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Ein Brief von zwei Bänken

Jurbarkas, 16-08-2021

Liebe Jurbarkasser, liebe Gäste,

schade, dass Sie, Menschen, unsere Sprache nicht hören können, denn wir könnten Ihnen viel
erzählen. Wir haben doch geheimnisvolle Gespräche und Liebeserklärungen (nicht nur von
Menschen, sondern auch von Vögeln, Kätzchen und Hunden), und Wehklagen, und große
Enttäuschungen miterlebt. Manchmal ließen wir ein kleines Kind angelehnt an seiner Mutter
schlafen. Manchmal sogar einen Armen, der seinen Bus verpasst hatte und gezwungen war eine
oder zwei Stunden auf den nächsten Bus warten. Wir blieben still, wenn auf uns Herzen
geschnitzt, Vornamen geschrieben oder Blumen gemalt (nun, haben wir gehört, Menschen nennen
es Tattoos) wurden. Wir verstanden nicht, wozu man es braucht. Schmücken sich so die Menschen,
beschlossen auch wir, uns zu erneuern und ein Lieblingstattoo machen zu lassen. Haben Sie sie
schon gelesen? Das ist wahrscheinlich auf der ganzen Welt Mode geworden.

Für viele Menschen waren wir nur grüne Bänke. Warum denn grün? Vielleicht, weil die Stadt so
grün ist. Oder vielleicht, weil die grüne Farbe Jugend und Wiedergeburt. Hoffnung und Freude,
Glück und Freiheit symbolisiert. Das ist doch die Farbe von der Kleidung der Götter. Wir dachten,
dass wir sehr wichtig sind. Wir spürten gut, dass auf uns sitzende Menschen nicht nur reden. Sie
träumen auch. Und wir träumten auch...

Und was für Sprachen haben wir nur gehört: Litauisch und Jiddisch, Polnisch und Deutsch, und
Englisch. Vor 20 Jahren stieg aus dem Bus von Vilnius ein Mann noch nie gesehener Hautfarbe
aus. Nicht nur wir, Bänke, sondern auch alle Reisenden verstummten. Woher kommt er denn? Nur
später erfuhren wir, dass ein Gast aus Brasilien, der Esperanto spricht, uns besucht hatte.

Viele Jahre reiste man von hier aus nicht nur in andere Orte Litauens, sondern auch nach
Deutschland, Polen, Estland, Lettland, und eine Frau aus Jurbarkas hatte sogar Kanada erreicht.

Unsere Gefühle schreiben wir auf dem Papier auf, damit Sie, Menschen, uns verstehen könnten.
Auf dem Busbahnhof waren wir zu zehnt. In vielen Jahren sind wir alt geworden, neue ersetzen
uns. Für viele von uns, alte Bänken, haben Menschen andere Erholungs- (neeeein, das sind
Arbeitsplätze) plätze gefunden. Drei von uns sind geblieben, wir wussten nicht, was uns erwartet.
Der eine schon ganz müde Kollege hat beschlossen, seinen Dienst zu enden oder als ein Exponat in
einem Museum tätig zu sein.
Und wir träumten immer noch... Einmal hörten wir Menschen reden, dass uns das Schicksal nicht
eines Senioren, sondern eines Beschäftigten erwartet (hmm, um Gottes Willen, wie Menschen bis
zum 65 Lebensalter). In nächster Zeit wird in Jurbarkas ein neuer Busbahnhof mit nagelneuen
Bänken gebaut. Und dort findet sich eine besondere Stelle für eine von uns. Die andere wird sich
auf den Weg machen sollen. Wir sind froh, dass unsere Träume in Erfüllung gehen. So viele Jahre
haben wir gewartet und gehofft, dass unsere Hoffnungen nicht sterben. Endlich. Eine von uns, die
sich immer in den Bus setzen und durch die Welt reisen wollte, wird Berlin sehen können. Zu der
zweiten, die sich immer über Reisende und auf Wartende gefreut hatte und die traurig war, dass
niemand zu ihr gekommen ist, ist eine Freundin aus Berlin Lichtenberg gekommen. Schluss,
entschieden! In einem Jahr auf der ehrenvollen Stelle des Busbahnhofes werden wir zu zweit sein.
Wir freuen uns, dass wir wieder wichtig sind.

Einmal hörten wir auf dem Busbahnhof ein Gespräch unter wartenden Studenten. Ich nehme an,
einer hatte Latein studiert, weil er die Worte von Philosophen Heraklit „in idem flumen bis non
descendimus“ („Sie können denselben Fluss zweimal nicht betreten“) auf Latein sagte. Wir denken,
auch wenn sich dieses Gewässer (die Zeit) geändert hat, bleiben wir in diesem Strom des Lebens.

Zum Abschied sagen wir – Seid gegrüßt! Hallo!

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