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Lyrikdossier
Lyrikdossier
Miriam Marschall
4ème al df/cc/os
Einführung..........................................................................................................................2
Politische Gedichte.............................................................................................................9
Liebeslyrik........................................................................................................................26
Naturlyrik.........................................................................................................................40
Sprachlyrik........................................................................................................................48
Leben und Tod..................................................................................................................53
Balladen und Nachdichtungen (für die OS)........................................................................63
Einführung
Was ist überhaupt Lyrik?
1
Lyrik ist eine Gattung, also eine Art „Sorte“, ein Genre der Literatur.
Finden Sie die drei Gattungen und Beispiele von Autoren oder Texten, die Sie kennen:
Der Name kommt von dem griechischen Wort Lyra, weil lyrische Text oft gesungen wurden.
Ein lyrischer Text ist meistens (aber nicht immer) kurz, er ist in Strophen und Verse
eingeteilt. Er kann sich reimen, muss aber nicht.
Ein lyrischer Text ist ein Gedicht, es gibt verschiedene Formen von Gedichten, wie zum
Beispiel Sonette oder Balladen. In einem Gedicht ist die Sprache meistens bildhaft. Es gibt
verschiedene Interpretationen. Der Text klingt meistens rhythmisch.
In einem Gedicht gibt es keinen Erzähler, sondern ein lyrisches Ich oder einen lyrischen
Sprecher. Dieser kann explizit oder implizit sein.
In der Lyrik findet man oft einen aussergewöhnlichen Satzbau und viele Stilmittel.
2
Übung 1:
Lesen Sie das folgende Gedicht und sagen Sie dann, welche Aussagen auf das Gedicht
zutreffen. Dazu müssen Sie nicht das ganze Gedicht verstehen!
"September"
von Hermann Hesse
Übung 2: Machen Sie Reime! Finden Sie weitere Beispiele, wenn Sie den Reim gefunden
haben…
Baum
Ende
Sonne
Wald
Ferne
gehen
Tasse
klopfen
Wächter
3
Wie analysiere ich ein Gedicht?
Eine Gedichtanalyse ist eine ziemlich typische Schulaufgabe. Die erste wichtigste Etappe ist,
das Gedicht gut zu lesen und dabei auf verschiedene formale Kriterien zu achten. Schreiben
Sie also nicht gleich los, sondern nehmen Sie sich Zeit!
Aufbau
Verse und Strophen
Reimschema (Paarreim, Kreuzreim usw.)
Versmaß (Metrum) bestimmen. Gibt es überhaupt ein Versmaß?
Wie sind die Endsilben im Gedicht? (Kadenz)
Sprache
Auffälligkeiten in der Sprache (viele Adjektive, nur Substantive, Vokale etc.)
Wie spricht das lyrische Ich (fröhlich, traurig?)
Welche Stilmittel und Reimformen kommen zum Einsatz?
Satzbau (Hypotaxen, Parataxen?)
Zeitform (Präsens, Präteritum, Futur)
Gedichtinterpretation
Was bewirken die Ergebnisse unserer Analyse?
Woran lässt sich das festmachen?
Welche Stimmung und Gefühle werden durch die Sprache hervorgerufen?
In welchem Zusammenhang stehen Inhalt und Funktion
…und was bedeuten sie?
4
Schlussteil der Gedichtanalyse
Was will das Werk? (Intention)
Wurde unsere anfängliche Vermutung bestätigt?
Um Ihnen dabei zu helfen, finden Sie hier Beschreibungen der wichtigsten formalen
Merkmale von Gedichten: Lyrisches Ich, Reim, Versmass und Kadenz:
Das Lyrische Ich: so nennt man den Sprecher eines Gedichtes. Wenn das Wort „ich“
vorkommt und den Sprecher des Gedichtes benennt, handelt es sich um ein explizites
lyrisches Ich. Sonst ist es ein implizites lyrisches Ich.
Die Zeile eines Gedichtes nennt man Vers. Mehrere Verse bilden eine Strophe.
Ein Gedicht kann sich reimen – oder nicht. Wenn es reimt, gibt es mehrere Formen, hier sind
die wichtigsten.
Paarreim: aabb
Beispiel: Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.
Kreuzreim: abab
Beispiel: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Haufenreim: aaaa
Beispiel: auf den hohen Felsenklippen
sitzen sieben Robbensippen
die sich in die Rippen stippen
bis sie von den Klippen kippen
Schweifreim: aabccb
Beispiel: Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Ein Vers, der sich nicht mit dem Rest des Gedichts reimt, nennt man eine Waise.
5
Der zweite wichtige Aspekt ist das Versmass. Die Anzahl der Silben ist in deutschen
Gedichten nicht sehr wichtig. Das Versmass gibt an, ob Silben betont oder unbetont sind.
Betonte Silben werden oft etwas lauter gesprochen und Hebung genannt, man merkt also
besser, welche es sind, wenn man das Gedicht laut liest. Um das Versmass zu markieren,
kann man einen kleinen Strich oder ein Kreuz über die betonte Silbe zeichnen.
Die Kadenz beschreibt das Ende eines Verses innerhalb eines Gedichts. Es gibt drei
Kadenzen:
- männliche Kadenz: die letzte Silbe eines Verses ist betont
- weibliche Kadenz: die letzte Silbe eines Verses ist unbetont
- reiche Kadenz: am Ende des Verses sind mehrere unbetonte Silben
6
Stilmittel in der Lyrik:
Es gibt sehr viele Stilfiguren, die in der Lyrik auch regelmässig gebraucht werden. Hier sind
nur die wichtigsten, von den Sie viele sicher aus dem Französischunterricht schon kennen:
Allegorie: konkrete Darstellung von abstrakten Gedanken. (zum Beispiel der Sensenmann für
den Tod) Eine Form ist die Personifikation.
Anapher: Wiederholung von Worten am Anfang der Verse oder der Sätze. Das Gegenteil ist
die Epipher: Wiederholung am Ende von Versen oder Sätzen. Wiederholung im allgemeinen
Metapher: sprachliches Bild, das nicht erklärt wird. (Zum Beispiel: jemandem das Herz
brechen: jemanden verletzen, besonders in der Liebe)
Oxymoron: zwei Worte, die sich gegenseitig ausschliessen. (armes reiches Mädchen)
Symbol: allgemein bekanntes Bild, das für etwas steht. (zum Beispiel für Frieden)
7
Steckbrief für ein Gedicht:
Titel:
Autor:
Epoche:
Anzahl Strophen:
Reimform:
Versmass:
Stilmittel:
Interpretationsideen:
8
Politische Gedichte
9
Friedrich Freiherr von Logau (1605 – 1655) :
Heutige Weltkunst
Anders sein und anders scheinen;
Anders reden, anders meinen;
Alles loben, alles tragen,
Allen heucheln, stets behagen,
Allem Winde Segel geben,
Bös′ und Guten dienstbar leben;
Alles Tun und alles Dichten
Bloß auf eignen Nutzen richten:
Wer sich dessen will befleißen,
Kann politisch heuer heißen.
10
Andreas Gryphius (1616 – 1664):
Thränen des Vaterlandes
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
11
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Die schlesischen Weber
12
Nachtgedanken
13
Georg Weerth (1822 – 1856):
Das Hungerlied
14
Adelbert von Chamisso (1781 – 1831):
Die alte Waschfrau
15
Und ich, an meinem Abend, wollte,
ich hätte, diesem Weibe gleich,
erfüllt, was ich erfüllen sollte
in meinen Grenzen und Bereich;
ich wollt′, ich hätte so gewußt
am Kelch des Lebens mich zu laben,
und könnt′ am Ende gleiche Lust
an meinem Sterbehemde haben.
16
Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874):
Die wilden Gänse
17
Erich Kästner (1899 – 1974):
Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.
18
Jakob van Hoddis (1887 – 1942):
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
19
Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Fragen eines lesenden Arbeiters
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
So viele Berichte.
So viele Fragen.
20
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Emigranten-Monolog
Ich hatte einst ein schönes Vaterland –
so sang schon der Flüchtling Heine.
Das seine stand am Rheine,
das meine auf märkischem Sand.
21
Volker Braun (1939):
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
22
Hans Magnus Enzensberger (1929):
Ins Lesebuch für die Oberstufe
Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer. Roll die Seekarten auf,
eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.
Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor
schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust
Zinken. Lern unerkannt gehen, lern mehr als ich:
das Viertel wechseln, den Paß, das Gesicht.
Versteh dich auf den kleinen Verrat,
die tägliche schmutzige Rettung. Nützlich
sind die Enzykliken zum Feueranzünden,
die Manifeste: Butter einzuwickeln und Salz
für die Wehrlosen. Wut und Geduld sind nötig,
in die Lungen der Macht zu blasen
den feinen tödlichen Staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.
23
Wolf Biermann (1936):
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Ich schwamm durch Blut in das große Licht
Neugierig kam ich aus dem Bauch
Ich war ein Tier. Und ich war ein Mensch
Von Anfang an und lernte auch
Bei der Gestapo im Verhör
Soff ich am Busen ohne Scheu
Die Wahrheit mit der Muttermilch:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Von Hamburg bin ich dann abgehaun
Mit Sechzehn ins Gelobte Land
Da sind Millionen den gleichen Weg
Wie ich, bloß umgekehrt gerannt
Ich wollte von zuhause weg
Nach Haus! Die Reise ist nicht neu:
Wer jung ist, sucht ein Vaterland
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
So kam ich drüben an: ohne Arg
Und blindbegeistert wie ein Kind
Bald sah ich, dass rote Götter auch
Nur MenschenSchweineHunde sind
Mein Vater hat mich nicht gemacht
Damit ich Lügen wiederkäu
Drum schrie ich meine Wahrheit aus:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Heiß oder kalt, immer war da Krieg
Ich ging von West nach Ost nach West
Und hielt mich an meinen Waffen, die
Gitarre und am Bleistift fest
Ich bleibe was ich immer war
Halb Judenbalg und halb ein Goij
Eins aber weiß ich klipp und klar:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Mit Weibern habe ich nichts! als Glück
Gehabt. Ich war so grün und blind
Und wusst nur vorne im Hinterkopf
Dass auch die Weiber Menschen sind
Nun weiß ich bis ins kleinste Teil
Mit dem ich meine Frau erfreu:
Die Männerschaft stinkt mich an
Nur wer sich ändert, bleibt ein Mann
Ich war verzweifelt von Anfang an
Und immer hab ich neu gehofft
- so kann man leben. Bald kommt der Tod
Ich kenn Freund Hein, ich traf ihn oft
Er bleibt mein Feind, dem ich auch nicht
24
zum Schluss gereimte Rosen streu
Mit letzter Puste krächze ich:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
25
Liebeslyrik
26
Johann Wolfgang von Goethe(1766 – 1832):
Heidenröslein
Sah ein Knab' ein Röslein steh'n,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu seh'n,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
27
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen
Das war mein Sinn.
28
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen Andern erwählt;
Der Andre liebt eine Andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
29
Sie saßen und tranken am Teetisch...
30
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926):
Liebeslied
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
31
Erich Kästner (1899 – 1974):
Sachliche Romanze
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
32
Unbekannter Dichter (Ende 12. Jahrhundert):
Slüzzelîn
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.
33
Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Erinnerung an die Marie A.
1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.
3
Und auch den Kuss, ich hätt' ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
34
Liebeslieder 1
I.
Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute.
Und seit jener Abendstund
Weißt schon, die ich meine
Hab ich einen schönern Mund
Und geschicktere Beine.
Grüner ist, seit ich so fühl
Baum und Strauch und Wiese
Und das Wasser schöner kühl
Wenn ich's auf mich gieße.
35
Erich Fried (1921 – 1988):
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
36
Rose Ausländer (1901 1988):
Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
37
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Sonett in Dur
Ich frage mich in meinen stillen Stunden,
War das das Leben, Liebster, eh du kamst
Und mir den Schatten von der Seele nahmst.
Was suchte ich, bevor ich dich gefunden?
38
Franz Hohler(1943):
Solaruhren
Deine Uhr
neben meiner Uhr
auf dem Fenstersims
in der Vormittagssonne.
Gemeinsam
trinken sie Licht
damit sie stets
ihre Pflicht erfüllen können
uns anzuzeigen
wie wir langsam
zusammen älter werden
du und ich.
39
Naturlyrik
40
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857):
Mondnacht
Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.
41
Heinrich Heine (1797 – 1856):
Leise zieht durch mein Gemüt
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute.
Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling hinaus ins Weite.
42
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
43
Eduard Mörike (1804 – 1875):
Er ist’s
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
— Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!
44
Matthias Claudius (1740 – 1815):
Abendlied
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen,
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget,
der weisse Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
und in der Dämm'rung Hülle,
so traulich und so hold,
gleich einer stillen Kammer,
wo ihr des Tages Jammer,
verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen,
er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht seh'n.
So legt euch denn ihr Brüder
in Gottes Namen nieder.
Kalt weht der Abendhauch.
Verschon' uns Gott mit Strafen
und lass' uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.
und unsern kranken Nachbarn auch.
45
Conrad Ferdinand Meyer (1825 - 1898):
Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
46
Christian Morgenstern (1871 - 1914):
Das Huhn
In der Bahnhofshalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her...
Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh'r?
Wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut:
daß ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte, wo es - "stört"!
47
Sprachlyrik
48
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857):
49
Christian Morgenstern (1871 - 1914):
Das ästhetische Wiesel
Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wißt ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.
50
Paul Celan (1920 – 1970):
Psalm
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
51
Franz Hohler (1943):
Sprachlicher Rückstand
Immer noch
sagen wir dem
was am Morgen geschieht
die Sonne geht auf
obwohl seit Kopernikus klar ist
die Sonne bleibt stehn
und
die Welt geht unter.
52
Leben und Tod
53
Matthias Claudius (1740 – 1815):
Der Tod
54
Paul Celan(1920 – 1970):
Todesfuge
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
55
Gottfried Benn (1886 – 1956):
Reisen
56
Hermann Hesse (1877 – 1962):
Im Nebel
57
Klabund (Alfred Henschke 1890 – 1928):
Ich baumle mit de Beene
58
Dietrich Bonnhoeffer (1906 – 1945):
Von guten Mächten wunderbar geborgen
59
Mascha Kaléko (1907 – 1975):
Interview mit mir selbst
Anno Zwounddreißig
Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen, klatschbeflißnen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
Mein meistgesprochnes Wort als Kind war »Nein«.
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück -
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.
Im Ersten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
Ich war schon sechs, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich, zwecks Bildung, bald entfernten.
Doch was wir auf der Hohen Schule lernten,
Ein Volk »Die Arier« ham wir nicht gehabt.
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau.
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.
Post Scriptum
Anno Fünfundvierzig
Inzwischen bin ich viel zu viel gereist,
Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik.
Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist,
Und was ich suchte, keineswegs Romantik.
Das war einmal. In einem andern Leben,
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was ergeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind.
Das lernt das Wörtchen »alien« buchstabieren
Und spricht zur Mutter: »Don’t speak German, dear.«
Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen,
Daß er »allright« ist, wenn auch nicht von hier.
60
Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May!
Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte…
Er denkt, was ich in seinem Alter dachte:
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
61
Robert Gernhardt (1937 – 2006):
Ach
62
Balladen und Nachdichtungen (für die OS)
63
Johann Wolfgang von Goethe(1766 – 1832):
Erlkönig
64
Zauberlehrling
65
Wärst du doch der alte Besen!
Immer neue Güsse
Bringt er schnell herein,
Ach! und hundert Flüsse
Stürzen auf mich ein.
Nein, nicht länger
Kann ich's lassen;
Will ihn fassen.
Das ist Tücke!
Ach! nun wird mir immer bänger!
Welche Miene! welche Blicke!
Oh, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh' ich über jede Schwelle
Doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
Der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
Steh doch wieder still!
Willst's am Ende
Gar nicht lassen?
Will dich fassen,
Will dich halten
Und das alte Holz behände
Mit dem scharfen Beile spalten.
Seht, da kommt er schleppend wieder!
Wie ich mich nun auf dich werfe,
Gleich, o Kobold, liegst du nieder;
Krachend trifft die glatte Schärfe!
Wahrlich, brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen,
Und ich atme frei!
Wehe! Wehe!
Beide Teile
Stehn in Eile
Schon als Knechte
Völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!
Und sie laufen! Naß und nässer
Wird's im Saal und auf den Stufen:
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister, hör' mich rufen! -
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los.
66
"In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid's gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister."
67
Friedrich Schiller (1759 – 1805):
Der Handschuh
68
Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.
Und zu Ritter Delorges spottenderweis
Wendet sich Fräulein Kunigund:
»Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mir's schwört zu jeder Stund,
Ei, so hebt mir den Handschuh auf.«
Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.
Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehen's die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück.
Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
Aber mit zärtlichem Liebesblick –
Er verheißt ihm sein nahes Glück –
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
»Den Dank, Dame, begehr ich nicht«,
Und verläßt sie zur selben Stunde.
69
Theodor Fontane (1819 – 1898):
John Maynard
John Maynard!
70
»Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallt's
Mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halt's!«
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
Jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!
* *
*
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Herr von Ribbeck auf Ribbeck
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Die Brücke am Thay
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Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein."
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Bertolt Brecht (1898 – 1956):
Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die
Emigration
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Sowas nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt's doch Papier bei uns und Tinte
und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?“
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Erich Kästner (1899 – 1974):
Der Handstand auf der Loreley
(Nach einer wahren Begebenheit)
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Kennst Du das Land
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Kurt Tucholsky (1890 – 1935):
Ich ging im Walde so für mich hin
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Rainer Maria Rilke (1875 – 1926):
Römische Fontäne (Villa Borghese)
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Wolf Biermann (1936):
Deutschland, ein Wintermärchen
KAPITEL I
Im deutschen Dezember floß die Spree
Von Ost- nach Westberlin
Da schwamm ich mit der Eisenbahn
Hoch über die Mauer hin
Da schwebte ich leicht übern Drahtverhau
Und über die Bluthunde hin
Das ging mir so seltsam ins Gemüt
Und bitter auch durch den Sinn
Das ging mir so bitter in das Herz
– da unten, die treuen Genossen –
So mancher, der diesen gleichen Weg
Zu Fuß ging, wurde erschossen
Manch einer warf sein junges Fleisch
In Drahtverhau und Minenfeld
Durchlöchert läuft der Eimer aus
Wenn die MP von hinten bellt
Nicht jeder ist so gut gebaut
Wie der Franzose Franz Villon
Der kam in dem bekannten Lied
Mit Rotweinflecken davon
Ich dachte auch kurz an meinen Cousin
Den frechen Heinrich Heine
Der kam von Frankreich über die Grenz
Beim alten Vater Rheine
Ich musste auch denken, was allerhand
In gut hundert Jahren passiert ist
Dass Deutschland inzwischen glorreich geeint
Und nun schon wieder halbiert ist
Na und? Die ganze Welt hat sich
In Ost und West gespalten
Doch Deutschland hat – wie immer auch –
Die Position gehalten:
Die Position als Arsch der Welt
Sehr fett und sehr gewichtig
Die Haare in der Kerbe sind
Aus Stacheldraht, versteht sich
Dass selbst das Loch – ich mein’ Berlin –
In sich gespalten ist
Da haben wir die Biologie
Beschämt durch Menschenwitz
Und wenn den großen Herrn der Welt
Der Magen drückt und kneift
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Dann knallt und stinkt es ekelhaft
In Deutschland. Ihr begreift:
Ein jeder Teil der Welt hat so
Sein Teil vom deutschen Steiß
Der größre Teil ist Westdeutschland
Mit gutem Grund, ich weiß.
Die deutschen Exkremente sind
Dass es uns nicht geniert
In Westdeutschland mit deutschem Fleiß
Poliert und parfümiert
Was nie ein Alchemist erreicht
– sie haben es geschafft
Aus deutscher Scheiße haben sie
Sich hartes Gold gemacht
Die DDR, mein Vaterland
Ist sauber immerhin
Die Wiederkehr der Nazizeit
Ist absolut nicht drin
So gründlich haben wir geschrubbt
Mit Stalins hartem Besen
Dass rot verschrammt der Hintern ist
Der vorher braun gewesen
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