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Collège Calvin

Miriam Marschall
4ème al df/cc/os

Lyrik: eine Arbeitsbroschüre

Einführung..........................................................................................................................2
Politische Gedichte.............................................................................................................9
Liebeslyrik........................................................................................................................26
Naturlyrik.........................................................................................................................40
Sprachlyrik........................................................................................................................48
Leben und Tod..................................................................................................................53
Balladen und Nachdichtungen (für die OS)........................................................................63

Woche Arbeit Kreative Aufgabe


26.8.2019 Lyrik: Definition, politische Reime finden, (S.3),
Gedichte Stilmittel finden
2.9.2019 politische Gedichte Liebesgedicht schreiben/
/Liebeslyrik ergänzen
9.9.2019 Liebeslyrik/Naturlyrik Wortschatz: Natur/Wetter
in Reimen und Bildern
16.9.2019 Naturlyrik Eine Gedichtanalyse
schreiben
23.9.2019 Maturareise
30.9.2019 Sprachlyrik/Leben und Tod Korrektur der
Gedichtanalyse
7.10.2019 Prüfung
14.10.2019 Leben und Tod

Einführung
Was ist überhaupt Lyrik?

1
Lyrik ist eine Gattung, also eine Art „Sorte“, ein Genre der Literatur.

Man teilt Literatur klassisch in drei wichtige Gattungen:

Finden Sie die drei Gattungen und Beispiele von Autoren oder Texten, die Sie kennen:

- Epik (Romane, Novellen, usw)

- Dramatik (Theaterstücke, Drehbücher)

- Lyrik (Gedichte, Liedertexte usw)

Was unterscheidet Lyrik von den anderen Gattungen?

Der Name kommt von dem griechischen Wort Lyra, weil lyrische Text oft gesungen wurden.

Ein lyrischer Text ist meistens (aber nicht immer) kurz, er ist in Strophen und Verse
eingeteilt. Er kann sich reimen, muss aber nicht.

Ein lyrischer Text ist ein Gedicht, es gibt verschiedene Formen von Gedichten, wie zum
Beispiel Sonette oder Balladen. In einem Gedicht ist die Sprache meistens bildhaft. Es gibt
verschiedene Interpretationen. Der Text klingt meistens rhythmisch.

In einem Gedicht gibt es keinen Erzähler, sondern ein lyrisches Ich oder einen lyrischen
Sprecher. Dieser kann explizit oder implizit sein.

In der Lyrik findet man oft einen aussergewöhnlichen Satzbau und viele Stilmittel.

2
Übung 1:
Lesen Sie das folgende Gedicht und sagen Sie dann, welche Aussagen auf das Gedicht
zutreffen. Dazu müssen Sie nicht das ganze Gedicht verstehen!

Eine bildhafte Sprache wird verwendet.


Es gibt einen Refrain.
Als sprachliches Mittel werden viele Wiederholungen verwendet.
Die Verse reimen sich.
Das Gedicht ist in Strophen unterteilt.
Es kommt eine Figur vor, von der berichtet wird.
Es geht um Gefühle.

"September"
von Hermann Hesse

Der Garten trauert,


kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt


Nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
In den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen


Bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die großen,
müd gewordenen Augen zu.

Übung 2: Machen Sie Reime! Finden Sie weitere Beispiele, wenn Sie den Reim gefunden
haben…

Sterne, sehen, Gelächter, fasse, bald, Wende, Tropfen, Raum, Wonne

Baum
Ende
Sonne
Wald
Ferne
gehen
Tasse
klopfen
Wächter

3
Wie analysiere ich ein Gedicht?

Eine Gedichtanalyse ist eine ziemlich typische Schulaufgabe. Die erste wichtigste Etappe ist,
das Gedicht gut zu lesen und dabei auf verschiedene formale Kriterien zu achten. Schreiben
Sie also nicht gleich los, sondern nehmen Sie sich Zeit!

Die Struktur einer Gedichtanalyse folgt meistens dem folgenden Schema:


(fettgedruckt sind die wichtigsten Aspekte)

Einleitung der Gedichtanalyse


Titel des Gedichts
Name des Autors
Erscheinungsjahr, wenn angegeben
Gedichtart (Sonett, Ode, Haiku usw.)
Themenstellung des Gedichts (Naturgedicht, Liebesgedicht usw.)
zeitliche Einordnung (Epochen)
Knappe Beschreibung des Inhalts
Intention des Gedichts (Interpretationshypothese)

Hauptteil der Gedichtanalyse


Inhalt
Thema des Gedichts
Was beschreibt das Gedicht (Jahreszeit, Erlebnis oder eine Zeit?)
Zusammenhang zwischen Titel und Gedicht
Das lyrische Ich. Wer spricht im Gedicht und woran erkennt man das?

Aufbau
Verse und Strophen
Reimschema (Paarreim, Kreuzreim usw.)
Versmaß (Metrum) bestimmen. Gibt es überhaupt ein Versmaß?
Wie sind die Endsilben im Gedicht? (Kadenz)

Sprache
Auffälligkeiten in der Sprache (viele Adjektive, nur Substantive, Vokale etc.)
Wie spricht das lyrische Ich (fröhlich, traurig?)
Welche Stilmittel und Reimformen kommen zum Einsatz?
Satzbau (Hypotaxen, Parataxen?)
Zeitform (Präsens, Präteritum, Futur)

Gedichtinterpretation
Was bewirken die Ergebnisse unserer Analyse?
Woran lässt sich das festmachen?
Welche Stimmung und Gefühle werden durch die Sprache hervorgerufen?
In welchem Zusammenhang stehen Inhalt und Funktion
…und was bedeuten sie?

4
Schlussteil der Gedichtanalyse
Was will das Werk? (Intention)
Wurde unsere anfängliche Vermutung bestätigt?

Um Ihnen dabei zu helfen, finden Sie hier Beschreibungen der wichtigsten formalen
Merkmale von Gedichten: Lyrisches Ich, Reim, Versmass und Kadenz:

Das Lyrische Ich: so nennt man den Sprecher eines Gedichtes. Wenn das Wort „ich“
vorkommt und den Sprecher des Gedichtes benennt, handelt es sich um ein explizites
lyrisches Ich. Sonst ist es ein implizites lyrisches Ich.

Die Zeile eines Gedichtes nennt man Vers. Mehrere Verse bilden eine Strophe.

Ein Gedicht kann sich reimen – oder nicht. Wenn es reimt, gibt es mehrere Formen, hier sind
die wichtigsten.

Paarreim: aabb
Beispiel: Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Kreuzreim: abab
Beispiel: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Umarmender Reim: abba


Beispiel: Ein reiner Reim ist sehr begehrt,
doch den Gedanken rein zu haben,
die edelste von allen Gaben,
das ist mir alle Reime wert.

Haufenreim: aaaa
Beispiel: auf den hohen Felsenklippen
sitzen sieben Robbensippen
die sich in die Rippen stippen
bis sie von den Klippen kippen

Schweifreim: aabccb
Beispiel: Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Ein Vers, der sich nicht mit dem Rest des Gedichts reimt, nennt man eine Waise.

5
Der zweite wichtige Aspekt ist das Versmass. Die Anzahl der Silben ist in deutschen
Gedichten nicht sehr wichtig. Das Versmass gibt an, ob Silben betont oder unbetont sind.
Betonte Silben werden oft etwas lauter gesprochen und Hebung genannt, man merkt also
besser, welche es sind, wenn man das Gedicht laut liest. Um das Versmass zu markieren,
kann man einen kleinen Strich oder ein Kreuz über die betonte Silbe zeichnen.

Typische Versmasse in der deutschen Lyrik:

Jambus: unbetont/betont (-/+) .


Man nennt ihn je nach Betonung dreihebig, vierhebig usw.

Beispiel: Hier sind betonte Silben unterstrichen


Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Trochäus: betont/unbetont (+/-)


Auch Beim Trochäus spricht man von Hebungen.

Beispiel: Das ist ein sechshebiger Trochäus


Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

Daktylus: betont/unbetont/unbetont (+/-/-)


Beispiel:
Ehret die Frauen! sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben,

Anapäst: unbetont/unbetont/betont (-/-/+)


Beispiel:
Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser und Feuer sich mengt.

Die Kadenz beschreibt das Ende eines Verses innerhalb eines Gedichts. Es gibt drei
Kadenzen:
- männliche Kadenz: die letzte Silbe eines Verses ist betont
- weibliche Kadenz: die letzte Silbe eines Verses ist unbetont
- reiche Kadenz: am Ende des Verses sind mehrere unbetonte Silben

6
Stilmittel in der Lyrik:

Es gibt sehr viele Stilfiguren, die in der Lyrik auch regelmässig gebraucht werden. Hier sind
nur die wichtigsten, von den Sie viele sicher aus dem Französischunterricht schon kennen:

Allegorie: konkrete Darstellung von abstrakten Gedanken. (zum Beispiel der Sensenmann für
den Tod) Eine Form ist die Personifikation.

Anapher: Wiederholung von Worten am Anfang der Verse oder der Sätze. Das Gegenteil ist
die Epipher: Wiederholung am Ende von Versen oder Sätzen. Wiederholung im allgemeinen

Alliteration: Wiederholung von gleichen Lauten

Euphemismus: gewollt positive Darstellung eines negativen Sachverhalts

Hyperbel: starke Übertreibung

Ironie: offensichtlich unwahre Aussage, um das Gegenteil zu zeigen

Metapher: sprachliches Bild, das nicht erklärt wird. (Zum Beispiel: jemandem das Herz
brechen: jemanden verletzen, besonders in der Liebe)

Hypotaxe: ein Hauptsatz, viele Nebensätze, Parataxe: viele Hauptsätze

Oxymoron: zwei Worte, die sich gegenseitig ausschliessen. (armes reiches Mädchen)

Pleonasmus: doppelte ähnliche Begriffe (dunkle Nacht)

Rhetorische Frage: Frage, deren Antwort klar ist

Symbol: allgemein bekanntes Bild, das für etwas steht. (zum Beispiel für Frieden)

Vergleich: Gegenüberstellung von zwei Sachverhalten, die mindestens eine Gemeinsamkeit


haben, meist mit wie oder als verbunden

7
Steckbrief für ein Gedicht:

Titel:

Autor:

Epoche:

Thema des Gedichtes:

Anzahl Strophen:

Anzahl Verse pro Strophe:

Art des Gedichtes:

Lyrisches Ich: implizit/ explizit

Reimform:

Versmass:

Stilmittel:

Interpretationsideen:

Quellen für diese Broschüre:


https://wortwuchs.net/
https://www.br.de/grips/faecher/grips-deutsch/26-lyrik-08uebung100.html
https://online-lernen.levrai.de/

8
Politische Gedichte

9
Friedrich Freiherr von Logau (1605 – 1655) :
Heutige Weltkunst
Anders sein und anders scheinen;
Anders reden, anders meinen;
Alles loben, alles tragen,
Allen heucheln, stets behagen,
Allem Winde Segel geben,
Bös′ und Guten dienstbar leben;
Alles Tun und alles Dichten
Bloß auf eignen Nutzen richten:
Wer sich dessen will befleißen,
Kann politisch heuer heißen.

10
Andreas Gryphius (1616 – 1664):
Thränen des Vaterlandes

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!


Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut, die Kirch′ ist umgekehret.


Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd′t, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret.

Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

11
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Die schlesischen Weber

Im düstern Auge keine Träne,


Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten


In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt -
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,


Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie die Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,


Wo nun gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,


Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!

12
Nachtgedanken

Denk ich an Deutschland in der Nacht,


Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.
Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muß ich – Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist als wälzten sich die Leichen,
Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!
Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.

13
Georg Weerth (1822 – 1856):
Das Hungerlied

Verehrter Herr und König,


Weißt du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
Und am Dienstag aßen wir nicht.

Und am Mittwoch mußten wir darben,


Und am Donnerstag litten wir Not;
Und ach, am Freitag starben
Wir fast den Hungertod!

Drum laß am Samstag backen


Das Brot, fein säuberlich –
Sonst werden wir sonntags packen
Und fressen, o König, dich!

14
Adelbert von Chamisso (1781 – 1831):
Die alte Waschfrau

Du siehst geschäftig bei dem Linnen


die Alte dort in weißem Haar,
die rüstigste der Wäscherinnen
im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen
und ausgefüllt mit treuem Fleiß
den Kreis, den Gott ihr zugemessen.

Sie hat in ihren jungen Tagen


geliebt, gehofft und sich vermählt;
sie hat des Weibes Los getragen,
die Sorgen haben nicht gefehlt;
sie hat den kranken Mann gepflegt,
sie hat drei Kinder ihm geboren;
sie hat ihn in das Grab gelegt
und Glaub′ und Hoffnung nicht verloren.

Da galt′s, die Kinder zu ernähren;


sie griff es an mit heiterm Mut,
sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt
entließ sie segnend ihre Lieben,
so stand sie nun allein und alt,
ihr war ihr heitrer Mut geblieben.

Sie hat gespart und hat gesonnen


und Flachs gekauft und nachts gewacht,
den Flachs zu feinem Garn gesponnen,
das Garn dem Weber hingebracht;
der hat′s gewebt zu Leinewand.
Die Schere brauchte sie, die Nadel,
und nähte sich mit eigner Hand
ihr Sterbehemde sonder Tadel.

Ihr Hemd, ihr Sterbehernd, sie schätzt es,


verwahrt′s im Schrein am Ehrenplatz;
es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
am Sonntag früh sich einzuprägen;
dann legt sie′s wohlgefällig fort,
bis sie darin zur Ruh sie legen.

15
Und ich, an meinem Abend, wollte,
ich hätte, diesem Weibe gleich,
erfüllt, was ich erfüllen sollte
in meinen Grenzen und Bereich;
ich wollt′, ich hätte so gewußt
am Kelch des Lebens mich zu laben,
und könnt′ am Ende gleiche Lust
an meinem Sterbehemde haben.

16
Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874):
Die wilden Gänse

Ihr wilden Gänse habt es gut,


Ihr ziehet frei und wohlgemut
Von einem Strand zum andern Strand
Durchs ganze liebe deutsche Land.

Uns zahmen Menschen geht′s nicht so:


Wir reisten gern auch frei und froh
Ununtersucht und unbekannt
Durchs ganze liebe deutsche Land.

Kaum sind wir aber fort von Haus,


So muß auch schon der Paß heraus.
Wir werden niemals sorgenfrei
Vor lauter Maut und Polizei.

0 daß doch einer es erdenkt,


Wie man den Luftball sicher lenkt!
Hier hört nicht auf die Hudelei -
Nur in den Lüften sind wir frei.

17
Erich Kästner (1899 – 1974):
Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönen


den leeren Platz überm Sofa ein.
Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen,
gescheit und trotzdem tapfer zu sein.

Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,


mit der ihr das trockene Brot beschmiert.
Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:
»Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!«

Ihr streut euch Zucker über die Schmerzen


und denkt, unter Zucker verschwänden sie.
Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen
und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime


und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich's hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?

Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.


Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.

Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen


und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!
Doch tut es rasch. Ihr müßt euch beeilen.
Sonst werden die Sorgen größer als ihr.

Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben.


Im Osten zimmern sie schon den Sarg.
Ihr möchtet gern euren Spaß dran haben ...?
Ein Friedhof ist kein Lunapark.

18
Jakob van Hoddis (1887 – 1942):
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen


An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

19
Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Fragen eines lesenden Arbeiters
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.


Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.


Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

20
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Emigranten-Monolog
Ich hatte einst ein schönes Vaterland –
so sang schon der Flüchtling Heine.
Das seine stand am Rheine,
das meine auf märkischem Sand.

Wir alle hatten einst ein (siehe oben!).


Das fraß die Pest, das ist im Sturz zerstoben.
O Röslein auf der Heide,
dich brach die Kraftdurchfreude.

Die Nachtigallen wurden stumm,


sahn sich nach sicherm Wohnsitz um,
und nur die Geier schreien
hoch über Gräberreihen.

Das wird nie wieder, wie es war,


wenn es auch anders wird.
Auch wenn das liebe Glöcklein tönt,
auch wenn kein Schwert mehr klirrt.

Mir ist zuweilen so, als ob


das Herz in mir zerbrach.
Ich habe manchmal Heimweh.
Ich weiß nur nicht, wonach.

21
Volker Braun (1939):
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.

22
Hans Magnus Enzensberger (1929):
Ins Lesebuch für die Oberstufe
Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer. Roll die Seekarten auf,
eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.
Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor
schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust
Zinken. Lern unerkannt gehen, lern mehr als ich:
das Viertel wechseln, den Paß, das Gesicht.
Versteh dich auf den kleinen Verrat,
die tägliche schmutzige Rettung. Nützlich
sind die Enzykliken zum Feueranzünden,
die Manifeste: Butter einzuwickeln und Salz
für die Wehrlosen. Wut und Geduld sind nötig,
in die Lungen der Macht zu blasen
den feinen tödlichen Staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

23
Wolf Biermann (1936):
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Ich schwamm durch Blut in das große Licht
Neugierig kam ich aus dem Bauch
Ich war ein Tier. Und ich war ein Mensch
Von Anfang an und lernte auch
Bei der Gestapo im Verhör
Soff ich am Busen ohne Scheu
Die Wahrheit mit der Muttermilch:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Von Hamburg bin ich dann abgehaun
Mit Sechzehn ins Gelobte Land
Da sind Millionen den gleichen Weg
Wie ich, bloß umgekehrt gerannt
Ich wollte von zuhause weg
Nach Haus! Die Reise ist nicht neu:
Wer jung ist, sucht ein Vaterland
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
So kam ich drüben an: ohne Arg
Und blindbegeistert wie ein Kind
Bald sah ich, dass rote Götter auch
Nur MenschenSchweineHunde sind
Mein Vater hat mich nicht gemacht
Damit ich Lügen wiederkäu
Drum schrie ich meine Wahrheit aus:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Heiß oder kalt, immer war da Krieg
Ich ging von West nach Ost nach West
Und hielt mich an meinen Waffen, die
Gitarre und am Bleistift fest
Ich bleibe was ich immer war
Halb Judenbalg und halb ein Goij
Eins aber weiß ich klipp und klar:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Mit Weibern habe ich nichts! als Glück
Gehabt. Ich war so grün und blind
Und wusst nur vorne im Hinterkopf
Dass auch die Weiber Menschen sind
Nun weiß ich bis ins kleinste Teil
Mit dem ich meine Frau erfreu:
Die Männerschaft stinkt mich an
Nur wer sich ändert, bleibt ein Mann
Ich war verzweifelt von Anfang an
Und immer hab ich neu gehofft
- so kann man leben. Bald kommt der Tod
Ich kenn Freund Hein, ich traf ihn oft
Er bleibt mein Feind, dem ich auch nicht

24
zum Schluss gereimte Rosen streu
Mit letzter Puste krächze ich:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu

25
Liebeslyrik

26
Johann Wolfgang von Goethe(1766 – 1832):
Heidenröslein
Sah ein Knab' ein Röslein steh'n,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu seh'n,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: "Ich breche dich,


Röslein auf der Heiden."
Röslein sprach: "Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will's nicht leiden."
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach


's Röslein auf der Heiden.
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

27
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich


Ein Blümchen steh'n,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt' es brechen,


Da sagt' es fein:
"Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?"

Ich grub's mit allen


Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich's
Am hübschen Haus.

Und pflanzt' es wieder


Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

28
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen Andern erwählt;
Der Andre liebt eine Andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger


Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte,


Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.

29
Sie saßen und tranken am Teetisch...

Sie saßen und tranken am Teetisch


und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.

"Die Liebe muß sein platonisch",


der dürre Hofrat sprach.
Die Hofrätin lächelt ironisch.
Und dennoch seufzet sie: "Ach!"

Der Domherr öffnet den Mund weit:


"Die Liebe sei nicht zu roh,
sie schadet sonst der Gesundheit."
Das Fräulein lispelt: "Wieso?"

Die Gräfin spricht wehmütig:


"Die Liebe ist eine Passion!"
Und präsentieret gütig
die Tasse dem Herren Baron.

Am Tische war noch ein Plätzchen;


mein Liebchen, da hast du gefehlt.
Du hättest so hübsch, mein Schätzchen,
von deiner Liebe erzählt.

30
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926):
Liebeslied
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

31
Erich Kästner (1899 – 1974):
Sachliche Romanze
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,


versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schliesslich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.


Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort


und rührten in ihren Tassen.
Am Abend sassen sie immer noch dort.
Sie sassen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

32
Unbekannter Dichter (Ende 12. Jahrhundert):
Slüzzelîn
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.

Du bist min ih bin din.


des solt du gewis sin.
du bist beslossen in minem herzen.
verlorn ist daz sluzzellin.
du moust och immer dar inne sin.

33
Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Erinnerung an die Marie A.
1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.
3
Und auch den Kuss, ich hätt' ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

34
Liebeslieder 1
I.
Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute.
Und seit jener Abendstund
Weißt schon, die ich meine
Hab ich einen schönern Mund
Und geschicktere Beine.
Grüner ist, seit ich so fühl
Baum und Strauch und Wiese
Und das Wasser schöner kühl
Wenn ich's auf mich gieße.

35
Erich Fried (1921 – 1988):
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

36
Rose Ausländer (1901 1988):
Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast

37
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Sonett in Dur
Ich frage mich in meinen stillen Stunden,
War das das Leben, Liebster, eh du kamst
Und mir den Schatten von der Seele nahmst.
Was suchte ich, bevor ich dich gefunden?

Wie war mein Gestern, such ich zu ergründen,


Und sieh, ich weiß es nur noch ungefähr.
So ganz umbrandet mich das Jetzt, dies Meer,
In das die besten Träume münden.

Vergaß ich doch, wie süß die Vögel sangen,


Noch eh du warst, der Jahre buntes Kleid.
Mir blieb nur dies von Zeiten, die vergangen:
Die weißen Winter und die Einsamkeit.

Sie warten meiner, lässt du mich allein.


Und niemals wieder wird es Frühling sein.

38
Franz Hohler(1943):

Solaruhren
Deine Uhr
neben meiner Uhr
auf dem Fenstersims
in der Vormittagssonne.
Gemeinsam
trinken sie Licht
damit sie stets
ihre Pflicht erfüllen können
uns anzuzeigen
wie wir langsam
zusammen älter werden
du und ich.

39
Naturlyrik

40
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857):
Mondnacht
Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,


die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte


weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.

41
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Leise zieht durch mein Gemüt
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute.
Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling hinaus ins Weite.

Kling hinaus, bis an das Haus,


Wo die Blumen sprießen,
Wenn du eine Rose schaust,
Sag, ich laß sie grüßen.

42
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,


Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

43
Eduard Mörike (1804 – 1875):
Er ist’s
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
— Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!

44
Matthias Claudius (1740 – 1815):
Abendlied
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen,
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget,
der weisse Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
und in der Dämm'rung Hülle,
so traulich und so hold,
gleich einer stillen Kammer,
wo ihr des Tages Jammer,
verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen,
er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht seh'n.
So legt euch denn ihr Brüder
in Gottes Namen nieder.
Kalt weht der Abendhauch.
Verschon' uns Gott mit Strafen
und lass' uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.
und unsern kranken Nachbarn auch.

45
Conrad Ferdinand Meyer (1825 - 1898):
Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

46
Christian Morgenstern (1871 - 1914):
Das Huhn
In der Bahnhofshalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her...
Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh'r?
Wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut:
daß ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte, wo es - "stört"!

47
Sprachlyrik

48
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857):

Schläft ein Lied in allen Dingen

Schläft ein Lied in allen Dingen


die da träumen fort und fort
und die Welt hebt an zu singen
triffst du nur das Zauberwort

49
Christian Morgenstern (1871 - 1914):
Das ästhetische Wiesel

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.

50
Paul Celan (1920 – 1970):
Psalm

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,


niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.


Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

51
Franz Hohler (1943):
Sprachlicher Rückstand

Immer noch
sagen wir dem
was am Morgen geschieht
die Sonne geht auf
obwohl seit Kopernikus klar ist
die Sonne bleibt stehn
und
die Welt geht unter.

52
Leben und Tod

53
Matthias Claudius (1740 – 1815):
Der Tod

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,


tönt so traurig, wenn er sich bewegt
und nun aufhebt seinen schweren Hammer
und die Stunde schlägt.

54
Paul Celan(1920 – 1970):
Todesfuge
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland

dein goldenes Haar Margarete


dein aschenes Haar Sulamith

55
Gottfried Benn (1886 – 1956):
Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel


sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,


weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?
Bahnhofstraßen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an –
ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

56
Hermann Hesse (1877 – 1962):
Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!


Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allem ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

57
Klabund (Alfred Henschke 1890 – 1928):
Ich baumle mit de Beene

Meine Mutter liegt im Bette


Denn sie kriegt das dritte Kind
Meine Schwester geht zur Mette
Weil wir so katholisch sind!
Manchmal troppt mir eine Träne
Und im Herzen puppert's schwer
Und ich baumle mit de Beene
Mit de Beene vor mich her
Und ich baumle mit de Beene
Mit de Beene vor mich her

Neulich kommt ein Herr gegangen


Mit 'nem violetten Schal
Und er hat sich eingehangen
Und es ging nach Jeschkenthal!
Sonntag war's. Er grinste: "Kleene
Wa, dein Portmenee is leer?"
Und ich baumle mit de Beene
Mit de Beene vor mich her
Und ich baumle mit de Beene
Mit de Beene vor mich her

Vater sitzt zum zigsten Male


Wegen 'Hm' in Plötzensee
Und sein Schatz, der schimpft sich Male
Und der Mutter tut's so weh!
Ja, so gut wie der hat's keener
Fressen kriegt er, und noch mehr
Und er baumelt mit de Beene
Mit de Beene vor sich her!
Und er baumelt mit de Beene
Mit de Beene vor sich her!

Manchmal in den Vollmondnächten


Is mir gar so wunderlich -
Ob sie meinen Emil brächten
Weil er auf dem Striche strich?
Früh um dreie krähten Hähne
Und ein Galgen ragt, und er ...
Und er baumelt mit de Beene
Mit de Beene vor sich her!
Und er baumelt mit de Beene
Mit de Beene vor sich her!

58
Dietrich Bonnhoeffer (1906 – 1945):
Von guten Mächten wunderbar geborgen

Von guten Mächten treu und still umgeben,


Behütet und getröstet wunderbar,
So will ich diese Tage mit euch leben
Und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen,
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
Das Heil, für das du uns bereitet hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
Aus deiner guten und geliebten Hand.
Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
An dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
Dann wolln wir des Vergangenen gedenken
Und dann gehört dir unser Leben ganz.
Lass warm und still die Kerzen heute flammen,
Die du in unsre Dunkelheit gebracht.
Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
So lass uns hören jenen vollen Klang
Der Welt, die unsichtbar n dam uns weitet,
All deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend n dam Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

59
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Interview mit mir selbst

Anno Zwounddreißig
Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen, klatschbeflißnen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
Mein meistgesprochnes Wort als Kind war »Nein«.
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück -
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.
Im Ersten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
Ich war schon sechs, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich, zwecks Bildung, bald entfernten.
Doch was wir auf der Hohen Schule lernten,
Ein Volk »Die Arier« ham wir nicht gehabt.
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau.
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.

Post Scriptum
Anno Fünfundvierzig
Inzwischen bin ich viel zu viel gereist,
Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik.
Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist,
Und was ich suchte, keineswegs Romantik.
Das war einmal. In einem andern Leben,
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was ergeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind.
Das lernt das Wörtchen »alien« buchstabieren
Und spricht zur Mutter: »Don’t speak German, dear.«
Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen,
Daß er »allright« ist, wenn auch nicht von hier.

60
Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May!
Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte…
Er denkt, was ich in seinem Alter dachte:
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.

61
Robert Gernhardt (1937 – 2006):
Ach

Ach, noch in der letzten Stunde


werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
rufe ich geschwind: Herein!
Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd’n das Kind schon schaukeln —
na, das wäre ja gelacht!
Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?
Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?
Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibts die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall’nes Stück
Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will
— ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon

62
Balladen und Nachdichtungen (für die OS)

63
Johann Wolfgang von Goethe(1766 – 1832):
Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ?


Es ist der Vater mit seinem Kind ;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht ?-


Siehst Vater, du den Erlkönig nicht ?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif ?-
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -

"Du liebes Kind, komm, geh mit mir !


Gar schöne Spiele spiel ich mit dir ;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand."

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,


Was Erlenkönig mir leise verspricht ?-
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind !
In dürren Blättern säuselt der Wind.-

"Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn ?


Meine Töchter sollen dich warten schön ;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein."

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort


Erlkönigs Töchter am düstern Ort ?-
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau :
Es scheinen die alten Weiden so grau.-

"Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt ;


Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an !
Erlkönig hat mir ein Leids getan !

Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,


Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not ;
In seinen Armen das Kind war tot.

64
Zauberlehrling

Hat der alte Hexenmeister


Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben!
Seine Wort' und Werke
Merkt' ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu' ich Wunder auch.
Walle! Walle
Manche Strecke,
Daß, zum Zwecke,
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße.
Und nun komm, du alter Besen,
Nimm die schlechten Lumpenhüllen!
Bist schon lange Knecht gewesen,
Nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
Oben sei ein Kopf,
Eile nun und gehe
Mit dem Wassertopf!
Walle! walle
Manche Strecke,
Daß, zum Zwecke,
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße.
Seht, er läuft zum Ufer nieder;
Wahrlich! ist schon an dem Flusse,
Und mit Blitzesschnelle wieder
Ist er hier mit raschem Gusse.
Schon zum zweiten Male!
Wie das Becken schwillt!
Wie sich jede Schale
Voll mit Wasser füllt!
Stehe! stehe!
Denn wir haben
Deiner Gaben
Voll gemessen! -
Ach, ich merk' es! Wehe! Wehe!
Hab' ich doch das Wort vergessen!
Ach, das Wort, worauf am Ende
Er das wird, was er gewesen.
Ach, er läuft und bringt behände!

65
Wärst du doch der alte Besen!
Immer neue Güsse
Bringt er schnell herein,
Ach! und hundert Flüsse
Stürzen auf mich ein.
Nein, nicht länger
Kann ich's lassen;
Will ihn fassen.
Das ist Tücke!
Ach! nun wird mir immer bänger!
Welche Miene! welche Blicke!
Oh, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh' ich über jede Schwelle
Doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!
Willst's am Ende
Gar nicht lassen?
Will dich fassen,
Will dich halten
Und das alte Holz behände
Mit dem scharfen Beile spalten.
Seht, da kommt er schleppend wieder!
Wie ich mich nun auf dich werfe,
Gleich, o Kobold, liegst du nieder;
Krachend trifft die glatte Schärfe!
Wahrlich, brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen,
Und ich atme frei!
Wehe! Wehe!
Beide Teile
Stehn in Eile
Schon als Knechte
Völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!
Und sie laufen! Naß und nässer
Wird's im Saal und auf den Stufen:
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister, hör' mich rufen! -
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los.

66
"In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid's gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister."

67
Friedrich Schiller (1759 – 1805):
Der Handschuh

Vor seinem Löwengarten,


Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß König Franz,
Und um ihn die Großen der Krone,
Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.
Und wie er winkt mit dem Finger,
Auf tut sich der weite Zwinger,
Und hinein mit bedächtigem Schritt
Ein Löwe tritt,
Und sieht sich stumm
Rings um,
Mit langem Gähnen,
Und schüttelt die Mähnen,
Und streckt die Glieder,
Und legt sich nieder.
Und der König winkt wieder,
Da öffnet sich behend
Ein zweites Tor,
Daraus rennt
Mit wildem Sprunge
Ein Tiger hervor,
Wie der den Löwen erschaut,
Brüllt er laut,
Schlägt mit dem Schweif
Einen furchtbaren Reif,
Und recket die Zunge,
Und im Kreise scheu
Umgeht er den Leu
Grimmig schnurrend;
Drauf streckt er sich murrend
Zur Seite nieder.
Und der König winkt wieder,
Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei Leoparden auf einmal aus,
Die stürzen mit mutiger Kampfbegier
Auf das Tigertier,
Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen,
Und der Leu mit Gebrüll
Richtet sich auf, da wird's still,
Und herum im Kreis,
Von Mordsucht heiß,
Lagern die greulichen Katzen.

68
Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.
Und zu Ritter Delorges spottenderweis
Wendet sich Fräulein Kunigund:
»Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mir's schwört zu jeder Stund,
Ei, so hebt mir den Handschuh auf.«
Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.
Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehen's die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück.
Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
Aber mit zärtlichem Liebesblick –
Er verheißt ihm sein nahes Glück –
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
»Den Dank, Dame, begehr ich nicht«,
Und verläßt sie zur selben Stunde.

69
Theodor Fontane (1819 – 1898):
John Maynard

John Maynard!

»Wer ist John Maynard?«

»John Maynard war unser


Steuermann,
Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
* *
*

Die »Schwalbe« fliegt über den Erisee,


Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von
Schnee;
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
»Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund.«
Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
Da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
»Feuer!« war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajüt und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
Und die Passagiere, bunt gemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich´s dicht,
Und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? wo?«
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. –
Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitän nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
»Noch da, John Maynard?«
»Ja, Herr. Ich bin.«
»Auf den Strand! In die Brandung!«
»Ich halte drauf hin.«
Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«
Und noch zehn Minuten bis Buffalo. –

70
»Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallt's
Mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halt's!«
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
Jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!
* *
*

Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.


Gerettet alle. Nur einer fehlt!
* *
*

Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell'n


Himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
Und kein Aug im Zuge, das tränenleer.
Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
»Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«

71
Herr von Ribbeck auf Ribbeck

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,


Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: »Junge, wiste 'ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.«
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen »Jesus meine Zuversicht«,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?«
So klagten die Kinder. Das war nicht recht -
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was er damals tat,
Als um eine Birn' ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: »Wiste 'ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: »Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew' di 'ne Birn.«
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

72
Die Brücke am Thay

"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"


"Um die siebente Stund', am Brückendamm."
"Am Mittelpfeiler."
"Ich lösch die Flamm'."
"Ich mit."
"Ich komme vom Norden her."
"Und ich vom Süden."
"Und ich vom Meer."

"Hei, das gibt ein Ringelreihn,


und die Brücke muß in den Grund hinein."
"Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?"
"Ei, der muß mit."
"Muß mit."
"Tand, Tand
ist das Gebild von Menschenhand."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -


alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin "ich komme" spricht,
"ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug."

Und der Brückner jetzt: "Ich seh einen Schein


am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baume von Lichtern ist,
zünd alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, -
und in elf Minuten ist er herein."

Und es war der Zug. Am Süderturm


keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: "Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.

73
Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -


alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"


"Um Mitternacht, am Bergeskamm."
"Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm."
"Ich komme."
"Ich mit."
"Ich nenn euch die Zahl."
"Und ich die Namen."
"Und ich die Qual."
"Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei."
"Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand"

74
Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die
Emigration

Als er 70 war und war gebrechlich


drängte es den Lehrer doch nach Ruh
denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.

Und er packte ein, was er so brauchte:


Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
und das Büchlein, das er immer las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es


als er ins Gebirge den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.

Doch am vierten Tag im Felsgesteine


hat ein Zöllner ihnen den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“ - „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt.

Doch der Mann in einer heitren Regung


fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Dass das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.“

Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre


trieb der Knabe nun den Ochsen an
und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
und er schrie: „He, du! Halt an!

Was ist das mit dem Wasser, Alter?“


Hielt der Alte: „Interessiert es dich?“
Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter
doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du's weißt, dann sprich!

Schreib's mir auf! Diktier es diesem Kinde!

75
Sowas nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt's doch Papier bei uns und Tinte
und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?“

Über seine Schulter sah der Alte


auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch du?“

Eine höfliche Bitte abzuschlagen


war der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen
die verdienen Antwort.“ Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.“
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.“

Und von seinem Ochsen stieg der Weise


7 Tage schrieben sie zu zweit
und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
mit den Schmugglern in der ganzen Zeit)
Und dann war's soweit.

Und dem Zöllner händigte der Knabe


eines Morgens 81 Sprüche ein.
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen


dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.

76
Erich Kästner (1899 – 1974):
Der Handstand auf der Loreley
(Nach einer wahren Begebenheit)

Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,


ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen,
wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen,
von blonden Haaren schwärmend, untergingen.
Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen.
Der Rhein ist reguliert und eingedämmt.
Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen,
bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.
Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage
noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht.
So alt ist keine deutsche Heldensage,
daß sie nicht doch noch Helden nach sich zieht.
Erst neulich machte auf der Loreley
hoch überm Rhein ein Turner einen Handstand!
Von allen Dampfern tönte Angstgeschrei,
als er kopfüber oben auf der Wand stand.
Er stand, als ob er auf dem Barren stünde.
Mit hohlem Kreuz. Und lustbetonten Zügen.
Man fragte nicht: Was hatte er für Gründe?
Er war ein Held. Das dürfte wohl genügen.
Er stand, verkehrt, im Abendsonnenscheine.
Da trübte Wehmut seinen Turnerblick.
Er dachte an die Loreley von Heine.
Und stürzte ab. Und brach sich das Genick.
Er starb als Held. Man muß ihn nicht beweinen.
Sein Handstand war vom Schicksal überstrahlt.
Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen
ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt!
P.S. Eins wäre allerdings noch nachzutragen:
Der Turner hinterließ uns Frau und Kind.
Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen.
Weil im Bezirk der Helden und der Sagen
die Überlebenden nicht wichtig sind.

77
Kennst Du das Land

Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?


Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.
Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!
Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!
Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.
Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen?
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.
Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.
Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!

78
Kurt Tucholsky (1890 – 1935):
Ich ging im Walde so für mich hin

Wie war das neulich eigentümlich!


Ich ging im Wald so für mich hin,
und alles, was durchaus nicht ziemlich,
drängt sich mir dauernd in den Sinn.

Da liegt, in heiterm Flug geboren,


ganz weiß, gekrümmt und weich wie Wachs
– das hat gewiß ein Spatz verloren –
ein kleiner Klacks.

Und tiefer in des Waldes Hallen


liegt hingerollt, soweit ich seh,
– das ließ wohl eine Ziege fallen –
ein halbes Pfund Kaffee.

Und wie sich das so weiter machte,


besah ich einen neuen Fund:
– hier stand einst eine Kuh und dachte –
ein Fladen, groß und rund.

Und hat denn alles sich verschworen?


Da liegt im Tümpel, dran ich ging,
– das hat gewiß ein Ochs verloren –
ein Buch von Keyserling.

79
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926):
Römische Fontäne (Villa Borghese)

Zwei Becken, eins das andere übersteigend


aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;
sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis
sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

80
Wolf Biermann (1936):
Deutschland, ein Wintermärchen

KAPITEL I
Im deutschen Dezember floß die Spree
Von Ost- nach Westberlin
Da schwamm ich mit der Eisenbahn
Hoch über die Mauer hin
Da schwebte ich leicht übern Drahtverhau
Und über die Bluthunde hin
Das ging mir so seltsam ins Gemüt
Und bitter auch durch den Sinn
Das ging mir so bitter in das Herz
– da unten, die treuen Genossen –
So mancher, der diesen gleichen Weg
Zu Fuß ging, wurde erschossen
Manch einer warf sein junges Fleisch
In Drahtverhau und Minenfeld
Durchlöchert läuft der Eimer aus
Wenn die MP von hinten bellt
Nicht jeder ist so gut gebaut
Wie der Franzose Franz Villon
Der kam in dem bekannten Lied
Mit Rotweinflecken davon
Ich dachte auch kurz an meinen Cousin
Den frechen Heinrich Heine
Der kam von Frankreich über die Grenz
Beim alten Vater Rheine
Ich musste auch denken, was allerhand
In gut hundert Jahren passiert ist
Dass Deutschland inzwischen glorreich geeint
Und nun schon wieder halbiert ist
Na und? Die ganze Welt hat sich
In Ost und West gespalten
Doch Deutschland hat – wie immer auch –
Die Position gehalten:
Die Position als Arsch der Welt
Sehr fett und sehr gewichtig
Die Haare in der Kerbe sind
Aus Stacheldraht, versteht sich
Dass selbst das Loch – ich mein’ Berlin –
In sich gespalten ist
Da haben wir die Biologie
Beschämt durch Menschenwitz
Und wenn den großen Herrn der Welt
Der Magen drückt und kneift

81
Dann knallt und stinkt es ekelhaft
In Deutschland. Ihr begreift:
Ein jeder Teil der Welt hat so
Sein Teil vom deutschen Steiß
Der größre Teil ist Westdeutschland
Mit gutem Grund, ich weiß.
Die deutschen Exkremente sind
Dass es uns nicht geniert
In Westdeutschland mit deutschem Fleiß
Poliert und parfümiert
Was nie ein Alchemist erreicht
– sie haben es geschafft
Aus deutscher Scheiße haben sie
Sich hartes Gold gemacht
Die DDR, mein Vaterland
Ist sauber immerhin
Die Wiederkehr der Nazizeit
Ist absolut nicht drin
So gründlich haben wir geschrubbt
Mit Stalins hartem Besen
Dass rot verschrammt der Hintern ist
Der vorher braun gewesen

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