
»Aber was können wir schon machen, Anton?«, fragte ein Bauer mit
wässrigen Augen. Seine schwieligen Hände umklammerten das Wodkaglas,
als hätte er Angst, dass jemand es ihm wegnehmen könnte. »Entweder
zahlen wir das Schutzgeld oder sie fackeln unsere Häuser ab, holen sich
unsere Frauen und Töchter … oder sie bringen uns um.«
»Genau deshalb müssen wir uns endlich wehren, Egor.« Anton kippte
den Wodka hinunter, goss sich ein weiteres Glas ein und schenkte auch
seinen Freunden nach.
Ein Mann mit stark geröteten Wangen, der wie ein Getreidesack auf
dem Stuhl hing, zog heftig an seiner Zigarette und starrte missmutig in sein
Glas. »Wie denn? Was können wir schon machen, wenn die Bratwa sogar
den Bürgermeister von Salsk in der Tasche hat, obwohl der uns doch
eigentlich vor ihr schützen sollte?«
»Grigori hat recht«, nickte Egor. »Wir brauchen einen neuen
Bürgermeister. Erst dann können wir es wagen, uns mit der Bratwa
anzulegen.«
Anton tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Was wir eigentlich
brauchen, ist ein neuer Führer für unser Land. Einen, der nicht korrupt und
keine Marionette der Bratwa ist. Aber haben wir auch nur die Aussicht,
dass so einer an die Macht kommt? Nein, nicht die geringste! Also müssen
wir die Sache selbst in die Hände nehmen.« Er wandte sich an Grigori.
»Unsere Stärke liegt in unserer Zahl, Kamerad. Wenn sich alle Bauern und
Handwerker und Händler in der Gegend zusammentun, können wir
Widerstand leisten. Und das korrupte Regime zu Fall bringen.«
»Aber ist ein schlechter Friede nicht immer noch besser als ein guter
Krieg?«, widersprach Egor. »Wir könnten alles verlieren, alles!«
»Wir hätten alles zu gewinnen! Unsere Freiheit! Sicherheit für unsere
Familien! Unser Leben!«, gab Anton scharf zurück. Er schlug mit der Faust
so heftig auf den Tisch, dass die Wodkaflasche wackelte und die Gläser
klirrten. »Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter! Sondern im modernen
Russland! Trotzdem ist es so, als würden wir in einem Feudalstaat leben, als
Sklaven der Bratwa. Sie stehlen uns das Essen vom Tisch, verprügeln
unsere Söhne, nehmen sich unsere Töchter. Es reicht jetzt! Genug ist
genug!«
»Anton hat recht«, sagte Luka, der jüngste Bauer am Tisch, und rieb
sich die weizenblonden Bartstoppeln. »Höchste Zeit, dass wir uns wehren.«
Grigori stieß einen tiefen Seufzer aus und richtete sich ein wenig auf. Er
verzog das Gesicht und kippte den Wodka hinunter. »Welche Wahl haben
wir schon? Die Bratwa wird uns sowieso alles nehmen.« Er blickte Egor an,
der resigniert mit den Schultern zuckte, dann wandte er sich wieder an
Anton. »Also, Anton, wie ist dein Plan?«
Anton antwortete mit grimmigem Lächeln. »Dazu braucht man eine
Menge Mumm … und noch mehr Wodka!« Er schwenkte die fast leere
Flasche. »Nadia, sei ein braves Mädchen und hole für deinen Papa noch
einen Wodka aus dem Keller.«
Seine fünfjährige Tochter, die mit ihrem kleinen Bruder vor dem Feuer
spielte, blickte auf und nickte gehorsam. Sie sprang auf und lief in die
Küche, wo ihre Mutter Kartoffeln schälte und in den dicken braunen
Eintopf warf, der auf dem Herd brodelte. Im Vorbeilaufen stieg Nadia der
köstliche Fleischgeruch in die Nase. Das Wasser lief ihr im Mund
zusammen.
Ihre Mutter lächelte. »Dauert nicht mehr lange, mein Kätzchen«, sagte
sie und strich Nadia zärtlich über die hellblonden Locken.
Nadia verdrängte ihren Hunger und schob den Riegel zur Kellertür auf.
Sie zögerte ein wenig, als sie in die schwarze Tiefe hinabblickte. Ohne die
Wärme des Feuers in der Stube kroch ihr jetzt plötzlich ein kalter Schauder
über den Rücken. Der Keller machte ihr immer Angst – die vielen dunklen
Winkel, in denen Spinnweben hingen, der modrige Grabgeruch …
unwillkürlich kamen ihr furchtbare Dinge in den Sinn, die dort unten auf sie
lauern mochten.
Aber sie kämpfte die Angst nieder und tastete nach dem Lichtschalter.
Nur eine einzige, nackte Glühbirne erhellte flackernd die Finsternis. Doch
der schwache Lichtschein gab ihr genügend Mut, die Holztreppe
hinabzusteigen. Auf halbem Weg hörte sie, wie die Tür über ihr wieder
zufiel und das vertraute Licht der Küche nicht mehr hereindrang. Nadia
zitterte – war sie in dem feuchten dunklen Keller gefangen? Obwohl sie
wusste, dass es nur Einbildung war, kam es ihr so vor, als würden die
Kisten mit Kartoffeln und Karotten nur so von widerlichen Käfern und
Maden wimmeln. Die Einmachgläser auf den Regalen waren nicht mehr mit
Marmelade, sondern mit geronnenem Blut gefüllt. Und die Reihen der
Wodkaflaschen warfen riesige drohende Schatten ins Halbdunkel.
Und je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto
stetiger wuchs ihre Angst.
Nadia griff eilig nach einer Wodkaflasche und wollte gerade wieder die
Treppe hinaufsteigen, als sie von oben einen gewaltigen Schlag hörte,
gefolgt von wütendem Männergebrüll. In der Küche schrie ihre Mutter
schrill auf; ihr Schrei ging in ein seltsames Gurgeln über. Nadias Herz raste.
Sie rannte die Stufen hinauf … und blieb vor der Türschwelle stehen. Sie
spähte durch den schmalen Spalt zwischen der Tür und dem Türrahmen.
Ihre Mutter lag auf dem Boden; eine Blutlache breitete sich um sie aus.
Dahinter konnte sie einen schmalen Ausschnitt des Esszimmers sehen, wo
Männer mit Messern die Freunde ihres Vaters brutal angriffen. Und sie sah
ihren Vater, dem einer der Fremden eine Waffe an die Schläfe hielt und ihn
zwang zuzusehen, wie seine Freunde ermordet wurden.
Nadia hörte ihren kleinen Bruder weinen.
»Bringt das Kind zum Schweigen!«, befahl der Mann rau, der ihren
Vater mit der Pistole bedrohte.
Ein ohrenbetäubender Knall. Dann Stille. Der Mann grinste. »Schon
besser.«
Nadia hatte aufgehört zu atmen. In diesem Augenblick war ihre Welt
stumm und taub geworden. Sie konnte nicht anders, als mit weit
aufgerissenen Augen den Überfall beobachten, und während ihr Tränen
über die Wangen rollten, musste sie mitansehen, wie der Mann ihrem Vater
den Lauf der Pistole noch brutaler gegen den Hinterkopf rammte.
»So geht es jedem, der sich gegen die Bratwa verschwören will«, sagte
er. Ihr Vater brach weinend in die Knie.
Der brutale Mann war groß, mit kurz geschorenem schwarzem Haar
und einer großen Hakennase. Am Nacken, direkt über dem Hemdkragen,
war eine primitive Tätowierung zu sehen: drei Blutstropfen. Obwohl Nadia
noch so klein war, wusste sie doch schon, was das Symbol bedeutete:
Dieser Mann gehörte zur örtlichen Bratwa-Bande. Doch da war noch ein
weiterer Mann, der ein wenig abseits stand. Mit Augen, die so kalt wirkten
wie ein frostiger Wintermorgen, beobachtete er die brutale Szene mit
verstörender Gleichgültigkeit. Mit seiner blassen Gesichtshaut und der
sehnigen, mageren Gestalt wirkte er so bedrohlich wie ein Agent des
russischen Geheimdienstes FSB – aber Nadia kam er nicht wie ein Russe
vor.
Ein zweiter Schuss knallte – und zerstörte Nadias Welt für immer. Ihr
Vater wurde nach vorn geschleudert und fiel auf den Boden.
»So lösen wir hier in Russland die Probleme, mein Freund«, erklärte der
Tätowierte dem grauäugigen Fremden voller Stolz. »Sie können dem
Bürgermeister sagen, dass dieses Unkraut ausgerottet wurde, bevor es
wachsen konnte.«
Der Fremde blickte sich im Raum um. »Zu viele Beweise, die das hier
mit euch in Verbindung bringen könnten … und mit dem Bürgermeister«,
sagte er in erstaunlich gutem Russisch.
»Sie haben recht. Wir werden hier gründlich aufräumen.« Der
Tätowierte sammelte die Gläser auf dem Tisch ein, schüttete die
Wodkareste auf den Boden und nahm ein Feuerzeug heraus.
»Ein gutes Feuer im Winter ist wichtig«, sagte er mit rauem Gelächter
und steckte den Alkohol in Brand.
Nadia keuchte vor Entsetzen auf, als sich die Flammen rasch
ausbreiteten. Die Flasche glitt ihr aus der Hand und fiel polternd auf den
Boden. Sie zerbrach nicht, aber der Lärm verriet ihr Versteck. Der
Tätowierte und der Fremde fuhren herum und starrten zur Kellertür herüber.
Nadia rannte die Treppe hinunter. Das Licht! Sie riss eine Flasche vom
Regal, zerschmetterte die tief hängende Glühbirne und versteckte sich in
der Lücke zwischen zwei Regalen.
Mit fünf großen Schritten war der Anführer an der Tür, riss sie auf und
entdeckte die Wodkaflasche, die auf der obersten Stufe lag und immer noch
wackelte.
Der Tätowierte spähte in die Dunkelheit hinunter. Er drehte den
Lichtschalter. Nichts geschah.
»Komm rauf, wer immer da unten ist!«, bellte der Mann in den dunklen
Keller hinunter.
Niemand antwortete. Und niemand kam herauf.
»Wie du willst«, knurrte der Mann. »Dann wirst du eben geröstet.«
Er hob die Flasche auf, zerschmetterte ihren Hals an der Wand, goss den
Inhalt über die Holzstufen und setzte ihn in Brand. Der Wodka flammte auf.
Der Mann schlug die Tür zu und schob den Riegel vor.
Inzwischen hatten sich auch im Wohnzimmer die Flammen weiter
ausgebreitet. Der Fremde und die Bande verließen das brennende Haus. Als
die Männer über die schneebedeckten Felder davonstapften – hinter sich
das lodernde Inferno des Hauses hell vor dem schwarzen Himmel –, zerriss
der gellende Schrei eines kleinen Mädchens die kalte Nacht.
KAPITEL 1

Zehn Jahre später

»Du bist tot, Connor!«


Connor Reeves biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Er zitterte
vor Anstrengung; seine Hand schien in einem Schraubstock zerquetscht zu
werden und der Arm wurde ihm schier aus der Schulter gerenkt.
»Gib auf!«, knurrte Jason und legte sich mit dem ganzen Körper in den
Angriff.
Kommt nicht in Frage, dachte Connor. Die beiden Kämpfer starrten sich
über den Tisch hinweg an.
»Hey, was geht ab?«, fragte Amir, der gerade in den Einsatzraum im
Buddyguard-Hauptquartier kam.
»Armdrücken«, antwortete Charley. Sie drängte sich nun mit dem
ganzen Rest des Teams um den Wettkampftisch.
»Und? Wer gewinnt?«, fragte Amir, der ebenfalls zum Team gehörte.
»Jason natürlich«, grinste Ling und blickte bewundernd auf den
mächtigen Bizeps ihres Freundes.
»Der Kampf ist noch nicht vorbei«, gab Charley scharf zurück und
schob ihren Rollstuhl ein wenig näher heran. »Komm schon, Connor! Du
kannst ihn schlagen!«
Aber Connors Arm war schon halb zur Tischplatte gesunken. Jeder
Muskel, jede Sehne war bis zum Äußersten angespannt, um dem mächtigen
Druck von Jasons Arm zu widerstehen. Trotz seiner vierzehn Jahre war
Jason bereits 1,77 Meter groß, gebaut wie ein Schwergewichtsboxer und
sehr viel stärker als sein Gegenüber. Trotzdem hatte Connor nicht die
Absicht aufzugeben, ohne sein Äußerstes gegeben zu haben. Und die vielen
Stunden harten Kampfsport-Trainings und am Boxsack waren nicht
vergebens gewesen. Zwar mochte er nicht so stark sein wie Jason, aber er
hatte Ausdauer und Durchhaltevermögen. Wenn er nur lange genug
standhielt, würde die Milchsäure in Jasons Muskeln schießen und ihn
schwächen. Dann würde ihm Connor den Rest geben.
»Achtung, Connor! Du bist nahe dran, dir den Arm zu brechen«, warnte
Amir seinen Freund, als er sich zwischen die anderen Zuschauer drängte.
»Deine Schulter muss in einer Linie mit dem Arm sein. Drehe den
Oberkörper zu Jason, bring den Arm wieder hoch und schau immer auf
deine Hand …«
»Hey, coachen ist hier nicht erlaubt!«, fauchte Ling, kniff die Augen
zusammen und starrte Amir mit ihren tiefschwarzen Augen wütend an.
»Mach ich doch gar nicht!«, gab Amir mit unschuldigem Lächeln
zurück. »Ich versuche nur, ihn anzufeuern.«
Aber bevor Connor dem Rat seines Freundes folgen konnte, unternahm
Jason einen weiteren Versuch, Connors Hand auf den Tisch zu drücken.
Connor biss sich hart auf die Unterlippe, während er mit seiner ganzen
Kraft Widerstand leistete. Aber er spürte, wie sein Unterarm langsam
nachgab, als die Schmerzen immer stärker wurden.
»Connor, du musst den Oberarm näher am Körper halten«, zischte ihm
Amir ins Ohr. »Dadurch kannst du die Kraft von Arm und Körper besser
verbinden. Versuche, die Faust ein wenig nach oben zu drehen und seine
Hand näher zu dir zu ziehen. Die Technik heißt Top-Roll – so wird es für
Jason schwerer, seine ganze Muskelkraft gegen dich einzusetzen.«
»Woher weißt du das alles?«, wollte Richie wissen und betrachtete
vielsagend Amirs schmächtige Gestalt. »Du siehst ja nun wirklich nicht wie
ein Rocky Balboa aus!«
»Internet«, erklärte Amir. »Hab da mal ein Video von einem Profikampf
gesehen, bei dem einer der Kämpfer in derselben Situation wie Connor war.
Sein Arm brach wie ein Zweig. Ich hätte beinahe über den Bildschirm
gekotzt, es war echt krass.«
»Das möchte ich gern sehen!«, sagte Ling mit boshaftem Grinsen.
»Aber hoffentlich nicht grad jetzt«, sagte Charley. Sie hielt die
Armlehnen ihres Rollstuhls so fest gepackt, dass die Knöchel weiß
hervortraten, während sie Connors verzweifelten Kampf immer besorgter
beobachtete.
Connor verdrängte die Vorstellung, dass sein Arm plötzlich wie ein
Zweig brechen könnte, drehte die Faust ein wenig nach oben und rückte
sich so zurecht, dass sein Arm näher an seinem Körper lag. Tatsächlich ließ
der Schmerz ein klein wenig nach und er konnte sich Jasons neuem Angriff
besser widersetzen.
»Du bist so ein Weichei, Connor!«, versuchte ihn Jason zu reizen.
Connor überhörte die Beleidigung und sparte sich die Kraft für den
Kampf auf. Beide wussten, dass dies hier mehr war als nur
freundschaftliches Armdrücken. Für beide ging es um Stolz und
gegenseitige Achtung, aber vom Ausgang des Kampfes hing auch ihr Rang
im Team ab. Jason hatte offensichtlich mit einem leichten Sieg gerechnet.
Connor sah in den Augen seines Gegners nicht nur Überraschung, sondern
auch Wut darüber, dass ihm der Sieg nicht längst gelungen war – und mit
jeder weiteren Sekunde schien er unsicherer zu werden.
»Mach ihn fertig, Jason!«, drängte ihn Ling.
Grunzend vor Anstrengung unternahm Jason einen weiteren Versuch,
Connors Arm hinunterzudrücken. Connors Hand kam der Tischplatte noch
ein bisschen näher, bis es ihm gelang, dem neuen Druck zu widerstehen und
seine Position zu halten. Aber er wusste nicht, wie lange er noch
durchhalten konnte. Sein Arm zitterte inzwischen so heftig, dass es schien,
als würde er einen Anfall bekommen.
»Gib auf … du hast … keine Chance«, keuchte Jason, aber auch sein
Gesicht war vor Anstrengung dunkelrot angelaufen. Die Adern an Hals und
Oberarm traten so weit hervor, dass es wirkte, als würden sie gleich platzen.
Connor sah, wie schwer es Jason fiel, ihn zu besiegen, und das gab ihm
neue Kraft.
»Nicht aufgeben, Connor! Allez! Allez! Allez!«, drängte Marc, der vor
Aufregung in seine Muttersprache fiel.
Richie war für die Gegenseite. »Du hast ihn fast, Jason!«
Auch die übrigen Zuschauer feuerten nun einen der beiden Kämpfer an,
sodass sich der Einsatzraum praktisch in eine Kampfsportarena
verwandelte. Connors Handknöchel, weiß vor Anstrengung, waren nur noch
ein paar Zentimeter von der Tischplatte entfernt. Jason witterte den nahen
Sieg und legte seine ganze Energie in einen letzten Angriff.
Aber erstaunlicherweise gelang es Connor, sich aus der drohenden
Niederlage herauszukämpfen. Millimeter um Millimeter drückte er Jasons
Hand wieder nach oben, gewann einen winzigen Vorteil …
»Aufhören! Der Colonel ist da!«, unterbrach Charley plötzlich den
Kampf.
Die anderen setzten sich schnell auf ihre Plätze, als Colonel Black in
den Raum kam. Connor und Jason lösten die schweißnassen Hände,
sprangen auf und nahmen Haltung an.
Der Colonel war ein ehemaliger SAS-Soldat mit silbergrauem,
militärisch kurzem Haarschnitt und kantigem Gesicht, wie der Prototyp
eines Offiziers aus einem Hollywoodfilm. Er warf einen kurzen Blick auf
die beiden verschwitzten Kämpfer. »Freut mich, dass ihr beide euch endlich
vertragt«, sagte er mit leicht sarkastischem Unterton.
Er bedeutete dem Team, sich zu setzen, und ging zur Stirnseite des
Raums, an der ein großer Monitor installiert war. Noch bevor er mit der
Einsatzbesprechung beginnen konnte, raunte Jason Connor zu: »Ich hab
gewonnen.«
»Hast du nicht«, zischte Connor zurück.
Jason warf ihm einen wütenden Seitenblick zu. »Hatte deine
Handknöchel auf der Tischplatte!«
»Hab sie nicht berührt. Außerdem wurde der Kampf unterbrochen.«
»Du hättest sowieso nicht gewonnen …«, gab Jason verächtlich zurück.
»Könnt ihr euch nicht einfach auf ein Unentschieden einigen?«,
flüsterte Charley den beiden zu, während der Colonel das Notebook und
den großen HD-Monitor hochfuhr und sich wieder dem Team zuwandte.
»Nein!«, sagten Connor und Jason im Chor. Sie schauten sich an und
grinsten.
»Revanche?«, fragte Jason herausfordernd.
»Kann’s kaum erwarten«, antwortete Connor. Insgeheim hoffte er
jedoch, dass der Kampf nicht schon bald stattfinden würde. Jason
gegenüber hätte er es zwar niemals zugegeben, aber sein Arm schmerzte
höllisch.
KAPITEL 2

»Korruption! Kriminalität! Mord! Das ist das Russland, in dem ich


aufgewachsen bin – aber nicht das, in dem ich leben will!«, rief der Redner
auf dem Podium. Seine schmalen Augen funkelten vor Eifer und Wut.
»Unsere Regierung macht schon seit vielen Jahren mit Dieben und
Kriminellen gemeinsame Sache. Sie saugen unserem Heimatland das Blut
aus. Und sie verprassen das, was ihr alle mit euren Händen erarbeitet habt
und deshalb euch allen gehört!«
Die Menschenmenge, die sich dicht um das Rednerpodium drängte,
applaudierte und jubelte zustimmend. Dabei war der Redner sicherlich
keiner von ihnen: er war groß und schlank, trug einen eleganten,
maßgeschneiderten dunkelblauen Nadelstreifenanzug zur randlosen Brille
und glich eher einem Börsenmakler als einem Revolutionär – aber er
schaffte es, die Wut der Menge anzufachen.
»Die Mafia hat sich im Herzen unserer Mutter Russland eingenistet!«,
donnerte er weiter und schlug sich auf die Brust. »Aber ich schwöre: Ich
werde diesen Staat zerstören, der von Verbrechern beherrscht wird! Ich
schwöre: Ich werde dieses System vernichten, in dem grade mal ein halbes
Prozent der Bevölkerung über achtzig Prozent des Volksvermögens besitzt!
Ich schwöre: Ich werde für unser Volk kämpfen!«
Wieder brachen die Zuhörer in Jubel aus.
»Aber diesen Kampf kann ich allein nicht gewinnen«, fuhr er fort. »Ich
brauche EUCH, das wunderbare russische Volk! Ihr müsst euch erheben!
Ihr müsst aktiv werden. Die aufgeblähten Schweine, die sich auf unsere
Kosten mästen, werden den Trog nicht freiwillig verlassen. Wählt die
Veränderung. Wählt Unser Russland!«
Der Mann hob beide Arme, die Hände zu Fäusten geballt, und seine
Zuhörer brachen in ekstatischen Applaus und Jubel aus und begannen zu
skandieren: »RUSSLAND! RUSSLAND! RUSSLAND!«

»Viktor Malkow«, sagte Colonel Black, hielt das Video an und drehte die
Raumbeleuchtung wieder hoch, »russischer Milliardär und Politiker. Er
gehört zu der sogenannten neuen Garde der Politiker. Und er ist der Führer
der einzigen glaubwürdigen Oppositionspartei Russlands. Die Bewegung
Unser Russland wurde als Reaktion auf eine ganze Reihe von Vorfällen und
nationalen Skandalen gegründet, wobei ein Ereignis eine ganz besondere
Rolle spielte, nämlich das brutale Massaker an einer russischen
Bauernfamilie und mehrerer ihrer Freunde. Es wurde vor zehn Jahren von
einer Mafiabande verübt. Größeren Zulauf bekam die Partei allerdings erst,
nachdem sich Viktor an die Spitze der Bewegung setzte. Er will vor allem
gegen die Korruption im Land kämpfen und ist deswegen im Volk
außerordentlich beliebt. Aber das bringt ihn natürlich in einen direkten
Konflikt – nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit der Bratwa.«
»Bratwa?«, fragte Jason.
»Die russische Mafia«, erklärte der Colonel. »Bratwa bedeutet
Bruderschaft. Es ist ein Sammelbegriff für verschiedene Gruppierungen des
organisierten Verbrechens in ganz Russland. Jede Bande wird von einem
Mafiaboss geleitet, der Pakhan genannt wird. Die russische Mafia bestand
ursprünglich aus entlassenen Strafgefangenen, korrupten Beamten und
Unternehmern; man unterscheidet heute mehrere große Gruppen. Man kann
sagen, die Bratwa ist die heimliche Herrscherin Russlands.« Der Colonel
räusperte sich. »Das wiederum bedeutet, dass Viktor Malkow, der ja mit
dem Versprechen auftritt, die Korruption auszumerzen, für die Russenmafia
zum Feind Nummer eins geworden ist. Und hier kommen wir ins Spiel.«
Der Colonel rief das Foto eines dunkelhaarigen Jungen auf: schmale
Nase, dünne Lippen, scharf hervortretende Wangenknochen – das genaue
Abbild seines Vaters, nur dass der Sohn viel missmutiger in die Kamera
starrte.
»Operation Schneesturm«, fuhr der Colonel fort. »Unser Klient ist der
fünfzehnjährige Feliks Malkow, Viktors einziger Sohn und die einzige
Schwachstelle in seinem Panzer. Unsere Aufgabe ist es, den Jungen vor
einer potenziellen Entführung oder vor einem Mordanschlag zu schützen.«
Marc hob fragend eine Augenbraue. »Warum potenziell? Nach allem,
was Sie über die Bratwa gesagt haben, ist es doch ziemlich wahrscheinlich,
dass sie ihn irgendwann umnieten wollen.«
Der Colonel bestätigte die Vermutung mit einem kaum merklichen
Nicken. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust; der Gründer der
Buddyguard-Organisation mochte bereits auf die Fünfzig zugehen, war aber
körperlich in Spitzenkondition. »Unserem Auftraggeber ist die Gefahr
vollkommen bewusst, in der er und sein Sohn sich befinden. Daher hat er
ein eigenes Sicherheitsteam angeheuert. Aber Viktor will gewiss sein, dass
er seinen Feinden immer einen Schritt voraus ist. Deshalb sollen wir den
letzten Verteidigungsring um seinen Sohn bilden. Einen unsichtbaren
Schutzschild.«
»Und was ist mit seiner Mutter?«, fragte Charley.
»Verstorben«, antwortete der Colonel knapp. Er warf einen Blick auf
seine Notizen. »Sie ertrank letztes Jahr im Swimmingpool der Villa der
Familie. Ein tragischer Unfall. Der Gerichtsmediziner vermutete
Selbstmord.«
»Kein Wunder, dass der Junge so unglücklich ausschaut«, meinte Amir
mit einer Kopfbewegung zum Foto auf dem Bildschirm.
Colonel Black tippte mit dem Zeigefinger auf seine Aufzeichnungen.
»Ihr Tod scheint den Jungen ganz besonders hart getroffen zu haben. Er war
danach ein halbes Jahr lang in psychotherapeutischer Behandlung.«
Connor studierte das Foto noch einmal genauer. Verständlich, dass der
Junge so trotzig wirkte. Wer immer für diesen Einsatz abkommandiert
wurde, musste sehr behutsam mit ihm umgehen. »Okay. Und wer ist als
Buddyguard für diese Operation vorgesehen?«, fragte er.
Die stahlgrauen Augen des Colonels richteten sich auf ihn. »Du … und
Jason.«
Sowohl Connor als auch Jason zuckten zusammen und fuhren beinahe
von ihren Stühlen hoch. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Denn
erstens hatte Connor nach dem brutalen Einsatz in Afrika, den er gerade erst
hinter sich hatte, den Colonel gebeten, ihn für eine Weile nicht mehr auf
eine Mission zu schicken. Und zweitens wusste der Colonel, dass die
beiden alles andere als dicke Freunde waren.
»Ah – das absolute Traumpaar der Buddyguards!«, witzelte Richie.
»Halt die Klappe«, murrte Jason mit düster zusammengezogenen
Augenbrauen.
»Na klar, ihr beide habt doch heute Morgen schon richtig lieb Händchen
gehalten«, sagte Ling spöttisch. »Und wer weiß, wenn die Mission vorbei
ist, werdet ihr euch vielleicht ewige Treue schwören!«
Das Team brach in Gelächter aus. Nur Jason und Connor lachten nicht.
Das war die schlimmste Partnerschaft, die Connor sich hätte vorstellen
können. Die beiden Jungen waren von Anfang an Rivalen gewesen. Sie
waren sich über nichts einig und gerieten sich ständig beim geringsten
Anlass in die Haare. Schon beim ersten Zusammentreffen hatte Jason
versucht, Connor zu verprügeln. Sicher, das war nur ein Test gewesen, um
herauszufinden, ob Connor überhaupt das Zeug zu einem Buddyguard hatte,
aber damals hatte Connor Jason besiegt und ihm damit vor den Augen der
anderen eine Schlappe eingetragen. Das war der Beginn ihrer Rivalität
gewesen – seither versuchte jeder der beiden zu beweisen, dass er das
Alphatier war. Ob während der Fitnessübungen, im Kampfsporttraining, bei
den Missionen … und sogar bei den Streichen, die sie sich gegenseitig
spielten.
»Und wer hat dann das Kommando bei der Operation?«, wollte Jason
wissen.
»Charley wird wie immer eure Teamleiterin sein«, antwortete der
Colonel und nickte ihr anerkennend zu. »Ihr beide werdet undercover
arbeiten und offiziell als Feliks’ Cousins auftreten. Aber unter euch beiden
wird Connor den Befehl haben. Du bist sein Stellvertreter.«
»Stellvertreter!« Jason blieb buchstäblich der Mund offen stehen.
»Warten Sie mal, Colonel … Ich bin schon länger Buddyguard als Connor.
Deshalb sollte ich beim Einsatz den Befehl haben.«
Der Colonel blickte ihn streng an. »Ich habe meine Entscheidung
getroffen. Wenn du ein Problem damit hast, dann sag es jetzt und nicht erst,
wenn die Mission begonnen hat. Also: Hast du ein Problem damit?«
Jason starrte ihn einen Moment wütend lang an, doch dann schüttelte er
knapp den Kopf. »Nein, Sir!«
»Gut. Bei diesem Einsatz werdet ihr aufeinander angewiesen sein«,
sagte der Colonel, wobei seine Stimme so ernst klang wie noch vor keiner
anderen Mission. »Ich will euch nichts vormachen: Für einen Bodyguard ist
Russland zurzeit das gefährlichste Land der Welt.«
KAPITEL 3

Nikolaj Antonow ging schnell die Straße entlang, dicht gefolgt von einem
Bodyguard mit der Statur eines Kleiderschranks. Nikolaj fühlte sich
sicherer, seit er den ehemaligen tschetschenischen Soldaten als Leibwächter
angeheuert hatte, vor allem hier, in den fast menschenleeren Straßen von
Moskau City, dem riesigen Finanzbezirk, der von den wirtschaftlichen
Problemen Russlands besonders stark betroffen war.
Nikolaj war Banker und im Moment hatte er es sehr eilig. Den Kopf mit
dem schmalen, rattenähnlichen Gesicht und der dicken runden Brille
gesenkt haltend, ging er rasch an der verwaisten Baustelle eines
halbfertigen, heruntergekommen Wolkenkratzers vorbei. Unvermutet traten
ihm zwei kahl geschorene Männer in schwarzen Wintersteppjacken in den
Weg. Nikolajs Bodyguard war sofort alarmiert, runzelte die dichten
schwarzen Brauen und ballte die gewaltigen Fäuste.
»Nikolaj Antonow«, sprach einer der beiden den Banker an; keine
Frage, sondern eine Feststellung. Nikolaj entdeckte eine Tätowierung auf
der rechten Hand des Mannes, ein Totenschädel, das Symbol der Bratwa für
einen verurteilten Mörder. Die Handknöchel waren schwielig, und auf der
Wange, die breit und kantig war wie ein Ziegelstein, bemerkte Nikolaj eine
lange weiße Narbe. Das ließ vermuten, dass der Mann ein Kryscha war,
einer der äußerst brutalen Schutzgeld-Erpresser der russischen Mafia.
Der Banker schluckte heftig. »J-ja?«, fragte er unsicher, während sein
Bodyguard hinter ihm nach der Pistole griff.
»Der Pakhan möchte Sie sprechen.«
Nikolaj hob die Hand und signalisierte damit seinem Leibwächter, die
Pistole im Holster zu lassen. »Mich? Aber warum sollte der Pakhan mit mir
sprechen wollen?«, fragte er, während sein Blick an den Männern vorbei
über die Straße zuckte, so nervös wie der einer Maus, die von einer
hungrigen Katze in die Ecke getrieben wird. »Ich hatte bisher immer nur
mit seinem Buchhalter zu tun.«
»Das müssen Sie ihn schon selber fragen«, antwortete der Kryscha rau.
Im selben Moment rollte ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben
heran und hielt neben dem Banker am Bordstein. Die hintere Tür schwang
auf. Ein Mann mit strengem Gesicht, tiefliegenden Augen und dünnen
Lippen saß bequem zurückgelehnt auf dem Rücksitz. Eine Hand lag lässig
auf der mittleren Lederarmstütze; im Licht der LED-Deckenleuchte
glitzerte ein prunkvoller goldener Siegelring mit dem Relief eines
Bärenkopfes.
Der Banker riss geschockt die Augen auf. »Roman Gurow? Sie … Sie
sind der Pakhan?«
»Das scheint Sie zu überraschen?«, fragte der Mann.
»Natürlich! Aber Sie sind doch …«
»Wer ist der Ochse?«, unterbrach ihn Roman und hob den beringten
Zeigefinger in Richtung des Leibwächters, der hinter Nikolajs Schulter
aufragte.
»Äh … Maxim, mein Bodyguard«, antwortete der Banker und richtete
sich wieder ein wenig auf.
Ohne Vorwarnung packten die beiden Kryscha den bulligen Beschützer;
einer schob ihm den Arm von hinten um den Hals, der andere zog ein
gezahntes Messer und stieß es ihm ins Herz. Der Bodyguard sank ohne
einen Laut leblos zu Boden.
»Als Bodyguard taugt er nicht viel«, bemerkte Roman beiläufig.
»Steigen Sie ein.«
Doch Nikolaj starrte geschockt auf seinen toten Beschützer, den die
beiden Kryscha nun unter den Achseln packten und durch den
Schneematsch zerrten. Die Leiche zog eine Blutspur hinter sich her. Wie
einen Sack Abfall warfen sie ihn in einen der Bauschuttcontainer.
»Ich sage es nicht noch einmal«, sagte der Mafiaboss. »Oder sollen
Ihnen meine Männer beim Einsteigen behilflich sein?«
Nikolaj stieg hastig in den Wagen und setzte sich neben den
berüchtigten und weithin gefürchteten Roman Gurow.
»W-w-was kann ich für Sie tun?«, fragte der Banker unsicher,
verzweifelt bemüht, ein wenig Haltung zu bewahren. Der Mercedes fuhr
wieder an.
»Sie managen unsere Investitionen. Und bisher bin ich mit der Rendite
sehr zufrieden, die sie abwerfen, vor allem in diesen schwierigen Zeiten«,
erklärte Roman, wobei er lässig den Ring an seinem Finger drehte. »Aber
ich wurde kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass bei jeder einzelnen
Transaktion ein wenig … Sahne abgeschöpft wurde.«
»Wirklich?«, fragte Nikolaj, und selbst in seinen eigenen Ohren klang
die Frage künstlich und gezwungen.
Roman starrte ihn an. »Sie sind unser Banker. Ich dachte eigentlich,
dass Ihnen so etwas sofort hätte auffallen müssen.«
Nikolajs Zungenspitze fuhr nervös über die Lippen. Schlagartig wurde
ihm klar, dass es keinen Zweck hatte, den Mafiaboss täuschen zu wollen,
deshalb wechselte er schnell die Taktik. »Ich hatte tatsächlich schon so
etwas be… aber ich kann Ihnen versichern, dass … dass es sich nur um eine
Fehlbuchung handelte …«
»Zwanzig Millionen Dollar sind ein bisschen viel für eine einzige
Fehlbuchung, meinen Sie nicht auch?«
Nikolaj blickte verlegen auf seine Hände und versuchte vergeblich, ihr
Zittern zu verbergen. »Äh … ja, natürlich … ich werde den Fehler sofort
korrigieren.«
»Gut«, nickte Roman lächelnd und hielt ihm die Hand hin. »Ich freue
mich, dass wir dieses kleine Missverständnis so leicht ausräumen konnten.«
Der Banker starrte die angebotene Hand einen Moment lang fassungslos
an. Der Goldring funkelte wie das Versprechen, dass mit diesem
Handschlag sein Fehler vergeben und vergessen sei. Nikolaj lächelte
unsicher und ergriff die dargebotene Hand … und zuckte schmerzhaft
zusammen, als seine Hand wie in einem Schraubstock zusammengequetscht
wurde. Der Mafiaboss drückte und drehte sie so kräftig, als wollte er dem
Banker die Hand aus dem Gelenk schrauben. Unwillkürlich stieß Nikolaj
einen schrillen Schrei aus. Mitleidlos erhöhte Roman den Druck, bis ein
widerliches Knacken zu hören war, als würde ein dürrer Zweig zerbrochen.
Das Blut wich schlagartig aus Nikolajs Gesicht; er stöhnte auf, vor
Schmerzen fast wahnsinnig.
Roman beugte sich dicht zu dem Banker hinüber und flüsterte ihm ins
Ohr: »Solltest du jemals wieder versuchen, die Bratwa zu bestehlen, werde
ich dir nicht nur die Handknöchel brechen, mein Freund. Hast du
verstanden?«
Nikolaj war nur noch zu einem schwachen Nicken fähig.
Roman befahl seinem Fahrer anzuhalten. Die Hintertür öffnete sich
automatisch.
»Seien Sie vorsichtig, der Gehweg ist vereist«, sagte Roman warnend,
jetzt wieder im höflichen Ton eines Geschäftsmannes, trat Nikolaj aber, als
dieser ausstieg, so kräftig in den Hintern, dass der Banker aus der
Limousine stürzte und in voller Länge auf dem Gehweg aufschlug. »Sie
wollen sich doch nicht noch etwas brechen, oder?« Und bevor sich die
Hecktür wieder schloss, rief er ihm noch zu: »Ich rate Ihnen, einen neuen
Bodyguard anzuheuern.«
Während Nikolaij wie benommen auf dem Eis liegen blieb, glitt der
Mercedes fast lautlos davon. Der Pakhan wandte sich an seine Assistentin,
die auf dem Beifahrersitz saß. »Und nun zu den wirklich wichtigen Dingen,
die zu regeln sind … Viktor Malkow.«
KAPITEL 4

»Aber das ist ein echtes Messer!«, rief Amir entsetzt. Die Augen traten ihm
förmlich aus den Höhlen, als die scharfe Klinge dicht vor seinem Gesicht
vorbeifuhr.
»Natürlich ist es echt«, sagte Steve gelassen. Der Kampfsporttrainer der
Buddyguard-Organisation ragte stark und groß wie ein Block Granit vor
dem schmächtigen Amir empor. »Sei kein Weichei. Höchste Zeit, dass ihr
mit richtigen Waffen trainiert. Sonst wäre es, als wolltet ihr im Sandkasten
schwimmen lernen.«
»A-a-aber wir könnten doch dabei verletzt werden!«, stotterte Amir und
wandte sich hilfesuchend zum Rest des Teams um, die in der Sporthalle
standen. Die anderen Buddyguards schienen genauso geschockt zu sein wie
er. Nach der Einsatzbesprechung am Morgen und Bugsys
Sicherheitstraining mit dem Auto stand jetzt ihre tägliche Trainingseinheit
in Selbstverteidigungstechniken auf dem Stundenplan.
Steve nickte. »Genau darum geht es. Regel Nummer eins für die
Selbstverteidigung gegen einen Messerangriff lautet: Es gibt keine. Ihr
werdet auf jeden Fall mindestens eine Schnitt- oder Stichwunde
davontragen, egal wie geschickt oder vorsichtig ihr seid. Deshalb stellen
wir uns bei dieser Trainingseinheit gar nicht erst die Frage, wie man sich
gegen einen Messerangriff wehren kann, sondern wie man ihn überleben
kann.«
Connor wusste nur allzu gut, was Steve damit meinte – er hatte es selbst
erlebt. Bei seiner ersten Mission hatte er die Tochter des US-Präsidenten
beschützen müssen; dabei hatte ein Angreifer mit einem Springmesser auf
ihn eingestochen. Gerettet hatte ihn nur sein T-Shirt, ein speziell für die
Buddyguard-Organisation hergestelltes Hemd aus stichfestem Hightech-
Gewebe. Connor war klar, dass er beim nächsten Messerangriff vielleicht
nicht mehr so viel Glück haben würde. Doch als er nun das Messer mit der
zwölf Zentimeter langen Klinge betrachtete, das vor ihm auf dem Tisch lag,
kamen ihm ernsthafte Bedenken. Übertrieb Steve nicht ein wenig mit
seinem Versuch, möglichst realistische Bedingungen beim Training zu
erzeugen? Wenn schon die Missionen lebensgefährlich waren, konnte man
dankend auf ein Training verzichten, das einen ins Krankenhaus beförderte!
»Ein Messer mitten in einer Stichbewegung abfangen zu wollen, ist
ungefähr so ratsam, wie die Hand in einen Mixer zu stecken«, fuhr der
Trainer fort, ließ das Messer durch die Luft wirbeln und fing es geschickt
am Griff wieder auf. »Und deshalb verrate ich euch auch gleich die Regel
Nummer zwei bei einem Messerangriff: Hau ab – solange du noch kannst.
Distanz ist dein bester Verbündeter, wenn du es mit so einer Waffe zu tun
hast. Denkt immer daran: Ein Angreifer, der mit Adrenalin vollgepumpt ist,
kann mehrere Schritte Abstand in weniger als eineinhalb Sekunden
überwinden.«
Ohne jede Vorwarnung stürzte Steve plötzlich vor und hielt die
rasiermesserscharfe Klinge direkt an Marcs Kehle.
»Merde!«, schrie Marc entsetzt und riss geschockt die Augen auf.
»Kein Grund zu fluchen, aber ich denke, ihr habt kapiert, was ich damit
sagen wollte.« Steve senkte das Messer und gab Marc wieder frei.
»Eineinhalb Sekunden lassen euch sehr wenig Zeit zu reagieren.«
»Ach, ich denke mal, er hat ziemlich schnell reagiert«, sagte Ling und
blickte mit vielsagendem Grinsen auf Marcs Shorts. »Vielleicht solltest du
eine trockene Unterhose anziehen, Marc.«
Marc schaute unwillkürlich an sich hinunter und das Team brach in
schallendes Gelächter aus.
»Ha-ha«, machte Marc mit rotem Gesicht, als ihm klar wurde, dass er
auf ihren Trick hereingefallen war.
»Darüber reißt man keine Witze«, brummte Steve verärgert und deutete
mit dem Messer auf das Team. »Euer Leben kann eines Tages von den
Techniken abhängen, die ich euch hier beibringen will. Im Internet könnt
ihr Kampfsporttrainer sehen, die verschiedene Verteidigungstechniken
gegen Messerangriffe vorführen. Einige sind ganz einfach, andere sehen
lediglich gut aus, wieder andere sind einfach nur dumm oder sogar
gefährlich. Und die meisten funktionieren in realen Angriffssituationen gar
nicht. Es gibt nur einen einzigen wirksamen Weg, mit einem
messerschwingenden Angreifer fertig zu werden, und der lässt sich in
unserer Sprache mit drei präzisen S-Wörtern beschreiben: Seize. Strike.
Subdue.«
Er winkte Jason zu sich und gab ihm das Messer. »Packen, schlagen,
niederringen – das klingt einfacher als es ist.« Er nickte Jason zu. »Greif
mich an.«
»Stich oder Hieb?«, fragte Jason und wog das Messer in der Hand.
Aufgrund von Jasons Größe und Boxerfahrung wählte ihr schrankgroßer
Trainer oftmals ihn aus, um bestimmte Techniken zu demonstrieren. Jason
wusste daher, dass Steve einen harten und schnellen Angriff erwartete.
»Kannst du selbst bestimmen«, antwortete Steve und hob die Hände zur
Abwehr. »In der realen Situation weiß ich ja auch nicht, was kommt.«
Jason nickte, dann griff er Steve mit einem Überhand-Stoß an, wobei er
auf Steves Brust zielte. Steve trat blitzschnell seitwärts nach rechts,
blockierte die Messerhand mit dem Unterarm und stieß Jason die
Handfläche ins Gesicht. Gleichzeitig packte er sein Handgelenk, rammte
ihm das Knie in den Bauch und warf ihn zu Boden, wo er ihn in den
Polizeigriff nahm. Bevor Jason noch wusste, wie ihm geschah, erhöhte
Steve den Druck, sodass Jason sein Messer loslassen musste. Die Aktion
lief dermaßen schnell ab, dass Jason nach nicht einmal vier Sekunden
entwaffnet war.
Als Connor Jasons schmerzverzerrtes Gesicht sah, war er froh, von
Steve nicht als Angreifer ausgewählt worden zu sein.
Jason stöhnte erleichtert auf, als Steve ihn freigab. »Gut. Jetzt zeige ich
euch die Abwehr noch einmal in Zeitlupe.«
Jason schüttelte zur Auflockerung die Arme, dann wiederholte er
langsam den Stoßangriff. Langsam und geschmeidig trat Steve mit
erhobenem Unterarm direkt in den Angriff hinein.
»Der Schlüssel zu allem ist, die Kontrolle über den Messerarm zu
gewinnen, also ihn zu packen«, erklärte Steve. »Kann sein, dass man ihn
zuerst abblocken muss, aber wenn man den Arm des Angreifers nicht sofort
zu packen bekommt, kann er zurückweichen und einen zweiten Angriff
starten.«
Steve packte Jasons Handgelenk und schlug Jason in Zeitlupe die
Handkante gegen den Hals.
»Gleichzeitig müsst ihr zuschlagen. Kopf oder Hals sind die besten
Optionen. Der Angreifer ist momentan geschockt, die Waffe unter
Kontrolle. Jetzt müsst ihr ihn unterwerfen. Das kann man durch mehrere
Kniestöße zum Kopf, zum Bauch oder in den Unterleib einleiten, danach
wirft man ihn zu Boden.«
Er simulierte einen Kniestoß in Jasons Unterleib. Jason stieß ein
schrilles Kreischen aus, verdrehte theatralisch die Augen und brach in die
Knie. Das Team kicherte. Steve wandte den Polizeigriff an, aber mit so viel
Kraft, dass Jason vor Schmerzen aufjaulte. Steve knurrte: »Nimm das
gefälligst ernst!«
»Erst wenn ihr die volle Kontrolle über den Angreifer habt, könnt ihr
versuchen, ihn zu entwaffnen«, fuhr Steve fort. »Sonst könnte es sein, dass
ihr ein paar Finger verliert.« Er zeigte ihnen, wie leicht ihm der Angreifer
selbst in dieser Situation noch einen Zeigefinger abschneiden konnte, wenn
er nicht vorsichtig genug war. »Danach brecht ihr ihm den Arm oder tut,
was immer nötig ist, um einen weiteren Angriff zu verhindern. Keine
Angst, Jason, ich lasse dich jetzt in Ruhe.«
Jason nickte dankbar, als Steve den schmerzhaften Griff lockerte.
Erleichtert trat er wieder in die Reihe zurück.
»Eure Priorität muss sein, euch und euren Klienten in Sicherheit zu
bringen«, erklärte Steve und verteilte weitere Messer im Team. »Die 3S-
Technik ist nicht besonders nett, aber sehr effektiv. Bildet Zweierteams und
fangt mit der Übung an.«
Das Alphateam teilte sich in Kampfpaare auf. Alle waren äußerst
vorsichtig, da sie wussten, dass sie es mit einem richtigen Messer zu tun
hatten.
»Hoffen wir, dass keiner von uns es jemals in Wirklichkeit mit so einem
Ding zu tun bekommt!«, sagte Richie und beäugte das äußerst scharfe
Messer in seiner Hand. »Vor allem du, Charley.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Charley scharf.
»Na ja … du kannst dich ja nicht … ich meine, wie willst du …?«,
stotterte Richie und suchte vergeblich nach den richtigen Worten.
»Greif mich an«, forderte ihn Charley heraus. Ihre strahlend blauen
Augen wirkten plötzlich kalt; Connor wusste, dass Richie nun eine Lektion
bevorstand, die er wohl nie mehr vergessen würde. Und Richie wusste es
offenbar auch. Aber ein Rückzieher kam jetzt nicht mehr in Frage. Nichts
reizte Charley mehr als das, was Richie gerade getan hatte: ihre Fähigkeiten
geringer einzuschätzen als die anderer Leute, vor allem im direkten
Zweikampf.
»Bist du … sicher?«, fragte Richie und blickte zwischen dem Messer
und Charley hin und her. Offenbar fragte er sich, wer gefährlicher war – das
Messer oder Charley.
Charley nickte knapp. »Los, fang an. Aber halte dich nicht zurück …
nur weil ich im Rollstuhl sitze.«
Connor lächelte Richie mitleidig an. Noch immer zögernd, hob der
junge Ire das Messer, doch dann griff er sie schnell mit einem weit
ausholenden Hieb an. Er zielte auf Charleys Schulter. Charley drehte sich so
schnell mit ihrem Stuhl, dass man fast glauben konnte, er würde von
Raketen angetrieben. Sie wich dem ersten Angriff aus und riss einen der
Metallarme aus dem Rollstuhl. Die wie geölt funktionierende Technik gab
den Arm sofort frei. Damit hatte sie nun eine tödliche Waffe in der Hand,
die einem der kurzen Tonfa-Kampfsport-Schlagstöcke mit ihren
charakteristischen Quergriffen glich. Bevor Richie zu einem zweiten
Angriff ausholen konnte, schlug ihm Charley den Stock auf das
Handgelenk. Richie schrie auf und ließ das Messer fallen. Im nächsten
Augenblick klappte er zusammen, als sie ihm den Metallstock mit voller
Wucht in den Bauch rammte. Nun musste sie sich nur noch leicht nach vorn
beugen und den seitlichen Handgriff des Tonfa hinter Richies rechten
Fußknöchel haken. Ein kräftiger Ruck – und Richie wurde das Bein unter
dem Leib weggerissen. Er verlor das Gleichgewicht und schlug hart auf
dem Boden auf.
»So würde ich mich gegen einen Messerangriff wehren«, erklärte
Charley gelassen und schob ruhig den Metallstock wieder in die Halterung
zurück. Der Rest des Teams starrte sie mit offenem Mund bewundernd an.
KAPITEL 5

»Noch ein Einsatz! Letztes Mal hast du mir versprochen, dass es keinen
mehr geben wird!«
Connor stöhnte innerlich, als er die vorwurfsvolle Stimme seiner
Großmutter hörte und sah, wie sie die Lippen zusammenpresste, um ihre
Wut zu beherrschen. Er verstand, dass sie sich verraten und betrogen fühlen
musste.
»Ich weiß … und ich habe ja auch darum gebeten, vorerst nicht mehr
eingesetzt zu werden«, sagte er zerknirscht in die Webcam an seinem
Tablet-Computer. »Aber der Colonel ließ nicht locker. Außerdem bin ich
bei dieser Mission nicht allein. Jason kommt mit.«
»Dann haben die Terroristen jetzt also zwei Kinder als Zielscheiben!«,
sagte seine Großmutter verbittert. »Na, wie können sie da noch daneben
schießen?«
»Nein, es bedeutet doppelten Schutz«, widersprach Connor.
»Für die Person, die ihr beschützen sollt, aber nicht für euch beide. Du
stehst direkt in der Schusslinie. Du riskierst alles. Und wofür?«
»Das weißt du doch«, sagte Connor und gab sich Mühe, sie seine
Verärgerung nicht hören oder sehen zu lassen. »Für dich und für Mum. Mit
dem, was ich mache, können wir ihre Pflege bezahlen. Ich muss …«
»Du musst überhaupt nichts, Connor! Wir werden schon eine Lösung
finden. Das war schon immer so«, sagte seine Großmutter fest. »Du solltest
nicht dein Leben aufs Spiel setzen, damit wir es leichter haben. Wenn deine
Mutter die Wahrheit wüsste, würde sie …«
»Sie darf es nicht erfahren, hörst du? Bitte sag es ihr nicht!«, fiel ihr
Connor ins Wort. »Gran, darüber haben wir doch schon gesprochen. Es
gehört zu meiner Abmachung mit Colonel Black, dass niemand von meiner
Rolle bei der Buddyguard-Organisation erfahren darf. Sie kann nur deshalb
so wirksam arbeiten, weil nur wenige Menschen darüber Bescheid wissen.
Und wenn niemand Bescheid weiß, bleibe ich als Schutzschild praktisch
unsichtbar. Der beste Bodyguard ist der, den niemand bemerkt, verstehst
du?«
»Aber mir hast du von Buddyguard erzählt!«, warf seine Großmutter
verwundert ein.
»Natürlich habe ich das. Ich weiß doch, dass ich dir nichts vormachen
kann, Gran! Aber Mum muss glauben, dass ich in einem Privatinternat bin
und dafür von einer Sportstiftung ein Stipendium bekomme. Wenn sie die
Wahrheit herausfände, würde sie die Sache doch sofort beenden, und dann
könnte ich nicht mehr als Buddyguard arbeiten.«
Connor hasste es, seine Mutter bei dieser Sache hinters Licht führen zu
müssen: Sie hatte Multiple Sklerose im fortgeschrittenen Stadium. Als
Gegenleistung für Connors Einsätze zahlte die Buddyguard-Organisation
für eine Vollzeitpflegerin und die privatärztliche Behandlung, die sie so
dringend benötigte. Ohne diese Unterstützung hätte man seine Mutter und
seine Großmutter längst voneinander getrennt, sie in verschiedene
Pflegeheime eingewiesen und ihn, Connor, in eine Pflegefamilie gegeben.
Obwohl seine Großmutter behauptete, sie würden auch ohne Connors
Buddyguard-Einsätze zurechtkommen, wusste sie doch, dass er im Grunde
keine andere Wahl hatte. Er musste es einfach tun.
»Hör mal, es ist nur noch diese eine Mission …«
»Du bist genau wie dein Vater!«, blaffte ihn die Großmutter an. »Der
sagte das auch immer! Nur noch diese eine Mission!«
Trotz ihres Streits musste Connor unwillkürlich lächeln. So sehr er es
auch hasste, seine Großmutter zu verärgern, gefiel es ihm doch, mit seinem
Vater verglichen zu werden. Seine eigenen Erinnerungen an ihn verblassten
immer mehr, aber sie waren für Connor immer ein Trost gewesen, etwas
Wunderbares, das er für alle Zeit bewahren wollte und ihm immer wieder
neuen Mut gab. Das war einer der Gründe, warum Connor überhaupt damit
einverstanden gewesen war, Buddyguard zu werden – und es war der
Grund, warum ihn Colonel Black rekrutiert hatte. Denn sein Vater war
Elitesoldat beim SAS gewesen, dem britischen Special Air Service, und
hatte in einem Spezialkommando gedient, das mit Terrorismusabwehr und
Personenschutz für hochrangige Politiker betraut gewesen war. Und Connor
war entschlossen, seinem Vater nachzueifern.
Das faltige Kinn seiner Großmutter füllte nun fast den ganzen Monitor
aus. Erst kürzlich hatte Connor seiner Mutter und Großmutter ein neues
Tablet geschenkt, eines der besten, die er sich hatte leisten können, damit
sie mit ihm besser in Kontakt bleiben konnten, vor allem jetzt, da beide
Frauen immer weniger mobil waren. Aber seine Großmutter vergaß ständig,
wo sich die winzige Webcam befand.
»Gran, zieh den Kopf ein wenig zurück, sonst kann ich dich nicht
sehen.«
Er hörte sie leise vor sich hin murmeln, dann kam ihr Gesicht wieder
richtig in den Fokus. Hinter der Brille füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Wohin schicken sie dich dieses Mal?«, fragte sie. Connor atmete ein
wenig auf. Offenbar hatte sie die Entscheidung akzeptiert.
»Das darf ich dir nicht sagen.«
Gran schnaubte verächtlich. »Ich glaube, das möchte ich auch gar nicht
wissen. Sonst mache ich mir nur noch mehr Sorgen.«
»Gran, ich bin vorsichtig, versprochen.«
Sie hob die Hand und berührte das Tablet, als wollte sie sanft seine
Wange streicheln. »Letztes Mal warst du auch vorsichtig …« – ihre Stimme
brach fast – »und wärst trotzdem beinahe nicht mehr zurückgekommen.«
»Bin ich aber«, sagte er. Er rutschte verlegen auf dem Stuhl hin und her,
als er plötzlich die Narben auf dem Rücken spürte. Sie stammten von den
scharfen Krallen eines Leoparden. Die Wunden waren zwar vollständig
verheilt, aber die Haut über den schmalen weißen Linien spannte noch, ein
leichtes Jucken, das ihn ständig daran erinnerte, wie nahe er dem Tod
gewesen war.
»Wie geht es Mum?«, fragte er abrupt, um das Thema zu wechseln.
»Gut«, antwortete sie, wobei sie unwillkürlich zur Seite blickte.
»Jedenfalls nicht schlechter …«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
Gran lächelte sanft. »Im Moment schläft sie, aber ich richte ihr aus, dass
du angerufen hast. Und mach dir keine Sorgen, ich werde ihr sagen, wie gut
du in der Schule zurechtkommst. Und grüße deine wunderbare Charley von
mir. Aber bitte pass auf dich auf, mein Junge – du bist alles, was wir
haben.«
Sie beendete den Anruf und das letzte Bild war noch einen kurzen
Augenblick auf dem Monitor zu sehen: ihre blasse Hand, die eine Träne
abwischte, die über ihre faltige Wange rann. Connor schob das Tablet
beiseite und starrte durch das Fenster seines Zimmers auf die Landschaft
hinaus – die Breacon Hills mit ihren windschiefen Bäumen und Sträuchern.
Es war ein wunderbarer, abgelegener Ort, perfekt geeignet für eine geheime
Schutzorganisation, aber Connor fühlte sich hier auch sehr weit von seiner
Mutter und Großmutter entfernt. Viel zu weit. Er schluckte, kämpfte die
Tränen hinunter. Er wusste, dass ihm seine Großmutter die bittere Wahrheit
über den tatsächlichen Zustand seiner Mutter verschwieg. Aber er wusste
auch, dass er als Buddyguard mehr für sie tun konnte, als wenn er zu Hause
den minderjährigen Krankenpfleger spielte und sie alle mit der mageren
Witwenrente auskommen müssten, die seine Mutter bezog.
»Deine Großmutter hat vollkommen recht. Höchste Zeit, dass du hier
rauskommst.«
Connor wirbelte herum. Charley stand mit ihrem Rollstuhl in der
offenen Tür. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort zugehört
hatte, aber er war froh, sie zu sehen. Er lächelte. »Aber wenn ich bei den
Buddyguards ausscheide, würde ich dich nicht mehr sehen können.«
Sie rollte neben ihn ans Fenster und ergriff seine Hand. »Das ist
wirklich süß von dir, Romeo, aber für die Buddyguards hast du schon genug
Blut geopfert. Drei Schläge kann man vielleicht wegstecken, aber dann
sollte man gehen – bevor dir etwas passiert, das sich nicht mehr heilen
lässt.«
Sie blickte vielsagend auf ihren Rollstuhl hinab, dann wieder in
Connors Augen, um sich zu vergewissern, dass er verstanden hatte, was sie
damit sagen wollte.
»Ich hab’s kapiert, Charley, aber ich mache das für meine Mum und
Gran«, erklärte er. »Ich weiß, dass mein Vater viel größere Gefahren auf
sich nahm, und er hat nie aufgegeben.«
»Nein, hat er nicht«, antwortete Charley tonlos. »Aber was ist dann mit
ihm passiert?«
»Hey! Nur weil ich den Fußstapfen meines Vaters folgen will, heißt das
noch lange nicht, dass ich ihm auch ins Grab folge!«, blaffte Connor sie an
und entriss ihr wütend die Hand.
Eine Weile herrschte düsteres Schweigen. Beide starrten in die Ferne.
Auf den Hügelkuppen und Bergen lag eine feine Schneedecke.
Charley griff wieder nach seiner Hand. »Tut mir leid. Das hätte ich
nicht sagen sollen.«
Auch Connor bereute seinen Wutausbruch. Sie gingen erst seit ein paar
Monaten miteinander; das war ihr erster Streit.
»Ich habe schon so viel im Leben verloren … ich will dich nicht auch
noch verlieren«, gestand Charley zögernd und drückte zärtlich seine Hand.
»Du bist das Beste, was mir seit langer, langer Zeit passiert ist.«
Connor legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Und
du für mich.« Er schob eine lange blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
»Du verlierst mich nicht, niemals«, versprach er ihr und beugte sich näher,
um sie zu küssen.
Aber sie wich ihm aus. »Connor … bei diesem neuen Einsatz habe ich
ein sehr schlechtes Gefühl …«
»Er ist nicht anders als alle anderen …«
»Genau das macht mir Sorgen! Bisher hattest du unglaubliches Glück,
aber was ist, wenn du wirklich ernsthaft verwundet wirst, so wie ich, oder
noch schlimmer?«
Connor sah die tiefe Angst in ihrem Blick. »Das war eine tragische und
einmalige Situation«, sagte er sanft. »Aber im Ernst: Colonel Black würde
uns niemals zu einem Selbstmordeinsatz schicken.«
Charley hielt seinen Blick fest. »Bist du sicher?«
KAPITEL 6

Connor starrte auf den Lauf der Waffe hinunter, versuchte, sich auf die
Gefahr zu konzentrieren, die ihm aus nächster Nähe drohte, aber stattdessen
schoss ihm immer wieder durch den Kopf, was Charley Colonel Black
zufällig hatte sagen hören: Der Auftrag ist es wert, einen oder zwei
Buddyguards zu riskieren.
»Hände hinter den Kopf!«, befahl die Frau, die ihm die Pistole vors
Gesicht hielt, wobei ihre olivgrünen Augen jede seiner Bewegungen
aufmerksam beobachtete, und sei sie noch so klein.
Connor hob langsam die Hände. Er konnte einfach nicht glauben, dass
es dem Colonel mehr ums Geld als um das Leben seiner Buddyguards ging.
Der Colonel Black, den er bisher kennengelernt hatte, war ein aufrechter,
höchst ehrenwerter Mann, ein ehemaliger Soldat, dem Connor vollkommen
vertraute. Schließlich waren der Mann und sein Vater enge Freunde
gewesen – beide hatten zusammen im SAS gedient und der Colonel
verdankte Connors Vater sogar das Leben. Nein: Connor konnte sich nicht
vorstellen, dass Colonel Black russisches Roulette mit seinem, Connors,
Leben spielte.
Der Finger der Frau krümmte sich um den Abzug. Connor musste
handeln! Er griff blitzschnell nach der Waffe.
Seize. Strike. Subdue.
Packen. Schlagen. Niederringen. Aber schon der erste Schritt misslang.
Zwar schaffte er es mit knapper Not, die Waffe zu packen, aber schon im
selben Augenblick krachte der Schuss. Das Geschoss prallte mit voller
Wucht gegen seine Brust. Rote Flüssigkeit spritzte über Gesicht und Jacke;
ringsum wurde alles schwarz …
Connor hörte ein unverkennbares, gutturales Lachen.
»Zu langsam, amigo«, spottete Jason.
Connor zog die Schutzmaske vom Gesicht. Der Paintball war beim
Aufprall explodiert, Maskenglas, Gesicht und Brust waren dicht mit roten
Farbflecken übersät.
»Ich glaube, wir sollten dich in Pizzagesicht umtaufen«, spottete Jason
weiter, der Connors Niederlage offenbar voll auskosten wollte.
Connor starrte ihn mit schmalen Augen an. »Dann sehe ich jetzt wohl
aus wie du?«
Das Team kicherte, während Jason wütend schnaubte.
»Kein Wunder – die Farbe spritzte bis zu uns herüber.«
»Das reicht jetzt!«, mischte sich Jody ein und winkte ihnen mit dem
Paintballmarkierer zu, endlich still zu sein. Jody, die
Personenschutztrainerin, war eine junge, attraktive Frau, die bei flüchtigem
Hinsehen eine gewisse Ähnlichkeit mit Lara Croft hatte. Eine ehemalige
SO14-Beamtin der Schutzeinheit, die früher für die Bewachung der
königlichen Familie zuständig gewesen war. Sie war genauso hart und zäh
wie der Kampftrainer Steve, wusste so viel wie der Überwachungstrainer
Bugsy und verfügte über fast so viel Erfahrung wie Colonel Black. Keine
Frau, mit der man sich anlegen sollte.
»Wie ihr gerade gesehen habt, ist die Chance verschwindend gering,
einen Pistolenschützen zu entwaffnen, bevor er abdrücken kann«, erklärte
Jody, während sich Connor mit dem Jackenärmel die rote Farbe aus dem
Gesicht wischte. »Trotzdem ist es nicht völlig unmöglich, einen
Pistolenangriff zu überleben. Das geschieht immer wieder. In so einer
Situation hängt euer Überleben von drei Faktoren ab. Erstens von der
Absicht des Angreifers. Zweitens von seiner Entfernung. Und drittens von
seinem und eurem Training.«
Jody schob den Sicherheitshebel vor und legte die Paintballpistole auf
die Motorhaube des Range Rover, neben dem sie stand. Stattdessen nahm
sie ihren Thermokaffeebecher und trank einen Schluck. Trotz der
winterlichen Kälte hatte sie das Alpha-Team für diese Übung – Abwehr
eines Pistolenangriffs – ins Freie kommandiert. »Leichter zu säubern«, hatte
sie erklärt.
Nach einem zweiten Schluck Kaffee fuhr sie fort: »Wenn der Angreifer
die Absicht hat zu töten, wird eure Schutzperson womöglich von der Kugel
getroffen, bevor ihr auch nur merkt, dass ihr angegriffen werdet. Aber wenn
der Angreifer euren Klienten entführen will, ist die Waffe nur ein
Drohmittel. Leider bedeutet es, dass der Bodyguard wahrscheinlich
erschossen wird. Warum wohl?« Sie blickte sich fragend im Team um.
Ling hob die Hand. »Wir sind eine Gefahr für seinen Plan.«
Jody nickte. »Korrekt. Gibt es noch einen weiteren Grund?«
Marc schürzte nachdenklich die Lippen. »Wenn er den Bodyguard
erschießt, beweist er dem Klienten, dass er es ernst meint. Der Klient wird
dann eher bereit sein, alles zu tun, was der Entführer verlangt.«
»Genau«, nickte Jody. »Und deshalb solltet ihr niemals zugeben, dass
ihr ein Personenschützer seid.«
»Armer Marc! Womit willst du jetzt die Girls beeindrucken, wenn du
das nicht mehr sagen darfst?«, witzelte Richie und schubste Marc mit dem
Ellbogen an.
Jody brachte Richie mit einem strengen Blick zum Schweigen und fuhr
fort: »Der zweite Faktor ist die Entfernung. Wie weit steht er von euch
entfernt? Was ich euch jetzt erkläre, kann entscheidend sein. Pistolen sind
hochgradig ungenaue Waffen. Wenn die Entfernung mehr als fünfzehn
Meter beträgt, flieht! Selbst einem Spitzenschützen würde es schwerfallen,
auf diese Entfernung mit einer Pistole ein Ziel akkurat zu treffen, wenn es
sich schnell bewegt. Deshalb schützt ihr den Klienten mit eurem Körper,
duckt euch, so tief es geht, und rennt in unberechenbarem Zickzack los,
damit ihr schwerer zu treffen seid.«
»Aber was ist, wenn der Angreifer weniger als fünfzehn Meter entfernt
steht?«, wollte Amir wissen.
»Dann«, sagte Jody ernst, »tut ihr genau das, was der Angreifer
verlangt.«
»Aber ist es nicht unsere Aufgabe, die Kugel für unseren Klienten
einzufangen, damit er entkommen kann?«, fragte Ling.
»Nein. Wir sind eine Schutzorganisation. Wir sollen unsere Klienten so
gut wie möglich abschirmen, aber nicht Kugeln für sie einfangen«,
antwortete Judy. Ihr Gesichtsausdruck wurde dabei sehr ernst und ebenso
ihr Tonfall. »Ein toter Bodyguard kann niemanden mehr schützen. Deshalb
würde ich euch das nicht raten, es sei denn, ihr seid kugelfest.«
»Dann kann mir ja nichts passieren«, bemerkte Charley und klopfte auf
ihren Rollstuhl. Connor wusste, dass der speziell für Bodyguardeinsätze
und in feindlichem Umfeldern konstruiert worden war. So ließen sich zum
Beispiel die beiden Armstützen als Tonfa-Schlagstöcke verwenden und in
den Sitzpolstern, der Rückenlehne und den Seitenpolstern waren 40-lagiges
Aramid und Keramik-Traumaplatten verbaut worden. Unter dem Sitz
befanden sich ein Mini-Trauma-Kit für die Notfallversorgung sowie drei
Blend-Rauch-Granaten. Der Stuhl verfügte sogar über einen starken,
aufladbaren Elektromotor, um eine schnelle Flucht zu ermöglichen. Im
Grunde saß Charley auf einem waffenstarrenden Ferrari-Rollstuhl.
Jody lächelte über Charleys Bemerkung, dann fuhr sie fort: »Na gut,
aber wer keinen kugelsicheren Rollstuhl zur Verfügung hat, sollte so schnell
wie möglich in Deckung gehen – hinter einer Mauer, einem Auto oder
jedem anderen Gegenstand, der eine Kugel stoppen kann. Natürlich werdet
ihr bei euren Einsätzen immer mit ballistischen T-Shirts und Kleidern
ausgerüstet. Trotzdem solltet ihr nie vergessen, dass euch diese Klamotten
nur gegen Handfeuerwaffen etwas nützen. Gegen stärkere Geschütze, zum
Beispiel gegen Sturmgewehre, braucht man richtige, für Kampfeinsätze
geeignete Schutzwesten. Aber sogar mit denen können euch die Geschosse
schwere Aufprallverletzungen zufügen – und natürlich ist euer Kopf immer
ungeschützt und daher verwundbar.«
Jason runzelte die Stirn. »Sie sagen also, dass wir uns ergeben sollen,
wenn sich der Angreifer weniger als fünfzehn Meter entfernt befindet?«
Jody zuckte mit den Schultern. »Es bleibt euch nichts anderes übrig, es
sei denn, der Angreifer hat in diesem Moment die Waffe noch nicht
gezogen.«
»Aber ich hab mal gesehen, dass Jason Statham einen Pistolenschützen
auf diese Distanz ohne Probleme ausgeschaltet hat.«
Jody bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken. »Vielleicht solltest du
nicht so viele Filme schauen? Vergesst die ganzen Märchen von
Kinohelden, die einen Bösewicht aus hundert Meter Distanz in die Hand
schießen oder ihn entwaffnen, bevor er nur den Abzug drücken kann. Die
Wirklichkeit ist anders. Wenn euch ein Angreifer eine Pistole an den Kopf
hält und ihr euch zu wehren versucht, wird er euch wahrscheinlich den
Kopf wegpusten – wie euch Connor gerade gezeigt hat.«
Connor verneigte sich leicht. »War mir ein Vergnügen«, sagte er
ironisch. Natürlich war ihm klar: Wenn es eine echte Bedrohung gewesen
wäre, würde er jetzt tot am Boden liegen.
»Aber mit dem richtigen Training lassen sich eure Überlebenschancen
tatsächlich verbessern«, fuhr Jody fort. »Das ist der dritte Faktor. Connors
Fehler war, dass er nach meinem Handgelenk griff statt nach der Waffe.
Denn im Unterschied zu einem Messer muss man mit einer Schusswaffe
nur in die richtige Richtung zielen, um eine tödliche Wirkung zu erzielen.
Bei einem Messer ist zusätzlich ein größerer Kraftakt erforderlich; bei der
Pistole genügt ein leichter Fingerdruck. Deshalb ist es entscheidend, zuerst
die Waffe unter Kontrolle zu bekommen.«
Jody winkte Ling zu sich, gab ihr die Pistole und wies sie an, auf Jody
zu zielen.
»Wir wenden die Seize-Strike-Subdue-Technik an«, erklärte sie. »Ihr
bewegt euch schnell zur Seite und greift gleichzeitig nach der Waffe.« Judy
machte blitzschnell einen Seitschritt und packte den Lauf der Pistole.
»Konzentriert euch auf die Mündung. Behaltet sie genau im Auge, ihr wollt
schließlich nicht, dass ihr oder euer Klient während des Kampfes von einer
Kugel getroffen wird. Euer Ziel ist, dem Angreifer die Waffe aus der Hand
zu ringen und ihm dabei so viel Schmerzen wie möglich zuzufügen. Im
Idealfall brecht ihr ihm dabei die Finger.«
Jody riss Ling die Pistole aus der Hand, achtete jedoch darauf, ihr dabei
nicht den Zeigefinger zu brechen, der im Abzug steckte.
»Habt ihr gesehen, wie ich den Lauf herumgedrückt habe, damit er auf
die Angreiferin zielt? In diesem Moment ist ihr Griff viel schwächer als die
Hebelwirkung, die ihr dabei anwendet. Sobald ihr die Kontrolle über die
Waffe habt, schlagt ihr den Angreifer mit der Waffe so hart wie möglich,
um ihn endgültig auszuschalten. Damit bekommt ihr die ganze
Angriffssituation unter Kontrolle und könnt nun fliehen.«
Jody hielt Ling die Pistole hin. »Und das üben wir jetzt. Etwas brauche
ich wohl nicht extra zu erwähnen: Sobald ihr die Waffe erobert habt, gebt
ihr sie nicht mehr aus der Hand. Davon hängt buchstäblich euer Leben ab.«
KAPITEL 7

»Ich hab lauter Prellungen! Fühle mich wie gesteinigt!«, beschwerte sich
Amir, während er die vielen roten Flecken abtastete, mit denen sein
Gesicht, der Nacken und die Brust übersät waren. Aus nächster Nähe
abgefeuert, konnten die Paintbälle zwar niemanden töten, sorgten aber für
eindrucksvolle Blutergüsse, die höllisch schmerzten.
»Du kannst nur hoffen, dass du bei deiner nächsten Mission niemanden
entwaffnen musst«, grinste Richie. »Du würdest sonst aussehen wie ein
Schweizer Käse!«
»Charley, ich glaube, du hast mir den Finger ausgerenkt«, jammerte
Marc und verzog das Gesicht, als er versuchte, seine Hand zu bewegen.
»Ja, im Fingerausrenken ist Charley der absolute Champion!«, warf
Jason ein und schaute Charley mit spöttisch gehobener Augenbraue an.
Natürlich kannten alle die Geschichte, wie Charley bei einem der
berüchtigten Spießrutenläufe, die ihr Kampfsporttrainer immer wieder mal
veranstaltete, Jasons kleinen Finger ausgerenkt hatte. Jason mochte ihr zwar
verziehen haben, aber er sorgte dafür, dass sie den Zwischenfall nie vergaß.
Charley lächelte Marc entschuldigend an. »Tut mir leid, Marc, vielleicht
war ich ein bisschen zu eifrig …«
Jody hupte und winkte ihnen ein wenig spöttisch zu, als sie in ihrem
Range Rover an ihnen vorbeifuhr. Sie wollte nicht, dass die Ledersitze ihres
Autos mit Paintballfarbe verschmiert wurden, deshalb musste das Team
jetzt durch den dichten, kalten Schneeregen auf den Feldwegen nach Hause
joggen. In der Ferne ragten die einer Burg nachempfundenen Zinnen und
schmalen Fenster des alten viktorianischen Schulgebäudes düster in den
grauen Himmel. Geschützt und von der Außenwelt fast abgeschnitten, stand
das Gebäude in einem eigenen kleinen Tal und war von der Straße aus nicht
zu sehen – die ideale Lage für ein geheimes Trainingszentrum für junge
Bodyguards. Nach außen hin wirkte das Buddyguard-Hauptquartier wie ein
altmodisches privates Internat, aber im Innern war es mit modernster
Überwachungstechnologie, allen möglichen Hightech-Geräten und den
neuesten Computern ausgestattet.
Connor wurde ein wenig langsamer, bis er neben Charley herging. Er
hoffte, von ihr etwas mehr über Colonel Black zu erfahren. Obwohl sich der
Elektromotor und die Geländereifen ihres Rollstuhls auf diesem von
Wurzeln und Schlaglöchern übersäten Feldweg als sehr hilfreich erwiesen,
war sie doch ein wenig hinter die Gruppe zurückgefallen. Amir ging zwar
ebenfalls neben ihr her, aber Connor beschloss, ihr die Frage trotzdem zu
stellen.
»Bist du sicher, dass der Colonel das gesagt hat?«
Charley blickte zu ihm auf. »Ja. Ich habe zufällig einen Streit in seinem
Büro mitbekommen. Der Colonel und die Trainer stritten sich über das
Risiko bei dieser Mission. Die Ausbilder sind überhaupt nicht zufrieden
damit, wie wenig konkrete Informationen es über die Operation gibt. Aber
Colonel Black ist fest entschlossen, die Mission durchzuziehen. Ich kann
wortwörtlich wiederholen, was er gesagt hat: Dafür bilden wir sie doch aus!
Der Auftrag ist es wert, einen oder zwei Buddyguards zu riskieren.«
Amir riss geschockt die Augen auf. Er hörte das zum ersten Mal.
Connor schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass der
Colonel so etwas tun würde. Bestimmt ein Missverständnis. Du hast
vielleicht nicht gehört, in welchem Zusammenhang er es gesagt hat.«
»Na, es ist jedenfalls das, was ich gehört habe«, sagte Charley verärgert.
Amir blickte die beiden anderen besorgt an. »Gestern Training gegen
Messerangriffe, heute Morgen medizinisches Traumatraining, und jetzt
auch noch ein Schnellkurs über Verteidigung gegen Schusswaffen. Ich
jedenfalls habe das Gefühl, dass uns der Colonel auf das Schlimmste
vorbereitet!«
»Das tut er doch immer«, gab Connor scharf zurück. »Das macht ihn zu
einem so guten Leiter von Buddyguard. Er nimmt nichts als
selbstverständlich.«
»Außer uns vielleicht?«, fragte Charley ein wenig spitz.
»Bugsy kommt mir vor dieser Mission angespannter vor als sonst«,
bemerkte Amir. »Heute Morgen hat er mir gesagt, ich solle die Reiseroute
für die Operation Schneesturm nicht wie sonst zweimal, sondern dreifach
überprüfen.«
Connor zuckte die Schultern. »Bugsy hält sich nur an die berühmte
Soldatenregel – Gute Vorbereitung verhindert den Angstschiss!« Er lachte,
doch Amir und Charley blieben ernst.
»Aber auch Steve und Jody verhalten sich irgendwie anders als sonst«,
fuhr Amir fort. »Normalerweise sind sie total cool und immer gut drauf und
die gegenseitigen Sticheleien im Team machen ihnen nichts aus. Aber jetzt
kommt es mir so vor, als hätte man ihnen den letzten Rest von Humor aus
dem Leib geschnitten. Deshalb glaube ich auch, was Charley sagt. Ich
denke, diese hochwichtige Mission in Russland macht ihnen gewaltig
Angst.«
»Aber warum sollten sie Schiss davor haben?«, fragte Connor. »Alle
beide haben doch mit solchen Missionen große Erfahrung!«
»Du und Jason, ihr sollt den Sohn eines Politikers schützen, der sich
direkt gegen die russische Regierung und die russische Mafia stellt«, sagte
Charley. »Ihr steht da ganz bestimmt nicht auf der sicheren Seite!«
»In unserem Job gibt es keine sichere Seite«, wandte Connor ein.
»Außerdem haben wir schon andere Klienten beschützt, die ein viel
akuteres Gefährdungsprofil hatten, zum Beispiel Alicia, und die ist
immerhin die Tochter des amerikanischen Präsidenten! Wo ist da der
Unterschied?«
»Es geht um Russland«, erklärte Charley genervt. »Normale Regeln
gelten dort nicht!«
»Russland kann ja wohl nicht schlimmer sein als Burundi, oder?«,
widersprach Connor hitzig.
Charley und Amir starrten ihn nur wortlos an.
Zwanzig oder dreißig Meter vor ihnen schrie Ling plötzlich auf und
fasste sich an den rechten Oberschenkel.
»Volltreffer!«, lachte Jason und ließ wie ein Revolverheld den
Paintballmarkierer in der Hand kreisen.
Ling starrte ihn wütend an. »Du bist sowas von einem Vollpfosten!«,
schrie sie ihn an und stürmte wütend davon.
»Hey, das war doch nur ein Scherz!«, rief ihr Jason hinterher.
Ling achtete nicht auf ihn, sondern marschierte wütend querfeldein zur
Schule hinüber und schlug das Tor hinter sich zu.
»Die hättest du doch Jody sofort zurückgeben müssen!«, sagte Connor
und deutete auf die Pistole.
Jason richtete sie auf ihn. »Pass auf, was du sagst. Sonst kriegst du die
nächste Kugel ab.«
»Gehst du ihr nicht nach?«, fragte Charley.
Jason runzelte verblüfft die Stirn. »Warum denn?«
Charley seufzte entnervt auf. »Um dich zu entschuldigen?«
»Nö«, murmelte Jason und kickte einen Klumpen nasses Gras aus dem
Weg. »Mach ich vielleicht später, wenn sie sich wieder abgeregt hat.«
Den Rest des Wegs legten sie in mürrischem Schweigen zurück. Jason
brütete offenbar über Lings Reaktion, während Connor das beschäftigte,
was Charley und Amir gesagt hatten. War diese Mission wirklich so viel
gefährlicher als die anderen? Würde der Colonel sein und Jasons Leben für
ein fettes Vertragshonorar aufs Spiel setzen? Connor glaubte es nicht. All
die Trainingseinheiten über die Behandlung von Verletzungen und
Verteidigung gegen Messerangriffe und Schusswaffen hatten doch nur einen
Zweck: das Risiko so gering wie möglich zu halten! Charley musste sich
bei dem, was der Colonel gesagt hatte, verhört haben – oder er hatte es ganz
anders gemeint.
Als sie über den alten Schulhof gingen, trat Bugsy, ihr Trainer für
Überwachungstechniken, aus der Tür. »Connor! Jason! Packt eure Sachen
für ein paar Tage«, befahl er. »Euer Flug geht in drei Stunden.«
Connors Puls beschleunigte sich. »Aber ich dachte, unser Einsatz ist
erst in einer Woche?«
»Ihr fliegt nicht nach Russland«, antwortete Bugsy.
»Wohin dann?«, wollte Jason wissen.
»Das werdet ihr schon sehen, wenn ihr dort ankommt.«
KAPITEL 8

Im Ankunftsterminal des Genfer Flughafens wurden sie von einem


kräftigen, leicht untersetzten Mann erwartet. Er trug eine leuchtend rote
Skijacke, eine Wollmütze und Schneestiefel. Trotz der ungewohnten
Kleidung hätte Connor Joseph Gunner an seinem vom Wetter gegerbten
Gesicht und dem Kinnbart jederzeit wiedererkannt.
»Gunner!«, rief er überrascht aus. »Was machen Sie hier in der
Schweiz?«
Der südafrikanische Parkranger begrüßte Connor mit einer herzlichen
Umarmung und einem kräftigen Schlag auf den Rücken. »Ich bin für die
nächsten fünf Tage euer Trainer«, erklärte er. Die raue Stimme passte zu
diesem Mann. Der Ranger war während Connors letztem Einsatz in
Burundi sein Führer gewesen; nachdem die Sache vorbei war, hatte ihn
Colonel Black als speziellen Trainer angeheuert. »Kommt mit zum Auto.«
Jason hatte die Begrüßungsszene missmutig verfolgt. Jetzt murrte er:
»Und – was wollen Sie uns beibringen? Skifahren?«
Gunner lachte. »Kann gar nicht Skifahren. Nein – ich soll euch den
Umgang mit Schusswaffen beibringen.«
»Schusswaffen? Ich dachte, der Colonel hätte Sie für das
Überlebenstraining angeheuert?«, fragte Connor.
Die großen Glastüren des Terminals glitten auseinander. Ein eiskalter
Windstoß fegte über sie hinweg.
»Das ist Überlebenstraining. Für Russland jedenfalls«, antwortete
Gunner grimmig. »Bei diesem Einsatz wirst du es nicht mit scharfen
Leopardenkrallen zu tun bekommen, Connor, aber vielleicht mit ein paar
russischen Bären, die mit Schusswaffen herumfuchteln. Deshalb hielt es der
Colonel für besser, euch zu zeigen, wie diese Dinger funktionieren.«
»Cool!«, rief Jason mit leuchtenden Augen. »Heißt das, wir bekommen
für diese Mission eigene Knarren?«
Gunnar schüttelte den Kopf, während er ihre Rucksäcke in den
Kofferraum des Mietwagens warf. »Nein. Das wäre illegal, sogar in
Russland. Außerdem würdet ihr dann sofort als Ziele markiert und eure
wahre Rolle würde auffliegen. Aber es ergibt eben nicht viel Sinn, einen
Angreifer entwaffnen zu können, wenn ihr dann nicht wisst, wie man mit
dem verdammten Ding schießt!«
Sie stiegen in das Auto und fuhren los. Die Autobahn führte in weitem
Bogen um die Industriegebiete am Rand der großen Stadt herum und direkt
auf die schneebedeckten Berge zu, die in der Ferne aufragten. Nach nur
einer halben Stunde bog Gunner auf den Parkplatz vor einem Motel ein,
neben dem sich ein Fast-Food-Restaurant befand. »Das ist unsere Bleibe«,
verkündete Gunnar und deutete auf einen grauen Betonbunker, der halb in
den Berghang gebaut war. »Und das dort drüben ist der Schießstand.«
Nachdem sie im Motel eingecheckt hatten, verlor Gunner keine Zeit
und nahm sie sofort mit zur ersten Trainingsstunde. So abweisend die
betongraue Schießanlage von außen auch aussah, im Innern war der
Empfangsbereich überraschend warm und freundlich eingerichtet. An einer
Wand befand sich eine Kaffeebar, in einer Ecke daneben standen mehrere
bequeme Sessel und Sofas. Der einzige Unterschied zu einem normalen
Sportclub waren die Waffen, die an den Wänden ausgestellt waren. Connor
und Jason betrachteten die Sammlung mit großen Augen. Das hier war ein
Traumparadies für Waffenfanatiker: schier endlose Reihen von Pistolen,
Revolvern, halb- und vollautomatischen Waffen, Sturmgewehren,
Maschinenpistolen und sogar taktischen Scharfschützengewehren.
»Kann ich die hier mal ausprobieren?«, fragte Jason eifrig und deutete
auf ein schweres Bushmaster-Sturmgewehr.
Gunner grinste. »Dein Eifer gefällt mir, Jason, aber für den Anfang
wirst du dich erst einmal mit diesen Waffen hier begnügen müssen«, sagte
er, während der Eigentümer des Schießstands drei kompakte
Handfeuerwaffen auf den Tresen legte.
Jason ließ die Schultern hängen; er konnte seine Enttäuschung nicht
verbergen.
»Lass dich von ihrer Größe nicht täuschen, mein Junge. Das hier sind
Glocks 17«, erklärte Gunner. Er unterschrieb die Empfangsbestätigung für
die drei Pistolen und für mehrere Pack Munition. »Eine hervorragende
Handwaffe, die weltweit von Sicherheitskräften sehr geschätzt wird. Die
Glock 17 ist leicht, einfach zu gebrauchen und sehr zuverlässig – genau
richtig, wenn man unter hohen Druck gerät.«
Jason nahm eine Pistole und wog sie in der Hand. »Ja, leicht ist sie.«
Er ging in Cowboyhaltung und zielte mit der Waffe auf Connors Brust.
»Hände hoch, Schurke!«
Gunnar entriss ihm die Pistole. »Das ist kein Spielzeug!«, blaffte er
Jason wütend an.
Sogar Jason merkte, dass Gunnar nicht nur wütend, sondern auch von
ihm enttäuscht war. Gunnar führte sie in eine der Schießbahnen, einen
langen Raum mit grauen Betonwänden. An der Decke waren Schienen
befestigt, an denen man die Papierzielscheiben in unterschiedlichen
Entfernungen positionieren konnte.
»Okay. Zuerst einmal die Sicherheit«, sagte Gunnar und legte die drei
Pistolen auf den Boden, die Mündungen zur Wand gerichtet. »Es gibt vier
eiserne Regeln für den Umgang mit Schusswaffen. Erstens: Behandle jede
Schusswaffe immer wie eine geladene Waffe. Zweitens: Richte niemals
eine Waffe auf ein Ziel, das du nicht treffen willst. Drittens: Der Finger
berührt niemals den Abzug, solange das Ziel nicht anvisiert ist. Und
viertens: Achte immer auf dein Ziel und deine Umgebung. Habt ihr die vier
Regeln verstanden?«
Dabei starrte er Jason durchdringend an. Beide Jungen nickten. Gunner
zeigte ihnen nun die Grundlagen des Umgangs mit einer Schusswaffe. Dann
zeigte er ihnen den korrekten Weaver-Stand, eine Körperhaltung beim
Schießen mit Handfeuerwaffen, benannt nach einem Sheriff namens Jack
Weaver, der sie für Schießwettkämpfe entwickelt hatte: die schussstarke
Hand am Griff der Waffe, die andere Hand umschließt die Schusshand. Die
Arme sind angehoben, aber nicht durchgestreckt, die Füße in einer Art
Boxstellung, der Körper leicht nach vorn geneigt.
»Das ist die ideale Haltung für den Anfänger und für Schießübungen«,
erklärte Gunner. »Aber in einer konkreten Situation hat man meistens gar
nicht die Zeit für einen korrekten Weaver-Stand. Sobald ihr diese Haltung
beherrscht und Ziele treffen könnt, gehen wir zum einhändigen Schießen
und zum Schießen aus der Bewegung über. Denn wer rennen will, muss erst
einmal gehen lernen. Okay, Jungs?«
Sie setzten die Schutzbrillen und den Gehörschutz auf und übten
zunächst das Laden und Entladen der Magazine, das schnelle Ziehen aus
dem Hüftholster und schließlich auch das Tap-Rack-Bang-Verfahren, das
anzuwenden war, wenn sich eine Patrone verklemmte und eine
Ladehemmung eintrat.
»Ihr scheint das ziemlich rasch zu lernen«, nickte Gunner befriedigt.
»Fangen wir jetzt mit den Schießübungen an.«
Als Gunner zwei Polizeizielscheiben mit menschlicher Silhouette in
ungefähr drei Metern Entfernung aufhängte, verdrehte Jason genervt die
Augen. »Das ist viel zu nahe! Ich könnte sogar von hier aus darauf
spucken!«
»Bei den meisten Pistolenkämpfen stehen sich die Gegner weniger als
drei Meter entfernt gegenüber«, erklärte Gunner. »Außerdem ist das die
ideale Distanz, um eure Zielgenauigkeit zu trainieren, bevor wir zu den
größeren Entfernungen übergehen.« Er winkte ihnen, sich in den
Schießstand zu stellen. »Nehmt euch Zeit. Zielt genau und feuert.«
Jason stellte sich sofort in Position, zog die Pistole, richtete Korn und
Kimme auf das Ziel aus und drückte auf den Abzug. Der Knall hallte von
den Betonwänden zurück. Ein kleines Loch erschien mitten in der Zielfigur.
Gunner hob eine Augenbraue. »Guter Schuss. Du scheinst dafür eine
Begabung zu haben.«
Jason grinste und schob die Pistole wieder ins Holster. Nun zog Connor
seine Pistole, zielte genau und feuerte. Er spürte, wie heftig die Waffe in
seinen Händen hochzuckte, aber zu seiner Verblüffung verfehlte er die
Zielfigur völlig. Er biss die Zähne zusammen und gab einen weiteren
Schuss ab. Wieder daneben.
»Du bist zu verkrampft«, sagte Gunner. »Entspann die Arme ein wenig,
atme langsam und gleichmäßig, schieß direkt nach dem Ausatmen.«
Connor befolgte die Anweisungen. Dieses Mal streifte das Geschoss
den Rand der Zielfigur. Aber der Schuss war dennoch weit vom Mittelpunkt
entfernt, den Jason so akkurat getroffen hatte. Mittlerweise hatte auch Jason
noch einmal gefeuert und wieder recht genau ins Zentrum getroffen.
»Vielleicht liegt es an der Pistole?«, fragte Connor, als auch sein vierter
Schuss die Zielfigur nicht berührte. »Vielleicht stimmen Kimme und Korn
nicht mehr genau?«
Gunner schüttelte den Kopf. »Die Pistole ist in Ordnung. Nur ziehst du
den Abzug zu stark durch. Dadurch wird die Waffe nach unten gedrückt. Du
musst lernen, eher mit dem Kopf als mit dem Finger zu schießen.«
Jason drehte sich mit schadenfrohem Grinsen zu ihnen um. »Vielleicht
sollten wir die Zielscheibe noch näher hängen?«
Die fiese Bemerkung stärkte Connors Entschlossenheit, endlich einen
guten Schuss abzufeuern. Unmöglich, zum Alpha-Team zurückzukehren
und sich ständig anhören zu müssen, wie Jason mit seinen eigenen
Schießkünsten prahlte und sich über Connors Fehlschüsse lustig machte.
Das wäre nicht auszuhalten.
Er zwang sich, ruhiger zu atmen, bevor er die Pistole erneut zog.
Langsam und mit fließender Bewegung, als würde er eine Kata im
Kampfsport vorführen, zog er die Glock aus dem Holster und zielte
sorgfältig auf die Herzgegend der Zielfigur. Unmittelbar nach dem
Ausatmen stellte er sich vor, wie er sanft auf den Abzug drückte. Die
Pistole schien fast von allein zu feuern.
Die Kugel traf die Zielfigur direkt ins Herz.
Connor spürte eine leichte Welle der Begeisterung. Mit breitem Grinsen
wandte er sich zu Jason um. »Mach das mal nach, Angeber!«
Jason zuckte die Schultern, zielte und feuerte eine Kugel genau in die
Stirn der Zielgestalt.
Gunner pfiff bewundernd durch die Zähne. »Na, offenbar liefert ihr
euch einen Wettkampf, der euch zu Spitzenleistungen antreibt. Gut – setzen
wir das Ziel ein wenig zurück.«
Er vergrößerte den Abstand auf sieben Meter.
»Ein Angreifer könnte diese Distanz in eineinhalb Sekunden
überwinden«, erklärte er. »Wenn man die durchschnittliche Auftreffenergie
einer Pistolenkugel in Kilogramm umrechnet, kommt man auf rund 550
Kilo. Das ist ungefähr so viel wie bei einem brutal harten Boxhieb, aber
wenn der Gegner stark genug ist, wirft ihn das nicht unbedingt um. Ihr habt
also keine Garantie, dass der Angreifer bei eurem ersten Schuss schon zu
Boden geht. Vielleicht trägt er eine kugelsichere Weste oder ist high von
Drogen. Und es ist auch schon vorgekommen, dass eine Kugel von einem
Knochen abprallt! Deshalb werdet ihr nun auch den Mosambik-Drill
trainieren – eine Schießtechnik, die aus zwei schnellen Schüssen auf den
Körper und einem Schuss in den Kopf besteht.«
Gunner hängte eine neue Zielfigur auf und führte ihnen die Technik vor.
In Sekundenschnelle zog er die Waffe, feuerte zweimal auf den Körper der
Figur und, nach einer winzigen Pause, einmal auf ihren Kopf. Das ging so
schnell, dass Connor nicht einmal sicher war, ob er Gunners Bewegungen
wirklich gesehen hatte.
»So kann man jeden Angreifer mit Sicherheit neutralisieren«, erklärte
Gunner und trat vom Schießstand zurück. »Jetzt seid ihr dran.«
Auf sieben Meter Entfernung war das Ziel sehr viel schwieriger zu
treffen, vor allem, wenn man es mit der Dreifachschusstechnik versuchte.
Aber unter Gunners kompetenter Anleitung verbesserte sich Connors
Zielgenauigkeit sehr schnell. Nach einer weiteren Stunde konnte Gunner
die Distanz schon auf zehn Meter erhöhen. Jasons Technik – ziehen, zielen,
feuern – war schon bald so gut, dass er jeden Dreifachschuss zuverlässig
setzte, auch den schwierigen Kopftreffer. Bei Connor lief die Übung
weniger erfolgreich. Die Schüsse lagen weit auseinander, aber wenigstens
verfehlte er die Zielfigur nicht mehr völlig.
»Volles Magazin nachladen. Zum Schluss liefern wir uns noch einen
kleinen Wettkampf«, schlug Gunner vor und schickte zwei neue Zielfiguren
auf eine Distanz von fünfzehn Metern. »Jeder hat siebzehn Schuss.«
Jason warf Connor einen spöttischen Blick zu. »Ich brauche nicht mal
halb so viele, um dich zu schlagen.«
»Und ich brauche nur eine einzige Kugel, um dein bisschen Hirn
wegzuballern«, gab Connor zurück und rammte das neue Magazin in die
Halterung.
Sie nahmen ihre Schießstellung ein. Auf Gunners Kommando begannen
sie zu feuern. Kurze Zeit herrschte in der schmalen Schießbahn ein
ohrenbetäubender Lärm. Dann, nach einer halben Minute, trat völlige Stille
ein. Die beiden Jungen steckten die Waffen ins Holster.
Gunner holte die Zielscheiben heran und zählte die Treffer. »Nicht
schlecht, Connor. Mit siebzehn Schüssen hast du den Körper achtmal und
den Kopf dreimal getroffen.«
Connor blickte Jason an und konnte ein zufriedenes Grinsen nicht
unterdrücken. Er fand, er habe sich ganz gut geschlagen, wenn man
bedachte, dass er an diesem Morgen zum ersten Mal mit den
Schießübungen begonnen hatte.
Aber dann zählte Gunner Jasons Treffer. »Was soll ich sagen? Elf in den
Körper und fünf in den Kopf. Du bist wohl der Enkel von Billy the Kid?«
»Friss die Kugel, Connor!«, lachte Jason, zog blitzschnell die Pistole
und tat so, als würde er Connors Kopf wegballern.
Gunner riss ihm die Glock aus der Hand. »Hast du nicht gehört, was ich
gesagt habe? NIEMALS zielst du im Schießstand mit einer Waffe auf einen
anderen!«
»Aber sie ist doch gar nicht geladen!«, protestierte Jason. »Ich hab das
Magazin leergeschossen!«
Gunner starrte ihn wütend an. »Erste eiserne Regel, schon vergessen?
Behandle jede Waffe wie eine geladene Waffe! Ohne jede Ausnahme!« Er
zog den Schlitten zurück: die siebzehnte Kugel war immer noch in der
Kammer.
Geschockt und wütend schrie Connor Jason an: »Du hättest mich
abknallen können!«
Ausnahmsweise fand Jason darauf keine Antwort.
KAPITEL 9

Es klopfte hart an der Eichentür. Roman Gurow blickte vom Schachbrett


auf. »Da?«, brummte er unwillig.
Die Tür schwang auf und eine rothaarige Frau in dunklem Hosenanzug
trat ein, blieb aber an der Tür stehen. »Tut mir leid, Sie stören zu müssen,
Roman Simonowitsch.«
»Was gibt’s denn, Nika?« Gurow winkte seine Assistentin in den
elegant möblierten Salon.
Nika überquerte den kostbaren roten Perserteppich mit drei langen
Schritten, bis sie vor dem antiken Schachtisch stand. Auf dem Brett
lieferten sich wunderbar geschnitzte Elfenbeinfiguren ein spannendes Spiel.
Sie grüßte Romans Gegner mit einem respektvollen Nicken, dann wandte
sie sich wieder an ihren Boss. »Sie wollten auf dem Laufenden gehalten
werden. Der Banker hat seinen Buchungsfehler berichtigt und das Geld
zurücktransferiert.«
»Gut«, nickte Roman befriedigt. »Dann können wir ihn jetzt entsorgen.
Für immer.«
»Wie Sie wünschen.«
»Gibt es etwas Neues in der Sache Malkow?«
»Er plant eine weitere Großdemonstration gegen die Korruption«,
antwortete Nika. »Mitten in Moskau. Malkow entwickelt sich zu einem
ernsten Problem.«
Roman lehnte sich in dem hohen ledernen Stuhl zurück, legte die
Fingerspitzen zusammen und stützte das Kinn darauf. »Dann regeln Sie das
Problem!«
Nika hüstelte ein wenig und räusperte sich. »Das ist nicht ganz so
einfach. Wir kommen nicht an ihn heran.«
»Und warum nicht?«
»Malkow lässt sich von einem sehr effektiven Sicherheitsteam
schützen.«
Der Pakhan winkte den Einwand verächtlich beiseite. »In anderen
Fällen hat uns das doch noch nie aufhalten können.«
»Das stimmt, aber unsere Nachforschungen haben ergeben, dass jemand
mit sehr viel Macht hinter ihm steht.«
Roman hob eine seiner buschigen Augenbrauen. »CIA?«
Nika zuckte fast unmerklich die Schultern. »Das war unsere erste
Vermutung. Aber diese Sache fühlt sich nicht an, als seien es die
Amerikaner.«
»Wer könnte das denn sonst sein?«
»Versuchen wir gerade herauszufinden. Aber bisher haben wir noch
nichts entdeckt.«
Roman kniff die tiefliegenden Augen zusammen, ein Zeichen, dass
seine Geduld beinahe erschöpft war. »Dann schauen unsere Leute nicht
aufmerksam genug hin!«, knurrte er gereizt.
Nika versteifte sich, wappnete sich für den Schlag. Aber er kam nicht.
Jedenfalls nicht dieses Mal. Nika war keineswegs eine schwache Frau; sie
beherrschte die russische Kampfsportart Systema und schaffte beim
Bankdrücken sogar ihr eigenes Körpergewicht. Aber ihr Boss hatte sich den
3. Dan des Schwarzen Gürtels im Kyokushin-Karate erkämpft, einer der
brutalsten japanischen Kampfsportarten, und war berüchtigt und gefürchtet
dafür, dass er seine Künste gelegentlich auch an Mitarbeitern ausprobierte,
die er für unfähig hielt.
»Das Spiel lässt sich nicht mit ein paar Zügen gewinnen«, bemerkte
Romans Schachgegner und schob seinen Bauern zwei Felder vor. »Wenn
der König zu gut gedeckt wird, muss man seine Stellung schwächen.«
Ein schlaues Grinsen breitete sich langsam auf Romans steinerner
Miene aus. »Richtig«, nickte er und betrachtete das Schachbrett eingehend.
Schließlich schlug er den Bauern mit seinem Läufer. »Wenn wir uns seine
Figuren nacheinander schnappen, wird seine Kampagne fehlschlagen. Nika:
Nehmen Sie jemanden aus dem Spiel, der Malkow sehr nahesteht.«
»Wird sofort erledigt«, antwortete Nika mit knappem Nicken. Sie hatte
die Anweisung genau so verstanden, wie sie gemeint war: als eine
verschlüsselte Lizenz zum Töten. »Ich werde unsere besten Leute
daransetzen.«
Romans dunkler Blick folgte der Assistentin, als sie den Raum verließ.
Er mochte ihre durchtrainierte Figur und das feuerrotes Haar, aber wenn es
eine Frau gab, mit der er sich nicht anlegen würde, dann war es Nika.
Passend zu ihrer Figur war Nika hart wie Stahl, außerdem mit einem
messerscharfen Verstand gesegnet. Er schätzte ihre brutale Effizienz, ihren
rücksichtslosen Ehrgeiz und ihre absolute Loyalität – Eigenschaften, die für
jemanden in ihrer Position absolut unverzichtbar waren.
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte er sich wieder dem
Spiel zu. Doch sein kaltes Lächeln verflog, als sein Gegner einen
unerwarteten Angriff mit dem Springer einleitete.
»Das Endspiel beginnt«, verkündete sein Gegner. »Schach.«
KAPITEL 10

»Eine neue Taschenlampe? Wozu soll die gut sein?«, fragte Jason, als er
den Inhalt des Rucksacks untersuchte, den Amir für ihn zusammengestellt
hatte. »Hast du Richies Bedrohungsbericht nicht gelesen? Was wir bei
dieser Mission brauchen, sind Waffen!«
»Das ist eine Waffe«, antwortete Amir, schaltete die Lampe ein und
richtete den grellgrünen Laserstrahl auf Jasons Gesicht.
Jason hob schnell die Hände vor die Augen. »Verdammt, das blendet!
Hör auf damit!«
Connor lachte. »Wirkt doch ganz gut, oder nicht?« Er schaltete seine
eigene Taschenlampe an und aus. »Der Blender hat mir gegen die
somalischen Piraten sehr viel genützt.«
Jason blinzelte heftig, um die Lichtflecken zu vertreiben. Er drehte sich
zu Connor um, der neben ihm im Logistikraum in der Buddyguard-Zentrale
stand. Nach fünf Tagen intensiven Schießtrainings waren sie am Vorabend
wieder zurückgeflogen. Nach ihrer Ankunft hatte Colonel Black der
Operation Schneesturm endgültig grünes Licht gegeben, sodass sie am
folgenden Tag beginnen konnte. Bugsy hatte ihnen befohlen, sich mit der
Ausrüstung vertraut zu machen.
»Wir bekommen es mit Gangstern zu tun, nicht mit Piraten«, sagte
Jason verächtlich. »Eine Taschenlampe wird uns gegen die russische Mafia
nichts nützen!«
»Die hier schon«, sagte Amir zuversichtlich. Er bewegte die
Taschenlampe mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk – und
plötzlich verlängerte sie sich um das Dreifache zu einem gefährlich
aussehenden Schlagstock.
»Na! Das ist neu!«, rief Connor überrascht.
Amir schlug hart mit dem Stock auf die Tischplatte. Es krachte sehr
laut. Connor und Jason zuckten zusammen.
»Das hier ist eine XT, eine taktische Taschenlampe mit versteckt
eingebautem ausfahrbarem Schlagstock aus speziellem Hartstahl«, erklärte
Amir. »Ich garantiere euch, dass der Stock nicht zerbricht, egal wie heftig
ihr zuschlagt.«
Er deutete auf die sechseckige Zackenkappe am hinteren Ende der
Lampe. »Mit dieser extra verstärkten Stahlummantelung könnt ihr fast jede
Glasscheibe zerbrechen, wenn ihr schnell fliehen müsst. Und in einem
Kampf könnt ihr das Kappenende als Schlagring benutzen und eure Gegner
ernsthaft verletzen. Einen Angreifer könnt ihr mit einem Schlag auf die
Schläfe bewusstlos schlagen. Du wolltest doch eine Waffe, Jason? Das hier
ist die beste!«
Amir stieß die Lampe auf die Tischplatte, sodass der Schlagstock
zurückgeschoben wurde. Jetzt sah die Lampe wieder wie eine ganz
gewöhnliche Taschenlampe aus. Amir schaute die beiden Jungen
selbstzufrieden an. »Und praktisch unsichtbar.«
Connor grinste. Bei Amir konnte man sich darauf verlassen, dass er
immer irgendeinen Ausrüstungsgegenstand lieferte, der etwas Besonderes
war – und dieses Mal hatte es sogar Jason die Sprache verschlagen.
Jason nahm Amir die XT aus der Hand und betrachtete sie von allen
Seiten. »Na, endlich mal was Gescheites«, murmelte er, ließ den
Schlagstock herausschnellen und wirbelte ihn wie ein Samuraischwert
durch die Luft.
Connor konnte sich gerade noch wegducken, als der Stock dicht an
seinem Kopf vorbeischwang. »He! Pass doch auf!«, schrie er wütend.
»Wollte nur testen, wie schnell du reagierst«, grinste Jason. Er warf den
Stock in schnellen Drehungen hoch und fing ihn geschickt am anderen
Ende wieder auf, sodass nun der Schlagring nach vorn zeigte. Und hieb
damit auf die Tischplatte. Der Ring ließ eine tiefe Delle im Holz zurück.
Jason pfiff anerkennend durch die Zähne. »Du hast recht, Amir – dieses
Ding kann echten Schaden anrichten.«
»Bugsy wird ganz schön sauer sein, wenn er die Macke sieht!«, sagte
Connor vorwurfsvoll.
Jason zuckte die Schultern. »Ich sag ihm einfach, dass ich es nicht war.
Amir, du deckst mich doch, oder?«
Amir verdrehte die Augen und hielt beide Hände hoch. »Ich lass mich
da nicht hineinziehen.«
Jason schob den Stock wieder in das Gehäuse zurück und warf die
Lampe in den Rucksack. »Und was haben wir noch?«
Amir reichte jedem ein schlankes Mobiltelefon mit winzigen kabellosen
Ohrhörern. »Die Übersetzungs-App hat jetzt auch Russisch drauf.«
»Nett, aber langweilig«, kommentierte Jason und warf beides in den
Rucksack.
»Und wie wär’s damit?« Amir legte zwei kleine Plastikbehälter auf den
Tisch, beide ungefähr so groß wie eine etwas dickere Ein-Pfund-Münze.
Connor nahm eines in die Hand und schraubte den Deckel auf. »Eine
Kontaktlinse?«, fragte er verblüfft.
»Nicht direkt. Das ist eine AR-Kontaktlinse.«
»Eine was?«, fragte Jason.
»AR bedeutet Augmented Reality«, erklärte Amir. »AR-Brillen gibt es
schon lange – Brillen, in die man bestimmte Informationen einblenden
lassen kann, zum Beispiel geografische Angaben oder die Lufttemperatur
und so weiter. Diese Kontaktlinse hier kann das auch, nur ist sie noch viel
besser. In ihr ist eine winzige Kamera verbaut, außerdem ein Head-up-
Display. Mit einem Augenblinzeln kann man Fotos und Videos aufnehmen.
Und« – fügte Amir voller Stolz hinzu – »darin ist sogar ein
Gesichtserkennungsprogramm installiert! Wenn das System eine Person erst
einmal gespeichert hat, blinkt die Linse dreimal rot, sobald sie diese Person
erneut zu sehen bekommt. Außerdem hat das gute Stück etwas, das ich
Augenübersetzer nenne. Fokussiert ihr den Blick auf ein russisches Schild,
eine Speisekarte oder irgendein anderes Schriftstück, wird der Text von der
Linse gescannt und sofort ins Englische übersetzt. Probiert es mal aus!«
Connor setzte die Linse ein und Amir hielt ihm einen
Computerausdruck mit einem russischen Satz vor die Augen:
Добро пожаловать в Россию!
Connor blinzelte, bis er sich an die Linse gewöhnt hatte, dann schaute
er auf den Ausdruck. Und schon projizierte die Linse die Übersetzung in
sein Gesichtsfeld: Willkommen in Russland!
»Wow! Das ist absolut super!«, rief Connor begeistert. Er war echt
beeindruckt. »Schade nur, dass Jason nicht lesen kann.«
»Das macht nichts«, gab Amir zurück, ohne die Miene zu verziehen.
»Die Linse kann natürlich auch in idiotensichere Symbole übersetzen!«
Jason verdrehte nur die Augen. »Ha-ha«.
In diesem Moment kam Bugsy herein. Er stellte eine große Schachtel
auf den Tisch.
»Das ist ein neuer Satz Klamotten für euch – kugelsicher und stichfest«,
verkündete der Trainer und nahm einen Stapel T-Shirts, Hemden und Hosen
aus der Schachtel. »Schutzkleidung der allerneuesten Generation – diese
Stoffe sind mit hauchdünnem Garn aus Graphenfasern durchwoben, deshalb
sind sie leichter und dünner, aber trotzdem zehnfach wirksamer. Sie
schützen euch vor Schüssen, sogar aus nächster Entfernung, und gegen jede
Art von Schusswaffen. Aber für alles, was stärker ist als ein Sturmgewehr,
braucht ihr diese Jacken.«
Bugsy nahm zwei dicke Winterjacken im Stil von Skijacken aus der
Schachtel, beide mit Kapuzen. »Liquid Body Armour«, erklärte er. »Eine
Art Gel mit extrem harten Partikeln darin. Sie verringern das Risiko bei
Aufschlagverletzungen, zum Beispiel durch Geschosse.«
Connor zog eines der T-Shirts an. »Kann ich gut brauchen, falls Jason
noch einmal versucht, mich zu erschießen.«
Jason zuckte die Schultern. »Hey, das war doch nur ein bisschen
Übungsfeuer. Du solltest dir mehr Sorgen über deine eigene Zielgenauigkeit
machen. Bugsy, du hättest Connor beim Schießen sehen sollen! Ein Blinder
mit Wurfpfeilen hätte besser getroffen als er! Ich war immer total baff,
wenn er sogar mal die Zielscheibe erwischt hat!«
Connor seufzte entnervt. »Jason, merkst du nicht, wie langweilig du
bist? Hör doch endlich auf damit!« Schon beim Frühstück hatte Jason
ständig mit seinen Schießkünsten geprahlt, um Ling und die anderen
Buddyguards zu beindrucken. Es stimmte zwar – Jason war beim
Schießtraining wirklich sehr gut gewesen, sodass Gunner mit ihm schon
bald das Feuern aus der Bewegung und das einhändige Schießen trainiert
hatte. Im Vergleich mit Jason war Connor tatsächlich immer noch ein
Anfänger. Aber er war keineswegs ein so schlechter Schütze, wie Jason
behauptete. Bei sieben von zehn Schüssen traf er sein Ziel – und das war
alles, worauf es ankam.
»Na ja, laut Gunners Bericht habt ihr alle beide bestanden«, antwortete
Bugsy gelassen. »Habt ihr jetzt alles, was ihr braucht?«
Connor nickte und schulterte den Rucksack. »Ja, danke. Damit kommen
wir klar.«
»Wir könnten noch mehr Waffen gebrauchen«, sagte Jason mürrisch.
»Zum Beispiel eine Pistole?«
Bugsy schüttelte entschieden den Kopf. »Damit würdet ihr euch nur in
Schwierigkeiten bringen, Jungs. Denkt immer daran: Verlasst euch nicht auf
eure Ausrüstung, sondern auf euren Verstand – und geht jeder Gefahr aus
dem Weg.«
Unser Verstand wird ständig auf Alarmstufe Rot sein müssen, dachte
Connor, dem plötzlich wieder Charleys Warnung einfiel. Aber er war
zuversichtlich, dass sie sich mit dieser Ausrüstung den meisten
Bedrohungen stellen konnten.
»Guter Ratschlag, Bugsy, dass wir unseren Verstand gebrauchen
müssen«, sagte Jason, schwang den Rucksack auf den Rücken und ging zur
Tür. »Äh, übrigens: Connor wollte Ihnen noch erklären, wieso er eine Delle
in den Tisch geschlagen hat.«
KAPITEL 11

»Jason ist eine tickende Zeitbombe! Er ist völlig unberechenbar!«, sagte


Connor wütend, als er seinen Waschbeutel in den Koffer warf. In ein paar
Stunden, am Abend, sollten sie ihr Flugzeug nach Moskau besteigen. »Er
ist eine Gefahr für mich und für unseren Klienten.«
»Nur weil ihr zwei nicht miteinander klarkommt, heißt das nicht, er ist
der Aufgabe nicht gewachsen«, widersprach Charley.
Connor warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Ihre Wangen
schimmerten im Licht der tiefstehenden Wintersonne, die durch das Fenster
schien. Er hatte gehofft, dass sie sich auf seine Seite schlagen würde.
»Unsere Beziehung hat nichts damit zu tun. Ich habe nur einfach Zweifel an
seiner Urteilsfähigkeit. In der Schweiz hätte er mich beinahe erschossen!«
»Soweit ich gehört habe, war das nur ein momentaner
Konzentrationsverlust.«
»Das reicht doch schon!«, gab Connor scharf zurück. »Jason ist
schießwütig, weigert sich zuzuhören und hält sich nicht an die
Sicherheitsregeln. Mit so einer Einstellung hätte er doch für diese Operation
gar nicht ausgewählt werden dürfen!«
Charley runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass Jason manchmal ein
Angeber und Sturkopf sein kann, aber er ist zuverlässig und als Bodyguard
ist er erfolgreich. Schau dir doch nur seine Missionen an!«
»Ja, klar! Wie der Einsatz in der Karibik, wo er sich einen Sonnenbrand
zweiten Grades holte!«, sagte Connor und warf eine Fleecejacke in den
Koffer. »Ich würde wirklich gern wissen, ob Jason als Bodyguard jemals
wirklich richtig geprüft wurde. Schließlich hat er noch nie gegen
somalische Piraten oder schwer bewaffnete Rebellen kämpfen müssen!«
Charley schürzte die Lippen. »Vielleicht ist es gerade seinen
Fähigkeiten als Personenschützer zu danken, dass so etwas bei seinen
Einsätzen nicht passierte?«
»Oder er hat einfach nur Glück gehabt!«, antwortete Connor wütend. Er
hörte auf zu packen und drehte sich zu ihr um. »Warum verteidigst du ihn
eigentlich ständig?«
»Weil er mir sehr geholfen hat, als ich jemanden brauchte, an dem ich
mich festhalten konnte«, sagte Charley, wobei sich ihre Hände
unwillkürlich an den Armlehnen des Rollstuhls verkrampften. »Hör mal,
ich gebe zu, wir waren am Anfang nicht gerade gute Freunde, aber wenn
dich Jason erst einmal akzeptiert und respektiert, ist er absolut loyal. Ich
würde ihm mein Leben anvertrauen.«
»Na gut, für dich ist das vielleicht in Ordnung, aber er und ich sind fast
nie einer Meinung. Und dass ich bei der Operation den Befehl habe, gefällt
ihm überhaupt nicht. Bei diesem Einsatz ist die Katastrophe
vorprogrammiert.«
Charley schob sich vom Fenster weg und nahm Connors Hand. »Hör
mal, ich verstehe, warum du dir über Jason Sorgen machst. Er ist manchmal
furchtbar eingebildet und kann ein richtiger Kindskopf sein. Aber er ist
auch voll bei der Sache, hat viel Erfahrung und ist durchaus fähig, für seine
Sicherheit zu sorgen und den Klienten zu schützen. Das Problem ist doch,
dass ihr alle beide das Alphamännchen sein wollt.«
Connor verzog das Gesicht. »Was soll denn das heißen?«
»Ihr seid wie zwei Tiger in einem Käfig«, erklärte Charley. »Aber statt
gegeneinander zu kämpfen, solltet ihr eure Stärken zusammenführen. Und
nach dem, was ich den Colonel habe sagen hören, müsst ihr euch
gegenseitig den Rücken freihalten. Diese Mission ist wahrscheinlich
gefährlicher als die meisten anderen. Also bitte – arbeite mit Jason
zusammen. Tu es für mich und deine eigene Sicherheit.«
Connor ließ sich aufs Bett fallen. Im Grunde war ihm klar, dass Charley
wahrscheinlich recht hatte; vielleicht stand ihm wirklich nur sein eigener
Stolz im Weg. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Jason in der Schweiz beim
Schießen so viel besser abgeschnitten hatte als er selbst, und noch weniger
gefiel ihm, dass es nun alle wussten. Seit seinem ersten Tag bei Buddyguard
hatte er sich mit Jason einen ständigen Wettkampf geliefert – vielleicht war
das der Grund, warum er ihn bei der Operation Schneesturm nicht zum
Partner haben wollte. Dadurch wurde aus dem ganzen Einsatz eher die
Fortsetzung des Wettstreits und nicht eine richtige Mission. Weder Jason
noch er konnten es sich leisten zu verlieren, schon deshalb nicht, weil es
dabei auch um den Schutz ihres Klienten ging.
Aber er musste auch anerkennen, dass Jason mehr war als ein übler
Angeber. Nach dem Unfall, der Charley in den Rollstuhl zwang, hatte er ihr
sehr geholfen. Und dafür respektierte er Jason genügend, um mit ihm
zusammenzuarbeiten, trotz aller Meinungsverschiedenheiten. Nur wusste er
nicht, ob das auch umgekehrt der Fall war.
»Okay, ich sag mal: Im Zweifel für den Angeklagten«, sagte er
schließlich. »Aber nur, weil du dich für ihn einsetzt.«
»Du kannst mir vertrauen«, sagte Charley und drückte seine Hand.
»Jason wird dich nicht im Stich lassen. Und wenn du ihm erst einmal
bewiesen hast, wozu du fähig bist, wird er dich respektieren. Was mir viel
mehr Sorgen macht ist, dass euch Colonel Black vor dieser Mission zum
Schießtraining geschickt hat.«
Connor runzelte die Stirn. »Aber es ist doch gut, dass wir lernen, wie
wir uns verteidigen können?«
»Warum haben dann alle anderen im Alphateam nicht dasselbe Training
bekommen?«
Connor zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Zeit? Kosten? Worauf
willst du mit der ganzen Fragerei darüber und den Colonel überhaupt
hinaus? Du bist doch seine Star-Rekrutin …«
»War«, korrigierte ihn Charley. »Die Ehre kommt jetzt dir zu.«
Verächtlich blickte sie auf ihren Rollstuhl hinab. »Ich kann ja wohl nicht
mehr für Missionen eingesetzt werden.«
Connor kniete neben ihr nieder. »Vielleicht nicht, aber du bist das Herz
des Alpha-Teams. Ohne dich würden die Operationen auseinanderfallen.
Ich wäre zu nichts fähig, wenn ich mich nicht darauf verlassen könnte, dass
du hier bist und mich unterstützt.«
Ein zögerndes Lächeln verdrängte ihre sorgenvolle Miene. »Sei einfach
nur vorsichtig, Connor. Ich mache mir Sorgen …«
Connor legte ihr den Finger auf die Lippen. »Aber doch nur, weil wir
jetzt zusammen sind. Früher hast du dir nicht so viele Gedanken gemacht.«
Charley schüttelte leicht den Kopf und blickte ihm tief in die
blaugrünen Augen. »Ich habe mir immer Sorgen um dich gemacht,
Connor.«
Connor konnte einfach nicht anders: Er beugte sich vor und küsste sie.
Und Charley legte die Arme um seine Schultern und für einen Augenblick
schmolzen all ihre Sorgen und Ängste dahin.
Plötzlich waren vom Flur wütende Stimmen zu hören.
»Zum Teufel nochmal, das habe ich doch gar nicht gemeint!«, hörten
sie Ling rufen.
»Ach nein?«, brüllte Jason zurück. »Warum redest du dann dauernd
über ihn? Fährst du auf ihn ab oder was?«
»Was?«, schrie Ling. »Krieg dich nur wieder ein! Ich habe dich nur
gebeten, ein bisschen netter zu ihm zu sein! Warum musst du eigentlich
immer so ein idiotischer Dickschädel sein?«
»Ich? Ein idiotischer Dickschädel? Das sagst ausgerechnet du, Lippy
Ling!«
Ein hartes, klatschendes Geräusch war zu hören, dann schrie Ling: »Von
mir aus kannst du dir in Russland den Hintern abfrieren!«
Connor und Charley sahen Ling wütend an Connors halb offen
stehender Tür vorbeistürmen und hörten sie die Treppe hinunter poltern.
Jason tauchte kurz auf, mit roter Wange, und starrte ihr nach, dann drehte er
sich abrupt um. Eine Sekunde später wurde eine Tür zugeknallt.
Charley blickte Connor an und flüsterte: »Was sollte das denn?«
KAPITEL 12

Die schwarzen Lederschuhe des Geschäftsmanns scharrten verzweifelt über


die Kante des Mosche Aviv Tower, als er in Todesangst versuchte, den Halt
nicht zu verlieren. Mit beiden Armen ruderte er in der Luft; sein Herz raste
so schnell, dass Schrittmacher kaum noch mitkam.
»Sinnlos, jetzt noch fliegen lernen zu wollen, Mr Agasi«, sagte der
Mann mit dem harten, hageren Gesicht und zog ihn wie einen unfolgsamen
Hund an der Krawatte. Obwohl er sehr schlank war, stand der Mann so fest
und sicher wie ein Fels auf dem Helikopter-Landeplatz des höchsten
Gebäudes Israels, einen Fuß zum besseren Halt auf eine Metallstrebe
gestützt. Die Sonne brannte erbarmungslos vom hitzeblauen Himmel; die
Luft war heiß und windstill, trotz der großen Höhe, in der sie sich befanden.
»Bitte, ich bitte Sie, Mr Grey!«, keuchte Mr Agasi mit heiserer Stimme,
wobei seine schmalen Schweinsäuglein voller Entsetzen auf die einzige
Rettungsleine schielten, die ihn vor dem tödlichen Absturz bewahrte – seine
keineswegs reißfeste seidene Armani-Krawatte.
Mr Grey blickte auf die Stadt Ramat Gan hinunter, auf die Autos, die
aus dieser Höhe so klein wie Käfer erschienen, und auf Fußgänger, die ihm
unwichtiger vorkamen als Ameisen. »Manche Leute glauben, wenn man
aus großer Höhe abstürzt, sei man schon tot, bevor man unten aufschlägt«,
sagte Mr Grey nachdenklich, ohne auf die flehenden Bitten des anderen zu
achten. »Ich fürchte aber, die Realität ist viel weniger schmerzfrei.«
Mr Agasi wollte antworten, aber die Krawatte hatte sich so fest um
seinen Hals zugezogen, dass er schier erdrosselt wurde. Verzweifelt
klammerte er sich an Mr Greys Arm.
»Wenn ich jetzt loslasse, Mr Agasi, werden Sie genau
zweihundertfünfunddreißig Meter weiter unten auf den Gehweg schlagen«,
fuhr Mr Grey fort. Nicht die geringste Spur von Mitgefühl für sein Opfer
war in seinen winterkalten grauen Augen zu sehen. »Der Fall wird sieben
Sekunden dauern. In dieser Zeit werden Sie auf über hundertsechzig
Stundenkilometer beschleunigen. Das ist noch keine tödliche
Geschwindigkeit. Aber der Sturz selbst wird Sie nicht umbringen. Sondern
der Aufprall auf dem Boden.«
Mr Grey lockerte den Griff an der Krawatte für einen
Sekundenbruchteil. In Todesangst riss Agasi die Augen auf, als er über die
Kante zu fallen schien, bis Grey die Krawatte wieder fester packte und ihn
zurückzog.
»Ein plötzliches Abbremsen von dieser Geschwindigkeit auf null
bewirkt, dass alles in Ihrem Körper mit einem Schlag
siebeneinhalbtausendmal schwerer wiegt als im Normalzustand«, dozierte
Mr Grey mit monotoner, vollkommen neutraler Stimme, als formuliere er
damit keine Todesdrohung, sondern als wolle er einem gelangweilten
Schüler das Gesetz des freien Falls erklären. »Ihr Gehirn zum Beispiel
erreicht dann momentan ein Gewicht von gut zehn Tonnen. In diesem
Augenblick werden Ihre Körperzellen buchstäblich explodieren und alle
Blutzellen werden platzen. Ihre Knochen werden splittern. Und die Aorta
wird Ihnen aus dem Herz gerissen. Ein paar Augenblicke lang wird es noch
weiterschlagen und Blut in Ihren Lungenspalt pumpen, aber nicht mehr zu
Ihrem Gehirn. Nach dem ursprünglichen Aufschlag wird Ihr Körpergewicht
natürlich wieder auf normal sinken. Aber für Sie macht das dann keinen
großen Unterschied mehr, weil jetzt das Blut durch Ihr irreparabel
beschädigtes Gehirn sickert. Schwere innere Blutungen, wie Ärzte das
nennen.«
Mr Agasi versuchte etwas zu sagen, verschluckte sich in panischer
Angst, wobei ein Fuß von der Kante rutschte. Unter ihm gähnte der
Abgrund und er erlebte plötzlich eine absurde, übelkeitserregende
Sehfeldverzerrung – die Gebäude krümmten und wanden sich, der Boden
weit unter ihm schien sich wellenförmig aufzuwerfen. Irgendwie schaffte er
es, den Fuß wieder auf die Kante zu ziehen. Die ganze Zeit beobachtete sein
Angreifer die vergeblichen Überlebensversuche seines Opfers mit der
Freude eines sadistischen Kindes, das eine Spinne zu Tode quält.
»Vor einiger Zeit berichteten die Medien von einem Fallschirmspringer,
der einen freien Fall überlebte, nachdem sich sein Schirm nicht geöffnet
hatte«, fuhr Mr Grey mit seiner monotonen Stimme fort. Jetzt jedoch
versuchte er so etwas wie ein tröstliches Lächeln, das ungefähr so viel
Wärme ausstrahlte wie das Grinsen eines hungrigen Hais. »Aber wenn ich
mich richtig erinnere, fiel er auf sehr sumpfigen Boden. Ich bin mir nicht
sicher, Mr Agasi, ob der betonierte Gehweg dort unten mit Ihnen genauso
nachsichtig umgehen wird.«
Mr Agasi hob die heftig zitternde Hand. »Okay, okay«, keuchte er, »ich
verrate Ihnen die Namen: Elias Borgoraz, Nir Levy, Beni …«
»Endlich machen wir Fortschritte, Mr Aga …« Im selben Augenblick
vibrierte das Mobiltelefon in seiner Tasche. »Warten Sie mal kurz. Nicht
weglaufen!«
Während Agasi noch immer zitternd über dem Abgrund hing, steckte
Mr Grey den kabellosen Ohrhörer ins Ohr und nahm den Anruf entgegen.
Nach einem kurzen statischen Knistern in der verschlüsselten Verbindung
sagte eine Stimme: »Wo sind Sie?«
»Israel«, antwortete Mr Grey knapp.
»Sie werden in Russland gebraucht.«
Mr Grey runzelte leicht die Stirn. »Ich bin mitten in einer …
geschäftlichen Besprechung.«
»Die muss eben warten«, sagte der Anrufer. »Wir wollen, dass Sie sich
um Viktor Malkow kümmern.«
»Wie bald?«
»Sofort. Lassen Sie alles andere fallen.«
»Wie Sie wünschen.« Mr Grey ließ die seidene Krawatte los, drehte
sich um und ging zum Treppenhaus.
Verwirrung, gefolgt von heillosem Entsetzen und Todesangst, zuckten
kurz über Mr Agasis Gesicht, bevor er über die Dachkante stürzte und in
der Tiefe verschwand.
Als Mr Grey ein paar Minuten später aus dem Mosche Aviv Tower kam
und ein Taxi herbeiwinkte, hatte sich ein paar Meter weiter bereits ein
Auflauf erregter und entsetzter Passanten um einen zerschmetterten Körper
gebildet.
KAPITEL 13

»Hast du im Flugzeug schlafen können?«, fragte Connor gähnend und rieb


sich müde die Augen.
»Nicht viel«, knurrte Jason missmutig.
Sie standen vor den Passkontrollen im Moskauer Scheremetjewo-
Airport. Die Schlange für die ausländischen Passagiere wand sich wie eine
überdehnte Ziehharmonika schier endlos über den grau gefliesten Boden.
Immer wieder rückte die Schlange ein paar Schritte vor, um dann wieder
minutenlang zum Stillstand zu kommen.
Connor warf einen Blick auf die Uhr: 5 Uhr 30. Sie waren mit einer
Stunde Verspätung gelandet und mussten noch ihr Gepäck abholen. »In
einer halben Stunde sollen wir Mr Malchows Kontakt treffen.«
»Na und?«, murmelte Jason, »Nicht unsere Schuld, wenn wir uns ein
wenig verspäten.«
Connor seufzte frustriert. Jasons gereizte Laune ging ihm gewaltig auf
den Geist. Er schickte Charley eine SMS, dass sie sicher gelandet seien,
jetzt aber an der Passkontrolle aufgehalten würden. Obwohl es in Wales erst
3 Uhr 30 war, antwortete Charley sofort.

Ok. Ich benachrichtige Auftraggeber. Pass auf dich auf. C :*


Connor lächelte, nicht nur über das Küsschen am Ende der SMS. Dass sie
so schnell antwortete, war einer der Gründe, warum Charley Teamführerin
war und er sie so sehr bewunderte. Sie fand immer eine Antwort, kümmerte
sich sofort um jede Angelegenheit – ob wichtig oder unwichtig. Er schob
das Smartphone in die Tasche und wandte sich wieder Jason zu. »Und –
habt ihr euren Streit beigelegt, du und Ling?«
Jason starrte ihn wütend an. »Geht dich einen Dreck an!«
»Sorry, wollte ja nur mal nett sein und fragen.«
»Kannst du dir sparen. Ich und Ling haben Schluss gemacht.«
»Was! Warum denn? Ihr geht doch schon ewig miteinander …«
»Ich hab gesagt, es geht dich einen Dreck an!«
Connor hielt den Mund. Schweigend warteten sie. Connor konnte nicht
fassen, dass die beiden Schluss gemacht hatten. Kein Wunder, dass Jason so
beschissene Laune hatte! Schließlich waren die beiden schon zusammen
gewesen, als Connor bei den Buddyguards angefangen hatte. Wie Ling
wohl die Trennung verkraftete? Sie war zwar eine ausgesprochen taffe
Person, aber sie betete Jason geradezu an. Außerdem hätte das Timing nicht
schlechter sein können. Solange Jason auf einer Mission in Russland war,
hatten die beiden keine Chance, sich wieder zu versöhnen. Connor warf
einen Seitenblick auf das mürrische Gesicht seines Teamkollegen; er konnte
nur hoffen, dass die Trennung Jasons Urteilsvermögen als Bodyguard nicht
beeinträchtigte.
Eine Viertelstunde später waren sie kaum ein paar Meter
vorangekommen. Weiter vorn entstand Unruhe: Ein Zollbeamter drängelte
sich grob durch die Menschenmenge. Er trug eine graublaue Uniform mit
drei goldenen Streifen auf der Schulter und hatte die breite rotgeränderte
Schildmütze fast bis zu den Augenbrauen herabgezogen. Sein
befehlsgewohntes Auftreten verriet, dass dieser Mann ein höherer Offizier
war. Mit scharfen Habichtaugen musterte er die übermüdeten Gesichter der
Passagiere; immer wieder verglich er einzelne Gesichter mit einem Foto,
das er in der Hand hielt. Schließlich blieb sein Blick an Connor und Jason
hängen.
Connor stieß Jason an, als der Offizier auf sie zusteuerte. Der Mann
verglich noch einmal ihre Gesichter mit dem Foto und fragte mit starkem
russischem Akzent: »Connor Reeves? Jason King?«
Beide nickten.
»Pojdemte so mnoj«, befahl er und drehte sich zackig auf dem Absatz
um. »Kommen mit«, fügte er in schlechtem Englisch über die Schulter
hinzu.
Connor und Jason blickten sich unsicher an. Doch nach einem barschen
»Sofort!« nahmen sie ihre Rucksäcke und folgten ihm. Eingeschüchtert, fast
verängstigt wichen die Wartenden zur Seite, als der Offizier sich und den
beiden Jungen den Weg zur anderen Seite der Halle bahnte.
»Wohin gehen wir?«, fragte Jason den Offizier.
Der Mann gab keine Antwort, sondern lief einfach weiter.
»Gibt es ein Problem?«, wollte Connor wissen.
Aber immer noch blieb der Offizier stumm. Schließlich blieb er vor
einer Tür stehen und gab auf dem Tastenfeld des elektronischen Öffners
einen Code ein. Er führte die beiden Jungen durch einen völlig leeren Flur
in einen fensterlosen Raum. Als Connor durch die Tür trat, ballte sich in
seinem Magen kalte Angst zusammen. An der Decke waren zwei
Neonleuchten befestigt, die kaltes, hartes Licht verbreiteten. Beige Ölfarbe
blätterte von den Wänden. Und mitten auf dem zerschlissenen
Teppichboden war ein dunkler, unheilvoller Fleck zu sehen. Die einzigen
Möbelstücke waren ein paar Stühle, die auf dem Boden festgeschraubt
waren; sie standen vor einem Tresen mit Glasschutz, der den Raum in zwei
Hälften teilte. Ein unangenehmer Gestank von Schweiß, Urin und schalem
Zigarettenrauch hing in der Luft. Das war kein freundlicher Empfangsraum
im Stil von Willkommen in Russland, wie Connor inzwischen klar geworden
war. Hierher wurden Leute gebracht, die man verhaften wollte.
»Reisepass!«, befahl der Offizier und streckte die Hand aus.
»Worum geht es?«, fragte Jason.
»Reisepass!«, wiederholte der Mann, jetzt in scharfem Ton.
Zögernd übergaben sie ihm ihre Ausweise. Der Offizier warf einen
flüchtigen Blick auf die Fotos und die Einreisevisa, dann ging er wortlos
aus dem Raum. Die Tür fiel automatisch hinter ihm ins Schloss.
»Er hat unsere Pässe!«, zischte Jason.
»Blitzmerker.« Connors Blick zuckte aufmerksam durch das Zimmer.
»Glaubst du, sie wissen, was wir …?«
»Ist sicher nur Routine«, unterbrach ihn Connor schnell, bevor Jason
mit irgendwelchen Einzelheiten über ihre Mission herausplatzte und das
Misstrauen der Russen erregte. Mit einer leichten Kopfbewegung wies er
auf die Videokamera, die in einer Ecke montiert war. Dann schob er Jason
zu einem der Plastiksitze. Die beiden Jungen setzten sich. Die Stühle waren
offenbar so unbequem wie möglich konstruiert worden.
»Ach so, ja, verstehe. Wahrscheinlich nur Routine«, sagte Jason, als er
sich setzte.
Aber Connor dachte, dass der Vorgang alles andere als normal zu sein
schien. Seine Gedanken überschlugen sich, als mögliche Erklärungen durch
seinen Kopf jagten. Die Russen kannten offenbar ihre Namen und
Gesichter. Vielleicht hatte man sie einfach nur deshalb aus der
Warteschlange geholt, weil sie unbegleitete Minderjährige waren. In diesem
Fall mochte die Fluggesellschaft die Behörden verständigt haben. Das wäre
die harmloseste Erklärung, aber Connor war klar, dass sie mit dem
Schlimmsten rechnen mussten: dass ihnen Malkows Feinde bereits auf den
Fersen waren!
Er zog sein Smartphone heraus, um Charley eine SMS zu schicken, aber
in diesem Raum gab es kein Netz. »Funktioniert dein Handy?«, flüsterte er
Jason zu.
Jason schaute auf das Display und schüttelte den Kopf. »Der Raum ist
wahrscheinlich abgeschirmt.«
Connor lief ein eiskalter Schauder über den Rücken. Sie waren von
jeder Hilfe abgeschnitten, in einem fremden Land, das berüchtigt dafür war,
Menschenrechte nicht zu beachten. Sie konnten hier stundenlang, vielleicht
sogar tagelang festgehalten werden. Ohne Verbindung zur Außenwelt
konnte man sie auch einfach verschwinden lassen. Die Luft im Raum war
so abgestanden, dass Connor das Atmen immer schwerer fiel. Seine Kehle
war ausgetrocknet; er schluckte. Es gab weder einen Wasserhahn noch eine
Toilette. Er starrte auf den ominösen dunklen Fleck auf dem Teppich und
fragte sich, was wohl mit dem letzten Insassen dieses Raums geschehen
sein mochte.
Jason tippte etwas auf seinem Smartphone und drehte das Display so,
dass Connor es lesen konnte.

Wir müssen ihnen dieselbe Story liefern.

Connor wollte gerade eine Antwort eingeben, als die Tür aufgestoßen
wurde. Zwei Muskelmänner im Anzug kamen herein. Ihre schicken Jacketts
konnten weder die harten Muskeln verbergen noch die Tätowierungen, die
auf ihren starken Nacken und an den Handgelenken zu sehen waren. Einer
war sehr groß, mit breiter Brust; er wirkte bedrohlich und verströmte den
Geruch eines billigen Aftershave. Der andere war etwas kleiner, aber kräftig
gebaut und kahl; er trug mehrere Ringe an den Fingern, sodass sie wie ein
Schlagring wirkten. Connor und Jason sprangen fast gleichzeitig auf,
instinktiv alarmiert und abwehrbereit. Connor war klar, dass sie keine große
Chance hatten, sich zu widersetzen, wenn die beiden Männer sie verhören
wollten.
Dann trat auch der Offizier wieder in das Zimmer. Ohne zu lächeln,
reichte er ihnen die Pässe, versehen mit den Einreisestempeln.
»Gehen wir«, sagte der größere der beiden Schlägertypen auf Englisch,
aber mit hartem Akzent. Mit dem schwarzen Bürstenhaarschnitt, dem
kantigen Gesicht und einer Nase, die schon mindestens zweimal gebrochen
worden war, sah er nicht aus wie ein Mann, mit dem man eine Diskussion
anfangen sollte.
Connor, immer noch misstrauisch, fragte: »Wohin? Wer sind Sie?«
Der Mann warf einen schnellen Blick zur Überwachungskamera, dann
schaute er Connor an. »Wir sind eure Bodyguards. Ich heiße Lazar. Euer
Onkel erwartet euch.«
Jetzt erst konnte Connor erleichtert aufatmen. Lazars letzter Satz war
als Code für das Treffen mit ihrem Kontakt am Flughafen vereinbart
worden. Mit dem Onkel konnte nur Viktor Malkow gemeint sein.
Jason flüsterte Connor zu: »Bodyguards für Bodyguards! Wir sitzen
schon jetzt in der Scheiße.«
Beide wollten keine Sekunde länger als unbedingt nötig in diesem
Verhörraum bleiben. Sie schulterten ihre Rucksäcke; Lazars namenloser
Partner ging voraus. Beim Hinausgehen sah Connor gerade noch, wie Lazar
dem Offizier heimlich ein Bündel Rubelscheine zusteckte.
KAPITEL 14

In ihren Missionsunterlagen hatte sich auch eine Beschreibung von


Malkows Villa befunden. Connor wusste deshalb, dass das Anwesen auf
einem 36 Hektar großen, teilweise bewaldeten Grundstück stand; das
Gelände war so riesig, dass man darauf ungefähr 50 Fußballfelder hätte
anlegen können. Das Anwesen lag in einem Moskauer Nobelvorort, der im
Volksmund Rubljowka genannt wurde und so etwas wie das russische
Gegenstück zu Beverly Hills darstellte. Die Villa verfügte über neun
Schlafzimmer und zwei Swimmingpools. Jedes Zimmer war großzügig mit
Mahagoni, Marmor und Gold ausgestattet. Die Villa glich eher einem Palast
als einem Wohnhaus. Aber der Milliardär und Politiker hatte sein Geld nicht
nur für die üppige Einrichtung ausgegeben. Als der silberne Mercedes die
Zufahrt zum kieselbestreuten Vorplatz hinauffuhr, versuchte Connor, in der
Dunkelheit weitere Einzelheiten auszumachen. Er bemerkte die
bewaffneten Wärter am Haupttor, den elektrischen Sicherheitszaun auf der
Krone der Mauer, die das ganze Anwesen umgab, und alle paar hundert
Meter waren Überwachungskameras und Flutscheinwerfer installiert.
Weiter hinten im Park entdeckte er die Lichtkegel von Taschenlampen –
Sicherheitspatrouillen, die zwischen Pinien und Tannen das Gelände
kontrollierten. Connors trainiertem Auge kam das Anwesen nicht nur wie
ein Palast, sondern auch wie eine Festung vor.
Der Mercedes hielt neben einem großen Brunnen, der mitten auf dem
Hof stand, ein Meisterstück aus Marmor im Barockstil mit einer enormen
weißen Statue Neptuns, aus deren Sockel mehrere kunstvoll verzierte
Wasserspeier ragten. Lazar und Timur, der zweite Leibwächter – der seinen
Namen während der zweistündigen Fahrt vom Flughafen nur mit
mürrischem Grunzen verraten hatte –, stiegen aus und öffneten die
Hecktüren, sodass auch Connor und Jason aussteigen konnten.
»Verdammt, ist das kalt hier!«, entfuhr es Jason unwillkürlich. In der
kalten Winterluft bildeten sich dichte Atemwolken.
Bis Sonnenaufgang fehlte noch mindestens eine Stunde, sodass es
immer noch recht dunkel war. Connor spürte die bittere Kälte wie Nadeln
im Gesicht. Er zog den Reißverschluss der Jacke hoch und war froh, dass er
noch eine zusätzliche Fleecejacke eingepackt hatte. Ein Bediensteter holte
ihr Gepäck aus dem Kofferraum; Lazar und Timur führten sie die breite
Treppe zum Haupteingang hinauf und in die große Empfangshalle. Der
Raum war hell erleuchtet; es herrschte wohlige Wärme.
Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, stieß
Jason einen leisen Pfiff aus. Staunend blickten die beiden zu dem riesigen,
glitzernden Kristallleuchter hinauf, der über ihnen hing.
Auch Connor hatte die Eingangshalle die Sprache verschlagen. Dieser
Raum allein hatte wahrscheinlich eine größere Fläche als sämtliche Zimmer
im Reihenhaus seiner Mutter in London. Ringsum verlief eine Galerie, von
der man den gesamten, strahlend weißen Marmorfußboden mit Einlagen
aus purem Gold überblicken konnte. An den mit Alabasterplatten
verkleideten Wänden hingen kostbare Meisterwerke aus der Renaissance
und kunstvoll verzierte antike Möbelstücke vervollständigten die geradezu
majestätische Einrichtung. Noch nie hatte Connor ein Haus gesehen, in dem
Überfluss und Reichtum so sehr zur Schau gestellt wurden.
Eine große Doppeltür schwang auf und Viktor Malkow betrat die
Eingangshalle. Er war dunkelhaarig, trug ein blaues Designerpolohemd,
Chinos und jene rahmenlose Brille, die zu seinem Markenzeichen geworden
war. Freundlich lächelte der Politiker seine neuen Gäste an. »Willkommen
in meinem bescheidenen Heim«, sagte er. »Wie war euer Flug?«
»Danke, gut«, antwortete Connor und schüttelte die dargebotene Hand.
»Du lügst! Eure britische Fluglinie ist die schlimmste!«
Connor erschrak und fragte sich, ob er den Mann irgendwie beleidigt
hatte.
Aber Viktor lachte. »Gab’s keine besseren Flüge? Egal – ihr seid
jedenfalls gesund angekommen!«
Nun schüttelte er auch Jasons Hand. »Die Verzögerung an der
Passkontrolle tut mir leid. Der Sicherheitsdienst des FSB – das ist der
russische Inlandsgeheimdienst – hat vor kurzem angeordnet, die
Expressabfertigung an den Flughäfen zu schließen. Aus Sicherheitsgründen,
wie behauptet wurde. Aber ich behaupte, dass es nur eine weitere Schikane
der Regierung ist. Deshalb ist es jetzt ein klein wenig … mühsamer, Leute
schneller durch die Passkontrolle zu bringen.« Dabei rieb er Daumen und
Zeigefinger aneinander, um anzudeuten, dass dafür gewisse »Gebühren«
gezahlt werden müssten. »Aber jetzt seid ihr hier. Ich bin sicher, dass ihr
furchtbar hungrig seid. Habt ihr schon gefrühstückt?«
Jason nickte. »Ja, im Flugzeug.«
»Schon wieder gelogen!«, rief Viktor und drohte ihm scherzhaft mit
dem Zeigefinger. »Sag die Wahrheit! Mahlzeiten in Flugzeugen schmecken
wie Pappe. Kommt mit, jetzt werden wir erst einmal richtig frühstücken.«
Flankiert von den beiden Bodyguards folgten Connor und Jason ihrem
Auftraggeber durch den Flur in einen wunderbaren Wintergarten, von dem
aus der Blick über den riesigen, tief verschneiten Garten und Park ging. In
dem verglasten Raum war ein langer Tisch gedeckt worden. Frisches Obst,
Joghurt, Pfannkuchen, verschiedene Käsesorten und Gebäck – es gab so
viel zu essen, dass der Tisch wie das Büffet eines Fünf-Sterne-Hotels
aussah.
»Setzt euch«, befahl Malkow. Eine Bedienstete goss ihm Kaffee ein.
»Wollt ihr auch Kaffee? Oder lieber Saft?«
»Für mich bitte Orangensaft«, sagte Connor.
»Für mich auch«, fügte Jason hinzu.
Lazar und Timur bezogen neben der Tür Stellung, bewegungslos wie
Granitstatuen. Das Mädchen goss den Jungen den Saft ein.
Viktor nippte an seinem Kaffee und biss ein wenig von seinem Gebäck
ab. »Ich bin froh, euch beide hier zu haben. Zwar habe ich volles Vertrauen
in Lazar und seine Männer« – dabei nickte er seinen Bodyguards
anerkennend zu – »aber es kann nicht schaden, so viel Schutz wie möglich
zu haben. Vor allem hier in Russland. Meine Feinde würden mich liebend
gern für immer ausschalten, egal wie, und dadurch wird auch mein Sohn zu
einem Anschlagsziel.«
»Keine Sorge, wir werden Feliks schützen«, sagte Jason und nahm sich
noch ein Schokocroissant.
»Habt ihr schon einmal syrniki gegessen?«, erkundigte sich Viktor.
Beide schüttelten den Kopf.
»Dann wird es höchste Zeit! Ihr seid hier in Russland!« Mit einem
Fingerschnippen gab er dem Dienstmädchen ein Zeichen, das daraufhin
jedem drei dicke, in der Pfanne mit viel Öl gebratene goldbraune
Gebäckstücke auf den Teller lud und ein Kännchen saure Sahne sowie eine
Schale Marmelade daneben stellte.
»Das sind traditionelle russische Quarkpuffer«, erklärte Viktor, während
er selbst einen mit einer Schicht Sahne bestrich. »Als Kind waren syrniki
eine meiner Lieblingsspeisen und sind es heute noch.«
Connor tat es ihm nach und häufte noch einen Löffel Marmelade auf die
Sahne. Überrascht stellte er fest, dass der syrnik außen recht knusprig, innen
aber warm und sahnig war.
»Schmeckt er dir?«, erkundigte sich Viktor.
Connor nickte grinsend und nahm noch einen großen Bissen.
»Freut mich. Diese Dinger sind sehr nahrhaft und enthalten viel Protein.
Nichts sättigt besser und hält euch an kalten Wintermorgen warm. Und ein
Moskauer Wintermorgen ist immer kalt …«
Viktor wurde durch ein Klopfen an der Tür des Wintergartens
unterbrochen. Lazar ließ einen bärtigen Mann in anthrazitfarbenem Anzug
eintreten. Sein Kopf war oben absolut kahl; es war, als hätte sich sein Haar
in der Mitte geteilt und sei ringsum herabgerutscht, sodass nur noch ein
buschiger Haarkranz und ein sorgfältig gestutzter und gepflegter, an den
Enden ergrauter Bart übrig geblieben war. Er hatte eine leicht knollige Nase
und kleine, dicke Lippen, aber sein Blick war scharf und aufmerksam.
»Ah, Dimitri, du bist heute früh auf«, begrüßte ihn Viktor und winkte
ihm zu, sich an den Frühstückstisch zu setzen. »Darf ich dir meine Neffen
vorstellen, Connor und Jason.«
Der Mann runzelte verblüfft die Stirn. »Deine … Neffen?«
»Um zwei Ecken, genau genommen. Mütterlicherseits«, fügte Viktor
mit entwaffnendem Lächeln hinzu, »Dimitri Smirnow ist mein persönlicher
Berater«, erklärte er Connor und Jason. »Und gewissermaßen auch meine
rechte Hand. Er dirigiert die Kampagne für Unser Russland.«
»Es ist eher Gemeinschaftsarbeit«, wehrte Dimitri bescheiden ab.
Connor wunderte sich, warum Viktor sogar seiner »rechten Hand«
verschwiegen hatte, dass er die beiden Jungen aus England als Bodyguards
für Feliks angeheuert hatte. Der Kreis von Personen, denen Viktor vertraute,
schien also recht klein zu sein. Offenbar wollte er kein Risiko eingehen,
wenn es um geheime Sicherheitsmaßnahmen für seinen Sohn ging.
»Ich muss dich dringend sprechen«, sagte Dimitri, während das
Dienstmädchen einen Tasse vor ihn auf den Tisch stellte und Kaffee
eingoss. »Unter vier Augen.«
»Natürlich.« Viktor winkte Timur zu sich herüber. »Timur, bringen Sie
die Jungen zu Feliks hinauf. Bestimmt wartet er schon ganz aufgeregt
darauf, seine Cousins endlich kennenzulernen.«
KAPITEL 15

Feliks Malkow schob einen weiteren Löffel Cornflakes in den Mund, ohne
den Blick von dem kolossalen Fernsehbildschirm abzuwenden, der die
Stirnwand im sogenannten »Hobbyraum« der Villa beherrschte. Im Moment
lief ein Horrorfilm. Grauenhafte Zombies rannten mordend durch
nächtliche Straßen; der Bildschirm war so riesig, dass die Figuren fast
lebensgroß und die Blutspritzer ekelhaft realistisch erschienen.
»Das ist wirklich ein Superfernseher«, bemerkte Connor und
unterdrückte ein angewidertes Aufstöhnen, als ein Zombie einer jungen
Frau die Eingeweide herausriss und verschlang. Erstaunlich, dass ihr Klient
dieses Zeug anschauen konnte, ohne sich davon den Appetit verderben zu
lassen.
»Hm«, murmelte Feliks halbherzig. Er senkte die Lehne seines
mächtigen La-Z-Boy-Ruhesessels noch weiter ab und streckte die
spindeldürren Beine auf der hochklappbaren Beinstütze weit aus, ohne den
Bildschirm auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
»Was kostet wohl so ein Gerät?«, fragte Jason.
Feliks zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Wen interessiert das
schon?, und schaufelte eine weitere Ladung Cornflakes in den Mund.
Jason und Connor blickten sich vielsagend an. Zehn Minuten war es
her, dass Timur sie zu Feliks gebracht hatte, und bisher hatten sie von dem
Jungen kaum mehr als gelangweilte Antworten auf ihre Fragen zu hören
bekommen. Ihr Klient sah jedenfalls genauso aus wie auf dem Foto, das
sich im Operationsordner befand: trotzig, mürrisch, schlecht gelaunt und
blass, als bekäme er kaum jemals die Sonne zu sehen. Mit dem dunklen
Haar, der schmalen Nase und den dünnen Lippen hätte er jederzeit als
Vampir durchgehen können. Connor hatte das Gefühl, dass der Junge nicht
viel Umgang mit Gleichaltrigen hatte – obwohl sein riesiger Hobbyraum
mit sämtlichen Spielen, Konsolen und den neuesten Unterhaltungsmedien
ausgestattet war, die man sich nur vorstellen konnte. Eine Bowlingbahn zog
sich an der hinteren Wand entlang. Mitten im Raum standen ein großer
Fußballtisch, ein Profi-Billardtisch und ein Airhockeytisch. Arcade-
Spielautomaten standen an den Wänden, darunter auch das Oldtimerspiel
Space Invaders, ein Flippergerät und verschiedene Virtual Reality-Geräte
der neuesten Generation. Der Hobbyraum war praktisch der
Medienspielzeugladen eines Milliardärs – mit seinem Sprössling als
einzigem Kunden.
Der Film endete mit dem bei solchen Horrormovies üblichen grausigen
Gemetzel. Als der Abspann lief, riss Feliks endlich den Blick vom
Bildschirm los; zum ersten Mal, seit sie hereingekommen waren, schaute er
Connor und Jason direkt an.
»Dann seid ihr also meine neuen Bodyguards, wie?«
»Ja«, antwortete Connor und rang sich noch einmal ein freundliches
Lächeln ab. »Wir sollen für deine Sicherheit sorgen, während dein Vater
seinen Wahlkampf führt.«
Feliks musterte die beiden Jungen von oben bis unten. »Na gut, du
siehst ja wenigstens so aus, als wärst du dafür gebaut«, sagte er und nickte
Jason zu, der bei diesem Kompliment die breite Brust reckte. Dann
wanderte Feliks’ Blick weiter zu Connor, studierte seine braune
Stachelfrisur und den schlanken, aber athletischen Körperbau. Er kniff die
Augen zusammen. »Aber bei dir bin ich mir nicht so sicher.«
Jason grinste spöttisch und Connor versuchte, nicht beleidigt
auszusehen. »Ich war britischer Juniormeister im Kickboxen«, verteidigte
er sich.
»Du warst?«, fragte Feliks und runzelte enttäuscht die Stirn. »Wer hat
dich besiegt?«
Connor verkniff sich eine scharfe Antwort. Er war auf dem besten Weg,
eine Abneigung gegen seinen neuen Schützling zu entwickeln. Zwar
ermahnte er sich, dass der Junge seine Mutter verloren hatte – aber das war
keine Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. »Niemand. Ich habe
bei der Buddyguard-Organisation angefangen.«
Feliks stellte die leere Cornflakeschale auf den Tisch und schlenderte zu
einem großen Kühlschrank im amerikanischen Stil hinüber, der im Bar- und
Getränkebereich des Raums stand. Er nahm ein Schokogetränk heraus, bot
ihnen aber nichts an.
»Mein Vater glaubt also, dass ihr zwei mich vor der Bratwa schützen
könnt. Vor der brutalsten und gefürchtetsten Mafiaorganisation der Welt!«
Er schnaubte verächtlich und schüttelte unglücklich den Kopf. »Allmählich
glaube ich wirklich, dass er nicht mehr ganz dicht ist.«
»Wir bilden einen unsichtbaren Abwehrring um dich«, erklärte Connor.
»Lazar und sein Team sind Bodyguards, das sieht jeder sofort. Sie ziehen
viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich; dadurch wirst auch du zu einem
hochgradig gefährdeten Anschlagsziel. Aber Jason und ich fallen neben dir
überhaupt nicht auf. Sie können nicht immer bei dir sein; wir schon. Wir
gehen mit dir zur Schule. Zu Parties. Wohin auch immer. Du hast also
jederzeit und überall einen verdeckten Schutzschild bei dir.«
Feliks trank die Schokomilch aus und wischte sich mit dem Handrücken
den Schaum von der Oberlippe. »Na gut, hoffen wir mal, dass ihr länger
durchhaltet als mein letzter Bodyguard«, sagte er und warf den leeren Pack
in einen Mülleimer.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Jason. Connor wunderte sich, warum
diese Information nicht in ihrem Operationsordner erwähnt wurde.
»Er wurde gefeuert … buchstäblich«, kicherte Feliks, formte mit der
Hand eine Pistole, sagte »PENG!« und »schoss« auf Connor und Jason.
Die beiden Buddyguards lachten nicht.
KAPITEL 16

Schon frühmorgens am nächsten Tag schoss Connors Alarmzustand auf


Code Orange hoch. Der Cooper-Code war so ziemlich das Erste gewesen,
was Connor bei seinem Buddyguard-Training erlernt hatte. Um die innere
Gefechtsbereitschaft besser erfassen zu können, hatte ein amerikanischer
Offizier namens Jeff Cooper vier Ebenen der Bereitschaft festgelegt und
ihnen bestimmte Farben zugewiesen – weiß, gelb, orange und rot. Als
Bodyguard sollte man sich gewöhnlich im Code Gelb befinden – entspannt
alarmiert, dem Zustand, in dem sich Connor bei der Abfahrt von der Villa
befunden hatte. Aber jetzt, auf dem Weg zu Feliks’ Schule, steckten sie im
zähen Morgenverkehr fest. Als Connor den Stau durch die Heckscheibe
beobachtete, fiel ihm ein schwarzer Toyota Corolla auf, der fünf Autos
entfernt hinter ihnen fuhr. Dasselbe Fahrzeug war ihm schon früher ins
Auge gesprungen, als sie durch das Haupttor des Malkow-Anwesens
gefahren und in die Hauptstraße eingebogen waren. Wenn nicht die
Straßenlaterne an der Ecke gewesen wäre, hätte Connor das Fahrzeug gar
nicht bemerkt. Mit dem tiefschwarzen Lack und den ausgeschalteten
Scheinwerfern war das Auto nichts weiter als ein undeutlicher Schatten in
der Dunkelheit gewesen, die kurz vor der Dämmerung herrschte.
Erst jetzt, im Widerschein der Bremslichter, konnte Connor das
Nummernschild ausmachen. Aber er war sicher, dass es derselbe Toyota
war, der ihren SUV durch das Nobelviertel Rubljowka und auf der
Moskauer Ringstraße verfolgt hatte.
»Wir haben einen Schatten«, informierte er Timur, der auf dem
Beifahrersitz saß.
»Da«, antwortete der Bodyguard, drehte aber den kahlen Schädel nicht
einmal um.
Connor runzelte die Stirn. »Macht Ihnen das keine Sorgen?«
»Njet.«
»Müssen wir nicht …«
»Die Typen vom FSB verfolgen uns immer«, unterbrach er Connor.
Connor staunte, wie unbesorgt der Bodyguard war. Der FSB, der
wichtigste Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, war auch für
Terrorismusabwehr und Überwachung zuständig. Die Organisation galt als
starker Arm der Regierung und war alles andere als zimperlich. Der FSB
war bekannt dafür, manchmal auch zu illegalen Methoden zu greifen, um
Regierungsgegner einzuschüchtern – oder sie sogar, wenn man gewissen
Gerüchten glauben konnte, zu ermorden. Der FSB war der natürliche
Nachfolger des berüchtigten sowjetischen Geheimdienstes KGB; wenn er
irgendwo mitmischte, durfte man das nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Aber Connor verstand, warum sich die Bodyguards nicht weiter darüber
aufregten. Viktor Malkow war nun einmal der wichtigste Führer der
Opposition gegen die derzeitige Regierung; offensichtlich hatten sich
Malkow und seine Bodyguards längst daran gewöhnt, auf Schritt und Tritt
von FSB-Agenten beschattet zu werden. Und das galt auch für Malkows
Sohn.
Als sie auf die Ausfahrt von der Ringstraße einbogen, folgte ihnen der
Toyota wie ein Schatten.
Connor konnte nicht anders: Immer wieder musste er einen Blick durch
die Heckscheibe werfen. Die undeutlichen dunklen Gestalten, die im Toyota
saßen, kamen ihm düster und bedrohlich vor.
»Daran gewöhnst du dich«, sagte Feliks, ohne von dem Killerspiel
aufzublicken, das er auf seinem Smartphone spielte. Er saß direkt neben
Connor, aber bisher hatte er kein Interesse erkennen lassen, sich mit Connor
zu unterhalten. Connor fragte sich, ob Feliks’ völlig unnahbares und
ablehnendes Verhalten gegenüber seinen beiden Buddyguards nur einfach
Unhöflichkeit war oder ob der Junge irgendwie verhaltensgestört war und
mit anderen Leuten nicht zurechtkam. Wie auch immer, Feliks interessierte
sich nicht im Geringsten für ihn oder Jason.
Connor warf einen Blick zu seinem Teamkollegen hinüber. Der saß auf
Feliks’ anderer Seite; er döste, den Kopf gegen die Seitenscheibe gelehnt.
Connor überlegte, ob er ihn aufwecken sollte. Jason sollte eigentlich im
Code Gelb sein, schließlich war die Fahrt zur Schule nicht ohne Risiko.
Andererseits konnte er Jason keine Vorwürfe machen. Auch Connors innere
Uhr folgte immer noch britischer Zeit, für ihn war es jetzt 5 Uhr morgens.
Obwohl sie einen Ruhetag gehabt hatten, fiel es auch Connor schwer, die
Augen offen zu halten. Außerdem war die Fahrt schier endlos und der
Verkehr floss auf der gesamten Strecke nur zäh dahin.
Als sie endlich am Tor der International Europe School ankamen, bog
der Toyota in die gegenüberliegende Seitenstraße ein und parkte dort. Die
Institution war eine der führenden freien Schulen Russlands und wurde
hauptsächlich von den Kindern der Moskauer Elite besucht. Connor wollte
Jason gerade wecken, als dieser aus dem Halbschlaf hochfuhr, offenbar
aufgeschreckt durch die plötzliche Richtungsänderung. Jetzt beneidete
Connor seinen Partner um den kurzen Schlaf, denn Jason wirkte erfrischt
und einsatzbereit. Connor unterdrückte mühsam ein Gähnen, als er aus dem
Fahrzeug stieg. Doch der eiskalte Wind blies seine Müdigkeit schlagartig
weg.
»Geht denn hier die Sonne nie auf?«, murrte Jason, zog die Kapuze
hoch und ließ den Blick über die dunklen Sportanlagen schweifen.
»Doch, gegen neun Uhr«, antwortete Feliks. Er warf die Schultasche
über die Schulter und steuerte auf das Tor zu.
Timur begleitete die drei Jungen nur bis zum Eingang; dort grunzte er
kurz, was offenbar heißen sollte, dass er ihnen damit die Verantwortung für
Feliks’ Schutz übertrug. Die drei Jungen überquerten den Pausenhof. Am
Abend war Schnee gefallen, sodass sich immer mehr neue Fußspuren kreuz
und quer über den Schulhof zogen. Connor schob sich instinktiv an Feliks’
rechte Seite, die wichtigste Position für einen Personenschützer.
Aber genau das tat auch Jason – und stieß deshalb mit Connor
zusammen. Einen Augenblick lang rangelten sie um die Vorherrschaft.
»Geh an die Spitze«, befahl Connor flüsternd und wies mit einer
Kopfbewegung auf die Position, die ein zweiter Bodyguard normalerweise
einnehmen würde.
»Du gehst voraus«, zischte Jason.
Connor warf ihm einen wütenden Blick zu, aber sein Rivale wollte
nicht weichen. »Wir wechseln uns ab«, fauchte er.
»Okay«, gab Jason mit beschwichtigendem Grinsen zurück. »Aber du
zuerst.«
Connor biss wütend die Zähne zusammen, wollte aber vor ihrem
Schützling keine Szene machen. Er ging etwas schneller, bis er etwas nach
links versetzt einen Schritt vor Feliks ging. Damit hatten sie einen
vollständigen Rundumblick und Feliks wurde von vorne, hinten und beiden
Seiten geschützt.
Am Haupteingang öffnete Connor einen Türflügel, scannte schnell den
Vorraum auf mögliche Bedrohungen – mit denen er nicht rechnete –, und
ging beiseite, um Feliks eintreten zu lassen. Es wimmelte von Schülern und
Lehrern, die zu ihren Klassenzimmern eilten. Überall standen kleine
Gruppen von Freunden, die sich unbedingt noch schnell erzählen mussten,
wie sie das Wochenende verbracht hatten. Als die drei Jungen den
Hauptkorridor entlanggingen, fiel Connor auf, dass Feliks nur von wenigen
Schülern gegrüßt wurde, obwohl ihn ein paar anstarrten. Connor fragte sich,
ob das so war, weil er und Jason Feliks begleiteten – zwei Neue in der
Schule –, oder einen anderen Grund hatte.
Sie blieben vor den Spinden stehen, um ihre dicken Jacken aufzuhängen
und die Sporttaschen einzuschließen. Connor und Jason behielten ihre
Rucksäcke, die sie als normale Schultaschen ausgaben. Während Feliks den
Code in sein Spindschloss eingab, schlenderte ein schlankes Mädchen mit
langem eisblonden Haar herbei. Sie trug einen hohen Rollkragenpullover,
einen rechteckigen schwarzen Rucksack und hielt einen Stundenplan in der
Hand.
»Entschuldige«, wandte sie sich an Feliks, »weißt du zufällig, in
welchem Raum Mathe für die zehnte Klasse stattfindet?«
Feliks starrte das Mädchen mit dem Gesichtsausdruck eines
geschockten Goldfischs an.
Sie lächelte ihn an. »Na, weißt du es?«
»A-a-am Ende des Flurs, auf der linken S-S-Seite«, murmelte Feliks
und wurde rot. Hastig fummelte er an seinem Spindschloss herum und zog
die Tür so weit auf, dass er beinahe dahinter verschwand.
»Danke«, sagte sie mit einem weiteren strahlenden Lächeln. Ihre
blassblauen Augen glitten schnell über Connor und Jason, dann ging sie
davon.
»Wer war das denn?«, fragte Jason eifrig und starrte der blonden
Schönheit nach.
Feliks verbarg den Kopf im Spind. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich
eine Neue in meiner Klasse.«
Jason grinste. »Mir gefällt’s hier, echt.«
Connor schubste ihn mit dem Ellbogen an. »Konzentriere dich auf den
Job!«, zischte er.
»Mache ich doch!«, wehrte sich Jason. »Bin grade dabei, potenzielle
Bedrohungen zu identifizieren.«
»Und – ist sie eine Bedrohung?«, fragte Connor sarkastisch.
»Nein … aber ich vielleicht für sie«, antwortete er mit verwegenem
Grinsen.
Connor verdrehte die Augen. Wirklich erstaunlich, wie schnell Jason
Ling vergessen hatte. »Kommt, gehen wir ins Klassenzimmer.«
Sie schlossen die Spinde und gingen den Flur entlang – aber plötzlich
stellten sich ihnen zwei muskulöse Typen in den Weg. Schulter an Schulter,
mit verschränkten Armen und finster gerunzelter Stirn, der eine blond und
mit breiter Boxernase, der andere mit schwerem Pickelausschlag im
Gesicht.
»Entschuldigt – lasst uns mal durch«, sagte Connor, der immer noch
vorausging und jetzt seinen Klienten besser zu schützen versuchte.
Die beiden Russen starrten einfach durch ihn hindurch, warfen einen
kurzen Blick auf Jason, dann richteten sich ihre Blicke auf Feliks.
»Wer sind die beiden Loser? Deine Bodyguards?«, schnaubte der
Blonde verächtlich. Seine breitgeschlagene Nase, der kantige Kiefer und
das tiefe Kinngrübchen verstärkten den drohenden Eindruck noch mehr, als
seien seine Muskelpakete nicht schon genug.
Feliks bemühte sich zwar, dem Blick des Blonden standzuhalten, wich
aber ängstlich zurück. »Kuzeny«, antwortete er mit bebender Stimme auf
Russisch.
»Echt jetzt? Lange verloren geglaubte Cousins?«, knurrte der andere
und verzog verächtlich sein pickeliges Gesicht. »Hat dein Papa dir wieder
ein paar Freunde kaufen müssen?«
Die beiden Jungen lachten über ihren müden Scherz, während Feliks’
Gesicht rot anlief.
»Was ist dein Problem?«, fragte Jason den Blonden.
»Der da.« Der Blonde wies mit einer Kinnbewegung auf Feliks und
starrte Jason mit zugekniffenen Augen an. »Und wenn ihr beide nicht zu
dem Problem gehören wollt, solltet ihr euch verpissen!«
Connor hob die Hand, um Frieden zu stiften. Das sah friedfertig aus,
aber gleichzeitig bereitete er sich auf einen One-Inch-Push vor, für den Fall,
dass die Situation außer Kontrolle geriet. »Es gibt keinen Grund für …«
»Ihr verpisst euch!«, unterbrach ihn Jason und stellte sich zwischen
Feliks und die beiden Bullys.
Die beiden Russen rissen ungläubig die Augen auf, offenbar völlig
verblüfft, dass da einer den Nerv hatte, sich ihnen entgegenzustellen. Aber
der Pickeltyp überwand schnell seine Verblüffung und baute sich nun in
voller Größe vor Jason auf. »Und wenn nicht?«
Obwohl Jason groß war für sein Alter, überragte ihn der Russe um
mindestens fünf Zentimeter; außerdem hatte er Fäuste wie Schlaghämmer.
Connor legte Jason beschwichtigend die Hand auf den Arm, aber Jason
schüttelte sie ab.
»Dann wirst du gleich deine eigenen Zähne schlucken«, drohte Jason
dem Russen.
Der Junge grinste breit. Sein Gebiss war hinter der Metallzahnspange
kaum zu sehen. »Mach schon – probier’s doch mal. Wenn du dich traust.«
Connor war klar, dass Jason sehr hart würde zuschlagen müssen, um
auch nur einen Zahn zum Wackeln zu bringen. Wahrscheinlich würde die
Metallspange eher Jasons Faust zerfetzen. Jason ballte die Fäuste; die
Versuchung, dem Jungen das fiese Grinsen aus dem Gesicht zu treiben, war
einfach zu groß.
Connor hatte keine Ahnung, welchen Streit Feliks mit den beiden
Schlägertypen hatte, aber ein Kampf wäre ganz sicher nicht die beste
Lösung. Und heute, am ersten Tag ihrer Mission, definitiv nicht der beste
Einstieg. Er wollte sich gerade zwischen Jason und den Jungen drängen, um
die Situation zu entschärfen, als ein Gong den Unterrichtsbeginn
ankündigte. Die anderen Schüler strömten an ihnen vorbei zum
Klassenzimmer. Rasch packte Connor Feliks am Arm und zog ihn mit sich.
Jason folgte ihnen als schützende Nachhut.
»Wir sind noch nicht miteinander fertig!«, bellte der Pickelige und stieß
Jason den Zeigefinger in die Rippen.
Jason starrte ihn völlig unbeeindruckt an. »Stimmt – wir haben noch
nicht mal angefangen.«
KAPITEL 17

»Wer waren die beiden Typen?«, fragte Connor, als sich alle drei an Tische
in der hintersten Reihe setzten.
»Stas und Vadik«, stieß Feliks verächtlich hervor. Offenbar fühlte er
sich jetzt wieder ein bisschen mutiger, nachdem die beiden Schlägertypen
verschwunden waren.
»Warum haben sie Streit mit dir?«, wollte Jason wissen.
»Stas’ Vater ist der Direktor des FSB«, erklärte Feliks verbittert. »Und
deshalb glaubt Stas, er sei so etwas wie der Geheimdienstchef der Schule.
Vadik ist sein bester Kumpel. Seit mein Vater gegen die Regierung kämpft,
versuchen sie, mich zu schnappen, um mich auszuquetschen.«
»Na ja, sie scheinen ziemlich einfältige Typen zu sein«, sagte Jason.
Der Mathelehrer kam herein, setzte sich und schlug das Klassenbuch
auf.
»Luka Azarow … Stefan Artenjew … Klara Balashowa … Jean Claude
…«
Connor beugte sich zu Jason hinüber und flüsterte ihm zu: »Und du
hättest fast eine Schlägerei mit ihnen angezettelt!«
Jason schaute ihn verblüfft an. »Na und?«
»So werden wir das Problem bestimmt nicht lösen!«
»Im Gegenteil!«, flüsterte Jason zurück. »Wir müssen Stärke zeigen,
sonst glauben sie, sie könnten alles mit uns machen.«
Connor schüttelte den Kopf. »Unser Job ist es, Bedrohungen
abzuwenden, nicht, sie zu provozieren.«
Jason runzelte die Stirn. »Aber es ist doch besser, Bedrohungen zu
neutralisieren, bevor sie zu einem Problem werden!«
»Nein! Es ist besser, wenn sie uns unterschätzen.«
»Quatsch. Bin anderer Meinung.«
»Spielt keine Rolle. Oder hast du schon vergessen, wer bei dieser
Mission das Kommando …« Connor unterbrach sich, als ihm plötzlich
bewusst wurde, dass es still geworden war. Alle Augen waren auf ihn und
Jason gerichtet.
»Sorry, meine Herren, störe ich Sie bei einem wichtigen Gespräch?«,
fragte der Mathelehrer und starrte sie über seine Lesebrille hinweg wütend
an.
Connor und Jason schüttelten die Köpfe. »Nein, Sir.«
»Dann passt gefälligst auf!« Der Lehrer schüttelte mahnend den Kopf
und fuhr mit der Anwesenheitsliste fort. »Jason King«, wiederholte er, als
hätte er es mit einem Fünfjährigen zu tun.
»Ja, hier«, antwortete Jason ein wenig verlegen.
»Anastasia Komolowa …«
»Hier!« Das blonde Mädchen vom Flur hob die Hand.
Connor, Jason und Feliks schauten zu ihr hinüber. Sie saß direkt am
Fenster; ihr Haar schimmerte wie Frost in der Wintersonne. Keine Frage,
dass das Mädchen sehr schön war, aber irgendwie wirkte sie auch hart und
angespannt. Vielleicht lag es an ihren fest zusammengepressten Lippen,
oder daran, dass sie die Schüler im Raum ständig musterte und immer
wieder zur Tür oder durch das Fenster auf den Spielplatz draußen blickte.
Connor kam es so vor, als befände sie sich ständig im Code Orange, dem
Zustand der erhöhten Wachsamkeit, eine Stufe höher als sein Code Gelb.
Anastasia kam ihm sehr angespannt vor, was aber vielleicht damit zu tun
hatte, dass sie gerade erst neu in die Klasse gekommen war und sich noch
fremd fühlte.
Als der Lehrer die Anwesenheit überprüft hatte, trat er an das
interaktive Whiteboard und wies die Klasse an, Seite 36 des Lehrbuchs
aufzuschlagen.
Connor blickte konsterniert auf das Buch. Ein einziges Gewirr von
Algebra und komplexen Gleichungen. Zu seinem und Jasons Glück hatte
die Europe School eine international gemischte Schülerschaft; Englisch war
die erste Unterrichtssprache. Trotzdem war es für ihn ein Schockerlebnis, so
plötzlich von der »realen Welt« der Buddyguard-Ausbildung in die
traditionelle Schulwelt zurückversetzt zu werden. Die folgende Stunde
erwies sich daher als sehr anstrengend, denn der Matheunterricht stellte für
ihn eine enorme Herausforderung dar. Zwar mussten sie auch bei der
Ausbildung neben dem Training normalen Unterricht in den Kernfächern
absolvieren, aber dabei waren die einzelnen Fächer immer auf ihre
Anwendbarkeit für das Gebiet des Personenschutzes ausgerichtet. Im
Unterschied dazu waren die Gleichungen, mit denen Connor hier
konfrontiert war, viel abstrakter und schwieriger. Sehnsüchtig wartete
Connor auf das Ende der Stunde.
Jason erging es nicht anders. »Mann, ich hab völlig vergessen, wie
langweilig es in einer echten Schule ist!«, stöhnte er, als sie nach Mathe
endlich auch die Doppelstunde Geografie hinter sich hatten und zum
Mittagessen gingen.
Zur Kantine führte der Weg quer über den gefrorenen Pausenhof. Viele
Schüler standen in aufgeregt plappernden Gruppen beieinander oder
spielten auf dem festgetrampelten Schnee Fußball; die meisten machten
sich jedoch sofort auf den Weg zur Kantine. Feliks ging zwar ebenfalls zum
Essen, mied aber jeden Kontakt mit den anderen Schülern.
In der Kantine trafen sie wieder auf Stas und Vadik. Die beiden Bullys
drängten sich rücksichtslos an die Spitze der Schlange vor der
Essensausgabe; die übrigen Schüler waren offenbar so eingeschüchtert, dass
sie ihnen widerspruchslos den Vortritt ließen. Es war klar, dass Stas den
furchtbaren Ruf seines Vaters geerbt hatte.
Connor und Jason nahmen Feliks in die Mitte, als sie an der warmen
Theke ihr Essen wählten, das Besteck nahmen und zu einem freien Tisch
gingen. Als sie an Stas’ Tisch vorbei gingen, hetzte einer der Jungen: »Dead
Men Walking!«
Die anderen Jungen am Tisch lachten grölend, obwohl sie
wahrscheinlich die Anspielung auf den Film gar nicht kapierten. Feliks gab
sich Mühe, den Spott zu ignorieren, aber Jason wollte sich das nicht bieten
lassen und fuhr herum.
»Dead man talking, würde ich sagen«, fauchte er und starrte den
Sprecher herausfordernd an.
Der Spaßvogel, ein Junge mit kurz geschorenem Haar, Quadratschädel
und massigem Körper, stand langsam und drohend auf. Er war riesig.
Connor wunderte sich flüchtig, was zum Teufel russische Jungen zu essen
bekamen – der hier sah aus, als würde er jeden Morgen mindestens ein
Dutzend syrniki zum Frühstück vertilgen.
Man musste es Jason lassen – er zeigte nicht die geringsten Anzeichen
von Furcht. Und nicht nur das: Er hatte keineswegs vor, zurückzuweichen.
Ein Aufsichtslehrer war aufmerksam geworden und schaute herüber.
Connor drehte sich zu Jason um und warnte ihn, sich nicht provozieren zu
lassen. Zögernd gab Jason nach und ging weiter.
»Danke«, sagte Feliks zu Jason, als sie sich setzten. »Tut gut, mal zur
Abwechslung ein paar Muskeln auf meiner Seite zu haben.«
»Stas und seine Freunde scheinen es auf dich abgesehen zu haben«,
meinte Jason, der den Tisch der Bullys nicht aus den Augen ließ.
»Alle Schafe haben Angst vor dem Löwen«, antwortete Feliks. »Mein
Vater zeigt allen deutlich, wie es heute um Russland bestellt ist. Das gefällt
den Leuten nicht, die an der Macht sind. Die meisten Eltern der Kids hier
arbeiten in der Regierung, in Behörden und Ämtern. Und viele der Väter
besitzen riesige Unternehmen und sind eng mit den Leuten in der Regierung
verbunden. Mein Vater kämpft gegen die Korruption, deshalb machen sich
praktisch alle Sorgen, dass ihre Machenschaften aufgedeckt werden.«
»Na, wenigstens wissen wir jetzt, vor wem wir uns in Acht nehmen
müssen«, sagte Connor. Auch er behielt Stas’ Tisch im Auge und versuchte,
sich die Gesichter der Bande einzuprägen.
Als sie sich über ihr Essen hermachten, hörten sie Stas rufen: »Hey du,
neues Girl! Komm, setz dich zu uns!«
Anastasia, die mit einem Tablett in den Händen von der Theke kam,
warf nur einen kühlen Blick in seine Richtung – und ging weiter. Sie ging
auch an einem der Tische vorbei, an denen die Mädchen aus ihrer Klasse
saßen – ein Platz wäre noch frei gewesen –, bis sie neben Connor, Jason
und Feliks stehen blieb. Sie schaute auf den leeren Stuhl neben Feliks.
»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie und bedachte Feliks mit
einem strahlenden Lächeln. Es brachte auch Connors ersten Eindruck zum
Schmelzen, dass sie eiskalt war.
»Klar«, murmelte Feliks, wobei er sich fast verschluckte. Die Frage
brachte ihn aus der Fassung, aber er schien sich auch zu freuen.
Jason richtete sich ein wenig auf, fuhr sich mit der Hand durch die
lockigen Haare und grinste Anastasia freundlich an, als sie sich ihm
gegenüber setzte. »Hi. Ich heiße Jason.«
Anastasia hob verwundert die Augenbrauen. »Wie … bist du
Engländer?«, fragte sie. Ihr Akzent war weich für eine Russin, das typische
rollende R war kaum zu hören.
»Scheiße, nein!«, rief Jason und sah wirklich echt entsetzt aus. »Connor
ist Engländer, fürchte ich, aber ich bin hundertprozentiger Australier.« Er
stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Und du bist
Russin, richtig?«
»Ja, und ich bin stolz darauf«, antwortete sie, während sie den harten,
rechteckigen Rucksack abstreifte und neben ihrem Stuhl auf den Boden
stellte.
Connor versuchte immer noch, die neue Bekannte einzuschätzen. »Gibt
es einen Grund, warum du dich zu uns und nicht zu den anderen Mädchen
gesetzt hast?«, wollte er wissen.
»Ich hab gesehen, dass ihr euch von den hirnlosen Typen dort drüben
nicht habt einschüchtern lassen.« Anastasia warf einen vielsagenden Blick
zu Stas’ Tisch hinüber. »Scheint hier niemand sonst zu wagen. Und ich
hasse Bullys.«
»Gut – ich mag nämlich auch keine «, stimmte Jason ihr zu.
Anastasia schenkte ihm einen tiefen Blick und nickte einmal, dann
schob sie eine Gabel Salat in den Mund und wandte sich an Feliks. »Wie
habt ihr drei euch eigentlich kennen gelernt?«
»Wir … äh … wir sind Cousins«, murmelte Feliks mit vollem Mund.
Anastasia kniff die eisblauen Augen leicht zusammen, betrachtete alle
drei nacheinander und suchte offenbar nach einer Ähnlichkeit.
»Cousins zweiten Grades«, fügte Connor schnell hinzu. »Wir sind
Austauschschüler. Und was ist mit dir?«
»Meine Eltern mussten für längere Zeit weg. Neuer Job. Wieder
einmal«, sagte sie und seufzte gelangweilt. »Deshalb bin ich seit heute in
dieser Schule.«
Connor warf einen Blick auf ihren Rucksack auf dem Boden. »Was ist
in dem Kasten?«
»Eine Geige. Ich habe ein Musikstipendium bekommen.«
»Cool«, sagte Jason beeindruckt. »Ich spiele ein bisschen Gitarre.«
Allmählich fühlte sich Connor sicherer, dass sie keine Bedrohung
darstellte, und aß beruhigt weiter – Fleisch mit Kartoffelpüree. Feliks schien
sich voll und ganz auf sein Mittagessen zu konzentrieren, während Jason
und Anastasia miteinander plauderten. Trotzdem blickte Connor ständig
verstohlen zu ihr hinüber. Im Umgang mit Mädchen war er immer noch
unglaublich schüchtern.
Als sie fast fertig gegessen hatten, schlenderten Stas und Vadik lässig
herüber. Connor und Jason machten sich auf einen weiteren Streit gefasst.
Aber Stas beachtete sie nicht, sondern lächelte Anastasia ungefähr so
freundlich an, wie eine Schlange. »Du heißt also Anastasia?«
Sie nickte nur.
»Du bist neu hier und kennst dich noch nicht so gut aus, das ist mir
schon klar. Aber du willst dich doch bestimmt nicht mit dem Sohn eines
Vaterlandverräters einlassen, oder?«, fragte er mit einer verächtlichen
Kopfbewegung zu Feliks.
Anastasia schaute ihn kühl an. »Danke, Stas, aber ich bin groß genug,
um mir meine Freunde selbst aussuchen zu können.«
»Dann tritt doch in unseren Club ein«, sagte Stas beharrlich und deutete
auf ein großes rot-schwarzes Poster an der Kantinenwand. PANTHER
SOCIAL CLUB. Freitag ist U18-Abend. Modische Kleidung. »Ich habe
VIP-Karten. Möchte dich als meine Begleitung dabeihaben.«
»Nett von dir«, antwortete Anastasia lächelnd. »Aber Feliks hat mich
bereits eingeladen.«
Feliks’ Mund blieb offen stehen. Er starrte sie mindestens so verblüfft
an wie Stas – und Jason.
KAPITEL 18

»Wie sieht dein Zimmer aus?«, fragte Charley. Ihr Gesicht leuchtete sanft
auf Connors Smartphone. Inzwischen lagen schon vier Tage hinter Connor
und Jason; von den üblichen Tagesberichten abgesehen, hatten Connor und
Charley noch keine Gelegenheit gehabt, privat miteinander zu telefonieren.
»Absolut irre. Schau es dir mal an.« Connor schaltete die Hauptkamera
ein, um ihr sein Zimmer zu zeigen: die antiken Mahagonimöbel mit
Elfenbeinintarsien, die burgunderroten Samtvorhänge, mit denen die
Fenster des riesigen Erkers drapiert waren, als gehöre er zu einem kleinen
Thronsaal, und die goldenen Lampen, die auf beiden Seiten des riesigen
Doppelbetts standen. »Selbst in meinem Bad hängt ein Kronleuchter!«
»Wow. Wie eine Präsidentensuite!« Charley verschlug es fast die
Sprache. »Dein Gastgeber behandelt dich wie einen König. Und wie
kommst du mit dem Schützling zurecht?«
»Er ist unhöflich und wenig freundlich«, gab Connor zu und schaltete
die Kamera wieder aus. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass Feliks
irgendein Problem mit sich herumschleppt. Er schottet sich gegenüber der
Umwelt ab, spielt dauernd irgendwelche Computerspiele auf seinem
Smartphone und spricht kaum … Das mag ja irgendwie verständlich sein,
wenn man bedenkt …«
Charley blickte ihn fragend an.
»Der Selbstmord seiner Mutter hat ihn ziemlich mitgenommen.
Außerdem wird er in der Schule ständig schikaniert. Am gemeinsten sind
Stas und Vadik, und alles nur wegen Feliks’ Vater.«
»Na ja, sein Dad wirbelt in Russland auch wirklich ziemlich viel Staub
auf«, meinte Charley. »Gerade hat er verkündet, dass er Ende des Monats in
Moskau eine weitere Großkundgebung gegen die Korruption veranstalten
will. Ihr müsst also damit rechnen, dass es in den kommenden Wochen noch
heißer hergehen wird.« Sie zögerte. »Ach, übrigens: Ich habe entdeckt, was
Feliks’ früherem Bodyguard zugestoßen ist.«
Connor setzte sich im Bett aufrecht. Im Operationsordner hatte er nichts
darüber gefunden, obwohl er ihn mehrmals durchgelesen hatte, und hatte
deshalb Charley gebeten, Nachforschungen anzustellen.
»Im Internet habe ich die Meldung in einer russischen Tageszeitung
gefunden, dass beim Angriff auf ein Auto ein Bodyguard erschossen
worden sei. Feliks saß hinten im Auto. Dem Bodyguard gelang es noch, den
Wagen aus der Gefahrenzone zu bringen, aber er erlag dann später seinen
Verletzungen. Die Polizei hielt es für einen zufälligen Überfall, aber Viktor
hatte den Verdacht, dass die Sache genau geplant war und ein Versuch
gewesen sei, seinen Sohn zu entführen.«
»Und deshalb hat er uns angeheuert«, sagte Connor.
»Ja. Kein Wunder, dass die Trainer wegen dieser Mission so angespannt
waren. Aber wenn der Colonel bei der Einsatzbesprechung so etwas
Wichtiges nicht erwähnt hat – was verschweigt er uns sonst noch? Mir
gefällt das überhaupt nicht. Ich finde, die Mission ist viel zu riskant, auch
wenn es um einen dicken Auftrag geht! Ich werde mal mit ihm reden.«
»Gute Idee«, nickte Connor. Auch ihn irritierte es, dass der Colonel eine
so wichtige Sache verheimlicht hatte. Wenn sie Feliks wirksam schützen
und sich selbst nicht unnötig in Gefahr bringen wollten, mussten sie alle
Fakten kennen.
»Aber mach dir keine Sorgen, wir passen gut auf. Von ein paar
Schulhoftyrannen abgesehen, gibt es hier noch keine Anzeichen von
Gefahr.«
»Jetzt vielleicht noch nicht«, meinte Charley. »Und wie läuft es
zwischen dir und Jason?«
Connor ließ sich ein wenig tiefer in das Samtkissen hinter seinem
Rücken gleiten. »Ganz okay, glaube ich.«
Charley warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Ich sehe doch, dass du
lügst, sollte der Blick bedeuten.
»Na gut, super läuft es nicht zwischen uns«, gab Connor widerwillig zu.
»Wir streiten uns ständig.«
»Worüber denn?«
»Über alles!«, sagte Connor und das war nur halb scherzhaft gemeint.
»Komm schon, so schlimm kann es nun wirklich nicht sein. Vergiss
nicht, dass ihr euch bei dieser Mission gegenseitig den Rücken freihalten
müsst!«
Connor seufzte. »Weiß ich, aber er will nicht auf mich hören. Und
Befehle befolgt er erst recht nicht. Beim Geleitschutz hält er es für unter
seiner Würde, sich an die Spitze zu setzen. Und auf der Fahrt zur Schule
schläft er ein, obwohl er hellwach bleiben müsste. Außerdem lässt er sich
leicht ablenken.«
»Ach ja? Wodurch denn?«
Connor hatte längst bemerkt, wie Jason den Mädchen nachschaute und
ständig versuchte, Anastasia anzubaggern. Er versuchte wohl, über seine
Enttäuschung mit Ling hinwegzukommen. Aber es schien ihm nicht richtig,
seinen Partner zu verpetzen. Und wenn Ling davon erfuhr, würde sie
womöglich noch verletzter sein. Außerdem schien Anastasia, wie Connor
verblüfft festgestellt hatte, an Feliks mehr interessiert zu sein als an Jason.
»Egal«, sagte er. »Aber in einer Sache können wir uns überhaupt nicht
einigen, nämlich wie wir mit Stas und Vadik umgehen sollen. Jason will
ihnen zeigen, was Sache ist und dass wir uns von ihnen nichts sagen lassen.
Aber ich glaube, alles wird nur noch schlimmer, wenn wir uns prügeln. Das
Problem ist aber, dass Feliks derselben Meinung ist wie Jason.«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Charley.
»Ich möchte diesen Typen so gut wie möglich aus dem Weg gehen.«
Charley biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ihr könnt Feliks
nicht verstecken, wenn ihr in der Schule seid.«
»Aber wir können Stas und seine Bande ignorieren. Oder uns über die
Beleidigungen einfach lustig machen. Wir müssen uns diplomatisch
verhalten, nicht aggressiv. Sonst kann es sein, dass wir ausgesperrt oder
ganz von der Schule gewiesen werden – und dann könnten wir Feliks nicht
mehr schützen.«
Charley nickte. »Im Grunde bin ich deiner Meinung. Aber Jasons
Methode hat auch ihre Vorteile.«
Connor blinzelte überrascht in die Kamera. »Welche denn?«
»Wenn es etwas gibt, wovor die Russen Respekt haben, dann ist es
Stärke«, erklärte Charley. »Jason glaubt, dass Stas und Vadik einen
Rückzieher machen werden, wenn ihr beide, du und Jason, euch gemeinsam
für Feliks einsetzt. Vielleicht solltet ihr beide Methoden miteinander
verbinden?«
»Jason ist kein Typ, der Kompromisse eingeht«, sagte Connor. »Aber
ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«
Nachdem er den Videoanruf beendet hatte, blickte er noch eine Weile
nachdenklich durch das Erkerfenster in das Schneetreiben hinaus. Gut
möglich, dass Charley recht hatte. Connor war klar, dass man Typen wie
Stas und Vadik nicht einfach ignorieren konnte. Aber vielleicht gab es
wirklich einen Mittelweg? Connor wollte eher beschwichtigen und
verhandeln, während Jason auf die Brachialmethode setzte: Abschreckung
durch Gewalt. Wenn es Connor nicht gelang, einen Ausgleich zwischen
beiden Methoden zu finden, würden er und Jason bald in einen heftigen
Krieg mit den beiden FSB-Jungs verwickelt werden.
KAPITEL 19

Die Ballerina flatterte über die Bühne, wirbelte in perfekter Einheit mit der
anschwellenden und wieder abklingenden Orchestermusik. Wie gebannt
folgten hunderte Augenpaare der leicht dahinschwebenden feenhaften
Gestalt, deren Arme ihren eigenen anmutigen Tanz vollführten, während ihr
Körper der Musik Ausdruck verlieh und sich ihre Füße so leicht bewegten,
als würde sie schweben.
Von seiner privaten, vergoldeten Loge aus hatte Roman Simonowitsch
Gurow den besten Blick auf den Tanz der berühmten Primaballerina. Aber
immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Neben ihm saß eine
ausgesprochen schöne junge Frau, höchstens halb so alt wie er, mit
rotbraunem Haar, das wie Bronze schimmerte, und dunklen betörenden
Augen, die jedem Mann schlaflose Nächte bereiten mochten. In ihrem
langen weißen Satinkleid hätte sie sicherlich das halbe Publikum vom
Ballett auf der Bühne ablenken können.
Gurows Assistentin Nika, die in der zweiten Reihe hinter ihrem Boss
saß, hätte sich derweil gern irgendeine Ablenkung gewünscht, da sie Ballett
hasste. Mitten in der Vorstellung vibrierte ihr Smartphone in der
Handtasche. Sie entschuldigte sich bei ihrem Boss, froh, einen Grund zu
haben, die Loge verlassen zu können, und trat durch den roten schweren
Samtvorhang in den teppichbelegten Flur hinaus. Abgesehen von den
beiden Bodyguards, die den Eingang zur Privatloge bewachten, war der
Flur menschenleer. Nika entfernte sich auf eine diskrete Distanz, bis die
Musik nur noch wie gedimmte Hintergrundbegleitung zu hören war, und
warf einen Blick auf die Nummer des Anrufers, bevor sie den Anruf
entgegennahm.
»Sind Sie in Moskau?«, fragte sie leise. Es war zwar eine sichere
Verbindung, aber sie wollte nicht riskieren, dass jemand hier in der Oper
mithörte.
»Ja«, antwortete eine mürrische Stimme.
»Sie haben das Paket, das wir für sie zurückgelassen haben?«
»Ja.«
»Wann werden Sie den Auftrag ausführen?«
»Freitagabend.«
»Sie verstehen doch sicherlich, dass der Job so echt wie möglich
aussehen muss. Absolut überzeugend«, sagte Nika drängend. »Wir wollen
auf keinen Fall, dass jemand misstrauisch wird.«
»Ja, ich verstehe.«
»Aber die Botschaft muss trotzdem klar verständlich sein.«
»Kristallklar. Sie haben mein Wort.«
Zu Nikas Verblüffung beendete der Attentäter den Anruf zuerst –
vielleicht wollte er nur sicherstellen, dass sein Mobiltelefon nicht geortet
und die Position nicht trianguliert werden konnte. Nika schob das Telefon
wieder in ihre Tasche und trug noch schnell ein wenig Lippenstift auf. Sie
fühlte sich immer ein bisschen unwohl, wenn sie einen Profikiller
beauftragen musste. Nicht aus Mitleid mit der Zielperson, denn solche
Gefühle waren ihr fremd, sondern weil solche Aktionen immer ein gewisses
Risiko darstellten, das sich nicht vermeiden ließ: die Gefahr, dass der
Schuss eines Tages sozusagen nach hinten losgehen und die Spuren zu ihr
und ihrem Boss führen könnten. Allerdings hatte dieser Auftragskiller eine
ausgesprochen positive Leistungsbilanz vorzuweisen. Nika hatte daher
keinerlei Anlass zu zweifeln, dass er den Anschlag auf die Zielperson mit
der Präzision eines chirurgischen Eingriffs ausführen würde. Und dass
niemand den Mordauftrag zurückverfolgen konnte.
Nika kehrte in die Privatloge zurück und glitt auf ihren Stuhl, direkt
hinter ihrem Boss. Roman hatte inzwischen eine Hand auf das Knie seiner
derzeitigen Freundin gelegt; sein Goldring glänzte im schwachen Streulicht
der Bühnenscheinwerfer. Die Ballerina wirbelte über die Bühne wie eine
Feder im Sturm, die Musik steigerte sich zu einem dramatischen Crescendo.
Auf dem Höhepunkt beugte sich Nika vor und flüsterte ihrem Boss ins Ohr:
»Der Auftrag wird ausgeführt.«
»Gut«, nickte Roman, »bis zu welchem Termin?«
Nika lächelte. »Morgen um diese Zeit wird Malkow trauern.«
KAPITEL 20

»Wir hätten früher kommen sollen«, meinte Jason, als sie sich am
Freitagabend in die lange Schlange vor dem Panther Social Club einreihten.
Der neue Jugendklub befand sich in einem topmodernen Ökogebäude an
der Westseite des Gorki-Parks, umgeben von einer großen
Schlittschuhbahn, einem Sportcenter, einer kleinen Radrennbahn und einer
Menge anderer Sporteinrichtungen. Die ganze Anlage wurde von dem
Sportartikelkonzern Panther Sports gesponsert. Der Jugendklub war der
angesagte Ort der hippen und trendigen Moskauer Jugend zum Abhängen,
sogar im Winter.
Das Wummern von Bässen drang gedämpft heraus.
»Wir sind früh genug dran!«, sagte Anastasia, die sich mit einem dicken
Pelzmantel die bittere Kälte vom Leib hielt. »Partys in Russland steigen
selten vor Mitternacht.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass uns diese Party für das Herumstehen in
der Kälte entschädigt«, murrte Feliks und stampfte mit den Stiefeln im
Schnee, um sich aufzuwärmen. Bei Anbruch der Nacht waren die
Temperaturen auf bitterkalte zehn Grad minus gefallen. Glücklicherweise
waren Jasons und Connors Jacken für diesen Einsatz nicht nur kugelfest,
sondern schützten sie auch gut vor der Kälte.
»Sieht ganz gut aus«, meinte Connor, als er durch eines der von
Eisblumen übersäten Fenster in den Club spähte. Klar, Feliks hatte weder
geplant noch die geringste Lust verspürt, zu dieser Party zu gehen, bis ihn
Anastasia mit der Idee überfallen hatte. Aber die Anlage sah wirklich
vielversprechend aus. Im Innern entdeckte Connor einen großen
Fußballkicker, Tischtennisplatten, eine Kegelbahn und Billardtische und auf
einer großen Bühne mitten in der Halle baute eine Band ihre Anlagen auf.
»Der Club hier hat dieselbe Ausstattung wie dein Hobbyraum, Feliks!«
»Wozu stehen wir dann in der Kälte herum?«, fragte Feliks sarkastisch.
»Hey, sei keine Spaßbremse«, sagte Anastasia und hakte sich bei ihm
ein. »Das wird irre, du wirst schon sehen.«
»Ja, klar, Spaß ohne Ende«, murmelte Feliks, im selben Moment, in
dem Stas und Vadik vorbeistolzierten, zur Spitze der Warteschlange gingen
und geradewegs in den Club marschierten.
»Sieht so aus, als hätten sie tatsächlich VIP-Karten«, schnaubte Jason
verächtlich. Auch er spähte durch das Fenster. »Nur halbvoll da drin. Wieso
müssen wir hier Schlange stehen?«
Er warf Connor einen Blick zu, der wohl besagen sollte: Wir sollten
unseren Klienten hier draußen nicht der Gefahr aussetzen!
Ausnahmsweise musste Connor seinem Partner recht geben. Es war
Freitagabend und sie standen in einem öffentlichen Park. Jeder hatte das
Recht, hier entlang zu spazieren: Hundebesitzer, Obdachlose. Liebespaare,
Shopper, Kleinkriminelle, Kidnapper, Auftragsmörder … Jason hatte recht,
es war eine Örtlichkeit mit hohem Risikopotenzial. Aber Feliks’ Vater war
einverstanden gewesen, hatte seinen Sohn sogar zum Besuch der Party
ermuntert, weil er sich darüber gefreut hatte, dass Feliks endlich einmal von
einem Mädchen zu einer Party eingeladen worden war.
Connor scannte die Umgebung, suchte unter den wartenden Schülern
und Passanten nach verdächtigen Personen. Alle machten einen völlig
normalen Eindruck; niemand erregte seine Aufmerksamkeit. Aber natürlich
war sein Blickfeld begrenzt. Aus dem Klubeingang fiel ein großer runder
Lichtkegel und die Skateboardanlage wurde von hellen Neonlampen
angestrahlt, doch der Park jenseits der gepflasterten Terrasse lag in tiefer
Dunkelheit. Zahlreiche Büsche und Bäume boten jedem perfekte Deckung,
der ein Anschlagsziel ausspionieren wollte, oder einem Scharfschützen, um
sich auf die Lauer zu legen.
Als er den Blick über die nahestehenden Büsche gleiten ließ, bemerkte
er einen winzigen rot leuchtenden Punkt – eine glühende Zigarette. Sie
leuchtete hell auf, als der Raucher daran zog, und verriet so seinen Standort.
Das muss jetzt schon die dritte Zigarette sein, die der FSB-Agent
raucht, dachte Connor. Dass sie auch heute Abend beschattet wurden, hatte
er schon bemerkt, als Timur sie vor dem Parkeingang abgesetzt hatte. Der
längst vertraute schwarze Toyota Corolla hatte hinter ihnen am Straßenrand
angehalten; eine schattenhafte Gestalt war ausgestiegen. Dass der Agent
nun im Gebüsch stand, löste bei Connor zwiespältige Gefühle aus.
Einerseits störte es ihn, andererseits war es irgendwie beruhigend, dass ein
offizieller Agent auf sie aufpasste. Allerdings hatte Connor keinen Grund,
dem FSB zu vertrauen, weshalb er den Beobachter, so gut es ging, aus dem
Augenwinkel im Visier behielt.
»Hey, Feliks, du hast mir noch nicht erzählt, wer dein Vater ist«, sagte
Anastasia.
Feliks zuckte zusammen und warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
»Viktor Malkow«, antwortete er mürrisch und starrte sie grimmig an, womit
er sie von jedem Kommentar abhalten wollte.
Anastasia riss die Augen auf. »Unser Russland! Meine Eltern sind
große Anhänger! Auch sie wollen, dass die Korruption in unserem Land
aufhört.«
Feliks entspannte sich sichtlich, als er das hörte. »Das freut mich. Und
was machen deine Eltern?«
»Sie suchen nach neuen Ölquellen«, antwortete sie schulterzuckend.
»Deshalb sind sie auch so oft verreist.«
»Wo sind sie gerade jetzt?«, fragte Connor.
»Irgendwo in der Arktis. Ist alles streng geheim, weil es so wenige neue
Quellen gibt.«
»Mein Vater besitzt einen Ölkonzern«, sagte Feliks beiläufig. »Damit
hat er das meiste Geld gemacht, von Finanzspekulation und Computern
abgesehen.«
Sie unterhielten sich locker, während sie langsam in der Schlange weiter
vorrückten. Überrascht beobachtete Connor, dass sich Feliks’ trübselige
Stimmung allmählich aufhellte, und als sie endlich am Eingang
angekommen waren, schien er der Party fast entgegenzufiebern. Es war das
erste Mal, dass Connor seinen Klienten bei so guter Laune zu sehen bekam.
Aber Connor musste sich eingestehen, dass man blind und taub sein musste,
um Anastasias Gesellschaft nicht zu genießen. Auch Jason war das
keineswegs verborgen geblieben – er konnte kaum den Blick von ihr
losreißen.
Und so blieb es Connor überlassen, die Umgebung genau im Auge zu
behalten. Der FSB-Agent war bei seiner fünften Zigarette angekommen.
Abgesehen von ein paar Kids, die mit Graffiti die Außenseite der
Skateboardanlage »verschönerten«, hatte er keine offenkundigen
Bedrohungen bemerkt. Aber er war froh, als sie endlich in den Saal treten
konnten. Hier war es wenigstens warm und relativ sicher.
Da die Party von der Schule organisiert wurde, standen ein paar Schüler
als Ordner am Eingang. Einer von ihnen gehörte zu Stas’ Bande – Boris,
der Junge mit dem Quadratschädel, der Feliks in der Kantine angemotzt
hatte. Wenn Boris die Tickets kontrollierte, war es kein Wunder, dass Stas
und Vadik einfach hineinmarschiert waren.
Jason reichte Boris seine Eintrittskarte. Boris schaute ihn kurz mit
schmalen Augen an, winkte ihn aber durch. Anastasia grinste er schief an;
Connor nickte er knapp zu.
»Du nicht«, sagte er und versperrte Feliks den Zutritt.
»Aber ich hab ein Ticket!«, protestierte der Junge.
»Kann sein. Kommst trotzdem nicht rein.«
Jason und Anastasia waren in der Garderobe stehen geblieben, schauten
zum Eingang zurück und wunderten sich, wo Connor und Feliks blieben.
»Warum nicht?«, wollte Connor wissen.
Boris verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Weil ich es sage.«
»Das hier ist eine Schulveranstaltung«, widersprach Connor. »Alle
Schüler dürfen teilnehmen.«
Stas und Vadik hatten offenbar die Unruhe bemerkt und kamen zum
Eingang. Breit grinsend lehnten sie sich an die Wand, um zu beobachten,
wie die Sache weiterging.
»Nenne mir einen guten Grund, warum du Feliks nicht hineinlässt«,
forderte Connor.
»Gesichtskontrolle«, erklärte Boris mit fiesem Grinsen.
Connor runzelte verwirrt die Stirn. »Was?«
»Gesichtskontrolle«, wiederholte Boris und stieß Feliks den Zeigefinger
fast auf die Nase. »Mir gefällt seine Visage nicht.«
Die anderen Schüler in der Schlange kicherten. Feliks lief vor
Verlegenheit rot an.
Jason war inzwischen zurückgekommen und baute sich drohend vor
Boris auf. »Na, mir gefällt deine Visage auch nicht«, sagte er. »Lass Feliks
rein, sonst mache ich dir eine neue – mit der Faust!«
Boris stieß ein verächtliches Grunzen aus – und der andere Türsteher
stellte sich neben ihn.
»Lass das, Jason!«, zischte Connor seinem Kollegen ins Ohr. »Wir
sollen Feliks nur beschützen, nicht ihm den Weg frei räumen!«
Connor hatte versucht, zu verhandeln und war gescheitert. Aber er
wusste auch, dass brutale Gewalt nichts bringen würde.
»Wie gesagt, ihr drei könnt hereinkommen«, wiederholte Boris
übertrieben freundlich und deutete auf Anastasia, Jason und Connor. »Aber
er nicht. Und jetzt gebt endlich den Weg frei.«
Connor schaute zu Stas hinüber, der es sichtlich genoss, Feliks in aller
Öffentlichkeit gedemütigt zu sehen. Jetzt wurde Connor klar, dass die ganze
Sache von ihm arrangiert worden war – um Feliks von seinen Freunden zu
trennen und ihn vor allen anderen Schülern bloßzustellen.
Auch Feliks wusste das und starrte seinen Klassenkameraden wütend
an. »Das wird dir noch leidtun, Boris«, sagte er kalt.
Boris lachte laut auf. »Würde mir noch viel mehr leidtun, der Sohn
eines Verräters zu sein.«
Feliks ballte die Fäuste und stürmte davon. Connor und Jason folgten
ihm sofort und auch Anastasia schloss sich ihnen an.
Als sie Feliks nachliefen, sah Connor, dass der rot glühende Punkt im
Gebüsch auf den Boden fiel und erlosch. Aber nur ein Stück weiter entfernt
bemerkte er eine weitere Zigarette, die fast gleichzeitig in der Dunkelheit
ausgetreten wurde.
KAPITEL 21

»Die Party sah sowieso nicht so cool aus«, sagte Anastasia tröstend. Aber
ihr Versuch, Feliks wieder aufzuheitern, scheiterte.
So wachsam wie der Blick einer Wildkatze zuckten Connors Augen von
Busch zu Baum, vom Pfad durch den Park, von Schatten zu Schatten.
Unaufhörlich hielt er in der Dunkelheit Ausschau nach den beiden
Beschattern – dem FSB-Agenten und dem mysteriösen anderen Verfolger.
Aber in der tiefen Finsternis war keine Bewegung zu sehen.
»Warum gehen wir nicht woanders hin?«, schlug Anastasia vor. »Die
Schlittschuhbahn beim Messegelände hat bestimmt noch geöffnet.«
Feliks schüttelte mürrisch den Kopf. »Ein anderes Mal vielleicht. Bin
nicht mehr in Partylaune.«
Anastasia machte einen Schmollmund.
»Tut mir leid … hab deinen Abend kaputt gemacht«, murmelte er.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das warst nicht du … sondern
dieser Idiot!« Sie schaute wütend zu Boris am Eingang zurück.
»Keine Angst, der wird das noch bereuen.« Feliks rammte die Fäuste in
die Jackentaschen. »Ich sage Timur, er soll dich nach Hause bringen
lassen.«
Connor wies Jason an, den Bodyguard auf dem Smartphone anzurufen,
damit er einen Wagen schickte. Denn natürlich hatte niemand damit
gerechnet, dass sie so frühzeitig von der Party zurückkommen würden, und
Connor wollte nicht länger als unbedingt nötig in Dunkelheit und Kälte
warten … vor allem, seit er wusste, dass sie von zwei Typen verfolgt
wurden.
Die vier stapften den unbeleuchteten Parkweg entlang. Die dicke
Schneedecke knirschte unter ihren Stiefeln. Connor holte seine XT-
Taschenlampe aus der Jackentasche und schaltete sie ein. Der Strahl drang
scharf wie ein Messer durch die Dunkelheit.
Anastasia warf ihm ein halb belustigtes Lächeln zu. »Du bist gut
vorbereitet«, sagte sie.
»Wie jeder gute Pfadfinder«, sagte er und ließ das Licht über den Weg
huschen.
Weiter vorn entdeckte Connor einen alten Obdachlosen, der auf einer
Bank vor sich hin fror, eine in braunes Packpapie gewickelte Flasche in den
handschuhlosen Händen. Feliks und Anastasia beachteten den armen Alten
kaum, aber Connor beobachtete ihn sehr genau, hielt nach jedem Anzeichen
Ausschau, dass der Mann einen Angriff planen könnte oder etwas anderes
als nur ein halb erfrorener Penner sein mochte.
Als sie näher kamen, legte Connor den Finger auf die Blendertaste,
bereit, den Mann mit dem gleißenden Lichtstrahl zu erfassen – und, falls
nötig, den versteckten Schlagstock herausschnappen zu lassen. Der Alte
blickte nicht auf, hob aber die Hand an die Augen, weil er sich von dem
hellen Lichtstrahl gestört fühlte.
»Timur ist unterwegs. Drei Minuten«, meldete Jason.
Von hinten hörte Connor hastige Schritte. Er blieb stehen und drehte
sich um. Aber der Penner war verschwunden. Die Bank war leer, eine
Fußspur führte ins Gebüsch … Hieß das, ihnen folgte nun auch der Penner,
oder musste er sich nur einfach im Gebüsch erleichtern?
»Warum bist du so nervös?«, fragte Jason leise, schließlich durfte
Anastasia nicht erfahren, welche Rolle er und Connor wirklich spielten.
Connor erklärte ihm flüsternd, was er beim Clubeingang beobachtet
hatte – und dass er nun auch den Penner für eine Bedrohung halten musste.
Jason zog sofort seine eigene XT heraus, packte sie aber wie eine Waffe
und nicht wie eine Lampe. »Den Agenten habe ich auch bemerkt, aber den
anderen nicht«, gab er zu. »Bist du sicher, dass es nicht irgendein Schüler
war, der heimlich rauchen wollte?«
»Kann sein, aber das Risiko dürfen wir nicht eingehen. Setz dich an die
Spitze, ich decke Feliks.«
Connor lief rasch hinter Feliks her und schob ihn sanft den Weg
entlang.
»Geht’s nicht ein bisschen langsamer!«, protestierte Anastasia, die mit
ihren High Heels tiefe Löcher in den Schnee grub und nicht sehr schnell
gehen konnte.
»Tut mir leid, mir ist einfach zu kalt«, erklärte Jason, der
ausnahmsweise einmal tat, was ihm befohlen worden war, und sich an die
Spitze setzte. Er führte sie durch den dunklen Park, wobei er den Lichtstrahl
seiner XT immer wieder ein wenig zur Seite schwenkte. Dichter Schneefall
hatte eingesetzt, vom Wind in Wellen durch den Park getrieben, die den
Lichtschein reflektierten, sodass die Sichtweite nur wenige Meter betrug.
»Ihr Aussies solltet euch wirklich ein bisschen abhärten«, stichelte
Anastasia.
»Und ihr Russen solltet mal besseres Wetter erfinden«, gab Jason
grimmig zurück, voll auf den Weg konzentriert.
Alle paar Schritte schwenkte Connor den Strahl nach hinten. Ein- oder
zweimal nahm er flüchtig eine schattenhafte Gestalt wahr, die sich zwischen
den Büschen verbarg. Der Penner? Der FSB-Agent? Irgendeine andere
Gefahr? Wer auch immer sie beschattete, hielt sich in diskreter Entfernung.
Aber wenn sie zu zweit waren, konnte es sein, dass der andere bereits
vorausgerannt war. Vielleicht planten sie, ihnen am Parkeingang den Weg
abzuschneiden …
Connor drängte Feliks, schneller zu gehen. Schon sah er die mächtigen
Säulen des Parkportals in den Moskauer Nachthimmel ragen, wie ein
Versprechen, dass sie dahinter in Sicherheit sein würden.
»Hey, warum so schnell?«, beklagte sich Feliks, der inzwischen völlig
außer Atem war.
»Das Auto wartet«, gab Connor knapp zurück und hoffte, dass es
stimmte.
Kurz bevor sie das Tor erreichten, rutschte Anastasia aus. Connor
konnte sie gerade noch am Arm auffangen.
»Danke«, sagte sie, stützte sich auf ihn und prüfte, ob sie den Fuß voll
belasten konnte. »Ich dachte, wir wollten nicht mehr Schlittschuh laufen?«,
witzelte sie.
»Hast du dir den Fuß vertreten?«, erkundigte sich Connor, wobei er aber
gleichzeitig in den dunklen Park zurückschaute. Er wollte hier nicht stehen
bleiben, jedenfalls nicht länger als unbedingt nötig.
»Nein, aber …«
Im selben Moment bemerkte er eine Bewegung. Er packte das Mädchen
an der Hand, und ohne auf ihren Protest zu hören, doch ein wenig
langsamer zu gehen, zerrte er sie und Feliks aus dem Park. Hinter dem Tor
mussten sie noch an einem verwitterten alten Karussell vorbei, dann
entdeckte er Timur, der pflichtbewusst neben dem geparkten Fahrzeug
wartete. Connor atmete erleichtert auf.
»Problem?«, fragte der Bodyguard und öffnete die Fahrgasttür, als
Feliks näher kam.
Feliks gab nur eine mürrische Antwort, raunte ihm dann aber noch
etwas zu. Connor machte den Bodyguard auf sich aufmerksam und
signalisierte ihm, dass es nicht nur um den verwehrten Zutritt zur Party
ging, sondern eine potentielle Gefahr drohe.
»Gehen wir«, sagte Timur und schob Feliks auf den Rücksitz.
Als Anastasia außer Atem hinter ihm einstieg und auch Jason im Auto
saß, ließ Connor den Lichtstrahl noch einmal über die Silhouette der Bäume
gleiten. Aber der Park weigerte sich, seine Geheimnisse preiszugeben.
KAPITEL 22

Am nächsten Morgen saßen Connor, Jason, Feliks und sein Vater bei einem
ausgiebigen Frühstück, als Dimitri in den Wintergarten stürzte, eine
Tageszeitung in der Hand. Sein Gesichtsausdruck zeigte nur allzu deutlich,
dass er keine guten Nachrichten brachte, noch bevor er die Zeitung vor
seinem Boss auf den Tisch legte. Connor sah die Schlagzeile auf der ersten
Seite; seine Kontaktlinse lieferte die Übersetzung aus dem Russischen:
Malkows Anwalt auf offener Straße erschossen.
Als der Milliardär den Artikel las, wechselte sein Gesichtsausdruck von
Schock zu Trauer und schließlich zu Wut.
»Ein Straßenraub mit Todesfolge?«, rief Viktor aus und warf die
Zeitung auf den Tisch zurück. Das Bild des Anwalts füllte den größten Teil
der Titelseite. Er habe in einem blutverspritzten Schneehaufen gelegen, ein
Einschussloch direkt über dem rechten Auge, wie es in der Bildunterschrift
hieß. »Wie zum Teufel kommt die Polizei auf so eine absurde Vermutung?«
Dimitri zuckte die Schultern. »Sie behaupten, Sergejs Brieftasche und
Mobiltelefon seien gestohlen worden und sein Aktenkoffer sei
aufgebrochen worden.«
»Das glaube ich nicht.« Viktor seufzte, nahm die Brille ab und
massierte sich den Nasenrücken. »Sergej hat mich noch gestern Abend
angerufen und gesagt, die Stadtverwaltung habe die Erlaubnis für die
Kundgebung erteilt. Heute Morgen wollte er hierher kommen und sie mir
persönlich überbringen. Und jetzt ist er tot. Das wäre einfach ein zu großer
Zufall.«
»Du glaubst, es war Mord?«, fragte Dimitri.
»Schlimmer – es war ein Auftragsmord!« Viktor schlug so heftig auf
den Tisch, dass das Geschirr klirrte.
Connor und Jason schwiegen. Der potenzielle Bedrohungsgrad für den
Milliardär hatte sich vervielfacht, und damit auch für seinen Sohn. Aber
Feliks strich Butter auf seinen Toast und aß seelenruhig weiter, als
geschähen solche Dinge jeden Tag.
Viktor setzte die Brille wieder auf und starrte seinen Berater an. »Das
war definitiv ein vorsätzlicher Mord. Der Job ist eine Botschaft.«
Connor und Jason blickten sich verwundert an. Der Job ist eine
Botschaft?
»Wie kommst du darauf?«, fragte Dimitri, blankes Entsetzen stand ihm
ins Gesicht geschrieben.
Viktor tippte auf das Foto des Anwalts. »Bei der Bratwa ist ein Schuss
ins Auge eine Botschaft. Wir beobachten dich, soll das heißen. Dieser
angebliche Straßenraub mit Todesfolge wurde in Auftrag gegeben, um mich
zu warnen. Sie wussten, dass Sergej die Erlaubnis der Stadtverwaltung bei
sich hatte. Das ist nichts anderes als ein brutaler Versuch, meine
Kundgebung zu sabotieren.«
Viktor trank seinen Kaffee in einem Zug aus, stieß den Stuhl zurück,
stand auf und stützte sich mit geballten Fäusten auf die Tischplatte. »Aber
ich lasse mich nicht so einfach zum Schweigen bringen!«, verkündete er
wütend. »Dimitri, bis vor dem Wochenende will ich Kopien der
Genehmigung der Stadtverwaltung auf meinem Schreibtisch haben! Die
Kundgebung wird durchgeführt … und sei es nur, um meinem Freund
Sergej die letzte Ehre zu erweisen.«
»Aber was ist, wenn die nächste Botschaft … äh, persönlicher wird?«,
fragte Dimitri, zupfte nervös an seinem Bart und sah eindeutig sehr
beunruhigt aus.
Viktor ging zu ihm und legte seinen Arm um die Schultern des Mannes.
»Das ist genau die Art von Einschüchterung und Korruption, gegen die wir
kämpfen, mein Freund.«
»Aber wir wissen doch gar nicht, gegen wen wir kämpfen«,
widersprach Dimitri. »Niemand hat auch nur die leiseste Ahnung, wer
dieser Pakhan wirklich ist. Am Ende ist es sogar der Präsident, was weiß
ich?«
»Die Bratwa ist und bleibt die Bratwa, gleichgültig wer an ihrer Spitze
steht. Und ihre engen Beziehungen zur Regierung sind die Ursache für die
ganze Korruption im Land. Außerdem« – ein schlaues Lächeln spielte um
Viktors Mund – »hat auch die Bratwa selbst keine Ahnung, mit wem sie
sich hier anlegt. Hör mir zu, Dimitri: Wenn wir uns nicht wehren, wird
niemand es tun, und dann wird dieses Land für eine weitere Generation
verloren sein. Deshalb müssen wir den Herrschenden unsere eigene
Botschaft schicken.«
Dimitri rang sich ein Lächeln ab. »Gut, ich beschaffe die Erlaubnis«,
versprach er und verließ den Raum.
Viktor winkte seinen persönlichen Leibwächter zu sich. »Lazar, das ist
nur der Anfang der Kampagne meiner Feinde, mich zu schwächen und
auszuschalten. Sie und Ihre Leute« – dabei blickte er zu Jason und Connor
hinüber, um sich zu vergewissern, dass auch sie seine Anweisungen genau
hörten – »müssen ab sofort in höchster Alarmbereitschaft sein. Gehen Sie
keinerlei Risiken ein. Behandeln Sie jeden und alles als potenzielle
Bedrohung.«
Inzwischen hatte Feliks zu essen aufgehört und beobachtete seinen
Vater sehr aufmerksam.
»Dann hat es jetzt also angefangen?«, fragte er tonlos.
Viktor schaute seinen Sohn an und nickte mit grimmiger Miene. »Ja, es
hat angefangen.«
Feliks nickte resigniert und aß weiter.
»Mach dir keine Sorgen, mein Sohn – die beiden Jungen hier werden
dich mit ihrem eigenen Leben beschützen.« Viktors stahlharter Blick
wanderte zu Connor und Jason. »Das werdet ihr doch, oder nicht?«
KAPITEL 23

»Das gefällt mir entschieden besser«, sagte Jason befriedigt, als er neben
Feliks und Connor auf der Tatami Matte in der Turnhalle kniete. »Endlich
mal richtiger Unterricht.«
Auch Connor fühlte sich hier wohler als im Matheunterricht. Er trug
Judoka-Kleidung – weiße Jacke, Hose und den Gürtel, Obi genannt. Connor
besaß den schwarzen Juniorgürtel im Jujitsu, deshalb waren ihm viele
Judotechniken längst vertraut. Er sehnte sich danach, wieder auf der Matte
zu stehen und seine Kampfkunsttechniken zu trainieren. Feliks allerdings
schien weniger glücklich über die obligatorische Judolektion zu sein. Aber
der russische Präsident, der selbst den 3. Dan des Schwarzen Gürtels trug,
förderte die Kampfsportarten aktiv und hatte dafür gesorgt, dass der
Judounterricht fester Bestandteil des nationalen Lehrplans an den Schulen
wurde.
Stas und Vadik knieten am hinteren Ende der Reihe, die schwarzen
Gürtel fest um ihre kräftigen Hüften gebunden. Immer wieder warfen sie
schnelle Blicke zu Connor und Jason herüber und grinsten spöttisch über
ihre weißen Anfängergürtel. Connor grinste in sich hinein. Das fiese
Grinsen würde den beiden Bullys schon noch vergehen.
Während die Klasse auf den Lehrer wartete, flüsterte ein Mädchen mit
runden Wangen und streng zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen
schwarzen Haaren Anastasia zu: »Ana, kommst du mit zum
Schlittschuhlaufen am Wochenende?«
Anastasia blickte auf und nickte. »Klingt gut, Elena. Können Feliks und
seine Cousins auch mitkommen?«
Elena zuckte die Schultern; Feliks war ihr anscheinend völlig
gleichgültig, aber dann glitt ihr Blick zu Connor. Sie lächelte. »Klar, warum
nicht?«
»Dann sehen wir uns am Sonntag«, sagte Anastasia. Erst jetzt wandte
sie sich zu Feliks um. »Ist das okay für dich?«
Feliks, den die unerwartete Einladung wieder einmal in tiefste
Verlegenheit stürzte, brachte ein kaum wahrnehmbares Nicken zusttande.
Jason grinste, offenbar höchst erfreut, dass er mehr Zeit mit Anastasia
verbringen durfte. Aber Connor war weniger begeistert von der Aussicht,
Schlittschuhlaufen zu gehen, besonders nach dem Erlebnis mit dem
mysteriösen Stalker im Gorky-Park und der brutalen Ermordung von
Viktors Anwalt noch in derselben Nacht.
Connor konnte es kaum fassen, dass die Bratwa so brutal vorging,
jemanden zu ermorden, nur, um damit einem anderen eine
unmissverständliche Botschaft zu übermitteln. Wenn das tatsächlich der
Fall war, befand sich Feliks in höchster Gefahr – im Vergleich dazu waren
ein paar Schulhofschläger dann das geringste ihrer Probleme. Kein Wunder,
dass Colonel Black sie gewarnt hatte, dass Russland für einen Bodyguard
das gefährlichste Land der Welt sei. Offensichtlich ging es bei der
Operation Schneesturm gar nicht mehr darum, ob ein Angriff kommen
würde, sondern nur noch wann.
Hinzu kam, dass Feliks offenbar die Gefahr vollkommen bewusst war,
in der er schwebte. Vielleicht war das ein weiterer Grund für seine düstere
Stimmung, ganz abgesehen vom Selbstmord seiner Mutter. Inzwischen
spürte auch Connor die Gefahr wie einen finsteren Schatten über ihnen
schweben. Ihm war klar geworden, dass Viktor Malkow Connor und Jason
nicht als Buddyguards angeheuert hatte, sondern als menschliche
Kugelfänger und Schutzschilde für seinen Sohn. Und obwohl sie beide
genickt hatten, als er gefragt hatte, ob sie sich für seinen Sohn opfern
würden, hoffte Connor, dass es so weit nicht kommen würde. Aber für
Connor war jeder Ausflug ungefähr so, als würde er in einer belagerten
Burg den Kopf über die schützenden Zinnen heben müssen.
»Was ist mit Boris passiert?«, flüsterte Anastasia erstaunt.
Connor blickte zum Eingang. Stas’ Spießgeselle humpelte auf Krücken
herein und ließ sich auf eine Bank an der Wand fallen. Auf seiner Wange
prangte ein riesiger Bluterguss und ein Bein war eingegipst.
Elena flüsterte zurück: »Ich hab gehört, er sei nach der Party auf dem
Eis ausgerutscht.«
»Böser Sturz, wie es aussieht«, sagte Feliks. Ein leichtes Grinsen spielte
um seine Lippen.
Connor fiel der zufriedene Ton auf, mit dem Feliks das sagte. Vielleicht
ein bisschen mehr als nur zufrieden? Aber eigentlich war es verständlich,
dass sein Klient nach dem Streit am Freitagabend kein Mitleid mit Boris
hatte. Schließlich hatte ihm Boris die Party vermasselt und ihn in aller
Öffentlichkeit vorgeführt. Der verletzte Boris schaute herüber, wandte aber
sofort wieder den Blick ab. Seine Arroganz war verschwunden; stattdessen
lag etwas anderes in seinem Blick … Angst?
»Rei, Sensei!«, brüllte Stas, als ihr Judolehrer in die Turnhalle trat und
sich vor die Schülerreihe auf die Matte stellte. Er war ein großer Mann mit
breiter Brust, muskulösen Armen und Beinen und einem dichten Bart wie
Stahlwolle.
Die Schüler verneigten sich und der Unterricht begann. Nach dem
Aufwärmen übte der Sensei mit ihnen eine Reihe von Falltechniken, ukemi
genannt. Als Connor das Fallen mit Seitwärtsrolle übte, fühlte er sich ganz
in seinem Element, warf sich herum, rollte nach jedem Fall sauber aus und
kam sofort wieder in Kampfbereitschaft auf die Beine. Danach führte ihnen
der Trainer ein paar wichtige Griff- und Wurftechniken vor. Obwohl
Connor ein wenig eingerostet war, fand er schnell wieder zu seiner alten
Form. Es gefiel ihm, wie effizient die Große Außensichel war, osoto-gari
genannt, und er genoss die Schnelligkeit und Kraft des Großen Hüftwurfs
o-goshi. Er freute sich, als er entdeckte, dass er immer noch den Haltegriff
kesa-gatame perfekt beherrschte, und übte ganz besonders intensiv den
Kreuzhebel juji-gatame, bei dem man aufpassen musste, dass man dem
Gegner nicht die Knochen brach. Den Griff würde er irgendwann sicherlich
gut gebrauchen können.
Jason hatte zwar nie Judo oder Jiu-Jitsu trainiert, hatte aber viel
Erfahrung mit Boxen und Mixed Martial Arts gesammelt. Das bedeutete,
dass er auch mit dem Grappling, den Griffmethoden und dem Griffkampf,
bestens vertraut war. Und nach seinen Fortschritten zu urteilen, war er auch
hier von schneller Auffassungsgabe.
Dann war es Zeit für randori, das freie Üben, das den Schülern die
Gelegenheit bot, das Gelernte nun endlich auch praktisch anzuwenden.
Connor hatte zunächst Feliks als Partner, der einen orangefarbenen Gürtel
trug. Aber Feliks mangelte es an Selbstvertrauen. Er beherrschte zwar die
Grundtechniken ganz ordentlich, wandte sie aber eher hektisch als fließend
an.
»Du bist zu steif«, sagte Connor, der den Jungen nicht zu hart anpacken
wollte.
»Aber ich hasse es zu fallen«, gab Feliks zurück und verkrampfte sich,
als Connor zu einem Hüftwurf ansetzte.
»Entspanne deinen Körper. Lasse es einfach zu. Das ist der Sinn des
ukemi-Trainings.«
Connor hatte den Eindruck, dass Feliks’ normale Trainingspartner hart
und schnell mit ihm trainierten, ohne Rücksicht darauf, wie gut oder
schlecht er seine Techniken beherrschte. Als er nun Feliks Beine wegfegte,
ließ er ihn sanft auf die Matte fallen. Als Feliks merkte, dass Connor ihn
nicht brutal hinwerfen würde, wurde er ein bisschen lockerer und seine
Gegenwehr verbesserte sich.
Nach ein paar Runden stand Connor plötzlich Anastasia gegenüber. Wie
er selbst, trug auch sie einen weißen Gürtel. Da er ihr Selbstvertrauen nicht
beschädigen wollte, spielte er seine eigenen Fähigkeiten herunter. Sie
packten einander an Schärpe und Ärmel und lieferten sich einen
Scheinkampf.
Anastasia war überraschend leichtfüßig; sie bewegte sich wie eine
Tänzerin. Connor versuchte ein paarmal, ihr die Füße wegzufegen, aber sie
wich ihm ausgesprochen behände aus. Connor änderte die Taktik, gab sich
bewusst eine Blöße, um ihren Angriff zu provozieren. Anastasia sah sie
sofort und griff mit verblüffender Schnelligkeit an. Sie wirbelte gegen ihn,
trieb ihre Hüfte in seine und hob ihn von den Füßen. Ohne die geringste
Spur von Mitleid schmetterte sie ihn auf die Matte.
Ein perfekt ausgeführter o-goshi.
Connor stöhnte und schnappte nach Luft. »Sagenhaft!«, keuchte er. »Ich
dachte … du hast nur … ein Musikstipendium?«
Anastasia bedachte ihn mit ihrem strahlenden Lächeln. »Russinnen
stecken voller Überraschungen.«
Sie hielt ihm die Hand hin und Connor stand auf. Dieses Mal würde er
nicht so sanft mit ihr umgehen. Er täuschte einen Inneren Schenkelwurf vor,
gefolgt von einem Hüftfeger, dem harai-goshi. Aber Anastasia wehrte sich
mit einem Rückwurf, dem ura-nage: Sie fasste seine Hüften und warf ihn
über ihre Schulter. Sie schlug gleichzeitig mit ihm auf der Matte auf, warf
sich blitzschnell herum und fixierte Connor mit dem Haltegriff kesa-gatame
auf der Matte. Sie hielt Connor in engem Clinch und starrte ihn mit ihren
eisblauen Augen an.
»Na, gefällt es dir, von einer Russin auf die Matte genagelt zu
werden?«, fragte sie spöttisch. Ihr Blick war betörend; Connor konnte
verstehen, warum Jason so auf sie abfuhr. Es war leicht, ihr zu verfallen.
Connor kämpfte gegen ihren Griff und versuchte, sich ihr zu entwinden.
Aber trotz ihrer schlanken Gestalt war sie überraschend stark. Sein Respekt
vor Anastasia stieg noch einmal. Aber das hieß nicht, dass er sich ihr
geschlagen geben würde. Er wölbte den Körper hoch, rollte sie zur Seite
und nahm das Mädchen nun selbst in den Haltegriff.
»Na, gefällt es dir, von einem Engländer auf die Matte genagelt zu
werden?«, äffte er sie nach.
Anastasia lachte und klopfte auf die Matte, um zu signalisieren, dass sie
aufgab. Connor lockerte den Griff. Aber im Kampf waren ihre Jacke und
das T-Shirt verrutscht; Connor erhaschte einen Blick auf wachsweiße Haut
am Nackenansatz. Normalerweise war die Stelle unter ihrem langen Haar
und der Kleidung verborgen, doch jetzt sah er mehrere weiße Narben, die
sich anscheinend auf ihrem Rücken fortsetzten. Anastasia bemerkte seinen
geschockten Blick und zog rasch ihre Kleidung zurecht.
»Keine Sorge, ich habe auch ein paar Narben«, sagte er und versuchte,
leicht darüber hinwegzugehen. Er schob sein Gi an der Schulter zur Seite
und enthüllte die vier langen blassen Narben auf der linken Schulter.
»Erinnerung an eine Safari, die gründlich schief lief«, erklärte er.
Anastasia wollte oder konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie lächelte
mitfühlend und schien ihm gerade ihre eigene Geschichte erzählen zu
wollen, als der Sensei rief: »Yamae!«, und damit die Übungskampfrunde
beendete. Ohne ein weiteres Wort ging Anastasia zu den anderen Schülern
und stellte sich in die Reihe.
Connor nahm sich vor, sie nicht mehr nach ihren Narben zu fragen;
offenbar war ihr das Thema unangenehm. Außerdem müsste auch er viel
mehr erklären, als er wollte und durfte, wenn es um seine Narben ging.
Schließlich hatten nicht viele Jungs Narben von den Klauen eines
Leoparden, eine Stichwunde und ein Einschussloch im Schenkel
vorzuweisen, bevor sie auch nur sechzehn Jahre alt waren.
KAPITEL 24

»Als letzte Übung eine Runde shiai«, verkündete der Sensei mit einer
Stimme, die wie Kanonendonner durch die Halle rollte. »Stas fängt an. Sein
Gegner ist« – sein stahlharter Blick wanderte an der knienden Schülerreihe
entlang – »Feliks.«
Feliks stöhnte und stand zögernd auf. »Das macht er immer«, knurrte er
vor sich hin und blickte den Judolehrer wütend an.
Connor klopfte seinem Schützling auf den Rücken und wünschte ihm
alles Gute. Im Unterschied zum randori, bei dem es im Prinzip darum ging,
das Erlernte zu üben, war shiai ein voller Wettkampf mit einem einzigen
Ziel: Sieg. Und einen Wettkampf gegen einen Mistkerl wie Stas konnte
Feliks nicht gewinnen.
»Halte deinen Schwerpunkt immer so tief wie möglich und setze dein
Gewicht gegen ihn ein«, flüsterte ihm Jason zu, als sich Feliks lustlos an
ihm vorbeischleppte. Aber Jason hätte genauso gut Chinesisch mit ihm
reden können.
Auf der Matte standen sich Feliks und Stas gegenüber wie bei einer
Neuverfilmung des Kampfes zwischen David und Goliath. Auf das
Kommando des Sensei verbeugten sie sich. Dann bellte er: »Hajime!«, und
der Kampf begann.
Bevor Feliks auch nur blinzeln konnte, stürzte sich Stas auf ihn, packte
ihn am Kragen und riss ihn aus dem Gleichgewicht. Auf Feliks’ Gesicht
war nichts als purer Schock zu sehen, als er nach vorn gezerrt wurde. Stas
rammte ihm das rechte Knie in den Magen und rollte sich rückwärts ab.
Connor erkannte die Technik – es war der Überkopfwurf tomoe-nage –,
bevor Stas den Wurf auch nur halb ausgeführt hatte. Feliks, der es nicht
einmal geschafft hatte, seinen Gegner an der Jacke zu packen, flog wie ein
Dummy bei einem Aufpralltest über Stas’ Kopf hinweg. Er schlug so hart
auf die Matte, dass man seine Knochen knacken hörte und ihm die Luft mit
einem lauten Zischen aus der Lunge gepresst wurde.
Connor krümmte sich unwillkürlich zusammen. Jetzt verstand er,
warum sein Klient nicht scharf auf das Judotraining war. In dieser
Übungshalle, dem Dojo, schien es nur eine Regel zu geben: kein Mitleid.
Und der Sensei tat offenbar alles, um dieses Prinzip zu verwirklichen! Stas’
Überkopfwurf war so perfekt gewesen, dass ihm der Sieg sofort
zugestanden hätte; der Kampf wäre damit beendet gewesen. Aber der
Sensei ließ das Ganze bis zum bitteren Ende weiterlaufen.
Zunehmend besorgt verfolgte Connor den Kampf. Juji-gatame war der
stärkste Armhebel im Judo. Man musste kaum noch Kraft aufwenden, um
den Ellbogen auszurenken oder gar zu brechen.
Feliks stöhnte vor Schmerzen und schlug zweimal mit der freien Hand
auf die Matte, als Zeichen, dass er sich ergab. Aber Stas achtete nicht
darauf. Und der Lehrer offensichtlich auch nicht.
Feliks traten die Augen aus dem Kopf. Sein ohnehin schon blasses
Gesicht wurde kreideweiß; es war klar zu sehen, dass der Arm jeden
Augenblick brechen konnte.
»Halt! Er hat sich ergeben!«, brüllte Connor, als ihm klar wurde, dass
Stas nicht die Absicht hatte, den Hebelgriff zu lockern.
»Sensei, stoppen Sie den Kampf!«, protestierte auch Jason und sprang
auf.
Als Feliks noch einmal wie ein sterbender Fisch auf die Matte klopfte,
rief der Lehrer endlich »Yamae«, aber es kam ihm recht zögernd über die
Lippen. Connor starrte ihn fassungslos an. Wurde Feliks sogar von den
Lehrern gemobbt und gedemütigt? Das konnte doch nicht sein!
Der Sensei sprach Stas den Sieg zu. Nach der vorgeschriebenen
Verbeugung humpelte Feliks in die Reihe zurück und hielt sich den
überdehnten Ellbogen.
»Geht’s wieder besser?«, fragte Anastasia. Feliks nickte, wich aber
ihrem Blick aus. Connor sah, dass er kaum noch die Tränen zurückhalten
konnte.
Den Lehrer schien es nicht zu kümmern, wie gut oder schlecht es
seinem Schüler ging; er ging direkt zum nächsten shiai-Match über.
»Vadik gegen … wie heißt du?« Er deutete auf Jason. »Du hast offenbar
schon ein bisschen Training.«
»Ein bisschen«, antwortete Jason zurückhaltend.
Connor runzelte die Stirn. Er hatte den deutlichen Eindruck, dass diese
Paarung schon vorher arrangiert worden war. Es konnte kaum ein Zufall
sein, dass Jason als Gegner für Vadik ausgewählt worden war. »Mach
Hackfleisch aus ihm«, drängte er seinen Partner.
Jason legte die Finger aneinander und ließ die Knöchel knacken. »Fein
oder grob?«
Er stellte sich Vadik gegenüber und verbeugte sich. Beide sahen
einander an, als würden sie sich am liebsten zerfetzen.
»Hajime!«, rief der Sensei.
Vadik griff sofort an. Jason wich blitzschnell zur Seite aus, sodass der
Junge wie ein betrunkenes Rhinozeros an ihm vorbeistolperte. Wütend
wirbelte Vadik herum und packte Jasons Schärpe. Sie rangen miteinander,
beide wollten die Oberhand gewinnen. Vadik riss Jason grob zur Seite und
brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Jason blieb cool, tauchte ab und
packte Vadiks Standbein, um ihn im MMA-Stil zu Fall zu bringen. Der
Angriff scheiterte, aber nur, weil Vadik Jason regelwidrig das Knie gegen
den Kopf rammte.
Der Sensei ließ den Regelverstoß ungeahndet. Connor fragte sich
allmählich, ob der Mann blind war oder keinerlei Urteilsvermögen hatte.
Anscheinend erstreckte sich der Einfluss des FSB auch auf den Lehrkörper
der Schule.
Während Jason unter dem Schlag ins Taumeln geriet, versuchte Vadik
mit einem o-goshi, dem Großen Hüftwurf, nachzusetzen. Aber Jason gelang
es, seinen Schwerpunkt so tief wie möglich zu halten und Vadik daran zu
hindern, die Technik effektiv anzuwenden. Vadik wich einen Schritt zurück,
und Jason, der eine Angriffsmöglichkeit sah, griff mit einem Inneren
Schenkelwurf an. Sein Fuß traf auf Vadiks Bein, Knochen krachte gegen
Knochen … aber Vadiks Beine standen fest wie Baumstämme auf der
Matte. Er ging nicht zu Boden.
Doch als nun Vadik mit einer Großen Außensichel, dem osoto-gari,
reagieren wollte, überraschte ihn Jason damit, dass er keinen Widerstand
leistete. Stattdessen wich er blitzschnell zurück, sodass Vadik durch den
eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht geriet. Jason verstärkte die
Wirkung noch weiter, riss Vadik hart am Ärmel, drehte sich gleichzeitig
scharf, ließ den völlig verdatterten Vadik über sein Bein stolpern und
versetzte ihm einen Stoß, der Vadik auf die Matte krachen ließ.
Connor jubelte begeistert. Das war ein perfekter tai-otoshi gewesen; der
Kampf war entschieden.
Der Sensei sah das anders. Er beendete den Kampf nicht, obwohl es ein
klarer Ippon war, ein eindeutiger Sieg, was auch den meisten anderen
Schülern völlig klar war. Das Problem war jedoch, dass Vadik es irgendwie
geschafft hatte, Jasons Gi nicht loszulassen; so konnte er ihn mit sich
reißen, wodurch die Technik nicht einwandfrei aussah. Mit seiner brutalen
Kraft rollte Vadik Jason auf den Rücken, setzte sich auf ihn und nahm
seinen Hals in einen Kreuzhebel. Vadik zog Jasons Jackenkragen fest
zusammen und drückte zugleich auf seine Kehle, sodass Jason würgte und
keuchte.
Doch obwohl er schier erwürgt wurde, gab Jason nicht auf.
Er versetzte Vadik einen Handflächenstoß direkt auf die Nase. Ein im
Judo unzulässiger Schlag. Aber Vadiks Kniestoß war schließlich ebenfalls
irregulär gewesen. Vadik schrie auf vor Schmerzen, als Blut aus seiner Nase
über den weißen Gi schoss. Er ließ los, fasste sich an die Nase, hob die
Faust zum Gegenschlag …
»YAMAE!«, brüllte der Sensei, sprang auf die Matte und zerrte die
beiden Jungen auseinander. »Das ist kein Käfigkampf!«, knurrte er wütend.
»Tut mir leid«, sagte Jason und hob entschuldigend die Hände. »Es war
ein Unfall. Ich bin kurz durchgedreht.«
Der Sensei starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ein
Unfall?«, fragte er misstrauisch. »Wenn das ein Unfall war, bin ich der
amerikanische Präsident. Du hättest auf die Matte klopfen sollen, wenn du
in Schwierigkeiten warst.«
»Das hat Feliks drei Mal getan und Sie haben nicht reagiert«, gab Jason
scharf zurück. Er wich dem wütenden Blick des Lehrers nicht aus.
Der Sensei, offenbar völlig verblüfft über Jasons Frechheit, lief vor Wut
rot an, wie ein überhitzter Wasserkessel, der gleich explodieren würde.
Glücklicherweise ertönte in diesem Moment der Pausengong. Das Training
war zu Ende; der Lehrer konnte die Zurechtweisung nicht mehr loswerden,
die ihm auf der Zunge gelegen hatte.
»Du hattest Glück«, sagte Connor, als sie zu den Umkleideräumen
gingen.
Jason setzte ein siegessicheres Grinsen auf. »Nein, Vadik hatte Glück.«
Feliks lief neben Jason her; offenbar hatte er seine Verletzung bereits
vergessen. »Ich habe noch nie gesehen, dass Vadik beim shiai besiegt
wurde, oder überhaupt bei irgendeinem Kampf!«, sagte er staunend. Er
wirkte plötzlich ein wenig selbstbewusster. »Stas und Vadik werden es sich
jetzt zweimal überlegen, bevor sie sich mit mir anlegen.«
Doch als sie zu den Umkleideräumen kamen, blockierten die beiden
Schläger die Tür. Vadik presste sich ein blutgetränktes Papiertaschentuch an
die Nase.
Stas starrte Feliks an. »Wir wissen, dass du an Boris’ Unfall schuld
bist«, fauchte er.
Feliks blickte ihn ausdruckslos an. »Was?«
»Boris will nichts sagen, aber wir wissen, dass es kein Unfall war.«
Connor runzelte die Stirn; er war echt verblüfft, während Feliks
offenbar nur so tat. »Wir waren doch gar nicht bei der Party und das hatten
wir Boris zu verdanken! Wie kommst du auf die Idee, dass er schuld ist?«
»Frag Feliks«, gab Stas scharf zurück.
Jason stellte sich direkt vor Stas und fixierte ihn mit hartem Blick. »Hör
zu, Feliks kann nichts dafür, dass dieser Idiot ausgerutscht und auf seine
blöde Fresse gefallen ist! Er war die ganze Zeit mit uns zusammen und
hatte also nichts mit Boris’ kleinem Unfall zu tun. Und jetzt mach Platz,
wenn du dir nicht auch noch eine blutige Nase holen willst.«
Stas wich nicht zur Seite, sondern blähte sich noch weiter auf und
grinste Jason herausfordernd an. Er wartete nur darauf, dass Jason seine
Drohung wahr machte. Aber dann bemerkten beide, dass ein Lehrer
aufmerksam geworden war und herüberschaute.
Stas trat widerwillig zur Seite, richtete aber den Zeigefinger auf Feliks.
»Nächstes Mal breche ich dir wirklich den Arm!«
KAPITEL 25

Roman Gurow beugte sich in seinem Sessel vor, rieb das Kinn und studierte
das Schachbrett intensiv. Sein nächster Zug würde entscheidend sein. Er
konnte die Machtverhältnisse auf dem Brett völlig verändern – entweder
zugunsten des Gegners oder zu seinen eigenen Gunsten.
Er nahm sich Zeit. Nachdem er mehrere Minuten lang konzentriert
nachgedacht hatte, griff er nach dem Läufer … aber dann kamen ihm doch
noch Bedenken. Mit dem kühnen Angriff würde er dem Gegner eine
wichtige Figur – einen Springer – nehmen, aber zwei Züge später
zweifellos seinen eigenen Läufer einbüßen. Der Gewinn glich den Verlust
nicht aus. Stattdessen beschloss er, einen Turm drei Felder vorrücken zu
lassen, um den gegnerischen König in die Ecke zu drängen.
»Interessanter Zug«, bemerkte sein Kamerad in kühlem, neutralem
Tonfall, der weder Ärger noch Freude über Romans Zug verriet.
Auf dem Kaffeetisch neben ihnen dampfte ein auf Höchstglanz polierter
silberner Samowar, daneben stand eine Teekanne aus feinstem Porzellan,
zwei mit vergoldeten Haltern eingefasste Teegläser, eine Schale Honig, ein
paar Zitronenschnitze und eine Auswahl schmackhaften Gebäcks. Romans
Gegner goss sich ein klein wenig des hochkonzentrierten Tees ins Glas und
füllte es mit kochendem Wasser aus dem Samowar auf, wie es der
russischen Teekultur entsprach. Er fügte einen schmalen Zitronenschnitz
hinzu, der wie ein bleicher Halbmond im fast schwarzen Tee schwamm.
Genüsslich trank er einen kleinen Schluck, dann fragte er: »Und was hat
sich bei deinem anderen Schachzug ergeben?«
Roman schob den Sessel ein wenig zurück und rückte hin und her, als
ob ihm das weiche rote Lederpolster Unbehagen bereitete. »Der
Auftragskiller hat sein Versprechen gehalten«, sagte er.
»Und der Schwarze König? Hat er die Botschaft erhalten?«
»Die Botschaft wurde zugestellt, er hat sie begriffen … und ignoriert«,
antwortete Roman erbittert, als hätte er gerade einen Klumpen Blei
verschluckt. »Er will seine Kundgebung trotzdem abhalten.«
Sein Schachgegner trank noch einen Schluck Tee. »Das ist nicht gut.«
»Nein, gar nicht gut«, stimmte Roman zu.
»Dein Eröffnungszug ist also gescheitert. Vielleicht ist jetzt ein
kühneres Manöver erforderlich?«
Roman hob eine Augenbraue. »Wir haben seinen Anwalt eliminiert.
Letztes Jahr haben wir seine Frau ertränkt – obwohl wir dafür sorgten, dass
es wie Selbstmord aussah. Wie kühn muss man noch werden, bis er endlich
begreift, was wir ihm sagen wollen?«
Der andere setzte das Teeglas ab und legte den Zeigefinger auf den
kleinen Kopf eines weißen Bauern.
»Der Bauer ist die schwächste und am leichtesten zu schlagende
Spielfigur auf dem Brett«, sagte er langsam und rückte den Bauern ein Feld
vor. Der überraschende Zug brachte Romans Turm in große Bedrängnis; er
verfluchte sich im Stillen, das nicht vorhergesehen zu haben.
»Und doch kann ein einzelner Bauer für den Ausgang des Spiels
entscheidend sein«, fuhr sein Gegner mit einem hinterhältigen Lächeln fort.
»Auf deinen Fall übertragen, bedeutet das: Schlag den Bauern und der
König wird weichen.«
KAPITEL 26

»Das ist der Beginn des Moskauer Winterfests«, erklärte Elena fröhlich, als
sie an der von Spotlights erhellten Bühne vorbeigingen, die man neben dem
zugefrorenen See im Ismailowoer Park aufgebaut hatte. »Es ist eine
gigantische Show, mit folkloristischen Tanzgruppen, Livekonzerten, einem
Bauernmarkt, Schlittschuhbahn und sogar einem Rummelplatz.«
Mit einem Kopfnicken wies sie nach vorn, wo ein Riesenrad über die
Silhouette der Bäume hinausragte. Connor ließ den Blick ringsum durch
den schneebedeckten Park schweifen und tat so, als hörte er höchst
interessiert zu, während er in Wirklichkeit ständig Ausschau nach
möglichen Gefahren hielt. Er wusste, dass der FSB-Agent irgendwo in der
Nähe sein musste, der schwarze Toyota Corolla hatte gleichzeitig mit ihrem
silbernen Mercedes vor dem Parkeingang angehalten. Wie immer hatte
Timur auf die bedrohliche Anwesenheit des Beschatters mit seinem
einzigartigen, verächtlichen Grunzen reagiert. Jetzt folgte der schrankgroße
Bodyguard der kleinen Gruppe mit ein paar Schritten Abstand. Kein
Spaziergänger hätte es gewagt, ihm in die Quere zu kommen.
Elena ging dicht neben Connor her, als sie ihre drei Freundinnen
zusammen mit Jason, Anastasia und Feliks zur Eislaufbahn führte. Feliks
schien Jason nach dessen Leistung beim shiai-Wettkampf zu bevorzugen,
sodass Connor in der Schutzformation zögernd die Spitzenposition
übernahm, während Jason sich an die Hauptposition an der rechten Seite
ihres Klienten setzte. Jason kommentierte Connors Entscheidung nicht,
konnte jedoch ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Aber solange
Feliks ordnungsgemäß beschützt wurde, fügte sich Connor in das
Arrangement.
Obwohl es einer der größten Parks der Stadt war, drängten sich die
Festtagsbesucher. Überall waren Leute, dick in schwere Mäntel und
Winterstiefel eingepackt, warme Pelzmützen oder Kapuzen auf dem Kopf
und die Gesichter teilweise von Schals verhüllt. Das erschwerte den Job,
potenziell verdächtige Personen zu erkennen, denn in dieser Kleidung sahen
sich die Festtagsbesucher ziemlich ähnlich, und auch sonstige
Unterscheidungsmerkmale blieben unter der Kleidung verborgen.
Als Connor wieder in Richtung des Rummelplatzes blickte, bemerkte er
einen Mann, der in der Nähe eines Zuckerwattekiosks stand. Sein Gesicht
wurde von einer pelzbesetzten schwarzen Kapuze verhüllt; Connor hätte ihn
sicherlich nicht beachtet, wenn der Mann nicht unbeweglich wie eine
schwarze Marmorstatue dagestanden hätte, während ringsum alles in
Bewegung war.
Unwillkürlich lief Connor ein Schauder über den Rücken. Der Mann
schien unablässig in ihre Richtung zu schauen …
Elena hängte sich bei Connor ein. »Wir könnten eine Troika nehmen,
wenn du magst«, schlug sie vor und deutete auf einen großen Holzschlitten,
der von drei Apfelschimmeln gezogen wurde. »Man kann sich unter die
Decke kuscheln, wenn es einem zu kalt wird.« Sie lächelte Connor scheu
an.
»Äh … später vielleicht?«, antwortete Connor. Abgesehen davon, dass
Charley seine Freundin war und er deshalb nicht mit Elena unter einer
Wolldecke »kuscheln« wollte, durfte er sich auch nicht von seinem
Schützling trennen lassen. Schon gar nicht, solange sich eine potenzielle
Gefahr in der Nähe befand.
»Gut – ich werde dich später daran erinnern«, sagte Elena.
Connor wollte gerade zu dem Zuckerwattekiosk zurückblicken, als er
ein hartes KLICK-KLACK! hörte. Er erkannte sofort das Geräusch einer
Automatikwaffe, brüllte »WAFFE!« und warf sich auf Feliks. Jason
reagierte im selben Augenblick. Zusammen warfen sie Feliks auf den
schneebedeckten Parkweg und schützten ihn mit ihren kugelsicheren
Jacken. Connor wappnete sich gegen die schmerzhaften Einschläge der
Kugeln.
Aber sie kamen nicht. Das Gewehrfeuer verstummte.
Connor blickte sich nach dem Angreifer um, wobei er zuerst den Mann
neben dem Kiosk suchte. Aber der Mann war verschwunden. Wie ein Geist.
Während er sich hektisch im Park umblickte, fiel ihm auf, dass niemand
sonst auf die Schüsse reagiert hatte. Tatsächlich starrten Anastasia, Elena
und die anderen Mädchen zuerst fassungslos auf die drei Jungen auf dem
Boden, dann begannen sie zu kichern. Timur, ein paar Schritte entfernt,
verzog das harte Gesicht zu einem breiten Grinsen und verdrehte die
Augen. Es war klar, was der Profi von Connors Reaktion hielt: nichts.
»Connor … das ist nur der Schießstand dort drüben«, sagte Elena sanft,
als das Gewehrfeuer wieder losging.
Die beiden Buddyguards drehten sich zu dem Stand um, der vor bunten
Plüschtieren schier überquoll. Ein junger Mann feuerte mit einem
umgebauten Sturmgewehr, einer Kalaschnikow, auf eine Zielfigur aus
Papier, die von den Kugeln völlig zerfetzt wurde.
Connor schloss entsetzt die Augen. Ein AK47-Schießstand! Das war
wohl nur in Russland möglich! Sein Fehler war nicht nur peinlich, sondern
brachte auch die ganze Mission in Gefahr. Connor befürchtete, dass jetzt
seine und Jasons Rolle als Feliks’ Beschützer aufgeflogen war.
»Lasst mich los, verdammt!«, sagte Feliks ungeduldig, der immer noch
unter ihnen im Schnee lag.
»Tut mir leid«, murmelte Connor verlegen, dem die Sache das Blut ins
Gesicht trieb. Die Mädchen kicherten. Er stand auf und zog Feliks auf die
Füße.
»Ihr zwei seid ja ganz schön nervös«, bemerkte Anastasia, die als
Einzige nicht gelacht hatte.
»Äh … nur, weil wir in England nicht an Schüsse gewöhnt sind«, sagte
Connor. Es war eine ziemlich schwache Erklärung.
»Kann sein, aber euren Cousin beschützt ihr wirklich gut«, antwortete
sie.
Jason klopfte Feliks auf den Rücken und zwang sich zu einem Grinsen.
»Klar, wir gehören doch zur Familie, stimmt’s?«
»Kommt, Leute, gehen wir Schlittschuhlaufen, bevor Connor sich auf
eine von uns wirft!«, lachte Sofia, eine von Elenas Freundinnen, ein groß
gewachsenes Mädchen mit blondem Zopf.
»Nein, ich möchte erst noch zum Schießstand«, widersprach Elena und
ging sofort los. »Ich will unbedingt ein Minion haben, die sind total süß!«
Als sie hinter der Gruppe hertrotteten, murmelte Jason: »Mann! Das
war megapeinlich!«
»Besser peinlich als tot«, verteidigte sich Connor.
»Gilt vielleicht für dich«, sagte Jason mit einem vielsagenden Blick in
Anastasias Richtung. »Schau nächstes Mal erst genau hin, bevor du Waffe!
schreist!«
»Hey, du hast doch auch reagiert!«
»Nur weil du zuerst reagiert hast!«
Connor starrte ihn wütend an. Er konnte kaum glauben, dass Jason ihm
die ganze Schuld gab. Aber er konnte nicht abstreiten, dass er tatsächlich
zuerst Waffe! gerufen hatte. Außerdem hatte er bei dieser Mission das
Kommando, und das hieß, er musste für diesen Fehler auch geradestehen.
KAPITEL 27

Die AK47 ratterte in Elenas Händen los. Der Rückstoß war so stark, dass sie
fast von den Füßen geschleudert wurde.
Aber der ganze Lärm und die starke Waffe nutzten absolut nichts: Die
Kugeln streiften die Zielfigur nicht einmal. Die Schüsse gingen sogar so
weit daran vorbei, dass sich der Schießbudenbesitzer rasch in die äußerste
Ecke verzog, aus Angst, von den Gummigeschossen getroffen zu werden.
Sogar die gelben Plüsch-Minions auf den Regalen schienen sich vor Angst
in ihre blauen Latzhosen verkriechen zu wollen.
»Ana, du bist dran!«, sagte Elena strahlend, obwohl sie mit ihren
Schießkünsten nichts gewonnen hatte.
Anastasia schüttelte den Kopf. »Nein, lieber nicht. Ich mag keine
Schusswaffen.«
»Und wie ist es mit den Jungs? Einer von euch wird es doch wohl
schaffen, ein Minion zu schießen?«
Zu Connors Überraschung nahm Feliks die Herausforderung an. Seit
ihrer Ankunft im Park hatte er kaum ein Wort gesprochen und, von
Anastasia abgesehen, hatten ihn die Mädchen nicht weiter beachtet. Aber
jetzt scharten sie sich um ihn, als er das Gewehr hob und sorgfältig zielte.
Schon wie er das Gewehr hielt, zeigte Connor, dass Feliks mit
Schusswaffen eine Menge Erfahrung hatte.
Um einen Preis zu gewinnen, musste Feliks den roten Kreis auf drei
verschiedenen Zielfiguren treffen.
Die AK47 ratterte los – ein Feuerstoß. Feliks traf zwar die Zielfigur,
aber die Geschosse schlugen gute zehn Zentimeter neben dem roten Kreis
ein.
Die Mädchen stöhnten enttäuscht auf.
»He, das Gewehr ist nicht zielgenau!«, beschwerte sich Feliks beim
Budenbesitzer.
»Vielleicht ist dein Auge nicht zielgenau?«, schnaubte der verächtlich.
Feliks warf ihm einen wütenden Blick zu und widmete sich wieder der
Waffe. Connor nutzte die Gelegenheit, sich schnell auf dem Rummelplatz
umzusehen, wobei er vor allem nach dem Mann mit der pelzbesetzten
Kapuze Ausschau hielt. Vielleicht ist er der FSB-Agent? Oder sonst
jemand? Aber Connor war sicher, dass der Verdächtige ihre Gruppe
beobachtet hatte. Wer immer er sein mochte, jetzt jedenfalls gab er sich
keine Blöße mehr. Connors Problem wurde auch dadurch nicht leichter,
dass sich sehr viele Männer mit schwarzen Jacken auf dem Rummelplatz
befanden, vier allein in der Nähe des Schießstands. Der Verdächtige konnte
jeder von ihnen sein. Aber Timur stand wie eine Schildwache keine drei
Schritte von Feliks entfernt und keiner der schwarzen Jackenträger schien
sich für Feliks oder die Gruppe am Schießstand zu interessieren.
Feliks drückte auf den Abzug. Das ohrenbetäubende Rattern übertönte
sogar den üblichen Lärm der anderen Attraktionen. Dieses Mal traf Feliks
den roten Kreis. Aber er brauchte sechs Salven, um den Kreis völlig zu
eliminieren. Er warf Anastasia einen schnellen Seitenblick zu, um sich zu
vergewissern, dass sie zuschaute, und richtete die Waffe auf die zweite
Figur. Hier schlug der erste Einzelschuss direkt neben dem Ziel ein, aber
mit fünf Salven schaffte es Feliks, den roten Kreis völlig zu eliminieren. Als
er die Waffe auf das dritte und letzte Ziel richtete, verschränkte der
Budenbesitzer die Arme und kaute wütend auf dem Zahnstocher herum, der
aus seinem Mund ragte.
»Du schaffst das«, flüsterte Anastasia. Alle hielten den Atem an.
Feliks drückte auf den Abzug. Die AK47 gab nur ein Klicken von sich.
Keine Munition mehr.
»Oh, was für ein Pech«, sagte der Budenbesitzer und grinste zufrieden
wie ein Vampir nach der Mahlzeit.
Wütend warf Feliks die Waffe auf den Tresen. »Hier wird man
ausgetrickst!«
»Schlechte Verlierer gibt es immer wieder«, sagte der Besitzer.
»Lasst mich mal ran«, sagte Jason.
Er zog einen 500-Rubel-Schein aus der Tasche. Der Besitzer schob ein
neues Magazin in die Halterung. Jason schaute sich Feliks’ Schussmuster
genau an, überprüfte die Zieleinstellung des Gewehrs, dann zielte er
absichtlich leicht daneben. Die erste Bleikugel streifte den Rand des roten
Kreises. Mit der Präzision eines Herzchirurgen jagte Jason die Kugeln dicht
nebeneinander quer durch den roten Kreis. Seine Salven waren kurz und
scharf, um Munition zu sparen. Als er den ersten Kreis eliminiert hatte,
richtete er die Waffe auf das zweite Ziel. Connor staunte – Jason hatte bei
Gunners Schießtraining eine Menge gelernt. Wie ein Scharfschütze löschte
er den roten Kreis der zweiten Zielfigur aus. Nachdem er auch die dritte
Figur erledigt hatte, brachen die Mädchen in Applaus und Jubel aus. Der
Budenbesitzer biss so wütend auf den Zahnstocher, dass er
auseinanderbrach.
»Ich dachte, ihr Engländer seid nicht an Waffen gewöhnt?«, fragte
Elena und schob sich neben Jason.
Jason zwinkerte ihr zu. »Bin kein Engländer, sondern Aussie. Wir
können alles!«
Mit einer Miene, als würde ihm ein Zahn gezogen, überreichte der
Budenbesitzer Jason einen großen bananengelben Minion.
»Tra-ra!«, rief Jason und überreichte Anastasia den Preis mit einer
Verbeugung. Connor sah, dass Elena neidisch die Nase rümpfte, während
Feliks Jason wütend anstarrte. Es war offensichtlich, dass er selbst
Anastasia hatte beeindrucken wollen. Aber Jason schien nichts zu
bemerken; er sonnte sich im Glanz seines Erfolgs und in Anastasias
strahlendem Lächeln.
»Ich gebe zu, das Gewehr war nicht zielgenau eingestellt, aber damit
kann man jemanden wie mich nicht aufhalten!«, prahlte Jason.
»Connor, willst du mir nicht auch ein Minion schießen?«, fragte Elena
und schaute ihn hoffnungsvoll und flehend zugleich an.
»Tut mir leid, ich mache zu«, verkündete der Schießbudenbesitzer, zog
den Rollladen am Stand herunter und ließ ihn kräftig ins Schloss
schnappen.
»Wer ist hier ein schlechter Verlierer?«, fragte Connor lachend, war
insgeheim aber froh, dass er sich nicht mit Jasons Schießkünsten messen
musste.
Sie gingen zur Eislaufbahn hinüber. Jason und Anastasia gingen voraus;
sie hielt die rehäugige Minionpuppe im Arm. Connor überlegte, ob er Jason
an seine Pflichten erinnern sollte, setzte sich dann aber selbst an die
wichtigste Schutzposition neben Feliks. Jason hatte ausnahmsweise
freiwillig die vordere Schutzposition übernommen!
KAPITEL 28

»Kannst du gut Schlittschuh laufen?«, erkundigte sich Anastasia, als sie die
gemieteten Stiefel anzogen.
»Ein wenig«, sagte Connor. Dabei grinste er in sich hinein, als er sich
daran erinnerte, wie ihn sein Vater zum Lee Valley Eiscenter im Nordosten
Londons mitgenommen hatte – eigentlich jedes Mal, wenn er auf Urlaub
nach Hause gekommen war. Sein Vater hatte ihn immer ermuntert, neue
Aktivitäten auszuprobieren: Schwimmen, Fahrrad fahren, ein Feuer ohne
Streichhölzer entfachen, sich an den Sternen orientieren, Kickboxen …
Überlebenstechniken und überhaupt alles, was ihm eines Tages irgendwie
nützlich sein konnte. Was hätte er wohl gesagt, wenn er gewusst hätte, dass
Schlittschuhlaufen Connor eines Tages helfen würde, den Sohn eines
russischen Milliardärs zu beschützen?
Lee Valley hatte zwar eine Eisbahn, auf der auch internationale
Eislaufwettkämpfe durchgeführt werden konnten, aber im Vergleich zu der
Bahn, auf der sie jetzt laufen wollten, wirkte Lee Valley geradezu
lächerlich. Diese hier erstreckte sich vor ihnen in den Dimensionen einer
Flughafenlandebahn, so lang wie drei Fußballfelder. Sie konnte über
viertausend Läufer gleichzeitig aufnehmen. Eine hölzerne Fußgängerbrücke
führte in großem Bogen über die Bahn hinweg, die um eine
neonbeleuchtete Insel herumführte, auf der eine schneebedeckte
Winterszene aufgebaut war – Minihäuser, Weihnachtsbäume, Rentiere vor
den hoch mit Geschenken beladenen Schlitten. Connor konnte nicht einmal
das andere Ende der Bahn sehen; er konnte nur noch hoffen, dass sein
Geschick ausreichte, ihn rund um die Insel und zum Start zurück zu
bringen!
»Und wie ist es mit dir, Jason?«, fragte Anastasia, als sie aufstand und
mit ihren Schlittschuhen zum Eingang der Bahn stakste.
Jason reagierte mit verwegenem Lächeln. »In Australien gibt es nicht
viel Eis. Aber ich probiere alles aus.«
Feliks hatte die Schlittschuhe angezogen und war bereit loszulaufen,
schien aber nicht besonders begeistert zu sein. Seine düster gerunzelte Stirn
zeigte, dass er wegen der Sache am Schießstand immer noch sauer auf
Jason war.
Elena und ihre Freundinnen fuhren sofort los und glitten mit
Leichtigkeit über das Eis, offenbar hatten sie jede Menge Übung. Timur
bezog neben dem Eingang Stellung; er hatte sich damit entschuldigt, dass er
»eben nicht fürs Schlittschuhlaufen gebaut« sei. Und Jason wurde plötzlich
sehr kleinlaut, als er auf das Eis stakste. Connor war sicher, dass er sich in
diesem Moment so weit weg wie möglich wünschte. Und tatsächlich: Nach
ein paar zaghaften, unsicheren Schritten auf dem Eis glitten die Füße unter
ihm weg, Jason ruderte wild mit den Armen und landete hart auf dem
Hintern.
Feliks lachte übertrieben laut und grausam; seine Laune verbesserte sich
schlagartig.
Auch Connor konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Nach dem Erfolg
am Schießstand war es ganz gut, dass wieder ein wenig Luft aus Jasons
aufgeblasenem Ego gelassen wurde. Aber er unterdrückte ein lautes
Lachen, lief hinüber und half ihm auf die Beine. Es war ein gutes Gefühl,
ausnahmsweise mal nicht gegen Jason kämpfen zu müssen.
»Das ist schwerer, als es aussieht«, murmelte Jason, als er wieder
aufrecht stand, auf Beinen, die so wackelig waren wie die eines
neugeborenen Rehkitz.
»Du musst nur das Gleichgewicht halten«, riet ihm Connor.
»Komm, ich helfe dir«, bot ihm Sofia an und glitt mit der Anmut eines
Schwans herbei.
»Was ist mit Feliks?«, flüsterte Jason Connor zu, als Sofia seine Hand
nahm. Ihr Schützling grinste immer noch schadenfroh über Jasons Sturz.
»Keine Sorge, ich bleibe bei ihm. Du kannst dich in Reserve halten.«
Die Gruppe lief los, um eine erste Runde zu drehen; Jason und Sofia
fielen zurück. Connor stellte erleichtert fest, dass er sich rasch wieder sicher
fühlte, obwohl er schon lange nicht mehr gelaufen war. Es war wie beim
Fahrradfahren: einmal gelernt, nie mehr vergessen. Er würde jetzt zwar
noch keine Kunstfiguren versuchen, hatte aber keine Probleme, geradeaus
zu laufen, zu stoppen oder Kurven und Schleifen zu drehen. Seine
russischen Freunde allerdings schienen mit Schlittschuhen an den Füßen auf
die Welt gekommen zu sein; Connor konnte kaum mit ihnen Schritt halten.
Aber er schaffte es irgendwie, so dicht wie möglich hinter Feliks und
Anastasia zu bleiben.
»Ist doch nett, dass uns Stas und Vadik ausnahmsweise nicht den Spaß
verderben«, meinte Anastasia.
»Hm«, machte Feliks zustimmend, der plötzlich wieder schüchtern zu
werden schien.
Anastasia warf ihm einen schnellen Blick zu. »Schön, dass du dich hier
ein wenig entspannst und sogar lachst! Das machst du nicht oft genug.«
»Kann sein … Hab eine Menge um den Kopf«, gestand er.
»Kann ich mir vorstellen, wenn man bedenkt, wer dein Vater ist. Das ist
bestimmt nicht leicht.«
»Nein, ist es nicht«, sagte Feliks, jetzt wieder mit düsterer Miene.
»Aber du bist doch sicher stolz auf deinen Vater, weil er sich gegen die
Korruption einsetzt«, fuhr Anastasia fort. »Ich halte ihn für einen sehr
mutigen Mann.«
»Er ist ein Narr!«, stieß Feliks hervor. Connor war verblüfft, als er diese
Antwort hörte. »Irgendwann werden sie ihn umbringen und mich auch.«
»Aber er hat doch einen Bodyguard für dich engagiert«, sagte Anastasia
und warf einen Blick zu Timur zurück. »Und bestimmt hat er selbst
ebenfalls welche?«
Feliks nickte.
»Und was ist mit anderen Sicherheitsmaßnahmen?«, fragte sie weiter.
»Hat er auch daran gedacht?«
»Ja, klar. Wir haben bewaffnete Wärter am Tor, Elektrozäune, Kameras
überall in den …«
»Wow! Schaut euch nur die dort drüben mal an!«, unterbrach Connor
seinen Schützling, bevor er alle Einzelheiten über die Sicherheitsanlagen
der Villa ausplaudern konnte. Es waren einfach zu viele Leute in der Nähe;
jeder konnte hier Informationen auffangen, die ihn nichts angingen. Eine
Conga-Line von Eisläufern raste wie ein Expresszug vorbei.
»Wenn sie nächstes Mal vorbeikommen, hängen wir uns hinten an«,
sagte Anastasia und grinste begeistert. »Was wolltest du gerade sagen,
Feliks?«
Gerade als Feliks antworten wollte, glitt Elena heran. »Du kannst
ziemlich gut laufen, Connor«, sagte sie.
»Na ja, geht so – war schon jahrelang nicht mehr Schlittschuhlaufen
…« Connor spürte, dass seine Beine allmählich müde wurden.
»Ich zeige dir, wie man rückwärts läuft«, bot Elena an, nahm seine
Hände und drehte sich so, dass sie ihm gegenüberstand. Damit verringerte
sich ihre Geschwindigkeit und Feliks und Anastasia glitten davon. »Man
dreht die Fußspitzen leicht nach innen und macht mit den Schlittschuhen
wellenförmige Bewegungen, siehst du?«
Connor nickte. Zwar war er Elena für die Lektion dankbar, aber er
musste unbedingt bei Feliks bleiben. Er versuchte, Elena zu einem
schnelleren Lauf zu bewegen. Als sie unter die Fußgängerbrücke glitten,
blickte er zufällig hinauf und entdeckte einen Mann mit schwarzer Kapuze,
der auf ihn herabstarrte. Der Eindruck was so flüchtig, dass Connor nicht
sicher war, ob es derselbe Mann war, den er schon früher gesehen hatte. Als
er auf der anderen Seite der Brücke herauskam, blickte er kurz zurück, aber
es standen zu viele Zuschauer auf der Brücke, sodass er den Mann nicht
mehr ausmachen konnte. Connor schoss ein Merksatz durch den Kopf, den
sein Trainer ständig wiederholt hatte: Einmal ist Zufall. Zweimal ist ein
Vorfall. Dreimal bedeutet Überfall oder jedenfalls irgendeine feindliche
Absicht.
Wenn er den Mann noch einmal zu sehen bekam, würde er das
Schlimmste annehmen müssen.
»Passt du überhaupt auf, was ich sage?«, wollte Elena wissen.
»Äh, ja, klar.« Er wandte sich wieder zu ihr.
»Dann probiere es jetzt mal aus.«
Gerade als sie die Positionen wechseln wollten, raste ein großer Mann
in schwarzer Skijacke vorbei und streifte alle beide, sodass sie gegen ein
Geländer geschleudert wurden. Elena fiel hin und schlug schwer mit dem
Kopf auf.
»He, pass doch auf!«, brüllte Connor.
»Pass doch selbst auf!«, schrie der Mann mit schwerem Akzent zurück,
lief aber weiter, als hätte er etwas Wichtiges zu erledigen.
Connor half der leicht benommenen Elena wieder auf die Kufen und
lehnte sie an das Geländer. Während sie sich erholte, schaute er sich nach
Feliks und Anastasia um. Die beiden waren inzwischen sehr weit entfernt;
er würde rasch hinterherlaufen müssen. Dann bemerkte er drei weitere
kräftige Männer in schwarzen Skijacken, die ohne Rücksicht auf andere
Läufer über die Bahn sausten. Er hatte den Eindruck, dass sie sich
koordiniert bewegten – in Keilformation.
Schlagartig wurde Connor klar, dass alle vier auf ein einziges Ziel
zuglitten: Feliks.
KAPITEL 29

Dieses Mal war Connor absolut sicher, dass er keinen Fehlalarm auslösen
würde. Feliks war definitiv zum Angriffsziel geworden.
Aber der Abstand war zu groß, um Feliks zu warnen. Connor stieß sich
vom Geländer ab.
»He, wo läufst du hin?«, fragte Elena mit matter Stimme.
»Bleib da!«, rief ihr Connor über die Schulter zu, als er loslief, um
Anastasia und Feliks einzuholen. Seine Kufen gruben sich tief ins Eis,
vorangetrieben von Beinmuskeln, in die plötzlich ein kräftiger
Adrenalinstoß geschossen war. Immer schneller kam er voran.
Vor ihm liefen die vier Männer in breiter Formation auf Feliks zu, wie
eine menschliche Lawine.
Connor wedelte zwischen anderen Läufern hindurch, achtete nicht auf
das wütende Protestgeschrei, wann immer er einen Arm streifte.
Hastig schaltete er das Funkgerät ein, den verborgenen Ohrhörer und
das Kehlmikrofon. »Jason! Wo bist du?«, keuchte er.
»Immer noch beim Eingang«, kam die Antwort.
»Alarmstufe Rot. Kleiner Bär wird bedroht«, sagte Connor. Er benutzte
den vereinbaren Codenamen für Feliks.
»Bist du dieses Mal sicher?«
»Hundertprozentig! Verfolge vier Verdächtige«, sagte Connor
keuchend, während er beinahe ein Mädchen über den Haufen lief.
»Informiere Timur! Möglicherweise Kidnapping oder Anschlag.«
Connor hörte Jason leise fluchen, dann kam die Antwort: »Wir treffen
uns am Point Lima.«
Bei ihrer Besprechung vor dem Ausflug in den Park hatten sie diese
Bezeichnung für den Eingang vereinbart. »Glaube nicht, dass wir es dorthin
schaffen!«, rief er. Im selben Augenblick sah er, dass die vier schwarzen
Jackenträger nun direkt auf ihr Opfer zusteuerten. »FELIKS!«, brüllte
Connor.
Feliks und Anastasia drehten sich um. Connor winkte ihnen verzweifelt
zu, so schnell wie möglich weiterzulaufen. »NICHT STEHEN BLEIBEN!
HAGELSTURM!«
Ein paar andere Läufer schauten verwirrt zum winterblauen Himmel
auf. Aber Feliks wusste, was Connor gemeint hatte. Connor hatte ihm
bestimmte Rufzeichen erklärt. »Hagelsturm« war das Codewort für einen
Angriff. Feliks riss voller Entsetzen die Augen auf, als er die vier riesigen
Männer auf sich zusausen sah.
Einer der schwarzen Jackenträger bremste so hart ab, dass er eine
Eisfontäne in die Luft schickte. Er wirbelte herum, fasste sofort Connor als
den Rufer ins Auge und lief zurück, um ihn auszuschalten.
»LAUF!«, brüllte Connor Feliks zu.
Anastasia begriff sofort, dass Gefahr drohte, packte Feliks’ Arm und
raste mit ihm davon, verfolgt von den übrigen drei Schwarzgekleideten wie
von einem Rudel Wölfe.
Connor lief weiter. Er befand sich auf direktem Kollisionskurs mit dem
vierten Angreifer, der brutal die anderen Läufer aus dem Weg rempelte,
sodass sie wie Bowlingkegel zur Seite flogen. Ein Aufseher versuchte, den
Mann zu stoppen, wurde aber von ihm mit einem äußerst brutalen Hieb ins
Gesicht ausgeschaltet. Nun wichen die anderen Läufer verängstigt zur Seite,
bis sich zwischen Connor und dem Mann eine freie Gasse bildete. Als sie
wie zwei Hähne in einem tödlichen Hahnenkampf aufeinander zuglitten,
zog Connor hastig den XT aus der Tasche. Je näher sie sich kamen, desto
schneller liefen beide. Der Mann hatte die Fäuste geballt und hielt den Blick
unbeirrbar auf sein Ziel gerichtet. Alles sah danach aus, als würde er
Connor brutal niedermähen und mit den scharfen Kufen in zwei Hälften
zerlegen.
Connor wappnete sich für den Zusammenprall. Dann, im allerletzten
Augenblick, ließ er den Schlagstock aus dem XT schnappen und warf sich
zur Seite, um links an seinem Angreifer vorbeizugleiten. Es gelang ihm,
knapp unter den ausgestreckten Armen durchzutauchen; gleichzeitig ließ er
den Schlagstock gegen die Kniescheibe des Mannes krachen. Ein
widerliches Knacken war zu hören; der Mann stürzte nach vorn und krachte
mit dem Kopf auf das erbarmungslose Eis.
Im Chor schrien die anderen Läufer vor Entsetzen laut auf. Connor
blickte nicht einmal zurück, kam wieder auf die Beine und lief weiter. Diese
Schwarzjacke war vorerst ausgeschaltet, das war alles, worauf es jetzt
ankam.
Weiter vorn auf der Bahn hetzten Feliks und Anastasia mit
Höchstgeschwindigkeit um die Biegung und gelangten damit auf die lange
gerade Strecke, die zum Eingang zurückführte. Aber die übrigen Angreifer
waren ihnen dicht auf den Fersen.
Connor lief, so schnell er konnte, um sie einzuholen. Aber das war
sinnlos. Er würde Feliks nicht rechtzeitig erreichen.
Einer der Männer griff Anastasia am Arm. Ihren Schrei erstickte er mit
der Hand, die in einem dicken Handschuh steckte. Die beiden anderen
packten Feliks links und rechts und zerrten ihn mit sich.
Connors Beinmuskeln brannten vor Anstrengung. Verzweifelt legte er
die letzten Kräfte in einen Spurt, während Feliks in der Menge der Läufer
verschwand.
»Jason!«, keuchte er ins Kehlmikro. »Kleiner Bär gekidnappt! Sie
kommen in deine Richtung!«
»Ich sehe ihn nicht! Wiederhole: Ich sehe ihn nicht!«
Connor hatte Anastasia inzwischen fast erreicht. Sie wehrte sich wie
eine Wildkatze gegen ihren Angreifer. Aber Connor war klar, dass er ihr
nicht helfen durfte. Seine Priorität war Feliks. Seine einzige Priorität.
Noch während er auf die miteinander ringenden Gestalten zulief,
machte sich Connor für einen brutalen Schlag auf den Kopf des Angreifers
bereit, um Anastasia wenigstens im Vorbeilaufen zu helfen. Wenn sich die
Gelegenheit bot, würde er nur einen einzigen Schlag benötigen. Zwanzig
Meter … fünfzehn … zehn …
Gerade als er den Schlagstock hob, trieb Anastasia eine
Schlittschuhkufe mit den Bremszacken voraus gegen das Schienbein ihres
Angreifers und rammte sie dann abwärts in seinen Fuß. Der Angreifer
brüllte auf vor Schmerzen. Aber Anastasia war noch nicht mit ihm fertig.
Sie stieß ihm den Ellbogen in den Bauch, packte den Mann und schleuderte
ihn mit einem perfekt ausgeführten o-goshi über die Schulter. Der Angreifer
schlug so hart auf, dass man die Eisschicht knacken hören konnte.
Als Connor herankam, hatte sich Anastasia bereits vom Griff des
Mannes befreit, drehte sich um und beschleunigte, bis sie mit Connor
gleichauf lief.
»Alles okay?«, keuchte er und ließ den Schlagstock wieder in der
Lampe verschwinden.
»Klar«, antwortete sie. Ihr blasses Gesicht war gerötet, ihre eisblauen
Augen blitzten wütend. »Wer sind diese Typen?«
»Keine Ahnung. Aber ich muss Feliks retten.«
»Ich helfe dir.«
»Zu gefährlich!«, rief er ihr zu.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen!«, gab sie scharf zurück.
»Außerdem laufe ich schneller und besser als du.«
Dem konnte Connor nicht widersprechen. Weiter vorn, zwischen den
anderen Läufern hindurch, erhaschte er einen kurzen Blick auf die beiden
Schwarzjacken, die den wild um sich kickenden Feliks zwischen sich
schleppten. Sie steuerten auf einen der Seiteneingänge zu. Connor blieb in
Anastasias Windschatten, um Kraft zu sparen, und tatsächlich gelang es
ihnen, den Abstand zu den Entführern allmählich zu verringern. Aber die
Zeit lief ihnen davon. Die Männer würden den Ausgang lange vor ihnen
erreichen.
Dann, wie aus dem Nichts, kam plötzlich Jason daher, wild mit den
Armen rudernd und gegen die Laufrichtung. Er schlitterte übers Eis und
krachte direkt gegen Feliks und die Kidnapper. Die ganze Gruppe ging in
einem chaotischen Haufen aus Armen und Beinen zu Boden, weitere Läufer
konnten nicht mehr abbremsen und stürzten ebenfalls auf den Haufen.
Die beiden Männer stießen die anderen Läufer brutal beiseite, um sich
zu befreien. Connor und Anastasia waren inzwischen herangekommen.
Anastasia rammte einem der Männer ihr Knie »unabsichtlich« gegen das
Kinn, während Connor den Schlagring seines XT vor die Stirn des anderen
Angreifers krachen ließ. Beide sackten auf das Eis zurück, als hätte man
einen Stecker gezogen.
Chaos brach aus. Aber die vier Angreifer waren neutralisiert. Connor
packte Feliks und zog ihn auf die Füße, während Anastasia Jason beim
Aufstehen half. Gemeinsam liefen sie zum Haupteingang zurück.
KAPITEL 30

»Ihr habt meinen Sohn sehr gut beschützt«, sagte Viktor lobend und klopfte
Connor und Jason auf die Schultern. »Was ich von diesem nutzlosen
Muskelberg dort drüben nicht behaupten kann.«
Dabei schaute er verächtlich Timur an, der auf einem Stuhl in der
Küche hing und einen Eisbeutel gegen seinen kahlen Schädel drückte. Einer
der Schwarzjacken hatte ihn von hinten niedergeschlagen und ihn
bewusstlos am Eingang der Eisbahn liegen gelassen. Bei ihrer Flucht hatte
Connor den massigen Körper des Bodyguards entdeckt, der wie ein
Betrunkener im Schnee gelegen hatte.
»Sie sollten sich auch bei Anastasia bedanken«, sagte Connor. Sie
hatten das Mädchen auf dem Rückweg von der Eisbahn vor ihrem Haus
abgesetzt. »Sie hat allein zwei von Feliks’ Angreifern ausgeschaltet.«
Viktor drehte sich zu Feliks um. »Wer ist Anastasia?«, erkundigte er
sich.
Feliks hing auf einem Stuhl an der Frühstücksbar und wärmte sich mit
einem heißen Becher Kakao die Hände. »Nur eine Klassenkameradin«,
murmelte er verlegen.
Viktor schaute ihn mit schmalen Augen an. »Dieselbe, die dich auch zu
der Party eingeladen hat?«
Feliks nickte.
Ein anerkennendes Grinsen breitete sich auf Viktors Gesicht aus. »Na,
diese junge Dame möchte ich gern mal kennenlernen. Klingt so, als sei sie
eine ziemlich energische Person. Lade sie doch mal zum Mittagessen ein.«
»Reg dich bloß wieder ab«, murmelte Feliks. »Sie ist nicht meine
Freundin oder so.«
»Noch nicht«, sagte Viktor mit wolfsähnlichem Lächeln.
Feliks lief rot an und beschäftigte sich intensiv mit dem Inhalt seines
Bechers.
»Wie auch immer, meine Herren«, sagte Viktor, »ich möchte mich
jedenfalls für eure Mühe bedanken. Ich …«
Die Tür flog auf und Dimitri stürzte in die Küche. »Entschuldige,
Viktor, ich bin sofort losgefahren, als ich deine Nachricht bekam«, keuchte
er. »Ist alles in Ordnung, Feliks?«
Feliks gab sich Mühe, ein tapferes Lächeln zustande zu bringen. »Geht
so«, seufzte er.
Dimitri nickte und wandte sich an Viktor. »War das wieder eine
Botschaft der Bratwa?«
»Ein weiterer Versuch, würde ich sagen«, antwortete der Milliardär.
»Die schiere Frechheit, auf einer öffentlichen Eisbahn … ja, das trägt die
Handschrift der Bratwa. Aber Connor sagt, alle vier Männer hätten
schwarze Skijacken getragen – und das heißt, es könnten auch FSB-
Agenten gewesen sein. Lazar hat bereits mit der Polizei gesprochen.
Natürlich gibt es wieder einmal keine Zeugen und keiner der Angreifer
wurde verhaftet. Das war auch nicht zu erwarten. Also wird alles einmal
mehr unter den Teppich gekehrt, was wiederum darauf hindeutet, dass die
Regierung etwas damit zu tun hat. Es könnten also alle drei gewesen sein –
FSB, Bratwa oder die Regierung selbst.«
Dimitri ließ sich auf einen Stuhl an der Frühstücksbar sinken und stützte
den Kopf in die Hände. »Die Sache gerät außer Kontrolle, Viktor. Das ist
bald keine politische Kampagne mehr, sondern ein Krieg.«
»Ja, und es ist ein Krieg, den wir gewinnen werden«, antwortete Viktor
selbstsicher und richtete den Zeigefinger auf seinen Berater. »Wir haben die
Unterstützung, die wir brauchen. Wir haben die Wähler hinter uns. Und wir
haben den Willen.«
Dimitri starrte seinen Boss fassungslos an. »Viktor, sie hatten deinen
Sohn im Visier!«, wies er ihn zurecht. »Deine Feinde sind entschlossen,
dich aufzuhalten, und sie begnügen sich nicht damit, Gefangene zu machen.
Die gehen über Leichen! Deinen Anwalt haben sie schon umgebracht.
Willst du wirklich Feliks’ Leben für deine Sache aufs Spiel setzen?«
»Es geht um seine Zukunft, die hier auf dem Spiel steht. Und um sein
Land. Ich habe schon zu viel verloren, um jetzt noch nachgeben zu können.
Wir müssen weiterkämpfen.« Als der Berater betroffen schwieg, starrte
Viktor ihn mit gerunzelter Stirn an. »Willst du etwa vor diesen Typen
kapitulieren?«
Dimitri schüttelte den fast kahlen Kopf. »Nein, natürlich nicht.«
»Gut – denn wenn man etwas wirklich verändern will, muss man Opfer
bringen«, erklärte Viktor mit fester Stimme. »Dieser gescheiterte
Kidnappingversuch ist ein Erfolg für uns. Ein Beweis, dass sie allmählich
nervös werden. Wir können ihn für unsere Sache benutzen. Damit können
wir allen zeigen, mit welch schmutzigen Tricks die Regierung gegen uns
kämpft.«
Dimitri blickte zwischen Vater und Sohn hin und her. »Sei vorsichtig.
Du darfst deinen Sohn nicht als politisches Pfand einsetzen.«
Viktor ging zu Feliks hinüber und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Mach dir keine Sorgen, Feliks wird gut beschützt.« Er drückte seinen Sohn
beruhigend an sich. »Jetzt komm, wir haben noch ein paar Dinge zu
besprechen.« Er ging zur Tür und winkte Dimitri, ihm zu folgen.
Feliks starrte weiter in seinen Becher.
»Alles okay?«, fragte Connor.
»Lasst mich in Ruhe. Alle«, murmelte er, ohne aufzublicken.
Timur stand auf und schlurfte davon, den Eisbeutel immer noch gegen
den Schädel gepresst. Jason zuckte die Schultern und ging ebenfalls zur
Tür. Connor zögerte und überlegte, ob er nicht einfach hier bleiben sollte.
Feliks hatte gerade einen traumatischen Entführungsversuch überstehen
müssen; durchaus möglich, dass er einen Schock erlitten hatte. Außerdem
war klar: Feliks hatte genau gehört, dass sein Vater den politischen Feldzug
für wichtiger hielt als seinen Sohn. Aber in diesem Moment vibrierte
Connors Smartphone. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass Charley
ihn anrief. Er trat in den Flur hinaus und meldete sich.
»Hi, Connor, danke für das Update von unterwegs«, sagte sie. »Ist der
Kleine Bär jetzt wieder sicher in seiner Höhle?«
»Ja.« Connor warf einen Blick durch die offen stehende Tür in die
Küche. Feliks brütete über seinem Becher, immer noch in sich
zusammengesunken. »Aber ich glaube, er hat einen Schock erlitten.«
»Davon wird er sich wieder erholen. Wie geht es dir selbst?«
»Jetzt schon wieder besser, wenn ich deine Stimme höre«, gab er zu und
konnte sie fast lächeln sehen. »Du kannst Amir ausrichten, dass seine XT-
Lampe wirklich eine prima Waffe abgibt.«
»Du hast eine Superleistung erbracht, Connor. Vier Angreifer
auszuschalten. Und auch noch auf Schlittschuhen!«
»Ja, es war eine echte Herausforderung. Aber du hättest Jasons
Gegenangriff sehen sollen!« Connor lachte. »Er war mit Abstand der
gefährlichste Typ auf der ganzen Eisbahn. Eine menschliche
Kanonenkugel! Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, ob Jason die
Typen wirklich absichtlich angegriffen hat. Mehr Glück als Verstand,
glaube ich.«
»Aber der Klient ist in Sicherheit, und ihr beide auch, das ist alles, was
zählt«, antwortete Charley. »Übrigens habe ich gerade mit dem Colonel
gesprochen. Er schwört, dass er die Sache mit Feliks’ früherem Bodyguard
nicht gewusst habe. Aber er gibt zu, dass die Information, die er von Mr
Malkow erhalten hat, ein bisschen … lückenhaft ist.«
»Ein bisschen lückenhaft?«, rief Connor aus. »Wenn ein Bodyguard
erschossen wird, ist das in meinen Augen eine ziemlich große Lücke! Willst
du damit sagen, dass wir noch mehr Überraschungen erleben werden?«
»Hoffentlich nicht. Oh, übrigens: Der Colonel streitet ab, dass er jemals
gesagt hätte, der Auftrag sei es wert, einen oder zwei Buddyguards zu
opfern. Er beharrt darauf, dass kein Auftrag dieses Risiko wert sei.«
»Und? Glaubst du ihm?«
»Im Moment weiß ich nicht, was ich glauben soll.« Ein kurzes
Schweigen trat ein. »Wie geht es Jason?«, fragte sie schließlich. Obwohl
ihre Stimme jetzt wieder leichter klang, spürte Connor, dass sie noch mehr
auf dem Herzen hatte.
»Dem geht’s gut. Warum?«
»Na ja … Ling will mit ihm reden, aber er reagiert nicht auf ihre SMS.«
»Oh … Ich denke mal, er will sich voll und ganz auf unsere Mission
konzentrieren«, sagte Connor beiläufig. Allerdings fragte er sich, warum er
seinen Partner in Schutz nahm, schließlich empfand er Ling gegenüber
mehr Loyalität als gegenüber Jason.
»Stupse ihn doch mal ein bisschen an, dass er sie anruft, ja? Ling ist
wirklich verstört. Wegen der Trennung, du weißt schon. Ich glaube, sie will
die Sache wieder in Ordnung bringen.«
»Klar«, sagte Connor. »Sonst noch was?«
»Ja. In deinem Update hast du erwähnt, dass ihr zusätzliche
Unterstützung hattet, um die Angreifer auszuschalten. Was hast du damit
gemeint?«
»Eine von Feliks’ Schulkameradinnen hat uns geholfen«, erklärte er.
»Sie heißt Anastasia.«
»Was weißt du über sie?«
»Sie ist neu in der Schule. Wohnt im Schulinternat und hat ein
Musikstipendium. Wirklich ein nettes Mädchen mit … äh, überraschenden
Talenten.«
»Was willst du damit sagen?«
»Na ja, sie ist immer alert, reagiert bei einer Krise enorm schnell, und
ihre Fähigkeiten in Selbstverteidigung sind wirklich sehr eindrucksvoll.«
Connor musste unwillkürlich grinsen, als er daran dachte, wie sie ihren
Angreifer auf das Eis geschmettert hatte.
»Ich hoffe, du verknallst dich nicht in diese Russin!«, sagte Charley,
vielleicht ein wenig zu spitz, obwohl sie es scherzhaft gemeint hatte.
»Vergiss nicht, dass auch ich ziemlich gut in Selbstverteidigung bin.
Vielleicht brauchst du mal eine kleine Erinnerung?«
Connor lachte. »Nein danke. Ich habe gesehen, was du mit Richie
angestellt hast. Keine Angst, Charley, ich habe nur Augen für dich. Aber
Anastasia interessiert mich aus einem ganz anderen Grund.«
»Und der wäre?«
»Ich dachte … sie hat exzellentes Potenzial, um sie als Buddyguard zu
rekrutieren.«
»Echt?« Sie schien kurz zu überlegen. »Wenn das so ist, werde ich mal
versuchen, mehr über sie herauszufinden, bevor du sie Colonel Black
empfiehlst.«
KAPITEL 31

»Hey, Jason, warte mal!« Connor rannte den Flur entlang, als er seinen
Partner sah, der gerade zum Fitnessraum der Villa ging. Um sich für ihren
Job fit zu halten, trainierten sie täglich. Der Fitnessraum war ideal
ausgestattet; er verfügte über die neuesten Kraftstationen, Hantelbänke,
computergesteuerte Laufmaschinen, einen Swimmingpool, eine Sauna und
ein Dampfbad. »Wir müssen noch eine Nachbesprechung über den
gestrigen Angriff abhalten.«
Jason blieb stehen und drehte sich um, ein Handtuch lose um die
Schultern gehängt. »Nachbesprechung? Was gibt’s da noch zu besprechen?
Der Klient lebt und es geht ihm gut, basta.«
Connor nickte. »Stimmt, aber wir sollten uns mal darüber unterhalten,
wie wir mit der Situation umgegangen sind.«
Jason zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. »Da war eine
Situation. Wir haben sie bewältigt. Job erledigt.«
»Die Sache lief alles andere als perfekt«, widersprach Connor. »Im Park
bist du nicht immer auf deiner Position an der Spitze der Gruppe geblieben.
Das bedeutet, der Klient war nicht immer geschützt. Und du konntest nicht
Schlittschuh laufen. Das hättest du mir vorher sagen müssen, dann hätten
wir unseren Schutz besser planen können.«
»Hey, ich war immerhin gut genug, um zwei Angreifer auszuschalten«,
widersprach Jason und stieß Connor den Finger gegen die Brust.
»Außerdem hast du am Schießstand überreagiert.«
Connor hielt die Hände hoch. »Das gebe ich zu, und deshalb brauchen
wir die Besprechung, bevor ich solche Dinge in unseren offiziellen Bericht
aufnehme.«
Jason legte Connor die Hand auf die Schulter und lächelte. »Hör mal,
Kumpel, mach, was du willst, aber deine Besprechung kannst du mit dir
selbst abhalten. Du hast hier das Kommando. Ich bin ja nur ein
untergeordneter Befehlsempfänger.«
Damit wandte er sich um und ging davon. Connor schäumte innerlich
vor Wut. Jason machte sich über ihn lustig – er missachtete Connors
Befehlsgewalt und benutzte sie auch noch, um seine Pflichten auf Connor
abzuwälzen.
»Und da wäre dann auch noch die Sache mit Anastasia«, rief ihm
Connor nach. »Vielleicht sollte ich das im Bericht auch erwähnen?«
Die kaum überhörbare Drohung reichte; Jason blieb stehen und warf
Connor einen wütenden Blick zu. »Welche Sache?«
»Komm schon, Jason.« Connor seufzte übertrieben geduldig; eigentlich
wollte er sich jetzt nicht mit seinem Partner streiten. »Du fährst voll auf sie
ab, obwohl du genau weißt, dass auch Feliks sie mag. Das kannst du einem
Klienten nicht antun. Außerdem ist das ein Interessenkonflikt, der
irgendwann zu Problemen führt.«
Jason blinzelte und schüttelte den Kopf, als hätte er etwas nicht ganz
verstanden. »Aber Anastasia ist doch für Feliks unerreichbar«, sagte er und
warf den Arm in die Luft, als deutete er in die Unendlichkeit. »Ich meine,
intergalaktisch unerreichbar.«
Connor zuckte die Schultern. »Anastasia sieht das offenbar anders.
Tatsächlich scheint sie mehr an Feliks interessiert als an dir.«
Jason verzog das Gesicht. »Ach, komm schon! Du bist ja nur
eifersüchtig.«
»Überhaupt nicht«, fauchte Connor. »Ich habe schon eine Freundin,
Charley. Und wenn du schon damit anfängst – du hast auch eine, sie heißt
Ling.«
Jason kam wieder zurück und baute sich vor Connor auf. »Hör mir
genau zu, Kumpel – zwischen mir und Ling läuft nichts mehr. Es. Ist. Aus!
Ich bin frei und kann jede anbaggern, wenn ich will. Und damit das klar ist:
Sie hat Schluss gemacht. Hat mir das Herz gebrochen. Aber ich habe keine
Lust, als Trauerkloß herumzulaufen.«
»Wenn sie dir wirklich das Herz gebrochen hat, warum rufst du sie dann
nicht zurück?«
»Geht dich nichts an!«
»Doch, es geht mich etwas an. Bisher habe ich dich gedeckt. Aber Ling
will unbedingt mit dir reden. Wahrscheinlich möchte sie sich mit dir
versöhnen. Worum ging es bei dem Streit überhaupt?«
Jason verschränkte die Arme und starrte Connor wütend an. Nach
langem Schweigen sagte er mürrisch: »Um dich!«
Connor runzelte die Stirn. »Um … mich?«
»Ja, verdammt! Ling ging mir ständig auf die Nerven. Sagte, ich solle
netter zu dir sein«, erklärte Jason und verdrehte die Augen. »Dass ich es
einfach akzeptieren sollte, Nummer zwei bei der Mission zu sein. Dass wir
gemeinsam stärker seien und nicht dauernd einen privaten Wettkampf
austragen sollten. Und dass ich dich erst mal richtig kennenlernen sollte,
dann würde ich deine Fähigkeiten als Bodyguard schon besser schätzen
lernen, und so weiter, bla, bla, bl–«
Connor lachte laut los.
Jason runzelte die Stirn. »Was gibt’s da zu lachen?«
»Na, weil doch Charley zu mir genau dasselbe über dich gesagt hat!«
»Egal. Jetzt weißt du, warum Ling und ich Krach hatten. Und weil wir
beide« – er deutete auf sich und auf Connor – »uns für alle Zeiten in den
Haaren liegen werden. Wir sind uns einfach zu ähnlich.«
»Wir müssen uns nicht streiten«, sagte Connor, dem allmählich die
Geduld ausging. Er ballte die Fäuste, nahe daran, sie seinem Partner ins
Gesicht zu rammen.
»Komm schon, das ist wie unser Wettkampf im Armdrücken«, erklärte
Jason und kam einen Schritt näher. »Ich hab gewonnen, aber du wolltest es
nicht akzeptieren. Und du hast vielleicht gewonnen, als es um das
Kommando bei dieser Mission hier ging. Aber das bedeutet nicht, dass ich
es akzeptieren muss.«
Damit drehte sich Jason um und verschwand im Fitnessraum. Connor
blieb frustriert im Flur stehen und schlug voller Wut gegen die Wand,
sodass seine Handknöchel als Abdruck im Verputz zurückblieben. Danach
tat ihm zwar die Faust höllisch weh, aber wenigstens fühlte er sich besser.
KAPITEL 32

Dampf stieg in dichten Wolken von den glühenden Kohlen auf. Der
durchdringende Geruch von Eukalyptus füllte die Banja und reinigte die
Lungen der beiden großen Männer, die schwitzend auf den Holzbänken
saßen. Glockenförmige Filzmützen sorgten dafür, dass ihre Köpfe kühl
blieben und schützten ihr Haar vor der sengenden Hitze.
Roman Gurow schlug sich mit einem Bündel Birkenzweige auf Rücken
und Brust, um den Kreislauf anzuregen – und seine Frustration
loszuwerden.
»Tut doch gut, die Gifte aus dem Körper prügeln zu können, wie?«,
fragte sein Kamerad, der in den dichten Dampfwolken fast geisterhaft
wirkte.
Roman legte das Birkenbündel beiseite und genoss das Kribbeln, mit
dem seine Haut auf die Schläge in der feuchten Hitze der Kabine reagierte.
Er wünschte nur, er könne genau so leicht mit dem Ärgernis fertig werden,
das Viktor Malkow hieß.
Ein scharfes, langes Zischen tönte durch die schwelende Hitze der
Kabine, als seien die Männer versehentlich in ein ganzes Nest voller Vipern
gestolpert: Romans Kamerad hatte eine weitere Kelle Wasser auf die
glühenden Kohlen gegossen.
»Und jetzt erzähle: Wie ist dein jüngster Schachzug gegen den
Schwarzen König ausgegangen?«, fragte der andere und ließ die Kelle
wieder in den Holzeimer fallen. Genüsslich lehnte er sich gegen die
Fichtenbohlen der Kabinenwand und ließ die Hitze über sich hinwegwallen.
Roman stieß einen tiefen Seufzer aus, als die Dampfwelle auch ihn
erreichte. »Es gab unerwarteten Widerstand, als wir den Bauern aus dem
Spiel nehmen wollten.«
Der Kamerad starrte ihn durchdringend an. »Unerwartet?«
»Unsere Leute wurden von ein paar Kids geschlagen!«, erklärte Roman
verbittert. Sein ohnehin schon gerötetes Gesicht glühte heißer als die
Kohlen im Saunaofen.
Der Kamerad hob ungläubig die Augenbrauen. »Und wer sind diese
Kids?«
»Zwei Jungen – meine Informanten sagen, sie seien mit Feliks
verwandt, Cousins zweiten Grades, aber bisher haben wir keinerlei Beweise
für die Verwandtschaft gefunden. Und dann war da noch ein Mädchen, eine
Schulkameradin unserer … Zielperson.«
»Ein Mädchen? Ein Mädchen hat einen deiner durchtrainierten Profis
ausgeschaltet?«
Roman nickte. »Der Mann kann kaum noch gehen.«
»Hm. Ich bin beeindruckt«, sagte der andere und nahm nun selbst das
Birkenbündel. »Aber spätestens bei diesem Versuch müsste der Schwarze
König doch endlich gemerkt haben, was wir ihm sagen wollen?«
»Ja, das ist der Fall. Aber anscheinend hat es ihn nur noch
entschlossener gemacht!«, murmelte Roman gereizt. »Mit dem
fehlgeschlagenen Angriff bettelt er beim Volk um Sympathie und benutzt
ihn für seine Sache.«
Der andere schlug sich mit dem Birkenbündel auf den breiten Rücken,
bis er rote Streifen zeigte. »Und was planst du jetzt zu tun?«
Roman musste nicht lange darüber nachdenken. »Der König muss
sterben.«
Sein Kamerad hörte auch, sich zu peitschen, und schüttelte
missbilligend den Kopf. »Nein. Du kannst ihn doch nicht zum Märtyrer
machen!«
»Hast du einen besseren Vorschlag, Kamerad?«
»Nicht den Körper des Mannes, sondern seinen Ruf musst du töten«,
riet ihm der andere, stand auf und streckte sich. »Vernichte seine
Glaubwürdigkeit, dann vernichtest du auch seine Sache.«
Roman dachte über diese Möglichkeit nach, während sein Kamerad die
Kabine verließ, über den marmorgefliesten Boden zum Becken ging und
sich mit einem Kopfsprung in das eiskalte Wasser stürzte. Roman hielt die
Hitze noch ein paar Minuten lang aus, während sich ein Gedanke in seinem
Kopf festsetzte.
Was hindert mich daran, beide zu töten – den Mann und seinen Ruf?
KAPITEL 33

»Ihre Bodyguards haben keinen Zutritt«, erklärte der Oberkellner. Er


lächelte zwar entschuldigend, aber auch unnachgiebig.
Viktor runzelte die Stirn. »Warum denn nicht?«
»Das ist eine Hausregel«, erklärte der Mann. Er hatte sein glänzendes
schwarzes Haar glatt zurückgekämmt. Sein Blick, halb verhangen unter
schweren Augenlidern, war missbilligend auf das tätowierte Messer
gerichtet, dessen Spitze über Lazars Hemdkragen hervorragte. Auch Timur
betrachtete er missbilligend. Mit seinen Muskeln, die sich unter dem Anzug
klar abzeichneten, und der Halbautomatik, die vom Jackett kaum verborgen
wurde, glich Timur einem Bären im Anzug und wirkte hier, unter den
eleganten Gästen des Vivosti, total fehl am Platz. Unter den Reichen und
Schönen Moskaus war das Vivosti das angesagte Restaurant und vermutlich
auch das teuerste in der Stadt.
»Sie müssen in der Lobby warten«, sagte der Oberkellner stur.
Viktor zuckte die Schultern und wandte sich an seine Bodyguards.
»Scheint hier so etwas wie eine geschlossene Gesellschaft zu sein«, sagte
er. »Das ist der Preis, den man eben manchmal zahlen muss.«
Die beiden Männer nickten mürrisch; die Sache gefiel ihnen nicht. Aber
Connor und Jason wurden nicht daran gehindert, zusammen mit Feliks das
Restaurant zu betreten. Als sie der Oberkellner durch die große Doppeltür
mit ihren Milchglasfenstern zu ihrem Tisch führte, sah Connor, dass Dimitri
samt seiner Familie sowie Anastasia bereits am Tisch saßen.
Viktor begrüßte seinen Berater mit festem Händedruck, dann wandte er
sich an seine anderen Gäste. »Du also bist Anastasia«, sagte er mit warmer
Stimme und warf seinem Sohn einen raschen Seitenblick zu, der eindeutig
ausdrückte, dass er dessen Wahl billigte. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass
Feliks so elegante und gebildete Freunde hat!«
Anastasia errötete. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr Malkow.«
»Viktor. Nenn mich einfach Viktor.« Er neigte den Kopf ein wenig zur
Seite. »Du stammst aus einer unserer südlichen Provinzen, stimmt’s?«
»Nein«, antwortete Anastasia und runzelte ein wenig die Stirn. »Wie
kommen Sie darauf?«
Viktor zuckte die Schultern. »Dein Akzent klingt so. Ich würde
vermuten, vielleicht irgendwo aus der Gegend von Rostow – dort begann
nämlich meine politische Karriere. Aber wie auch immer, du bist jedenfalls
herzlich willkommen und ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe auf der
Eisbahn.«
»Ach, das war nicht der Rede wert«, sagte sie und senkte den Blick
verlegen auf die Handtasche, die sie an sich gepresst hielt.
»Connor erzählte mir etwas anderes«, sagte Viktor und hob eine
Augenbraue. »Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich dich nicht als
Bodyguard für mich selbst anheuern sollte!«
Anastasia blickte ihn direkt an. »Aber Sie haben doch schon
Leibwächter!«
»Ja, aber die sind bei weitem nicht so gefährlich wie du!«, lachte Viktor.
Dann wandte er sich den anderen Gästen zu, umarmte Dimitris Frau, eine
groß gewachsene Dame mit wallendem blondem Haar und großen
Diamantohrringen, die wie glitzernde Kronleuchter an ihren Ohren hingen.
»Ah, Natascha, schön, dich wiederzusehen.«
Natascha blickte ihm über die Schulter. »Nanu – kein Date?«
Viktor lächelte milde. »Viel Arbeit, wenig Liebe.«
Natascha schnalzte missbilligend mit der Zunge, dann wandte sie sich
Connor und Jason zu. »Und wer sind diese netten Herren?«
»Feliks Cousins«, erklärte Viktor und winkte die beiden Jungen näher.
»Connor und Jason.«
»Ah, die beiden, die deinen Sohn gerettet haben. Schön. Und das hier
ist unsere Tochter, Tanja«, sagte Natascha stolz und stellte ihnen ein
schüchternes Mädchen vor. Von der Mutter hatte es die blonden Locken,
vom Vater die vollen Lippen und die Stupsnase geerbt.
Tanja lächelte scheu und die beiden Jungen begrüßten sie. Connor
bemerkte, dass sich Feliks und Tanja eher kühl begrüßten – offenbar hatten
sie einander nicht viel zu sagen und kannten sich nur durch die
geschäftlichen Beziehungen der Eltern.
Viktor lud alle ein, sich zu setzen; Anastasia bot er einen Stuhl
zwischen sich und seinem Sohn an. Jason setzte sich rasch auf den Stuhl
rechts neben Feliks. Tanja freute sich offenbar, dass Connor sich neben ihr
niederließ. Diesen Platz hatte er aber nur gewählt, weil Jason ihm die
wichtigere Position rechts neben dem Klienten weggeschnappt hatte, sehr
zu Connors Verärgerung. Wenn sein Partner weiterhin versuchte, ständig
seine Autorität zu untergraben, würde er die Sache dem Colonel melden
müssen. Aber er wusste natürlich, dass sich dann der Streit nur noch weiter
verschärfen würde. Immerhin konnte er von seinem Sitzplatz aus den
Eingang und das Restaurant im Auge behalten; im Hinblick auf die
Sicherheit war das sogar die ideale Position.
Ein Kellner brachte die Speisekarten. Viktor bestellte sofort Wasser,
Brot, eingelegtes Gemüse und eine Flasche des besten Wodkas, der zu
haben war.
Während sie die Speisekarten studierten, blickte sich Connor verstohlen
im Restaurant um. Es war perfekt gestylt, mit dunklen Wandpaneelen,
Granitböden und viel Glas. Ein falscher Wasserfall rauschte leise über eine
von Neonleuchten erhellte Wand in ein riesiges Aquarium, in dem sich
exotische Fische tummelten. Alle achtzehn Tische waren besetzt; Kellner
glitten wie gut geölte Maschinenmenschen geräuschlos von Gast zu Gast.
Durch die gefrosteten Scheiben der großen Doppeltür, die Lobby und
Restaurant voneinander trennte, konnte Connor gerade noch die mächtigen
Umrisse der beiden Bodyguards ausmachen. Obwohl sie im Foyer warten
mussten, konnten sie doch wenigstens den Eingang gut bewachen. Connor
lokalisierte den Notausgang und die Lage der Toiletten und entdeckte den
Zugang zur Küche – nur für den Fall, dass sie einen schnellen Fluchtweg
brauchten.
»Soll ich dir helfen«, fragte Tanja, der aufgefallen war, dass Connor
lange Zeit unbeweglich die Speisekarte vor sich gehalten hatte.
Connor unterbrach die Beobachtung der anderen Gäste und schüttelte
den Kopf. »Nein danke, nicht nötig.«
Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Angebote zu studieren. Genau
wie Amir versprochen hatte, übersetzte die Kontaktlinse im rechten Auge
sofort alles vom Russischen ins Englische. Die Wörter erschienen klar
lesbar vor seinem Auge, ungefähr vergleichbar mit einem Head-up-Display:
Икра – Kaviar; пельмени – mit Rinderhack gefüllte Teigtaschen; борщ –
Suppe aus Roter Bete …
Kaum hatte der Kellner ihre Bestellungen entgegengenommen, als
Viktor auch schon nach der Wodkaflasche griff.
»Darf ich?«, fragte Anastasia, nahm die Flasche und öffnete sie. »Zu
Hause schenke ich auch immer meinem Vater ein.«
»Wirklich?«, fragte Viktor mit erfreutem Lächeln um die Lippen. »Er
hat dich gut erzogen.«
Anastasia nahm ein Wodkaglas und goss ein wenig der klaren
Flüssigkeit hinein, wobei sie die Flasche abschließend drehte, damit sie
nicht nachtropfte. Dann schenkte sie auch für Dimitri und seine Frau ein.
»Ich wette, sie würden dich hier auf der Stelle als Kellnerin einstellen«,
witzelte Dimitri.
»Oh nein, ich glaube, Anastasia hat das Potenzial zu etwas Größerem«,
widersprach Viktor, und blinzelte seinem Sohn zu.
»Sie sollten einen Toast ausbringen«, schlug Anastasia vor.
»Richtig«, nickte Viktor. »Aber zuerst sollten wir die geschäftlichen
Dinge hinter uns bringen. Dimitri, hast du gute Nachrichten für mich?«
Dimitri nickte lächelnd. »Ja. Ich habe die Genehmigung von der
Stadtverwaltung für die Kundgebung.«
»Wunderbar! Das wird ein großartiger Tag in der russischen
Geschichte! Hast du die Medien auf den neuesten Stand gebracht?«
Dimitri nickte. Ein paar Minuten lang besprachen die beiden Männer
ihre Angelegenheiten. Dann griff Viktor nach dem Wodkaglas. Im selben
Augenblick bemerkte Connor durch die gefrosteten Scheiben der
Eingangstür, dass draußen im Foyer Unruhe entstanden war – mehrere
schattenartige Gestalten kamen schnell und in präzisen, koordinierten
Bewegungen auf die Tür zu.
»Jason!«, zischte Connor seinem Partner zu und machte ihn mit einer
Augenbewegung auf die Vorgänge im Foyer aufmerksam.
Viktor hob das Wodkaglas zum Toast. »Auf Unser Russland!«
»Auf Unser Russland!«, echote Dimitri und hob ebenfalls das Glas.
Gerade als sie den Wodka hinunterkippen wollten, ertönte ein lauter
Warnschrei: Lazars Stimme. Im selben Moment flog die Doppeltür
krachend auf und eine Gruppe bewaffneter Männer in schwarzer
Kampfmontur stürmte ins Restaurant. Connor und Jason sprangen auf,
packten Feliks und zogen ihn zu Boden, wo sie sich schützend über ihn
warfen. Aus dem Augenwinkel sah Connor, dass auch Anastasia schnell
reagiert hatte – sie war unter den Tisch getaucht und versteckte sich hinter
der bis zum Boden hängenden Tischdecke. Tanja saß wie versteinert am
Tisch.
»Komm runter!«, zischte ihr Connor zu, aber sie schien ihn nicht zu
hören. Connor warf einen Blick zum Notausgang: die Bewaffneten hatten
ihn bereits besetzt. Eingang und Notausgang waren blockiert. Innerhalb von
Sekunden war ihr Tisch umstellt. An Flucht war nicht zu denken.
»Viktor Malkow«, sagte ein Mann mit eisernen Gesichtszügen, die
Waffe auf Viktors Brust gerichtet.
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Viktor hob gelassen die Hände. »Was soll das?«
Als der Bewaffnete näher trat, entdeckte Connor auf seiner
Kampfuniform drei leuchtend gelbe Buchstaben: ФСБ.
Er brauchte die Übersetzung nicht zu sehen, um zu wissen, was das
furchteinflößende Akronym bedeutete: FSB.
»Ich verhafte Sie wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung,
Geldwäsche und Bestechung«, verkündete der Geheimdienstoffizier mit
dröhnender Stimme, packte Viktors Handgelenke und fesselte sie hinter
seinem Rücken.
Dimitri sprang wütend auf. »Diese Anschuldigungen sind lächerlich!«
Ein anderer FSB-Agent rammte Dimitri den Schaft seiner Waffe in den
Rücken. Dimitri brach auf dem Tisch zusammen, sodass die Gläser in alle
Richtungen davonflogen und mehrere Teller zerbrachen.
»Sitzenbleiben!«, bellte der Agent. »Wenn Sie nicht auch verhaftet
werden wollen!«
Dimitri stöhnte leise, blieb aber liegen; seine Frau brach in Tränen aus,
seine Tochter schien in Schockstarre gefallen zu sein.
Der FSB-Offizier führte Viktor Malkow durch den Haupteingang ab.
Connor konnte kurz Lazar und Timur sehen, die von weiteren Bewaffneten
mit Pistolen in Schach gehalten wurden und nichts dagegen unternehmen
konnten, dass die FSB-Einheit ihren Boss wie einen Verbrecher abführte.
»Papa?«, rief Feliks, völlig verwirrt und verstört über die dramatische
Verhaftung.
Doch als Viktor aus dem Raum geführt wurde, rief er Lazar zu:
»Schützt meinen Sohn unter allen Umständen!«
KAPITEL 34

Keinem der FSB-Offiziere oder -Agenten fiel der Mann auf, der an der dem
Eingang gegenüberliegenden Tür stand, als sie Viktor Malkow aus dem
vornehmen Restaurant abführten. Auch die Meute der Fotografen bemerkte
den Mann nicht, die sich auf der Straße drängelten und Fotos schossen, was
das Zeug hielt, während der offenbar in Ungnade gefallene Milliardär durch
den schmutzig-grauen Schneematsch gezerrt und umstandslos in ein
wartendes Polizeifahrzeug gestoßen wurde. Und auch die zufällig
vorbeikommenden Passanten, die stehen geblieben waren und gafften,
registrierten den stillen Beobachter nicht. Die Türen der Vans wurden
zugeschlagen und der FSB-Einsatztrupp raste mit Blaulicht und heulenden
Sirenen davon.
Nein, niemand bemerkte ihn.
Wie ein Chamäleon schien sich seine graue Haut dem Betonfarbton des
Bürogebäude angepasst zu haben, vor dem er stand. Er verharrte absolut
still, sodass er keinerlei Aufmerksamkeit erregte und gewissermaßen mit
den Gebäuden, Straßenlaternen und Gehwegen zu verschmelzen schien. Ein
Passant hätte nur ein paar Schritte entfernt an ihm vorbeigehen können und
ihn trotzdem nicht bemerkt.
Aber Mr Grey war alles andere als ein Geist. Er war ein Profikiller,
dessen Anwesenheit niemals auffiel.
Jetzt wartete er, bis sämtliche FSB-Agenten wieder abgezogen waren,
dann nahm er sein Mobiltelefon heraus und gab leise eine
Kurzwahlnummer ein. Der Teilnehmer meldete sich schon beim zweiten
Klingelzeichen.
»Er wurde verhaftet, bevor ich ihn erreichen konnte«, informierte er
seinen Kontakt.
Der Angerufene schwieg mehrere Sekunden lang.
»Von Malkow hängt zu viel ab. Regeln Sie das.«
Mr Grey bemerkte einen silbernen Mercedes mit dunkel getönten
Scheiben, der vor dem Restaurant vorfuhr und am Straßenrand anhielt. Die
Türen des Restaurants glitten auseinander; zwei Muskeltypen kamen
heraus, observierten die Straße, dann winkten sie einen dunkelhaarigen
Jungen heraus, der im Foyer gewartet hatte.
»Was ist mit dem Sohn?«, fragte Mr Grey.
»Kümmern Sie sich auch um ihn«, befahl ihm der Kontakt. »Das ist
eine einmalige Gelegenheit. Ohne seinen Vater ist der Junge verwundbar.«
Plötzlich wurde Mr Greys Blick eiskalt. Fassungslos starrte er über die
Straße, als er sah, von wem Feliks zum Mercedes geleitet wurde: von einem
schlanken Jungen mit brauner Stachelfrisur. Der Killer hätte den Jungen
jederzeit und überall wiedererkannt – an seinem selbstsicheren Gang, seiner
Hyper-Alarmbereitschaft, mit der er jetzt gerade die Straße observierte, der
schützenden Haltung, in der er seinen Klienten zum Auto führte. Diesem
Jungen war Mr Grey schon früher begegnet, und nicht nur einmal. In
Somalia. In Burundi. Und jetzt hier in Russland.
Mr Grey wusste, dass Connor Reeves kein gewöhnlicher Junge war.
»Malkows Sohn ist vielleicht nicht so verwundbar, wie Sie glauben«,
informierte er seinen Kontakt.
KAPITEL 35

Nach dem Basketballspiel stand Connor im Umkleideraum unter der


Dusche, als er eine Stimme rufen hörte, die ihm bekannt vorkam und die er
mittlerweile verabscheute.
»He, Verräterknabe! Hab gehört, dein Alter hockt jetzt endlich im
Knast?«
»Du weißt, dass er verhaftet wurde!«, hörte er Feliks antworten. »War ja
dein eigener Alter, der das veranlasst hat!«
»Ja, klar war er das«, antwortete Stas lässig. »Der FSB hat Beweise für
die illegalen Dinger erhalten, die dein Vater gedreht hat. Das war’s dann
wohl mit seiner Kampagne gegen die Korruption! Er ist mindestens so
korrupt wie die Bratwa selbst!«
»Lügen! Alles Lügen!«, rief Feliks. Connor hörte seiner Stimme an, wie
verzweifelt der Junge war; gleichzeitig fragte er sich, wo zum Teufel Jason
wieder steckte? Er hätte ihren Klienten beschützen sollen.
»Vielleicht sollten wir auch dich verhaften und vor Gericht stellen?«,
fragte Stas mit drohendem Unterton.
»Nimm die Pfoten weg!«
Connor riss das Duschtuch von der Stange, wickelte es um die Hüften
und stürmte in den Umkleidebereich. Feliks wurde von Stas, Vadik und
zwei anderen Gangmitgliedern eingekesselt, Alexei mit dem
Wuschelhaarschopf und Gleb, einem Typen mit dem Körperbau eines
Sumo-Ringers. Alle beide waren Hohlköpfe. Jason war nirgends zu sehen.
Connor rempelte sich brutal den Weg durch die Bande frei.
»Lasst ihn in Ruhe«, befahl er und entriss ihnen Feliks.
Stas beantwortete Connors Befehl mit verächtlichem Schnauben und
baute sich vor ihm auf. »Ich glaube, es wird Zeit, dir mal ein bisschen
Respekt beizubringen.«
Blitzschnell packte er Connor an der Kehle und stieß ihn gegen die
Spinde. Ein Sternenregen ging vor Connors Augen nieder, als sein
Hinterkopf gegen den Metallrahmen krachte.
»Hier kommt Lektion Nummer eins«, sagte Stas und holte mit der Faust
aus.
»Eher für dich!«, sagte Jason, der plötzlich hinter Stas auftauchte und
offenbar von der Toilette kam.
Vadik trat ihm in den Weg, aber Jason riss eine Spindtür auf und
schmetterte sie Vadik ins Gesicht. Es knackte und knirschte widerlich, als
Vadiks Nase von der Metalltür zerschmettert wurde. Vadik brach in die
Knie und hielt sich brüllend vor Schmerzen die Nase. Blut troff zwischen
seinen Fingern hindurch.
»Du kannst es wohl nicht lassen, wie?«, grinste Jason.
Stas war durch den plötzlichen Sturz seines Kumpels momentan
abgelenkt, sodass Connor seinen Unterarm auf Stas’ Gelenk hieb. Stas’
Arm gab sofort nach und Connor konnte sich aus seinem Griff winden. Ein
scharfer Kick gegen Stas’ Magen und der Bully stürzte rückwärts über eine
Bank.
In dem Chaos, das nun folgte, zielte Alexei mit einem wilden Boxhieb
auf Jasons Kinn, während Gleb Feliks auf den Boden stieß und ihm in den
Bauch trat. Connor riss sein Deo aus der Sporttasche und sprühte Gleb
einen Strahl Spray in die Augen. Gleb schrie auf und taumelte halb blind
davon. Mittlerweile hatte Jason Alexeis Boxhieb abgeblockt und dem
Jungen einen One-Inch-Push vor die Brust versetzt. Der Stoß in den
Solarplexus war dermaßen brutal, dass Alexei rückwärts stolperte und
gegen die Spinde krachte. Der Aufprall dröhnte so laut durch den Raum, als
sei er frontal mit einem daherrasenden Truck zusammengestoßen. Der
Junge glitt an den Spinden hinab auf den Boden, wo er stöhnend
liegenblieb.
Connor zog Feliks auf die Füße, dann stellten er und Jason sich Schulter
an Schulter vor den Jungen und schützten ihn, die Fäuste kampfbereit
erhoben. Stas, außer sich vor Wut, stürmte heran.
»He, was ist hier los?«, brüllte ihr Basketballlehrer, der in den
Umkleideraum gerannt kam.
Connor und Jason senkten die Fäuste. Alexei schleppte sich zu seinem
Spind und kehrte dem Lehrer den Rücken zu. Stas machte auf dem Absatz
kehrt und half dem blutenden Vadik beim Aufstehen.
»Er ist auf den nassen Fliesen ausgerutscht«, erklärte Stas dem Lehrer.
Der schaute ihn misstrauisch an. Dann wies er mit einem Nicken auf
Gleb, der sich die Augen rieb, als ob sie Feuer gefangen hätten. »Und was
ist mit ihm passiert?«
»Hat Seife in die Augen gekriegt«, sagte Connor.
Der Lehrer verzog verärgert das Gesicht – die Ausreden waren nun
wirklich zu lahm. »In mein Büro, alle, sofort!«
Fünf Minuten lang beantworteten sie die Fragen des Lehrers mit
verlegenem Schweigen; keiner gab irgendetwas zu, sodass er sie schließlich
mit einer ernsten Verwarnung und einer Nachsitzstrafe gehen ließ. Danach
herrschte im Umkleideraum eine Art misstrauischer Waffenstillstand
zwischen den beiden Gruppen.
Feliks, durch Connors und Jasons Kampfkraft wieder frech geworden,
hänselte die Gegner. »Hey, Vadik, das hier ist doch der Abdruck von deiner
dicken Nase, oder?« Er deutete auf eine blutverschmierte Delle in Jasons
Spindtür. »Überleg es dir in Zukunft genau, bevor du dich wieder mit mir
anlegst.«
Wütend setzte sich Vadik in Bewegung, aber Stas hielt seinen Kumpel
zurück.
»Pass bloß auf, Verräterknabe«, fauchte Stas warnend. »Deine
Schutzengel können dich nicht immer beschützen!«
KAPITEL 36

»Hey, wo wart ihr denn?«, rief Anastasia und kam über den Schulhof
gelaufen. Der Unterricht war schon lange zu Ende und die blasse
Wintersonne versank bereits hinter dem Horizont.
»Nachsitzen«, antwortete Felix mürrisch. In der kalten Luft bildete sein
Atem dichte Dampfwolken.
»Ach so, ja, ich hab davon gehört.« Sie schaute Jason an und hob eine
Augenbraue. »Du hast Vadiks Gesicht mit der Spindtür verschönert?«
Jason hielt seine dick behandschuhten Hände hoch. »Schuldig im Sinne
der Anklage.«
»In Russland sind wir alle immer schuldig«, sagte sie mit leichtem
Lächeln, »sogar dann, wenn wir unschuldig sind.«
»Außer natürlich, wenn dein Vater der Boss des FSB ist«, knurrte Feliks
bitter.
Connor erklärte, was er damit meinte. »Stas musste nur schnell seinen
Vater anrufen. Danach wurde ihm das Nachsitzen erlassen.«
»So läuft es immer mit der russischen Justiz«, sagte Anastasia mit
einem Schulterzucken. »Aber wenn wir schon beim Thema sind: Wie geht
es deinem Vater, Feliks?«
Feliks kickte gegen einen hart gefrorenen Schneehaufen. »Er sitzt
immer noch im Gefängnis. Dimitri hat die besten Anwälte eingeschaltet und
hofft, dass sie ihn spätestens am Wochenende auf Kaution freilassen.
Vielleicht auch nicht, wer weiß?«
»Hoffen wir es, schon deinetwegen«, sagte Anastasia und legte sanft die
Hand auf Feliks’ Arm. In Connors Augen drückte die kleine Geste
Zuneigung aus. Auch Jason hatte sie bemerkt.
Als sie zum Haupttor stapften, fragte Connor: »Warum bist du
eigentlich noch so spät hier?«
»Musikunterricht«, erklärte Anastasia und hob ihren Geigenkasten in
die Höhe.
»Du könntest doch mal für uns spielen«, schlug Jason vor. »Ich mag
Mozart und … und all das Zeug.«
Connor hätte beinahe laut aufgelacht. Er wusste, dass Jason klassische
Musik hasste.
Anastasia wurde plötzlich schüchtern und errötete. »Ich … äh, bin
wirklich nicht sehr gut.«
So viel Bescheidenheit überraschte Connor. »Aber du hast doch ein
Musikstipendium bekommen?«
»Ich weiß, aber …«
»Mein Vater mag Violine«, sagte Feliks zu niemandem im Besonderen.
Als sie das hörte, schien Anastasias Widerstand plötzlich zu brökeln.
»Na gut … vielleicht spiele ich mal ein kurzes Stück für euch alle, wenn er
wieder aus dem Gefängnis kommt?«
»Echt jetzt?«, fragte Feliks begeistert und seine Laune hellte sich auf.
»Das würde ihm bestimmt gefallen.«
»Klar doch. Mache ich gerne.« Anastasia lächelte, doch dann erstarrte
ihr Lächeln. »Wer ist das denn?«
Connor folgte ihrem Blick. Am Tor war im Zwielicht eine Gestalt
erschienen und hatte den Torscheinwerfer ausgelöst. Der Mann war groß
und eindrucksvoll und hatte kurz geschorenes schwarzes Haar. Seine Nase
war plattgeschlagen, eine typische Boxernase, und aus dem Kragen ragte
eine Tätowierung heraus, die einen Dolch darstellte. Connor konnte gut
verstehen, warum Anastasia so alarmiert war, als der Bodyguard plötzlich
auftauchte. Seine Erscheinung sollte Angreifer abschrecken, die viel
bedrohlicher und gefährlicher waren als ein Schulmädchen.
»Das ist doch nur Lazar, der Bodyguard meines Vaters!«, erklärte Feliks
lachend.
»Geht es dir gut? Du bist blass, als hättest du ein Gespenst gesehen«,
sagte Jason verwundert.
Anastasias ohnehin schneewittchenblasses Gesicht war tatsächlich so
weiß wie ein ausgebleichter Knochen geworden. »Nein … ich bin nur
erschrocken«, erklärte sie, fand aber schnell die Fassung wieder. Sie
lächelte Feliks entschuldigend an. »Bin ein bisschen schreckhaft … seit
gestern, du weißt schon … Aber wo ist euer zweiter Leibwächter?«
»Du meinst Timur? Der sitzt wahrscheinlich im Auto.«
»Und begleitet dich Lazar überall hin?«, erkundigte sie sich.
»Fast überall.« Feliks zuckte die Schultern. »Mein Vater macht sich
eben große Sorgen um meine Sicherheit.«
»Na, nach dem, was im Restaurant passiert ist, wundert mich das nicht.
Um ehrlich zu sein, ich bin echt überrascht, dass dich die Bodyguards allein
in der Schule herumlaufen lassen!«
Connor und Jason warfen sich einen kurzen Blick zu und unterdrückten
ein Grinsen.
Am Tor blieb Anastasia stehen und schaute kurz in den Geigenkasten.
»Tut mir leid, ich habe den Bogen liegen gelassen.« Sie drehte sich um und
ging in Richtung Musikraum.
»Wir warten hier auf dich«, sagte Jason.
»Nein, braucht ihr nicht. Ich gehe allein nach Hause«, rief sie über die
Schulter zurück, doch dann blieb sie noch einmal stehen. »Übrigens, ich
überlege, ob ich am Wochenende zum Roten Platz gehe. Möchte mir gern
die Eisskulpturen anschauen. Wollt ihr mitkommen?«
»Aber sicher!«, rief Jason, ein bisschen zu eifrig.
»Hängt von Feliks ab«, sagte Connor, um Jason an seine Pflichten zu
erinnern. »Und von Lazar.«
Feliks runzelte die Stirn, starrte den Schnee auf seinen Stiefelspitzen an
und kickte ihn schließlich weg. »Na ja, ich weiß nicht … Nach der Sache
auf der Eisbahn … und weil mein Vater verhaftet wurde …«
»Aber es würde dich ein bisschen von deinen Sorgen ablenken«, sagte
Anastasia. »Natürlich nur, wenn es dein Bodyguard erlaubt.«
Damit hatte sie Feliks’ Stolz angestachelt. »Mein Bodyguard hat mir
nichts zu befehlen! Er soll nur einfach die Kugeln für mich einfangen. Ich
komme mit!«
»Super!«, rief Anastasia und ging weiter. »Wir sehen uns dann am
Samstagmorgen um zehn.«
KAPITEL 37

»Ich nehme an, die Zeit der Diplomatie ist vorbei«, sagte Charley, nachdem
Connor ihr von dem kurzen Kampf mit Stas und Vadik im Umkleideraum
erzählt hatte.
»Ja – genauer gesagt, sie haben den Krieg erklärt«, stimmte Connor mit
freudlosem Lachen zu. Mit dem Smartphone in der Hand saß er in einem
der mächtigen Ledersessel in der mit Eichenpaneelen verkleideten
Bibliothek der Villa. Es war ein stiller, selten benutzter Raum, ideal
geeignet, um Berichte an die Zentrale durchzugeben, ohne gestört oder
belauscht zu werden. Im offenen, mit schwarzem Granit umrahmten Kamin
loderte das Feuer aus knackenden Holzscheiten, aus denen ab und zu
Funken wie kleine Sternschnuppen sprühten.
»Vadik wird Jason nicht so ohne Weiteres davonkommen lassen,
nachdem er ihm die Nase zerschmettert hat«, fuhr Connor fort. »Und Feliks
schüttet immer wieder Öl ins Feuer, seit er weiß, dass wir ihn heraushauen,
falls es nötig wird.«
»Hast du schon mit ihm darüber gesprochen?«
Connor nickte. »Ich habe es versucht, auf der Rückfahrt von der Schule
nach dem Kampf. Er hat mir kaum zugehört. Ehrlich, ich glaube, es macht
ihm Spaß, ausnahmsweise mal die Oberhand über Stas und Vadik zu
haben.«
»Kann man ihm nicht vorwerfen«, meinte Charley. »Nachdem sie ihn
ständig so brutal schikaniert haben, ist es eigentlich nur logisch, dass er es
ihnen heimzahlen will.«
»Stimmt. Aber wir sind seine Bodyguards, nicht irgendein
Schlägertrupp, den er angeheuert hat.«
Durch die Butzenscheiben sah er, dass ein dichtes Schneetreiben
eingesetzt hatte; der Wind trieb die Flocken in Wellen über den Park, der
immer tiefer unter der Schneedecke versank.
»Was hält Jason denn davon?«, fragte sie.
Connor zuckte gleichgültig die Schultern. »Na, was wohl? Lass sie
ruhig kommen!, war seine Reaktion.«
»Ihr beide kommt immer noch nicht miteinander klar?«
Connor schüttelte den Kopf. »Jason folgte mir bei der potenziellen
Bedrohung im Gorki-Park. Aber sonst spielt er entweder die beleidigte
Leberwurst, weil er nicht das Kommando hat, oder er ignoriert meine
Befehle einfach. Im Umkleideraum hat er mich zwar unterstützt, aber die
ganze Sache fing nur an, weil er Feliks nicht bewacht hatte – er war auf der
Toilette beim Pipimachen!«
Charley versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken. »Na ja, wenn man
muss, muss man!«
»Kann sein, aber er hätte wenigstens warten können, bis ich aus der
Dusche kam. Jedenfalls versucht er ständig, meine Autorität zu untergraben,
setzt sich an die Hauptposition, wenn wir Feliks begleiten, oder
vernachlässigt seine Pflichten.«
»Hast du darüber mit ihm schon gesprochen?«
Connor schnaubte verächtlich. »Ich hab’s versucht, aber das nützte nicht
viel. Er hat unsere Beziehung hier mit einem Wettkampf im Armdrücken
verglichen! Bei dem wir beide glauben, dass wir gewonnen haben.«
Charley lächelte. »Na, ich denke mal, das ist schon ein Fortschritt. Bei
einem Armdrückwettkampf müsst ihr euch wenigstens an den Händen
halten!«
»Wäre besser, wenn es auch in Wirklichkeit so wäre, sonst haben wir
keine Chance, wenn wir Feliks beim Winterfestival am Wochenende
beschützen wollen. Wir können es uns einfach nicht leisten, an einem
öffentlichen Ort aufeinanderloszugehen!«
Jetzt wurde Charley ernst. »Wenn es wirklich so schlimm ist, solltest du
vielleicht doch den Colonel darüber informieren.«
Connor schüttelte den Kopf und seufzte. »Nein, das würde alles nur
noch schlimmer machen. Ich kann mir lebhaft ausmalen, wie Jason
reagieren würde: Oh-oh, Brüderchen hat mich bei Papi verpetzt! Nein,
damit muss ich wohl allein fertig werden.«
Wieder glitt sein Blick zum Fenster hinaus. Draußen stapfte einer der
Sicherheitsleute auf seiner Runde durch den Park.
»Du siehst besorgt aus«, bemerkte Charley leise.
Connor rieb sich über das Gesicht. »Ich werde einfach das Gefühl nicht
los, dass uns auf dem Roten Platz irgendeine Katastrophe erwartet.«
»Wieso?«
»Solange Viktor im Gefängnis sitzt, halte ich den Ausflug für ein
unnötiges Risiko. Die Bratwa hat doch schon bewiesen, wie weit sie gehen
will, einfach nur, um Viktor klarzumachen, dass er in Zukunft den Mund
halten soll. Und der Vorfall auf der Eisbahn zeigt, dass sie jetzt auch Feliks
im Visier haben. Das Winterfestival bietet der Mafia oder Viktors Feinden
die beste Gelegenheit, einen weiteren Angriff oder einen
Entführungsversuch zu unternehmen.«
»Was ist Lazars Meinung?«, fragte Charley. »Hat er denn nicht das
letzte Wort, wenn es um Feliks’ Sicherheit geht?«
»Lazar ist sicher, dass Feliks nichts geschehen wird. Er sagt, der Rote
Platz sei einer der am besten bewachten Orte in Moskau.«
»Na, das stimmt ja auch«, nickte Charley. »Der Platz grenzt direkt an
die Kremlmauer. In diesem Bereich gibt es unzählige
Überwachungskameras, bewaffnete Sicherheitsleute und Patrouillen in
Zivilkleidung. In Moskau wirst du wahrscheinlich keinen anderen Ort
finden, der so stark überwacht und gesichert ist. Ich glaube, du musst
einfach Lazars Einschätzung vertrauen.«
»Ich weiß nicht, wem ich hier noch vertrauen kann.« Connor schüttelte
müde den Kopf. »Wir beide wissen doch, dass wir bei dieser Mission
bestimmte wichtige Informationen gar nicht bekommen haben.«
Charley nickte zögernd. »Was das angeht, arbeitet der Colonel daran.
Sobald unser Auftraggeber aus der Untersuchungshaft entlassen wird, will
er ihn kontaktieren, um die Löcher in unseren Dossiers zu schließen. Aber,
um ehrlich zu sein: Es ist wirklich ein Problem, aus Russland verlässliche
Informationen zu bekommen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe zum Beispiel echte Schwierigkeiten, etwas über Anastasias
Herkunft und Vergangenheit herauszufinden. Die russische Bürokratie ist
ein absoluter Albtraum und die Sprachbarriere ist auch nicht gerade
hilfreich. Außer den Informationen, die du mir gegeben hast, und dem, was
in ihrer Bewerbung für das Musikstipendium steht, konnte ich kaum etwas
über sie herausbekommen.«
Connor lächelte. »Das klingt ja wirklich vielversprechend.« Wenn so
wenig über Anastasia zu erfahren war, wurde sie für die Buddyguard-
Organisation zu einer sehr interessanten Rekrutin.
»Nicht mal in den sozialen Netzwerken ist sie besonders aktiv. Das ist
natürlich ein Pluspunkt für Leute wie uns«, fuhr Charley fort. »Ich versuche
als Nächstes, über das staatliche Melderegister mehr über sie zu erfahren.
Ich informiere dich, falls ich etwas finde, was mir seltsam vorkommt.
Ansonsten denke ich, dass du deine russische Freundin dem Colonel
empfehlen solltest.«
KAPITEL 38

Der Rote Platz lag unter einer weißen Schneedecke, sodass er wie ein
riesiger Hochzeitskuchen mit Zuckerguss aussah. Der Schnee auf den
bunten Zwiebeltürmen der Basilius-Kathedrale glitzerte in der hellen
Morgensonne; die Türme bildeten einen scharfen Kontrast zu den
imposanten hohen Türmen und roten Mauern des Kremls. In schier
endlosen Reihen erstreckten sich die Markstände der Händler und
Handwerker wie kleine, mit Puderzucker bestreute Lebkuchenhäuschen fast
über den gesamten Platz. Karussells und andere Attraktionen drehten sich
wie hübsche Spieldosendekorationen. Kunstvolle Eisskulpturen glitzerten
im weißgelben Sonnenlicht, ragten in atemberaubender Größe in die Höhe,
als sei eine Armee aberwitziger Gestalten herbeigerufen worden und zu Eis
erstarrt. Über dem Platz flatterten, blinkten und glitzerten unzählige Bänder,
Flaggen und feenhafte Lichter und verwandelten den Platz in ein
magisches, verzaubertes Winterwunderland, durch das hunderte Menschen
schlenderten, in dicke Mäntel und wollene Schals gehüllt, mit wärmenden
Handschuhen an den Händen und mächtigen Pelzmützen auf den Köpfen.
Niemand in Moskau schien sich die Festlichkeiten dieses Winters entgehen
lassen zu wollen.
Auf dem Dach des mächtigen Kaufhauses GUM am nordöstlichen Rand
des Platzes kauerte eine einsame Gestalt, von den Blicken der Menschen
auf dem Platz durch eine niedrige Säulenbalustrade geschützt. Ein großer
Rucksack lag im Schnee. Ein kurzer, prüfender Blick auf den Platz, dann
zogen weiß behandschuhte Hände ein teilweise zerlegbares
Scharfschützengewehr, eine Vanquish .308, aus dem Rucksack und setzten
es mit den geübten, fließenden Bewegungen eines erfahrenen Handwerkers
zusammen. Die teleskopartige Schulterstütze wurde herausgeklappt, das
Gewehr auf die zweifüßige Stütze gesetzt und der schlanke Lauf an den
Schaft montiert. Als Nächstes wurde der Schalldämpfer auf den Lauf
geschraubt, ein volles Magazin mit 7,62-Millimeter-Patronen in die
Halterung gerammt und das Gewehr durchgeladen.
Alles in weniger als sechzig Sekunden.
Sorgfältig darauf achtend, immer außerhalb des grellen Scheins des in
der Nähe montierten Spotlights zu bleiben, kniete die Gestalt im eisigen
Schnee nieder und legte versuchsweise das Auge an das Zielfernrohr.
Langsam schwenkten die feinen Linien des Fadenkreuzes über den
Platz und suchten ihr Opfer.
Aber die Menge befand sich in ständiger Bewegung, die schiere Unzahl
von Gestalten behinderte die Suche. Und es gab noch andere Faktoren, die
berücksichtigt werden mussten.
Da war zunächst einmal die klirrende Kälte, die den Körper starr
werden ließ, und je länger man wartete, desto schwerer wurde es, den Atem
zu kontrollieren – und damit wurde es auch immer schwieriger, den Finger
mit einer gleitenden, fließenden Bewegung auf den Abzugshebel zu
drücken.
Zweitens: das Licht. In der vergrößerten Sicht des Zielfernrohrs
spiegelten sich gleißend helle Lichtreflexe, die von der Sonne auf den
Eisskulpturen erzeugt wurden und vielleicht im kritischen Moment die
Sicht entscheidend einschränken konnten. Außerdem bestand die Gefahr,
dass sich die winzigen, durch die Luft wirbelnden Eiskristalle auf dem
Objektiv absetzten und das einfallende Sonnenlicht weiter streuten.
Drittens war der Wind zu berücksichtigen. So, wie die Fahnen und
Wimpel in der Brise flatterten, musste mit Seitenwind von mindestens
zwölf Stundenkilometern gerechnet werden – stark genug, um das Geschoss
ein klein wenig abzulenken. Um die unberechenbare Windwirkung
auszugleichen, musste das Fadenkreuz daher ein wenig in den Wind
gerichtet werden.
Und schließlich war da noch die Entfernung. Der tödliche Schuss
musste ein Ziel treffen, das irgendwo zwischen 50 und 300 Metern entfernt
war. Das Ziel würde sich mitten in einer Menschenmenge bewegen; andere
Menschen konnten jederzeit in die Schusslinie geraten, es würde also
äußerst wenig Zeit bleiben, das Fadenkreuz hinter dem beweglichen Ziel
nachzuführen und, unter Berücksichtigung aller Störfaktoren, genau zu
zielen.
Und in dem winzigen Augenblick, diesem einen Herzschlag, in dem
sich das Ziel im Fadenkreuz befand, auf den Abzug zu drücken.
KAPITEL 39

Der Eisdrache ragte drohend über der Gruppe empor, die Flügel
ausgebreitet, den gewaltigen Rachen mit scharfen, glitzernden Reißzähnen
weit aufgerissen, den langen Schwanz erhoben wie ein gereizter Skorpion
kurz vor dem tödlichen Stich. Connor verschlug es buchstäblich die
Sprache, als er zu der kolossalen Skulptur aufblickte. Von den fast
glasdünnen Flügeln bis hin zu den messerscharfen Zähnen war der Drache
ein einziges, wunderbares Kunstwerk. Durch den Eiskörper schimmerten
feurige Sonnenstrahlen, die den Eindruck erweckten, als würde sich das
schuppige, glitzernde Wesen tatsächlich bewegen.
Unter den übrigen Skulpturen, die auf dem Platz zur Schau gestellt
waren, befand sich auch eine königliche Kutsche, gezogen von zwei
Eispferden, ein Schwan, der mitten im Flug erstarrt schien, eine Szene aus
einem russischen Märchen und ein riesiger Bär, der sich auf seinen
Hinterbeinen drohend aufrichtete. Obwohl Connors Bedenken bezüglich
der Sicherheit auf dem Roten Platz keineswegs verflogen waren, war er
jetzt doch froh, die Skulpturen sehen zu dürfen. Das Winterfest war
wirklich einen Besuch wert.
Connor ließ den Blick über die hölzernen Händlerhütten gleiten, die
dicht mit Stechpalmen, silbernen Weihnachtskugeln und bunten
Feenlichterketten behängt waren. Weihnachtsbaumschmuck wurde
verkauft, Reihen um Reihen von Matrjoschkapuppen, fein gearbeitete sich
langsam drehende hölzerne Weihnachtspyramiden, bemalte
Schmuckkassetten, handgestrickte Schals und mit Schaffell ausgekleidete
russische Filzstiefel, Walenki genannt. Der Duft von Zimtgebäck und von
Oladji, den berühmten russischen Eierpfannkuchen, hing in der Luft, immer
wieder überlagert von Wodkafahnen der Besucher und dem aromatischen
Duft der verschiedenen Tees, die an einem Stand in der Nähe aus großen
Samowaren ausgeschenkt wurden, angereichert mit Zitrone, Vanille und
sonstigen Gewürzen.
Jasons Smartphone meldete eine SMS; er warf einen Blick auf das
Display. »Ana kommt ein wenig später«, verkündete er den anderen. »Die
Metro hat Verspätung.«
»Ich hab ihr doch gesagt, wir könnten sie abholen!«, murrte Feliks
gereizt.
Ihre Verspätung schien ihn weniger zu stören als die Tatsache, dass sie
sich bei Jason und nicht bei ihm gemeldet hatte. Das überraschte auch
Connor ein wenig. Er hatte nicht gewusst, dass Jason und Anastasia ihre
Handynummern ausgetauscht hatten. Vielleicht verlagerte sich Anastasias
Zuneigung allmählich doch in eine andere Richtung …
»Kommt, wir essen ein paar Oladji, wenn wir schon auf sie warten
müssen«, schlug Jason vor, dem Feliks’ saure Miene überhaupt nicht
aufgefallen war.
Sie schlenderten zu einer der Buden hinüber; Lazar folgte ihnen diskret
mit ein paar Schritten Abstand – oder jedenfalls so diskret, wie sich ein
riesiger, tätowierter Bodyguard mit eingeschlagener Boxernase bewegen
konnte, der noch dazu die dick gepolsterte Winterjacke halb aufgeknöpft
hatte, um notfalls seine darunter verborgene MP9-Maschinenpistole
schneller ziehen zu können. Dem anderen Bodyguard, Timur, war befohlen
worden, im Auto zu warten, für den Fall, dass sie eine schnelle Flucht
antreten mussten.
Während die Pfannkuchen zubereitet wurden, behielt Connor die
Passanten im Auge, ständig auf der Ausschau nach Bedrohungen. Er hatte
bemerkt, dass auch der schwarze FSB-Toyota Corolla hinter ihnen
angehalten hatte, als sie ausgestiegen waren, hatte aber den Agenten nicht
zu sehen bekommen, der ihnen auf den Platz gefolgt sein musste. Seither
hatte er immer wieder versucht, den Beschatter zu entdecken, was ihm aber
bisher nicht gelungen war.
Dann kam ein groß gewachsener Mann mit blauem Beanie und
schwarzer Skijacke auf sie zu, die Hände tief in den Jackentaschen
vergraben. Connor spannte sich an; er behielt den Mann scharf im Auge,
denn in den Taschen einer dick gefütterten Jacke ließ sich fast jede Waffe
verbergen. Aber der Mann ging vorbei, ohne auch nur einen Blick in ihre
Richtung zu werfen.
An einem anderen Stand in der Nähe durchsuchte eine junge Frau mit
schwarzer Bobfrisur einen Stapel Schals. Neben ihr stand ein elegant
gekleideter Herr mit mächtiger russischer Pelzmütze, der eine SMS tippte.
Er zeigte absolut kein Interesse am Winterfest; Connors sechster Sinn für
Gefahr meldete sich schrill. Er war sicher, dass dieser Mann schon in der
Nähe gewesen war, als sie den Eisdrachen bewundert hatten.
Ist er der Agent?, fragte er sich. Oder eine andere Gefahrenquelle? Ein
Killer im Auftrag der Bratwa?
Connors Alarmzustand stieg auf Orange, gerade wollte er zu Lazar
gehen, um ihn auf den Mann aufmerksam zu machen … als die Frau und
Tochter des Mannes ankamen und ihn mit einer kurzen Umarmung
begrüßten. Kurz darauf war die Familie in der Menge verschwunden.
Connor fuhr seinen Alarmzustand wieder auf Code Gelb zurück –
entspannt, aber aufmerksam.
Jason reichte ihm einen warmen Pfannkuchen, von dem Honig troff.
Feliks schlang bereits sein Gebäck hinunter, was anscheinend seine düstere
Laune wieder ein wenig aufhellte.
»Irgendwelche Bedrohungen gesehen?«, nuschelte Jason lässig mit
vollem Mund.
Connor schüttelte den Kopf. Doch dann, gerade als er den Pfannkuchen
zum Mund hob, wurde seine Aufmerksamkeit geradezu magisch von einem
Mann angezogen, der vier Buden entfernt stand. Er hatte ein ausgemergeltes
Gesicht, grau wie erkaltete Zigarettenasche, und betrachtete gerade eine
bunt bemalte Holzkassette – aber sein Blick schien durch die Kassette
hindurch zu gehen. Er beobachtete Connor und Feliks. Auffällig an diesem
Mann war, dass er so unauffällig war, wenn man von seiner aschfarbenen
Gesichtshaut absah. Connor kam er irgendwie bekannt vor … Hatte er ihn
schon auf dem Jahrmarkt gesehen? Und als sich jetzt ihre Blicke trafen, lief
Connor plötzlich ein eiskalter Schauder über den Rücken.
Jasons Smartphone meldete sich erneut. »Ana kommt in fünf Minuten.
Sie will wissen, wo wir uns treffen.«
»Sag ihr, beim Eisdrachen«, schlug Connor vor. Ihm fiel auf, dass auch
Jason sie jetzt Ana nannte.
Mit den Oladji in den Händen, schlenderten sie zum Eisdrachen zurück
und warteten. Feliks blickte immer wieder ungeduldig auf die Uhr, dann
wieder auf sein Smartphone, offensichtlich hoffte er, dass sich Anastasia bei
ihm melden würde.
Gerade als sich Connor nach dem grauhäutigen Mann umblickte,
explodierte der Eisdrache. Tödlich scharfe Eiszacken flogen durch die Luft,
als spuckte der Drache seine Zähne aus. Und über dem klirrenden Lärm der
Skulptur hörte Connor das unverwechselbare Krack! eines
Überschallprojektils.
KAPITEL 40

Von dem Moment an, in dem die Kugel einschlug, schien die Zeit für
Connor in grauenhaften Einzelaufnahmen dahinzuticken. Dracheneis, das in
messerscharfen Splittern herabprasselte. Jason, der schützend die Arme
vors Gesicht hochriss. Feliks, der nach vorn geschleudert wurde, den Mund
in schmerzhaftem Schrei aufgerissen. Lazars Hand, die zur Waffe zuckte.
Connor schleuderte seinen Pfannkuchen wie ein Frisbee weg und packte
Feliks. Hellrote Blutstropfen regneten auf den festgestampften
Schneeboden. Festbesucher wirbelten mit vor Schreck weit aufgerissenen
Augen herum, als die Eisskulptur auseinanderbarst.
Dann plötzlich lief die Zeit mit einem Ruck wieder an, Lärm und
Geschrei setzten wieder ein, doch jetzt schien sich alles in aberwitziger
Schnelligkeit zu beschleunigen, wie die Wagen einer Achterbahn, die vom
höchsten Punkt unvermittelt in die Tiefe schossen. Als die Umstehenden
Lazar bemerkten, der die MP9 unter der Jacke hervorgerissen hatte, brach
Panik aus, alle versuchten zu fliehen. Mit hämmerndem Herzen zerrte
Connor Feliks mit sich in den Schutz der nächsten Marktbude. Jason rannte
voraus, rempelte die Menschen grob aus dem Weg, Lazar bildete den
Schluss, schwenkte die MP9 herum, suchte nach dem Feind …
Eine weitere Kugel sirrte durch die Luft.
Connor stieß Feliks zu Boden und warf sich über ihn. Sie krachten
gegen die Holzbretter an der Vorderseite der Teebude. Connor schützte
Feliks, benutzte seine Jacke als Schutzschild für sich und ihn. Jason kauerte
auf der anderen Seite und tat dasselbe. Erst jetzt bemerkte er das Blut, das
über Feliks’ bleiches Gesicht rann.
»Er ist angeschossen«, sagte Jason.
Connor untersuchte schnell Feliks’ Kopf und entdeckte eine kleine
Wunde, die sich über den Schädel zog. »Nur ein Streifschuss«, sagte er
erleichtert.
»Wo ist Lazar?«, fragte Feliks benommen.
Connor blickte sich um. Der Bodyguard lag im Schnee. Blut quoll aus
einem großen Loch am Hals – als ob ihm das tätowierte Messer in die Haut
gedrungen sei. Lazar hatte die volle Wucht der zweiten Kugel abgefangen
und womöglich damit Feliks das Leben gerettet.
Trotz seiner furchtbaren Verletzung krallte Lazar die Hände in den hart
gestampften Schnee, versuchte verzweifelt, sich zu Feliks hinüberzuziehen.
Aber keine Sekunde später schlug eine weitere Kugel in ihn ein, drang ihm
mit tödlicher Sicherheit mitten ins Herz. Der Bodyguard blieb reglos liegen.
Rings um ihn färbte sich der schmutziggraue Schnee rot. Ringsum schrien
die Menschen entsetzt auf.
»Wir müssen hier weg! SOFORT!«, schrie Jason und packte Feliks am
Arm.
»Ruf zuerst Timur an!«, befahl Connor. »Notfall-Evak. Treffpunkt
Delta.«
Bevor sie zum Roten Platz gegangen waren, hatten die russischen
Bodyguards die Prozedur abgesprochen, die im Notfall einzuhalten war.
Was im Falle eines Bombenanschlags auf das Festival zu tun sei. Oder
wenn sie ausgeraubt wurden. Oder wenn Feliks in der Menge verloren ging.
Oder im Falle einer Schießerei …
Treffpunkt Delta war einer von vier möglichen Evakuierungspunkten,
die sie für solche Notfälle festgelegt hatten. Er lag an der Nordostecke des
Platzes, in der Nähe der Basilius-Kathedrale, und ihrem jetzigen Standort
am nächsten.
Connor zwang sich, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Das
Schlimmste wäre, jetzt durchzudrehen und nur noch blind dem eigenen
Instinkt zu folgen. Während des gesamten Bodyguard-Trainings war ihm
unablässig eingebläut worden, wie wichtig A-C-E, Assess, Counter, Escape,
war.
Die Bedrohungslage einschätzen. Der Gefahr begegnen. Aus der
Gefahrenzone fliehen. Immer in genau dieser Reihenfolge.
Wenn sie einfach losliefen, ohne zuerst die Bedrohung richtig analysiert
zu haben, würden sie womöglich dem Angreifer direkt vor die
Gewehrmündung laufen.
Connor blickte sich nach dem Heckenschützen um, während er
gleichzeitig Feliks schützte. Ringsum herrschte das reinste Chaos. Die
Leute flohen in Panik in alle möglichen Richtungen, rutschten auf der
kompakten Schneedecke aus, schlitterten über den Boden. Alle versuchten
verzweifelt, zu fliehen. Es war leichter, jemanden zu entdecken, der sich
nicht bewegte.
Die junge Frau mit der dunklen Bobfrisur hatte sich in eine dunkle Ecke
der Marktbude gerettet, in der die Schals verkauft wurden. Doch jetzt hielt
sie keinen Schal mehr in der Hand, sondern eine halbautomatische Pistole
… aber sie zielte damit nicht auf die drei Jungen, die neben der Teebude
lagen. Und auch nicht auf den toten Lazar. Stattdessen zuckte ihr Blick über
den Platz; offenbar suchte auch sie nach dem Schützen, wahrscheinlich lag
ihr mehr daran, sich selbst zu schützen, als die drei Jungen anzugreifen.
Connor wurde klar, dass sie die FSB-Agentin sein musste. Er hätte sich
selbst ohrfeigen können, weil er die ganze Zeit angenommen hatte, der
Agent müsse ein Mann sein.
Der graue Mann jedoch war nirgends zu sehen.
»Der Schütze ist irgendwo in der Menge«, sagte Connor zu Jason.
»Suche nach einem Mann, mittelgroß, mit grauen Augen und …«
»Nein, es ist ein Scharfschütze!«, unterbrach ihn Jason.
»Aber ich habe definitiv einen Verdächtigen gesehen!«, widersprach
Connor.
»Kann sein, aber ich habe etwas auf dem Dach dort drüben aufblitzen
sehen, und im selben Moment wurde Lazar erschossen!«, sagte Jason
beharrlich und deutete auf das GUM-Kaufhaus. »So einen Schuss schafft
nur ein Scharfschütze mit einem Zielfernrohr.«
»Ob es ein Scharfschütze ist oder nicht, wir bieten ihm hier jedenfalls
eine Zielscheibe«, sagte Connor hastig. Er konnte kaum fassen, dass sie
sich hier stritten, während jemand versuchte, sie abzuknallen.
»Feliks hat einen Blackout«, sagte Jason und deutete auf den
benommenen Jungen, der blicklos ins Leere starrte. »Schockreaktion.«
»Dann müssen wir ihn eben zum Treffpunkt schleppen.«
»Ja, aber wie bleiben wir dann aus der Schusslinie?«, fragte Jason, ohne
das Kaufhausdach aus den Augen zu lassen. »Von dort oben kann uns der
Typ jederzeit abschießen.«
Oder hier unten der graue Mann, dachte Connor.
»Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver«, sagte Connor und schaute
sich um. Sein Blick blieb an dem großen Bronze-Samowar auf dem
Verkaufstresen der Bude hängen.
Vorsichtig kroch er zur Vorderseite der Teebude, sodass Feliks jetzt
nicht mehr voll gedeckt wurde. Jason zischte wütend: »Spinnst du? Was
machst du denn?«
»Der Gefahr begegnen«, antwortete Connor. »Wir können den Feind
nicht sehen, aber was ist, wenn auch er uns nicht sehen kann?«
Er stieß den Samowar vom Tresen. Das große Metallgerät krachte auf
den Boden und ergoss sein heißes Wasser in einem Schwall über den
Schneeboden. Große Dampfwolken stiegen auf.
»Los! Lauf!«, befahl Connor, zog Feliks am anderen Arm hoch und
zerrte ihn zusammen mit Jason durch die Dampfwolke davon.
KAPITEL 41

Jason nahm keinerlei Rücksicht, als er sich zwischen den Festbesuchern


hindurchdrängte und jeden grob zur Seite stieß, der ihm in den Weg geriet.
Connor folgte dichtauf, drängte den immer noch benommenen Feliks
unablässig, schneller zu laufen, und schützte den Jungen, so gut es ging.
Inzwischen hatte sich der Dampf wieder aufgelöst und die drei Jungen
waren dem mysteriösen Scharfschützen ausgeliefert. Aber das allgemeine
Chaos und die Panik, die sich immer weiter ausbreiteten, wirkten sich zu
ihren Gunsten aus, sodass sie die Nordostecke des Platzes erreichten, ohne
erneut beschossen worden zu sein.
Sie gingen hinter einer weiteren Marktbude in Deckung. Timur wartete
im Mercedes am Straßenrand und riss die Türen auf, sobald er sie
entdeckte. Connor scannte den Platz und die Umgebung. Sie würden
ungefähr fünfzehn Meter über die ungeschützte Fläche sprinten müssen, um
in den Schutz des gepanzerten Fahrzeugs zu gelangen. Dafür würden sie
ungefähr fünf bis zehn Sekunden brauchen – für einen Profikiller war das
mehr als genug Zeit, zu zielen und ein halbes Magazin zu verschießen.
»Jetzt oder nie«, sagte Jason und blickte nervös zum Dach des
Kaufhauses hinauf.
Connor konnte weder den grauen Mann noch den vermuteten
Scharfschützen entdecken. Aber das hieß nicht, dass der Killer sie nicht
beobachtete und nur darauf wartete, dass seine Zielperson aus der Deckung
kam. Doch dann entdeckte Connor die FSB-Agentin, die sich ebenfalls grob
durch die Menge drängte, die Pistole in die Luft gereckt, während sie
gleichzeitig hastig in ihr Funkgerät sprach. Sie hatten keine andere Wahl:
Sie mussten es riskieren.
Er nickte Jason knapp zu und die drei Jungen stürmten zum wartenden
Mercedes hinüber. Ihre Stiefel trampelten über den vom Schnee geräumten
Gehweg. Connor machte sich auf den tödlichen Einschlag gefasst, der ihn
oder Feliks auf den Boden schleudern würde.
Zehn Meter … fünf Meter … drei …
Jason sprang mit einem Satz auf den Rücksitz, dicht gefolgt von Feliks
und schließlich von Connor, der die Tür hinter sich zuknallte.
Mit durchdrehenden, jaulenden Reifen schoss der Mercedes davon.
»Dort ist Ana!«, brüllte Jason, als sie an einer Metrostation
vorbeirasten.
Connor erhaschte einen Blick auf das eisblonde Haar und den langen
schwarzen Geigenkasten, den sie auf dem Rücken trug. Dann war sie auch
schon verschwunden.
»Keine Angst«, sagte Connor, als er Jasons besorgte Miene sah. »Sie
scheint in die andere Richtung zu gehen, weg von der Gefahr.«
Polizeisirenen heulten überall in der Stadt und der Rote Platz wurde zur
Sperrzone. Timur bog so scharf nach rechts ab, dass die drei Jungen gegen
die linke Hintertür geworfen wurden. Der Bodyguard fuhr den Mercedes
wie ein Rennfahrer, rücksichtslos raste er über Bordsteinkanten, lenkte den
Wagen wie in einem irren Slalomlauf zwischen den geparkten Fahrzeugen
hindurch und bretterte in der falschen Richtung durch Einbahnstraßen.
Connor und Jason schnallten Feliks an, dann sich selbst.
»Wo ist Lazar?«, knurrte Timur mit zusammengebissenen Zähnen, sein
Gesicht in äußerster Konzentration verzerrt.
Connor fing seinen Blick im Rückspiegel auf. »Er hat es nicht
geschafft«, sagte er tonlos.
Timur hieb mit der Faust auf das Lenkrad und stieß eine Serie von
Flüchen auf Russisch aus. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. Seine
Stimme klang wütender als je zuvor.
»Ein Profikiller«, sagte Connor. »Ein Schütze irgendwo in der Menge
…«
»Ein Scharfschütze!«, korrigierte ihn Jason.
Connor wollte sich darüber nicht mit Jason streiten. Der Bodyguard
fluchte noch einmal wütend. Es war wohl auch besser, alle Optionen offen
zu halten, bis sie mehr wussten. Connor war klar, dass es tatsächlich mehr
als nur ein Schütze gewesen sein konnte.
Da Feliks nun fest angeschnallt war, nahm Connor das Erste-Hilfe-Pack
aus dem Rucksack und machte sich daran, die immer noch blutende Wunde
an Feliks’ Kopf so gut wie möglich zu versorgen.
»Connor, ich muss zugeben, das war eine verdammt schnelle
Reaktion«, sagte Jason und reichte ihm eine Mullbinde. »Die Idee mit der
Dampfwolke war genial!«
»Danke.« Connor verzog den Mund zu einem halben Grinsen. »Du
warst auch gut, wie du die Leute aus dem Weg gefegt hast. Vielleicht wird
aus uns doch noch ein gutes Team!«
»Krieg dich nur wieder ein, sonst verliebst du dich noch in mich«, sagte
Jason, aber Connor sah, dass auch sein Partner grinste. War das endlich der
Durchbruch in ihrer schwierigen Beziehung?
»Mach dir keine Hoffnungen«, antwortete Connor, während er die
Binde um Feliks’ Kopf sicherte. Er fragte den Jungen, ob es ihm wieder
besser ging.
Feliks nickte mit weit aufgerissenen Augen, offenbar immer noch
geschockt. Connor nahm das Smartphone heraus und rief das Buddyguard-
Hauptquartier an, um Bericht zu erstatten. Der Angriff würde
wahrscheinlich schon jetzt in den Feeds der internationalen
Sicherheitskanäle erscheinen und er wollte Charley mitteilen, dass sie alle
drei in Sicherheit waren und die Todeszone hinter sich gelassen hatten.
»Noch ein Hagelsturm!«, informierte er Charley. »Anschlagsversuch.
Kleiner Bär in Sicherheit, aber Alpha BG gefallen. Jason glaubt, dass es ein
Scharfschütze war, aber ich habe auch einen verdächtigen Schützen in der
Menge gesehen.«
»Konntest du den Schützen identifizieren?«, wollte Charley wissen.
»Nein, aber ich könnte schwören, dass ich ihn schon einmal irgendwo
gesehen habe.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Ja … mittelgroß, mit auffallend grauer Gesichtshaut und …« Connor
runzelte die Stirn. Schon verblasste die Erinnerung an die Gesichtszüge des
mysteriösen Fremden wieder, wie Sand, der durch die Finger rann. »Tut mir
leid, ich kann mich an keine Einzelheiten mehr erinnern. Es war sowieso
die reinste Hölle.«
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Charley. »Amir sagt mir gerade, deine
Kontaktlinse hätte wahrscheinlich die letzte Stunde automatisch
aufgezeichnet. Er wird das Video auf unseren Server hochladen und
versuchen, den Mann zu identifizieren, den du meinst.«
»Aber woher will Amir wissen, welchen Mann ich meine?«
»Er sagt, die Kamera fokussiert immer genau auf die Stelle, die du
anschaust. Wir sollten also genau sehen können, wen du meinst. Ich rufe
dich wieder an, falls uns das Programm einen Treffer meldet.«
Inzwischen waren sie vor dem Tor der Villa angekommen, das sich
bereits geöffnet hatte, sodass Timur ohne zu bremsen hindurchrasen konnte.
»Wir sind jetzt wieder in der Höhle«, sagte Connor.
»Gott sei Dank!«, seufzte Charley erleichtert. »Pass auf dich auf,
Connor.« Sie beendete das Gespräch.
Als der Wagen neben dem Marmorbrunnen anhielt, erwartete sie eine
Überraschung.
»Papa!«, rief Feliks, der plötzlich aus seiner Benommenheit
aufgeschreckt war und aus dem Wagen sprang.
Viktor Malkow kam die letzten Stufen herab und zog seinen Sohn an
sich. Der Milliardär wirkte abgemagert und gestresst; die Zeit im Gefängnis
hatte ihm offenbar sehr zugesetzt. Aber er wirkte auch entschlossener als je
zuvor. Er blickte zum Auto hinüber, aus dem Timur und die beiden Jungen
gerade ausstiegen.
»Lazar?«, fragte er.
Timur schüttelte nur stumm den Kopf.
Eine düstere Wolke schien über Viktors Stirn zu ziehen. »Dafür wird die
Bratwa teuer bezahlen müssen«, verkündete er drohend.
KAPITEL 42

Roman Simonowitsch Gurow, Direktor des gefürchteten Geheimdienstes


FSB, trat in die Kathedrale, schlug das Kreuzzeichen und ging andächtig
auf die hoch und mächtig aufragende Ikonostase zu, der vergoldeten Wand
mit den Ikonen der Heiligen, die wie eine Schar heiliger Ritter zwischen
dem Kirchenschiff und dem Altarraum emporragte. Seine Assistentin blieb
dicht hinter ihm; ihre High Heels hallten hart wie Pistolenschüsse vom
gefliesten Boden wider, als sie zwischen den steinernen Säulen des
Glaubens hindurchschritten und sich dem Mann näherten, der schweigend
vor den heiligen Türen der Ikonostase stand. Er hielt die Hände vor der
Brust gefaltet, den Kopf wie im Gebet gesenkt und stand so vollkommen
still wie die Ikonen, die er anzubeten schien. Schließlich bekreuzigte er sich
und ging zu einem mit Sand gefüllten Ständer mit Kerzen, deren Flammen
wie sterbende Seelen im düsteren Licht der Kathedrale flackerten.
Der Pakhan und seine Assistentin nahmen jeweils eine der dünnen,
langen Bienenwachskerzen, die an einem Verkaufsstand lagen, und warfen
eine Münze in den Kassenschlitz. Sie zündeten die Kerzen an einem
Kronleuchter an, der neben der Sandurne stand. Der delikate Duft von
süßem Honig breitete sich in der kühlen Luft aus.
»Ein Mordanschlag, mitten auf dem Roten Platz!«, zischte der Mann
scharf und wütend, als sie zu ihm traten. »Bist du denn völlig verrückt
geworden?«
»Das waren nicht wir«, verteidigte sich Roman steif.
Der Mann warf ihm einen scharfen Blick zu. In seinen dunklen Pupillen
spiegelte sich ein Dutzend Kerzenflammen. »Du meinst … es gibt da noch
einen weiteren Mitspieler?«
Roman nickte.
»Wer?«
»Wir versuchen gerade, das herauszufinden«, gestand Roman.
»Unsere Beobachter auf dem Platz berichteten, die Schüsse seien von
einem Scharfschützen abgefeuert worden«, antwortete Nika an Stelle ihres
Chefs. »Es hätte also ein Einzelgänger sein können. Aber der Anschlag war
so sorgfältig geplant, dass wir etwas anderes vermuten. Der Killer musste
schon vorab alles genau in Erfahrung gebracht haben – Ort, Zeit, günstige
Schusspositionen, Fluchtrouten und so weiter … alles Anzeichen für einen
Profijob.«
»Aber der Anschlag lief trotzdem schief«, stellte ihr Gesprächspartner
fest.
»Das ist eine Vermutung«, antwortete Nika.
Der andere hob verwundert die Augenbrauen. »Wollen Sie etwa
behaupten, dass der Junge gar nicht das Ziel war?«
Nika zuckte nichtssagend die Schultern. »Die ganzen Umstände und die
Vorplanung deuten darauf hin, dass der Killer ein sehr guter Schütze war.
Die Schüsse wurden aus einer Entfernung von über zweihundert Metern
abgegeben, der Seitenwind war gut berechenbar. Aber der Bodyguard Lazar
wurde direkt in den Hals getroffen, dann ins Herz. Beide Schüsse mit
äußerster Treffsicherheit.«
Der andere schürzte die dünnen Lippen. »Aber der Bodyguard
beschützte doch den Jungen! Hat die Kugeln für ihn eingefangen.«
»Das dachten wir zuerst auch«, sagte Roman.
»Das lag nahe«, stimmte Nika ihrem Boss zu. »In diesem Fall hätte der
Junge schier unglaubliches Glück gehabt. Aber unser Beobachter bemerkte
etwas Interessantes, nämlich Feliks’ zwei Cousins. Sie könnten der
wirkliche Grund sein, warum der Junge noch lebt.«
Der Mann schaute Nika fragend an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Es könnte auch reiner Überlebensinstinkt gewesen sein, aber die
beiden Jungen gaben Feliks Körperschutz und evakuierten ihn aus der
Gefahrenzone. Unser Beobachter behauptet, sie hätten das vollkommen
professionell gemacht.«
Roman und sein Kamerad schauten sich düster an.
»Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass sich diese Cousins
einmischen«, stellte der graue Mann mit einem stahlharten, schneidenden
Unterton fest. »Du musst herausfinden, wer sie wirklich sind.«
»Bin bereits dabei«, versicherte ihm Roman. »Und ich habe meinen
Leuten auch befohlen, diesen mysteriösen Scharfschützen aufzuspüren.
Gefällt mir nicht, dass uns da einer dazwischenfunkt.«
»Und was ist mit dem Schwarzen König? Wie kommt es, dass er wieder
freigelassen wurde?«
Roman biss die Zähne zusammen. Mit mühsam unterdrückter Wut stieß
er hervor: »Er ließ ein ganzes Bataillon von Anwälten aufmarschieren,
außerdem mischte noch irgendein einflussreicher Unterstützer mit, der uns
unbekannt ist. Sie zogen alle möglichen Fäden, es gab Drohungen, sogar
tätliche Übergriffe! Der Schwarze König kämpft keineswegs allein!«
Der Kamerad trat einen Schritt zurück, sodass sein Gesicht nun halb im
Schatten lag, und starrte zum Fresko eines längst verblichenen Märtyrers
empor. »Du … du vermutest also doch, dass die Amerikaner
dahinterstecken könnten?«
Roman schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ihr Stil. Sie würden sich
nicht die Hände schmutzig machen. Aber trotzdem – es weist alle
Anzeichen einer Einmischung aus dem Ausland auf.«
Jetzt starrte sein Kamerad Roman direkt in die Augen. »Muss ich mir
Sorgen machen? Gerät die Situation allmählich außer Kontrolle?«
»Nein!«, gab Roman mit fester Stimme zurück. »Ich werde meinem
Agenten befehlen, den Schwarzen König aus dem Spiel zu nehmen.«
»Ich frage mich aber immer noch, ob das der beste Schachzug ist«, sagt
der andere stirnrunzelnd.
Ein grausames Lächeln glitt über Romans Gesicht. »War es nicht Stalin,
der den bemerkenswerten Satz prägte: Der Tod löst alle Probleme – kein
Mann, kein Problem.«
Sein Kamerad stimmte mit einem kaum merklichen Nicken zu. »Und
was ist mit dem Jungen?«
»Der ist in unserem Spiel nur ein Bauer«, antwortete Roman. »Wir
lassen ihn noch im Spiel. Aber nicht mehr lange.«
KAPITEL 43

»Ich habe mir solche Sorgen um euch gemacht«, rief Anastasia, als die drei
Jungen in den Gemeinschaftsraum kamen.
»War nicht nötig«, sagte Jason und warf sich in die Brust. »Ich hatte
alles im Griff.«
Anastasia warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, umarmte aber Feliks.
»Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt.
Connor musste sich zusammenreißen, um nicht loszulachen, als er
Jasons belämmerte Miene sah. Feliks nickte; dass Ana ihm so offen ihre
Zuneigung zeigte, hatte er nicht erwartet. Sein blasses Gesicht lief rot an.
»Der Rote Platz war gesperrt, als ich ankam«, erklärte sie. »Alles war
das totale Chaos. Polizei überall. Sie behaupteten, es sei ein Terroranschlag
gewesen.«
»Nein, es war ein Mordanschlag«, berichtigte Connor sie. »Und zwar
auf Feliks.«
Anastasia schlug die Hand vor den Mund. »Oh, mein …«
»Alles okay«, versicherte ihr Feliks. »Mein Bodyguard hat die Kugel
für mich eingefangen.«
Anastasia sank auf einen Stuhl. »Das … das klingt furchtbar! Und
Lazar … ist er … tot?«
Feliks nickte nur. »Er wurde erst in den Hals getroffen. Dann direkt ins
Herz. Blut überall. War wie ein Horrorfilm.«
»Oh, das … das tut mir leid«, murmelte Anastasia und legte ihm die
Hand auf den Arm. »Es muss furchtbar für dich sein.«
Feliks zuckte gleichgültig die Schultern. »War sein Job. Er wusste,
worauf er sich einließ.«
Connor und Jason sahen sich betroffen und fassungslos an. Aber
eigentlich waren sie nicht besonders überrascht; Feliks mangelte es völlig
an Mitgefühl für andere Menschen. Dass Lazar sein Leben geopfert hatte,
bedeutete ihm nichts; für diesen Dienst wurde er schließlich bezahlt. Aber
Connor fragte sich, warum er sein eigenes Leben für jemanden aufs Spiel
setzen sollte, dem dieses Opfer so wenig bedeutete.
»Aber wie bist du entkommen?«, fragte Anastasia.
»Connor und Ja-«, begann Feliks.
»Wir hatten einfach nur Glück, glaube ich«, fiel ihm Connor schnell ins
Wort, bevor er zu viel verraten konnte. »Der andere Bodyguard, Timur,
stand mit dem Auto ganz in der Nähe. Wir konnten uns ins Auto retten.«
Anastasia seufzte. »Na, ich bin jedenfalls heilfroh, dass euch nichts
passiert ist«, sagte sie, wobei ihr Blick kurz an Jason haften blieb. Doch
dann wandte sie sich wieder an Feliks und lachte unsicher. »Wir haben wohl
nicht viel Glück mit unseren Dates, wie? Und es war wirklich schade, dass
sie dann denn Roten Platz dicht machten. Ich hätte gern die Eisskulpturen
gesehen.«
Feliks fischte sein Smartphone heraus. »Ich habe ein paar gute Fotos
vom Eisdrachen gemacht, bevor er zerschossen wurde«, sagte er eifrig und
wischte mit dem Daumen durch seine Fotogalerie.
Anastasia rückte nahe an ihn heran. »Wow! Der ist ja wirklich riesig!«,
rief sie.
Während Feliks und Anastasia, die Köpfe eng beieinander, die Fotos
durchschauten, vibrierte Connors Smartphone. Er warf einen Blick auf das
Display. »Bin gleich wieder da«, sagte er und ging in den Flur hinaus, wo er
sich in eine stille Ecke stellte. »Hey, Charley! Alles okay bei dir?«
»Amir hat deinen Verdächtigen auf dem Kontaktlinsenvideo
herausgefiltert«, antwortete sie. »Ich schicke dir das Foto aufs Smartphone.
Ist er das?«
Connor lud das Foto herunter. Es zeigte einen Mann mit hagerem,
bleichem Gesicht. Er sah absolut unauffällig aus – wenn da nicht seine
stahlgrauen Augen gewesen wären, die Connor sofort erkannte und die ihm
einen Schauder über den Rücken jagten.
»Das ist er«, bestätigte er. »Wer ist der Mann?«
»Das ist das Problem«, sagte Charley. »Wir haben keine Ahnung. Er
taucht nirgendwo auf – in keiner Verbrecherdatenbank, weder bei der
Polizei, noch beim MI5, beim CIA, bei Interpol … nichts, absolut nichts. Er
scheint nirgendwo erfasst zu sein. Oder seine Daten wurden gelöscht.«
Connor runzelte die Stirn. »Ist das überhaupt möglich?«
»Amir meint, es sei denkbar. Aber dafür braucht man Rückendeckung
von ganz oben, von der Regierungsebene, sagt er. Das ist eher
unwahrscheinlich. Außerdem ist auf Jasons Video tatsächlich ein Aufblitzen
auf dem Dach des Kaufhauses GUM zu sehen, und das bestätigt seine
Vermutung, dass dort oben ein Scharfschütze stand.«
Connor verzog das Gesicht: Jason hatte offensichtlich recht gehabt.
»Dann war dieser Mann keine Bedrohung?« Connor fragte sich aber,
warum er sich keineswegs erleichtert fühlte.
Charley schwieg ein paar Augenblicke, dann fragte sie: »Was sagt dir
dein Bauchgefühl?«
Connor musste keine Sekunde überlegen. »Er ist gefährlich.«
»Wenn du ihn noch einmal zu sehen bekommst, musst du ihn als Gefahr
einstufen«, sagte sie. Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie sich
Sorgen machte. »Amir hat den Verdächtigen in das
Gesichtserkennungsprogramm deiner Kontaktlinse hochgeladen. Wir
können nur hoffen, dass es nie rot aufleuchtet.«
Connor schob das Smartphone wieder in die Tasche und ging in den
Aufenthaltsraum zurück. Jason und Anastasia saßen jetzt auf dem Sofa und
unterhielten sich angeregt. Als Connor herüberkam, stand Anastasia auf.
»Ich wollte uns gerade was zu trinken holen«, sagte sie mit einer
Kopfbewegung zum Getränkeautomaten in der Ecke. »Soll ich dir auch
etwas mitbringen?«
»Nein, danke«, sagte Connor abwesend, der den grauen Mann einfach
nicht aus seinen Gedanken vertreiben konnte. Er blickte sich kurz um, dann
fragte er Jason: »Wo ist Feliks?«
Jason zuckte die Schultern, ohne den Blick von Anastasia abzuwenden,
die gerade am Automaten ihr Getränk wählte. »Auf der Toilette«,
antwortete er beiläufig.
»Und du bist nicht mit ihm gegangen?«, fragte Connor scharf.
Jason warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Hey, Mann, ich bin
vielleicht sein Bodyguard, aber ich halte ihm beim Pissen nicht den
Pimmel!«
Connor starrte ihn fassungslos an. »Nach dem, was auf dem Roten Platz
abging, sollten wir Feliks keine Sekunde lang aus den Augen lassen!«
Jason wischte seine Besorgnis mit einer Handbewegung beiseite.
»Krieg dich wieder ein, Connor! Wir sind hier in der Schule. Das ist eine
Sicherheitszone!«
Connor unterdrückte mühsam den Drang, seinen Partner anzubrüllen.
Er konnte es nicht fassen, dass Jason lieber Anastasia anbaggerte, als sich
um Feliks zu kümmern. Er würde mit Jason ein sehr ernstes Wort reden
müssen. Vielleicht wurde es jetzt Zeit, den Colonel einzuschalten – aber
nicht jetzt. Zuerst musste er sich vergewissern, dass mit Feliks alles in
Ordnung war. »Und was ist mit Stas und Vadik?«
Jason deutete zum Fenster hinaus. »Ich hab sie vor ein paar Minuten
draußen im Park gesehen. Meilenweit von Feliks entfernt.«
Tatsächlich tummelten sich viele Schüler draußen im Park, die sich im
tiefen Schnee voller Begeisterung eine Schneeballschlacht lieferten. Connor
entdeckte ein paar von Stas’ Bande, aber weder Stas selbst noch Vadik.
»Und wo sind sie jetzt?«, fragte er scharf.
Jason zuckte genervt die Schultern. »Keine Ahnung! Bauen vielleicht
einen Schneemann? Hör mal, Feliks wird in einer Minute zurück sein, dann
wirst du dich hoffentlich wieder abregen!«
»Alles okay bei euch?«, fragte Anastasia und reichte Jason eine kleine
Flasche Apfelsaft.
»Ja, sicher, wie zwei Hähne im Korb!«, witzelte Jason.
Connor verdrehte die Augen und ging rasch hinaus. Der Toilettenblock
lag nur ein paar Meter entfernt, und als er darauf zuging, hoffte er inständig,
dass Jason recht hatte – und dass er selbst sich zu viele Sorgen machte. Er
wusste, welche Sicherheitsmaßnahmen auf dem Schulgelände herrschten,
und von Stas und Vadik abgesehen, hatte er hier auch noch nie irgendeine
Bedrohung bemerkt. Wenn Connors Schützling nicht mal mehr allein auf
die Toilette gehen konnte, würde das bedeuten, sie besuchten hier eine
wirklich gefährliche Schule.
Er trat in den Vorraum der Jungentoilette und rief: »Feliks?«
Seine Stimme hallte zwischen den gekachelten Wänden. Niemand
antwortete.
Connor überprüfte sämtliche Kabinen: alle waren leer.
Hatte er Feliks draußen im Flur übersehen? Und wenn ja, wohin war er
gegangen? Connor verfluchte Jason innerlich, weil er den Jungen aus den
Augen gelassen hatte.
Gerade als er wieder in den Flur trat, entdeckte er Feliks’ Smartphone
auf dem Boden. Das Display war zerbrochen.
KAPITEL 44

Feliks war von dem Überfall kalt erwischt worden, genau in dem
Augenblick, als er am Urinal stand. Sie hatten ihm einen Plastiksack über
den Kopf gezogen und seinen Kopf so heftig gegen die Wand gestoßen,
dass ihm die Knie weich wurden und er sich momentan nicht mehr zur
Wehr setzen konnte. Es hätte ihm auch gar nichts genutzt. In Sekunden
hatten sie seine Hände mit starken Kabelbindern gefesselt, ihn umstandslos
und ziemlich grob in eine riesige Reisetasche gestoßen und den
Reißverschluss zugezogen. Natürlich hatte er um Hilfe gerufen, nein:
geschrien, aber das hatte ihm nichts gebracht außer einem brutalen Kniestoß
gegen den Kopf. In der Dunkelheit hatte er buchstäblich Sterne gesehen und
starker Schwindel hatte eingesetzt. Blut lief ihm aus der Nase und
verkrustete sich, aber es lief ihm auch in den Rachenraum und in die Kehle,
sodass er husten und spucken musste. Er spürte, wie er angehoben wurde;
die Tasche schwang hin und her; offenbar schleppten sie ihn aus dem
Toilettenraum und den Flur entlang. Er hörte die Stimmen anderer Schüler,
die verlockend dicht vorbeigingen, trotzdem wagte er es nicht mehr, noch
einmal um Hilfe zu rufen. Türen knarrten beim Öffnen, ein eiskalter
Luftstrom, weit unter dem Gefrierpunkt, drang in sein kleines Gefängnis …
Inzwischen völlig orientierungslos, spürte Feliks, wie er in der Tasche
durch den kalten Schnee geschleppt wurde. Panik packte ihn, aber
gleichzeitig stieg auch rot glühende Wut in ihm hoch. Wo waren Jason und
Connor, wenn er sie brauchte? Warum machten sie nicht ihren Job? Genau
vor solchen Überfällen sollten sie ihn doch bewahren! Sogar für ihn
sterben!
Wieder wurde eine Tür geöffnet. Die Tasche schwang kurz zurück, dann
vorwärts … er stürzte eine Treppe hinunter. Unfähig, sich zu schützen,
schlug er mit Kopf, Schultern, Armen, Beinen, Rücken auf den harten
Kanten der Stufen auf, rollte weiter hinunter, ein Schmerz jagte den
anderen, bis er nach einer schieren Ewigkeit wie ein zerschlagener Haufen
aus Knochen und Blutergüssen am Fuß der Treppe liegen blieb.
Krank vor Schmerzen hört er, dass der Reißverschluss aufgezogen
wurde. Er wurde unsanft aus der Tasche gezerrt und auf einen Holzstuhl
gesetzt, auf dem er sich nur mühsam halten konnte. Die Fesseln an Armen
und Beinen wurden durchgeschnitten, dann neu an den Armlehnen und
Stuhlbeinen festgebunden.
Der Sack über dem Kopf wurde ihm nicht abgenommen. Blind schrie
er: »Wer … wer seid ihr?«
Niemand antwortete. Aber er hörte seine Angreifer im Raum
umhergehen – und dann hörte er ein seltsames Surren, irgendein Gerät, eine
Maschine.
»Was wollt ihr von mir?«
Feliks spürte kalten Stahl auf dem linken Handrücken. Es klickte, dann
drangen zwei scharfe Nadeln durch seine Haut. Er schrie auf vor Schock
und Schmerz.
»Gestehe!«, zischte eine Stimme.
»G-g-gestehen? Was?«, rief Feliks.
Blut rann aus den Einstichen. Dann wurden die Stahlnadeln auf die
andere Hand gesetzt, wieder klickte es, die Nadeln drangen ein … Feliks
schrie erneut auf.
»Gestehe!«
Feliks stöhnte. Vor Schmerzen drehte sich ihm der Magen um; er
würgte und hoffte, dass er sich nicht im Sack übergeben musste. Schweiß
rann ihm über die Stirn und in die Augen, er rang um Atem. »Bitte … ich
weiß nicht, was ihr von mir …«
Wieder die scharfen Einstiche, dieses Mal in den Unterarm. Und auf
jeden neuen Einstich folgte das schlangenartige Zischen.
»Gestehe, Verräter!«
Feliks schrie vor Schmerzen und Entsetzen, als ihm die Nadeln in den
Hals gestoßen wurden.
KAPITEL 45

Connor stürmte in den Aufenthaltsraum zurück. »Feliks ist verschwunden!«


Jason fuhr erschrocken herum, Schock, gefolgt von Unglauben, flog
über sein Gesicht. »Im Ernst?«
»Ich glaube, er ist entführt worden.«
Jason runzelte zweifelnd die Stirn. »Das ist jetzt nicht wieder eine
deiner Überreaktionen, wie?«
»Das nennst du eine Überreaktion?«, fauchte Connor wütend und hielt
ihm Feliks’ zerbrochenes Smartphone vors Gesicht.
Jetzt endlich begriff Jason den Ernst der Lage; er sprang mit wildem
Fluchen auf.
»Was ist mit Feliks?«, fragte Anastasia und stellte ihre Coladose weg.
»Keine Ahnung«, antwortete Connor knapp und stürzte zur Tür, dicht
gefolgt von Jason. »Wir müssen ihn finden, so schnell wie möglich.«
Anastasia rannte ihnen nach. »Ich helfe euch.«
»Brauchst du nicht – wir kriegen das allein hin«, sagte Jason schnell.
Connor war klar, dass Jason nur verhindern wollte, dass ihre Deckung
als Bodyguards aufflog, aber jetzt war es wichtiger, Feliks zu finden. »Noch
ein Paar Augen mehr können nicht schaden«, sagte er.
Jason nickte nur.
»Wir fangen bei der Toilette an«, befahl Connor.
Rasch durchsuchten sie den Raum und sämtliche Kabinen, fanden aber
keine weiteren Spuren. Die Fenster waren zu klein, um hinauszusteigen,
außerdem waren sie verschlossen. Die Tür war der einzige Ausgang.
»Okay. Feliks kann nur in zwei Richtungen verschwunden sein«, sagte
Connor und blickte in beiden Richtungen den Flur entlang. Schüler
schlenderten vorbei, jeden Augenblick würde der Gong das Ende der
Mittagspause verkünden.
»Ich gehe nach rechts«, sagte Jason, »du nach links.«
Jason trabte davon, Anastasia folgte ihm dichtauf. Unterwegs fragten
sie die Schüler, ob sie Feliks gesehen hätten. Connor lief in der anderen
Richtung den Flur entlang, die am Aufenthaltsraum vorbeiführte. Aber hätte
er Feliks nicht begegnen müssen, als er hier auf dem Flur stand und
telefonierte? Aber er hatte mit dem Rücken zur Toilette gestanden. Es war
ziemlich unwahrscheinlich, dass …
»Hey, Connor!«
Er wirbelte herum. Anastasia winkte ihn zu sich.
»Habt ihr ihn gefunden?«, rief er, während er zu ihr rannte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber schau dir das hier an.«
Sie deutete auf die Notausgangstür, die nur ein paar Schritte von der
Toilettentür entfernt war. Die Tür war nicht völlig geschlossen; frischer
Schneestaub war hereingewirbelt und schmolz dicht an dem schmalen
Spalt. »Schüler dürfen den Notausgang nicht benutzen«, sagte sie.
»Sie ist besser als Scheiß-Sherlock!«, sagte Jason, als sie die Tür
aufstießen.
»Gut beobachtet«, nickte Connor beeindruckt. Anastasia hatte erneut
bewiesen, dass sie einen guten Buddyguard abgeben würde.
Draußen vor der Tür war der Schnee zertrampelt, aber aus dem Gewirr
direkt an der Tür führten dann zwei klare Spuren vom Gebäude weg.
Zwischen ihnen verlief eine breitere, tiefe Schleifspur wie die einer riesigen
Schlange – als ob zwei Personen jemanden durch den Schnee geschleppt
hätten.
»Kommt, schnell«, sagte Connor. Trotz der eisigen Kälte nahm er sich
nicht die Zeit, seine Jacke zu holen. Er folgte den Spuren.
Sie überquerten den Sportplatz. Jason flüsterte Connor zu: »Tut mir
leid, Connor, ich hätte …«
»Zu spät für Entschuldigungen«, unterbrach ihn Connor. »Jetzt müssen
wir ihn erst mal finden.«
»Aber was ist, wenn die Spur nirgendwohin führt?«, fragte Anastasia.
»Vielleicht habe ich mich getäuscht?«
»Dann gehen wir wieder zurück und suchen in der Schule weiter«,
antwortete Connor. »Ein Zimmer nach dem anderen.«
Die Spur führte sie geradewegs zu einem der Nebengebäude, in denen
die Heizungsanlage und sonstigen Versorgungseinrichtungen untergebracht
waren. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie, dass die Spuren vor einer
alten rostigen Metalltür endeten. Und von dort hörten sie einen gequälten
Aufschrei.
KAPITEL 46

»Mach ihn stumm!«, befahl eine mürrische Stimme. »Ich will nicht, dass
ihn die ganze Schule hört.«
Der Sack wurde Feliks vom Kopf gerissen. Er blinzelte ins Halbdunkel,
blickte sich verängstigt um. Der Raum war feucht und roch abgestanden,
der schwere Gestank von Ölruß hing in der Luft. Die Wände waren mit
Schmierstoffen, Farbspritzern und Dreck übersät und in einer Ecke ratterte
und rasselte ein uralter Werkstattboiler. Das einzige Fenster war winzig, die
Scheibe völlig verdreckt und ließ nur einen schwachen, armseligen
Sonnenstrahl durch, der direkt auf Feliks fiel.
Als er um Hilfe schreien wollte, wurde ihm ein nach Öl schmeckender
alter Lappen als Knebel in den Mund gesteckt.
»Gut. Das reicht wohl für diese Heulsuse.«
Zwar hatte Feliks seine Kidnapper noch nicht zu sehen bekommen, aber
jetzt fiel sein Blick auf einen schweren elektrischen Tacker, den einer von
ihnen in der Hand hielt. Und die silbern glitzernden Metallklammern auf
seinen Händen und am Arm sahen aus wie kleine Ausrufezeigen, umgeben
von Blut, das auf den Boden tropfte.
»Gestehe, Verräter!«, knurrte die Stimme erneut.
Mit dem Sack über dem Kopf hatte er die Stimme nicht sehr deutlich
hören können, aber jetzt erkannte er sie sofort: Stas!
Seine Folterer traten endlich aus dem Schatten. Vadik stellte sich rechts
neben Stas; er hielt den Tacker wie eine Automatikpistole in der Hand.
Alexei, Zak und Gleb lümmelten ringsum, wie Vampire, gierig nach dem
Blut ihres Opfers.
»Mach schon!«, befahl Stas.
Mit einem sadistischen Grinsen drückte Vadik den Tacker seitlich an
Feliks Hals und drückte ab.
Feliks riss vor Schmerz die Augen auf. Die starken Klammern fühlten
sich wie glühende Nadeln an, die ihm in die Haut getrieben wurden. Er
stieß einen gewaltigen Schrei aus, der aber durch den Knebel gedämpft
wurde.
»GESTEHE!«, wiederholte Stas. Das Wort dröhnte immer wieder wie
ein Hammerschlag durch seinen Kopf.
Feliks versuchte, etwas zu sagen, aber er brachte nur ein armseliges
Wimmern zustande.
Stas grinste amüsiert und riss ihm den Knebel aus dem Mund. »Na, bist
du jetzt so weit? Gestehst du endlich?«
»Wa-wa-was soll ich denn gestehen?«, stotterte Feliks mühsam.
»Boris’ Unfall«, sagte Stas. »Wir wissen natürlich, dass er gestoßen
wurde. Und wir wissen auch, wer das arrangiert hat.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du …«
Stas rammte ihm wieder den Knebel in den Mund und Vadik hob den
Tacker.
»Eine Klammer ins Auge«, befahl Stas.
Vadik zögerte und schaute ihn betroffen an. »Bist du sicher …?«
»Mach einfach, was ich sage!«
Vadik zuckte die Schultern und hob den Tacker.
»He, warte! Gehst du da nicht zu weit, Stas?«, fragte Gleb. Er und
Alexei hatten mit zunehmender Unruhe verfolgt, wie das Verhör immer
brutaler wurde.
Stas starrte ihn wütend an. »Muss ich dich daran erinnern, dass Boris
immer noch mit einem Gipsbein herumhumpelt?«, blaffte er Gleb an.
»Bevor diese elende Ratte nicht zugegeben hat, dass er daran schuld ist,
hören wir nicht auf! Und dann wird die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen
und wir werden ihn für sein Verbrechen richtig bestrafen.«
Vadik trat dicht an Feliks heran, der sich voller Entsetzen auf seinem
Stuhl aufbäumte, den Kopf wild hin und her warf, um aus der Reichweite
der Pistole zu kommen.
»Gleb, halte seinen Kopf fest«, befahl Stas. Und als sich Gleb nicht
rührte, bellte er: »Sofort!«
Zögernd trat Gleb hinter den Stuhl und hielt Feliks’ Kopf mit beiden
Händen fest. Aber er schaffte es nicht allein; Alexei musste ihm helfen.
Als sich die dunkle Öffnung der Tackermündung seinen Augen immer
weiter näherte, presste Feliks die Augen zu. Er schrie durch den Knebel,
bäumte sich auf, versuchte, sich zu wehren, hoffte wider alle Hoffnung,
dass sie es doch nicht tun würden.
Dann spürte er Finger, die sein linkes Augenlid hochschoben. Und
wusste, sie würden es tun.
KAPITEL 47

»Er ist im Boilerraum!«, sagte Connor, rannte zur Tür und versuchte, sie
aufzureißen.
Aber die Metalltür gab nicht nach.
Durch die Tür hörte er eine Stimme, die er nur zu gut kannte. »Deine
letzte Chance: GESTEHE!«
Connor kauerte sich vor ein kleines, verdrecktes Fenster auf Kniehöhe.
Undeutlich konnte er Stas ausmachen, der sich über eine armselige Gestalt
beugte – Feliks, blutverschmiert und an einen Stuhl gefesselt. Und Vadik
hielt irgendein Gerät an Feliks’ rechtes Auge.
»Sie foltern ihn!«, rief Anastasia entsetzt. »Ihr müsst sie aufhalten!«
Jason warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Connor sah,
dass Feliks verzweifelt zu reden versuchte; Stas zog ihm den Knebel aus
dem Mund.
»Okay, okay, ich gebe es zu!«, stieß Feliks mühsam hervor. »Ich hab
meinem Bodyguard Timur gesagt, er soll Boris ein bisschen bearbeiten …
dafür, dass er mich im Club so behandelt hat. Er hat es verdient!«
Stas verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust. »Und du,
Feliks, verdienst eine kleine Gesichtskorrektur. Vadik, tackere ihm die
Ohren an den Kopf!«
Zusammen warfen sich Connor und Jason mit aller Wucht gegen die
Tür. Tatsächlich gab sie ein klein wenig nach. Noch einmal schmissen sie
sich dagegen und die Tür flog auf. Sie stürmten hinein.
»HALT!«, brüllte Connor, als Vadik den Tacker auf Feliks’ Ohr drückte.
Vadik blickte auf und grinste spöttisch. »Schau mal, deine Schutzengel
sind da. Zu spät, Feliks.«
Der Tacker klackte und schoss eine Metallklammer durch Feliks’
rechtes Ohrläppchen, sodass es direkt an den Kopf getackert wurde. Feliks
stieß einen Schmerzensschrei aus.
Jason war inzwischen die Treppe hinuntergesprungen und griff Vadik
wie bei einem Rugbyspiel an. Beide stürzten, der Tacker schlitterte quer
über den Betonboden. Connor, der Jason dichtauf gefolgt war, rannte zum
Stuhl, um Feliks zu schützen.
Aber Alexei, der Schlägertyp mit dem Wuschelkopf, stellte sich ihm
entgegen. Er hatte blitzschnell ein kurzes Stahlrohr aus einem
Werkzeugkasten gerissen und schwang es direkt auf Connors Kopf. Connor
konnte dem Schlag nur knapp entgehen und musste zurückweichen, als
Alexei erneut zuschlug.
Anastasia rannte zu Feliks, um ihn zu befreien, aber der Muskelberg
Gleb packte sie von hinten um die Hüfte und hob sie vom Boden hoch. Sie
kickte wild um sich, konnte sich aber nicht aus seinem eisernen Griff
befreien. Jason und Vadik wälzten sich in wildem Ringkampf auf dem
Boden. Aber Vadik schaffte es, Jason unter sich zu drücken und hämmerte
mit der Faust auf sein Gesicht ein.
»Höchste Zeit, dir die Nase zu brechen!«, fauchte er.
Stas stand nur da und verfolgte die Kämpfe mit erbarmungsloser
Schadenfreude. »Nur kein Mitleid, Jungs. Diese Typen sind genauso
schuldig wie der Verräter hier.«
Zur Betonung hieb Stas dem gefesselten Feliks die Faust in den Magen.
Feliks klappte auf dem Stuhl zusammen. Mit wild aufgerissenen Augen
musste er keuchend mitansehen, wie seine Retter zu Brei verarbeitet
wurden.
Connor wurde von Alexei in die Ecke getrieben; er wünschte, er hätte
die XT mitgenommen. Aber sie lag immer noch in seinem Rucksack im
Aufenthaltsraum. Er musste einen schweren Schlag gegen den linken Arm
einstecken; der Schmerz schoss wie der Stromschlag eines Tasers durch
seinen Körper. Dann holte Alexei zu einem finalen Hieb gegen Connors
Kopf aus. Connor riss den anderen Arm hoch, um sich zu schützen und
machte sich auf einen gebrochenen Arm gefasst. Aber der Schlag traf eines
der rostigen Rohre, die an der Decke entlangliefen, und ein Geysir von
brennend heißem Dampf schoss heraus.
Alexei wurde für einen Sekundenbruchteil abgelenkt, als er dem Dampf
auswich; Connor nutzte die Gelegenheit und rammte ihm die Schulter in
den Bauch. Der Junge stieß einen Schmerzensschrei aus und Connor stieß
ihn gegen den Boiler. Dann, als stünde er wieder zu Hause im Kickboxring,
schmetterte ihm Connor die Faust mit einem wütenden Aufwärtshaken
gegen das Kinn. Alexeis Kopf wurde brutal zurückgeschleudert, er
verdrehte die Augen und brach zusammen. Das Rohr klapperte über den
Boden und rollte unter den Boiler.
Connor wirbelte herum, um den anderen zu helfen. Durch den Dampf
sah er, dass Jason immer noch in einem wütenden Kampf mit Vadik
verwickelt war. Jasons Unterlippe war aufgeplatzt, er blutete aus der Nase
und sein linkes Auge war angeschwollen, aber es war ihm trotzdem
gelungen, sich aus der Rückenlage zu winden. Gleb hatte Anastasia
hochgehoben und drückte sie mit aller Kraft gegen den eigenen Körper,
sodass ihr der Atem ausging. Aber sie wehrte sich immer noch. Mit aller
Kraft stieß sie den Kopf zurück und traf Glebs Nasenrücken. Der Schlag
war so heftig, dass Gleb rückwärts taumelte und instinktiv den Griff um
ihre Hüfte lockerte. Sie wand sich aus seinen Armen, wirbelte herum und
kickte ihn mit einem perfekten Roundhouse-Tritt in den Schenkel.
Connor sah, dass Anastasia wohl auch allein mit Gleb fertig werden
würde. Er lief zu Feliks, um ihn zu befreien, aber Stas stellte sich ihm
entgegen.
»Aus dem Weg!«, warnte ihn Connor.
»Lass dich nie mit einem Russen ein«, antwortete Stas. Wie aus dem
Nichts schoss seine Hand mit einem Springmesser vor. Die Klinge schnitt
durch die Luft, die Spitze blitzte im schwachen Sonnenlicht auf.
Connor sprang zurück; die Klinge fuhr über seine Brust. Sie war so
scharf, dass sie sauber durch sein Schul-T-Shirt schnitt … aber das
stichfeste Material des T-Shirts, das er darunter trug, verhinderte, dass sie
noch tiefer eindringen konnte. Stas stieß erneut zu. Dieses Mal traf das
Messer Connors linken Unterarm. Dort konnte ihn das Shirt nicht schützen,
sodass die Messerspitze seine Haut ritzte. Aber Connor spürte kaum einen
Schmerz, weil sein Arm von dem Schlag mit dem Rohr noch halb betäubt
war. Blut rann aus der Wunde.
Stas rückte heran, die Klinge wie den Stachel eines Skorpions erhoben.
Gegen ein Messer kann man sich nicht verteidigen. Einen Messerangriff
muss man überleben. Die Warnung seines Trainers zuckte Connor durch
den Kopf, als er dem nächsten Messerstoß auswich und darunter
wegtauchte, um der tödlichen Klinge zu entgehen.
Packen. Schlagen. Unterwerfen.
Stas ließ sofort einen geraden Stoß gegen Connors Magen folgen, aber
Connor wich blitzschnell zur Seite und packte den ausgestreckten Arm. Er
drehte sich in Stas’ Körper hinein, ohne den Arm loszulassen, nahm ihn in
einen Armhebel und verrenkte Stas’ Ellbogen. Stas musste das Messer
fallen lassen. Aber damit war er noch nicht besiegt. In einem wilden
Ringkampf versuchten beide, die Oberhand zu gewinnen, und wirbelten
durch den Raum, krachten gegen den Boiler, gegen die Rohre, gegen die
Wand. Stas war stark und Connor verlor ihn rasch aus dem Griff. Nach dem
Kampf gegen Gleb und mit einem verletzten Arm standen seine Chancen
schlecht. Als sie von einer Wand zurückprallten und unter dem
beschädigten Rohr weiterkämpften, aus dem immer noch der Dampf
zischte, stieß Connor mit letzter Kraft Stas’ Hand nach oben, in den heißen
Dampfstrahl. Stas schrie auf. Connor versetzte ihm einen Ellbogenhieb
gegen das Kinn. Stas stürzte benommen zu Boden und hielt sich die
versengte Hand.
Packen. Schlagen. Unterwerfen!
Anastasia hatte inzwischen Gleb ausgeschaltet. Sie hatte ihn gegen die
Wand gedrängt und trieb ihm gnadenlos die Handknöchel in die Halsgrube,
bis er sie anflehte aufzuhören. Connor musste unwillkürlich grinsen: Sie
hatte sich einen besonders schmerzhaften kyusho-Vitalpunkt ausgesucht!
Das Mädchen war wirklich super im Kampfsport! Mittlerweile hatte es
auch Jason geschafft, Vadik in einen Unterarmwürgegriff zu nehmen, bis
der Junge bewusstlos zusammensackte.
Hart um Atem ringend, kam Jason zu Connor herüber, der keuchend
mitten im Raum stand. Der Keller sah aus wie ein Schlachtfeld, bewusstlose
oder benommene Jungen lagen überall herum.
»Okay?«, fragte Jason knapp mit einer Kopfbewegung in Richtung
Connors Arm.
Connor warf einen Blick auf die Wunde. Sie war nicht sehr tief, aber
der Schmerz stechend. »Wird bald wieder«, sagte Connor. »Und bei dir?«
Jason leckte das Blut von der Unterlippe, fasste sich vorsichtig an die
Nase und tastete das geschwollene Auge ab. »Hübsche Kriegswunden,
denke ich.«
»Hey – würde mich jemand vielleicht mal losbinden?«, beklagte sich
Feliks.
Connor hob Stas’ Springmesser auf und schnitt Feliks’ Fesseln durch.
»Alles okay bei dir?«, fragte er und half ihm beim Aufstehen.
Feliks schüttelte Connors Hand ab, ging zu Stas und kickte ihm in den
Unterleib. Stöhnend rollte sich Stas in Embryohaltung zusammen, aber
Feliks kickte ihn noch einmal und hob den Tacker vom Boden auf. »Haltet
ihn fest«, befahl Feliks, den Mund zu einem sadistischen Grinsen verzogen.
»Mal sehen, wie es ihm gefällt, wenn er selbst getackert wird!«
Connor schüttelte den Kopf. »Nein, Feliks! Natürlich bist du wütend,
das verstehe ich. Aber so kannst du den Streit nicht beilegen!«
»Kann sein, aber ich fühle mich dann besser«, sagte Feliks, presste Stas
den Tacker an die Stirn und drückte ab.
Stas heulte auf vor Schmerzen. Blut quoll aus den zwei kleinen
Punktwunden. Aber Feliks war noch nicht mit ihm fertig. Er packte Stas am
Haar und drückte ihm den Tacker an die Lippen. »Und jetzt schließen wir
seine große Klappe!«
Gerade als Connor Feliks daran hindern wollte, donnerte eine wütende
Stimme durch den Raum. »Was zum Teufel ist hier los?«
Connor drehte sich um. Oben an der Treppe stand der Hausmeister in
seinem ölverschmierten Overall mit wutverzerrtem Gesicht.
KAPITEL 48

Stas starrte auf das Bärenfell zu seinen Füßen. Die beiden Tackerwunden an
seiner Stirn waren stumme Zeugen seiner bitteren Schande. Sein Vater saß
steif in einem schweren Ledersessel im eichengetäfelten Arbeitszimmer; er
hielt die Armlehnen so fest gepackt, dass die Knöchel weiß hervortraten
und man glauben konnte, er wolle sie wegreißen.
»Es … es tut mir leid, Pa-«
»Sprich lauter!«
»Es tut mir leid, Papa, aber es war nicht meine Schuld. Wir wollten …«
Ein brutaler Schlag ins Gesicht schnitt ihm das Wort ab. Sein Vater war
aufgesprungen; er bebte vor Wut. »Ich kann deine faulen Ausreden nicht
mehr hören!«, blaffte er seinen Sohn mit vor Wut blitzenden Augen an.
»Suspendiert! Vielleicht fliegst du sogar von der Schule! Vom Sohn des
Direktors des FSB wird etwas anderes erwartet!«
Stas’ Wange brannte wie Feuer. Er ließ den Kopf hängen, schluckte hart
und bemühte sich verzweifelt, die Tränen zurückzudrängen. Er wusste aus
bitterer Erfahrung, dass es ihm nichts nutzen würde, wenn er zu weinen
anfing. Ganz im Gegenteil: Das würde ihm nur noch weitere Prügel
einbringen. So sehr Stas seinen Vater bewunderte, wusste er doch, dass er
sich vor dem Mann in Acht nehmen musste. Einer, der eher strafte als lobte.
Schließlich hatte er seinen Sohn nur allzu oft daran erinnert, dass er wohl
kaum an die Spitze des gefürchteten Geheimdienstes FSB hätte aufsteigen
können, wenn er ein Weichei gewesen wäre.
»Ich habe dir einen ganz einfachen Auftrag gegeben«, sagte sein Vater
mit gefährlich tonloser Stimme. »Wie kommt es, dass du versagt hast?«
Stas blickte auf, Wut und Trotz im Gesicht. »Ich habe alles getan, was
du mir befohlen hast. Ich habe Feliks schikaniert, Gerüchte über ihn
verbreitet, ihn vor der ganzen Schule lächerlich gemacht, ihn sogar
gefoltert! Der Junge war fix und fertig!«
»Das meine ich nicht!«, sagte sein Vater verächtlich. »Dein größter
Fehler war, dass du dich hast erwischen lassen.«
Er schüttelte enttäuscht und verbittert den Kopf. »Wenn du in meine
Fußstapfen treten willst, musst du lernen, deine Spuren besser zu
verwischen. Jetzt muss ich hinter dir aufräumen! Muss unseren Namen
wieder reinwaschen und dafür sorgen, dass man uns nicht mit dem Debakel
in Verbindung bringen kann.«
Stas hielt seinem wütenden Blick stand. »Wir wären nicht erwischt
worden, wenn diese blöden Cousins nicht aufgetaucht wären!«
Sein Vater runzelte die Stirn. »Seine Cousins?«
Stas nickte. »Die beiden Typen sind bestimmt Kampfsportler, sogar das
Mädchen. Wir hatten keine Chance.«
Sein Vater hatte sich inzwischen wieder gesetzt. Jetzt beugte er sich
interessiert vor. »Erzähle mir alles, was du über diese sogenannten Cousins
weißt.«
Stas wollte gerade sämtliche Beobachtungen aufzählen, die er in den
letzten Tagen gemacht hatte, als seine Mutter das Arbeitszimmer betrat.
Eine kleine, füllige Frau mit braunen Locken, das genaue Gegenteil ihres
Mannes – warm, freundlich, gütig.
»Stas, mein Junge, das Abendessen ist fertig«, sagte sie mit fröhlichem
Lächeln, das aber rasch verflog, als sie Stas gerötete Wange sah. Sie wandte
sich zu ihrem Mann um. Aber nach jahrelanger Ehe mit ihm wusste sie,
dass sie sich in solche Dinge nicht einmischen durfte. »Kommst du auch
zum Essen?«
Stas’ Vater nickte nur knapp.
»Das ist eine schöne Abwechslung«, sagte sie betont fröhlich. Aber Stas
wusste genau, was sie damit meinte. Sein Vater verbrachte allzu viele
Nächte außerhalb des Hauses.
»Übrigens, dein Büro hat angerufen«, fügte seine Mutter hinzu, als sie
Stas mit sich zum Esszimmer zog. »Deine Assistentin sagt, ein Bankier sei
tot im Chimki-Wald aufgefunden worden. Ermordet. Ein FSB-Agent sei
bereits auf dem Weg, um die Sache zu untersuchen. Deine Assistentin
glaubt, die Bratwa stecke dahinter.«
Stas’ Vater konnte einen Fluch nicht ganz unterdrücken. »Das hat mir
gerade noch gefehlt, ausgerechnet jetzt, wenn morgen Viktor Malkows
Kundgebung stattfindet!«
Seine Frau schüttelte mitfühlend den Kopf. »Die Bratwa macht es dir
wirklich nicht leicht, mein Lieber.«
Stas` Vater stand auf. »Ach, das würde ich so nicht sagen, aber ich muss
mich jetzt gleich um die Angelegenheit kümmern.«
»Was, jetzt?«, rief Stas’ Mutter. »Aber das Abendessen …«
Er seufzte müde. »Du hast recht. Der tote Bankier läuft mir nicht mehr
davon. Der kann auch bis morgen früh warten.«
KAPITEL 49

»Schaut euch nur die Menschenmenge an!« Feliks deutete begeistert auf die
riesige Masse von Menschen, die sich zur Kundgebung auf dem
Triumfalnaja-Platz im Zentrum Moskaus versammelt hatten, zu der
Malkows Unser Russland aufgerufen hatte. »Alle wollen meinen Vater
sprechen hören!«
Das war das erste Mal seit dem Kampf im Heizkeller gestern, dass
Connor bei Feliks wieder ein echtes Lächeln zu sehen bekam. Vielleicht
sogar das erste Mal überhaupt, seit ihre Mission begonnen hatte. Stas und
Vadik hatten Feliks erniedrigt und gefoltert und ihn in einen Abgrund der
Verzweiflung gestürzt; der Junge brauchte dringend eine Aufmunterung.
Und die ganze Angelegenheit war sogar noch schlimmer geworden, weil
die Schule jeden Beteiligten suspendiert hatte, bis die Sache genau
untersucht worden war – und so lange hing die Möglichkeit, dass alle vier
von der Schule fliegen könnten, wie ein Damoklesschwert über ihren
Köpfen – und das galt auch für Stas und seine Bande.
Aber in diesem Augenblick schien die brutale Schlacht im Heizkeller
Welten entfernt zu sein. Die Menge jubelte, und es war deutlich zu sehen,
dass Feliks nicht nur stolz auf seinen Vater war, sondern sich auch selbst in
dessen Popularität sonnte. Auch wenn ihnen allen die harten Andenken an
den Kampf noch deutlich anzusehen waren. Wundpflaster bedeckten die
roten Punkte an Feliks’ Hals, Ohren und Händen. Und obwohl Jason Glück
gehabt und ihm nicht die Nase gebrochen worden war, sah er aus, als sei er
in einen Autounfall verwickelt gewesen. Ein dickes blaues Auge,
aufgeschwollene Lippen, ein großer Bluterguss an der Wange. Connors
linker Arm war bandagiert worden; der Messerstich war zwar nur
oberflächlich gewesen, schmerzte aber höllisch. Anastasia war noch am
besten davongekommen; sie hatte nur ein paar Prellungen an den Rippen,
was für sie wohl weniger schlimm war, als die Aussicht, von der Schule zu
fliegen.
Sie standen an der Seite der Rednertribüne, von einem
Lautsprecherturm gedeckt. Vor ihnen erstreckte sich ein Meer von
Gesichtern, überall wurden kleine Flaggen geschwenkt, die Menge füllte
den Platz und quoll bis in die Seitenstraßen. Der Platz wurde von der
großen Statue des berühmten sowjetischen Dichters Wladimir
Wladimirowitsch Majakowski beherrscht. An der hinteren Seite des Platzes
ragte der im wuchtigen Zuckerbäckerstil errichtete sandsteinfarbene Turm
des Hotels Peking mit seinem neugotischen Glockenturmaufsatz empor.
Connors Blick glitt über die Menge. Die FSB-Agentin mit der dunklen
Bobfrisur hatte er sofort entdeckt, obwohl sie sich Mühe gab, möglichst
unauffällig mit der Menge der Malkow-Anhänger zu verschmelzen. Aber
Connor achtete darauf, ihr nicht zu zeigen, dass er sie erkannt hatte, um den
kleinen Vorteil nicht zu verlieren, den er damit ihr gegenüber besaß. Doch
die anderen Umstehenden schienen echte Anhänger von Unser Russland zu
sein. Starke Polizeieinheiten waren aufmarschiert, die den Platz ringsum
sicherten, während die Tribüne von Malkows eigenen Sicherheitsleuten
bewacht wurde. Viktor mochte zwar das eigentliche Ziel möglicher
Angriffe sein, aber Connor wusste, dass auch Feliks einem großen Risiko
ausgesetzt war – schließlich hatte es schon zwei Anschläge auf ihn
gegeben, der Entführungsversuch auf der Schlittschuhbahn und der
Mordanschlag auf dem Roten Platz. Es wäre weitaus sicherer gewesen,
wenn er zu Hause in der Villa geblieben wäre, aber das war für Feliks nicht
in Frage gekommen. Auf gar keinen Fall wollte er die Kundgebung seines
Vaters verpassen.
Timur hielt sich dicht neben ihm, eine MP9 unter dem Mantel. Jason
war ebenfalls in höchster Alarmbereitschaft, offenbar hatte er gestern seine
Lektion gelernt. Er hatte sich nicht einmal geweigert, als ihm Connor auf
dem Weg zur Tribüne den Platz an der Spitze der Sicherheitsformation
zugewiesen hatte. Tatsächlich befolgte Jason jetzt jeden Befehl ohne die
geringste Widerrede. In ihrem Bericht an das Buddyguard-Hauptquartier
hatte Connor Jasons Fehler, Feliks aus den Augen zu lassen, nicht erwähnt,
wofür ihm Jason sehr dankbar war. Er wusste, dass er die Sache vergeigt
hatte, und war erleichtert, dass Connor ihn deckte.
»Ich wünschte, meine Eltern könnten das hier sehen«, sagte Anastasia,
während sie sich staunend umblickte. »So viele Leute, die etwas gegen die
Korruption tun wollen!«
»Und noch viel mehr sehen es im Fernsehen«, meinte Feliks.
»Nur, wenn das Staatsfernsehen die Bilder nicht zensiert«, sagte sein
Vater mit leicht bitterem Lächeln. »Aber selbst wenn sie das tun, werden
unsere Anhänger dafür sorgen, dass alle von der Kundgebung erfahren.«
Viktor legte seinem Sohn den Arm um die Schultern. Offensichtlich
genoss er die vielen Menschen, die jetzt anfingen, seinen Namen in den
Winterhimmel zu skandieren. »Nur darum geht es, Feliks. Den Leuten den
Gedanken an Freiheit einzupflanzen. Die Saat mit Worten zu wässern,
damit sie keimen kann. Und damit daraus eines Tages eine große und
mächtige Blume wächst.«
Viktor schaute Feliks tief in die Augen. »Und wenn ich erst einmal an
der Macht bin, wird es niemand mehr wagen, dich auch nur anzufassen.
Nicht einmal der Sohn des FSB-Direktors!«
Feliks schaute voller Ehrfurcht und Bewunderung zu seinem Vater auf.
Dimitri kam herbeigeeilt. »Wir sind soweit«, informierte er Viktor. »Es
kann losgehen. Aber ich habe immer noch Bedenken.«
Viktor lächelte. »Worüber machst du dir Sorgen, mein Freund? Schau
dir doch nur an, wie viel Unterstützung wir bekommen! Heute ist ein
Wendepunkt in der russischen Geschichte.«
»Natürlich möchte auch ich Geschichte schreiben, aber nicht auf Kosten
deines Lebens«, sagte Dimitri düster.
Viktor runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
Dimitri blickte kurz zu Timur hinüber, dann senkte er die Stimme.
»Ohne Lazar als Leiter des Teams ist eure Sicherheitslage nicht mehr so
gut, wie ich sie gerne hätte.«
Viktor legte seinem Assistenten beruhigend die Hand auf die Schulter
und flüsterte zurück. »Hör mal, Lazar war für mich wie ein Bruder. Seit ich
meine politische Karriere begonnen habe, damals in Salsk, war er an meiner
Seite. Aber er würde ganz bestimmt nicht wollen, dass ich jetzt klein
beigebe und mich zurückziehe. Timur ist vielleicht nicht so unschlagbar wie
er, aber er ist loyal. Und vergiss nicht: Unser Unterstützer hat uns eine
Garantie gegeben.«
Dimitri seufzte. »Mag sein. Aber wir haben nicht alle Ecken und
Winkel überprüfen können.« Er schaute Viktor scharf an. »Die Behörden
haben unserem Sicherheitsteam den Zutritt zu bestimmten Gebäuden hier
am Platz nicht gestattet. Sie behaupteten, nur die Polizei hätte die Befugnis,
Hausdurchsuchungen durchzuführen. Aber ich halte das für ein faules
Spiel.«
Viktor blickte über den Platz und zu den Fensterreihen empor, die auf
den Platz hinausgingen. Hinter jedem Fenster konnte sich ein Scharfschütze
verbergen. »Das Risiko ist mir völlig bewusst. Das war schon immer so.
Rings um die Tribüne stehen unsere eigenen Sicherheitsleute, denen ich
vollkommen vertraue. Und ich trage wie immer eine schusssichere Weste.
Und schau dir doch nur einmal die Polizeipräsenz hier an«, fügte er hinzu
und deutete auf die Reihen der Uniformierten, die rings um den Platz
standen. »Kein Mensch würde so verrückt sein, heute einen Anschlag zu
versuchen.«
»Kann sein. Aber die Polizisten sind nicht hier, um dich zu
beschützen«, widersprach Dimitri. »Sie sind hier, um die Kundgebung
auseinanderzutreiben.«
»Dann sollte ich mit meiner Rede beginnen, bevor sie das tun können.«
KAPITEL 50

Auf dem kirchturmähnlichen Aufsatz, der das Hotel Peking zierte, hatte der
Scharfschütze aus luftiger Höhe ungehinderten Blick über den gesamten
Triumfalnaja-Platz. Weit unter ihm wogte die Menschenmenge wie Wellen
eines aufgewühlten Meeres hin und her. Unser Russland, jene Bewegung,
die Viktor Malkow ins Leben gerufen hatte, gewann immer mehr Anhänger;
heute hatten sie sich zu Tausenden versammelt, um ihren Anführer zu sehen
und ihrer Wut auf die derzeitige Regierung Ausdruck zu verleihen. Die dem
Hotel gegenüberliegenden Seite des Platzes beherbergte die Tribüne, wie
ein Rettungsboot ragte sie aus dem Meer von kleinen Fähnchen heraus, die
begeisterte Menschen schwenkten. Doch immer noch war die Bühne leer;
dort wartete nur ein Mikrofon auf Viktor Malkows Erscheinen.
Das Scharfschützengewehr war zusammengebaut und einsatzbereit. Ein
volles Magazin steckte in der Halterung, eine Patrone in der Kammer. Das
Zielfernrohr war präzise montiert. Nicht nur die Anhänger und das einsame
Mikrofon, sondern auch der Mörder wartete auf Viktor Malkow.
Ständig auf die Windgeschwindigkeit und -richtung achtend, fokussierte
der Scharfschütze das Zielfernrohr auf den Mikrofonständer. Selbst auf
diese Entfernung, ungefähr hundertfünfzig Meter, würde es ein Kinderspiel
sein, den Ständer mit einem einzigen Schuss umzuwerfen.
Wenn er es auf den abgesehen hätte.
Und dann betrat das eigentliche Ziel die Bühne.
Die Menge brach in unbändigen Jubel aus, Pfiffe, Hochrufe, Geschrei
erfüllte den Platz, als Viktor Malkow beide Fäuste zu einem
herausfordernden Gruß in die Höhe reckte. Die Beschallungsanlage ließ ein
schrilles Rückkoppelungspfeifen hören, als er an das Mikrofon trat, das
aber sofort wieder verstummte. Seine Stimme hallte über den Platz.
»Seit über einem halben Jahrhundert gilt dieser Platz als Symbol des
Widerstands«, verkündete Malkow. »Von den verbotenen Dichterlesungen
in den sechziger Jahren bis zu den antikommunistischen Kundgebungen in
den Achtzigern und den Strategie-31-Demonstrationen im vergangenen
Jahrzehnt. Und heute füllt sich der Platz erneut, denn nun stehen wir hier
und bringen unseren Protest zum Ausdruck! Damit sich endlich etwas
ändert! Damit Russland wieder Unser Russland wird!«
Die Menge brach in Beifall aus.
»Die Stimme des Volkes will wieder gehört werden! Und sie wird
gehört werden!«
Noch mehr Beifall und zustimmende Rufe echoten von den
umstehenden Gebäuden.
»Unser Protest wird sich in einen reißenden Strom verwandeln und die
Säulen der Lüge und der Korruption mit sich reißen!«
Nun verwandelte sich der Platz wieder in ein Meer von Fähnchen, die
geschwenkt wurden, und zustimmendes Gebrüll brandete hoch wie eine
Woge und gegen die Dachbrüstung, wo der Scharfschütze lauerte.
Viktor wartete, bis wieder Ruhe eintrat, dann fuhr er in ruhigerem,
ernstem Ton fort: »Der Fisch stinkt immer vom Kopf her«, erklärte er. »Und
der Kopf unserer Mutter Russland ist von Maden verseucht. Die Bratwa hat
unsere Regierung befallen wie die Pest, sie nährt sich von unserer Arbeit,
wird immer fetter und fetter …«
Im Ohrstöpsel des Scharfschützen knackte es. »Jetzt! Erschießen Sie
den Schwarzen König!«
Ein letztes Mal kontrollierte der Schütze die Windgeschwindigkeit,
zwang sich zu ruhigem Atmen und richtete die feinen Linien des
Fadenkreuzes auf sein Ziel. Es würde ein Kopfschuss sein müssen. Der
Attentäter war gewarnt worden, dass sein Ziel eine schusssichere Weste
trug.
Viktor Malkows Gesicht erschien scharf und klar im Zielfernrohr, die
Augen genau auf der waagrechten Linie des Fadenkreuzes.
Der Attentäter legte den Finger auf den Abzug: Jetzt war nur noch ein
leichtes Drücken erforderlich.
Dreimal atmete er ein und aus. In der kurzen Stille nach dem letzten
Ausatmen würde er abdrücken.
Drei … zwei …
Der Scharfschütze spürte die harte, kalte Mündung eines Gewehrs an
seinem Hinterkopf.
KAPITEL 51

»Wie heißt der Tote?«, fragte der FSB-Direktor und starrte in das flache
Grab. Der tiefe Schnee war weggeräumt worden; darunter war ein offenbar
hastig und unordentlich geschaufeltes Loch zum Vorschein gekommen, in
dem eine schon stark verweste Leiche lag. Anscheinend hatte eine
Spaziergängerin den Toten entdeckt, als ihr Hund auf der Jagd nach
Kaninchen die lockere Erde weggescharrt hatte.
Der FSB-Agent, ein eifriger junger Mann mit schwarzer Gelfrisur und
scharfen durchdringende Augen, blickte auf seinen Notizblock. »Nikolaj
Antonow. Ein Finanzmanager. Arbeitet bei der Vorstock-Bank. Seine Frau
hat ihn vor drei Wochen vermisst gemeldet.«
Er kniete neben dem Grab nieder und deutete auf die Handgelenke des
Toten, an denen die Haut aufgescheuert war. »Er war gefesselt. Und hier
und hier können Sie sehen …« – er wies auf Brandflecken an der Brust des
Mannes – »dass er gefoltert wurde, bevor man ihn« – jetzt zeigte er auf das
kleine, runde Loch in der Stirn – »hingerichtet hat.«
Der Agent stand wieder auf, offensichtlich sehr darauf bedacht, seinen
Boss zu beeindrucken, und fuhr mit dem Bericht fort: »Meine ersten
Ermittlungen haben ergeben, dass unser Opfer ein erfolgreicher Banker war,
dem man aber Verbindungen zur Bratwa nachsagte. Tatsächlich gibt es
einen starken Verdacht, dass er ihr wichtigster Geldwäscher war. Wenn Sie
erlauben, werde ich eine umfassende …«
»Begraben«, fiel ihm der FSB-Direktor brüsk ins Wort.
Der Agent runzelte die Stirn. »Sie meinen die … die Leiche?«
»Nein. Ich meine die ganze Ermittlung.«
»A-aber das hier dürfte die wichtigste Spur seit Jahren sein, die den
FSB endlich zur Bratwa führen könnte«, widersprach der Agent. »Dieser
Mann hier hatte womöglich direkten Kontakt zum Pakhan persönlich!
Vielleicht gibt uns das die Gelegenheit, endlich aufzudecken, wer der
Mafiaboss ist!«
Der FSB-Direktor starrte ihn durchdringend an. »Widersetzen Sie sich
einem direkten Befehl?«
Der Agent erstarrte förmlich. »N-nein, natürlich nicht, Herr Direktor!«
»Gut. Begraben Sie die ganze Sache«, befahl sein Vorgesetzter. Eine
junge rothaarige Frau kam herbei; ihre Lederstiefel sanken bei jedem
Schritt knirschend in den tiefen Schnee. Der Direktor drehte sich zu seiner
Assistentin um. »Was gibt’s?«
»Tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Roman Simonowitsch, aber
ich habe gerade eine wichtige Nachricht von der Malkow-Kundgebung
bekommen.«
Roman Gurow wies mit einem Kopfnicken zu seinem Auto und machte
sich auf den Rückweg. Die Assistentin folgte ihm. Nach ein paar Schritten
blickte er über die Schulter zu dem Agenten zurück, der seinem Team
gerade die Anweisung gab, die Leiche aus dem flachen Grab zu bergen.
»Versetzen Sie diesen Agenten auf einen abgelegenen Posten in Sibirien.«
»Sehr wohl, Roman Simonowitsch«, antwortete Nika mit dünnem
Lächeln. Der Agent tat ihr fast leid, schließlich konnte er nicht wissen, dass
der mächtige Direktor des FSB, Roman Gurow, zugleich auch der
unbarmherzige Führer der gefürchteten Bratwa war.
Roman fügte in wütendem Flüsterton hinzu: »Und bestrafen Sie den
Idioten, der für Nikolajs Tod verantwortlich ist. Ich habe doch ausdrücklich
befohlen, den Banker für immer verschwinden zu lassen. Ich kann nicht
zulassen, dass ständig wieder Leichen auftauchen und mir das Leben zur
Hölle machen! In meiner Position kann ich mir das wirklich nicht leisten!«
»Natürlich nicht«, sagte Nika steif. Als FSB-Direktor und Pakhan der
Moskauer Mafia bewegte sich ihr Boss auf einem schmalen Grat. Und
tatsächlich verschwammen manchmal die Grenzen zwischen seinen beiden
Funktionen. Nach außen erschienen der FSB und die Bratwa wie zwei
völlig verschiedene Organisationen: der FSB sollte für Recht, Ordnung und
Sicherheit sorgen; die Bratwa dagegen überzog das Land mit Verbrechen,
Terror und Chaos. Aber zwischen beiden Organisationen gab es zahlreiche
Verbindungen, eine Art geheime Blutsverwandtschaft. Nikas Boss hatte ein
gutes Dutzend FSB-Beamten rekrutiert, die im Interesse der Bratwa
operierten – und Nika selbst war seine erste und treueste Mitarbeiterin.
Als sie sich dem Wagen näherten, fragte Roman: »Sie haben also gute
Nachrichten für mich?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete Nika und blieb vor der Hecktür der
Limousine stehen. »Nachdem wir unserem Mann den Befehl zur Exekution
des Schwarzen Königs erteilt hatten, verloren wir plötzlich den
Funkkontakt zu ihm. Ich habe sofort einen Agenten zu seinem Standort
geschickt. Er hat unseren Mann tot aufgefunden, mit einer Kugel im
Hinterkopf.«
Romans Miene versteinerte. Aber er zuckte mit keiner Wimper. »Sie
wollen mir damit sagen, dass jemand ein Attentat auf unseren Attentäter
verübt hat?«
Nika schluckte, sie konnte förmlich spüren, wie die Wut in ihrem Chef
hochstieg. »Es scheint so.«
»Und was passiert jetzt gerade bei der Kundgebung?«
»Sie geht ungestört weiter. Malkow redet immer noch.«
Roman schlug so wütend mit der Faust auf das Autodach, dass eine
kleine Delle zurückblieb. »Er muss zum Schweigen gebracht werden! Tun
Sie alles, egal was, aber bringen Sie ihn zum Schweigen!«
KAPITEL 52

»Es ist besser, von der Wahrheit geschlagen, als von der Lüge geküsst zu
werden!«, erklärte Viktor Malkow der Menschenmenge. »Die Regierung ist
die Bratwa; die Bratwa ist die Regierung. Sie behaupten, unsere
wirtschaftlichen Probleme seien die Folge einer Einmischung aus dem
Ausland, aber die Wahrheit ist, dass sie, die Bratwa, unserer Mutter
Russland das Blut aussaugt!«
Wütendes Gebrüll schallte über den Triumfalnaja-Platz, doch es klang
leiser als zuvor. Als Viktor über die Bratwa sprach, schien ein Schatten über
die Menge zu fallen und ihren Jubel zu dämpfen. Connor spürte den
Stimmungswandel sofort und seine Alarmbereitschaft stieg um eine Stufe.
Feliks stand neben ihm; der Junge folgte gebannt jedem Wort seines Vaters.
Connor selbst hörte kaum zu. seine gesamte Aufmerksamkeit war auf das
wogende Menschenmeer und auf die Umgebung gerichtet. Unermüdlich
hielt er Ausschau nach Gefahren.
»Aber ich schwöre, dass ich für euch kämpfen werde, für das gute Volk
Russlands«, fuhr Viktor fort. »Wir werden das neue Russland erschaffen!
Unser Russland!«
Das Gebrüll war verstummt, jetzt waren wieder Jubel und Applaus zu
hören; die fröhliche Atmosphäre kehrte zurück.
Viktor packte das Mikrofon mit beiden Händen und rief: »Und deshalb
müssen wir unsere Meinung laut und deutlich sagen! Wählt den Wandel, die
Veränderung! Wählt Unser Russland!«
Der Jubel kannte schier keine Grenzen mehr. »MALKOW! MALKOW!
MALKOW!«, donnerten Viktors Anhänger, und die Rufe wurden so laut,
dass die Fenster in den umstehenden Gebäuden buchstäblich im Rahmen
klirrten. Und als ihr Anführer beide Fäuste zu seinem charakteristischen
Gruß hob, donnerte der Jubel wie der Lärm eines startenden Kampfjets zum
Himmel.
Connor war erleichtert, dass die Rede endlich zu Ende ging und sie
wieder in den sicheren Hafen der Villa zurückkehren konnten. Die Menge
war zu schier unglaublicher Größe angewachsen. Es schien, als sei die
halbe Stadt zusammengeströmt, um den Milliardär sprechen zu hören. Und
die ganze Zeit war Connor äußerst angespannt gewesen, jede Faser seines
Körpers schien darauf zu warten, dass Viktor oder Feliks in akute Gefahr
gerieten.
Doch als genau das geschah, kam es aus einer Richtung, die er niemals
erwartet hätte.
Ohne Vorwarnung, noch während Viktor seine abschließenden Sätze
sprach, rückten die Polizeikräfte vor und begannen, die Menge
auseinanderzutreiben. Obwohl die Versammlung vollkommen friedlich und
ihm Rahmen der Vorschriften verlaufen war, verhielt sich die Polizei so, als
müsse sie einen Aufstand niederschlagen. Schlagstöcke fuhren auf die
Versammlungsteilnehmer nieder; die Polizei feuerte Tränengas über die
Köpfe und das Gift breitete sich wie der Atem einer bösartigen Schlage in
Schwaden über dem Platz aus. Und als die Menschen vor den erstickenden
Dämpfen zurückwichen, wurden sie von den dicht stehenden Reihen der
Polizeischilde eingekesselt. Die Menschen schoben und drängten mit aller
Gewalt gegen die Schildreihen, wurden aber von den Polizisten
niedergeknüppelt.
Viktor brüllte ins Mikrofon, um beide Seiten zu beruhigen, aber die
Polizei schien andere Pläne zu haben. In Keilformationen drangen sie nun
in die Menge ein, provozierten sie, mit Gewalt zu reagieren, und
verhafteten alle, die sich dazu verleiten ließen.
Und eine Einheit schwer bewaffneter Polizisten marschierte direkt auf
die Bühne zu.
»Bring Viktor weg!«, brüllte Dimitri Timur zu.
Der gewaltige Bodyguard packte Viktor am Arm und zog ihn mit sich
von der Bühne und die wenigen Stufen hinunter. Dort schlossen sich ihnen
drei der Sicherheitsleute an, bildeten eine Schutzformation um den
Milliardär und machten sich eilig auf den Weg zum vereinbarten
Evakuierungspunkt. Dimitri folgte dichtauf. Connor und Jason packten
Feliks und zerrten ihn von der Bühne, Anastasia blieb dicht hinter ihnen.
Timur und seine Leute wirkten wie ein Eisbrecher, der sich durch die
Menge schob und geradewegs auf Viktors Limo und den begleitenden SUV
zusteuerte. Die beiden Fahrzeuge waren in einer nahen Seitenstraße
geparkt, die man vollkommen gesperrt hatte, um die Evakuierungsroute zur
großen Gartenringstraße offen zu halten. Aber Kundgebungsteilnehmer und
Polizisten drängten von allen Seiten heran, sodass Connor, Jason und Feliks
immer weiter zurückfielen. Connor blickte sich rasch um: auch die FSB-
Agentin folgte ihnen.
»Bleib dicht bei uns!«, brüllte Connor Anastasia zu, da er sie in dem
Gedränge nicht verlieren wollte. Er selbst, Jason und Feliks wurden wie
Bojen in stürmischer See hin und her gestoßen; den beiden Buddyguards
fiel es schwer, Feliks zwischen sich zu halten. So dicht drängten die
Menschen, dass die Jungen förmlich in dem Meer der Körper unterzugehen
schienen, und ein paar Mal wurde ihnen Feliks beinahe entrissen.
Gleichzeitig versuchten die Polizisten, ihr Netz um Viktor und seine
Männer immer enger zu ziehen.
Eine Tränengasgranate flog vorbei, beißender Rauch wallte durch die
Luft.
Feliks begann zu husten und Connors Augen tränten.
»Jason!«, schrie Anastasia, deren eisblonde Haare in den
Rauchschwaden fast nicht mehr zu sehen waren, während sie immer weiter
zurückfiel. Verzweifelt versuchte sie, wieder zu ihnen aufzuschließen, aber
die Menge verschluckte sie.
»Wir können sie nicht im Stich lassen!«, keuchte Jason, dem das
Tränengas schier die Kehle verbrannte.
So sehr es ihm auch widerstrebte, Connor musste ihn an ihre Aufgabe
erinnern. »Feliks hat Priorität!«
»Stimmt!«, krächzte Feliks durch einen heftigen Hustenanfall. Seine
Augen glänzten vor Angst und Tränen. »Ich bin eure Priorität!«
So viel Selbstsucht schockierte Connor. Er konnte es nicht fassen, dass
Feliks seine einzige Freundin, die gerade erst so mutig für ihn gekämpft
hatte, von einer Sekunde auf die andere im Stich ließ. Mit blutunterlaufenen
Augen schaute er zu Jason hinüber, der wütend und entsetzt zugleich
wirkte. Beiden war klar, was ihre Pflicht war: Feliks zu beschützen. Und
doch, nach allem, was sie gemeinsam mit Anastasia durchgestanden hatten,
war sie für Connor zu einer Kameradin geworden. Blitzschnell traf er eine
Entscheidung. »Ich kümmere mich um Feliks«, keuchte er. »Du holst
Anastasia.«
Jason nickte nur knapp und verschwand im Gedränge. Connor drängte
mit Feliks immer weiter voran. Das Tränengas zeigte nun Wirkung: Die
Menge begann sich zu zerstreuen, jedenfalls lockerte sich das Gedränge so
weit, dass sie wieder zur Gruppe um Viktor Malkow aufschließen konnten.
Aber jetzt konnten auch ein paar Polizisten zu ihnen durchdringen.
Ein Beamter mit Gasmaske packte Dimitri von hinten. Dann kamen
noch zwei weitere Polizisten hinzu und Timur als auch die übrigen
Leibwächter mussten den Berater im Stich lassen. Sie hatten ebenso ihre
Priorität: Viktor aus dem Gedränge hinauszuschaffen. Connor und Feliks –
die von den Polizisten nicht als Zielpersonen erkannt wurden – schafften es,
an der Polizistengruppe vorbeizuschlüpfen, die nun Dimitri gnadenlos mit
ihren Schlagstöcken niederknüppelte.
Der Rest der Polizeieinheit kämpfte sich durch die zurückweichende
Menge, um Viktor und seiner Leibwache den Fluchtweg zum Auto
abzuschneiden. Aber seine Anhänger erkannten die Gefahr, die ihrem
Führer drohte, und schlossen sich zu einer menschlichen Barrikade
zusammen, um den Vormarsch des Polizeitrupps zu blockieren.
Schlagstöcke prügelten auf die Menschen ein, noch dichtere
Tränengaswolken breiteten sich aus. Aber trotz aller Anstrengungen der
Polizei hielt die menschliche Schutzmauer gerade lange genug, bis Viktor
und sein Schutztrupp die Seitenstraße erreichen konnten. Connor und Feliks
waren nicht sehr weit hinter ihnen, während die FSB-Agentin im Gedränge
verschwunden war. Viktor und seine Leute stiegen über die Absperrung und
rannten auf die Limousine zu, die mit laufendem Motor wartete.
Timur stieß Viktor mit aller Gewalt auf den Rücksitz. Connor schubste
Feliks ebenfalls in das Auto und sprang hinterher. Timur sprang auf den
Beifahrersitz; die übrigen Leibwächter drängten sich in das
Begleitfahrzeug.
Keuchend und spuckend stieß Viktor hervor: »Wo ist Dimitri?«
»Er wurde verhaftet«, brachte Connor hustend hervor.
»Dagegen können wir nichts tun! Losfahren!«, bellte Timur den Fahrer
an.
»Noch nicht!«, brüllte Connor und blickte sich verzweifelt nach Jason
und Anastasia um. Auf der anderen Seite der Absperrung herrschte das
reinste Chaos. Der ganze Platz sah wie ein Schlachtfeld aus, Blut strömte
über viele Gesichter, Frauen und Kinder schrien, Menschen krümmten sich
hustend zusammen, immer wieder stiegen neue Rauchwolken wie
Bombenexplosionen hoch. Aber von Jason und Anastasia war nichts zu
sehen.
»TÜR ZU!«, schrie Timur.
»Nein, warten Sie – ich sehe Jason!«, rief Connor flehend, der in
diesem Augenblick Jason erblickt hatte. Sein Partner sprang mit einem Satz
über die Barriere und hetzte auf das Auto zu. Anastasia war dicht hinter
ihm.
Das Begleitfahrzeug hupte die Limo ungeduldig an, endlich
loszufahren. Timur brüllte den Fahrer noch einmal an, Gas zu geben. Aber
noch während sie losfuhren, hielt Connor die Tür geöffnet; er konnte nur
hoffen, dass es die beiden noch schafften. Aber inzwischen waren auch
mehrere Polizisten über die Absperrung gesprungen und feuerten
Warnschüsse ab. Jason rannte neben der offenen Autotür her, stieß
Anastasia hinein, sodass Connor sie am Arm packen und vollends
hineinziehen konnte. Dabei verlor sie ihre Tasche.
»Meine Tasche!«, schrie sie.
»Lass sie!«, brüllte Connor, während die Limo beschleunigte.
Aber mit einer blitzschnellen Bewegung schaffte Jason es, die schwarze
Tasche an sich zu reißen. Und mit allerletzter Kraft sprintete er neben dem
immer schneller werdenden Auto her.
»Komm schon, Jason!«, rief Connor, als weitere Schüsse krachten. Aber
Jasons Kräfte ließen nach, in der vom Tränengas geschwängerten Luft
konnte er kaum noch atmen. Schon fiel er zurück; er würde es nicht
schaffen.
Aber an der Einbiegung in die Ringstraße musste die Limousine ein
wenig abbremsen. Mit letzter Kraft hechtete Jason mit dem Kopf voraus in
die Limo.
KAPITEL 53

Wie ein schnittiger, stromlinienförmiger Panzer raste die schwarze


Limousine über die Gartenringstraße. Niemand versuchte, sie aufzuhalten.
Das Begleitfahrzeug folgte ihr dichtauf wie ein wachsamer Schutzengel. In
dem klimatisierten Auto löste sich die angespannte Stimmung ein wenig;
Viktor fing an zu lachen, noch immer heiser vom Tränengas. »Das war
knapp«, sagte er.
»Zu knapp«, stimmte Connor zu und blinzelte die Tränen aus den
gereizten Augen.
»Nein, eigentlich nicht. Die Wölfe mögen zwar noch heulen, aber so
richtig zubeißen? Nein, das wagen sie nicht mehr.«
»Aber was ist mit Dimitri?«, fragte Connor.
Viktor wischte seine Sorge mit einer lässigen Handbewegung beiseite.
»Keine Sorge, ich werde meine Anwälte sofort informieren. Wenn sie mich
aus dem Gefängnis holen konnten, schaffen sie es ganz bestimmt, auch
Dimitri frei zu bekommen.«
Connor hoffte, dass Dimitri tatsächlich im Gefängnis gelandet war. So,
wie die Polizisten auf ihn eingeprügelt hatten, hielt Connor es für viel
wahrscheinlicher, dass Dimitri in einer Intensivstation im Koma lag.
»Aber warum haben sie überhaupt angegriffen?«, wollte Feliks wütend
wissen. Auch er war heiser vom Tränengas. »Es gab doch gar keinen Grund
dafür!«
»Sie brauchen keinen Grund, mein Sohn«, antwortete Viktor. »Unser
Russland ist so stark geworden, dass sie jetzt mit unserer Bewegung
rechnen müssen, und das macht dem Establishment Angst. Es war
vorhersehbar, dass sie die Kundgebung irgendwann auflösen würden.
Überrascht hat mich nur, dass sie mich so lange reden ließen, fast bis zum
Ende! Aber die Polizei hat wahrscheinlich nicht mit einer so großen Menge
gerechnet, deshalb hat sie zunächst gezögert.«
»Tränengas und Kampfausrüstung? Das kam mir nicht wie Zögern
vor«, wandte Jason ein.
»Nein, aber sie konnten die Kundgebung nicht verhindern. Und das ist
alles, was zählt«, antwortete Viktor in triumphierendem Ton. »Bei den
nächsten Wahlen werde ich die alte Garde wegfegen. Die Zeit für das neue
Russland ist gekommen.«
»Aber wird es wirklich ein neues Russland sein?«, fragte Anastasia.
Viktor nickte. »Ich habe versprochen, die Korruption mit Stumpf und
Stiel auszurotten. Die Verantwortlichen werden für ihre Verbrechen teuer
bezahlen müssen. Das Russland, in dem du aufwachsen wirst, wird keine
Ähnlichkeit mit dem alten Russland mehr haben.«
Anastasia antwortete nur mit einem knappen Lächeln. »Tut gut, das zu
hören«, brachte sie noch hervor, dann wurde sie von einem Hustenanfall
geschüttelt.
»Alles okay?«, fragte Jason und legte den Arm um ihre Schultern.
Anastasia nickte. »Ist nur … das Tränengas …«
»Ja, es ist furchtbar, stimmt’s?«, sagte Feliks und rieb sich die
rotgeränderten Augen. »Wenn es nach mir ginge … ich würde die gesamte
Polizei in einen Raum sperren und hundert Tränengasgranaten
hineinwerfen.« Erst jetzt bemerkte er Jasons Arm um Anastasias Schultern.
Er legte ihr die Hand auf das Knie. »Ich hab mir um dich Sorgen gemacht.
Echt. Deshalb hab ich Jason zu dir geschickt, damit er dich herausholt.«
Jason klappte förmlich der Unterkiefer herab, als er das hörte. Er warf
Connor einen fassungslosen, ungläubigen Blick zu, aber bevor er Feliks’
kühner Behauptung widersprechen konnte, ergriff Anastasia Feliks’ Hand
und drückte sie. »Danke, Feliks. Das war echt super, wirklich. Jason hat mir
buchstäblich das Leben gerettet.«
Inzwischen war die Limousine durch das Tor der Villa gerauscht, kurvte
mit knirschenden Reifen den kieselbestreuten Weg zum Haupteingang
entlang und hielt neben dem Marmorbrunnen auf dem Vorplatz an. Die
Villa war mit einer frischen, dünnen Schneeschicht überzogen und
erstrahlte in der Spätnachmittagssonne so friedlich wie ein Märchenschloss.
Sicherheitsleute in dicken Skijacken patrouillierten im Park und rechts und
links neben der großen Eingangstür standen zwei bewaffnete Männer.
Timur stieg aus und öffnete seinem Boss die Hintertür der Limo. Das
Begleitfahrzeug hatte dahinter angehalten und das Sicherheitsteam stieg
aus.
»Na, ich werde jetzt gleich mal meine Anwälte informieren«, sagte
Viktor, als er ausstieg.
Timur und das Sicherheitsteam begleiteten Viktor zum Eingang. Feliks
folgte seinem Vater, von Connor beschützt, während Jason an Anastasias
Seite blieb.
»Du hast deine Tasche vergessen«, rief ihnen der Fahrer nach, bückte
sich ins Fahrzeuginnere, holte eine schwarze Tasche heraus und hielt sie
hoch, damit Anastasia sie sehen konnte.
Anastasia runzelte die Stirn. »Die gehört mir nicht«, rief sie zurück,
zeigte ihm ihre eigene Tasche und ging weiter.
Im selben Augenblick entdeckte Connor ein geisterhaftes Gesicht, das
durch eines der oberen Fenster der Villa spähte. Das Head-up-Display
seiner Kontaktlinse blinkte dreimal rot auf.
Connors sechster Sinn explodierte förmlich. Der graue Mann. Eine
unbekannte Tasche. Zufall? Unmöglich. Connor warf sich auf Feliks und
brüllte gleichzeitig: »ALLE RUN-«
Und die Welt verwandelte sich in einen grell aufblitzenden Feuerball, in
eine Hölle aus ungeheurem Lärm … und Tod.
KAPITEL 54

»Sie haben offenbar meinen Befehl aufs Wort befolgt, Nika.«


Roman Gurow ging zum Barschrank hinüber, nahm zwei Gläser heraus
und füllte beide mit feinstem russischem Wodka. Auf dem riesigen
Flachbildschirm an der hinteren Wand seines großen Arbeitszimmers liefen
die Nachrichten – eine aktuelle Sondermeldung: Feuer, Rauch, Zerstörung
vor der Villa Viktor Malchows.
Roman reichte Nika ein Glas und hob sein eigenes zu einem spöttischen
Toast. »Auf Mein Russland«, sagte er grinsend.
Doch als seine Assistentin den Toast nicht erwiderte, sondern nur auf
das Glas in ihrer Hand starrte, hielt Roman inne. »Warum trinken Sie nicht?
Ist etwas schief gelaufen? Ist denn der Schwarze König nicht tot?«
Nika stellte das Glas weg. »Nach ersten Berichten gab es viele Tote und
Verwundete. Aber Viktor Malkow soll nicht unter ihnen sein.«
Mit einem wütenden Schnauben kippte der FSB-Direktor den Wodka in
den Mund und schleuderte das leere Glas in den offenen Kamin, wo es in
einem Funkenwirbel zersplitterte. »Dieser Mann … er hat mehr Leben als
eine Katze!«
Aufgebracht lief er im Raum hin und her. »Erzählen Sie mir genau, was
passiert ist. Warum haben Sie schon wieder versagt?«
Nika erstarrte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. Ihr war
vollkommen klar, dass nicht nur ihr Job auf dem Spiel stand, sondern
vielleicht sogar ihr Leben. Leute, die bei dem jähzornigen Direktor in
Ungnade gefallen waren, zeigten die seltsame Angewohnheit, spurlos zu
verschwinden … Gerüchten zufolge wurde es in den grausamen sibirischen
Arbeitslagern allmählich eng. »Ihr Befehl lautete«, sagte sie mit viel
Betonung, »die Kundgebung abzubrechen und Malkow zum Schweigen zu
bringen. Die Polizei hatte die Anweisung einzuschreiten, die Menge
auseinanderzutreiben und gegen Malkows Parteigänger vorzugehen. Und
genau das ist auch geschehen. Die Polizei hat viele Anhänger
festgenommen. Leider gelang es Malkow zu fliehen. Aber eine Bombe
gehörte nicht zu unserem Plan!«
Roman blieb mitten im Schritt stehen und starrte seine Assistentin
verblüfft an. »Also haben wir die Bombe gar nicht gelegt? Wer war es
dann?«
Nika zuckte die Schultern. »Im Moment durchsuchen unsere Agenten
die Villa. Es ist möglich, dass unser Mann die Bombe legte, bevor er
umgebracht wurde, vielleicht als Plan B für den Fall, dass sein Schuss bei
der Versammlung daneben ging. Aber das glaube ich nicht. Ich denke, der
Einzelgänger vom Roten Platz hat wieder zugeschlagen.«
Roman trat ans Fenster und starrte in den Winterhimmel. »Ich wünschte
nur, wir hätten diesen Einzelgänger auf unserer Seite«, murmelte er vor sich
hin. Dann drehte er sich zu seiner Assistentin um und fügte in eisigem Ton
hinzu: »Vielleicht hätten wir dann mehr Erfolg.«
Nika stieg die Zornesröte ins Gesicht. Schließlich war das Fiasko nicht
ihre Schuld. Aber sie schluckte die Wut hinunter. Wie immer würde sie den
Scherbenhaufen beseitigen müssen.
»Was haben Sie über diesen einsamen Wolf herausgefunden?«, wollte
Roman in strengem Ton wissen.
»Leider sehr wenig, fürchte ich«, gab Nika widerwillig zu und legte
eine dünne Akte auf den Schreibtisch des Direktors. »Auf dem Dach des
GUM-Kaufhauses hat er praktisch keine Indizien hinterlassen. Alle Spuren
im Schnee waren verwischt und sämtliche Patronenhülsen waren
eingesammelt worden. Es gab keine Fingerabdrücke. Und die
Überwachungskameras zeigten keine Verdächtigen. Wir können nur
vermuten, dass dieser einsame Schütze ein hervorragend ausgebildeter
Attentäter ist, der seine Anschläge äußerst penibel plant. Er benutzt ein
Scharfschützengewehr und Patronen mit 7,62 Millimeter-Kaliber. Es ist
fast, als sei der einsame Wolf ein Geist.«
»Das klingt, als sei er der perfekte Attentäter.«
»Ich hoffe, dass wir im Umfeld der Bombe weitere Hinweise finden«,
fuhr Nika fort und legte eine zweite, etwas dickere Akte neben die erste.
»Aber bei unseren Nachforschungen über die beiden angeblichen Cousins
hatten wir etwas mehr Glück. Sie gehören definitiv nicht zur Familie.
Viktors Sohn hat entfernte Verwandte von Seiten seiner verstorbenen
Mutter, aber die leben alle noch in der Ukraine.«
»Wer sind diese Cousins denn dann?«
»Nach den Personendaten, die wir über sie gefunden haben, sind die
beiden ganz normale Jugendliche«, sagte Nika. »Aber als wir ein bisschen
tiefer gruben, entdeckten wir, dass ihre Daten manipuliert worden waren. In
Wirklichkeit haben Connor Reeves und Jason King etwas mit einer
Organisation namens Buddyguard zu tun, einem geheimen
Ausbildungsprogramm für junge Bodyguards.«
»Junge Bodyguards!«, schnaubte Roman verächtlich. »Soll ich darüber
lachen?«
»Nein, das ist kein Witz. Und man kann auch kaum bestreiten, dass sie
sehr effektiv arbeiten«, sagte Nika. »Sie haben eines von unseren Teams
ausgeschaltet und ihren Schützling sicher vor den Kugeln eines
Scharfschützen gerettet. Offensichtlich hat Viktor Malkow die beiden
Jungen angeheuert, damit sie seinen Sohn beschützen. Und nach allem, was
wir bisher zu sehen bekommen haben, machen sie ihren Job hervorragend.«
Roman knurrte. »Kein Wunder, dass Stas solche Probleme mit ihnen
hat.« Er schaute Nika streng an. »Wenn es so ist, sind die beiden Jungen für
uns legitime Ziele. Sie sind entbehrlich. Habe ich mich klar genug
ausgedrückt?«
Nika nickte nur. Der Direktor ging zum Barschrank zurück und goss
sich ein weiteres Glas Wodka ein. »Gut. Jetzt zur nächsten Frage. Wo ist
Viktor Malkow gerade?«
»Er hat sich in seine Datscha auf dem Land zurückgezogen. Nach dem
Angriff auf seine Villa ist das für ihn der sicherste Ort …«
Roman schnitt ihr mit einer wütenden Handbewegung das Wort ab.
»Das ist mir völlig egal, selbst wenn seine Datscha sicherer wäre als der
Kreml! Ich will den Schwarzen König tot sehen!«
Nika nahm ihr Glas vom Schreibtisch und trank einen großen Schluck.
Sie fühlte sich jetzt wieder sicherer. Wie immer hatte sie auch dafür einen
Notfallplan im Hinterkopf. Mit hinterhältigem Lächeln erklärte sie ihrem
Boss: »Wir haben immer noch eine wichtige Figur auf dem Schachbrett.
Einen Springer, aber vielleicht sollten wir ihn lieber als Pferd bezeichnen.
Oder, um noch genauer zu sein: als Trojanisches Pferd.«
KAPITEL 55

Die Explosion verbreitete schlagartig Feuer und Hitze. Der Schnee ringsum
verdampfte sofort – und der Fahrer mit ihm, als hätte es ihn nie gegeben.
Nur der Mercedes blieb, wo er war, die gepanzerte Karosserie hielt dem
ungeheuren Druck der Explosion Stand. Im Unterschied zum
Neptunbrunnen, der in einem Hagel kleiner und großer weißer
Marmorbrocken auf alle niederprasselte, die sich in der Nähe befunden
hatten. Timur wurde von einem der tödlichen Marmorsplitter wie von einem
Speer in den Rücken getroffen. Der Personenschützer stürzte auf seinen
Boss und rettete ihm damit das Leben, während alle anderen Bodyguards
buchstäblich zerfetzt wurden.
Der Marmorhagel erwischte auch Jason und Anastasia. Jason
versuchte zwar noch, sie beide mit seiner stichsicheren Jacke zu schützen,
aber beide wurden auf den Boden geschleudert und blieben, aus unzähligen
Wunden blutend, reglos liegen.
Feliks wurde ebenfalls im Freien erwischt – nur Connors blitzschnelle
Reaktion rettete ihm das Leben. Er warf sich schützend über den Jungen,
als die Druckwelle beide zu Boden schleuderte und der
Marmorsplitterhagel auf sie niederprasselte. Aber Connors kugelfeste
Jacke absorbierte die Splitter. Die Druckwelle schleuderte ihn allerdings so
brutal nach vorn, dass er mit dem Kopf auf den Steinstufen aufschlug, die
zum Haupteingang hinaufführten. Eine weitere Explosion fand in seinem
Schädel statt – er sah Sterne und seine Ohren klingelten. Dann senkte sich
ein dunkler Vorhang über ihn, während das Klingeln lauter wurde … und
lauter … und LAUTER …

Connor öffnete mühsam die Augen und erwachte aus dem Albtraum. Auf
dem Nachttisch summte sein Smartphone. Er tastete benommen danach und
murmelte: »Hallo?«
»Connor, hier ist Charley. Wie geht es dir?«
Connor setzte sich aufrecht. Die weißgoldene Sonne schickte ihre
Strahlen herein, in denen winzige Staubpartikel schwebten und die den
alten Holzboden wie mit Spotlights erhellten. »Okay … aber ich glaube, ich
habe verschlafen«, antwortete er heiser und rieb sich die Augen. Ein
scharfer Schmerz schoss durch seinen Kopf; er presste den Nasenrücken
zusammen, aber das half nicht viel.
»Du musst dich erst mal erholen«, sagte Charley. »Ist doch klar, dass du
dich groggy fühlst.«
Connor blickte sich im Zimmer um. Er lag auf einem alten, eisernen
Bettgestell. Hier gab es keine vergoldeten Nachttischlampen und die Möbel
waren keine kostbaren Antiquitäten, sondern einfach und rustikal. Statt
schwerer burgunderroter Samtvorhänge hingen hier nur schlichte weiße
Baumwollvorhänge an den Fenstern, und das zum Zimmer gehörende
Badezimmer, besaß nur eine große, freistehende Wanne, aber keinen
Kristalllüster an der Decke. Er war nicht mehr in der Villa, das stand schon
mal fest. »Wo bin ich?«, fragte er verwirrt.
»In Viktor Malkows Datscha. Aus Sicherheitsgründen seid ihr alle in
seinen Landsitz außerhalb von Moskau umgezogen.«
»Wie kommt es, dass ich nichts mehr davon weiß?« Tatsächlich waren
seine Erinnerungen völlig wirr und unzusammenhängend.
»Du hast eine Gehirnerschütterung erlitten«, erklärte ihm Charley. »Da
muss man mit einem kurzfristigen Gedächtnisverlust rechnen, aber lass es
mich wissen, wenn das Gedächtnis nicht zurückkehrt.«
»Äh … sorry, aber wer sind Sie nochmal?«
»Connor! Ich bin’s, Charley!«, sagte sie, nun plötzlich sehr besorgt.
»Bitte sag mir, dass du dich an mich …«
»War nur’n Witz!«, lachte Connor. »Du müsstest mir schon den Kopf
abschlagen, bevor ich dich vergesse!«
Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Seine Knie fühlten
sich butterweich an, aber er schaffte es trotzdem bis zum Fenster und schob
die Vorhänge auseinander. Draußen glitzerte der tief verschneite Park, der
zur Datscha gehörte.
Viktor Malkows Landhaus war ein großes, zweistöckiges Gebäude,
ganz aus Holz gebaut, ringsum ragten riesige Bäume in den Winterhimmel,
deren Zweige und Äste unter der Schneelast schier zu brechen schienen.
Ein langer, baumfreier Park, dessen Ränder von weißen Marmorstatuen
gesäumt waren, erstreckte sich bis zu einem zugefrorenen See, hinter dem
ein dichter Tannenwald stand.
»Das war überhaupt nicht komisch!«, schimpfte Charley. »Einen
Moment lang hab ich mir wirklich Sorgen gemacht. Und wenn wir schon
beim Thema sind: Der Bombenanschlag macht uns allen hier größte
Sorgen!«
Connor hatte plötzlich wieder Jason und Anastasia vor Augen, die
leblos mitten in den Trümmern des Brunnens lagen. »Wie geht es den
anderen?«, fragte er besorgt.
»Jason hat ein paar Schnittwunden, Anastasia ebenfalls, aber sonst geht
es ihnen gut. Jasons kugelfeste Kleidung hat die beiden gerettet, genau wie
dich und Feliks. Außerdem wirkte auch der Sockel der Statue wie ein
Schutzschild, er hat euch alle vor den schlimmsten Wirkungen der
Explosion geschützt. Aber Timur ist ums Leben gekommen, der Fahrer
ebenfalls, und unter den übrigen Männern vom Sicherheitsteam gab es
ebenfalls Tote und Verletzte. Wenn man bedenkt, wie stark die Explosion
war, ist es ein reines Wunder, dass ihr überhaupt überlebt habt.«
Wie zur Bestätigung entdeckte Connor Jason, Anastasia und Feliks, die
um den See spazierten. Erleichtert fragte er: »Hat man den Bombenleger
gefasst?«
»Nein. Die Polizei hat die üblichen Verdächtigen vernommen, aber
niemand hat sich zu der Tat bekannt – nicht einmal die Bratwa. Die
Behörden tappen also tatsächlich immer noch im Dunkeln, wer das getan
haben könnte.«
Connor kniff die Augen zusammen und starrte nachdenklich in die
Ferne. Trotz seiner Gehirnerschütterung hatte er ein Bild nicht vergessen:
das graue Gesicht hinter einem Fenster. »Ich weiß, wer es war«, sagte er.
»Was? Wer denn?«
Er erklärte Charley, was er vermutete.
»Dann solltest du sofort Mr Malkow informieren. Ach, übrigens: Wir
haben Anastasias Hintergrund genau überprüft. Nichts Auffälliges. Nur eine
kleine Sache … eine Anomalität.«
»Welche?«
»Ich bin ziemlich sicher, dass es nur ein Tippfehler ist, aber kannst du
bestätigen, dass ihr Familienname so buchstabiert wird: K-O-M-O-L-O-W-
A?«
»Ja, ich glaube schon. Warum?«
»Na ja, das einzige Mädchen, das unter diesem Namen im Moskauer
Einwohnermeldeamt registriert ist, ist vor zwei Jahren verstorben.«
Connors Blick wanderte zu Anastasia hinüber, die gerade am See zum
Bootshaus ging. »Na, ich kann dir jedenfalls versichern, dass sie definitiv
am Leben ist.«
»Ich weiß. Ich habe eure Fotos von ihr gesehen. Sie ist sehr attraktiv.«
»Echt? Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, antwortete Connor ein
bisschen zu schnell.
Charley lachte. »Netter Versuch, Romeo. Aber ich würde mir Sorgen
machen, dass du vielleicht tot bist, wenn dir nicht aufgefallen wäre, wie gut
sie aussieht.«
Connor lief rot an, und war froh, dass dies kein Videoanruf war. »Kein
Kommentar«, sagte er. »Aber sollte das nicht sämtliche Alarmglöckchen
klingeln lassen?«
»Nein. Ich habe dir ja schon mal erklärt, die russische Bürokratie ist ein
einziger Albtraum. Ich glaube, das Amt hat einen Fehler gemacht und sie
mit jemand anderem verwechselt. Die Daten sind ein einziges Chaos. Ich
wollte nur noch mal überprüfen, wie ihr Name buchstabiert wird, bevor ich
mich mit Bugsys Hilfe noch mal daran setze. Und überhaupt: Wenn ich
schon solche Probleme habe, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden,
ist das natürlich ein großer Vorteil, falls sie ein Buddyguard wird.«
»Dann kann ich sie also dem Colonel als Rekrutin vorschlagen?«
»Hab ich schon gemacht«, antwortete Charley zu Connors
Überraschung. »Er bereitet gerade die Aufnahmetests für sie vor. Sobald die
Operation Schneesturm vorbei ist, wird er Kontakt zu ihr aufnehmen.«
»Großartig«, sagte Connor. Er war sicher, dass Anastasia die Tests mit
Bravour bestehen und sich sehr gut in das Team einfügen würde.
Eine kleine Pause trat ein. Charley räusperte sich, dann sagte sie
zögernd: »Bevor wir auflegen … möchtest du noch eine gute Nachricht
hören?«
Connor ließ sich auf das Bett sinken. »Unbedingt. Wäre mal eine
Abwechslung nach all den schlechten Neuigkeiten hier.«
»Na ja … ich sollte mir eigentlich nicht zu viele Hoffnungen machen
…«, fuhr Charley fort, aber immer noch mit unsicherer Stimme. »Eine
chinesische Forschungsgruppe hat vor ein paar Tagen einen Durchbruch bei
der Behandlung von Rückgratverletzungen gemeldet. Sie suchen noch nach
Freiwilligen, um eine Pioniertherapie zu erproben, und haben mich
angeschrieben.«
Connor richtete sich auf. »Das ist wunderbar! Was für eine Therapie ist
es?«
»Eine Kombination von Stammzellentransplantation und Mikrochip-
Implantation.«
»Wow. Das klingt so, als würden sie dich in eine Bionic Woman
verwandeln. Aber wie haben sie deinen Namen herausgefunden?«
»Das ist das Seltsame bei der Sache – ich habe keine Ahnung. Vielleicht
durch das Krankenhaus, in das ich damals eingeliefert wurde. Aber ich habe
den Verdacht, dass Ash etwas damit zu tun haben könnte.«
Connor kämpfte den leisen Stich der Eifersucht nieder, den er immer
verspürte, wenn er den Namen hörte. Ash Wild war ein weltberühmter
Teen-Popstar.
Charley war ihm vor längerer Zeit einmal als Buddyguard zugewiesen
worden, aber während ihrer Mission hatten sie sich ineinander verliebt.
Doch dann hatte sie ihren tragischen Unfall erlitten und sie beide trennten
sich wieder – aber Ash hatte für sie einen Hit komponiert und geschrieben
und alle Einnahmen aus diesem Erfolg in einen speziellen Fond einzahlen
lassen, der nur für Charleys Pflege und Therapie verwendet werden durfte.
»Das klingt wirklich so, als könnte er es gewesen sein«, sagte Connor
und gab sich Mühe, so entspannt wie möglich zu klingen.
»Ist nur eine Vermutung und vielleicht ein bisschen weit hergeholt«,
gab Charley zu. »Vielleicht nehmen sie mich auch gar nicht in die
Versuchsgruppe auf. Aber wenn das der Fall wäre … könnte ich vielleicht
… wer weiß. Sie wollen natürlich nichts versprechen.«
Connor lächelte. »Na, wenn irgendjemand das hinkriegt, dann bist du
es.«
KAPITEL 56

Geduscht und angezogen fühlte sich Connor sofort viel besser, und
nachdem er zwei Schmerztabletten geschluckt hatte, verschwand auch sein
Kopfweh. Er beeilte sich, denn er wollte zu den anderen an den See. Er griff
nach seiner Jacke – der, die ihm das Leben gerettet hatte – und ging nach
unten. In der Einsatzdatei hatte sich auch ein Lageplan der Datscha
befunden, sodass er eine ungefähre Vorstellung im Kopf hatte, wie die
Räume angeordnet waren. Vom Obergeschoss führte eine breite Holztreppe
in den Eingangsbereich hinab, wo ein gewaltiger Hirschkopf mit
prächtigem Geweih stolz über der Tür hing.
Datschas waren die traditionellen Landsitze der Moskauer. Die meisten
waren recht bescheidene Häuschen mit einem kleinen Garten, in dem die
Großstädter ein wenig Obst und Gemüse anbauten. Aber Viktors Datscha
war eher eine Landvilla, wie bei den meisten der Elite. Zwar war das Haus
bescheidener als seine Residenz in der Stadt, aber es besaß immerhin sechs
Schlafzimmer, einen Innenpool, ein Spielzimmer, separate Quartiere für die
Bediensteten, einen eigenen Fischteich und rund 120.000 Quadratmeter
Jagdwald, was ungefähr der Größe von 17 Fußballfeldern entsprach.
Als Connor zur Haustür eilte, hörte er Stimmen. Sie kamen aus dem
Salon.
»Ich kann mich nicht verstecken. Man würde mich für feige halten!«
»Das ist mir klar, Viktor, aber vorerst ist es besser, wenn Sie hier
bleiben, bis wir die Villa wieder gesichert haben.«
»Nein, ich lasse mich nicht wie ein Angsthase aus Moskau vertreiben!
Und Unser Russland lässt sich nicht mit einer Bombe aus der Welt blasen!«
»Ich darf Sie vielleicht daran erinnern, dass die Bombe nicht die einzige
Bedrohung gewesen ist …«
Zuerst hatte Connor geglaubt, Viktor spreche mit seinem Berater. Aber
dann war ihm eingefallen, dass Dimitri bei der Kundgebung verhaftet
worden war. Und diese Stimme hier hatte nicht Dimitris leicht nasalen Ton
– diese klang leise, fast atemlos, eine Stimme, deren Klang Connor
irgendwie an eine Schlange oder eine Echse denken ließ.
»Deshalb habe ich einen weiteren Trupp von Sicherheitsleuten hierher
beordert, damit sie das ganze Anwesen und vor allem auch das Haus
schützen. Die Datscha ist im Moment der sicherste Ort, an dem Sie sich
aufhalten können.«
Nachdem Lazar und Timur ums Leben gekommen sind, muss das wohl
der neue Leiter des Sicherheitsdienstes sein, dachte Connor. Wer immer er
auch war, Connor würde ihr Gespräch stören. Er hatte eine wichtige
Information: Er wusste, wer die Bombe gelegt hatte.
»Aber was ist mit Equilibrium?«, fragte Viktor. »Werden sie es uns
nicht als Schwäche auslegen?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Viktor. Ihr Sponsor – und mein
Arbeitgeber – hat keinerlei Zweifel daran, dass sie treu und fest zu unserer
Sache stehen.«
Connor klopfte an die Tür. Die Stimmen verstummten sofort.
»Herein!«, rief Viktor.
Connor betrat den Salon. Er war warm und gemütlich. Die Wände
waren mit dunklem Holz getäfelt und auf den glänzend gewachsten
Holzdielen lag ein weicher dunkelroter Teppich. Über dem
Mahagonibarschrank hing ein Spiegel in kunstvoll verziertem Goldrahmen.
Ein cremefarbenes Chesterfieldsofa mit passenden Sesseln stand als
gemütliche Sitzgruppe vor dem Kamin, in dem ein wunderbares Feuer
prasselte. Von der Wand über dem Kaminsims starrte ein Wolfskopf mit
gierig gefletschten Zähnen auf Connor herab.
Viktor saß in einem der bequemen Sessel. Auf seiner Wange war eine
Schnittwunde zu sehen, die offenbar bereits zu verheilen begann, und die
rechte Hand war verbunden.
Doch als sich Connor nach dem anderen Mann umblickte, schien die
Wärme schlagartig aus dem Zimmer zu weichen.
Neben dem Kamin stand der Bombenleger.
KAPITEL 57

»Connor! Ich bin froh, dich so gesund und munter zu sehen!«, rief Viktor
mit breitem Lächeln. »Ich muss mich bei dir persönlich bedanken, du hast
meinem Sohn das Leben gerettet. Ohne deine blitzschnelle Reaktion wäre
er jetzt da, wo Timur ist.«
Connor gab keine Antwort. Sein Blick haftete an der Gefahrenquelle,
die sich im Raum befand. Obwohl das Feuer im Kamin loderte, schien die
Wärme diesen Mann nicht zu erreichen, es war, als stünde er auf dem
einzigen Platz im Raum, den die Wärme nicht zu erreichen vermochte –
oder als ob die Kälte von ihm ausginge. Die eisgrauen Augen des
Bombenlegers erwiderten Connors Blick mit einer Gelassenheit, die den
jungen Agenten zutiefst verstörte. Keinerlei Wiedererkennen lag darin.
Keinerlei Sorge, dass Connor sich an ihn erinnern könnte. Und was noch
schlimmer war: keinerlei Anzeichen von menschlicher Wärme lag in
diesem Blick. Dieser Mann war gefährlicher, als es der Wolf über dem
Kamin jemals gewesen war.
Ein Schauder lief Connor über den Rücken. Wieder nagte irgendwo in
seinem Hinterkopf der leise Verdacht, dass er diesen Mann kannte.
Schließlich fand er die Sprache wieder. »Herr Malkow, rufen Sie den
Sicherheitsdienst!«
Viktor erstarrte förmlich im Sessel. »Warum? Was ist jetzt wieder
passiert?«
Connor ging zu ihm hinüber, um den Milliardär zu beschützen. »Ich
habe diesen Mann hier im Verdacht, die Bombe gelegt zu haben und für die
anderen Angriffe auf Sie und Ihren Sohn verantwortlich zu sein.«
Viktor blinzelte verblüfft. »Was … was redest du da?«
»Dieser Mann hier war in Ihrem Haus, als die Bombe hochging«,
erklärte Connor. »Und ich habe ihn auch auf dem Roten Platz gesehen, kurz
bevor auf Feliks geschossen wurde. Ich glaube zudem, dass er uns im
Gorki-Park gefolgt ist und dass er ebenso beim Entführungsversuch auf der
Eislaufbahn dabei war. Das ist zu viel, um noch ein Zufall zu sein.«
Viktors Blick glitt von Connor zu dem Beschuldigten und wieder
zurück, dann lachte er, stand auf und stellte sich neben den Mann am
Kamin.
»Mr Grey ist einer meiner Geschäftsfreunde«, sagte Viktor und legte
dem Fremden die Hand auf die Schulter. »Und das sind wir schon seit
langer Zeit. Tatsächlich hat er mich sogar beschützt.«
Connor blieb buchstäblich der Mund offen stehen. Seine Anschuldigung
kam zurück wie ein Bumerang, der ihn mit voller Wucht erwischte.
»Mr Grey hat bei der Kundgebung einen Mordanschlag auf mich
verhindert«, fuhr der Milliardär fort. »Und ihm habe ich es auch zu
verdanken, dass ich so schnell wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Außerdem hat er auf Feliks aufgepasst.«
»Er hat auf Feliks aufgepasst?«, rief Connor aus.
»Für den Fall, dass die anderen Sicherheitsmaßnahmen versagen«,
erklärte Mr Grey mit deutlicher Betonung.
»Was aber nicht der Fall war und das haben wir Connor und Jason zu
verdanken«, gab Viktor zu. »Ich habe Mr Grey alles über die Buddyguard-
Organisation erzählt, zu der ihr beide gehört. Er ist sehr interessiert zu
erfahren, wie ihr arbeitet.«
Connor war zutiefst geschockt. »A-aber, Mr Malkow, ohne
Genehmigung hätten Sie einem Fremden nichts über unsere Organisation
verraten dürfen!«
»Keine Sorge, Mr Grey ist sehr umsichtig«, antwortete Viktor.
»Außerdem sind jetzt Lazar und Timur nicht mehr bei uns. Deshalb hat Mr
Grey ab sofort die Verantwortung für die Sicherheitsmaßnahmen – und er
wird mein persönlicher Bodyguard sein.«
Connor schluckte. Er fühlte sich von Viktor hintergangen. »Wenn er
über mich und Jason Bescheid wusste, warum haben Sie uns dann nichts
von ihm erzählt?«, wollte er wissen und richtete den Finger anklagend auf
Mr Grey.
Viktors Miene versteinerte. »Auch mein Berater Dimitri wurde in eure
Rolle hier nicht eingeweiht. Und auch ihr werdet bestimmte Dinge nicht
erfahren«, antwortete er scharf.
»Wie die Tatsache, dass Feliks früherer Bodyguard bei einer
Autoentführung erschossen wurde?«, gab Connor zurück, wütend, weil
wieder einmal wichtige Sicherheitsinformationen verschwiegen worden
waren.
Viktor runzelte die Stirn. »Wovon redest du da? Colonel Black wusste
über den Zwischenfall genau Bescheid. Darüber habe ich ihn gleich bei
unserer ersten Besprechung informiert.«
Jetzt war Connor erst richtig verwirrt. Wer sagte hier die Wahrheit –
Viktor oder der Colonel?
»Offenbar leidet unser junger Freund hier noch an den Nachwirkungen
der Hirnerschütterung«, stellte Mr Grey kühl fest. »Vielleicht, mein Junge,
solltest du dich noch eine Weile ausruhen.«
Sein eisiger Ton war eher ein Befehl als ein Vorschlag. Mr Grey legte
die Hand an Connors Ellbogen und führte ihn zur Tür. Verwirrt, wie er war,
leistete Connor keinen Widerstand. Aber als er noch einmal in das bleiche
Gesicht des Mannes blickte, lief ihm erneut ein seltsamer Schauder über
den Rücken … als würde er ihn wiedererkennen. »Ich bin sicher, dass wir
uns schon einmal begegnet sind.«
»Das bezweifle ich«, sagte Mr Grey knapp und schloss die Tür direkt
vor Connors Nase.
KAPITEL 58

Die Füße in warme Stiefel gepackt, stapfte Connor in die klirrende Kälte
hinaus. Er rieb sich die Hände, obwohl sie in dicken Handschuhen steckten.
Sowohl Park als auch angrenzender Wald waren wie mit weißem
Puderzucker überzogen, alles lag still und ruhig unter der Schneedecke, die
allen Lärm der Welt dämpfte.
Zigarettenrauchschwaden trieben herüber – erst jetzt bemerkte Connor
die beiden Sicherheitsleute, die an beiden Seiten der Haustür Wache
standen. Einer stampfte mit den Stiefeln im Schnee, ein kläglicher Versuch,
sich warm zu halten, während der andere heftig an einem
Zigarettenstummel sog. Vor ihm lagen zahlreiche schwarz abgebrannte
Kippen im Schnee, offensichtlich war der Mann ein Kettenraucher.
Connor nickte den beiden Männern kurz zu, als er die Treppe
hinunterkam, aber sie beachteten ihn nicht – entweder war es ihnen zu kalt,
um höflich zu sein, oder sie waren zu gelangweilt, oder einfach nur
unfreundlich.
Er machte sich auf den Weg zum See. Die Stiefel knirschten im Schnee;
das Geräusch und die kalte frische Luft halfen ihm, seine wirren Gedanken
wieder ein wenig zu ordnen. Er traute dem neuen Sicherheitschef nicht über
den Weg – auch wenn Viktor Malkow ihn offenbar zutiefst schätzte. Für
Connor hatte der Mann etwas Gefährliches an sich. Es war nicht nur das
enervierende, ärgerliche Gefühl, dass er Mr Grey schon einmal begegnet
sein müsse, sondern auch das Verhalten des Mannes – als würde er anderen
Menschen eher schaden wollen als sie zu beschützen.
Connor beschloss, ein wachsames Auge auf diesen sogenannten Mr
Grey zu halten.
Als er zu dem kleinen hölzernen Sommerpavillon kam, der sich hinter
einer Baumgruppe verbarg, entdeckte er Feliks, der trotz eisiger Kälte auf
einer Bank saß. Über sein Smartphone gekrümmt, schien er in ein
Computerspiel vertieft, wahrscheinlich wieder eines seiner geliebten
Zombie-Horror-Spiele.
»Hi, Feliks. Alles okay bei dir?«, fragte Connor, als er näher kam.
Ohne aufzublicken, zuckte Feliks die Schultern.
»Bin froh, dass du noch in einem Stück bist«, fuhr Connor fort. »Ich
dachte schon, die Bombe würde uns alle zerfetzen.«
Feliks grunzte, so einsilbig wie immer. Connor hatte zwar keine
lebhafte Unterhaltung erwartet, aber doch wenigstens ein einfaches
»Danke« – schließlich hatte er dem Jungen das Leben gerettet. Die
Operation Schneesturm war zu einem tödlichen Blizzard angewachsen –
Entführungsversuche, Heckenschützen, Mordanschläge, Straßenunruhen,
Autobomben … Viktors Feinde schienen alle Hemmungen abgelegt zu
haben, kannten offenbar keine Grenzen mehr, wenn es darum ging, ihn und
seine Familie zu vernichten. Charleys Befürchtungen angesichts dieser
Mission waren keineswegs grundlos gewesen. Connor fragte sich, wie lange
sie in der Datscha bleiben würden. Zwar war es hier auf dem Landsitz viel
sicherer als in Moskau, aber die Bratwa wusste sicherlich längst Bescheid,
wo sich Viktor aufhielt. Und das hieß, es war auch hier nirgends wirklich
sicher.
Connor blickte sich um. »Wo sind Jason und Anastasia?«
Feliks wies mit einer mürrischen Kopfbewegung zum Bootshaus.
»Warum bist du nicht bei ihnen?«
»Hatte das Gefühl, dass sie lieber allein sein wollten«, murrte er.
Jetzt wurde Connor klar, warum der Junge so sauer war. Ihm selbst
erging es nicht viel anders, wenn auch aus anderen Gründen. Jason hatte
schon wieder ihren Klienten ungeschützt zurückgelassen. »Komm, wir
mischen die kleine Party mal ein wenig auf«, sagte er.
Feliks steckte das Smartphone weg und lehnte sich zurück. »Kannst es
ja versuchen. Ich hab keine Lust.«
»Komm schon, sei keine Spaßbremse. Anastasia ist hier, weil sie mit dir
zusammen sein will.«
»Echt jetzt?«, schnaubte Feliks verächtlich. »Darauf wäre ich nie
gekommen. Eigentlich dachte ich, sie ist bei uns, weil sie hier in Sicherheit
ist.«
Connor setzte sich neben den Jungen. »Stimmt. Aber sie interessiert
sich für dich, nicht für Jason.«
Feliks warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Ha-ha. Jason – ihr
Lebensretter«, sagte er in giftigem Ton. »Sie fährt jetzt total auf ihn ab,
schließlich hat er ihr schon zwei Mal das Leben gerettet!«
»Anastasia ist ihm vielleicht dankbar, aber ich sehe doch, wie sie dich
immer anschaut. Sie mag dich.«
Feliks fuhr zu ihm herum. »Niemand mag mich! Das hast du doch auch
in der Schule gesehen! Ich habe keine Freunde. Verdammt, du und Jason,
ihr seid die Einzigen, aber selbst ihr werdet dafür bezahlt, so zu tun, als
wärt ihr meine Freunde! Keine Ahnung, warum Anastasia überhaupt noch
mit mir abhängen will.«
Das wusste Connor allerdings auch nicht. Vielleicht wäre alles ein
wenig einfacher, wenn Feliks nicht ständig so mürrisch und verschlossen
wäre, aber das wollte er ihm jetzt nicht erklären. Hatte keinen Zweck, dem
Jungen noch weitere Nackenschläge zu versetzen, er war schon traurig
genug. »Hör mal, bleib hier sitzen«, schlug er vor. »Ich hole die anderen,
vielleicht spielen wir eine Runde Billard in der Datscha.«
»Mir doch egal«, murrte Feliks, zog wieder sein Smartphone heraus und
spielte weiter.
Während sich Feliks wieder den Weg durch Horden von Zombies frei
ballerte, machte sich Connor auf den Weg zum Bootshaus. Es stand nicht
weit entfernt und er hatte den Sommerpavillon ständig im Blickfeld, sodass
er seinen Schützling bewachen konnte.
Als er sich dem Bootshaus näherte, hörte er Jason reden. »Das war mein
Vater, der hatte die Idee. Er dachte, das Training würde mir helfen, mehr
Disziplin und Ordnung in mein Leben zu bringen. So hat er es jedenfalls
ausgedrückt. Er war … na ja, ein ziemlich harter Bursche. Ex-Soldat. Ich
dachte, wenn ich da mitmache, würde er mich … mehr anerkennen oder
so.«
Connor blieb vor der Bootshaustür stehen. Er hatte Jason noch nie über
seine Vergangenheit oder seine Familie sprechen hören. Für Connor war das
wie eine Erleuchtung.
»Und – hat er das?«, fragte Anastasia.
»Kann sein. Wer weiß? Ich hatte das Training noch nicht mal halb
hinter mir, als er starb. Lungenkrebs. Er war ein Säufer und Kettenraucher.
Und weil er natürlich auch keine Lebensversicherung hatte, waren wir
praktisch pleite. Dann, eines Tages, sprach mich Colonel Black an und
fragte, ob ich …«
Connor war inzwischen klar geworden, dass Jason im Begriff war, die
Organisation und ihre Rolle als Buddyguards zu verraten. Er stieß die Tür
auf und marschierte ins Bootshaus. Die beiden Turteltauben hockten dicht
beieinander in einem hölzernen Ruderboot.
»Na, wer kommt denn da! Connor – auferstanden von den Toten?«, rief
Jason und nahm den Arm von Anastasias Schultern.
»Scheint so«, antwortete Connor und starrte seinen Partner mit einem
harten Blick an.
Anastasia schien Connors plötzlicher Auftritt nichts auszumachen; sie
bedachte ihn mit ihrem strahlenden Lächeln. »Jason wollte mir gerade von
seiner Kadettenausbildung erzählen. Wenn sein Training nicht gewesen
wäre, würden wir beide wohl nicht mehr leben.«
»Kann schon sein«, gab Connor zurück, während Jason und Anastasia
aus dem Boot stiegen.
»Feliks wollte zur Datscha zurück«, sagte Jason, was wohl eine
Antwort auf Connors vorwurfsvollen Blick sein sollte.
Connor nickte. »Ich hab ihn auf der Bank vor dem Sommerpavillon
angetroffen.«
Jason raunte ihm zu: »Ich hab die Umgebung beim Pavillon gesichert.
Ihm konnte nichts passieren.«
»So sicher wie vor der Villa?«, fauchte Connor zurück. Natürlich war
das Jason gegenüber nicht sehr fair, aber die Bombe hatte schließlich
endgültig bewiesen, dass es nirgendwo mehr sicher war.
»Kommt schon, ihr zwei«, rief Anastasia, die bereits zur Tür
hinausging. »Feliks wartet schon auf uns und mir wird allmählich kalt.«
»Ich dachte, ihr Russen spürt die Kälte gar nicht?«, rief ihr Jason nach.
»Manchmal schon«, antwortete sie.
Sie holten den immer noch schmollenden Feliks ab und gingen zur
Datscha zurück. Anastasia lief mit Feliks voraus, sodass Connor
Gelegenheit hatte, mit Jason zu reden. »Du wolltest ihr gerade von den
Buddyguards erzählen!«, warf er ihm vor. Jason sollte ruhig merken, wie
wütend er war.
Jason zuckte gleichmütig die Schultern. »Sie fragte, warum ich so
genau wusste, wie man sich bei einem Bombenanschlag verhalten muss.
Also hab ich ihr die Wahrheit gesagt – über meine Ausbildung als Kadett
bei der Armee. Aber ich hatte nicht vor, ihr etwas über unsere Mission hier
zu verraten … Man kann mit ihr eben über alles reden. Und überhaupt, ich
verstehe nicht, warum du damit ein Problem hast? Es ist nichts passiert –
ich habe ihr nur den Namen des Colonels verraten.«
Connor schüttelte verärgert den Kopf. »Bevor die Mission vorbei ist,
weiß noch die ganze Welt über uns Bescheid!«
Jason runzelte die Stirn. »Wieso? Was meinst du damit?«
»Vergiss es.« Connor beschloss spontan, seinen Verdacht gegen Mr
Grey für sich zu behalten. »Außerdem wird Anastasia bald genug mehr von
den Buddyguards erfahren. Ich habe Colonel Black vorgeschlagen, sie zu
rekrutieren.«
Jason blieb stehen und schaute Connor verblüfft an. »Ana – zu
rekrutieren?«, echote er.
»Warum nicht? Sie kann ja schon fast alles, was man dazu braucht.«
Jason wirkte plötzlich verlegen. »Ja, schon, aber … äh … das ist keine
so gute Idee, glaube ich … Ich meine, Ling würde das nicht … Sollte der
Colonel nicht …«
»Wieso kümmert es dich plötzlich, was Ling denkt?«, unterbrach ihn
Connor. »Hast du mir nicht selbst gesagt, dass ihr zwei euch getrennt habt?
Oder willst du doch wieder mit ihr zusammen sein? Egal – dein Flirt mit
Anastasia macht jedenfalls unseren Klienten total unglücklich. Und das ist
eine rote Linie, die du ohnehin nicht überschreiten darfst. Du musst damit
aufhören.«
Jason starrte ihn wütend an. »Ach ja? Wer zum Henker bist du denn,
dass du mir das befehlen kannst?«, fauchte er. »Gerade du! Bei deiner
allerersten Mission hast du mit der Tochter des Präsidenten geknutscht,
verdammt! Das war weit jenseits jeder roten Linie.« Mit einem letzten
wütenden Blick stapfte er weiter.
Connor seufzte. Vielleicht hatte Jason recht. Durfte er seinem Partner
wirklich solche Vorwürfe machen? Schließlich war auch er selbst nicht
immer ein Engel gewesen.
An der Datscha öffneten ihnen die beiden Sicherheitsleute die Tür. Sie
stapften den Schnee von den Stiefeln und betraten gerade die
Eingangshalle, als Viktor aus dem Salon kam.
»Ah! Da seid ihr ja alle«, begrüßte er sie. »Damit ihr Bescheid wisst:
Morgen werden wir sehr frühzeitig aufbrechen. Wir gehen auf die Jagd!«
»Super!«, rief Feliks. Zum ersten Mal an diesem Morgen vertrieb ein
Grinsen seine miese Laune.
»Ja, ich dachte, dass dir das gefallen wird«, sagte sein Vater lächelnd
und fuhr dem Sohn durch das Haar. Er wandte sich an Anastasia. »Meine
Sicherheitsleute haben mir erzählt, dass du deine Violine mitgebracht hast,
richtig?«
Anastasia nickte. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich muss
weiterüben, obwohl uns die Schule momentan suspendiert hat.«
»Natürlich nicht.« Viktor betrachtete sie freundlich. »Es würde mir
gefallen, dich spielen zu hören. Meine verstorbene Frau war
Konzertviolinistin … Und seit sie … du weißt schon … Ich vermisse ihre
Musik im Haus …«
Connor fiel auf, dass Anastasia ziemlich verlegen von einem Fuß auf
den anderen trat.
»Ich kann mich nicht mit Ihrer Frau messen«, sagte sie und schaute auf
ihre Füße, als hätte sie Schnee ins Haus geschleppt. »Ich bin wirklich nicht
sehr gut …«
»Nur keine falsche Bescheidenheit«, sagte der Milliardär tadelnd. »Ich
bin absolut sicher, dass mich dein Spiel umhaut.«
Anastasia lächelte ihn schüchtern an. »Das kann ich nur hoffen.«
Viktor klatschte in die Hände. »Gut, abgemacht. Morgen, nach der Jagd,
spielst du uns etwas vor.« Er ging zum Arbeitszimmer, drehte sich auf der
Schwelle aber noch einmal um. »Ach, übrigens, Anastasia: Ich habe
versucht, mit deinen Eltern Kontakt aufzunehmen, konnte aber niemanden
erreichen. Unter der Nummer, die du mir gegeben hast, meldet sich immer
nur die Mailbox.«
Anastasia seufzte. »Ja, das klingt ganz nach meinen Eltern.
Wahrscheinlich sind sie irgendwo in der Arktis unterwegs und haben kein
Netz. Wie immer!«
Viktor nickte ihr mitfühlend zu. »Na gut, aber ich bin sicher, sie werden
sich melden, sobald sie meine Nachricht abgehört haben.«
KAPITEL 59

Ein Gesicht schimmerte im Dunkeln. Ein Schädel, die Haut straff über die
Knochen gespannt. Eisgraue Augen, ein Todesversprechen. Schwarzer
Rauch, Flammen, die aus einem brennenden Tanker loderten. Dann bei
einem anderen Einsatz, irgendwo, eine zischende Stimme: »Du tauchst doch
immer an den falschen Orten und zur falschen Zeit auf, Connor Reeves.«
Connor fuhr in Schweiß gebadet aus dem Schlaf. Der Albtraum hing an
ihm wie ein monströses Spinnennetz … mit Mr Grey in der Mitte.
Er versuchte, die entsetzlichen Bilder abzuschütteln, setzte sich auf und
schaltete die Nachttischlampe an. Müde rieb er sich die Augen. Aber die
beunruhigende Vision – Mr Grey – ließ sich nicht verdrängen.
Der Albtraum hatte sich zu echt angefühlt. Connor wurde plötzlich klar,
dass er im Traum Erinnerungen an seine traumatischen Missionen gegen die
somalischen Piraten im Indischen Ozean und gegen die Aufständischen in
Burundi wieder durchlebt hatte. Aber was hatte das mit Mr Grey zu tun?
Connor wusste doch, dass er nicht dort gewesen war. Oder vielleicht doch?
Bestimmt litt sein Gehirn noch an den Nachwirkungen der
Gehirnerschütterung, die er beim Bombenanschlag erlitten hatte.
Er schluckte mühsam, seine Kehle war wie ausgedorrt und wund, und er
hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund, wie Sägemehl. Connor
schwang die Beine aus dem Bett, zog Jeans und T-Shirt an und ging nach
unten zur Küche. Ein Glas Milch würde ihm jetzt guttun. Als er durch die
große Eingangshalle ging, bemerkte er einen schmalen Lichtstreifen, der
aus dem Salon drang. Die Tür stand einen kleinen Spaltbreit offen. Er hörte
leise Stimmen; eine von ihnen konnte er zuordnen: Viktor.
»Dimitri, mein Freund, es wärmt mir das Herz, dich wiederzusehen. Ich
kann es kaum fassen, dass sie dich so schnell wieder entlassen haben.«
»Ich auch nicht«, antwortete eine andere bekannte Stimme. Connor
lächelte erleichtert. Offenbar hatte Dimitri die Tortur doch heil überstanden.
»Unser neuer Anwalt ist wirklich Gold wert«, fuhr Viktor fort. »Hat
dich die Polizei gefoltert? Oder dich bedroht?«
»Du weißt doch, wie so etwas läuft, Viktor.«
»Ja, das weiß ich. Es tut mir aufrichtig leid, mein Freund, dass du so
viel erleiden …«
Connor konnte nicht anders: Er musste die beiden belauschen und mehr
darüber erfahren, wie und warum Dimitri von der Polizei so schnell wieder
entlassen worden war. Er flehte zum Himmel, dass keine der alten Dielen
knackte, als er zur Salontür schlich und sich dort in eine dunkle Nische
drückte. Durch den schmalen Türspalt konnte er Viktor sehen, der in einem
der Sessel vor dem Kamin saß, Dimitri ihm gegenüber. Connor erschrak, als
er dessen Gesicht sah: blass, erschöpft, mit schwarzen Ringen unter den
Augen, und selbst sein Bart schien grauer geworden zu sein.
»Die Kundgebung war ein Megaerfolg«, bemerkte Dimitri nach kurzer
Pause mit bitterem Lächeln. »Du hast es völlig richtig formuliert, Viktor,
ein wahrer Wendepunkt in der russischen Geschichte. Deshalb denke ich,
die Sache war es wert, dafür ein bisschen leiden zu müssen.«
Viktor grinste. »Das ist die richtige Einstellung, Dimitri!«
»Wenn wir schon von Einstellung reden, Viktor: Meinst du nicht auch,
dass wir meine Entlassung feiern sollten?«
»Dimitri, das ist der beste Ratschlag, den du mir jemals gemacht hast!«,
rief Viktor und wollte aufstehen.
Dimitri bedeutete ihm zu, sitzen zu bleiben, und ging selbst zur
Mahagonibar hinüber. Mit kritischem Blick auf die Etiketten mehrerer
Flaschen wählte er schließlich den besten Wodka. Und in diesem
Augenblick entdeckte Connor, dass sich noch ein dritter Mann im Raum
befand.
Mr Grey.
Der Mann stand so still, dass er auch eine Statue hätte sein können.
Oder eine Schaufensterpuppe. Und genauso leblos und wächsern wirkte
sein aschfahles Gesicht. Connor lief ein Schauder über den Rücken, als ihm
plötzlich wieder die entsetzlichen Erinnerungen an seinen Albtraum durch
den Kopf schossen.
»Mr Grey, möchten Sie nicht mit uns anstoßen?«, fragte Dimitri und bot
ihm ein Glas an. Seine Hand zitterte leicht.
Mr Grey warf nicht einmal einen Blick darauf. »Ich trinke nicht.«
»Ach so. Natürlich nicht«, nickte Dimitri mit unsicherem Lächeln. »Ich
darf nicht vergessen, dass Sie ein echter Profi sind.«
»Seit ich Sie kenne, habe ich Sie noch nie trinken gesehen«, bemerkte
Viktor mit zweideutigem Lächeln. »Sind Sie denn gar nicht neugierig, wie
es schmeckt?«
»Neugier ist der Katze Tod«, entgegnete Mr Grey trocken.
Connor verspürte plötzlich ein Déjà-vu-Gefühl, so ungewöhnlich
deutlich, wie er es noch nie erlebt hatte. So stark war der Eindruck, dass der
Salon vor seinen Augen zu schwanken schien, als würde Connor sich auf
hoher See befinden.
Neugier ist der Katze Tod. Genau diesen Satz hatte er Mr Grey schon
einmal sagen hören.
Er presste die Augen zu, hinter denen ein plötzlicher heftiger
Kopfschmerz zu pochen begann. Mr Greys Stimme hallte in seinen Ohren
wider: Vergiss mein Gesicht … es gibt mich nicht … du hast noch nie
meinen Namen gehört …
Und als ob die Tore einer Schleuse plötzlich aufgesprengt würden,
übermannten Connor die Erinnerungen wie ein unaufhaltsamer Schwall.
Mr Grey hatte tatsächlich etwas mit dem Piratenüberfall auf die Jacht
der Sterlings zu tun gehabt. Und er hatte sich mit Connor auf dem
brennenden Frachter befunden.
Plötzlich zuckte vor Connors innerem Auge auch die Erinnerung an die
wilde Schlacht im Dschungel – Mr Grey, der von der anderen Seite des
tobenden Flusses die Pistole auf ihn richtete. Und wie er später sagte: Ich
schieße nie daneben …
Schwindel überwältige Connor, er musste sich am Türrahmen
festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Jetzt wurde ihm klar, dass er Mr
Grey auch bei seiner Mission im afrikanischen Dschungel begegnet war.
Dieser Mann hatte den mörderischen Aufstand dirigiert und wahrscheinlich
auch hinter dem Diamantenschmuggel in Burundi gesteckt. Und während
ihrer letzten Begegnung hatte Mr Grey Connor hypnotisiert, damit er alles
vergaß …
Aber jetzt stieg die Erinnerung wieder hoch. Connor erinnerte sich an
alles.
An alles.
KAPITEL 60

Mr Grey war ein Attentäter. Ein eiskalter Auftragskiller.


Was wiederum bedeutete, dass sich Viktor Malkow in höchster
Lebensgefahr befand und dass Connor ihn warnen musste.
Connor spähte vorsichtig in den Raum. Mr Grey war im goldgerahmten
Spiegel über dem Barschrank zu sehen. Der Attentäter hatte die Hände auf
dem Rücken verschränkt – und in einer von ihnen hielt er eine Pistole.
Inzwischen hatte Connors Herz zu rasen begonnen. Sollte er Jason zur
Unterstützung holen? Aber wenn er das tat, würden sie vielleicht zu spät
wieder zum Salon zurückkehren – der Attentäter hätte dann sein Zielobjekt
bereits eliminiert.
Nein, Connor durfte keine Zeit verlieren. Er machte sich bereit zum
Eingreifen – Seize. Strike. Subdue. Einen Profikiller entwaffnen zu wollen
wäre Selbstmord, wie ihm vollkommen klar war, aber wenigstens würde er
das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben.
Dimitri reichte Viktor das Glas und Connor hörte das leise Klirren, als
sie anstießen.
»Auf Unser Russland!«, sagte Dimitri und hob bei dem Toast das kleine
Wodkaglas.
Der Milliardär hob gleichzeitig das Glas – und Mr Grey entsicherte
seine verborgene Waffe.
Connor riss die Tür auf und stürmte in den Raum. »RUNTER!«, brüllte
er.
Die drei Männer fuhren erschrocken zu Connor herum, der sich auf Mr
Grey stürzte. Doch der Killer reagierte blitzschnell, trat einen Schritt zur
Seite und ließ Connor über sein Bein stolpern. Connor schlug hart auf dem
Boden auf, rollte sich aber sofort ab, sprang auf und ging in
Angriffsstellung. Aber Mr Grey hielt bereits die Pistole auf ihn gerichtet.
»Connor! Was soll das!«, wollte Viktor in scharfem Ton wissen, stellte
das Glas weg und starrte ihn wütend an.
Mr Grey hielt den Finger am Abzug leicht gekrümmt; nur Millimeter
trennten ihn vom Schuss. Aber noch hatte er nicht abgedrückt. Connor hob
die Hände. Wenn er nur nahe genug an den Mann herankam, würde er ihn
entwaffnen können. »Mr Malkow, mir ist klar, dass Sie glauben, diesen
Mann zu kennen, aber das tun Sie nicht.«
Viktor kniff die Augen zusammen. »Erkläre mir das.«
»Ich bin Mr Grey schon bei zwei anderen Einsätzen in Somalia und in
Burundi begegnet. Er ist kein Bodyguard. Er ist ein Auftragskiller!«
Mr Greys Finger am Abzug zuckte leicht, aber seine eisgrauen Augen
verrieten nichts.
»Er hat den Auftrag, Sie zu töten«, fuhr Connor fort und machte sich
zum Angriff auf den Killer bereit.
Mr Greys dünne Lippen verzogen sich zu einem vampirartigen Lächeln
– seelenlos, unbarmherzig, tödlich. »Nicht ich bin hier der Attentäter,
Connor«, sagte er gelassen. »Sondern Dimitri Smirnow.«
Dabei schwenkte er die Waffe herum und richtete sie auf Viktors
Berater. Als der die schwarze Mündung auf sich gerichtet sah, wurde sein
ohnehin schon blasses Gesicht aschfahl. »Was … was reden Sie da?«
»Hören wir mit dem Spielchen auf, Dimitri«, sagte Mr Grey. »Der FSB
hat Sie unter einer einzigen Bedingung freigelassen: dass Sie Viktor töten.«
Der Milliardär starrte seinen Freund geschockt an. »Stimmt das?«
Connor wurde von der Anschuldigung genauso überrascht wie Viktor,
aber Dimitri schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Natürlich nicht!«
Mr Grey trat näher, die Waffe immer noch auf den Berater gerichtet,
nahm Viktors Glas vom Tisch und bot es Dimitri an. »Dann macht es Ihnen
doch sicherlich nichts aus, seinen Wodka zu trinken?«
Dimitri hob ablehnend die Hand. »Danke, nein, ich habe mein eigenes
…«
»Trinken Sie diesen hier!«
Als sich der Berater immer noch weigerte, das Glas entgegenzunehmen,
presste ihm Mr Grey den kalten, harten Lauf der Pistole an die Schläfe.
»Trinken Sie!«
Dimitri begann zu zittern. Er riss die Augen auf, glasig und in
Todesangst weit aufgerissen. Er schaute Viktor Malkow flehend an.
»Viktor, hör auf den Jungen! Dieser Mr Grey ist ein Irrer! Er trichtert dir
Lügen ein! Er versucht, dich zu –«
Mr Grey drückte Dimitri das Glas an die Lippen. »Trink!«
Connor erkannte, dass Mr Grey momentan abgelenkt war, und stürzte
vor, um ihm die Waffe zu entreißen, aber Viktor packte ihn am Oberarm
und riss ihn zurück. »Halte dich da raus, Connor!«
Mr Grey drückte das Glas mit aller Gewalt an Dimitris Mund und
kippte den Inhalt hinein.
»Nein! Nein! Stopp!«, spuckte und prustete Dimitri und drehte den
Kopf weg. Doch dann schluchzte er plötzlich auf. »Viktor … es tut mir leid!
Es stimmt … der FSB hat mir das Gift gegeben …« Flehend streckte er die
Hände zu Viktor aus. »Bitte versteh doch … Sie wollten Natascha foltern
… und … meine kleine Tanja.«
Viktor starrte ihn an, kalt, gleichgültig und ohne Mitleid. »Du fiese,
falsche Schlange!«
Dimitri fiel auf die Knie und schluchzte verzweifelt. »Nein, nein! Bitte
verstehe mich … ich hatte keine andere Wahl!«
Viktor seufzte. »Ich auch nicht.«
Er nickte Mr Grey knapp zu. Connor sah, starr vor Entsetzen, wie Mr
Grey Dimitri an den Haaren packte, seinen Kopf brutal nach hinten riss und
ihm den Rest des Wodkas in dem Mund goss. Er drückte dem Mann die
Hand auf den Mund und wartete, bis Dimitri alles geschluckt hatte. Erst
dann ließ er den Berater los, der auf dem Teppich vorm Kamin
zusammenbrach. Ein paar lange Sekunden lag er nur da und blickte wie ein
treuer, aber geschlagener Hund zu Viktor auf.
Doch dann begann das Gift zu wirken. Dimitri keuchte, schnappte nach
Luft, seine Hände fuhren zum Hals, während er immer verzweifelter um
Atem rang, bis sein Gesicht purpurrot anlief und die Adern am Hals
hervortraten. Er wand und krümmte sich auf dem Teppich, die Augen traten
aus den Höhlen, der Atem ging in ein Würgen über. Dann plötzlich lief ein
heftiges Zittern durch seinen Körper, er zuckte noch einmal … und lag still.
»Gibt es denn niemanden, dem ich vertrauen kann?«, rief Viktor und
spuckte voller Verachtung auf Dimitris leblosen Körper.
KAPITEL 61

»Viktor hat Mr Grey befohlen, seinen Freund zu vergiften«, flüsterte


Connor, immer noch geschockt und entsetzt. Sein Blick zuckte immer
wieder zur Tür, er rechnete fast damit, dass der Killer jeden Augenblick ins
Zimmer stürzen könnte. »Sie haben ihn direkt vor meinen Augen
ermordet!«
Connor saß auf dem Fußende von Jasons Bett, sein Gesicht schimmerte
geisterbleich im Mondlicht, das durch die Vorhänge drang. Jason hatte sich
aufgesetzt und starrte mit schlaftrunkenen Augen Connor halb entsetzt, halb
ungläubig an.
»Aber … aber du hast doch gesagt, Dimitri hätte versucht, Viktor zu
vergiften. Dann kann man doch verstehen, dass Viktor ihn …«
»Wie kannst du so etwas auch nur denken, Jason? Man hat ihn erpresst,
seine Familie war in Gefahr!«, rief Connor entsetzt, dämpfte aber sofort
wieder die Stimme. »Dimitri flehte um ihr Leben. Und er war ja nicht
einmal vor Gericht gestellt worden!«
Jason fuhr sich durch das wirre Haar. »Denk dran, was Charley gesagt
hat – wir sind hier in Russland, hier gelten normale Regeln nicht.«
Connor schnaubte verächtlich. »Ja, klar, Viktor sagte ja auch, das sei
Russische Gerechtigkeit. Dimitri sei in flagranti erwischt worden und hätte
seine Schuld gestanden. Und deshalb habe ihn die gerechte Strafe ereilt.
Und dass ich die Sache einfach vergessen solle. Aber wie kann ich so etwas
jemals vergessen?«
Er sprang auf und lief erregt im Zimmer hin und her. Das Bild von
Dimitri, der sich verzweifelt den Hals umklammert hielt, während ihn das
Gift innerlich auffraß, hatte sich seinem Gedächtnis unauslöschlich
eingeprägt. »Malkow behauptet, dass er für Freiheit und Demokratie
kämpft, aber widerspricht das nicht allem, was ich gerade erlebt habe? Und
dann ist da noch seine Beziehung zu Mr Grey.«
»Was ist mit ihm?«, fragte Jason und rieb sich die Augen.
Connor blieb stehen. »Er ist ein Attentäter, verdammt nochmal! Ein
ausgebildeter Auftragskiller! Wie kommt so ein Mann dazu, Viktor Malkow
beschützen zu wollen?«
Jason zuckte die Schultern. »Können wir sicher sein, dass du ihn nicht
mit einem anderen Mann verwechselst? Versteh doch, es klingt wirklich
ziemlich weit hergeholt, was du da erzählst … dass dieser angebliche
Attentäter dich hypnotisiert hätte! Vielleicht hat die Gehirnerschütterung
deinen Verstand verwirrt? Irgendwelche Erinnerungen
durcheinandergewirbelt?«
»Nein! Im Gegenteil – sie hat mir die Erinnerungen zurückgebracht«,
widersprach Connor und setzte sich auf die Bettkante. »Erinnerst du dich an
meinen Einsatz für die Sterlingfamilie? Der Arzt sagte damals, Emily habe
eine Gehirnwäsche bekommen und es seien ihr bestimmte Dinge ins
Unterbewusstsein eingepflanzt worden, wahrscheinlich durch Hypnose. Ich
weiß, dass Mr Grey auf dem Tanker war. Und ich glaube, dass er auch für
Emilys Gehirnwäsche verantwortlich war. Und mit mir hat er etwas
Ähnliches getan, um jede Erinnerung an ihn wegzuwischen. Er hat mir
gedroht – wenn wir uns jemals wieder begegneten, würde es für mich nicht
gut enden. Das hat er wortwörtlich gesagt. Und weil er jetzt weiß, dass ich
mich wieder an ihn erinnere, bin ich der Nächste auf seiner Abschussliste.«
»Okay. Wenn dir das keine Ruhe lässt, solltest du den Colonel
informieren«, schlug Jason vor und unterdrückte ein Gähnen.
»Das habe ich auch vor«, nickte Connor. »Charley hatte recht – bei
diesem Einsatz stimmt irgendetwas nicht. Der Colonel muss uns sofort von
der Sache abziehen.«
»Im Ernst?«, fragte Jason und schaute Connor zweifelnd an. »Ist das
jetzt nicht wieder eine von deinen Überreaktionen? Colonel Black hat Mr
Malkow doch bestimmt gründlich gecheckt, bevor er den Auftrag
übernahm. Und Mr Malkow vertraut offenbar diesem Mr Grey voll und
ganz – schließlich hat er ihm die Leitung des Sicherheitsteams anvertraut.«
»Stimmt. Aber dürfen wir Viktor vertrauen?«
»Ach, komm schon, Connor – er ist Milliardär, Politiker, was weiß ich,
aber doch bestimmt kein Massenmörder …«
In der Diele war ein leises Knacken zu hören. Connor fuhr herum. Er
legte den Finger auf die Lippen, um Jason zu warnen, völlig still zu sein,
und schlich zur Tür. Als es draußen noch einmal leise knarrte, zog er die
XT-Taschenlampe heraus und ließ den Schlagstock herausschnappen. Beim
letzten Mal hatte ihn Mr Grey kalt erwischt; aber nun war Connor
entschlossen, schnell und hart zuerst zuzuschlagen.
Er legte die Hand auf den Türgriff … riss die Tür auf –
Anastasia stolperte gebückt herein und wäre beinahe auf den Boden
gestürzt. Connor konnte den Schlag mit dem Stock gerade noch abblocken.
»Was hast du hier zu suchen?«, rief er geschockt, den Schlagstock
immer noch erhoben.
Sie riss entsetzt die Augen auf, dann lächelte sie nervös. »Ich … ich
konnte nicht schlafen. Hörte euch reden und wollte nur kurz nachschauen,
ob bei euch alles in Ordnung ist.«
Jason lächelte sie beruhigend an und sprang aus dem Bett, plötzlich
hellwach. »Ja, klar, alles super, Ana.« Er drängte sich an Connor vorbei.
»Steck endlich den Stock weg, Kumpel.«
Er fasste die ziemlich geschockte Anastasia an der Hand und führte sie
zu einem Korbsessel am Fenster. Als sie sich in die Polster sinken ließ,
fragte sie benommen: »Warum hat er einen Schlagstock?«
Jason zog den zweiten Sessel heran und setzte sich ihr gegenüber,
sodass sich ihre Knie fast berührten. Er beugte sich vor und sagte leise: »Ich
glaube, es ist Zeit, dass wir dich in unser kleines Geheimnis einweihen.«
Connor unterbrach ihn sofort. »Bevor wir das tun, möchte ich ihr noch
ein paar Fragen stellen.«
Nachdem sie ihn mit dem Schlagstock gesehen und Jason offenbar
vorhatte, ihr von den Buddyguards zu erzählen, würde es wohl besser sein,
gleich aufs Ganze zu gehen und zu versuchen, sie zu rekrutieren. Aber
zuerst mussten noch ein paar Leerstellen in den Informationen gefüllt
werden, die Charley über Anastasia gesammelt hatte.
Anastasia rutschte unruhig im Sessel hin und her und schaute ihn ein
wenig ängstlich an. »Bin ich in Schwierigkeiten?«
»Nein«, antwortete Connor. »Aber ich wundere mich natürlich, warum
du im Kampfsport so gut bist? Wie du Feliks’ Kidnapper auf der
Eislaufbahn ausgeschaltet hast, und dann auch noch Gleb im Heizkeller …
ich vermute mal, dass du ein richtig gutes Training hinter dir hast – und
damit meine ich nicht einen Schnellkurs in Selbstverteidigung für
Mädchen.«
Anastasia wich seinem prüfenden Blick nicht aus. »Wir sind in
Russland. Mädchen werden hier oft von Bratwa-Banden belästigt und
angegriffen. Meine Eltern wollten, dass ich mich verteidigen kann, vor
allem deshalb, weil sie so oft verreist sind. Also habe ich Systema gelernt,
die russische Kampfsportart.«
Connor nickte; die Antwort freute ihn. »Wenn wir schon von deinen
Eltern reden – Viktor konnte sie nicht erreichen. Und wir ebenfalls nicht.
Warum eigentlich?«
Anastasias Haltung versteifte sich. Gereizt fragte sie zurück: »Warum
versucht ihr, meine Eltern zu kontaktieren? Ich habe doch gesagt, sie sind in
der Arktis unterwegs und haben dort kein Netz. Sie sind Ölprospektoren –
wo sie sind und was sie machen, ist streng geheim.«
»Kann sein, aber wir haben auch noch ein paar andere Fragen, die dich
selbst betreffen, und haben keine Antworten finden können. Zum Beispiel
haben wir im Moskauer Meldeamt deine Geburtsurkunde nicht gefunden.
Es gibt nur ein einziges Mädchen, dessen Alter ungefähr stimmen könnte,
aber es ist seit über zwei Jahren tot.«
Jetzt sah Anastasia wirklich beunruhigt aus. »Das … das ist, weil ich
gar nicht in Moskau geboren wurde!« Sie stand auf, und ihre Miene zeigte,
wie kurz sie vor einem Wutausbruch stand. »Was geht dich das überhaupt
an? Warum schnüffelst du in meinem Leben herum? Du hast überhaupt kein
Recht –«
Jason ergriff ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen. »Bitte, Ana, reg
dich ab. Hör dir erst mal an, was wir dir zu sagen haben.«
Er deutete auf ihren Sessel und sie setzte sich widerwillig.
»Wir sind nicht Feliks’ Cousins«, erklärte Jason, »sondern seine
Bodyguards.«
Anastasia riss die Augen auf und blickte zwischen Jason und Connor
hin und her. Offenbar fragte sie sich, ob die beiden bloß scherzten, doch
dann grinste sie. »Na, so was Ähnliches habe ich selbst schon vermutet.«
Sie wandte sich an Jason. »Kein Wunder, dass du so gut darin bist, mir das
Leben zu retten! Aber warum erzählt ihr mir das jetzt?«
»Weil wir glauben, dass du einen ganz guten Buddyguard abgeben
würdest«, sagte Connor.
Anastasia lachte. »Hast du Buddyguard gesagt?«
»Ja, hat er«, antwortete Jason. »Wir beide arbeiten für eine verdeckte
Schutzagentur, die darauf spezialisiert ist, junge Bodyguards auszubilden.
Und wir suchen immer nach neuen Leuten – aber sie müssen gut sein.
Deshalb haben wir deinen Hintergrund ausgekundschaftet.«
Schweigend blickte Anastasia zwischen den beiden hin und her. Ihre
Miene war undurchdringlich.
»Na, was sagst du dazu?«, fragte Connor schließlich.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe; anscheinend dachte sie ernsthaft über das
Angebot nach.
»Es … ist sehr schmeichelhaft, dass ihr glaubt, ich würde einen guten
Bodyguard abgeben«, sagte sie nach einer Weile. »Aber ich habe ganz
andere Pläne im Leben.«
Connor ließ die Schultern ein wenig hängen und konnte seine
Enttäuschung nur schlecht verbergen. Andererseits hatte auch er selbst eine
ganze Weile gebraucht, um diese Entscheidung zu treffen, die sein Leben so
gründlich veränderte. »Das ist vollkommen verständlich. Aber denk
wenigstens darüber nach. Falls du es dir anders überlegst, lass es uns
wissen. Und noch etwas: Bitte behalte das alles für dich.«
»Ja, klar.« Anastasia stand auf. »Na, dann … dann spielt mal weiter
Bodyguards, Jungs. Wir sehen uns in ein paar Stunden, wenn wir zu Viktors
Jagd aufbrechen.«
Sie ging aus dem Zimmer. Im Flur hob sie ihren Geigenkasten auf, den
sie neben Jasons Tür abgestellt hatte, und wandte sich zur Treppe.
»Wieso hast du deine Geige dabei?«, fragte Connor. Es kam ihm
seltsam vor, denn es war immer noch mitten in der Nacht.
Anastasia zuckte gleichmütig die Schultern, als sei das vollkommen
normal. »Wie gesagt, ich konnte nicht schlafen. Wollte ein Zimmer suchen,
in dem mich niemand hören kann, um für morgen ein bisschen zu üben.«
»An deiner Stelle würde ich nicht nach unten gehen«, sagte Connor.
»Warum denn?«, fragte sie und hob verwundert die Augenbrauen.
»Der neue Sicherheitschef ist ein bisschen nervös«, erklärte er, dachte
dabei aber eher an Dimitris Leiche im Salon. »Am Ende halten dich seine
Leute noch für eine Attentäterin oder so!«
Anastasia lachte und deutete auf ihren rosa Schlafanzug. »Dann
müssten sie wirklich blind sein!«
KAPITEL 62

Roman Gurow ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er die Wand


zerschmettert. Den Mahagonitisch zu Kleinholz verarbeitet. Das kostbare
Marmorschachbrett durchs Fenster geschleudert. Aber das alles ging hier
natürlich nicht – hier, im Salon des exklusivsten Privatclubs von Moskau,
konnte man nicht einfach die Einrichtung zertrümmern. Und ebensowenig
durfte man es dem Gegner seiner Schachpartie zeigen, wenn man vor Wut
schier explodierte. Deshalb konzentrierte Roman seinen Zorn auf das
grobkörnige Foto, das vor ihm auf dem kleinen Kaffeetisch neben dem
Schachbrett lag. Es zeigte einen Mann mittleren Alters, sportlich, mit kurz
geschnittenem Haar, blasser Gesichtsfarbe und völlig unauffälligem
Aussehen – und genau das war es, was Roman so verstörte.
Nika hielt sich auf Sicherheitsabstand, eine gute Armlänge von ihrem
jähzornigen Boss entfernt. »Unserer Quelle zufolge hat dieser Mann unser
Trojanisches Pferd neutralisiert«, informierte sie ihn.
Durch zusammengebissene Zähne fauchte Roman: »Wer ist er?«
Nika legte ein einziges Blatt Papier neben das Foto – den Ausdruck
eines Formblatts, auf dem die meisten Spalten leer waren.
Roman warf einen flüchtigen Blick darauf. »Das ist alles? Mehr haben
Sie und der gesamte Geheimdienstapparat über ihn nicht herausgefunden?«
Nika nickte. »Er fällt durch jedes Raster. Existiert in keiner Datenbank.
Was online über ihn vorhanden war, ist gelöscht worden. Unsere Agenten
haben ihn über zwei Jahrzehnte zurückverfolgt und doch nur wenig über ihn
herausgefunden. Bisher wissen wir nur, dass dieser Mann ein Auftragskiller
ist. Absolute Oberliga, wahrscheinlich in einem staatlichen Dienst
ausgebildet. Könnte sogar sein, dass wir selbst ihn früher einmal für
Aufträge angeheuert haben!«
Roman und sein Schachgegner starrten sich wie vom Blitz getroffen an.
»In der Szene ist er nur als Mr Grey bekannt. Angeblich reist er unter
vielen Pseudonymen – doch außer Grey ist uns kein einziges bekannt. Aber
wir haben Hinweise auf Verbindungen zu mehreren großen
Verbrecherorganisationen gefunden, darunter auch dem Sinaloa-Kartell, der
Yakuza-Organisation Yamaguchi-gumi und zur italienischen Camorra.
Unsere Quelle vermutet, dass Grey auch Verbindungen zu einer
Organisation namens Equilibrium hat. Außerdem vermuten wir, dass …«
»Equilibrium?«, unterbrach sie Romans Kamerad.
Nika nickte. Das Gesicht des Mannes wurde düster. Auch Roman
schluckte, als hätte er eine spitze Gräte verschluckt, und fluchte leise.
»Das … das ändert alles«, sagte sein Schachpartner.
»Wieso?«, wollte Nika verwundert wissen.
»Wenn Equilibrium darin verwickelt ist, geht das Problem Malkow weit
über unsere Grenzen hinaus.«
Roman wandte den Kopf ab und starrte in die lodernden Flammen im
Kamin, die sich in seinen dunklen Augen spiegelten. »Das erklärt dann
auch, warum der Schwarze König praktisch unantastbar ist«, zischte er
wütend.
Nika blickte verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her. »Aber
… was ist denn dieses Equilibrium?«
In fast ehrfürchtigem Ton erklärte Romans Schachpartner: »Equilibrium
ist eine Schattenorganisation. Manche halten sie für einen Mythos. Aber sie
ist echt und definitiv eine große Bedrohung.«
»Eine amerikanische Vereinigung?«, fragte Nika.
»Nein, soweit wir wissen, haben die Amerikaner damit nichts zu tun.
Gerüchten zufolge hat die Organisation ihre Basis in China, aber es kann
durchaus sein, dass ihr zentrales Gremium international besetzt ist.«
Roman wandte sich wieder seinem Kameraden zu. »Aber welches
Interesse hätte denn Equilibrium daran, den Schwarzen König zu
unterstützen?«
»Ist das denn nicht offensichtlich?«, hielt der dagegen. »Um unsere
Regierung zu stürzen und durch ihn an die Macht zu kommen.«
Er nahm die Schachfigur in die Hand, die den Schwarzen König
darstellte, und betrachtete sie im flackernden Licht der Flammen. »Deren
Beziehung zum Schwarzen König bedeutet Krieg für unser Land. Das Spiel
ist vorbei, Roman. Du musst diese Sache zu Ende bringen, und zwar sofort.
Nicht nur dir selbst zuliebe, sondern auch für Russland.«
Roman Gurow stand auf und knöpfte das Jackett zu. »Ich werde
persönlich eine Elitetruppe von FSB-Agenten zusammenstellen.«
»Nein, auf keinen Fall darf die Regierung hineingezogen werden. Das
ist eine schmutzige Sache und ich will, dass unsere Hände sauber bleiben.
Setz deinen anderen Hut auf, Roman. Als Boss der Bratwa kannst du eure
Kryscha als Vollstrecker losschicken.« Der Kamerad schleuderte die
Königsfigur mit einem wütenden Fluch in die Flammen und sah zu, wie sie
vom Feuer verzehrt wurde. »Verbrennt den Schwarzen König und macht
sein Schloss dem Erdboden gleich!«
KAPITEL 63

Connor kauerte hinter einem gewaltigen Baumstamm. Sein Atem bildete


dichte Wolken in der kalten Luft. Die ersten Strahlen der frühen
Morgensonne drangen scharf wie glänzende Speere durch das Geäst, aber
das Unterholz und der Boden blieben im Halbdunkel. Jason und Anastasia
lagen als dunkle Silhouetten im frischen weißen Schnee; niemand wagte
sich zu rühren. Auch Feliks lauerte neben ihnen, ebenfalls vollkommen still,
das Auge am Zielfernrohr seines Jagdgewehrs.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang waren sie auf Schneemobilen
losgefahren. Die Scheinwerfer hatten einen Pfad aus Licht durch die
Dunkelheit geschnitten. Viktor, Mr Grey und ein vierköpfiges
Sicherheitsteam fuhren auf drei Mobilen voraus; Feliks und Connor folgten,
den Schluss bildeten Jason und Anastasia mit dem fünften Schneemobil.
Tief im Wald waren sie abgestiegen und in breit auseinandergezogener
Formation langsam vorgerückt. Die Jagd hatte begonnen. Connor war der
Wald zuerst nur wie eine große, schneebedeckte, eisige Einöde erschienen;
es war ihm schwer gefallen, irgendwelche Wildspuren oder überhaupt nur
Anzeichen von Leben zu entdecken. Aber als die Morgendämmerung
anbrach, wurden allmählich auch frische Kothaufen und die Abdrücke
kleiner Hufe und Pfoten im Schnee sichtbar.
Sie folgten den Spuren und wollten gerade auf eine Lichtung treten, als
ein ahnungsloses Schneehuhn nur wenige Meter entfernt vor Feliks’ Flinte
lief. Der Vogel pickte im verharschten Schnee herum und suchte nach
Fressbarem.
Feliks korrigierte die Schussrichtung ein wenig, zwang sich, ruhiger zu
atmen und drückte ab. Der Schuss zerschmetterte die Waldesstille, echote
von den Bäumen zurück und verhallte schließlich in der Ferne.
»Hab sie!«, schrie Feliks, sprang auf und lief zu seiner Beute hinüber.
Er bückte sich und hob den toten Vogel an den gefiederten Beinen hoch.
Das Tier hing schlaff herab; Blut tropfte wie rote Perlen in den Schnee.
»Guter Schuss, Feliks«, lobte ihn sein Vater und reckte anerkennend die
dick behandschuhte Faust in die Höhe. »Der erste Volltreffer heute
Morgen.«
Stimmt nicht, dachte Connor, unfähig, die Erinnerung an Dimitri aus
seinen Gedanken zu vertreiben, wie er auf dem Teppich in Viktors Salon im
Todeskampf zuckte.
»Genau ins Herz getroffen!«, rief Feliks begeistert, als er den Vogel
genauer untersuchte und das blutige Loch in der Brust des Tieres entdeckte.
Sein Geschick hatte er offenbar den vielen Stunden zu verdanken, die er mit
seinem Vater auf der Jagd zugebracht hatte. Connor allerdings verstörte die
makabre Lust seines Schützlings am Töten zutiefst.
Er konnte sich für das Jagen nicht begeistern. Sicher, sie war nötig, um
Nahrung zu beschaffen, wenn es das eigene Überleben zu erhalten galt –
aber als Sport erschien sie ihm grausam und barbarisch. Seiner Meinung
nach sollte jeder Gegner im Kampf die gleiche Chance haben, sich zu
verteidigen. Aber sah man jemals ein Schneehuhn mit einer Remington-
Repetierbüchse herumlaufen?
Auch in Anastasias Miene las er Abscheu; offenbar war auch sie gegen
das grausame Töten. Jason dagegen hatte offenbar einen stärkeren
Jagdinstinkt, denn er hieb Feliks anerkennend auf die Schulter und
gratulierte ihm. Viktor hatte ihm ein Gewehr geliehen, bei dem Jason immer
wieder überprüfte, ob eine Kugel in der Kammer steckte, dann das Gewehr
anlegte und auf irgendetwas zielte, allerdings ohne zu feuern. Ganz
offensichtlich konnte Jason es kaum erwarten, nun selbst ein Schneehuhn
zu erlegen.
Wieder beim Schneemobil angekommen, band Feliks seine Trophäe an
der Rückseite fest; Connor nutzte die Gelegenheit, sein Smartphone zu
checken. Im Vereinigten Königreich war es mitten in der Nacht gewesen,
als er das Buddyguard-Hauptquartier angerufen und eine dringende
Nachricht hinterlassen hatte, dass ihn der Colonel umgehend kontaktieren
solle. Außerdem hatte er einen aktuellen Bericht geschickt, die Ermordung
Dimitris und kurz seine Befürchtungen über Mr Grey geschildert. Doch
selbst wenn der Colonel inzwischen geantwortet hatte, nützte ihm das nicht
viel: Hier draußen im Wald gab es kein Netz.
»Wie wär’s jetzt mit ein paar Nummern größer?«, fragte Viktor, als
Feliks sein Gewehr nachlud. »Vielleicht ein Reh oder ein Eber?«
Wieder schwärmten sie aus, doch dieses Mal getrennt: Viktor ging mit
seinen Leuten in südlicher Richtung, Feliks und seine Begleiter nach
Norden. Mr Grey und drei Sicherheitsleute blieben bei dem Milliardär,
während sich der vierte Sicherheitsmann Feliks’ Gruppe anschloss. Feliks,
Jason und der Leibwächter stapften voraus, Connor und Anastasia ließen
sich ein wenig zurückfallen.
Beide lächelten sich zu, aber obwohl Anastasias Lächeln wie immer
strahlend war, lag doch ein Hauch von Trauer darin. Wieder einmal wurde
es Connor bewusst, wie schön dieses Mädchen war. Aber der Anflug von
Trauer wich niemals aus ihren eisblauen Augen. Ihr vernarbter Rücken kam
ihm wieder in den Sinn. Er wünschte, er könnte sie irgendwie dazu
bewegen, sich ihm anzuvertrauen. Aber das hier war weder der richtige
Zeitpunkt noch der passende Ort. Wer weiß, vielleicht würde er eines Tages
dazu Gelegenheit finden, wenn sie sich erst einmal entschlossen hatte, der
Buddyguard-Organisation beizutreten. Jetzt jedoch stapfte Connor
schweigend neben ihr durch den Schnee und hoffte, dass seine stumme
Gesellschaft für sie Trost genug war.
Das Morgenlicht verwandelte den Forst in einen Märchenwald – dick
mit Eis und Schnee überzuckerte Bäume, frischer Schnee, so weiß wie
Baumwolle, funkelte und glitzerte frisch und rein in den frühen
Sonnenstrahlen. Ein Winterparadies aus vergänglichem Kristall – in das sie,
als Jäger, eindrangen.
Connor konnte nur hoffen, dass die Rehe und anderen Tiere schlau
genug waren, den Jagdtrupps nicht vor die Flinten zu laufen. Aber sie
waren noch nicht weit gekommen, als er eine Bewegung zwischen den
Bäumen bemerkte. Etwas Weißes, das er aber nur ganz flüchtig zu sehen
bekam.
Er machte Feliks und Jason nicht darauf aufmerksam, er hoffte, sie
würden die Gelegenheit verpassen, ein zweites Tier tödlich zu treffen.
Und dann erhaschte er noch einen kurzen Blick auf den, sich noch
bewegenden Zweig eines jungen Bäumchens, von dessen Tannennadeln der
Schnee rieselte – ein sicheres Zeichen, dass ein Tier gerade daran
vorbeigestreift war.
Anastasia hatte es auch bemerkt. Feliks und Jason stapften zusammen
mit dem Leibwächter voraus; sie hatten noch keine Ahnung, dass sie dicht
hinter einer potenziellen Beute herliefen. Anastasia beschleunigte plötzlich
ihren Schritt, bis sie zu Jason aufgeschlossen hatte. Da man sie vor Wölfen
und sogar vor Bären gewarnt hatte, die durch den Wald streifen mochten,
konnte Connor es ihr nicht verübeln, dass sie sich bei der bewaffneten
Gruppe sicherer fühlte.
Wieder registrierte Connor eine Bewegung, dieses Mal auf einer
niedrigen Felsengruppe. Und plötzlich blieb er wie erstarrt stehen. Links,
nur ein paar Meter entfernt, ragte der dunkle Lauf einer Waffe hinter einem
Baum hervor. Die Mündung zielte genau auf seine Brust.
Und durch das Zielfernrohr blickte niemand anders als Mr Grey.
Was für eine günstige Gelegenheit für den Killer, schoss es Connor
durch den Kopf, während sein Herz bis zum Hals schlug. Ein Jagdunfall.
Er könnte fliehen, sich hinter einen Baum retten, sogar den Killer
angreifen. Aber nichts davon kam wirklich in Frage: Er stand ungeschützt
im Freien und Mr Grey musste nichts anderes tun, als den Abzug zu
drücken. Connor wappnete sich für den unvermeidlichen Schuss –
Mr Grey senkte die Waffe. »Zu deinem Glück stehen wir auf derselben
Seite.«
Sein Blick zuckte durch den Wald, anscheinend suchte er nach einer
anderen Beute.
Connor atmete erleichtert aus. Sein Herz hämmerte immer noch wie
wild in seiner Brust. Herausfordernd starrte er den Killer an. »Ach,
wirklich?«, fragte er bissig.
Mr Grey hängte das Gewehr über die Schulter und stapfte heran.
Connor kam es vor, als würde die Luft noch um ein paar Grad kälter, als der
Mann näher kam. Er beugte sich nahe an Connors Ohr. »Im Moment
jedenfalls.«
Ein leises Pfeifen wie ein Vogelruf war zu hören; beide drehten sich um.
Auf einer kleinen Anhöhe stand Viktor und winkte alle zu sich, wobei er
ihnen aber signalisierte, sich leise und geduckt zu bewegen. Zusammen mit
dem Rest der Gruppe schlichen Connor und Mr Grey den Hang hinauf und
gingen hinter einem großen, umgestürzten Baumstamm in Deckung. Viktor
deutete wortlos auf die Lichtung, die vor ihnen lag. Ein einsamer Wolf
stand mitten darauf und riss Fleischfetzen aus einem Rehkitz.
»Mein Preis«, flüsterte Viktor und legte das Gewehr an. Er entsicherte
es, legte das Auge ans Zielfernrohr und zielte sorgfältig.
Der Wolf stellte plötzlich die Ohren auf. Sein Kopf fuhr hoch, er blickte
sich nach der Gefahr um, sämtliche Sinne aufs Äußerste angespannt.
Aber das Tier blickte nicht in ihre Richtung.
Viktor drückte den Abzug. Der Schuss knallte. Und im selben
Augenblick krachte ein Dutzend Schüsse los. In einer einzigen Sekunde
verwandelte sich die Lichtung in ein Chaos aus Lärm und wirbelndem
Schnee.
KAPITEL 64

Mr Grey war bereits in Bewegung, warf sich auf Viktor, als ein
Querschläger von einem Baumstamm abgelenkt wurde. Holzsplitter
sprühten wie winzige Pfeile durch die Luft; Connor drückte Feliks hinter
den Baum und schützte sie beide mit seiner Jacke. Auch Jason versuchte,
Feliks abzuschirmen, zugleich aber auch Anastasia, doch seine Jacke war
nicht groß genug für alle beide und für ihn selbst. Ein Holzsplitter riss eine
Wunde in Anastasias Wange; Blut lief ihr übers Gesicht.
Die vier Sicherheitsleute hatten ihre MP7-Maschinenpistolen gezogen
und erwiderten das Feuer.
Aber auf wen schießen sie?, fragte sich Connor, während er sich
hektisch im Wald umblickte. Offenbar war es kein Reh gewesen, das den
Schnee von dem kleinen Ast gestreift hatte, sondern ein Angreifer! Der
reinste Witz! Feliks und sein Vater hatten geglaubt, sie seien die Jäger;
tatsächlich waren sie selbst die Gejagten.
Der Wolf war längst verschwunden. Das Krachen und Donnern der
Automatikwaffen hallte durch den Wald, überall war das scharfe ZING! der
Stahlmantelgeschosse zu hören. Noch bot ihnen der Baumstamm ein wenig
Schutz, aber nur in eine Richtung. Sie lagen oben an einem Hang, nach
beiden Seiten und von hinten ungeschützt und somit in höchster Gefahr.
Einer der Leibwächter wollte zum Angriff übergehen, schrie aber auf, als
ihn eine Kugel in den Rücken traf. Er fiel über den Baumstamm und blieb
reglos darauf liegen. Blut schoss aus der Wunde und färbte den Schnee rot.
»Wir sind umzingelt!«, schrie einer der Leibwächter und feuerte wild
auf die Baumreihe hinter ihnen.
Nur Mr Grey schien nicht in Panik zu geraten. Mit einer Hand drückte
er Viktor in den Schnee, mit der anderen richtete er die Waffe auf die
Bäume. Seine kalten Augen schweiften über den Wald.
»Nicht ganz. Rolan, du feuerst auf die Felsengruppe dort drüben«,
befahl er mit ruhiger, aber fester Stimme. »Koldan, auf die Bäume links von
dir. Iwan, du kommst mit mir.«
Als die Kugeln nur Zentimeter von ihnen entfernt den Schnee
durchsiebten, schrie Feliks auf und rollte sich in Embryohaltung zusammen.
Auch Anastasia zuckte zurück und duckte sich, so gut es ging. Mr Grey
hingegen wandte sich ganz kühl an Connor und Jason, sein Blick war hart
wie Stahl. »Jetzt werden wir sehen, aus welchem Holz ihr zwei geschnitzt
seid. Schafft Feliks zur Datscha zurück. Viktor, Zeit zu verschwinden!«
Die beiden Leibwächter blieben zurück, um Sperrfeuer zu geben. Mr
Grey und Iwan nahmen Viktor in die Mitte und rannten mit ihm den
Abhang zu den Schneemobilen hinunter. Connor warf Jason einen kurzen
Blick zu, der zuckte die Schultern. Beide wussten, dass es Selbstmord wäre,
diesen Lauf zu wagen, aber hatten sie denn überhaupt noch eine Wahl?
Connor riss Feliks grob auf die Füße und sprintete hinter den drei Männern
her. Jason und Anastasia folgten dichtauf.
Kugeln flogen ihnen um den Kopf, verfolgten sie auf dem ganzen Weg,
schlugen in die Baumstämme ein, Rindenstücke und Holzsplitter prasselten
auf sie herab. Geduckt rannte Connor mit der kleinen Gruppe im
Zickzackkurs den Hang hinunter, um eine möglichst geringe Angriffsfläche
zu bieten. Als sie schon die Schneemobile vor sich stehen sahen, stolperte
Feliks über eine Wurzel. Er stürzte mit dem Gesicht voraus in den Schnee;
die Waffe fiel ihm aus den Händen. Im selben Moment schien es Kugeln
aus dem Wald zu regnen; Connor warf sich über seinen Schützling.
»Nicht bewegen!«, schrie er und spannte den Körper an, für den
brutalen Schlag, der gleich kommen musste.
»Feliks!«, brüllte sein Vater voller Verzweiflung, während die Kugeln
den Schnee um ihn herum aufwirbelten.
Aus dem Augenwinkel entdeckte Connor Jason und Anastasia, die sich
flach gegen einen Baumstamm pressten und verzweifelt versuchten, sich
vor dem Kugelhagel zu schützen –
Und Connor wurde getroffen. Ein harter, äußerst schmerzhafter Schlag
in den unteren Rücken.
Der Schmerz schoss mit solcher Brutalität durch ihn hindurch, dass er
nicht mehr atmen konnte. Sein Blickfeld verengte sich, bis der verschneite
Wald nur noch ein winziger Lichtpunkt in der Schwärze war. Als er das
Bewusstsein verlor, verstummte auch der Lärm der Schüsse, das Rattern der
Maschinenpistolen war nur noch wie das ferne Rattern eines Zuges, der
irgendwo durch einen langen schwarzen Tunnel raste …
… doch dann kamen die Lichter des Zugs wieder aus dem dunklen
Tunnel herangerast, wurden immer greller, so gleißend hell, dass Connors
Augen schmerzten, und der chaotische Lärm, das Rattern der Räder auf den
Gleisen wurde immer wilder und dröhnender … und durch das Krachen der
Schüsse hörte er jemanden seinen Namen rufen: »CONNOR!«
Benommen, verwirrt, hob Connor den Kopf und öffnete die Augen.
Er lag immer noch auf Feliks. Jason kniete neben ihm, rüttelte ihn an
der Schulter. Im erbarmungslosen Beschuss war eine kurze Pause
eingetreten: Die Angreifer mussten schnellstmöglich in Deckung gehen, als
Iwan seine MP7 herumschwenkte und die Bäume ringsum mit gnadenlosem
Dauerfeuer bestrich.
»BEWEGT EUCH! SCHNELL!«, brüllte Mr Grey.
Connor, immer noch benommen, wurde klar, dass er noch lebte: Seine
kugelsichere Jacke hatte das Geschoss abgefangen. Unsicher rappelte er
sich mit Jasons Hilfe hoch; zusammen halfen sie Feliks auf die Beine.
»Alles klar?«, fragte sein Teamkollege.
»Geht so.« Feliks klopfte sich den Schnee von den Kleidern.
»Ich hab Connor gemeint!«, blaffte ihn Jason an.
Connor nickte. »Hab’s überlebt«, krächzte er. Aber er fühlte sich, als sei
er gerade mit voller Wucht von einem Zehntonner überrollt worden.
Die letzten zwanzig Meter zu den Schneemobilen brachte er taumelnd
hinter sich.
Mr Grey und Viktor rasten bereits aus der Gefahrenzone, der Motor
heulte in Höchstleistung. Jason und Anastasia sprangen auf ihr
Schneemobil.
»Aber mein Gewehr!«, rief Feliks plötzlich und drehte sich um.
»Lass es liegen!«, keuchte Connor, stieg auf das Schneemobil und
startete den Motor. Sein Rücken schmerzte höllisch, aber das Adrenalin
strömte so stark durch seine Adern, dass der Schmerz ein wenig gedämpft
wurde. »Steig auf!«, brüllte er Feliks zu – und im selben Moment
verstummte Iwans MP mit einem Klicken. Das Magazin war leer.
Kurze, verblüffte Stille folgte – als würde der Wald Luft holen –, und
dann krachten erneut die Schüsse hinter den Bäumen hervor. Der
Bodyguard fiel schon bei der ersten Salve in den Schnee. Feliks klammerte
sich an Connor, der den Gashebel anzog, und das Schneemobil schoss
zwischen den Bäumen hindurch aus der Gefahrenzone.
KAPITEL 65

Connor fuhr so schnell, wie er es im Wald wagen konnte. Zweige peitschten


über ihre Gesichter. Eine Kugelsalve krachte in das Heck des Schneemobils
und schredderte das Schneehuhn, das dort hing, Federn und Blutspritzer
wirbelten durch die Luft. Feliks schrie in Connors Ohr, als Connor das
Fahrzeug scharf nach rechts riss, um einen Frontalaufprall gegen einen
Baum zu vermeiden. Connor folgte so gut es ging der Spur, die von Viktor
und Mr Greys Mobil durch den unberührten Schnee gezogen worden war,
und versuchte, die anderen einzuholen. Aber die Ausfahrt an diesem
Morgen war seine erste mit einem Schneemobil und erforderte seine ganze
Geschicklichkeit. Hinter sich hörte er Jasons und Anastasias Gefährt, das
sich mit laut jaulendem Motor durch den Schnee kämpfte. Aus der Ferne
waren immer noch Schüsse zu hören. Die beiden zurückgebliebenen
Bodyguards kämpften um ihr Leben.
Schließlich entdeckte Connor vor sich die Rücklichter von Viktors
Schneemobil. Doch als er es eingeholt hatte, rasten sie geradewegs in einen
weiteren Hinterhalt. Vier Angreifer in weißen Tarnanzügen und mit
Sturmgewehren ausgerüstet eröffneten das Feuer. Mr Grey und Viktor
schwenkten abrupt nach links; instinktiv riss Connor sein Mobil nach
rechts. Er hatte keine Zeit zu schauen, was aus Jason und Anastasia wurde.
Kugeln schredderten die Rinde der Bäume ringsum und jaulten ins
Unterholz. Connor und Feliks duckten sich so tief es ging auf die Sitze; nur
die hohe Geschwindigkeit rettete sie davor, abgeschossen zu werden.
Durch vorbeiflitzende Büsche und aufgewirbelte Schneefontänen
hindurch entdeckte Connor einen der Feinde, der Mr Greys und Viktors
Fluchtroute blockierte. Mr Grey ging zum Angriff über, steuerte sein Mobil
nur mit einer Hand, zog die Pistole und verpasste dem Mann einen glatten
Kopfschuss.
Aber auch die drei übrigen Angreifer waren immer noch gefährlich
genug.
Einer sprang direkt vor Connors Schneemobil. Connor blieb keine Zeit,
dem Mann oder seinen Kugeln auszuweichen.
Als der Angreifer das Gewehr zum tödlichen Schuss anlegte, zuckte
Connor Jodys Ratschlag durch den Kopf, wie man einen Angriff überleben
konnte: Wenn sich dir ein bewaffneter Angreifer in den Weg stellt, kannst du
ihn entweder rammen, ihm ausweichen oder ihn überfahren. Connor
zögerte keine Sekunde. Er gab Vollgas und raste auf eine Bodenwelle zu,
die eine kleine Schanze bildete. Das Schneemobil schoss in die Luft und
flog einer Lenkrakete gleich auf den Angreifer zu. Der Mann duckte sich
unwillkürlich, konnte aber dem Heck des Fahrzeugs nicht mehr
ausweichen. Das Gewehr wurde ihm aus den Händen geschleudert und er
selbst wurde zu Boden geschmettert. Das Schneemobil krachte mit einem
knochenerschütterndem RUMMS wieder auf den Boden. Connor kämpfte,
um das Fahrzeug unter Kontrolle zu bringen. Er wagte einen kurzen Blick
über die Schulter: Der Angreifer lag bewegungslos im Schnee.
Connor erlaubte sich zumindest rasch ein triumphierendes Grinsen – er
hatte gerade den Stunt des Jahrhunderts abgeliefert! Er drehte voll auf und
raste zwischen den Bäumen hindurch davon.
Als er erneut einen Blick über die Schulter warf, waren er und Feliks
allein. Die Gefahrenzone lag hinter ihnen.
»Wer sind diese Männer?«, versuchte Feliks den Motorenlärm zu
übertönen.
»Bratwa! FSB! Armee! Such dir was aus, Feliks!«, brüllte Connor
zurück. Mit zusammengebissenen Zähnen konzentrierte er sich darauf, das
Schneemobil auf den Kufen zu halten, während sie einen Abhang
hinunterrasten. »Dein Vater hat viele Feinde.«
Er ging so scharf in eine Kurve, dass ihr Heck ausbrach und die Kufen
über einen Baumstamm scheuerten.
»Fahr langsamer!«, flehte Feliks und umklammerte Connors Hüfte noch
fester.
Aber das hatte Connor nicht vor. Sie mochten das Schlachtfeld hinter
sich gelassen haben, die Schüsse waren nur noch aus der Ferne zu hören,
aber gerade kamen sie an zwei Leichen vorbei, die im Schnee lagen. Eine
Sicherheitspatrouille der Datscha, nach ihren Uniformen zu urteilen.
Connor musste daher befürchten, dass die Angreifer die Datscha gestürmt
hatten.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wohin wir fahren?«, wollte Feliks
wissen.
Connor blieb ihm die Antwort schuldig: Er hatte keine Ahnung. Bisher
hatte er sich nur darauf konzentriert, der unmittelbaren Gefahr zu
entkommen. Er nahm das Gas weg; das Schneemobil hielt an. Connor
blickte sich um. Sie befanden sich immer noch tief im Wald, in jeder
Richtung sah es ähnlich aus.
Inzwischen hatte es wieder stark zu schneien begonnen; auffällige
Spuren waren bereits nicht mehr zu sehen. Connor wusste, dass die Datscha
östlich des Jagdreviers lag, zu dem sie am Morgen aufgebrochen waren. Er
versuchte, sich am Stand der schwachen Sonne zu orientieren, die durch das
Gewirr der Äste und Zweige drang.
»Hast du überhaupt einen Fluchtplan?«, fragte Feliks in vorwurfsvollem
Ton.
Connor drehte sich um, wobei ihn die Schmerzen im Rücken
zusammenzucken ließen, und starrte seinen Schützling wütend an. Er hatte
längst genug von diesem undankbaren, verwöhnten Schnösel. »Ich habe dir
gerade das Leben gerettet! Schon wieder! Das Wort Danke gehört wohl
nicht zu deinem Wortschatz?«
»Danke«, sagte Feliks sarkastisch. »Aber hier draußen kann ich immer
noch sterben.«
»Genau das versuche ich zu verhindern«, gab Connor scharf zurück.
»Wir müssen zur Datscha zurück und die anderen finden. Dann können wir
dich und deinen Vater irgendwohin bringen, wo es sicherer ist. Das ist mein
Plan.«
Feliks hob ungläubig die Augenbrauen. »Na super. Die Datscha liegt
aber ganz woanders.« Er deutete in die entgegengesetzte Richtung.
»Danke«, sagte Connor, ebenfalls in sarkastischem Ton. Er gab Gas und
wendete das Schneemobil.
Sie fuhren schweigend weiter. Connor fragte sich ernsthaft, warum er
sich überhaupt die Mühe machte, diesen Jungen zu beschützen, dem es
offenbar völlig egal war, wie hart Connor kämpfen musste, um ihn und sich
am Leben zu halten. Der Job eines Bodyguards war schon schwierig genug,
wenn man den Klienten mochte, aber fast unmöglich, sofern man ihn nicht
ausstehen konnte.
Doch Connor war mit einem unerschütterlichen Pflichtbewusstsein
aufgewachsen, er hatte nicht die Absicht, gerade jetzt seine Aufgabe zu
vernachlässigen. Außerdem: Wenn sie diesen Albtraum irgendwie
überleben wollten, mussten sie zusammenhalten.
Es gab keine Spuren mehr, denen er hätte folgen können. Connor fiel
das Steuern immer schwerer, vom ständigen Kampf mit der Lenkstange
schmerzten seine Arme. Ab und zu hörte er nicht einzuordnende Schüsse.
Er konnte nur hoffen, dass Jason und Anastasia heil aus dem zweiten
Hinterhalt herausgekommen waren. Bevor Connor dem Angriff
ausgewichen war, hatte er Jasons Schneemobil direkt hinter sich gehört.
Aber es waren immer noch zwei Angreifer aktiv gewesen und Jasons
Möglichkeiten, ihren tödlichen Schüssen auszuweichen, waren vermutlich
äußerst gering,
Sie waren gerade aus dem Wald heraus und fuhren über eine
Bodenwelle, als Connor das Brummen eines weiteren Schneemobils hörte.
Er fuhr langsamer, um darauf zu warten. Als der Lärm näher kam, konnte er
zwei Motoren ausmachen. Feliks drehte sich mit hoffnungsvollem Grinsen
zu Connor um. »Das sind bestimmt mein Vater und Mr Grey!«
Aber seine gute Laune verflog schnell, als die beiden Schneemobile
über den Kamm der Bodenwelle heranbretterten. Auf den Sitzen der
Fahrzeuge – auf denen die Sicherheitsleute gefahren waren, die beim ersten
Hinterhalt zurückgeblieben waren – saßen zwei in weiße Skijacken
gekleidete Bewaffnete.
»Dort drüben!«, brüllte einer und deutete mit dem Sturmgewehr in
Connors Richtung.
Und schon eröffneten sie das Feuer. Connor gab Gas und raste in
Richtung der Datscha davon, wo sie sich, wie er hoffte, in Sicherheit
bringen konnten. Die beiden anderen Schneemobile folgten ihnen mit
vollem Tempo.
Eine wilde Jagd begann. Connor fuhr mit Höchstgeschwindigkeit, aber
in seinem panikartigen Zustand achtete er nicht genau genug auf die
Strecke, die vor ihm lag. Sie rasten mit ungefähr sechzig Stundenkilometern
durch den Schnee, als das Mobil mit voller Wucht gegen einen halb vom
Schnee bedeckten Baumstumpf krachte.
KAPITEL 66

Connor wurde mit dem Kopf vorweg aus dem Schneemobil geschleudert. In
dem Sekundenbruchteil nach dem Aufprall registrierte er in blitzschneller
Folge den zerschmetterten Rumpf des Mobils, die dunklen Wolken, den
eiskalten Wind an den Wangen – sah Feliks durch die Luft fliegen, wie ein
Vogel mit gebrochenen Flügeln mit beiden Armen wild rudernd –, und dann
kam auch schon die harte Landung auf dem gefrorenen Winterboden, der so
hart und unnachgiebig wie Beton war. Er überschlug sich mehrmals und
blieb schließlich zusammengekrümmt liegen.
Feliks wand sich nicht weit entfernt am Boden und stöhnte … aber
immerhin war er noch am Leben.
Das tiefe Brummen der beiden Schneemobile wurde immer lauter. Dann
verstummten die Motoren und eine seltsame, unheimliche Stille breitete
sich aus. Connor, bis ins Mark erschüttert und geschlagen, war zu nichts
mehr fähig, außer im Schnee zu liegen. Sein Körper reagierte nicht mehr,
während er das Knirschen der Stiefel im Schnee hörte, das lauter wurde.
Ein Schatten fiel über ihn.
»Sind doch nur Kids!«, sagte eine heisere Stimme – der Mann rauchte
bestimmt mindestens dreißig Zigaretten am Tag.
»Ja, schon«, lallte der andere Mann lässig – wahrscheinlich ein Säufer.
»Aber der hier ist Malkows Sohn.«
»Heißt das, für den kriegen wir einen Extrabonus?«
»Ganz bestimmt.«
»Und was machen wir mit dem anderen? Ist der auch was wert?«
Eine Stiefelspitze wurde unter Connors Hüfte geschoben und wälzte ihn
auf den Rücken. Connor stöhnte auf vor Schmerzen, aber immerhin konnte
er jetzt seine Angreifer sehen. Der Mann über ihm war ein stiernackiger
Typ mit dicken schwarzen Augenbrauen und breitgeschlagener Boxernase.
Schwielen an den Handknöcheln und Blumenkohlohren waren weitere
Indizien dafür, dass der Mann jedes Wochenende im Boxring verbrachte.
Der andere, offenbar der Anführer, war größer, mit kahl geschorenem Kopf
und quadratischer Kinnlade, die von einer langen weißen Narbe verunstaltet
wurde. Auf dem Rücken der rechten Hand war ein schlampig ausgeführtes
Tattoo zu sehen. Es zeigte einen schwarzen Totenschädel.
Der beugte sich nun über Connor. »Ich denke mal, das ist einer der
beiden jungen Bodyguards, vor denen uns der Pakhan gewarnt hat.«
Der Boxer schnaubte verächtlich. »Schöner Aufpasser. Sieht halb tot
aus.«
»Halb tot mag ich nicht«, sagte der Schädelmann und zog die Pistole
aus dem Holster. »Ganz tot ist besser. Und der Pakhan hat ja auch gesagt,
dass die Bodyguards entbehrlich sind.«
Mit dem Tod konfrontiert, reagierte Connors Körper endlich auf die
verzweifelten Signale seines Gehirns. Mit unglaublicher Schnelligkeit
packte Connor den Lauf der Waffe.
»Was zum …?«, schrie der Schädelmann erschrocken, als der Halbtote
plötzlich hochschnellte und versuchte, ihn zu entwaffnen.
Genau wie er es im Training hunderte Male geübt hatte, drehte Connor
die Pistolenmündung von sich weg. Der Schuss löste sich, die Kugel schlug
in den Boden und schickte eine kleine Schneefontäne in die Luft. Und
wieder zuckten Jodys Anweisungen durch Connors Kopf: Sobald ihr die
Waffe erobert habt, gebt ihr sie nicht mehr aus der Hand. Davon hängt
buchstäblich euer Leben ab.
Daran hatte Connor nicht den geringsten Zweifel. Er kickte den Mann,
so hart er konnte, in das rechte Knie. Der Mann knickte ein und Connor riss
die Waffe brutal herum, sodass sie nun auf den Angreifer gerichtet war. Ein
übelkeiterregendes Knack! war zu hören, als der Zeigefinger des
Angreifers, der im Schutzbügel eingeklemmt war, brach. Der Schädelmann
heulte auf vor Schmerzen. Aber während Connor noch mit ihm rang, um
die Pistole vollständig unter Kontrolle zu bekommen, reagierte der andere.
Er trat mit einem Schritt heran und versetzte Connor einen rechten Haken.
Der Schlag wirkte wie ein Vorschlaghammer, erwischte Connor mit voller
Wucht am Kinn. Sterne explodierten vor Connors Augen und seine Kraft
brach schlagartig in sich zusammen. Connor wurde schlaff, ließ die Pistole
fallen und sackte zu Boden.
Immer noch heulend vor Schmerz und Wut kam der Schädelmann
wieder auf die Füße, humpelte zu Connor und trat ihn gegen den
Oberschenkel. »Auf die Knie!«, bellte er wütend.
Connors Kopf dröhnte, sein Kinn fühlte sich an, als sei es ausgerenkt
worden. Mühsam kämpfte er sich auf die Knie und erhielt einen weiteren
brutalen Stiefeltritt.
»Also steckt doch noch ein bisschen Kampfgeist in ihm«, grölte der
Boxertyp und lachte rau. »Er hat dir den Finger gebrochen!«
Der Schädelmann fand das nicht so lustig. Er funkelte seinen Partner
düster an, nahm die Pistole in die linke Hand und setzte die kalte Mündung
auf Connors Stirn.
»Das ist eine SPS-Pistole«, erklärte er Connor voller rachsüchtiger
Schadenfreude. »Mein persönliches Schätzchen, wenn ich Abschaum wie
dich umlegen muss. Im Moment ist sie mit panzerbrechenden SP10-
Patronen geladen, und ob du’s glaubst oder nicht, sie fegt aus hundert
Metern Entfernung glatt durch dreißig Schichten Kevlar und eine
Titanplatte. Warum ich dir das erzähle?«
Er legte eine kleine Pause ein, um die Spannung zu steigern, und
grinste, wobei er sein ungleichmäßiges, gelb verfärbtes Gebiss zeigte.
»Damit du weißt, was mit dir passiert, wenn ich abdrücke«, antwortete
er auf seine eigene Frage. »Die Kugel wird dir nämlich das Gehirn aus dem
Schädel blasen, und das Loch wird so groß sein, dass ich ohne Probleme die
Hand durchstecken und den Rest herauskratzen kann, falls noch was übrig
ist.«
»Mit einem gebrochenen Finger dürfte das nicht ganz so einfach sein«,
fauchte ihm Connor ins Gesicht, ein letztes Aufbegehren gegen seinen
Angreifer. Aber Connor musste dem Mann nur in die rotgeäderten Augen
blicken, um zu wissen, dass es vorbei war. Er hatte seine Gelegenheit
gehabt, ihn zu entwaffnen … und hatte versagt.
In den wenigen Sekunden, die ihm vom Leben noch blieben, schweiften
seine Gedanken zu seiner Mutter und Großmutter zurück. Du darfst nicht
dein Leben für unseres aufs Spiel setzen, hörte er seine Großmutter noch
einmal flehen. Du stehst direkt in der Schusslinie. Du riskierst alles. Und
wofür?
Für dich und für Mum, hatte er geantwortet. Und das galt immer noch.
Aber jetzt wünschte er sich nichts mehr, als irgendwo mit Mum und Gran in
Sicherheit zu sein.
Sein letzter Gedanke galt Charley. Nie mehr würde er ihre Stimme
hören, ihre Hand halten, ihre weichen Lippen küssen. Sie hatte ihn davor
gewarnt, diese Mission anzutreten. Warum hatte er nicht auf sie gehört?
Jetzt würde er hier in dieser eisigen Einöde sterben.
Der Schädelmann legte den Finger auf den Abzug. »Sprich dein letztes
Gebet, kleiner Bodyguard!«
KAPITEL 67

Der Schuss krachte.


Connor hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit.
Der Schädelmann allerdings auch nicht.
Das Geschoss drang direkt durch seine Brust. Eine zweite Kugel schlug
ihr Loch etwa eine Handbreit links daneben. Der Mann taumelte zurück und
eine dritte Kugel drang ihm durch den Kopf.
Mosambik-Drill, schoss es Connor automatisch durch den Kopf, als der
Mann im Schnee zusammenbrach.
Sein Partner schnellte herum und rannte zum Schneemobil zurück, wo
sein Sturmgewehr an der Lenkstange hing. Aber zwei weitere äußerst
präzise Schüsse schalteten ihn aus, noch bevor er nach seiner Waffe greifen
konnte.
Connor blinzelte geschockt. Keine zehn Sekunden war es her, dass er
dem Tod ins Auge geblickt hatte. Jetzt waren es seine beiden Angreifer, die
tot im Schnee lagen. Connor richtete sich auf und warf einen Blick über die
Schulter; er rechnete fest damit, Mr Grey aus dem Wald treten zu sehen.
Aber nicht der eiskalte Fremde tauchte auf, sondern Jason und Anastasia –
Jason immer noch mit dem Jagdgewehr im Anschlag, die Mündung auf den
stillen Körper des Schädelmanns gerichtet.
Anastasia rannte herbei, um Feliks zu helfen, während Jason auf
Connor zukam. Als er an dem Toten vorbeilief, der beim Schneemobil lag,
stieß er ihn prüfend mit dem Fuß an. Der Mann regte sich nicht.
»Er ist … tot«, sagte Jason, und es klang, als könne er es selbst nicht
ganz glauben. Er senkte die Waffe und streckte Connor die Hand hin, um
ihm auf die Füße zu helfen.
»Du hattest keine andere Wahl«, sagte Connor tonlos und noch
benommen, als er sah, dass Jasons Hände zitterten. »Er oder ich.«
»Ich weiß. Eine schwere Entscheidung«, sagte Jason mit gezwungenem,
freudlosem Grinsen. »Ich wette, du bist jetzt froh, dass ich besser schieße
als du.«
»Und ob. Wenn es anders herum gewesen wäre, hätte ich womöglich
dich getroffen!«
Jason zog ihn plötzlich an sich und umarmte ihn. »Bin einfach nur froh,
dass du lebst, Kumpel.«
»Geht mir auch so«, sagte Connor, von dieser plötzlichen
Freundschaftsbekundung überrascht.
Jason ließ ihn wieder los und einen kurzen Augenblick herrschte
verlegenes Schweigen, keiner wusste, was er als Nächstes sagen sollte.
»Was … was war bei euch los?«, fragte Connor schließlich. »Wo ist
euer Schneemobil?«
Irgendwo im Wald krachten schnell hintereinander zwei Schüsse. Jason
fuhr herum und starrte besorgt zum Waldrand hinüber. »Wir haben euch
beim zweiten Hinterhalt aus den Augen verloren. Dort herrschte das reinste
Chaos, aber wir haben es irgendwie geschafft, zwischen den Angreifern
hindurchzurasen. Zwei von ihnen verfolgten uns zu Fuß, mussten dann aber
aufgeben. Aber kaum waren wir die los, tauchte plötzlich noch eine Einheit
auf. Sie müssen eine halbe Armee in den Wald geschickt haben! Wir haben
es nur mit knappster Not geschafft zu entkommen. Aber dabei sind wir mit
einer Kufe in einen Graben gekracht, die Kufe ist gebrochen, und danach
mussten wir zu Fuß weiter.«
»Habt ihr gesehen, ob Viktor und Mr Grey es geschafft haben?«
Jason schüttelte den Kopf. »Nein, aber da waren ein paar Schneemobile
in der Ferne zu hören.«
»Das könnten auch diese beiden hier gewesen sein«, meinte Connor und
nickte zu den toten Angreifern hinüber.
»Wir müssen verschwinden!«, rief Anastasia drängend, während sie
Feliks zu einem der Schneemobile half. Der Junge humpelte stark.
»Sie hat recht«, sagte Jason. »Die anderen Typen sind nicht weit hinter
uns. Kannst du gehen?«
»Könnte sogar rennen, wenn es sein müsste«, nickte Connor. Er wollte
nicht zugeben, wie wackelig er auf den Beinen stand. Als ob der Boxertyp
nicht nur sein Kinn, sondern den ganzen Körper mit seinen Hammerfäusten
bearbeitet hätte.
Als die beiden Jungen zum Schneemobil liefen, riss Anastasia plötzlich
die Augen auf und schrie gellend: »Passt auf! Hinter euch!«
Connor und Jason wirbelten herum. Der Schädelmann hatte sich mitten
in einem großen Fleck aus blutgetränktem Schnee aufgerichtet, sein
vernarbtes Gesicht bleich wie eine Totenmaske. Die beiden ersten Kugeln
hatten zwar getroffen, aber die dritte hatte seinen Kopf nur gestreift und ihn
für ein paar Sekunden außer Gefecht gesetzt, aber nicht getötet. Sein Arm
zitterte heftig, als er versuchte, die Pistole auf die beiden Jungen zu richten.
»Zu spät für ein Gebet«, stieß der Schädelmann mit einem Blutschwall
hervor, als er auf den Abzug drückte.
Connor spürte den Einschlag nicht … weil Jason die Kugel für ihn
einfing.
In der Sekunde, bevor der Schädelmann abdrückte, hatte sich Jason
blitzschnell vor Connor gestellt und ihn geschützt. Das Geschoss traf ihn
mit voller Wucht in den Rücken. Jason erstarrte und stöhnte auf vor
Schmerzen. Hinter ihm brach der Schädelmann endgültig zusammen und
nahm eine weitere, letzte Sünde mit ins Jenseits.
»Jason!«, rief Connor entsetzt und hielt ihn an sich gepresst. Zusammen
sanken sie in die Knie.
»Oh Mann, das tut weh!«, stöhnte Jason, das Gesicht vor Schmerzen
verzogen. »Echt brutal.«
»Keine Angst, du trägst deine kugelsichere Jacke. Wird alles gut. Aber
der Einschlag ist wie der Tritt von einem Esel«, erklärte Connor, dessen
eigener Rücken immer noch vor Schmerzen pochte, seit er beim ersten
Hinterhalt eine Kugel abbekommen hatte. Er ließ Jason zu Boden gleiten
und öffnete Jasons Reißverschluss. Trotz der kugelsicheren Jacke war es
möglich, dass Jason eine schwere Aufprallverletzung erlitten hatte. Connor
musste nachschauen, ob irgendeine ungewöhnliche Prellung zu sehen war
… Er schob die Jacke zurück.
Und entdeckte Blut, das durch Jasons Pullover drang.
Das konnte nicht sein …
In diesem Augenblick fiel es ihm wieder ein … SP10-Geschoss …
panzerbrechend … gehärteter Stahlkern … Diese Patrone kann dreißig
Kevlarschichten und eine Titanplatte durchschlagen.
Anastasia rannte zu dem Schädelmann hinüber und riss dem Sterbenden
die Pistole aus der Hand, während Connor die blutgetränkten
Kleidungsschichten zurückschob und eine entsetzlich große Schusswunde
in Jasons Bauch freilegte. Das panzerbrechende Geschoss war durch Jasons
Körper gedrungen und erst von der schusssicheren Vorderseite seiner Jacke
endlich gestoppt worden.
»Sag mir die Wahrheit«, keuchte Jason. Schweißperlen standen auf
seiner Stirn.
»Du schaffst das«, antwortete Connor und versuchte, die Wunde
zuzudrücken. Jason schrie auf vor Schmerzen. Aber immer noch quoll Blut
zwischen Connors Fingern hindurch.
Connor konnte den Gedanken nicht ertragen, seinen Partner und Freund
zu verlieren. Nicht nach allem, was sie bei dieser Mission gemeinsam
durchgestanden hatten. Hektisch griff er nach seinem Rucksack, der bei
dem Aufprall mit dem Schneemobil zerfetzt worden war, sein Inhalt lag
überall im Schnee verstreut. Nach kurzer, panischer Suche fand er, was er
brauchte.
»Anastasia, die Binden und den QuickClot-Pack dort drüben!«, befahl
er knapp und deutete auf die beiden Gegenstände, die Leben retten konnten.
Sie sammelte sie auf, sowie weitere Dinge, die in der Nähe lagen, und
rannte zu den beiden Freunden hinüber. Connor hatte inzwischen auch
Jasons Rücken freigelegt. Er riss den Packen auf und legte zwei Schichten
QuickClot auf die Ein- und Austrittswunden, eine Auflage, die mit Kaolin
beschichtet war und die Blutgerinnung bei stark blutenden Wunden
beschleunigte, die nicht anders gestillt werden konnten. Es begann sofort zu
wirken.
»Du schaffst das«, sagte Connor noch einmal beruhigend, obwohl er
wusste, dass die Versorgung nur ein provisorischer Notbehelf war – und
auch Jason wusste es. Sie mussten ihn so schnell wie möglich in die
Datscha zurückbringen, wo ein professionell ausgestatteter Erste-Hilfe-
Schrank zur Verfügung stand.
Jason lächelte schwach. »Du wiederholst dich. Es fühlt sich ganz anders
an …«
Connor drehte sich zu Anastasia um, die betroffen und reglos auf Jasons
Wunden starrte. »Hol eines der Schneemobile her. Wir müssen ihn zum
Haus bringen.«
Anastasia fuhr ruckartig aus ihrem tranceartigen Zustand auf und rannte
zu einem der Fahrzeuge. Sie startete den Motor, während Connor eine
Binde um Jasons Bauch und Rücken wickelte.
»Hey … tu mir … noch einen Gefallen …«, keuchte Jason mühsam.
»Sag Ling … es tut mir leid … dass ich so ein Idiot war …«
»Das sagst du ihr am besten selbst«, gab Connor zurück, während er das
Ende des Verbands befestigte.
Jason schüttelte schwach den Kopf. »Ich fühle mich … so ganz seltsam
… so kalt … so kalt …«
»Klar, deine Jacke ist offen.«
»Nein, das fühlt sich ganz anders an. Die Kälte … kommt von ganz
innen …« Plötzlich packte er Connors Arm. »Versprich mir … Ana in
Sicherheit … bringen … versprichst du es?«
Connor nickte. »Klar, versprochen. Aber …«
Unvermittelt wurde Jasons Körper schlaff, seine schmerzverzerrte
Miene entspannte sich. »Hey, tut nicht mehr weh. Vielleicht wird doch alles
noch …«
Er lächelte Connor an – schwach, aber ein Siegerlächeln. Dann verlor
sich sein Blick irgendwo in der Ferne und sein Lächeln verblasste.
KAPITEL 68

Noch immer fiel Schnee in dichten, schweren Flocken.


Er verhüllte Jason mit einer weißen Decke. Connor kniete neben seinem
toten Partner, verloren in einem Sturm von Gefühlen. – Trauer. Wut. Reue.
In die Trauer über den grausamen Tod seines Freundes mischte sich
steigende Wut auf den Pistolenschützen mit seiner panzerbrechenden
Pistole, der, selbst schon fast tot, den tödlichen Schuss abgefeuert hatte.
Und Reue regte sich in ihm, Bedauern über seine kleinlichen Streitereien
mit Jason, die blöden Beleidigungen, den lächerlichen Wettkampf, immer
der Bessere sein zu wollen. Die ganze Zeit hatte er kein einziges Mal eine
Gelegenheit ergriffen, Jason zu zeigen, dass er ihn bewunderte und
respektierte. Jetzt war es zu spät.
Zu spät, um das Versäumte nachzuholen. Zu spät, um »Es tut mir leid«
zu sagen. Zu spät, um wirklich sein Freund zu werden.
Jason und er waren wie zwei ständig streitende Brüder gewesen. Aber
trotz aller Streitereien hatten sie das Training und diese Mission hier in
Russland zusammengeschweißt. Und Jason hatte das eindeutig genauso
empfunden. Was Jason zu ihm gesagt hatte, kam ihm wieder in den Sinn.
Bin einfach nur froh, dass du lebst, Kumpel.
Connor wurde von einem Schluchzen geschüttelt. Als der Zeitpunkt
kam, hatte Jason nicht gezögert. Er hatte sich in die Schusslinie geworfen
und Connor das Leben gerettet. Das ultimative Opfer.
Anastasia lenkte das Schneemobil herüber und drosselte den Motor. Als
sie Connors vor Trauer versteinertes Gesicht sah, glitt ihr Blick zu dem
stillen Körper im Schnee. Tränen schossen in ihre blauen Augen.
»Nein …«, sagte sie leise, »nicht Jason …«
Sie sprang vom Sitz und kniete neben dem toten Jungen nieder. Mit
einer Zärtlichkeit, die ihre wahren Gefühle für ihn verriet, strich sie ihm
eine Haarsträhne aus der Stirn und weinte leise. Connor kämpfte seine
Tränen zurück, ballte die Fäuste in mühsam unterdrückter Wut, nahm kaum
wahr, dass der Lärm der Schüsse immer näher kam.
Feliks hinkte herbei. »Jason ist tot. Okay, tragisch. Aber ihr müsst mich
jetzt hier wegbringen. Sofort!«
Connor regte sich nicht und achtete nicht auf Feliks. Es war ihm egal.
Alle waren ihm egal. Er selbst, Feliks, alle.
Anastasia legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.
»Feliks hat recht. Jason hat sich geopfert – er würde nicht wollen, dass du
dich jetzt auch noch töten lässt.«
Connor starrte benommen in ihr Gesicht; in seinen tränenverschleierten
Augen erschien sie ihm fast engelhaft. Er erinnerte sich an das Versprechen,
das er Jason gegeben hatte – sie in Sicherheit zu bringen. Er stand auf. Es
war ihm zutiefst zuwider, Jason im Schnee zurücklassen zu müssen. Aber er
schwor sich, seinen Freund zu holen, sobald die Sache hier vorbei war.
Und plötzlich brach ringsum im Wald die Hölle los. Schüsse knallten,
zwei von Viktors Sicherheitsleuten kamen aus dem Wald gerannt, offenbar
verzweifelt auf der Flucht, aber einer ging schon nach wenigen Schritten in
dem Geschosshagel zu Boden. Eine Einheit in weißer Tarnkleidung stürmte
aus dem Wald und feuerte auf den zweiten Fliehenden – und auf die drei
Jugendlichen, die bei Jasons Leiche standen. Connor stieß Feliks und
Anastasia hinter das Schneemobil, das ihnen ein wenig Deckung bot. Eine
Salve prallte von der Seitenverkleidung ab, es klang wie Hagel auf einem
Autodach.
»Wir sind hier völlig ungeschützt!«, schrie Feliks in panischer Angst
und versuchte, seinen Kopf mit beiden Armen zu schützen.
Wieder jaulten Stahlmantelgeschosse an ihnen vorbei. Aber dieses Mal
war noch ein anderes Geräusch zu hören: das harte Klack! von
Automatikwaffen – und es kam von hinten. Connor blickte über die
Schulter. Im Bootshaus auf der anderen Seite des Sees lagen drei Männer
von Mr Greys Sicherheitsteam in Deckung und gaben ihrem Kameraden
mit heftigem Sperrfeuer Schutz, damit er entkommen konnte. Damit trieben
sie die Angreifer in den Wald zurück.
»Das ist unsere Chance!«, sagte Connor, griff nach oben und drückte
auf den Startknopf. Nichts geschah. Er versuchte es noch einmal. Der
Motor gab nicht den geringsten Laut von sich. Erst jetzt bemerkte Connor
die schwarze Ölspur, die an der Verkleidung herabrann und in den Schnee
tropfte, und mehrere Einschusslöcher im Motorblock. Der Motor würde
nicht mehr anspringen. Auch das andere Schneemobil war stark beschädigt,
aus dem Benzintank schoss ein fingerdicker Strahl.
»Wir müssen es zu Fuß versuchen«, sagte er tonlos.
Feliks blickte den Hang hinauf, wo in der Ferne die Datscha stand.
»Das schaffen wir nie.«
»Unsere einzige Hoffnung«, sagte Connor. »Los, gehen wir –«
»Warte!«, sagte Anastasia und packte ihn am Arm. »Wir müssen sie erst
ablenken.«
»Wie denn?«
Sie hielt ein kleines Plastikpäckchen hoch. »Das hier habe ich
gefunden, als ich die Mullbinden aufsammelte.« Sie riss den Deckel ab.
Auf der Seite des Päckchens stand »Sturmstreichhölzer«. Connor
musste unwillkürlich grinsen. Noch so ein lebensrettendes Ding aus dem
Einsatzrucksack. Danke, Bugsy. Der Trainer hatte ihnen einmal vorgeführt,
wie die Dinger funktionierten – es waren eher kleine Signalfackeln als
Streichhölzer. Fast zwölf Sekunden lang brannten sie ungewöhnlich grell,
ließen sich nicht ausblasen und funktionierten sogar im Wasser. Aber
natürlich waren sie keine Rauchbomben und erst recht keine Signalraketen.
»Die Dinger nützen uns doch nichts!«, sagte Feliks verächtlich.
Anastasia machte sich nicht die Mühe zu antworten. Sie riss ein
Streichholz an, das sofort aufloderte, und warf es zu dem anderen
Schneemobil hinüber, wo es im benzingetränkten Schnee landete. Der
Brennstoff entzündete sich sofort, einen Sekundbruchteil später explodierte
das Schneemobil in einem gewaltigen Feuerball und stieß eine riesige
schwarze Rauchwolke in die Luft.
»Und ob sie uns nützen!«, rief Anastasia, als eine Hitzewelle über sie
hinwegrollte. Sie zündete ein weiteres Streichholz an und stecke es in den
Schnee. »Lauft, so schnell ihr könnt!«
Connor sah, wie sich die schwarze Ölspur auf die Flamme zubewegte.
Er sprang auf, riss gleichzeitig Feliks auf die Füße und alle drei rannten um
ihr Leben. Zwei oder drei Sekunden später explodierte auch das zweite
Schneemobil; die Druckwelle schleuderte sie fast von den Füßen.
»Du bist verrückt!«, brüllte Feliks Anastasia an, als flammende
Trümmer auf sie herabprasselten.
»Verrückt, aber clever!«, rief Connor, der wieder einmal Anastasias
natürliche Begabung als Buddyguard bewunderte.
Die Rauchwolken gaben ihnen Deckung, sodass sie den Hang zur
Datscha hinauf rennen konnten. Es war mühsam, der tiefe Schnee war
schwer geworden und klebte an ihren Stiefeln. Doch seinem Fitnesstraining
hatte Connor es zu verdanken, dass er noch genug Kraftreserven hatte, und
das schien auch bei Anastasia der Fall zu sein. Aber Feliks wurde schon
nach ein paar Dutzend Schritten langsamer und fiel immer weiter zurück.
Sein Atem ging keuchend und in Stößen.
»Immer weiterlaufen!«, drängte Connor, als Feliks noch langsamer
wurde.
Anastasias schnelle Reaktion hatte ihnen zwar einen kleinen Vorsprung
verschafft, aber die Rauchwolken lösten sich bereits wieder auf und die
Angreifer setzten den Beschuss fort. Sie nahmen alle drei Ziele unter Feuer,
das Bootshaus, den fliehenden Sicherheitsmann und die kleine Gruppe von
Jugendlichen.
Feliks brach im Schnee zusammen, mühsam nach Atem ringend.
»Komm, weiter!«, rief Connor, als eine der tödlichen Kugeln über ihre
Köpfe hinwegheulte.
»Ich kann … nicht … mehr …«, keuchte Feliks.
Der Sicherheitsmann kam in ihre Richtung gerannt, blieb aber nicht
stehen, um ihnen zu helfen. Er stürzte einfach weiter, mehr um sein eigenes
Leben als um das seines Arbeitgebers besorgt. Auch Connor hatte größte
Lust, Feliks zurückzulassen, vor allem nach dessen kaltherziger Bemerkung
angesichts von Jasons Tod. Aber er hatte nun einmal den Auftrag, Feliks zu
schützen, und würde seine Pflicht nicht vernachlässigen. Er packte ihn am
Arm, riss ihn wieder auf die Füße. Anastasia packte Feliks am anderen Arm
und gemeinsam schleppten sie den erschöpften Jungen den Hang hinauf.
Die Schüsse knallten jetzt immer schneller. Connor warf einen Blick
über die Schulter. Die Angreifer hatten das Bootshaus gestürmt und
machten sich jetzt an die Verfolgung der Jugendlichen. Er stützte Feliks, so
gut er konnte, aber geduckt zu rennen und gleichzeitig einen anderen mit
sich zu schleppen, zehrte an seinen restlichen Kräften. Jeder Schritt wurde
noch schwerer, der Park erstreckte sich schier endlos und die Datscha
schien noch meilenweit entfernt zu sein. Plötzlich sprühte ringsum der
Schnee auf, der Sicherheitsmann ungefähr zwanzig Meter vor ihnen schrie
auf und stürzte getroffen in den Schnee.
Connor warf sich über Feliks und Anastasia und schützte beide, so gut
es ging, mit seiner Jacke.
Das vom Lauf gerötete Gesicht in den Schnee gepresst, starrte
Anastasia Connor mit weit aufgerissenen Augen an. Zum ersten Mal sah er
echte Todesangst in ihrem Blick. »Wir schaffen es nicht, stimmt’s?«
KAPITEL 69

Connor wurde schlagartig klar: Die Chance war gleich null, dass sie alle
drei unverletzt zur Datscha gelangen würden. Feliks, erschöpft und halb
gelähmt vor Angst, war eine Last, ein Mühlstein an Connors Hals. Connor
hatte kaum genug Kraftreserven, um sich selbst zu retten, nachdem er
seinen Schützling schon mehr als die Hälfte der Strecke halb getragen hatte.
Allein hatte Anastasia eine viel größere Überlebenschance. Sie bewegte
sich immer noch schnell und behände, sogar im tiefen Schnee, und wäre
vielleicht in der Lage, den Verfolgern zu entkommen. Aber die kamen mit
jeder Sekunde ein paar Meter näher und ihre Trefferquote wurde immer
besser.
»Lauf voraus!«, befahl ihr Connor. »Ich kümmere mich um Feliks.«
Anastasia zögerte.
»GEH ENDLICH!«, brüllte er sie an.
Sie warf einen Blick zurück. Die Angreifer rückten immer näher heran.
Anastasia rannte los. Connor unternahm einen allerletzten Versuch, seinen
Schützling zu retten.
»Jetzt hast du dich ausgeruht«, sagte er und wälzte sich von Feliks’
Rücken. »Steh auf! Sofort!«
»Aber mein Bein tut so weh!«, jammerte Feliks und verzog das Gesicht,
als er aufzutreten versuchte.
»Ich kann dir versichern, eine Kugel tut noch viel mehr weh!«
Er schob sich hinter Feliks, um ihn vor den Schüssen zu schützen, die
von hinten kommen mussten, und stieß den Jungen den Hang hinauf.
Eine weitere Salve knatterte los, ringsum sprühte der Schnee auf, und
eine Kugel streifte Connors Arm und ließ ihn taumeln. Aber er konnte sich
auf den Füßen halten; wieder einmal hatte die Jacke ihren Zweck erfüllt und
die Kugel absorbiert. Aber während er sich weiter durch den Schnee
kämpfte, taumelnd und stolpernd, war ihm vollkommen bewusst, dass ihn
der nächste Treffer von den Beinen holen würde.
Doch als alles schon verloren schien, tauchte oben am Hang Mr Grey
wie ein grauer Racheengel auf. Er warf sich hinter eine der Gartenstatuen,
legte ein Sturmgewehr an und schoss einen Angreifer nach dem anderen
nieder. Seine Schüsse waren dermaßen präzise, dass die Angreifer schon
nach Sekunden ausgeschaltet waren. Nur Connor und Feliks waren übrig,
die sich nun allein den Hügel hinaufschleppten.
Connor konnte es kaum fassen. Absurder konnte diese Mission wohl
kaum noch werden: Schon wieder hatte ihm der Profikiller das Leben
gerettet!
Anastasia wartete oben am Hang auf sie. Sie nahm Feliks am Arm und
stützte ihn, während er keuchend um Atem rang.
»Wie ich sehe, haben es drei von euch geschafft«, bemerkte Mr Grey,
während er ein neues Magazin in die Halterung rammte. »Habt euch aber
viel Zeit gelassen.«
Connor starrte den Mann mit mörderischem Blick an, von einer Wut
gepackt, wie er sie noch nie verspürt hatte. Aber bevor er eine Antwort
hervorbringen konnte, drehte sich Mr Grey um und marschierte zur Datscha
zurück. Die drei liefen ihm eilig nach. In der Eingangshalle entdeckten sie
Viktor, der von zwei Bodyguards geschützt hinter einer Säule stand. Als
Feliks hereinhumpelte, rannte Viktor herbei und umarmte seinen Sohn.
»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, sagte er – mit mehr Gefühl,
als Connor jemals bei ihm beobachtet hatte.
»Keine Zeit für Sentimentalitäten«, unterbrach Mr Grey die beiden
brüsk. Er blickte sich zu einem der Bodyguards um, dem Kettenraucher, der
Connor am Vortag ignoriert hatte. »Wo ist Juri?«, blaffte er den Mann an.
»Macht den Wagen startklar, wie befohlen«, antwortete der.
Mr Grey blickte sich um. »Dann hätte er aber längst wieder zurück sein
sollen.«
Mr Grey winkte den beiden Sicherheitsleuten, ihm zu folgen, und nickte
auch Viktor und Connor zu. Die Gewehre schussbereit und aufmerksam um
sich blickend, gingen ihnen die drei Männer voraus. Sie liefen außen um die
Datscha herum und zu den Garagen hinüber. Feliks blieb dicht bei seinem
Vater; Connor hielt sich in Anastasias Nähe.
Viktor drehte sich zu Connor um und fragte leise: »Jason?«
Connor fand keine Worte; er schüttelte nur den Kopf.
»Das tut mir –«
Mr Grey brachte Viktor mit einem wütenden Blick zum Schweigen. Sie
mussten ungefähr zwanzig Meter weit über den offenen, ungeschützten
Vorplatz zurücklegen. Mr Grey gab dem Kettenraucher ein Zeichen,
vorauszugehen. Der Bodyguard sprintete über die kurze Distanz und
gelangte durch eine Seitentür in die Garage. Ein paar Sekunden später glitt
das Garagentor nach oben und der Kühlergrill eines weißen SUV, eines
Toyota Land Cruiser, kam zum Vorschein.
Der Kettenraucher erschien wieder. »Juri ist nicht hier, aber sonst ist
alles klar«, sagte er und winkte sie herüber.
Mr Grey ging voraus. Doch als das Garagentor vollends hochgefahren
war, explodierte die Garage in einem gewaltigen Feuerball. Im Torantrieb
musste ein Sprengkörper versteckt gewesen sein. Die Wucht der Explosion
war so gewaltig, dass der Kettenraucher und der SUV zerfetzt wurden. In
der enormen Hitzewelle verdampfte der Schnee. Die übrigen sechs waren
bereits auf dem Weg zur Garage gewesen, als die Bombe hochging, und
wurden von den Füßen gefegt.
Connor lag auf dem Rücken und schützte das Gesicht vor den
herunterprasselnden, brennenden Bruchstücken und Autotrümmern. In
seinen Ohren schrillte es wie das statische Summen eines alten Fernsehers.
Mit Husten und Keuchen wehrten sich Kehle und Lunge gegen den
ätzenden Luftschwall, den die Explosion verbreitete. Durch den Nebel von
Rauch und Flammen sah er mindestens zehn Männer in weißer
Tarnkleidung und mit angelegten Waffen auf sich zurücken.
Mr Grey war bereits wieder auf den Knien und zog Viktor am Arm zur
Datscha zurück, wo sie Deckung finden konnten. Der andere Wärter war
tot; ein scharfzackiges Karosseriestück des Toyota ragte aus seiner Brust.
Nur von seinem Überlebensinstinkt getrieben, kroch Connor zu
Anastasia hinüber. Ihr Gesicht war von Asche verschmiert und ein dünner
Blutstrom rann aus ihrer Nase, aber sie atmete. Connor schüttelte sie und
rief ihren Namen mit einer Stimme, die hohl in seinem eigenen Kopf
nachhallte. Das Mädchen blinzelte ein paarmal und hob schwach den Kopf.
Gemeinsam halfen sie sich auf die Beine und taumelten die kurze Strecke
zur Datscha zurück.
Mr Grey hatte Viktor inzwischen halb tragend zur Tür geschafft. Der
Milliardär rief nach seinem Sohn, aber entweder hörte ihn der Mann nicht
oder das Schicksal des Jungen war ihm egal. Er schleppte Viktor einfach
weiter.
Connor warf einen Blick zurück. Feliks lag flach und regungslos auf
dem Boden, allem Anschein nach war er tot. Doch dann bemerkte er ein
leises Zucken in einer Hand und sah, dass sich Feliks’ Brust hob.
»Ich komme zurecht!«, sagte Anastasia, obwohl sie brüllte, klang es in
Connors Ohren wie ein Flüstern. »Hol Feliks!«
Connor vergewisserte sich erst noch, dass Anastasia bis zur Haustür
gelangte, dann rannte er zu seinem Schützling zurück. Er untersuchte ihn
flüchtig: keine größeren Verletzungen zu sehen, aber Feliks hatte einen
schweren Schock erlitten.
Connor blickte auf. Die Angreifer rückten heran, schienen es aber nicht
besonders eilig zu haben, ihre Opfer endgültig auszuschalten.
Noch einmal raffte Connor die kläglichen Reste seiner Kraft zusammen,
packte Feliks unter den Achseln und schleppte ihn zum Eingang. Niemand
schoss auf ihn und Connor erreichte zu seiner eigenen Verblüffung die
große Eingangstür lebend. Kaum hatte er Feliks hindurchgezerrt, als Mr
Grey auch schon die schwere Tür zuschmetterte und verriegelte.
KAPITEL 70

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Connor, nachdem er Feliks seinem
Vater übergeben hatte. Seine Ohren klingelten immer noch, aber allmählich
kehrte sein Gehör zurück. »Bomben. Der Hinterhalt im Wald. Sturmtrupps
… Es ist wie im Krieg!«
»Wenn in Russland etwas schiefläuft, dann läuft es sehr gründlich
schief«, antwortete Mr Grey, während er eine schwere Holzkommode vor
die Tür schob, um sie zusätzlich zu sichern.
Connor half ihm. »Aber wer sind diese Männer, die uns ständig
angreifen?«
»Kryscha «, sagte Mr Grey lakonisch, als sei damit alles erklärt. Als er
Connors verwirrte Miene sah, fügte er hinzu: »Das Wort heißt Vollstrecker,
so nennt man die Typen, die für die Bratwa arbeiten. Für ihre
Schlägertrupps holt sich die Bratwa die gewalttätigsten Schwerverbrecher
und Mörder, die man in Russland finden kann.«
»Könnten ja direkt Ihre Freunde sein«, sagte Connor scharf.
Mr Grey starrte ihn an, mit Ironie konnte er offenbar nichts anfangen.
»Ich habe keine Freunde.«
Connor warf einen Blick zu Viktor Malkow hinüber, der seinen Sohn an
sich gedrückt hielt, eine Mischung aus Wut und Rachgier im
blutverschmierten Gesicht. »Ist Viktor nicht Ihr Freund?«
»Er ist ein Partner, ein Verbündeter«, antwortete Mr Grey in kühlem,
geschäftsmäßigem Ton. »Und für Equilibrium ein sehr wertvoller Agent.«
»Was ist denn dieses Equilibrium?«, wollte Connor wissen, der den
Namen schon bei seiner Mission in Afrika gehört hatte.
Der Killer zog seine Ruger SR9c, eine halbautomatische Pistole, aus
dem Holster. Connor zuckte zurück und bereute sofort, die Frage überhaupt
gestellt zu haben.
Mr Grey grinste kalt, als er Connors Zusammenschrecken bemerkte.
»Wenn wir diese Sache hier überleben, Connor Reeves, werde ich dich
vielleicht mit Equilibrium bekannt machen.«
Der Killer checkte das halb leere Magazin und wandte sich zu Viktor
Malkow um. »Haben Sie hier noch weitere Waffen oder Munition?«
Viktor nickte abwesend. »Waffenschrank. Im Arbeitszimmer.«
Als Mr Grey an ihm vorbeieilen wollte, packte ihn Viktor am Arm.
»Und welchen Plan haben wir jetzt?«, fragte er scharf. Seine Stimme klang
verzweifelt und wütend zugleich. »Der gesamte Park ist in ihrer Hand. Das
Sicherheitsteam ist vollständig ausgelöscht. Und unser einziges
Fluchtfahrzeug ist gerade in die Luft geblasen worden!«
Mr Grey blickte auf Viktors Hand hinunter, mit einer Miene, die fast so
etwas wie Ekel ausdrückte, und der Milliardär ließ ihn rasch wieder los.
»Ich habe bereits Unterstützung angefordert«, erwiderte er kalt.
»Wie lange brauchen die, bis sie hier sind?«
Mr Grey zuckte die Schultern. »Zwei Stunden, vielleicht auch ein
bisschen länger. So lange müssen wir eben durchhalten.«
Die blasierte Antwort machte Viktor nur noch wütender. »Wir haben die
letzte halbe Stunde nur knapp überlebt!«, blaffte er Mr Grey an. »Wie
kommen Sie nur auf die Idee, dass wir jetzt noch zwei volle Stunden
durchhalten könnten?«
Mr Grey zuckte die Schultern und antwortete so kalt, wie er den
Milliardär anstarrte: »Weil wir müssen.«
Er ging zur Tür des Arbeitszimmers, aber Viktor war noch nicht fertig
mit ihm. »Equilibrium hat mir doch versprochen, mich vor solchen Dingen
zu schützen!«
Mr Grey schaute über die Schulter zu ihm zurück. »Und? Sie leben
noch, oder nicht?«, sagte er knapp, stieß die Tür auf und verschwand im
Arbeitszimmer.
Connor spürte förmlich, wie die Luft in der Vorhalle sich klärte.
Manchmal wusste er nicht, was gefährlicher war – die Kryscha vor dem
Haus oder dieser Killer hier im Haus. Er ging zu Anastasia hinüber, die
erschöpft an der Wand lehnte.
»Alles okay bei dir?«, fragte er.
Sie lächelte schwach. »Bin noch in einem Stück und lebe, wenn du das
meinst.«
Wieder einmal staunte Connor über ihre Widerstandskraft. Die meisten
Leute hätten nach dem, was sie hier durchgemacht hatten, einen
Nervenzusammenbruch erlitten oder wären in Schockstarre gefallen –
scharf beschossen, von schießwütenden Gangstern verfolgt und fast in die
Luft gesprengt zu werden, konnte nicht jeder aushalten. Feliks war das
beste Beispiel dafür. Der Junge hing schwach und schlaff in den Armen
seines Vaters, den Kopf an dessen Schulter gelehnt, und starrte mit dem
glasigen Blick eines zu Tode erschöpften Soldaten ins Leere.
»Glaubst du wirklich, dass wir uns hier lange genug halten können, bis
die Verstärkung eintrifft?«, fragte Anastasia hustend und wischte sich mit
dem Handrücken das Blut von der Nase.
Connor gab keine Antwort, sondern lief zur Toilette, um eine Packung
Papiertaschentücher zu holen. Bei dieser Gelegenheit warf er unwillkürlich
einen Blick in den Spiegel. Er erkannte sich kaum wieder. Das Haar wirr,
verklebt, grau vom Staub der Explosion, das Gesicht blutverschmiert und
zerkratzt, die Unterlippe aufgeplatzt, die Augen blutunterlaufen und eine
Wange angeschwollen wie die eines Boxers nach dem Kampf. Wenn er
seinen eigenen Zustand zum Maßstab nahm, schätzte er ihre Chancen, lange
genug durchhalten zu können, nicht sehr hoch ein. Er kehrte zu ihr zurück.
»Mr Grey scheint es zu glauben. Und offenbar hat er sehr viel Erfahrung
mit solchen Situationen. Ich werde alles tun, um dich zu beschützen.«
Anastasia nickte schwach und schenkte ihm ein bittersüßes Lächeln.
»Das hat mir auch Jason versprochen.« Doch plötzlich wurden ihre Augen
schmal. »Erfahrung? Was meinst du damit?«, fragte sie, plötzlich
misstrauisch geworden.
Aber bevor Connor antworten konnte, kam Mr Grey aus dem
Arbeitszimmer. Er brachte ein Jagdgewehr, eine zweite Pistole in
gepolstertem Holster und eine Schachtel Munition mit sich. Das Gewehr
warf er Viktor zu. »Gesichert und geladen, aber verschwenden Sie keine
Munition. Wir haben nicht viel.«
Von Feliks war in dessen geschocktem Zustand nichts zu erwarten; Mr
Grey reichte Connor die Pistole – eine SIG Sauer P226. »Ich nehme an, du
kannst damit umgehen?«
Connor nickte stumm. Gunner hatte dafür gesorgt, dass er und Jason mit
den gängigsten Selbstladepistolen zurechtkamen. Connor zog die Waffe aus
dem Holster, checkte das Magazin, die Kammer und den Sicherungshebel
und wog sie in der Hand. Aufgrund ihres bis zur Laufmündung reichenden
Stahlgriffstücks war die SIG P226 sehr viel schwerer als eine Glock 17.
Connor merkte sich, dass er beim Zielen darauf achten musste.
Mr Grey hatte Connor genau beobachtet. »Hast du jemals einen
Menschen erschossen?«
Connor schüttelte den Kopf, während er das Holster am Gürtel
befestigte.
Der Killer lächelte kalt. »Beim ersten Mal fällt es am schwersten.
Danach ist es ein Kinderspiel.«
Eine eiserne Klammer legte sich um Connors Brust. Er war darauf
trainiert, Menschen zu schützen. Nicht sie umzubringen. Das war eine rote
Linie, die er nicht überschreiten wollte. Aber er begriff, dass genau das ihre
jetzige Lage vielleicht unumgänglich machte. Vor die Wahl gestellt,
zwischen einem Kryscha und Anastasias, Feliks’ oder seinem eigenen
Leben entscheiden zu müssen, würde er es sich nicht leisten können, lange
zu zögern, bevor er den Abzug drückte.
»Wir müssen die Datscha so sicher wie eine Burg machen«, befahl Mr
Grey. »Alle Türen werden verschlossen und mit Möbelstücken zusätzlich
blockiert. Sämtliche Fenster ebenfalls. Baut Barrikaden mit den Möbeln.
Und beeilt euch!« Er blieb vor Feliks stehen und schnippte vor dem Gesicht
des Jungen mit den Fingern. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Feliks
nickte benommen. »Dann bewege dich!«
Sie machten sich an die Arbeit. Blockierten und verrammelten
sämtliche Türen und Fenster, so gut es ging. Anastasia rief aus dem
Wohnzimmer: »Warum greifen sie nicht an?«
Connor überprüfte, ob der Hinterausgang, der auf die Terrasse führte,
gesichert war, und ging zu ihr ins Wohnzimmer. Er warf einen Blick durch
ein Fenster. Ungefähr zehn Kryscha standen im Halbkreis vor dem Haus.
Sie verharrten dort still wie Wächter, starrten das Haus an und schienen auf
etwas zu warten.
»Das ist die Antwort«, sagte Mr Grey, der ebenfalls ans Fenster getreten
war. Er deutete auf die Flaschen in ihren Händen.
Jeder Kryscha hielt einen Molotow-Cocktail. Plötzlich brüllte jemand
einen Befehl und die Angreifer entzündeten die Stofflappen, die aus den
Flaschenhälsen hingen. Ein Schütze zerschoss nacheinander die Fenster der
Datscha – und dann flogen die Feuerbomben durch die zersplitterten
Scheiben.
KAPITEL 71

Eines der Fenster des Wohnzimmers barst in einem Glashagel nach innen.
Connor schützte Anastasia vor den tödlich scharfen Scherben. Ein
Molotow-Cocktail flog durch das Fenster; die Flasche zersplitterte auf dem
Holzboden, die brennende Flüssigkeit spritzte überall hin. Möbel, Teppiche,
Kissen gingen wie Zunder in Flammen auf, ohrenbetäubend laut röhrten die
Flammen und im Nu füllte sich der Raum mit dichtem, ätzend riechendem
schwarzen Rauch.
Connor packte Anastasias Hand und zog sie mit sich. Er kämpfte gegen
eine Wand von Hitze an, seine Haut schien wegzubrennen, die Haare
wurden versengt, aber er schaffte es, Anastasia aus dem Raum zu bringen.
Draußen im Flur verlor Mr Grey keine Sekunde – er schmetterte die Tür zu,
um zu verhindern, dass sich die Flammen weiter ausbreiteten. Aber
brennendes Benzin troff von seinem Ärmel, die Flammen züngelten an
seinem Arm hoch. Der Killer riss sich die Jacke herunter und trat das Feuer
mit den Stiefeln aus. Rauch kräuselte aus dem angebrannten Stoff.
Viktor hatte die Flinte über die Schulter geworfen und kam durch den
Flur auf sie zugerannt, Feliks folgte ihm auf den Fersen, das Gesicht von
blanker Panik verzerrt.
»Salon und Spielzimmer stehen in Flammen!«, rief Viktor.
»Auch die Schlafzimmer«, ergänzte Feliks durch einen Hustenanfall.
Rauch drang durch die Türritzen der umliegenden Zimmer.
Die völlig aus Holz gebaute Datscha verwandelte sich innerhalb von
Minuten in einen tödlichen Scheiterhaufen. Und sie befanden sich
mittendrin.
»Wir müssen hier raus!«, rief Anastasia, rannte zum Haupteingang und
versuchte, die schwere Kommode zur Seite zu schieben. Sie schaffte es
nicht. »Hilf mir, Connor!«, flehte sie.
Mr Grey legte Connor die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.
Der Druck war sehr kräftig; seine knochigen Finger krallengleich. »Nein,
das ist genau das, was sie wollen. Wenn wir hinausrennen, schießen sie uns
nacheinander ab wie Tontauben.«
»Was bleibt uns denn anderes übrig?«, fragte Connor und schüttelte
Greys Hand ab.
»Er hat recht!«, schrie Viktor, als das Knacken der Flammen immer
lauter wurde. »Hier drinnen verbrennen wir bei lebendigem Leib! Wir
müssen uns ergeben!«
»Es nützt nichts, wenn wir uns ergeben«, widersprach Mr Grey.
Anastasia kickte jetzt gegen die Kommode, ein verzweifelter Versuch, doch
noch fliehen zu können. Connor ging zu ihr und versuchte, sie zu
beruhigen.
»Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte Mr Grey. »Kommt mit.«
Er lief durch die Küche – der einzige von dem Angriff noch nicht
betroffene Raum –, öffnete eine Schublade und zog einen Stapel
Geschirrtücher heraus. Die Tücher warf er ins Waschbecken, tränkte sie mit
Wasser und reichte sie ihnen.
»Wickelt euch die ums Gesicht, damit könnt ihr im Rauch besser atmen.
Connor band das Tuch fest über Mund und Nase und half Anastasia mit
ihrem.
Mr Grey öffnete eine kleine Seitentür in der Wand. »Hier rein!«, befahl
er.
»Aber hier geht’s nur in den Weinkeller!«, nuschelte Viktor durch das
Tuch.
»Weiß ich. Also bewegt euch!«
»Aber dort unten ersticken wir!«, protestierte Viktor.
Mr Grey starrte ihn eine Sekunde lang an, das Argument schien ihn
nicht im Geringsten zu beeindrucken. »Hier im Haus verbrennen wir,
draußen erschießen sie uns. Der Keller ist unsere beste Chance. Unsere
einzige.«
Viktor schüttelte verzweifelt den Kopf, befolgte aber den Befehl und
zog seinen Sohn hinter sich her. Connor drängte Anastasia zu der kleinen
dunklen Öffnung in der Wand.
»Nein! Nein! Nein!«, schrie sie und schüttelte mit vor Entsetzen
verzerrtem Gesicht den Kopf.
Das Küchenfenster implodierte und ein weiterer Molotow-Cocktail flog
herein. Connor packte Anastasia und stieß sie vor sich her die Treppe
hinunter. Viktor und Feliks waren bereits unten angekommen und Connor
und Anastasia hatten die Hälfte der Treppe hinter sich – als Mr Grey hinter
ihnen die Tür zuschmetterte und verriegelte.
KAPITEL 72

»Er hat uns eingeschlossen!«, brüllte Connor, stürmte wieder die Treppe
hinauf und hämmerte an die Tür. »Diese falsche Schlange hat uns
eingesperrt!«
»Bestimmt gehört das zu seinem Plan«, sagte Viktor, schien aber selbst
nicht überzeugt zu sein.
Connor drehte sich zu ihm um und schaute zu ihm hinunter. »Sie
vertrauen einem Profikiller?«
»Ich kenne Mr Grey seit zehn Jahren«, antwortete Viktor. »Bisher hat er
mich noch nie hintergangen oder im Stich gelassen.«
»Es gibt für alles ein erstes Mal«, knurrte Connor und rüttelte noch
einmal wütend am Griff. Aber die Tür gab nicht nach.
»Mr Grey – ein Profikiller?«, fragte Anastasia leise und
eingeschüchtert. Sie kauerte in einer Ecke und hatte die Knie an die Brust
hochgezogen.
Connor spürte, dass der Türgriff heiß wurde. Er wich zurück und stieg
wieder die Treppe hinunter. »Mr Grey ist ein absolut kaltblütiger Attentäter.
Wir sind ihm völlig egal. Jeder ist ihm egal. Er hat uns hier unten
eingesperrt, damit er leichter fliehen kann!«
»Profikiller? Attentäter? Das kommt ganz darauf an, ob man vor oder
hinter der Pistole steht«, murmelte Viktor. »Du kannst von Mr Grey
glauben, was du willst, aber er wird dafür bezahlt, dass er mich am Leben
hält.«
Connor starrte den Milliardär fassungslos an. »Und deshalb sperrt er Sie
in einen Keller, damit Sie hier verbrennen?«
Viktor reagierte mit ratlosem Schulterzucken. »Ich weiß nicht, was er
plant. Aber er wird schon seine Gründe haben.«
Connor schüttelte nur den Kopf und machte sich auf die Suche nach
einem Fluchtweg. Die nackte Glühbirne an der Decke warf ihr kaltes
weißes Licht auf die Backsteinwände, die hölzernen Weinfässer und
unzählige Reihen in Regalen liegender Weinflaschen. Dicker Staub
bedeckte den Boden und Mäuse huschten in panischer Angst in den dunklen
Ecken herum, offenbar spürten auch sie die tödliche Gefahr, die von dem
Feuer ausging.
»Er hat doch gesagt, es gibt noch einen Weg«, wisperte Feliks
verzweifelt. »Vielleicht irgendein geheimer Ausgang oder ein Tunnel?«
»Es gibt keinen anderen Weg nach draußen«, antwortete sein Vater. Der
Keller ist eine Sackgasse.«
Alle Hoffnung wich aus Feliks’ Gesicht. »Du meinst … wir sitzen hier
in der Falle?«
Viktor legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich.
»Und was ist mit irgendwelchen Luken oder Fenstern?«, fragte Connor
und spähte in die dunkelsten, hintersten Winkel des Kellers.
Viktor schüttelte den Kopf. »Der Keller ist ein geschlossenes System.
Er ist extra so gebaut, dass die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit immer
auf einem bestimmten Niveau gehalten werden – nur so kann man den Wein
richtig lagern.«
»Kann sein, aber die Temperatur hier drin wird bald ziemlich stark
ansteigen«, sagte Connor. Er suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem
er die Tür aufhebeln konnte – ein Brecheisen, einen Hammer … notfalls
würde er sich auch mit einem Schraubenzieher begnügen. Aber es gab
nichts außer Ziegelwänden, Weinflaschen und Plastikkanistern.
»Papa, mir ist schwindelig«, sagte Feliks plötzlich. Tatsächlich
schwankte er recht stark.
»Setz dich hin.« Viktor drehte eine leere Weinkiste um und schob Feliks
darauf. »Dir wird schwummrig, weil das Feuer den Sauerstoff aus dem
Keller saugt.«
Auch Connor spürte den Schwindel. Sein Herz schlug deutlich schneller
und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Das nasse Geschirrtuch würde
zwar den Rauch filtern, konnte aber nicht verhindern, dass er das
gefährliche Kohlenmonoxid und andere giftige Gase einatmete.
Er ging zu Anastasia hinüber. Sie saß mit hochgezogenen Beinen in
ihrer Ecke, den Blick unverwandt auf den Boden vor sich gerichtet. Ihre
Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht leichenblass. »Okay?«, fragte er.
Sie gab keine Antwort.
Verzögerter Schock, dachte Connor. Oder jedenfalls hoffte er das. Er
setzte sich neben sie und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. Der
Jackenärmel schob ihr Haar beiseite; darunter wurde ein feines
Narbenmuster auf ihrem Nacken sichtbar. »Mach dir keine Sorgen, wir
werden bald wieder …«
In diesem Moment erlosch das Licht.
Im Dunkeln spürte er, wie Anastasia heftig zu zittern begann. Auf der
anderen Seite des Kellers stöhnte Feliks leise, sein Vater murmelte etwas,
um ihn zu trösten. Über ihnen war das Röhren der Flammen zu hören, es
klang, als tobte ein wild wütendes Ungeheuer durch die Räume. Connor
glaubte, das Rattern von Schüssen zu hören, aber es konnte ebenso gut das
scharfe Knacken von brennendem Holz sein.
Inzwischen hatte sich ein pochender Schmerz in Connors Kopf
ausgebreitet; er wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Bestenfalls
konnten sie hoffen, bewusstlos umzufallen, bevor sie von den Flammen
verzehrt wurden.
Während sie in der Finsternis kauerten, von der immer drückender
werdenden Hitze fast erstickt, begann sein Smartphone zu vibrieren. Er zog
es heraus: eine SMS von Colonel Black.

Abbruch! Sofortiger Rückzug!


Zu spät, dachte Connor bitter. Trotzdem gab er sofort die Kurzwahl des
Hauptquartiers ein und startete einen Videoanruf.
Charleys besorgtes Gesicht erschien auf dem kleinen Display. »Connor!
Wo bist du? Was ist los? Wir können niemanden mehr erreichen!«
Connor musste unter dem feuchten Tuch unwillkürlich lächeln. »Schön,
dich zu sehen, Charley.«
Sie runzelte die Stirn. »Connor, warum hast du dieses Tuch vor dem
Mund? Ist alles in Ordnung bei dir?«
Er fühlte sich bereits sehr schläfrig und müde; Arme und Beine wurden
immer schwerer. Er konnte kaum noch vernünftig denken. »Wir werden …
von der Bratwa … angegriffen«, stieß er mühsam hervor. »Jason … ist tot.«
»Nein! Nicht Jason!«, schrie Charley voller Entsetzen auf. Sie fuhr sich
mit der Hand durch das Haar, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu
bekommen. »Unterstützung ist schon unterwegs zur Datscha. Sag mir
genau, wo du bist, Connor.«
Connor spürte, dass Anastasia gegen ihn fiel; ihr Kopf lag an seiner
Schulter. »Wir sind … im Weinkeller unter dem Haus … Bratwa haben es
… in Flammen gesteckt.«
»Bleib dran, ich rufe sofort die Rettungskräfte«, sagte Charley, griff
zum Telefon und tippte eine Nummer ein.
»Sie kommen … zu spät«, sagte Connor undeutlich. Sein Kopf sank zur
Seite.
Tränen strömten über Charleys Gesicht. Sie berührte den Monitor sanft
mit den Fingern. »Bleib bei mir, Connor! Bitte!«
Er lächelte schwach. »Immer … ich bleibe immer … bei dir.«
»Connor, ich liebe dich.«
Er schaute sie an, folgte mit zärtlichem Blick der sanften Rundung ihres
Mundes, ihres Kinns, versank im hellen, tränenverschleierten Blick ihrer
blauen Augen und im weichen Schimmer ihrer blonden Haare. »Ich liebe
… dich auch … Charley.«
Das Telefon glitt ihm aus der Hand.
KAPITEL 73

Connor hörte Charleys Stimme, fern, hektisch, panisch, das Telefon lag
neben seinen Füßen. Das schwache Leuchten des Displays konnte das
Dunkel im Keller nicht erhellen, aber er konnte undeutlich Viktor und
Feliks ausmachen, die an der Wand saßen und gegeneinander gesunken
waren. Inzwischen hatte die Hitze den Keller wie einen Hochofen
aufgeheizt. Bald würde der Wein zu kochen anfangen; auf den obersten
Regalen waren bereits ein paar Flaschen explodiert; ihr Inhalt troff von den
Regalen und lief an den Wänden herab.
Connors Kopf dröhnte und pochte, Schwindelanfälle überfielen ihn.
Verzweifelt versuchte er, wieder an das Smartphone zu kommen, aber seine
Arme waren schwer wie Blei. Eine erste Flamme züngelte oben im
Gewölbe entlang, dann noch eine. Funken sprühten wie ein
Sternschnuppenregen von der Decke, als das Feuer immer mehr Nahrung
fand und sich tiefer und tiefer in den Keller fraß.
Connor konnte kaum noch die Augen offenhalten. Doch plötzlich barst
die Tür auf: Oben an der Treppe erschien Mr Grey wie der leibhaftige
Teufel, hinter ihm ein wild wütendes Höllenfeuer.
»RAUS!«, brüllte er.
Viktor rappelte sich mühsam auf, zog seinen Sohn hoch. Mr Grey
stürmte in den Keller und half ihnen die Treppe hinauf. Sie verschwanden,
als würden sie vom Feuer verschluckt. Connor wusste mit absoluter
Gewissheit, dass Grey nicht zurückkehren würde, um auch ihm und
Anastasia zu helfen. Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung zwang
er sich, die fast bewusstlose Anastasia unter den Achseln zu packen und sie
die Treppe hinaufzuschleppen. Jeder einzelne Schritt war schwerer als die
Besteigung des Everest, sein Kopf dröhnte, als wolle er explodieren,
Schwindelanfälle packten ihn, die Beine fühlten sich bleischwer an. Aber
Connor zwang sich von einer Stufe zur nächsten. Einmal verlor er beinahe
das Gleichgewicht und wäre wieder rückwärts die Treppe hinuntergestürzt –
das wäre ihr Ende gewesen –, aber er schaffte es gerade noch, sich am
Handlauf festzuklammern und wieder Fuß zu fassen.
Als er endlich die Tür erreichte, entdeckte er, dass die Küche ein
einziges Flammenmeer war. Alles brannte lichterloh; die Flammen wüteten
so wild und ungestüm, dass ihm förmlich die Haut wegzuschmelzen schien
und sein Haar versengt wurde. Aber Mr Grey hatte einen Gartenschlauch in
die Küche gezerrt. Obwohl auch der voll aufgedrehte Wasserstrahl zu
schwach war, um das Feuer niederzukämpfen, sprühte er doch quer durch
die Küche und schaffte es, einen Weg zum Hinterausgang freizuhalten.
Connor taumelte hinaus, stolperte ein paar Schritte ins Freie, Anastasia
mit sich schleppend, bis er sie in sicherem Abstand wähnte. Er brach
zusammen. Nach der höllischen Hitze fühlten sich die eiskalte Luft und der
harsche Schnee himmlisch an. Er blieb liegen, ließ sich die Wangen und das
Gesicht kühlen, schnappte keuchend nach dem wunderbaren,
lebensrettenden Sauerstoff. Allmählich ließen die Kopfschmerzen so weit
nach, dass sie halbwegs erträglicher wurden. Sein Denkvermögen kehrte
zurück. Er rollte sich herum, sah Anastasia neben sich liegen, kam mühsam
hoch und drehte sie in die stabile Seitenlage.
Unsicher, schwankend, kämpfte er sich auf die Füße und blickte sich
um. Die Datscha war ein einziges, wütendes Inferno. Der Dachstuhl ragte,
bereits zum Skelett verkohlt und schwarz rauchend, aus dem tobenden gelb-
roten Flammenmeer. Eine gewaltige schwarze Rauchsäule stieg wie ein
Tornado in den trostlosen grauen Himmel.
Mr Grey stand schützend neben Viktor, der wiederum den am Boden
liegenden Feliks untersuchte. Der Junge schien völlig entkräftet zu sein,
aber er lebte. Mr Grey war verwundet: Blut rann unter dem rechten Ärmel
hervor und tropfte in den Schnee, eine Kugel hatte ihn am Unterarm
gestreift. An seiner Wange klaffte eine lange Schnittwunde. Aber sonst
schien er unverletzt zu sein.
Von den Bratwa-Vollstreckern konnte man das jedoch nicht behaupten.
Ihre Leichen lagen ringsum verstreut wie weggeworfene
Schaufensterpuppen, die weißen Kampfjacken blutgetränkt. Mr Grey hatte
den Trupp im Alleingang vollständig dahingemäht. Ganz in der Nähe
entdeckte Connor einen Kryscha, der die typischen Einschüsse aufwies –
zwei Schüsse in die Brust, einen Schuss in den Kopf. Klassischer
Mosambik-Drill, dachte Connor geistesabwesend. Plötzlich wurde er von
Trauer überwältigt, als ihm Jason wieder einfiel, der schneebedeckt unten
am Hang lag. Er musste zurück und seinen Freund holen. Der Gedanke an
die Aufgabe, die vor ihm lag, erschütterte ihn zutiefst. Jason hatte den
höchsten Preis gezahlt, um ihn, Connor, zu retten. Connor wagte nicht daran
zu denken, wie er den anderen im Team von Jasons Tod berichten sollte.
»Es ist vorbei«, verkündete Mr Grey, nachdem er die Waffe ringsum
geschwenkt und das Gelände aufmerksam abgesucht hatte.
Viktor lächelte erleichtert, stand schwerfällig auf und streckte seinem
Retter die Hand hin –
»Noch nicht ganz!«
Anastasia war aufgestanden. Sie zielte mit einer SPS-Pistole auf Viktors
Brust. »Sie sind sehr schwer zu töten, Mr Malkow.«
KAPITEL 74

Alle erstarrten. Ein perfekt stilles Tableau, Schnee und Asche fielen
ringsum herab und bedeckten den Park mit einem grau gefleckten
Leichentuch. Viktor hob langsam die Hände; Feliks kniete neben seinem
Vater, die Augen weit und fassungslos aufgerissen, ohne auch nur im
Geringsten begreifen zu können, was hier vor sich ging. Mr Grey hatte in
einem Reflex die Ruger herumgeschwenkt, aber Connor sah, dass der
Schlitten in der oberen Position war, was bedeutete, das Magazin war
leergeschossen. Connors Blick zuckte zu Anastasia zurück, auch er starrte
sie verständnislos an, unfähig zu glauben, was sie tat. Einen kurzen
Moment lang wunderte er sich, woher sie die Waffe hatte, bis ihm einfiel,
sie musste sie dem Kryscha abgenommen haben, der den tödlichen Schuss
auf Jason abgefeuert hatte.
Connor machte einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung – sie hatte
sich unbemerkt zwei Meter von ihm entfernt –, blieb aber stehen, als sie ihn
mit einem eisigen Blick warnte, auch nur einen Schritt näher zu kommen.
»Anastasia, weg mit der Pistole«, sagte er drängend. »Du bist verwirrt – der
Rauch …«
»Ich heiße nicht Anastasia«, antwortete sie knapp. Die Pistole zitterte
nicht. »Mein Name ist Nadia.«
Connor blinzelte verwirrt. Nadia? Sie fantasierte, oder die Hitze hatte
sie völlig verwirrt.
Ohne weiter auf ihn zu achten, wandte sie sich wieder an den
Milliardär. »Mein Vater war Anton Surkow. Meine Mutter hieß Talja
Surkow. Und mein kleiner Bruder« – ihre Stimme brach – »hieß Piotr
Surkow.«
Viktor starrte sie verständnislos an. »Ja, und? Sollte ich diese Leute
kennen?«
»Ja, solltest du!«, schrie sie ihn an. »Du bist schuld an ihrem Tod!«
»Ich?«, rief er, und seine Überraschung wirkte echt. »Ich habe keine
Ahnung, wovon du redest.«
Nadia schnaubte verächtlich. »Natürlich nicht. Wie solltest du auch?
Wir waren ja nur einfache Bauern. Und du warst damals der Bürgermeister
von Salsk.«
Viktor verzog das Gesicht. »Aber das war vor über zehn Jahren!« Er
runzelte die Stirn. »Surkow?«, wiederholte er nachdenklich. »Ja, ich glaube,
jetzt erinnere ich mich an den Namen. Gab es da nicht ein Feuer in ihrem
Haus? Ich glaube, es brannte vollständig nieder. Sehr tragisch. Alle kamen
ums Leben, soweit ich mich erinnere.«
»Nicht alle«, sagte Nadia. Ihr Finger krümmte sich über dem Abzug.
Viktor streckte die Hand aus, als könne er damit die Kugel abwehren.
»A-a-aber was habe ich mit dem Brand zu tun?«, stotterte er, wobei ein paar
Schweißperlen auf seine Stirn traten. »Das war ein … ein tragischer Unfall!
Ich habe deine Eltern nicht umgebracht!«
»Du hast vielleicht nicht den Abzug gedrückt, aber du hast die Waffe
geladen.« Ihre Augen blitzten, ihre ganze Wut konzentrierte sich auf Viktor,
der sie völlig verwirrt anstarrte. Aber Connor sah, dass Mr Grey die linke
Hand langsam und verstohlen in die Gesäßtasche seiner Kampfhose schob.
Er bereitete eindeutig einen Gegenangriff vor. Connor konnte nicht tatenlos
mitansehen, was kurz bevorstand, er griff ebenfalls verstohlen nach der
SIG, die im Gürtelholster steckte.
»Das Feuer war kein Unfall«, sagte Nadia kalt. »Kurz davor hatte die
Boykow-Bratwa unser Haus überfallen und das Feuer gelegt, um sämtliche
Spuren des Überfalls zu vernichten. Und den hattest du, als Bürgermeister,
befohlen, weil mein Vater Widerstand übte und deine Korruptheit und
Verbrechen aufdecken wollte.«
»Ana … Nadia, bist du sicher, dass du den Richtigen beschuldigst?«,
mischte sich Connor ein. »Mr Malkow ist doch derjenige, der die
Korruption in Russland bekämpfen will!«
Nadia stieß ein hohles Lachen aus. »Nein – er will nur, dass alle sowas
glauben! Lenin hat einmal gesagt, eine alte Lüge wird oft genug zur
Wahrheit. Und, Viktor, du hast diese Lüge so oft erzählt, dass du sie selbst
glaubst! Aber du selbst bist die Korruption, die ausgerottet werden muss.
Der Krebs, der vernichtet werden muss!«
Viktor hob die Hände noch höher. »Glaub mir, ich hatte nichts mit dem
Überfall zu tun! Du bist eindeutig verwirrt und stehst unter Schock. Was
heute geschehen ist, hat deinen Verstand völlig durcheinandergebracht.
Aber jetzt ist Schluss damit. Sei ein gutes Mädchen und lass die Pistole
fallen, dann vergessen wir die Sache.«
»Ich werde die Sache«, schrie Nadia wütend, »niemals vergessen!«
Doch jetzt zitterte ihre Hand ein wenig und sie versuchte, die Pistole fester
zu packen. »Jeden Abend, wenn ich die Augen schließe, jedes Mal, wenn
ich einschlafe, sehe ich meinen Vater verbrennen, sehe meine Mutter in der
Küche verbluten … und höre meinen kleinen Bruder weinen, schreien …
schreien … bis er mit einem Schuss zum Schweigen gebracht wird.«
»Es tut mir sehr leid, dies zu hören. Das muss ein entsetzlicher
Albtraum für dich sein«, sagte Viktor mit sanfter, beruhigender Stimme.
»Aber, wenn du mich nur lässt, kann ich dir helfen, diese Verbrecher zu
jagen und zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Das habe ich längst getan«, antwortete Nadia kalt. »Du bist der Letzte
auf meiner Todesliste.«
Viktor riss in ungläubigem Entsetzen die Augen auf.
Nadia trat einen Schritt näher. »Ich weiß, dass du mit der Sache zu tun
hattest, weil ich gehört habe, was einer der Bratwa-Typen sagte, bevor sie
meinen Vater ermordeten. Sie können dem Bürgermeister sagen, dass dieses
Unkraut ausgerottet wurde, bevor es wachsen konnte. Und gesagt hat er es
zu ihm.« Sie schwenkte die Waffe zu Mr Grey hinüber.
Der Killer erstarrte, die Hand immer noch auf dem Rücken neben dem
Holster. »Du warst im Keller«, sagte Mr Grey, aber es war eher eine
Feststellung als eine Frage.
Connor zuckte förmlich zurück. Grey wusste Bescheid! Offenbar sagte
sie die Wahrheit!
Nadia nickte knapp. »Ich habe Sie zuerst nicht erkannt, Mr Grey.
Jedenfalls nicht bis heute. Das Eigenartige an Ihnen ist, dass man Sie so
leicht vergessen kann. Als hätte man Sie nie gesehen. Aber ich erinnere
mich noch genau an den Mann, der befahl, meinen Bruder zu erschießen: Er
hatte ein Messer auf den Hals tätowiert. Er war derjenige, der mich in den
Keller sperrte und dann unser Haus in Brand steckte. Ich kannte weder
seinen Namen noch wusste ich, wie ihn finden – bei Viktor war das
einfacher. Aber sein Gesicht und das Tattoo sind unauslöschlich in mein
Gedächtnis eingebrannt – genau wie die Narben auf meinem Rücken!«
Die Erkenntnis traf Connor wie ein Blitz – jetzt wusste er, wen sie
meinte: Lazar! Viktors persönlicher Leibwächter – der hatte tatsächlich ein
tätowiertes Messer am Hals gehabt. Und es war Anastasia gewesen, oder
vielmehr Nadia, die das Treffen auf dem Roten Platz vorgeschlagen hatte,
nachdem sie erfahren hatte, dass der Bodyguard beauftragt worden war,
Feliks zu beschützen. Jetzt wurde es Connor klar, dass Feliks nie das
eigentliche Ziel gewesen war. »Dann warst also du jener Scharfschütze, der
Lazar erschossen hat?«
Nadia lächelte, aber es war kein warmes Lächeln, sondern kalt und
rachsüchtig. »Ja, Connor. Es war reines Glück, oder vielleicht auch
Schicksal, dass ich Lazar wiederbegegnete. Aber egal – ich war jedenfalls
für diese Gelegenheit dankbar. Endlich hatte ich die Möglichkeit, mich am
Mörder meines Vaters zu rächen! Und dann fielen auch die anderen Teile
des Puzzles wie von selbst an ihren Platz. Als ich Lazar wiedersah, hatte ich
plötzlich auch diesen anderen Abschaum wieder klar vor Augen, der
meinen Bruder erschoss: Timur. Die Bombe war seine gerechte Strafe.
Eigentlich sollte dabei auch Viktor umkommen, aber, wie gesagt, er ist
schwer umzubringen.«
»Aber die Bombe hat noch viele andere getötet oder verwundet, nicht
nur Timur!«, sagte Connor voller Entsetzen. »Unschuldige mussten
sterben!«
»Keiner von Viktors Leuten ist unschuldig!«, schrie sie ihn an. »Alle,
alle sind ehemalige Bratwa-Leute! Jeder einzelne von diesen Typen hat Blut
an den Händen – wenn nicht das Blut meiner Familie, dann jedenfalls das
Blut von zahllosen anderen Menschen. Außerdem war der Anschlag anders
geplant, er hätte viel sauberer verlaufen sollen.«
Sie richtete die Waffe wieder auf Viktor. »Du warst immer das
Hauptziel. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich darauf
vorzubereiten, dich zu töten. Zehn Jahre habe ich im Verborgenen gelebt.
Tschetschenische Rebellen haben mich ausgebildet, mir beigebracht zu
schießen, zu kämpfen, zu flirten, unter anderem Namen zu leben … alles,
was nötig war, um am Ende dich zu ermorden. Im Restaurant habe ich
versucht, dich zu vergiften, wurde aber im letzten Moment unterbrochen,
als dich die FSB-Agenten verhafteten. Danach wurde es ein Geduldsspiel,
weil ich warten musste, bis ich wieder eine günstige Gelegenheit bekam.
Als du uns hier auf die Datscha eingeladen hast, wusste ich, dass es eine
einmalige Gelegenheit sein würde. Ich wollte dich schon gestern Nacht
erschießen, aber Connor hat es leider verhindert.«
»Ich?«, fragte Connor verblüfft.
Nadia warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Für einen ausgebildeten
Bodyguard bist du manchmal ziemlich naiv. Du übersiehst oft das, was
offenkundig ist. Wer würde schon mitten in der Nacht Geige üben? In dem
Kasten ist meine Waffe. Die einzige Möglichkeit, sie an Malkows
Sicherheitsleuten vorbeizuschmuggeln.«
Connor konnte es nicht fassen, dass er sich so leicht hatte täuschen
lassen. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, wie Nadia vom Tatort auf dem Roten
Platz geflohen war. Sie hatte ihren Geigenkasten dabei gehabt. Darin
musste das Scharfschützengewehr verborgen gewesen sein! »Kannst du
denn überhaupt Geige spielen?«
Nadia bedachte ihn mit einem schrägen Grinsen und wandte sich wieder
Viktor zu. Hinter Connor knarrte und krachte es laut, dann röhrte die
brennende Datscha auf wie ein sterbendes Ungeheuer – und stürzte in einer
gewaltigen, wütenden Explosion von Funken und hoch aufwallendem
Rauch in sich zusammen.
»Du hast mein Elternhaus niedergebrannt. Jetzt brennt dein eigenes
Haus «, sagte Nadia mit grimmiger Zufriedenheit. Sie packte die Waffe
fester und zielte sorgfältiger auf Viktors Brust. »Du hast mir meine Familie,
mein Zuhause und mein Leben genommen. Jetzt nehme ich dir dein
Leben.«
KAPITEL 75

»Nein, BITTE!«, rief Viktor flehend. Reue stand ihm ins Gesicht
geschrieben, und sie wirkte echt. »Du musst verstehen, dass es damals die
einzige Möglichkeit war, die Kontrolle nicht zu verlieren. Ein Nagel, der
aus dem Brett ragt, muss wieder hineingehämmert werden. Die Bratwa
hatte mich im Würgegriff! Aber alles, was ich seither getan habe, tat ich aus
Reue über diese Sünden!«
Nadia schnaubte voll abgrundtiefer Verachtung. »Welchen Unterschied
macht das schon für mich und meine Familie? Sie sind tot!«
»Unser Russland kann einen Neuanfang für unser Land herbeiführen«,
rief Viktor, jetzt wieder mit dem glatten, öligen Lächeln des Profipolitikers.
»Wir stehen an der Schwelle zu einer ganz großen Veränderung. Es wird
keine Bratwa mehr geben. Keine Korruption mehr. Wenn du mich tötest,
tötest du die Hoffnung, für die dein Vater gestorben ist.«
Nadia schien einen Augenblick zu schwanken. Doch dann schüttelte sie
entschlossen den Kopf. Offensichtlich glaubte sie ihm kein Wort. Und auch
Connor tat das nicht. Viktor hatte seine Schuld gestanden und seine
Behauptung, vergangenes Unrecht wiedergutmachen zu wollen, war eine
einzige Lüge. Der Mann hatte sich in diesen zehn Jahren nicht verändert.
Connor hatte seinen wahren Charakter zu sehen bekommen, als er Mr Grey
kaltblütig befohlen hatte, Dimitri umzubringen. Viktor mochte nicht mehr
mit der Bratwa verbündet sein und hatte vielleicht tatsächlich die Absicht,
sie zu vernichten und die korrupte Regierung zu stürzen, aber Connor
wusste inzwischen, dass Viktor Malkow mit einer Organisation verbündet
war, die offenbar noch viel unheimlicher und gefährlicher war als die
Bratwa: Equilibrium.
Doch damit geriet Connor in eine Zwickmühle. Viktor hatte ihn als
Buddyguard angeheuert. Seine Pflicht war es, Feliks zu beschützen. Und
Nadia hatte ihn über ihre wahre Identität getäuscht. Andererseits hatten
auch er und Jason sie über ihre wahre Rolle belogen. Und er hatte ihr
versprochen, sie zu beschützen. Viktor dagegen war noch ein viel größerer
Betrüger und Lügner, der sogar seine eigenen Lügen glaubte.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich Mr Grey ein wenig nach vorn
bewegte. Connor zog seine SIG Sauer und zielte auf den Attentäter.
»Stehenbleiben!«, warnte er ihn.
Mr Grey verharrte mitten im Schritt und starrte ihn mit seinem
Schlangenblick misstrauisch an. Ȇberlege dir genau, auf welche Seite du
dich schlägst, Connor.«
»Das ist ja wohl klar, oder?«
Mr Grey schüttelte den Kopf wie ein enttäuschter Vater. »Ich warne
dich, stelle dich uns nicht in den Weg – Equilibrium würde es nicht
dulden.«
Connor hielt die Waffe unbeirrt auf den Killer gerichtet. »Und ich
warne Sie, Nadia in Ruhe zu lassen.«
Ein kaltes Lächeln spielte um Greys dünne Lippen. »Ich bewundere
deinen Mut, Connor, aber ich glaube nicht, dass du genug Mumm hast,
tatsächlich abzudrücken.«
»Haben Sie genug Mumm, es darauf ankommen zu lassen?«, erwiderte
Connor.
Mr Grey gab keine Antwort. Aber er rührte sich auch nicht von der
Stelle.
»Vielleicht können wir die Angelegenheit regeln, ohne noch weiter Blut
zu vergießen«, schlug Connor vor, ohne die Pistole zu senken.
Aber seine Entschlossenheit, tatsächlich abzudrücken, war ins Wanken
geraten. Er wollte niemanden erschießen, nicht einmal den verhassten Mr
Grey. »Nadia, denke nochmal darüber nach, was du da machst. Hat nicht
mal jemand gesagt, Auge um Auge lässt die ganze Welt erblinden? Auch
wenn du Mr Malkow tötest, machst du deine Familie nicht wieder lebendig.
Stattdessen solltest du seine Verbrechen den Behörden melden. Dafür
sorgen, dass er verhaftet wird. Und vor ein Gericht gestellt. Er würde
lebenslänglich bekommen und damit wäre die Gerechtigkeit
wiederhergestellt.«
»Ach, Connor, du bist sowas von naiv«, sagte Nadia abschätzig. »So
funktioniert es vielleicht in deinem Land, aber wir sind in Russland. Hier
regieren Geld und Macht, nicht das Recht. Selbst wenn mir die Polizei
glauben und ihn verhaften würde, wäre er am nächsten Tag wieder frei – er
würde sie einfach alle bestechen und sich seine Freiheit erkaufen. Nur das
hier« – sie hielt kurz die Waffe hoch – »sorgt in Russland für wahre
Gerechtigkeit!«
In dem Augenblick, als sie die Waffe wieder auf den Milliardär richtete
und feuern wollte, stürzte sich Mr Grey auf sie. In seiner Hand blitzte etwas
auf – eine Messerklinge. Gleichzeitig riss sich Malkow das Gewehr von der
Schulter. Nadia musste sich zwischen zwei tödlichen Bedrohungen
entscheiden, sie zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann zielte sie
erneut auf Malkow. Aber Mr Grey war schneller, legte die wenigen Meter
mit zwei, drei Sprüngen zurück. Connor sah ihn mit dem Messer ausholen –
er würde mit einem blitzschnellen Hieb ihre Kehle durchtrennen. Instinktiv
drückte Connor auf den Abzug. Die SIG Sauer zuckte hoch, der Knall
zerriss die Stille. Mr Grey wurde zur Seite geschleudert. Eine Sekunde
danach krachte ein zweiter Schuss. Viktor wurde mitten in die Brust
getroffen, doch wie durch ein Wunder blieb er auf den Beinen.
Er lachte Nadia aus.
»Dummes Mädchen!«, spottete er und entsicherte das Gewehr, um den
Schuss zu erwidern. »Hast du vergessen, dass meine Jacke kugelfest ist?«
»Nein«, antwortete sie mit eiskaltem Blick. »Panzerbrechende Patronen
…«
Viktor blickte geschockt an sich hinunter. Blut drang aus dem Loch in
seiner Jacke. Erst jetzt registrierte sein Verstand, dass sie ihn tatsächlich
angeschossen hatte.
Er brach in die Knie, dann fiel er mit dem Gesicht in den Schnee.
»Unser Russland hat dich abgewählt«, verkündete Nadia kalt.
KAPITEL 76

Malkow war tot.


Nadia hielt die Waffe ausgestreckt, ein dünner Rauchfaden kräuselte
sich aus der Mündung der SPS. Das Mädchen schien in eine Art Trance
gefallen zu sein, so verbraucht wie die Patronenhülse, die vor ihren Stiefeln
im Schnee lag. Dann sackte ihr Arm schlaff herab und die Waffe fiel mit
einem gedämpften Geräusch in den Schnee.
Connor näherte sich vorsichtig, wobei er sowohl Nadia als auch Mr
Grey genau im Blick behielt. Der Killer lag vollkommen still und leblos im
Schnee. Der graue Mann hatte sich getäuscht, als er sagte, der erste tödliche
Schuss auf einen Menschen sei der schwerste. In der Hitze des
Augenblicks, als Connor den Abzug gedrückt hatte, war es ihm nur allzu
leicht gefallen. Viel mehr machten ihm die Nachwirkungen zu schaffen. Er
hatte einen Menschen erschossen und damit eine Schuld auf sich geladen,
die sich nun wie Blei auf sein Gewissen legte. Zwar war ihm klar, dass er
keine andere Wahl gehabt hatte und Mr Grey Nadia mit einem brutalen
Messerstich ermordet hätte, wenn Connor nicht abgedrückt hätte. Aber
diese Tatsache nahm dem Erlebnis nichts von dem Schrecken, den er jetzt
empfand.
Anscheinend war auch Nadia von ihrem Tun zutiefst geschockt. Sie
starrte ausdruckslos auf die Leiche des Mannes, der für die brutale
Ermordung ihrer gesamten Familie verantwortlich war. »Ich dachte, ich
würde mich glücklich fühlen … dass meine Trauer leichter würde …«,
murmelte sie leise. »Aber ich fühle mich nur einfach … leer.«
»Du stehst unter Schock«, sagte Connor und legte ihr sanft die Hand auf
die Schulter.
Nadia zuckte zurück. Sie schaute ihn wie aus weiter Ferne an. »Du …
du hast mich geschützt.«
Connor nickte. »Das hatte ich Jason versprochen.«
Nadia brachte ein leichtes Lächeln zustande.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.
Sie blickte zum Himmel. Schnee- und Ascheflocken schwebten von den
grauen Wolken herab. »Mein ganzes Leben lang habe ich mich auf diesen
Augenblick vorbereitet. Rache war alles, was mich antrieb – das Einzige,
was mich daran hinderte, vor Trauer verrückt zu werden. Jetzt habe ich den
Tod meiner Familie gerächt und für Gerechtigkeit gesorgt … Ich hab keine
Ahnung, was ich jetzt … bin wie verloren …«
Connor konnte gut verstehen, was sie empfinden musste. Sie hatte
miterleben müssen, wie ihre Familie auf brutalste Weise ermordet worden
war. Irgendwie hatte sie diese zehn Jahre überlebt, auf sich allein gestellt,
die Rache war ihre einzige Gefährtin gewesen. Und obwohl sie Viktor
kaltblütig erschossen hatte, war sie das eigentliche Opfer, der einzige
Mensch in dieser entsetzlichen Tragödie, der wirklich Mitgefühl und Hilfe
verdiente. Instinktiv wusste Connor, dass Nadia eine neue Aufgabe
brauchte, irgendetwas, das sie wieder auf den richtigen Weg zurückbrachte
und ihrem Leben einen neuen Sinn verlieh. Mit ihren Fähigkeiten im
Kampfsport, im Umgang mit Waffen, ihrer Umsicht, ihrer
Beobachtungsgabe würde sie einen wirklich hervorragenden Bodyguard
abgeben. Aber was sie jetzt gerade getan hatte, machte sie zu einer …
Attentäterin.
Und doch: Vergebung. Auch sie sollte die Chance auf Vergebung
bekommen.
»Nadia, ich könnte Colonel Black fragen, ob du nicht Buddyguard
werden könntest. Wenn er alles erfährt, was dir in deinem Leben zugefügt
wurde, wird er dich vielleicht als Anwärterin aufnehmen – trotz allem, was
hier geschehen ist.«
Nadia stieß ein hohles, freudloses Lachen aus. »Glaubst du wirklich,
dass mir jemand noch sein Leben anvertrauen würde? Nach allem, was ich
getan habe? Tut mir leid, Connor, aber …«
»Du warst eigentlich gar nicht an mir interessiert, stimmt’s?«, ertönte
plötzlich eine schwache, verlorene Stimme hinter ihnen.
Connor wirbelte herum. Feliks stand neben der blutüberströmten Leiche
seines Vaters, der Blick immer noch glasig wie ein von Granaten und Tod
traumatisierter Soldat im Krieg.
Nadia lächelte ihn mitleidig an und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid,
Feliks, nein, war ich nicht.«
Er ließ die Schultern hängen. »Du hast mich nur benutzt, um dich an
meinem Vater zu rächen.«
Er bückte sich zu der Leiche hinunter, als würde ihm erst jetzt klar, dass
sein Vater ums Leben gekommen war. Doch dann griff er nach dem
Gewehr, richtete sich auf, legte es an die Schulter und zielte.
»NEIN!«, schrie Connor entsetzt und trat in die Schusslinie – zwischen
die kalte schwarze, todbringende Mündung … und Nadia. Instinktiv spürte
er, dass Feliks in diesem entsetzlichen Augenblick den Verstand verloren
hatte. Für den Jungen war das alles einfach zu viel gewesen – der Hinterhalt
im Wald, die Flucht, Schießereien, Explosionen, die Todesangst im Keller,
das Feuer … und nun auch noch der Tod seines Vaters. Selbst ein Mann mit
stärkerem Willen wäre nach all diesen traumatischen Erlebnissen
zusammengebrochen. Connor streckte ihm abwehrend die Hand entgegen
und flehte ihn an, nicht zu schießen. »Hat es heute nicht schon genug Tote
gegeben?«
Feliks zuckte die Schultern. »Kann sein … aber dann kommt es wohl
auf ein weiteres Leben auch nicht mehr an, oder?«
Connor wich nicht von der Stelle, schützte Nadia, die hinter ihm stand.
Er hielt zwar noch immer die SIG in der Hand, hob die Pistole aber nicht.
Feliks hätte sich vielleicht gezwungen gefühlt, doch noch abzudrücken. »Tu
es nicht, Feliks. Das ändert nichts mehr! Du stehst unter Schock. Du weißt
nicht, was du tust.«
Feliks legte den Kopf ein wenig schief und hob spöttisch die
Augenbrauen. »Solltest du nicht mich schützen, Buddyguard? Okay, egal.
Geh mir aus dem Weg, Connor, sonst muss ich dich erschießen.«
Connor rührte sich nicht – der Schuss krachte entsetzlich laut, Connor
wurde nach hinten geschleudert. Er stürzte vor Nadias Füßen in den Schnee.
Seine Brust pochte, als sei eine Lokomotive dagegengerast. Aber wieder
einmal hatte ihm die kugelsichere Jacke das Leben gerettet. Mühsam um
Atem ringend, halb bewusstlos vor Schmerzen, blickte er zu Nadia auf und
stieß mühsam hervor: »Lauf!«
Nadia wich ein paar Schritte zurück, doch dann blieb sie stehen. Sie
wusste – so sicher, wie auch Connor –, dass es sinnlos war zu fliehen. Hätte
Feliks nur eine Pistole in der Hand gehalten, hätte sie vielleicht eine Chance
gehabt. Aber mit dem Jagdgewehr würde er sie so sicher treffen wie ein
Reh im Wald.
Ihr Blick fiel auf die SPS-Pistole, die vor ihr im Schnee lag. Sie bückte
sich blitzschnell danach, riss die Waffe hoch, feuerte … aber die Pistole gab
nur ein Klicken von sich.
»Oh, Nadinka«, sagte Feliks spöttisch, »kein Kügelchen mehr? Ts, ts,
ts.« Er lud das Gewehr durch. »Möchtest du vielleicht eine von meinen
Kugeln haben?«
Nadia schüttelte nur resigniert den Kopf und ließ die Waffe fallen. Sie
war geschlagen.
»Los, lauf schon«, sagte Feliks mit mordgierigem Grinsen. »Ich zähle
von zehn bis null. Das ist doch ein fairer Vorsprung, meinst du nicht?«
Nadia rührte sich nicht.
Wieder setzte Feliks die Waffe an die Schulter und zielte. »Zehn …
neun … acht …«
Sie wirbelte herum und rannte los. Connor schaute ihr nach, sie lief
durch den Garten, versuchte, den schützenden Waldrand zu erreichen.
»… sieben … sechs … fünf …«
Sie würde es nicht schaffen. Connor blickte sich hektisch nach der SIG
um, die halb im Schnee versunken war. Es kostete ihn schier
übermenschliche Anstrengung, den Arm auszustrecken, nach der Waffe zu
tasten … der Griff war nur eine Handbreit außer Reichweite.
»… vier … drei …«
Feliks schloss ein Auge und zielte sorgfältig. »Zwei …«
Connor raffte seine letzten Kräfte zusammen und warf sich nach vorn,
bekam die Pistole zu fassen, riss sie hoch und –
»EINS!«
Zwei Schüsse krachten gleichzeitig, das Echo hallte vom Wald zurück.
Feliks stieß einen Schmerzensschrei aus und brach zusammen. Nadia
wirbelte herum wie eine in der Luft getroffene Taube und stürzte in den
Schnee.
»NEIN!«, schrie Connor verzweifelt.
Mühsam kam er auf die Beine. Ohne auf den verletzten, stöhnenden
Feliks zu achten, taumelte Connor auf dem sanften Abhang bis zu der
Gestalt hinunter, die reglos im weißen Schnee lag. Blut breitete sich wie
rote Flügel um sie herum aus.
Trotz ihrer Verletzung brachte sie ein Lächeln zustande. »Ich hab es dir
doch gesagt, Connor …«, stieß sie mühsam hervor, »russische Mädchen …
sind immer … für eine Überraschung gut.«
»Es tut mir leid, es tut mir so sehr leid«, sagte Connor, sank neben ihr
auf die Knie und ergriff ihre Hand. Und es tat ihm leid – um sie, um Jason,
um das Versprechen, das er ihm gegeben und nicht gehalten hatte. »Ich
habe versucht, dich zu schützen, so gut ich konnte.«
»Das weiß ich«, keuchte sie. »Und Jason hat es auch versucht.«
Er starrte sie an. »Hat Jason … hat er gewusst, was damals geschah?«
Nadia schüttelte schwach den Kopf. »Nein, aber er war mein
Lebensretter. Und wird es immer bleiben. Wenn er nicht gewesen wäre,
hätte ich …« Sie stöhnte auf, ein Schauder lief durch ihren Körper.
Connor versuchte, den Reißverschluss ihrer Jacke herabzuziehen,
vielleicht konnte er den Blutverlust aufhalten …
»Nein, Connor, nicht«, sagte sie und hielt seine Hand fest. Ihr Griff war
überraschend kräftig.
Er schaute sie verwirrt an. Aus der Ferne waren jaulende Polizeisirenen
zu hören. »Aber die Rettungsfahrzeuge sind fast da!«
»Ich brauche sie nicht mehr«, antwortete sie und drückte seine Hand.
»Ich bin bereit zu sterben … und ich sterbe glücklich. Mama und Papa
warten auf mich. Und ich werde meinen kleinen Bruder wiedersehen …
bald … sehr bald …«
Connor fühlte ihre Finger schlaff werden. Ihr letzter Atemzug stieg in
die kalte Luft, schwebte eine Sekunde über ihrem Gesicht … und verflog.
Er kniete neben ihr, hielt ihre Hand, Tränen strömten ihm aus den
Augen und rannen über sein Gesicht, bis er Nadia nur noch verschwommen
sehen konnte. Schneeflocken schwebten herab, legten sich als silbern
glitzernder Schleier auf ihr blasses Gesicht. Ihre eisblauen Augen schauten
blicklos zum Himmel. Ein ruhiges, fast heiteres Lächeln lag um ihre
Lippen.
Nadia hatte endlich ihren Frieden gefunden.
KAPITEL 77

»Der Schwarze König ist tot«, verkündete Nika, steckte das Smartphone
wieder ein und trat zu den beiden Männern, die in einem der prächtigen
Arbeitszimmer im Kreml an einem Schreibtisch aus feinstem,
hochglanzpoliertem Walnussholz saßen. Ein Schachspiel stand zwischen
ihnen, die Partie war in vollem Gange, erleuchtet von einem
Kristallleuchter, der von der Stuckdecke hing.
Roman Gurow schlug mit der Faust in die Hand, ein breites Grinsen
breitete sich auf seinem kantigen, harten Gesicht aus. »Endlich!«
Sein Gegner blickte vom Schachbrett auf. »Überlebende?«
Nika nickte. »Feliks Malkow und einer der jungen Bodyguards, dieser
Connor Reeves.«
»Was ist mit dem Attentäter?«, fragte Romans Schachgegner. »Der mit
Equilibrium verbunden ist?«
»Reeves hat ausgesagt, Mr Grey sei tödlich getroffen worden …«
»Gut!«
»Aber seine Leiche wurde nicht gefunden.«
»Was?«, rief Roman entsetzt und richtete sich in seinem Stuhl
kerzengerade auf.
»Der Junge zeigte unserem Agenten die Stelle, an der er angeblich
starb. Aber die Leiche war nicht zu finden, keine Spuren, nur ein
Blutfleck«, erklärte Nika. »Entweder lügt der Junge – oder der Attentäter
hat überlebt und ist entkommen.«
Roman runzelte wütend die Stirn. »Wie auch immer – wir müssen
davon ausgehen, dass dieser Killer überlebt hat und geflohen ist. Finden Sie
ihn. Eliminieren Sie ihn! Solange er am Leben ist, birgt er Gefahr für uns.
Wir können bei dieser Sache keine unerledigten Probleme riskieren. Haben
Sie das verstanden?«
Nika nickte. »Die Aufräumarbeiten sind in vollem Gange«, sagte sie
zuversichtlich. »Aber was machen wir mit diesem Jungen, Connor Reeves?
Im Moment wird er von der Polizei vernommen. Sie haben doch gesagt, er
sei … entbehrlich.«
Der FSB-Direktor rieb sich nachdenklich das Kinn mit der tiefen Kerbe.
»Richtig, das habe ich gesagt. Und daran hat sich nichts geändert, nachdem
er meinem Sohn ein blaues Auge verpasst hat. Er ist entbehrlich.«
Romans Spielgegner lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf die
Armlehnen und legte die schmalen langen Finger zu einem spitzen Dach
aneinander. »Es wäre nicht schlecht, wenn es einen Überlebenden gäbe –
einen, der deine Darstellung bestätigen kann, dass es sich bei dieser Sache
um einen Überfall der Bratwa handelte. Wenn dieser Junge im
Polizeigewahrsam stirbt, würden eine Menge Fragen gestellt werden – vor
allem, weil er Ausländer ist und offenbar irgendwelche geheimdienstlichen
… Beziehungen hat.«
Durch zusammengebissene Zähne stieß der FSB-Direktor zischend den
Atem aus. Doch dann nickte er widerwillig und winkte Nika näher zu sich.
»Formulieren Sie eine fingierte Aussage. Auf Russisch, wohlgemerkt.
Lassen Sie die von Reeves unterschreiben … bringen Sie ihn dazu, egal
wie. Danach setzen Sie den Kerl in ein Flugzeug und schieben ihn ab.«
»Und was ist mit Feliks Malkow?«, fragte Nika. »Er ist jetzt auf dem
Weg ins Krankenhaus, aber … sollten wir ihn nicht unterwegs verbluten
lassen, bevor er dort ankommt?«
»Der Tod löst alle Probleme«, stimmte Roman zu, drehte gelassen den
Goldring an seinem Zeigefinger und nickte weise.
Doch sein Schachpartner schüttelte den Kopf. »Wenn der Junge nach
diesen … Ereignissen stirbt, sieht es ein bisschen zu sehr nach einem, nun,
erwünschten Ergebnis aus. Außerdem ist das Problem mit Malkows Tod
doch bereits erledigt. Ohne ihren Anführer ist Unser Russland ein toter
Fisch im Wasser. Und diese Krake, die sich Equilibrium nennt, hat ihren
Kopf in Russland verloren. Es wird eine ganze Weile dauern, bis sie es
wieder wagen werden, ihre Tentakel hier auszustrecken …«
Es klopfte an der Tür. Eine junge blonde Frau in elegantem schwarzen
Kostüm trat ein.
»Es tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Präsident Blatow, aber die
Kabinettssitzung beginnt in wenigen Minuten.«
Präsident Blatow hob einen Finger. »Einen Augenblick noch, Anja, ich
habe hier noch eine wichtige Sache zu regeln.«
Nachdem seine Assistentin den Raum wieder verlassen hatte,
betrachtete Präsident Blatow einen Augenblick lang nachdenklich das
Schachbrett, dann nahm er seine Dame und verschob sie um drei Felder,
sodass sie nun den Schwarzen König bedrohte. Er blickte auf und lächelte
Roman Gurow triumphierend an.
»Schachmatt.«
KAPITEL 78

Das Alpha-Team stand dicht beieinander am offenen Grab. Ein hartnäckiger


Regen trommelte auf die schwarzen Kuppeln ihrer Schirme und tropfte
herab in die aufgeweichte, zertrampelte Erde. Der kleine, von alten Bäumen
gesäumte Friedhof versteckte sich hinter der Schulkapelle, einem schlichten
Gebäude aus Feuerstein. Der Friedhof bot kaum genug Platz für das runde
Dutzend von Moos und Flechten überwucherter Grabsteine. Nur ein weißes
Marmorgrabmal glänzte, über das der Regen wie mit unzähligen Tränen
rann. Mitten unter den alten schwarzen Grabsteinen strahlte es hell wie ein
Leuchtturm.
In der Ferne, hinter der Kapelle, hingen graue Wolken über den
Kämmen der Brecon Beacons Berge. Kalt und feucht war die Luft und
drang durch die Kleidung bis in die Knochen. Aber Connor und die anderen
Buddyguards achteten nicht darauf. Respektvoll und andächtig lauschten sie
den Worten des Priesters.
»… und so legen wir deine Seele in Gottes Hände und übergeben deine
sterbliche Hülle der Erde«, sagte der Priester feierlich, schloss das in rotes
Leder gebundene Gebetbuch und segnete den Sarg. »Aus der Erde sind wir
genommen, zur Erde sollen wir wieder werden: Erde zu Erde, Asche zu
Asche, Staub zu Staub. Doch auch der Tod ist nicht ohne Hoffnung, denn
Jesus Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an
mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Amen.«
Der Priester nickte Connor zu, der vortrat und eine Handvoll Erde in
das Grab warf. Dumpf und traurig schlugen die feuchten Erdklumpen auf
den hölzernen Sarg. Connor kämpfte gegen die Tränen, er spürte Charleys
Hand, die sich in seine schob und sie sanft und tröstend drückte.
Nacheinander traten die übrigen Teammitglieder an das Grab und warfen
Erde und Blumen hinunter.
»Es hätte so leicht dein eigenes Begräbnis sein können«, sagte Ling
leise und legte Jason die Hand auf die Schulter.
Jason blickte mit rot geränderten Augen auf. »Ja, ich weiß«, murmelte
er heiser. »Bedanke dich bei Connor, dass er dir die kleine Feier erspart
hat.«
»Und bei Mutter Natur, dass sie dich schockgefroren hat«, sagte Connor
und klopfte seinem Freund auf den Rücken. Jason zuckte zusammen und
verzog schmerzhaft das Gesicht. Seine Schusswunde war noch nicht
verheilt. Auch in seinem Gesicht waren die Spuren der Tortur deutlich zu
sehen, die er durchlebt hatte. Bleich, mit eingefallenen Wangen und
dunklen Schatten unter den Augen saß er im Rollstuhl, verkrümmt und
geschrumpft wie ein alter Mann. Aber er lebte – ein Wunder, wenn man
bedachte, dass er fast zwei Stunden lang klinisch tot gewesen war.
Die russischen Ärzte hatten zwei Erklärungen für seine unglaubliche
Überlebensgeschichte gehabt: QuickClot und Schnee. Connor hatte schnell
und richtig reagiert, als er Jasons Blutverlust mit den Wundauflagen zu
stoppen versucht hatte. Und der Schnee und die eisige Kälte hatten Jason
buchstäblich tiefgekühlt, sodass jede Zellaktivität dramatisch verlangsamt
wurde und sein Körper in eine Art Schwebezustand irgendwo zwischen
Leben und Tod versetzt wurde. Das hatte den Rettungssanitätern das alles
entscheidende Zeitfenster verschafft, um ihn ins Krankenhaus zu
transportieren und eine Notoperation sowie eine Bluttransfusion
durchzuführen, bevor seine Hirnzellen Schaden erlitten. Danach hatte
Jasons Leben mehrere Stunden lang auf der Kippe gestanden. Die
Behandlung, die unter dem Kürzel EPR – Emergency Preservation and
Resuscitation – bekannt war, befand sich noch im Erprobungsstadium. Als
man Jason wiederbelebte und seinem Blutkreislauf Sauerstoff zuführte,
bestand ein großes Risiko, dass Zellen zerstört wurden, Organversagen und
sogar Hirnschäden auftreten könnten. Aber Connor wusste mittlerweile,
dass sich Jason wieder voll erholen würde, denn als der Arzt Jason erklärte,
wie es um ihn stand, witzelte der: »Hirnschaden? Dazu würde ich aber ein
Hirn brauchen, oder nicht?«
Nein, es war nicht Jasons Beerdigung. Sondern Nadias.
Ohne Angehörige, ohne irgendwelche Verwandten, ohne Geld, von
ihrem kleinen Schulstipendium abgesehen, hätte man sie achtlos irgendwo
verscharrt. Für Connor war es völlig ausgeschlossen gewesen, Nadia allein
und von aller Welt vergessen in einem namenlosen Grab in Russland
zurückzulassen. Deshalb hatte er die FSB-Agentin, die ihm als Betreuerin
zugeteilt worden war, gefragt, ob ihr Leichnam nicht nach Wales
ausgeflogen werden könne. Um sie dort richtig bestatten zu können. Zu
seiner Überraschung hatte die Agentin – eine zäh wirkende, aber auffallend
gut aussehende junge Rothaarige namens Nika – sofort zugestimmt. Nika
war überhaupt außerordentlich hilfsbereit gewesen. Sie hatte ihm ein paar
Dokumente vorgelegt, die er unterschreiben musste, alle auf Russisch und
in dreifacher Ausfertigung. Dann hatte man ihn in ein privates
Ambulanzflugzeug gesetzt und ihn – zusammen mit Jason an einer Herz-
Lungen-Maschine und Nadia in einem Sarg im Laderaum – nach Wales
zurückgeflogen.
Er hatte den Eindruck gehabt, Russland könne ihn nicht schnell genug
loswerden.
»Ich habe sie zwar nicht kennengelernt«, sagte Charley leise, nachdem
sie eine Handvoll Erde auf Nadias Sarg geworfen hatte, »aber nach allem,
was ich über sie herausgefunden habe, muss sie ein bemerkenswertes
Mädchen gewesen sein.«
Connor und Jason nickten stumm.
»Ich habe Fotos von ihrem Elternhaus gefunden – nach dem Feuer«,
fuhr Charley fort. »Es war vollständig abgebrannt, bis auf die
Grundmauern. Keine Ahnung, wie Nadia das Feuer im Keller überleben
konnte. Aber sie tat es. Und obwohl sie grauenhafte Verbrennungen am
Rücken erlitten hatte und erst fünf Jahre alt war, schaffte sie es, noch in
derselben Nacht über fünfzehn Kilometer weit durch Schnee und eisige
Kälte zum Haus ihrer Großmutter im nächsten Dorf zu gehen. Fünfzehn
Kilometer!«
Charley schüttelte voller Verwunderung den Kopf. Was für eine Tortur
das gewesen sein musste! »Und das arme Mädchen konnte weder in ein
Krankenhaus noch zur Polizei gehen, weil sie die einzige Zeugin des
Massakers war. Was bedeutete, dass sie für die örtliche Bratwa-Bande eine
Bedrohung darstellte, sie hätten das Kind sofort umgebracht, wenn sie von
ihr erfahren hätten. Korrupte Beamte, die ihr nicht halfen, keinerlei Schutz
… nur ihre Großmutter, die es irgendwie schaffte, Nadia fast fünf Jahre lang
in ihrem Haus zu verstecken und vor aller Welt geheim zu halten, dass sie
noch lebte.«
Der Regen trommelte laut auf ihre Schirme, während das Alpha-Team
schweigend und voller Staunen Nadias Lebensgeschichte lauschte.
»Aber damit waren Nadias Probleme noch nicht gelöst«, fuhr Charley
mit einem tiefen Seufzer fort. »Sie war gerade erst zehn geworden, als ihre
Großmutter starb. Das muss man sich einmal vorstellen: eine zehnjährige
Vollwaise – und ganz oben auf der Tötungsliste der russischen Mafia! Kein
Wunder, dass sie verzweifelt genug war, um sich den tschetschenischen
Rebellen anzuschließen. Was in den folgenden Jahren geschah, wo sie sich
aufhielt und was sie tat, konnte ich nicht herausfinden. Nur, dass es ein
verdammt hartes Leben gewesen sein muss. Aber dass sie so gut mit Waffen
umgehen konnte, im Kampfsport so gut war und offenbar auch ein hartes
Überlebenstraining hinter sich hatte, beweist nur, wie entschlossen sie war,
die Ermordung ihrer Familie zu rächen. Sie wollte Gerechtigkeit! Und dass
sie sich dann eine völlig neue Identität als Anastasia Komolowa zulegen
und ein Musikstipendium an der International Europe School verschaffen
konnte, beweist, dass sie nicht nur sehr listig, sondern auch ausgesprochen
begabt und clever gewesen sein muss.«
»Glaubst du denn, dass sie tatsächlich Geige spielen konnte?«, fragte
Connor, der inzwischen wusste, dass in Nadias Geigenkasten tödliche
Waffen gelegen hatten.
Charley nickte. »Nadia war sogar eine recht begabte Violinistin, nach
allem, was ihr Musiklehrer in der Schule sagte.« Sie blickte sich in der
kleinen Trauergemeinde um. »Nadia hat jedes Problem überwunden, das
sich ihr in den Weg stellte. Und sie hat nie aufgegeben. Unglaublich schade,
dass sie nicht überleben und eine von uns werden durfte.«
Connor umarmte Charley, nicht nur, um seine Tränen zu verbergen,
sondern auch als Dank, dass sie ihnen Nadias traurige Lebensgeschichte
erzählt hatte. Jetzt wussten alle, wer jenes Mädchen gewesen war, das sie
hier beerdigt hatten.
Jason warf eine Handvoll Erde auf den Sarg hinab. Mit geröteten Augen
blickte er schweigend auf Nadias Grabstein. Ein kleiner Engel war oben
eingraviert, die Flügel zum Flug ausgebreitet; darunter waren Thomas
Moores schlichte Worte in den weißen Marmor gemeißelt:

Es gibt keinen Kummer auf Erden,


den der Himmel nicht heilen kann

Die einfache, aber anrührende kleine Trauerfeier war zu Ende. Das Alpha-
Team ging langsam zum Buddyguard-Hauptquartier zurück. Connor und
Jason zögerten lange, bevor sie das Grab verließen. Erst als der Nieselregen
in einen kleinen Wolkenbruch überging, löste Ling die Bremse an Jasons
Rollstuhl und schob ihn auf den Weg zurück zum Haus.
»Das ist nur … vorübergehend«, stöhnte Jason, während der Rollstuhl
über den unebenen Weg rumpelte. Jede noch so kleine Kuhle, jedes
Grasbüschel schickte einen Schmerzstoß durch seinen Körper. »Bis ich
mich erholt habe.«
»Na, wird wohl besser sein, wenn du dich damit beeilst«, sagte Ling
und versuchte, den Rollstuhl zu lenken und gleichzeitig den Regenschirm
über ihn und sich selbst zu halten. »Ich hab nicht die geringste Lust, dich
für den Rest deines Lebens herumzukutschieren.« Doch dann warf sie
Charley einen verlegenen Blick zu. »Äh … tut mir leid, Charley … das war
ziemlich taktlos.«
»Mach dir nichts draus«, antwortete Charley und tätschelte die
Armlehne ihres Rollstuhls. »Wenn es nach mir geht, wird der hier auch
eines Tages ausgedient haben.«
Connor blieb abrupt stehen, während der Regen auf ihn herabprasselte
und sich um seine Schuhe sofort eine Pfütze bildete. »Willst du damit
sagen, dass dich diese Forschungsgruppe für Rückenmarkverletzungen
ausgewählt hat?«
Charley nickte, sie konnte ihr breites Grinsen kaum unterdrücken.
»Warum erzählst du mir das erst jetzt?«, rief er und begann trotz aller
Trauer ebenfalls zu grinsen. »Das sind doch wunderbare Neuigkeiten!«
»Na ja, du hattest gerade ziemlich viel um die Ohren«, erklärte sie. »Ich
dachte, ich warte damit, bis die Beerdigung vorbei ist.«
»Und wann reist du ab?«
Charley rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her und zögerte mit
der Antwort. »Ich fliege nächste Woche nach Shanghai.«
KAPITEL 79

»Nicht zu fassen! Du hast deinen eigenen Schützling umgenietet?«, rief


Amir lachend und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich hab ihn nicht umgenietet, Mann! Nur angeschossen. Ins Bein«,
verteidigte sich Connor. Er hatte nicht die Absicht gehabt, Feliks zu töten,
als er den Abzug gedrückt hatte. Er hatte ihn nur so verwunden wollen, dass
er Nadia nicht erschießen konnte. Aber er war einen Sekundenbruchteil zu
langsam gewesen und hatte sie nicht retten können.
Connor warf sich in einen der Sessel im Aufenthaltsraum des Alpha-
Teams. Plötzlich fühlte er sich schlaff, mutlos, lustlos. Gerade hatte er mit
seiner Großmutter telefoniert, seiner Mutter ging es nicht schlechter, aber
auch nicht besser. Sie brauchte die Betreuung mehr als je zuvor, fast rund
um die Uhr. Und kurz davor hatte er Charley zum Flughafen begleitet und
stellte fest, dass er sie schon jetzt vermisste.
»Feliks hat es verdient, und mehr als das«, sagte Jason verbittert.
»Schade, dass du ihm nicht eine Kugel in den Kopf verpasst hast!«
»Das ist ein bisschen zu hart«, wandte Richie ein, der auf dem Sofa
lümmelte und eines seiner geliebten Manga-Comics las.
»Hart aber fair«, knurrte Jason. »Er hat Ana getötet.«
»Nadia«, korrigierte ihn Connor.
Jason wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Egal.
Für mich wird sie immer Ana bleiben.«
»Und was bin ich für dich?«, fragte Ling, die gerade mit Marc
hereinkam und Jasons letzte Bemerkung gehört hatte. »Nummer zwei auf
ewig?«
Jason drehte den Rollstuhl mit verblüffender Schnelligkeit herum und
warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. »Du wirst für immer und ewig meine
erste und einzige wahre Liebe sein.«
Ling steckte sich zwei Finger in den Mund. »Würg.«
Marc lachte. »Bei Ling musst du dir schon ein bisschen mehr Mühe
geben, Aussie.«
»Genau«, sagte Ling. »Du hast eine Menge wiedergutzumachen, bevor
ich noch einmal auf deinen Downunder-Charme hereinfalle.« Sie stellte ein
Tablett mit Jasons Medikamenten neben ihn auf den Tisch. »Im Moment
bin ich deine Krankenschwester. Also sei nett zu mir, sonst tausche ich
deine Schmerztabletten gegen Abführmittel aus.«
Jason warf ihr einen Blick zu, der an echte Panik grenzte. »Das … das
würdest du doch nicht machen, oder?«
»Wer sagt, dass ich es nicht schon getan habe?«, fragte Ling zurück und
grinste verschlagen. »Und jetzt sei ein guter Junge und nimm deine Pillen.«
Sie bot ihm eine verdächtig große braune Pille an.
Jason nahm sie und betrachtete sie misstrauisch. »Kann ich bitte ein
Glas Wasser haben?«
Ling grinste noch breiter und fieser. »Die ist nicht zum Schlucken,
Mann. Die steckst du dir in den …«
»Connor! Der Colonel möchte dich sprechen«, unterbrach sie Jody, die
Personenschutztrainerin. Sie blieb in der Tür stehen, stützte die Hände in
die Hüfte und betrachtete verblüfft das Alpha-Team, das sich vor Lachen
bog, während Jason mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf die
Pille in seiner Hand starrte.
Connor stemmte sich widerwillig aus dem Sessel hoch, ging den Flur
entlang und klopfte an die schwere Eichentür des Arbeitszimmers.
»Herein!«, ertönte die schroffe Stimme gedämpft durch die Tür.
Colonel Black saß hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm auf der polierten
Mahagonitischplatte lag geöffnet der Abschlussbericht der Operation
Schneesturm.
»Ich bin froh, dich gesund und kampfbereit wieder zu sehen«, sagte der
Colonel. »Russland muss ein wirklich brutaler Einsatz gewesen sein.«
Connor nickte. Die Blutergüsse auf der Brust, die Verbrennungen seiner
Hände und ein blau angeschwollenes Auge bereiteten ihm immer noch
Schmerzen. Als einsatzbereit konnte er sich wirklich nicht bezeichnen.
Aber der Colonel war ein harter, kampferprobter Soldat – mit solchen
Empfindlichkeiten konnte man ihn kaum beeindrucken.
Aber damit wollte sich Connor ohnehin nicht aufhalten. Ihm lag etwas
anderes auf der Seele. »Die Mission wäre viel besser und vielleicht auch
weniger gefährlich gewesen, wenn wir alle Fakten erfahren hätten!«, sagte
er scharf.
Colonel Black hob eine Hand und nickte zustimmend. »Richtig, das war
ein unglücklicher Fehler, ein Versäumnis. Viktor Malkow hat sich als
Gewohnheitslügner erwiesen. Ich versichere dir, dass deine zukünftigen
Klienten von uns rigoros überprüft werden. Wir werden in Zukunft streng
darauf achten, dir vollständige Operationsinformationen mit auf den Weg zu
geben. Und damit sind wir auch schon beim Thema.« Er deutete auf eine
Seite des Berichts. »Dieser Mr Grey und die Equilibrium-Organisation. Bist
du sicher, dass du ihnen schon einmal begegnet bist?«
»Absolut sicher«, antwortete Connor.
»Und du sagst, du hättest den Attentäter erschossen?«
»Aus kurzer Entfernung. Aber vermutlich hat er eine schusssichere
Weste oder Jacke getragen.«
Seit seiner Rückkehr aus Russland hatte Connor nicht mehr sehr gut
schlafen können. Er wusste, wie gewissenlos und unbarmherzig dieser Mr
Grey war und rechnete immer halb damit, dass ihm der Killer eines Nachts
die Kehle durchschneiden würde. War es denkbar, dass Grey ihn hier, in
Wales, aufspüren konnte? Daran hatte Connor nicht den geringsten Zweifel.
Der Mann wurde zwar inzwischen vom gesamten russischen Geheimdienst
gejagt, aber Connor fragte sich trotzdem, ob ein kaltherziger Killer wie er
nicht den Drang verspürte, sich an ihm, Connor, zu rächen. Wenn er an
seine früheren Begegnungen mit Grey zurückdachte, kam ihm das nicht nur
möglich, sondern sogar ziemlich wahrscheinlich vor.
Der Colonel klappte die Akte zu und legte sie beiseite. »Ich habe Bugsy
beauftragt, weiter nachzuforschen. Wenn Equilibrium auch nur halb so
gefährlich und allgegenwärtig ist, wie du in deinem Bericht andeutest,
ergeben sich daraus ernsthafte Folgen für unsere zukünftigen Operationen.
Wir werden sehen. Und nun zu deinem nächsten Einsatz.«
Connor blieb der Mund offen stehen. »Was? Ich dachte … wir hatten
doch vereinbart, dass ich jetzt erst einmal eine Auszeit nehme – für eine
Weile keine aktiven Einsätze mehr!«
»Ja, das haben wir«, nickte der Colonel. Sein wettergegerbtes, hartes
Gesicht blieb absolut ausdruckslos. »Aber nun ist Charley für einige Zeit
weg und Jason nicht einsatzbereit, deshalb musst du wieder ran.«
Connor wurde von diesem überfallartigen Ansinnen kalt erwischt. Er
hatte sich auf eine Auszeit gefreut. Mürrisch starrte er aus dem Fenster. In
der Abenddämmerung war der Friedhof mit seinen Grabsteinen bloß noch
in schattenhaften Umrissen zu erkennen. Nur der weiße Marmorstein auf
Nadias Grab stach hell heraus, eine ständige Erinnerung an die Gefahren,
denen er bei seinem letzten Einsatz ausgesetzt gewesen war. Nach vier
anstrengenden Operationen hintereinander war er geistig, psychisch und
körperlich völlig ausgebrannt. Und damit wurde auch das Risiko, dass ihm
ein fataler Fehler unterlaufen könnte, immer größer.
»Kann nicht ein anderes Team eingesetzt werden?«, fragte er.
»Sie sind alle anderweitig eingebunden«, antwortete der Colonel
entschieden.
»Und was ist mit Ling oder Richie oder Marc? Ich könnte die
Operationen vom Hauptquartier aus leiten.«
Colonel Black schüttelte den Kopf. »Das ist Jasons Aufgabe, solange er
sich erholt. Hör mir genau zu, Connor: Ich würde dich nicht darum bitten,
wenn ich eine Alternative sähe. Aber du bist das am besten qualifizierte und
fähigste Mitglied des Alpha-Teams. Das Blut deines Vaters strömt durch
deine Adern, so sicher und beherrschend wie der Stahl im Schwert eines
Samurai. Außerdem passt du perfekt in das Profil dieser Mission.«
Er nahm einen Operationsordner aus einer Schublade und ließ ihn vor
sich auf den Schreibtisch fallen. Auf dem Deckel stand der Einsatzort:
Mexiko.
»Bring diese Sache hinter dich, dann reden wir über eine längere
Auszeit«, versprach ihm der Colonel. »Der Einsatz dauert nicht lange. Du
wirst rechtzeitig vor Charleys Rückkehr wieder hier sein.«
Connor starrte auf den Ordner. Ein Nein würde der Colonel nicht
akzeptieren, das war ihm klar. Und, wenn er ganz ehrlich war, musste er
zugeben, dass ihn die Sache lockte. Charley war weg und seiner Mutter
ging es nicht besser – er brauchte einen neuen Einsatz, damit er beschäftigt
war. Er würde eine, höchstens zwei Wochen hier im Hauptquartier
herumsitzen und sich langweilen, doch spätestens dann würde er die
Herausforderung vermissen, die eine Mission darstellte, würde sich nach
dem Adrenalinrausch sehnen, der sich einstellte, wenn er einen Klienten
beschützte. Seine Großmutter hatte recht, wenn sie immer behauptete, er sei
genau wie sein Vater.
Nur noch eine Mission. Ein kurzer Einsatz. Was konnte da schon
passieren?
EPILOG

Der Golfübungsplatz erstreckte sich über das gesamte Dach des


Wolkenkratzers und bot einen prächtigen Blick auf das Häusermeer
Shanghais. Ein paradiesischer Flecken mit perfekt grünem gepflegten
Rasen, eine Oase der Ruhe, ein scharfer Kontrast zu den grellen
Neonlichtern der unzähligen Leuchtreklamen, die jetzt allmählich
aufflammten. Weit unten strömte der nie endende Verkehr durch die
Straßen; Motoren- und Hupenlärm trieben nur gedämpft durch den
gelbschmutzigen Abenddunst herauf. Mit der Dämmerung wich die Hitze
allmählich, die Tag für Tag wie eine schwere Glocke über der Stadt lag.
Eine leichte Brise kühlte Mr Greys Stirn.
Der Direktor legte sorgfältig den Golfball auf das Tee. Er führte einen
präzisen Schlag mit dem Putter auf den kleinen weißen Golfball aus, dessen
Oberfläche mit rund vierhundert Dimples übersät war, winzige Dellen, die
den Direktor immer an ein Pockennarbengesicht erinnerten. Konzentriert
folgte sein Blick dem Ball, der in völlig gerader Linie über das sauber
getrimmte Grün rollte. Ein beeindruckend ausgeführter Putt aus
fünfundzwanzig Metern Entfernung. Immer noch schien der Direktor die
Anwesenheit des anderen nicht zu bemerken. Er trank einen Schluck Eistee
aus einem hohen Glas, bückte sich und setzte einen weiteren Ball auf das
Tee.
»Also ist Malkow tot«, stellte der Direktor fest, ohne den Blick vom
Golfball abzuwenden. »Sie hatten den Auftrag, ihn zu beschützen. Warum
haben Sie sich nicht in die Schusslinie geworfen, um unsere … Investition
zu retten?«
»Ich bin Attentäter, kein Bodyguard«, antwortete Mr Grey knapp. Sein
Arm war verbunden; die angeknackten Rippen heilten allmählich, aber in
seinem Innern brannte ein ganz anderer Schmerz, den weder Ärzte noch
Medikamente kurieren konnten: versagt zu haben.
Der Direktor fasste den Flaggenstock am hinteren Ende des Grüns ins
Auge. »Sie behaupten also, schuld sei ein Junge namens Connor Reeves
gewesen, der dieser Buddyguard-Organisation angehört?«
»Ja. Er beschützte das Mädchen … indem er auf mich schoss.«
Der Direktor warf dem Profikiller einen spöttischen Seitenblick zu und
hob eine schmale Augenbraue. »Vielleicht sollten wir Sie feuern und lieber
ihn anheuern?«
Statt einer Antwort starrte Mr Grey den Direktor mit düster gerunzelter
Stirn an.
Der Direktor führte einen Probeschlag aus. »Das ist nicht das erste Mal,
dass dieser Junge unsere Pläne durchkreuzt.«
»Nein«, antwortete Mr Grey. »Er ist inzwischen so etwas wie ein
beständiger Stachel in unserem Fleisch geworden.«
Der Direktor hielt mitten im Schlag inne. »Was weiß er über
Equilibrium?«
»Sehr wenig. Er kennt den Namen, aber über unsere Ziele weiß er
nichts.«
Der andere richtete sich auf und blickte nachdenklich in die Ferne. »Ein
von Ameisen gegrabenes Loch kann einen Damm zum Einsturz bringen.«
Er warf dem Killer einen kalten Seitenblick zu und fügte spitz hinzu: »Es ist
nie gut, solche Bedrohungen zu unterschätzen, Mr Grey.«
»Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«, fragte der Killer.
»Die Ameise eliminieren«, befahl der Direktor, nahm wieder die
korrekte Haltung ein und führte den Schlag aus.
Mr Greys kalte graue Augen folgten dem Ball auf seinem Weg über den
Rasen. Er verschwand spurlos im Loch.
Der Direktor lächelte befriedigt. »Oder am besten gleich das ganze
Nest.«

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