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000-027 Leseprobe
000-027 Leseprobe
herausgegeben von
ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT
ALAIN PATRICK OLIVIER
MICHAEL QUANTE
ELISABETH WEISSER-LOHMANN
Rafael Aragüés
Wilhelm Fink
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne
vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.
Internet: www.fink.de
ISBN 978-3-7705-6306-7
Inhalt
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version einer Untersuchung, die im
Wintersemester 2016/17 von der Philosophischen Fakultät der Universität Hei-
delberg als Dissertation angenommen worden ist. Mein besonderer Dank gilt
meinem Doktorvater und Erstgutachter Prof. Dr. Hans Friedrich Fulda: für seine
Hilfe im ganzen Promotionsprozess, seine Verfügbarkeit, für mich sowohl per-
sönlich als auch bei langen Telefongesprächen immer da zu sein, und schließlich
für die Mühe, sich mit den verschiedenen Fassungen meiner Arbeit auseinander-
zusetzen und sie mit mir zu diskutieren. Eine bessere Betreuung hätte ich mir
nicht wünschen können. Außerdem möchte ich mich an dieser Stelle bei Herrn
Prof. Dr. Anton Friedrich Koch dafür bedanken, dass er das Zweitgutachten mei-
ner Dissertation übernommen hat. Den Herausgebern der Reihe HegelForum
und insbesondere Herrn Prof. Dr. Michael Quante danke ich für die Aufnahme
der Arbeit. Der Rosa-Luxemburg-Stiftung danke ich für die finanzielle Unterstüt-
zung, die mich in die Lage versetzte, mich intensiver meinem Forschungsthema
hingeben zu können. Das Buch sei schließlich meiner Familie gewidmet. An sie
geht mein letzter Dank, weil sie mich immer unterstützt hat.
Die vorliegende Arbeit wäre also ohne die Unterstützung all dieser Menschen
nicht zustande gekommen. Aber nur ich bin selbstverständlich verantwortlich
für sie und für alles Falsche, das sie enthalten mag.
„Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben;
die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen
ohne Prämissen?“
Schelling an Hegel, am heiligen Dreikönigsabend, 1795
Mehr als hundertfünfzig Jahre nach Hegels Tod ist das Nachdenken über sein Werk
ebenso wenig am Ende wie die Philosophie. Das sollte aber niemanden wundern.
Denn, was Klassiker der Geschichte der Philosophie auszeichnet, das sind ihre
bahnbrechenden Einsichten. Mit ihnen gehen wir in der Suche nach Wahrheit auf
die unterschiedlichen Wege des Denkens. Und Hegel zählt durchaus zu denjeni-
gen Klassikern der Philosophie, welche neue Wege gebahnt und frische Perspek-
tiven eröffnet haben. Sein Werk orientiert uns im Denken und Handeln nach wie
vor. Denn heute gilt wie gestern, dass wir ohne Philosophie im Alltag verloren und
den uns umgebenden Ereignissen ratlos preisgegeben sind.
In seinem Brief an Hegel fragt Schelling nach den Prämissen der Kantischen
Philosophie. Denn ohne Prämissen könne man Resultate kaum verstehen. Ähn-
liches gilt bei Hegel. Ausführlich wurde nach seinem Tod über die Resultate und
Folgen seiner Philosophie diskutiert. Auch in jüngster Zeit hat die Hegelforschung
aufschlussreiche Ergebnisse erbracht. Die vorliegende Arbeit will aber auf die
Prämissen der Hegelschen Philosophie zurückgehen. Was ist der Gegenstand und
die Grundlage der Philosophie Hegels? Was macht ihre Fragestellung aus? Worin
besteht ihre grundlegende Einsicht? Auf solchen Fragen beruht und ihnen ent-
stammt die vorliegende Arbeit. Sie ist deshalb – auch ganz im Hegelschen Sinn –
eine metaphysische Untersuchung.
Damit ist jedoch durchaus nicht gesagt, dass uns keine möglichen Antworten
auf jene Fragen zur Verfügung stünden. Ganz im Gegenteil! Es gibt in der Hegel-
forschung eine zwar nicht völlig unumstrittene, jedoch weithin herrschende Mei-
nung über Hegels Metaphysik und über die Prämissen seines Systems der Philo-
sophie. Die vorliegende Arbeit fängt deshalb keineswegs von neuem an. Sie setzt
sich vielmehr mit jener herrschenden Meinung auseinander. Sie tut das in der
Überzeugung, dass nur Klarheit über die Prämissen von Hegels Denken zum ad-
äquaten Verständnis seiner Resultate führen kann.
Philosophie zur Wissenschaft zu erheben, und dies heißt für viele Hegel-Exper-
ten dasselbe, wie eine philosophische Vernunfterkenntnis über das Ganze zu
leisten. Hegels Position wird dabei als eine monistische Ontologie aufgefasst und
infolge dessen unterstellt man ihr die Aufgabe, die Wirklichkeit als die Ausdiffe-
renzierung dieses einzig Seienden zu erklären. Denn Hegels Grundgedanke be-
stehe in der zugrunde liegenden, der menschlichen Vernunft zugänglichen Ein-
heit des Ganzen. Diese allumfassende ontologische Einheit des Wirklichen wird
mit dem Terminus „das Absolute“ bezeichnet. Monistische Ontologie des Abso-
luten ist für die Mehrheit der Forscher, welche dementsprechend die Hegelsche
Metaphysik als die systematische Darstellung des Absoluten verstehen, der An-
satzpunkt des Hegel-Verständnisses.
In einem hervorragenden Buch über die Klassische Deutsche Philosophie ha-
ben Walther Jaeschke und Andreas Arndt diese herrschende Interpretation prä-
gnant zusammengefasst. Hegel gehe von Schellings Fragestellung aus: Die Philo-
sophie soll das allumfassende Wesen, das All-Eine oder Absolute, erkennen und
systematisch darlegen. Allerdings liege der Hauptunterschied zu Schelling in der
Einheit von Absolutem und System. Denn im Unterschied zu Schelling sei in He-
gels Augen das Absolute das Ganze des Systems der Philosophie. Das Absolute
bestehe in seiner Selbsterkenntnis und erschöpfe sich darin. Es handele sich um
kein starres, identisches Wesen, sondern vielmehr sei das Absolute dynamisch,
und die Bewegung gehöre wesentlich zu ihm. Denn es sei nichts anderes als die
Bewegung seiner Selbstauslegung. Diese Bewegung werde im ganzen System der
Philosophie erfasst. Im System manifestiere sich das Absolute selbst, die allum-
fassende Einheit, das Sein in allem Dasein:
„Das Absolute ist nicht von seiner Manifestation unterschieden zu denken, nichts, was
ihr gegenüberstünde, sondern es ist nichts als das Ganze seiner Manifestation, die im
System der Philosophie zum Wissen ihrer selbst kommt.“1
„zu seinem eigenen Systemgedanken gelangt sei: zum Gedanken der Einheit des Be-
griffs des Absoluten und des Systems der Philosophie. Das Absolute ist nichts anderes
als das Ganze der prozessual gedachten, in der Selbsterkenntnis des Geistes kulminie-
renden Wirklichkeit, oder anders: Das System ist als Ganzes nichts anderes als die Re-
1
Walther Jaeschke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der
Vernunft und ihre Kritik 1785-1845, München, 2012, S. 548f.
EINLEITUNG 13
konstruktion der Selbstexplikation des Absoluten und eben damit der Abschluß dieser
Selbstexplikation.“2
Das Zitat ist aussagekräftig und fasst die herrschende Interpretation von Hegels
Philosophie sehr gut zusammen. Diese Philosophie beanspruche, so die commu-
nis opinio, eine Explikation der gesamten Wirklichkeit, die aber zugleich als Selbst-
erkenntnis des Geistes zu verstehen und deren Prozess mit der Hegelschen Phi-
losophie selbst abgeschlossen sei. In einer fast religiösen Deutung sei Hegels
System – zumindest seinem Anspruch nach – nicht nur eine Darlegung des Ab-
soluten seitens des sterblichen Hegel, sondern, ähnlich wie die Bibel, das Wort
des Absoluten selbst, die „Selbstexplikation des Absoluten“, die allumfassende,
ultimative Selbsterklärung der Wirklichkeit.
Mit Schelling teile also Hegel die grundsätzliche Fragestellung. Jedoch unter-
schieden sich beide in der Auffassung des Absoluten sowie im Systemkonzept.
Denn Schelling fasse das Absolute als reine Identität aller Differenten. Sein Sys-
tem der Philosophie erhebe den Anspruch, diese Identität zu fassen und aus ihr
nicht auszusteigen, sondern sie in allem Seienden darzustellen. Hegel hingegen
fasse das Absolute als die prozessuale, systematische Selbstauslegung, -erkennt-
nis und -manifestation seiner selbst. Dafür sei ihm der Gegensatz wesentlich. In
der Manifestation seiner selbst durch das System entzweie sich das Absolute und
vereinige seine Partien am Ende wieder in die ursprüngliche Einheit. Es müsse
sozusagen in den Gegensatz gehen, um ihn für nichtig zu erklären und sich als
allumfassendes Seiendes zu behaupten. Hegel fasse also die Einheit aller Seien-
den anders als Schelling. Die Einheit sei dynamisch, nicht identisch. Alles ist eins.
Aber das Eine ist die Bewegung, die von der ursprünglichen, ontologischen Ein-
heit ausgeht, sich in ihrem Bestimmen entzweit und von diesem erzeugten Gegen-
satz zeigt, dass er bloß scheinbar ist, dass er kein unhintergehbarer Gegensatz,
sondern im Grunde genommen nichtig ist. Denn alles entstehe und bestehe in
der Einheit des Absoluten.
Die absolute Einheit des Wirklichen möchten also sowohl Hegel als auch Schel-
ling zeigen. Doch obwohl diese Interpretation die Hegelsche Philosophie durch
Markierung des dynamischen Charakters des Absoluten von Schellings Denken
abgrenzen will, fällt sie gleichwohl unausweichlich und völlig in Schellings phi-
losophischen Ansatz zurück. Variationen dieser Interpretation unter grundsätz-
lichem Konsens sind in der Hegelforschnung mehrfach vorhanden. Für Rolf-Pe-
ter Horstmann beispielsweise verkörpert Hegel ebenfalls das Ideal eines
Philosophen des Absolut-Einen. Hegel stehe der nachkantischen Tradition Fich-
tes, Schellings und Hölderlins nahe, indem er die Wirklichkeit als die Ausdiffe-
renzierung einer Primärstruktur denkt. Die Ontologie des Absoluten sei für ihn
die einzige Möglichkeit, „ein einheitliches und vollständiges Weltbild zu konzi-
2
W. Jaeschke, A. Arndt, a.a.O., S. 548.
14 EINLEITUNG
pieren.“3 Hegel bietet also Horstmann zufolge eine monistische Ontologie, die
nur ein letztlich wirklich Seiendes akzeptiert. Seine Philosophie sei deshalb in
einer monistischen Tradition zu verstehen, für die Spinozas Substanz, Fichtes
absolutes Ich, Schellings Unbedingtes und Hegels Absolutes als repräsentativ
gelten.4
Für Dieter Henrich ist ebenfalls das Absolute Hauptthema der Hegelschen
Philosophie. Kein Teil derselben, wie etwa die Philosophie des Geistes, könne
verstanden werden, ohne das gesamte Programm ins Auge zu fassen, „die Grund-
lehre der Philosophie als spekulative Metaphysik unter dem Gedanken eines ein-
zigen Absoluten zu vollenden.“5 Auch Jens Halfwassen deutet Hegel als Philoso-
phen des Absoluten. Das Ziel seiner Metaphysik sei die ultimative Erkenntnis
und Darstellung des Absoluten: „Hegels absolute Metaphysik erhebt den An-
spruch auf unüberbietbare systematische Vollendung und abschließende, voll-
ständige Vernunfterkenntnis des Absoluten.“6 Schon Hermann Braun verteidigte
die These, Hegel betreibe eine Metaphysik des Absoluten, und insbesondere sei
er von der Philosophie Spinozas beeinflusst, wobei Braun den Einfluss von Spi-
noza viel höher einschätzte, als es in der Hegel-Literatur üblich ist. Alle drei Den-
ker des deutschen Idealismus haben Braun zufolge das Einheitsprinzip Spinozas,
die Substanz, als Grundlage ihrer Philosophie gemeinsam, und fragen nur nach
einer angemessenen Methode für ihre Erkenntnis.7
Das Absolute oder das Eine, das höchste Seiende, das alle anderen Seienden
begründet, ist gleichfalls für Klaus Düsing das höchste Prinzip der Hegelschen
Metaphysik.8 Für Düsing ist zwar das Absolute bei Hegel im Gegensatz zu Spi-
noza nicht als Substanz, sondern als Subjekt zu begreifen. Jedoch teilten beide
Denker das Verständnis der Metaphysik als Wissenschaft erstens des Seienden
selbst, zweitens des Alls alles Seienden und drittens des zuhöchst Seienden. „Nicht
nur als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt“ lautet die Formel, die Hegels
metaphysische Position zusammenfassen soll. Düsing ist der Meinung, dass die
Hegelsche Philosophie eine neue Ontologie begründet, welche die Wirklichkeit
als das Absolute, das Absolute aber nicht nur als Substanz, sondern als sich selbst
bestimmende Subjektivität auffasst. Es sei zwar davon auszugehen, dass Hegel
Spinozas Grundüberlegung zur absoluten, einzigen Substanz für grundsätzlich
3
Rolf-Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des
deutschen Idealismus, Frankfurt am Main, 1991, 178. Vgl. auch a.a.O., S. 177f.
4
Vgl. a.a.O., S. 178, Fußnote.
5
Dieter Henrich, „Erkundung im Zugzwang: Ursprung, Leistung und Grenzen von Hegels Den-
ken des Absoluten“, in Klaus Vieweg, Wolfgang Welsch (Hrsg.), Das Interesse des Denkens: Hegel
aus heutiger Sicht, München, 2003, S. 9.
6
Jens Halfwassen, „Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie“, in
Anton Friedrich Koch, Alexander Oberauer, Konrad Utz (Hrsg.), Der Begriff als die Wahrheit.
Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn, 2003, S. 31.
7
Vgl. Hermann Braun, „Spinozismus in Hegels Logik“, in Hegel-Studien, Band 17, Hamburg, 1982,
S. 53ff., bes. S. 68.
8
Vgl. Klaus Düsing, „Von der Substanz zum Subjekt“, in M. Walther (Hrsg.), Spinoza und der deut-
sche Idealismus, Würzburg, 1992, S. 163-181.
EINLEITUNG 15
richtig hielt. Dennoch müsse die Substanz in ihrer inneren Tätigkeit und Nega-
tivität ergänzend als Subjekt gefasst werden. Erst in der Wissenschaft der Logik
beginne Hegel damit, das Absolute als Substanz und darüber hinaus als Subjekt
positiv zu begreifen. Die Substanz sei dort die Macht der Setzung und der Wie-
deraufhebung von allem Endlichen. Die Einheit der Substanz müsse aber ein-
schließlich ihrer inneren selbstbezüglichen Negativität begriffen werden und sei
erst in der vollen Entwicklung des spekulativen Begriffs vollkommen herausge-
bildet zu finden. Hegels Begriff des Begriffs und seine Vollendung, die absolute
Idee, auch als Subjektivität zu verstehen, würden also die vollkommen vernünf-
tige Gestalt des Absoluten ergeben.9
Man könnte hier viele weitere Beispiele anführen, die das Absolute ins Zent-
rum der Hegelinterpretation stellen. Denn die Interpretation von Hegels Meta-
physik als eine monistische Ontologie des Absoluten ist seit Jahren innerhalb der
Hegel-Forschung zur herrschenden Meinung geworden. Dem widersprechen tat-
sächlich nur sehr wenige. Eine der wichtigsten Ausnahmen stellt Hans Friedrich
Fulda dar. Seiner Meinung nach besteht die Aufgabe der Hegelschen Metaphy-
sik – die als solche ausschließlich die Wissenschaft der Logik umfasst – nicht in
der Vernunfterkenntnis von Gegenständen, sondern vielmehr in der Selbsterkennt-
nis der Vernunft. Hegels Metaphysik ist dementsprechend für Fulda im Gegen-
satz zur herrschenden Meinung keinesfalls als Ontologie zu verstehen.10 Diese
starke These Fuldas, die ihn von der großen Mehrheit der Hegel-Interpreten
unterscheidet, beinhaltet die unmittelbare Schlussfolgerung, dass die Hegelsche
Metaphysik nicht als die Vernunfterkenntnis des Absoluten gekennzeichnet wer-
den darf. Zwar strebe die Hegelsche Logik als objektive Logik anfangs eine wahr-
hafte Definition des Absoluten an, jedoch werde diese Aufgabe am Ende der We-
senslogik nicht weiter verfolgt, weil der Begriff des Absoluten „der für eine
Definition erforderlichen Bestimmtheit“ ermangelt.11 Der Gedanke eines Abso-
luten werde also durch einen Nachfolgerbegriff, nämlich den spekulativen Be-
griff, ersetzt, dessen Definition sich nicht mehr als Definition des Absoluten fas-
sen lässt.12 Weder der Begriff noch die absolute Idee sind also Fulda zufolge
kurzerhand als das Hegelsche Absolute zu verstehen.
Auslegungen, die den allgemeinen Rahmen der gegenwärtigen Hegelinterpre-
tation in Frage stellen, haben sich allerdings kaum durchsetzen können. Konsens
in der Hegelforschung bleibt nach wie vor das Bild von Hegel als dem Denker des
Absoluten. Die Interpretationen gehen zwar in der Auffassung des Absoluten
auseinander: Das Absolute mag Substanz sein, oder eine Substanz, die zugleich
Subjekt ist, oder der Geist, oder die sich selbst erkennende Idee. Jedoch ist den
meisten die Auffassung der Hegelschen Metaphysik als monistischer Ontologie
9
Vgl. Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, besonders das fünfte Kapitel
„Die absolute Subjektivität als spekulative Idee und Prinzip der Logik“, Bonn, 1995.
10
Vgl. Hans Friedrich Fulda, „Die Ontologie und ihr Schicksal in der Philosophie Hegels“, in
Revue Internationale de Philosophie, n°210, S. 455-473.
11
Hans Friedrich Fulda, G.W.F. Hegel, München, 2003, S. 115.
12
Vgl. Fulda, G. W. F. Hegel, S. 115f. und 104ff.
16 EINLEITUNG
sophie, die die Freiheit in den Mittelpunkt des Denkens stellt. Das zweite hin-
gegen ist der programmatische Ansatz einer Philosophie des Absoluten, – einer
Philosophie, welche die absolute Notwendigkeit thematisieren und infolge des-
sen die menschliche Freiheit als Wirkung und Manifestation des Absoluten deu-
ten muss.
Gegen diese Argumentation könnte man natürlich einwenden, dass das Kon-
zept des Absoluten, das hier verwendet wird, eben nicht mit dem Hegelschen zu
identifizieren sei. Deshalb ist es erforderlich, die Diskussion nicht im leeren Raum
zu führen, sondern auf die Bestimmung des Absoluten und seiner Dynamik in
der Wissenschaft der Logik genau einzugehen. Dort lernt man, dass mit dem Ab-
soluten die Identität von Wesen und Existenz, die Vereinigung von allem Be-
stimmten und Konkreten, von allen Bestimmungen der Seins- und der Wesens-
logik in einem Gedanken gefasst werden soll. Diese Auffassung des Absoluten ist
keine neue Überlegung Hegels, sondern sie entspricht dem um 1800 in Deutsch-
land herrschenden Verständnis: dass das Absolute die Vereinigung alles Endli-
chen und Konkreten und das Eine ist, das alles andere als Schein von ihm herab-
setzt.
Allerdings enthält die Behandlung des Absoluten innerhalb der Logik nicht
nur das Kapitel mit dem Titel Das Absolute, sondern ebenfalls die zwei folgenden
Kapitel. Es handelt sich also um die drei letzten Kapitel der Wesenslogik: Das Ab-
solute, Die Wirklichkeit und Das absolute Verhältnis. Diese drei Kapitel bilden in-
sofern einheitlich eine Logik des Absoluten, worin zuerst die erste Bestimmung
des Absoluten als Identität von Wesen und Existenz exponiert, dann die absolute
Notwendigkeit, d. i. „die Auslegerin des Absoluten“ logisch generiert und schließ-
lich auf dieser Grundlage die weitere, vollendete Bestimmung des Absoluten,
nämlich die Substanz als differenzierte Vereinigung von Wesen und Existenz er-
reicht wird. Wir werden all dies darlegen sowie auch dafür plädieren, dass die
Dynamik der Substanz über die Kausalität zur Wechselwirkung, die von Hegel
sogenannte Widerlegung des Spinozismus, in der Tat die Widerlegung jeglicher
im Ganzen als Philosophie des Absoluten verstandenen Philosophie bedeutet.
Denn es wird dort nicht nur die konkrete Philosophie Spinozas, sondern darüber
hinaus der Standpunkt des Absoluten überwunden. Genau dies verdeutlicht He-
gel im Vorspann zum Begriff. Die Arbeit wird sich also im Hinblick auf die The-
matik des Absoluten mit all diesen Passagen der Wissenschaft der Logik intensiv
befassen.
In nuce hinterfragt damit die vorliegende Untersuchung die in der Hegelfor-
schung herrschende Meinung kritisch, indem sie sich mit Hegels Darlegung der
Gedankenbestimmung „das Absolute“ in der Wissenschaft der Logik auseinander-
setzt. Das Absolute ist zwar eine Denkbestimmung, die in einer Hegelschen spe-
kulativen Logik am Ende der Lehre vom Wesen systematisch verortet ist. Jedoch
wird das Hegelsche Verständnis von Metaphysik als spekulativer Logik missdeu-
tet, wenn man ihr die Aufgabe unterstellt, das Absolute, das seiende All-Eine,
wissenschaftlich darzulegen. Hegels Logik als Untersuchung des Denkens und
seiner Bestimmungen bedeutet vielmehr eine Selbsterkenntnis der Vernunft als
18 EINLEITUNG
der absoluten Idee. Diese Metaphysik oder spekulative Logik bildet mit den zwei
anderen philosophischen Disziplinen, der Philosophie der Natur und der Philo-
sophie des Geistes, ein System der Philosophie. Als System ist die Aufgabe der
Philosophie, die Idee als das Vernünftige in ihren gegenwärtigen, unterschiedli-
chen Gestaltungen zu erfassen. Diese systematische Vernunfterkenntnis aus Be-
griffen begründet aber nicht nur ein philosophisches Wissen vom Vernünftigen
in der Gegenwart, sondern darüber hinaus auch durchaus eine Kritik des Unver-
nünftigen und Willkürlichen mittels einer Philosophie, welche zwar nicht mehr
im Rahmen eines Systems betrieben wird, die aber erst aufgrund der system-phi-
losophischen Erkenntnis des Vernünftigen sowohl durchführbar als auch erfor-
derlich ist. Im Gegensatz zu diesem hier sehr kurz skizzierten, gesamten Pro-
gramm der Hegelschen Philosophie kann eine Philosophie des Absoluten nicht
umhin, das Gegebene und den status quo als die notwendige Entfaltung des Ab-
soluten zu rechtfertigen.
Im Rahmen einer Untersuchung, die sich mit dem Problem des Absoluten bei
Hegel befasst, ist einleitend noch auf zwei Unterschiede aufmerksam zu machen.
Erstens ist darauf hinzuweisen, dass es dabei nicht um eine bloß terminologische
Diskussion geht und es sich auch nicht darum handeln kann. Der Ausdruck Ab-
solutes in allen seinen Formen (substantivisch das Absolute, adjektivisch absolu-
tes, adverbial absolut) entstammt dem lateinischen Wort absolutus. Absolutus ist
das Partizip Perfekt des Verbs absolvere, das sich aus dem Präfix ab, auf Deutsch
„von“, „weg“, und dem Verb solvere (solvo) zusammensetzt, auf Deutsch „lösen“,
„loslösen“, „ablösen“, auch „erlösen“, „von Pflichten befreien“, „entbinden“. Dar-
aus bildet sich das Verb absolvo (absolvere), auf Deutsch „loslösen“, „losmachen“,
„befreien“, „freisprechen“ von etwas, nämlich einer Aufgabe, einer Pflicht, einer
Strafe, und deshalb heißt absolvo auch etwas „vollenden“, „beenden“, und damit
auch, davon losgelöst zu werden. Sein Partizip Perfekt absolutus bedeutet daher
„losgelöst“, „freigesprochen“, „befreit“, und zwar, qua genuin perfectus, als Ergeb-
nis eines Prozesses, als Resultat einer Vollendung oder Vollbringung. Absolutus
heißt also befreit, losgelöst von aller Beschränkung, abgeschlossen und damit
auch, unbedingt und uneingeschränkt. Die Bedeutung des Terminus breitet sich
dann aus, denn absolutus heißt mithin vollendet, vollständig, vollkommen. Rein
etymologisch, können wir also feststellen, heißt das Absolute das Abgeschlos-
sene, Vollständige und Vollendete und genau deshalb das Losgelöste und Befreite
von allem anderen. Das Absolute ist also das, was nach einem gewissen Prozess
sich endlich vollendet und von seiner Beschränkung losgelöst hat, sodass es nun
vollständig und von allen Bedingungen enthoben ist. In diesem Sinn genommen
geht es in der Hegelschen Philosophie durchaus um eine Erkenntnis und syste-
matische Darstellung des Absoluten. Die absolute Idee nämlich ist dann mit vol-
lem Recht als Hegels Absolutes zu verstehen. Allerdings ist damit nicht viel ge-
sagt, aber Hegel selbst gebraucht das Wort ja offensichtlich auch in diesem
weiten Sinn. Ebenfalls in dieser Bedeutung sind die adjektivische und adverbiale
Verwendungen des Terminus zu verstehen: absolutes Verhältnis, absolute Form,
absoluter Inhalt usw. In all diesen Fällen heißt absolut nach wie vor vollendet,
EINLEITUNG 19
Die Frage nach dem Absoluten hängt im Rahmen des deutschen Idealismus be-
kanntermaßen eng zusammen mit der Rezeption von Spinoza. Jacobis Schrift
Über die Lehre des Spinoza veranlasste eine Spinoza-Renaissance in der Klassi-
schen Deutschen Philosophie und prägte gleich zu Anfang die Rezeption dieser
Philosophie. Über eine Reihe von Briefen an Moses Mendelssohn erläutert Jacobi
in dieser Schrift die wesentlichen Züge des Spinozismus, zu dem sich Lessing in
seinen letzten Jahren angeblich bekannt hatte. Der Spinozismus aber, auf den
sowohl Leibnizens Philosophie als auch die Kabbalistik zurückzuführen seien,
beinhaltet Jacobi zufolge in seinem innersten Kern den Atheismus sowie Fatalis-
mus und soll aus diesem Grund abgelehnt werden.
EINLEITUNG 21
Die Darstellung des Spinozismus sowie einiger seiner Spezifika – wie die Kri-
tik an den Endursachen oder das Verhältnis zwischen Denken und Ausdehnung –
ziehen sich durch den Briefwechsel mit Mendelssohn hindurch. Einen gelunge-
neren Überblick über Jacobis gesamte Auslegung des Spinozismus schaffen jedoch
die vierundvierzig Thesen, die „das Lehrgebäude des Spinoza in seiner wahren
Gestalt, und nach dem nothwendigen Zusammenhang seiner Theile“ darstellen.13
Der Geist des Spinozismus liegt für Jacobi in der Ansicht, dass allem Werden und
Wandeln, allem Entstehen und Vergehen sowie allem Endlichen und Zeitlichen
ein unveränderliches, unendliches und ewiges Wesen zugrunde liegen muss.
Wenn man das Prinzip „aus Nichts entsteht nichts“ konsequent einhält, dann
muss es eine unendliche Substanz aller Veränderung und aller einzelnen Dinge
geben, aufgrund welcher diese da sind und welche sie in sich einschließt. Diese
Substanz ist der Inbegriff aller endlichen Dinge. Aber dieser Inbegriff ist nicht
ihre bloße Zusammensetzung, die nur in einer unendlichen, zerstreuten Menge
aufgehen könnte, sondern er ist ein wahrhaft organisches Ganzes, „dessen Theile
nur in und nach ihm seyn, nur in und nach ihm gedacht werden können.“14 Diese
Substanz ist das Ur-Sein, das Sein in allem Dasein, das „allgegenwärtige unwan-
delbare Wirkliche.“15 Ihr gegenüber sind die endlichen Dinge eigentlich non-en-
tia. Denn Bestimmung ist Negation, und was das einzelne Ding bestimmt, ist ge-
rade sein Nicht-Sein. Als endliche Dinge stellen sie also bloße Manifestationen
des wahrhaften, substantiell Seienden dar. Die Substanz selbst hat weder Ver-
stand noch Wille. Sie ist nur die unendliche Manifestation ihrer selbst.
Die Substanz ist Ursache ihrer selbst, causa sui, und weil sie die allumfassende
Totalität ausmacht, so ist sie als Ganzes die innewohnende Ursache von allem.
Dennoch ist jedes einzelne Ding nicht unmittelbare Wirkung der unendlichen
Substanz, sondern jedes Ding setzt vielmehr ein anderes Ding als seine Ursache
voraus. Das einzelne Ding wird daher durch eine unendliche Reihe von einzel-
nen Ursachen bestimmt, wodurch es eigentlich in wechselseitigem Zusammen-
hang mit allen anderen steht. Und so ist die unendliche Substanz zwar nicht un-
mittelbare, aber als das Ganze der allumfassenden Wechselwirkung doch
mittelbare Ursache von allem. So erläutert es Jacobi:
„Alle einzelnen Dinge setzen sich, gegenseitig, einander voraus, und beziehen sich auf
einander, so daß eines davon ohne alle die übrigen, und alle die übrigen ohne dies
eine, weder seyn noch gedacht werden können; das heißt, sie machen zusammen ein
unzertrennliches Ganzes aus; oder richtiger und eigentlich: sie sind in einem schlech-
terdings untheilbaren unendlichen Dinge, und auf keine andre Weise, da und beysam-
men.“16
13
Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe herausgegeben von Klaus Hammacher und
Walter Jaeschke, Hamburg, 1998, Band 1,1, S. 91.
14
Jacobi, Werke 1,1, S. 96.
15
Jacobi, Werke 1,1, S. 98.
16
Jacobi, Werke, 1,1, S. 110f.
22 EINLEITUNG
17
Der logische Zusammenhang zwischen den Denkbestimmungen des Substantialitätsverhält-
nisses, der Kausalität und schließlich der Wechselwirkung wird von Hegel in der Wissenschaft
der Logik untersucht. Dieser Zusammenhang ist für unsere Fragestellung entscheidend, denn
er macht die in Hegels Sicht endgültige Widerlegung des Spinozismus aus. Dem widmet sich
deshalb das Ende des dritten Kapitels der vorliegenden Arbeit.
18
Vgl. Dieter Henrich, „Hölderlins philosophische Grundlehre“, in R. T. Grundmann (Hrsg.), Ana-
tomie der Subjektivität, Frankfurt, 2005, S. 300-324, sowie „Hegel und Hölderlin“, in Dieter Hen-
rich, Hegel im Kontext, Frankfurt, 1967, S. 9-40.
EINLEITUNG 23
19
Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hrsg.
Klaus L. Berghahn, Stuttgart, 2000.
20
Vgl. das Fragment „Urteil und Sein“, in Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke: große Stuttgarter
Ausgabe, herausgegeben von Friedrich Beißner, Stuttgart, 1947ff, Bd. IV, S. 216f.
21
KU, AA 05, S. 402.
22
Vgl. Walther Jaeschke, Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, S. 338f.
24 EINLEITUNG
philosophie als Wissen vom Wissen enthalten, sondern sie ist schlechthin Philo-
sophie des Absoluten. Mit Schellings Werk kommen sowohl die Potentiale als
auch die Schwierigkeiten der Philosophie des Absoluten zur vollen Entfaltung.
In der Idee des Absoluten sieht Schelling das Prinzip der Philosophie sowie
die Vereinigung von Transzendental- und Naturphilosophie. Hierin bereitet sich
aber ein radikaler Bruch mit Kant und vor allem mit Fichte vor. Dieser Bruch, der
anhand Schellings Entwicklung einer Naturphilosophie voraussehbar geworden
war, vollzieht sich schließlich 1801 in der Schrift Darstellung meines Systems der
Philosophie. Vor dieser Darstellung seines Systems hat Schelling bereits 1800 Tran-
szendental- und 1801 Naturphilosophie eigens präsentiert. In der Vorerinnerung
zur Darstellung meines Systems bemerkt er aber, dass er beide Wissenschaften
immer als „entgegengesetzte Pole des Philosophierens“ angesehen hat. Nun
möchte er vom Indifferenzpunkt ausgehend das eine System errichten, dessen
beide Seiten er bisher nur getrennt voneinander dargestellt hat. Schelling begreift
auf diese Weise seine Philosophie als ein „Drittes“, das die Entgegensetzung von
beiden, Transzendental- und Naturphilosophie bzw. Idealismus und Realismus,
überwindet – nämlich die Entgegensetzung zwischen einem vom Ich ausgehen-
den und einem vom Realen ausgehenden Philosophieren. Von diesem „Dritten“
wird sich Hegel später, wie wir sehen werden, in der Phänomenologie des Geistes
distanzieren.
Hölderlin folgend bemerkt Schelling die Unzulänglichkeit des Fichteschen
Idealismus. Seiner Meinung nach fixiert Fichte den Idealismus auf das Ich und
fasst ihn dadurch einseitig aus der Perspektive der Subjektivität. Fichte bewegt
sich, wie auch Hegel in Glauben und Wissen festhalten wird, ganz und gar auf
dem Standpunkt der Reflexion. Im Gegensatz dazu meint Schelling sich auf dem
Standpunkt des Idealismus-Prinzips zu befinden. Denn wenn Fichtes Idealismus
durch den Grundsatz „Das Ich ist alles“ gekennzeichnet werden kann, so ist er zu
vervollständigen mit der umgekehrten Ansicht, dass Alles Ich ist und es nichts
anderes gibt als das, was Ich ist. Alles ist, an sich betrachtet, Ich und das Ich ist
alles.
Genauso wie der Idealismus bei Fichte, weil er unvollständig und einseitig ist,
einer Korrektur bedarf, muss dafür die Endlichkeit des Realismus in dessen er-
habenster Form, nämlich in derjenigen der Philosophie Spinozas, erkannt und
zur Geltung gebracht werden. Schellings System erhebt also zwar den Anspruch,
Idealismus und Realismus als die zwei Seiten einer Münze zu vereinigen. Aller-
dings glaubt Schelling, sich mit seinem System Spinoza „dem Inhalt und der Sa-
che nach“ am meisten anzunähern.23 Tatsächlich beruht sein System auch auf
dem Grundgedanken des Spinozismus. Diese Nähe zu Spinoza spiegelt sich aber
ebenfalls in der Übernahme seiner Darstellungsweise wider. Durch die Darstel-
lungsweise von Spinozas Ethik erhebt Schelling offensichtlich den Anspruch auf
23
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Werke, historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von
Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen und Siegbert Peetz,
Stuttgart, 2009, Band 10, S. 115.
EINLEITUNG 25
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Allerdings differiert die von Schelling angegebene Begründung für seine Darstellungsweise von
den eigentlichen Gründen, die Spinoza dazu bewogen, in seiner Philosophie wie die Mathe-
matiker an Gegenstände heranzugehen, wobei seine Gegenstände sich jedoch von mathema-
tischen Objekten sehr unterscheiden. Spinoza nämlich geht es nicht so sehr darum, durch die
Methode der Mathematik eine unerschütterliche Wahrheit für die Philosophie zu erreichen.
Er wählt die Verfahrensweise der Mathematik vielmehr deshalb, weil er das seiner Ansicht nach
Grundvorurteil der Menschen vermeiden will: die Zweckursachen. Die Grundüberlegung Spi-
nozas besteht darin: Genauso wie das Dreieck keinen Zweck außer ihm hat, der es erklärt, hat
die Natur, und haben in ihr die menschlichen Affekte, weder Zwecke noch Endursachen, aus
denen sie zu verstehen wären, sondern alle Dinge sind durch materielle Wirkursachen be-
stimmt, und genauso wie nichts in der Mathematik durch Nützlichkeit oder Ähnliches erklärt
wird, genauso wenig erklärt man einen Staat, ein Naturphänomen oder das Verhalten eines
Menschen, wenn man Begriffe wie Zweck, Sinn, Nützlichkeit oder Ordnung mit einbezieht. Vgl.
Benedictus de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hrsg. von Wolfgang Bart-
uschat. Lateinisch- Deutsch, Hamburg, 2015, erster Teil, Anhang.
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Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Zur Darstellung von Schelling‘s Identitätssysteme (In der Zeitschrift
für spekulative Physik, II. Band, 2. Heft), in Nachgelassene Werke, herausgegeben von I. H. Fichte,
Bonn, 1834, Band 3, S. 371ff.
26 EINLEITUNG
und ihn durch Fortdenken schärfer zu bestimmen. Diese Ansicht Fichtes teilt
Hegel durchaus. Schelling hingegen liefert zu Beginn eine abgeschlossene Erklä-
rung der Vernunft. Deshalb kann die darauf folgende Darstellung nur in einer
Wiederholung desselben Gedankens bestehen.
Mit der ersten Definition wird ohnehin der Grund des Schellingschen Systems
der Philosophie gelegt. Von hier an geht es darum, diese absolute Vernunft wei-
ter zu entwickeln. Die zwei nächsten Prädikate, die der Vernunft zugerechnet
werden, sind Allheit und Einheit, jeweils in den nächsten zwei Paragraphen. In
der Vernunft ist alles und außer ihr ist nichts, behauptet § 2. Denn, wenn etwas
außer der Vernunft angenommen wird, so wird diese dadurch entweder zum
Subjektiven oder zum Objektiven. Sieht man aber ein, dass die Vernunft vielmehr
die Indifferenz beider ist, so kann es nichts außer ihr geben. Dieser Indifferenz-
punkt, wo Subjektives und Objektives sich treffen, ist allumfassend, und alles,
was ist, ist in diesem Punkt eingeschlossen. Wäre etwas außerhalb der Vernunft,
argumentiert Schelling, so wäre dieses entweder für sie selbst außer ihr oder
nicht. Ist ein Etwas außer der Vernunft und ist dies zudem für die Vernunft selbst,
so verhält sie sich zu ihm als ein Subjekt gegenüber einem Objekt. Sie ist dann
nicht mehr die absolute, sondern eine bloß subjektive Vernunft. Ist jenes Etwas
außer der Vernunft, aber nicht für die Vernunft selbst, so verhalten sich Vernunft
und Etwas wie Objektives zu Objektivem, und die Vernunft ist in diesem letzte-
ren Fall ein Objektives. Dadurch also, dass die Vernunft als das Indifferente gegen-
über allem Subjekt und allem Objekt erklärt wird, ist alles Differente in ihr ein-
geschlossen. Nichts kann sich von ihr unterscheiden oder verabschieden, sondern
alles Bestimmte fällt unter diese allumfassende Unbestimmtheit.
Hierbei stellt sich aber die Frage, wo das Bestimmte überhaupt herkommt.
Denn mit dem bisher eingeführten Gedanken weiß man eigentlich über etwas
Bestimmtes nicht Bescheid. Das Prädikat der Allheit, das Schelling der Vernunft
zuschreibt, bezieht sich auf eine Mannigfaltigkeit von Einzelnen. Einmal eine
Pluralität von endlichen Dingen vorausgesetzt, umfasst die absolute Vernunft die
Allheit von ihnen. Sie ist die absolute Synthesis aller bestimmten Dinge. Dennoch
ist jene Vielfalt von bestimmten Dingen keineswegs allein aus der absoluten In-
differenz zwischen Subjektivem und Objektivem zu erkennen; und wenn Schel-
lings Darstellung allein und streng das schlussfolgern würde, was in jedem Schritt
vorhanden ist, dann müsste man tatsächlich bisher von unterschiedenen und
bestimmten Dingen gar nichts wissen, geschweige denn von der Allheit dieser.
Die Vorstellung eines bestimmten Etwas wird hier ja offensichtlich aus der Er-
fahrung aufgenommen. Anders geht es nicht, denn man kann, nur vom Undiffe-
renzierten ausgehend, in keiner Weise zur Aussage über Differenziertes kommen.
Nur wenn man dank der gemeinen Erfahrung über die Existenz von endlichen,
bestimmten Dingen weiß, macht es Sinn, diese in die Sphäre der absoluten Ver-
nunft zu integrieren.
Die Schwierigkeit, ausgehend von der Erklärung der Vernunft als absoluten
Indifferenzpunktes zum Prädikat der Allheit zu gelangen, wiederholt sich, und
das sogar auf einer erweiterten Stufe, bezüglich der Einheit und Sichselbstgleich-
EINLEITUNG 27
heit derselben. Der dritte Paragraph besagt, dass die Vernunft schlechthin eine
und schlechthin sich selbst gleich ist. Als Beweis wird angeführt: Angenommen,
die Vernunft sei nicht eine, so gäbe es außer dem Sein der Vernunft noch einen
anderen Grund für jene vermeintliche zweite Vernunft, da die Vernunft selbst
nur den Grund ihrer selbst enthält. Dies aber ist Schelling zufolge nicht möglich.
Denn in einem solchen Fall wäre die Vernunft nicht absolut. Deshalb muss sie
einzigartig sein. Nehme man weiterhin an, dass die Vernunft sich selbst nicht
gleich ist, so ergäbe sich: Da außer ihr nichts ist, müsste das, wodurch sie sich
von sich selbst unterscheidet, wiederum in sie fallen. Augenscheinlich aber wäre
dies Ausdruck des Wesens der Vernunft selbst, und sie wäre in Wahrheit sich voll-
kommen gleich.
Dieser Beweis der Einheit und Sichselbstgleichheit der Vernunft ist nicht leicht
auszulegen. Wenn Schelling zeigen möchte, dass nur eine Vernunft möglich ist
und nicht mehrere, und dass diese Vernunft sich wiederum nicht von sich selbst
unterscheiden kann, sondern sich immer gleich bleiben muss, so liegt dies un-
mittelbar im Verständnis der Vernunft als Indifferenz begründet. In der Tat: Wird
die Vernunft als Indifferenzpunkt bestimmt, so gibt es keinen Weg, um eine Spal-
tung oder Veränderung in der einen Vernunft zu behaupten. Sie ist eine und im-
mer notwendig sich selbst gleich. Aber die Anwendung der Begriffe „Sein“ und
„Grund“ im Beweis verweist darauf, dass es Schelling um mehr als die Möglich-
keit der einen Vernunft geht, nämlich auch um ihr Dasein. Er schreibt: „Denn
wäre nicht jenes [wäre die Vernunft nicht eine, R. A.], so müßte es von dem Seyn
der Vernunft noch einen anderen Grund geben, als sie selbst: denn sie selbst ent-
hält nur den Grund, daß sie selbst ist.“26
Hier wird die Vernunft eindeutig als ein Seiendes gefasst, von dem man einen
Grund geben kann. Dadurch, dass sie absolut sein soll, enthält die Vernunft Schel-
ling zufolge den Grund ihres eigenen Seins in sich selbst. Sie ist das absolute
Seiende oder schlicht das Absolute, das eins und sich selbst gleich ist. Wie aus
dem reinen Begriff der Vernunft als Indifferenz auf ihr Sein geschlossen werden
kann, ist bei Schelling nicht weiter ausgeführt und von Fichte im Nachlass eben-
falls treffend kritisiert.27
Das Verständnis der absoluten Vernunft als Seiendes tritt im nächsten Para-
graphen völlig zutage. Als unmittelbare Folge der Einheit und Sichselbstgleich-
heit der Vernunft stellt Schelling das Gesetz der Identität auf, „das höchste Gesetz
für das Seyn der Vernunft, und da außer der Vernunft nichts ist (§ 2), für alles Se-
yn.“28 So werden in Schellings System Vernunft, Sein und Totalität sich deckende
Begriffe. Die Vernunft ist, und zwar ist sie allein das einzige Seiende, so dass jedes
andere Seiende in ihr inbegriffen ist. Das Seiende ist also die Vernunft selbst, und
die Vernunft ist das Seiende überhaupt, das allumfassende, eine und sich selbst
gleiche Absolute. Darin besteht der zugrunde liegende Gedanke. Denn das Ab-
26
Schelling, Werke 10, S. 118.
27
Fichte, Nachgelassene Werke 3, S. 373.
28
Schelling, Werke 10, S. 118.