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Medienwandel
kompakt 2014–2016
Netzveröffentlichungen
zu Medienökonomie,
Medienpolitik & Journalismus
Medienwandel kompakt 2014–2016
Christoph Kappes · Jan Krone
Leonard Novy
(Hrsg.)
Medienwandel
kompakt 2014–2016
Netzveröffentlichungen
zu Medienökonomie,
Medienpolitik & Journalismus
Herausgeber
Christoph Kappes Dr. Leonard Novy
Fructus GmbH Institut für Medien-
Hamburg, Deutschland und Kommunikationspolitik
Berlin, Deutschland
Prof. Dr. Jan Krone
Institut für Medienwirtschaft
FH St. Pölten
St. Pölten, Österreich
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
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Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Leonard Novy, Jan Krone und Christoph Kappes
V
VI Inhaltsverzeichnis
2011 erschien der erste Band des nun mehr als Reihe definierbaren Anspruchs,
eine Sammlung von ausschließlich digital publizierten Artikeln in einem analo-
gen Trägermedium zu binden. Heute, da der dritte, die Jahre 2014 bis 2016 auf-
greifende Band „Medienwandel kompakt“ vorliegt, ist eine Kompilation von
Diskurssträngen entstanden, die die Umbrüche in der mediatisierten Gesellschaft
skizziert. Damals wie heute besteht der Anspruch der Herausgeber darin, einen
kompakten Überblick über die Debatten der vergangenen drei Jahre zur Medien-
transformation zu liefern. Indem ausgewählte Themen und Thesen, in Formen
von Kommentaren, Essays und Analysen der Zeit spiegelnde Beiträge der Netz-
publizistik in Printform zusammengeführt werden, wird zudem die Gefahr der
Depublikation durch Marktaustritte einzelner Blogs – zumindest für die ausge-
wählten Beiträge, – gebannt.
„Das Netz ist in der Realpolitik angekommen.“ So lautete unsere Einschätzung in
der Einleitung zum zweiten Band der Reihe, „Medienwandel kompakt 2011–2013“.
L. Novy (*)
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin, Deutschland
E-Mail: leonard.novy@medienpolitik.eu
J. Krone
Institut für Medienwirtschaft, FH St. Pölten, St. Pölten, Österreich
E-Mail: jan.krone@fhstp.ac.at
C. Kappes
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
• „Das Netz“ ist mehr als ein „weiteres“ Medium, das sich – einmal erfunden –
nicht mehr weiterentwickelt. Es ist die Summe verschiedener technologischer
Standards und Anwendungen, vielfältiger sozialer Normen, Regeln und Nut-
zungsmuster. Schon heute zeichnet sich ab, dass der Browser nicht mehr das
1War der Mitherausgeber und Autor Christoph Kappes im ersten Band von 2011 mit sei-
nem Beitrag „Facebook – Ein Sonderfall im Ökosystem des Internets?“ vom 28. April 2010
der einzige, der die Social Media Plattform im Titel namentlich nannte (Kap. 2. Ausfal-
tung von Kommunikation), tritt das US-amerikanische Unternehmen im aktuellen Band in
jedem der Kapitel als Reflektionsobjekt in Erscheinung.
Einleitung 3
primäre Mittel sein wird, mit dem die meisten Menschen Informationen abru-
fen und der Großteil der digitalen Kommunikation findet nicht mehr zwischen
den Menschen statt, sondern zwischen Geräten über das Internet der Dinge.
Das Netz steht in einer logischen Folge seiner Architektur für Automatisie-
rung, für die Verbindung und gleichermaßen das Nebeneinander von biologi-
schen mit digitalen Kommunikationssystemen.
• Das Netz ist mächtig, aber alles andere als eine auf Pluralität angelegte
Demokratisierungsmaschine. Es wird gleichermaßen, als grundsätzlich quasi-
neutrale Technologie, für antidemokratische Zwecke, in jedem Fall für wirt-
schaftliche und machtpolitische Interessen verwendet werden.
Die Digitalisierung hält neben enormen Chancen, wie sie sich aus der Verviel-
fältigung von Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten und Transpa-
renz ergeben, auch Risiken und die Aussicht auf gesellschaftliche Verwerfungen
oder Monokulturen bereit. Und es berührt alle Bereiche der Gesellschaft. Mit der
Erkenntnis, dass sich die sozioökonomischen Fundamente der Gesellschaft durch
das Netz verändern, rückten im Spektrum 2014 bis 2016 des vorliegenden Bandes
verstärkt grundsätzliche Fragen in den Fokus der Betrachtung: Wie wirkt sich die
Digitalisierung auf Gesellschaft insgesamt aus (und nicht nur parallele digitale
Sphären)? Auf unsere Volkswirtschaft (statt nur Medien und Kreativwirtschaft)?
Auf unsere Arbeitswelt und vorherrschende Konzepte von Beschäftigung (statt
auf Beschäftigungssituationen im Medienbetrieb)? Und auf die Öffentlichkeit, die
kommunikative Infrastruktur der Demokratie (statt Teilöffentlichkeiten oder die
Aktivität „Journalismus“)?
Die damit verknüpften Themen reichen von Grundrechten, Privatsphäre und
Datenschutz unter digitalen Vorzeichen, dem unternehmerischen aber auch gesell-
schaftlichen Umgang mit Daten und dem Spannungsfeld von Sicherheit und
Überwachung (als Fortsetzung des „Snowden-Moments“ 2013), über Internet-
Governance bis zu den Folgen von Automatisierung, Künstliche Intelligenz und
„Arbeitswelt 4.0“ auf soziale Verhältnisse.
Das Buchprojekt
Akteure in Medien, Politik und Gesellschaft müssen sich den massiven Umbrüchen
in unserer Kommunikationslandschaft, seinen Chancen und Störpotenzialen stellen;
gerade mit Blick auf die Frage, wie sich die Errungenschaften der Aufklärung – wie,
ausschnittsweise, vielfältige demokratische Öffentlichkeit, Bürgerrechte und freier
4 L. Novy et al.
Lisa Haala, Stefan Heidenreich, Christian Herzog, Martin Hoffmann, Fritz Iver-
sen, Otfried Jarren, Sonja Kollerus, Isabelle Krebs, Jannis Kucharz, Daniel Kuhn,
Sebastian Leuschner, Thomas Levermann, Juliane Lischka, Lorenz Lorenz-
Meyer, Maja Malik, Lorenz Matzat, Richard Meng, Martin Oetting, Tassilo
Pellegrini, Stefan Plöchinger, Hardy Prothmann, Adriana Radu, Ole Reißmann,
Tabea Rößner, Hermann Rotermund, Stephan Ruß-Mohl, Kai Schächtele, Tobias
Schwarz, Jennifer Schindl, David Schraven, Hannah Schraven, Stefan Schulz,
Antje Schrupp, Małgorzata Steiner, Michael Seemann, Thomas Stadler, Felix
Stalder, Maximilian Steinbeis, Hakan Tanriverdi, Till Wäscher, Marcel Weiß und
Till Westermayer.
Außerdem wollen wir dem Verlag Springer VS, Wiesbaden, konkret Andreas
Beierwaltes und Barbara Emig-Roller, dafür danken, dass sie in Zeiten in denen
Lexika und Enzyklopädien von Verlagen weltweit eingestellt werden an Idee und
Anspruch des Projekts festhalten und erneut konkrete Unterstützung bei seiner
Realisierung geleistet haben. Und schließlich gebührt den Leserinnen und Lesern
ein Dankeschön. Ihr Zuspruch manifestierte sich vor allem in den Zugriffszah-
len auf die eBook-Variante des letzten Bandes. Es hat uns ganz wesentlich dazu
motiviert, diesen dritten Band anzugehen. Ob ein vierter Band 2017–2019 folgen
wird, hängt nicht zuletzt von der Entwicklung der netzpublizistischen Umwel-
ten ab. Waren die Herausgeber mit Ausgang des Jahres 2013, Anfang 2014 noch
wenig zuversichtlich hinsichtlich der Fortsetzung der Reihe, erlebten wir – in
unserer Wahrnehmung – eine Renaissance der privat organisierten und frei zu
gestaltenden digitalen Oberflächen, Blogs, ab Ende 2014 bis zum Datum der
Manuskriptfreigabe.
Teil I
Technologie, Gesellschaft, Markt & Politik
im Medienwandel
Das Internet nach dem Internet – Eine
persönliche Anamnese
Michael Seemann
Vor etwa 2,4 Mrd. Jahren brach eine einzigartige Naturkatastrophe über die Welt
hinein. Eine neue Spezies, die Cyanobakterien, hatten sich im Kampf der Evo-
lution durchgesetzt und machten sich daran, alle anderen Spezies mittels eines
aggressiven Giftes auszulöschen. Ein Großteil der bis dahin lebenden Organismen
fielen dem Massaker zum Opfer. Die Nachfahren dieser Massenmörderspezies
nennen wir heute „Pflanzen“ und ihr tödliches Gift war der Sauerstoff.
Das neue Gift atmete ich etwa Anfang der 90er. Ein Freund von mir wählte
sich oft in das FidoNet ein. Eine Art Proto-Internet, was aber eigentlich nur ein
System von Mailboxen beschrieb, bei dem man sich einwählen konnte und das
automatisiert Daten austauschte. In diesem Netz konnte man bereits mit Unbe-
kannten kommunizieren. Man lud Texte und Bilder herunter, diskutierte und
schloss Freundschaften.
Wenige Jahre später sah ich meine erste Website. Es war Spiegel Online. Ich
zuckte mit den Schultern. Es gibt doch schon Zeitungen, dachte ich mir. Doch das
Schulterzucken hielt nicht lang. Meine erste eigene Mailadresse holte ich mir im
Web. 1997 bei GMX. Ich wollte mit Freunden zu Hause in Kontakt bleiben, denn
ich sollte zum Studium nach Lüneburg umziehen.
Erst im Studium habe ich wirklich angefangen, mich für das Netz zu begeis-
tern. Es war mitten in der Dotcom-Bubble und ich wollte alles über das Internet
wissen. Ich legte meine Zwischenprüfung über die Geschichte des Internets ab.
Ich fing an zu programmieren. Erst nur Webdesign, dann Java, PHP und Daten-
banken. Mehrere Jahre lang arbeitete ich als Programmierer in einer kleinen
Internetfirma.
M. Seemann (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: mymspro@googlemail.com
Doch egal was ich tat, ich wurde das Gefühl nicht los, der Idee und dem
Potenzial des Internets nicht gerecht zu werden. Schließlich wendete ich mich
den Medienwissenschaften zu. Nur leider hatten die zu dem Thema kaum etwas
zu sagen, jedenfalls zu jener Zeit. Die deutsche Medientheorie war geprägt von
der Kittlerschule und die hatte erst mal nur den Computer in den Blick genom-
men.
„Close enough“, dachte ich mir und las, was ich kriegen konnte. Doch etwas
war mir fremd: Die Erfindung und Entwicklung des Computers wurde mit der
Ehrfurcht gefeiert, die an die Landung eines Außerirdischen erinnerte. Die
Beschäftigung mit dem Computer wirkte wie die Kommunikationsversuche mit
einer fremden Spezies. Ich verstand natürlich, dass der Computer ein besonderes,
ein universelles Medium war, aber für mich war er eben doch Teil der Welt. Kitt-
lers Passion für maschinennahen Code etwa und sein Herabblicken auf alles, was
nicht in C oder Assembler programmiert ist, empfand ich absurd und weltfremd.
Es gibt keine Software? Was für ein absurder Gedanke.
Heute mache ich die unterschiedliche Aneignungsgeschichte für diese Anders-
artigkeit der Wahrnehmung verantwortlich. Der Computer trat ja tatsächlich in
das Leben der Generation Kittler wie ein frisch gelandetes Alien. Der Computer
erschien als wissenschaftlich-militärische Großmaschine auf der Bildfläche und
hatte damit die Aura von Raketentechnologie. Atombombe, Interkontinentalra-
kete und Computer bildeten einen gemeinsamen modernistischen Komplex in den
Assoziationen der Zeitgenossen.
Ich hingegen hatte den Computer als den netten Spielgefährten auf dem
Schreibtisch kennengelernt. Mein erster Computer war ein Commodore 128D,
eine etwas weiterentwickelte Variante des berühmten C64. Der Computer war ein
Alltagsgegenstand, fast schon ein Kinderspielzeug. (Um ehrlich zu sein, habe ich
ihn in erster Linie auch ausschließlich zum Spielen benutzt.)
Noch während ich meine Abschlussarbeit schrieb – etwa 2005 – fing ich an
zu bloggen. Zunächst war es reine Prokrastination. Aber es nahm mich sofort
gefangen. Mich reizte das „sich ausdrücken können“, bei gleichzeitiger Unmit-
telbarkeit des Feedbacks. Die Schnelligkeit und die Freiheit alles zu sagen, was
ich will, während (theoretisch) Millionen Leute das lesen können. Das ist viel-
leicht gar nicht mehr so gut nachvollziehbar, aber damals fühlte sich das wirk-
lich revolutionär an. Meinungsfreiheit galt damals nur theoretisch. In Wirklichkeit
musste man enorme Ressourcen in Bewegung setzen, um auch nur ein kleinen
Teil Öffentlichkeit zu generieren.
So sehr ich mich bemühte, das Netz und sein Veränderungspotenzial über
Bücher und Programmieren zu verstehen; so richtig verstand ich es erst beim
Bloggen. Beim freien Benutzen des offenen Webs und seiner Möglichkeiten
Das Internet nach dem Internet – Eine persönliche Anamnese 11
wurde mir klar, dass dieser persönliche, ja intime Zugang zu Öffentlichkeit es war,
der alles verändern würde. In der Blogosphäre streckte nicht eine kalte Technik
seine Apparate in die Welt, sondern es etablierte sich eine neue Form von Lebens-
raum. Ich las Blogs, wie andere durch ihre Straße gehen, und kommentierte Arti-
kel als würde ich mit den Nachbarn quatschen. Ich spürte das Internet förmlich,
und zwar als Verbundenheit und Heimat. Ich fühlte mich im Internet zu Hause.
Wir Blogger waren die Avantgarde einer global unausweichlichen Utopie total
vernetzter Diskurse. Wir waren uns sicher: bald schon würden alle tun, was wir
tun. Bis dahin mussten wir nur zweierlei machen: Weitermachen und das Netz
gegen all diejenigen verteidigen, die es eifersüchtig bekämpften. Das waren nicht
wenige, denn das Netz begann schon früh die gesellschaftliche Position von vie-
len zu bedrohen. Journalist/innen, Verleger/innen, Rechteinhaber/innen, Innen-
und Justiz-Politiker/innen und die Lobbys von einigen Wirtschaftsverbänden. Um
das Jahr 2009 herum emergierte das, was man bis heute „Netzpolitik“ nennt und
was sicher eine der schlagfertigsten Grassrootslobbys der letzten Jahrzehnte war.
Mitten in dieser Zeit, Anfang 2010, fing ich an für die FAZ zu bloggen. Ich
wollte meine ganz eigene Medientheorie des Internets aufschreiben. Alles kulmi-
niert in der These vom Kontrollverlust. Der Kern der Idee: Wir verlieren Kon-
trolle über Datenströme und alle Folgewirkungen, positive wie negative, und
sich die darum scharenden Diskurse können auf dieses Grundphänomen zurück-
geführt werden. Unter dem Strich jedoch, da war ich sicher, würde sich dieser
Kontrollverlust lohnen. Im Ganzen werde er positive Auswirkungen auf die
Gesellschaft und seine Individuen haben.
Als ich vier Jahre später das Buch dazu schrieb, war die positive Grundstim-
mung einer desillusionierteren Variante gewichen: „Der Kontrollverlust hat die
Welt im Griff. Was heißt schon gut oder schlecht? Jedenfalls sollte man seine Stra-
tegien anpassen.“ „Machiavelli des 21. Jahrhunderts“ nannte man mich daraufhin.
Was war in der Zwischenzeit von 2010 bis 2014 passiert? An dieser Stelle
werden für Gemeinhin die Snowdenenthüllungen als desillusionierendes Welter-
eignis angeführt. Es hatte sich gezeigt, dass ausgerechnet die Offenheit der digi-
talen Technologie von mächtigen Akteuren missbraucht wurde, um Menschen in
einem nie da gewesenen Ausmaß auszuspionieren. Diese Möglichkeit jedoch war
in der Kontrollverlustthese von vornherein eingepreist. Privatsphäre war etwas,
auf das man sich schon länger nicht mehr verlassen konnte.
Jede Dystopie ist in ihrer Realisierung banal. Ja, wir leben heute in der viel
beschworenen Überwachungsgesellschaft. Der aktuelle Zustand der Welt über-
trifft unsere schlimmsten Erwartungen. Aber hey, sein wir ehrlich. Das ist schon
auf ne Art ganz ok. Niemand hat wirklich Angst. Protestieren tun nur ein paar
Bürgerrechtler, so aus Prinzip.
12 M. Seemann
Nein, Snowden war nicht der Grund. Es waren drei Entwicklungen, die meine
Euphorie gegenüber dem Internet deutlich dämpften.
Erstens: Wir haben gewonnen. Bzw. wir – die Blogger – haben recht behalten.
Die grenzenlose Freiheit des Publizierens durch das Internet kam tatsächlich im
Mainstream an. Alle haben nun Zugang, jede/r bekommt Öffentlichkeit, wenn er/
sie es will. Meinungsfreiheit wurde von einem abstrakten Recht zu einer realen
Praxis.
Jede Utopie ist in ihrer Realisierung dystopisch. Ungehinderter Zugang zur
Informationsverbreitung und ungehinderter Zugang zu Organisation stellten sich
als wirkungsvolle Strukturverstärker nicht nur der Zivilgesellschaft, sondern auch
des Hasses heraus. Ein Hass, der bis dahin in den dunklen Gewölben der Eck-
kneipen eingehegt war und nun mittels gegenseitiger Selbstverstärkung durch die
digitalen Ritzen in die Öffentlichkeit quillt. Pegida, das vergessen viele, ist als
Facebookgruppe gestartet. Pegida ist unser arabischer Frühling. Hass wird heute
online geschürt, Demos und Brandanschläge werden per Messenger koordiniert.
Immer mehr Menschen ziehen sich zurück in die Heimeligkeit zwischen Ver-
schwörungsblog und WhatsHass-Gruppe. Auch sie haben ihr Zuhause im Netz
gefunden.
Zweitens: Das Netz hat seine Grundstrukturen verändert. 2010 lief ein Großteil
des Diskurses – vor allem der um das Netz – auf Blogs und Twitter ab. Es gab
eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich auszudrücken, obwohl schon damals beob-
achtbar war, wie sehr geschlossene Plattformen an Relevanz gewannen. Als die
Menschenmassen kamen – etwa 2012, gründeten die wenigsten Blogs, sondern
strömten zunächst fast ausschließlich auf Facebook. In dieser Zeit verdoppelte
Facebook seine Nutzer/innen-Zahlen. Andere geschlossene Plattformen – Insta-
gram, Whatsapp und Snapchat – wiederum profitierten von den Distinktions- und
Ausweichbewegungen der jüngeren Generation und wurden ebenfalls in enormen
Tempo zu riesigen Playern. All das hat zur Folge, dass das Internet und das open
Web als Entität in den Hintergrund getreten ist, es bildet lediglich die Infrastruk-
tur der eigentlichen Interaktionsschnittstellen. Und die werden von den Plattfor-
men bereitgestellt.
Drittens: Das Netz hatte also die Unverschämtheit, sich hinter dem Rücken der
ersten Netzcommunity einfach weiterzuentwickeln. Was sich auf Youtube, Ins-
tagram, Snapchat und Periscope entwickelte, wurde auf den Blogs der Netzge-
meinde kaum reflektiert. Doch auf einmal hatten Einkaufvideos (haul-videos) von
15 jährigen Jugendlichen 100 mal so viele Zugriffe als die wichtigsten netzpoliti-
schen Flagschiffe der Bloggergeneration.
Das Internet nach dem Internet – Eine persönliche Anamnese 13
Das mag nach verbitterter Kulturkritik klingen, es ist aber vielmehr das Ein-
geständnis von vergangenem Größenwahn und aktuellem Nichtverstehen. Es geht
mir wie Grandpa Simpson: “I used to be with it, but then they changed what it
was. Now what I’m with isn’t it, and what’s it seems weird and scary to me. It’ll
happen to you!”.
Dieses “it” war bei uns vor allem die politische und intellektuelle Auslotung
des Netzes. Unsere Themen waren immer “special Interest”. Aber wir hatten
ja die Gewissheit, dass unsere Anliegen nicht special Interest bleiben würden.
Würde das Netz erst Mainstream werden, so dachten wir, würden unsere Debat-
ten und unsere gut informierten Positionen zum Netz ebenfalls im Mainstream
einreiten. Kurz: Wir dachten unser “it” würde das “it” sein, wie noch jede Gene-
ration vor uns.
Doch die neue Netzgeneration setzt sich nicht mit Netzneutralität auseinander.
Sie interessiert sich nicht für Netzsperren oder Datenschutz. Schlimmer noch: für
sie ist das Netz kein Begriff mehr, der überhaupt etwas Neues verheißt. Sie emp-
finden keinen Drang alles verstehen zu wollen. Das Netz ist halt da. Es ist ein
Alltagsgegenstand, mit dem man Dinge machen kann.
Und hier, am Ende dieser Reise finde ich mich dann doch in wieder. Das Inter-
net ist für diese Generation das, was für mich der Personal Computer war. Und
so wenig, wie ich mich in Turing und von Neumann eingearbeitet habe, so wenig
mich die Schaltpläne des ENIAC, das Programmieren in Assembler oder Compi-
lerbau interessierten, so wenig spannend finden die Jugendlichen die Geschichte
des ARPA-Net, den Kontrollverlust durch TCP/IP oder die Idee des Open Web.
Genauer betrachtet ist das, was sie im Internet machen, viel radikaler. Wir
haben unsere Blogs noch in die bestehende Medienordnung einzuordnen ver-
sucht. Mit Begriffen wie „Bürgerjournalismus“ oder „Gegenöffentlichkeit“ such-
ten wir Anschluss an bestehende Mediendiskurse. Die Kids jedoch interessiert
das alles nicht. Sie machen das, was sie machen unter völliger Absehung vorhan-
dener Systeme und Öffentlichkeiten. Sie schaffen neue Medienformate aus sich
heraus, aus ihren Interessen und aus ihrem Leben zwischen Playstation, Schul-
hof und Drogerieeinkauf. Sie kennen den ängstlich rückversichernden Blick auf
Relevanz und Anschlussfähigkeit gar nicht, den wir Blogger der alten Schule nie
abgelegt haben.
Am Ende, wenn alle Utopien und Dystopien verwirklicht sind, bleibt nur
noch die bereits veränderte Welt als neue Normalität. Überwachung und unend-
liche Möglichkeiten der Öffentlichkeit sind keine Dinge mehr, die man gut oder
schlecht finden kann. Das Internet zu beschimpfen oder zu idealisieren macht
so viel Sinn, wie über die Vor- und Nachteile von Sauerstoff zu diskutieren. Der
Trick heißt Atmen.
14 M. Seemann
URL: http://www.ctrl-verlust.net/das-internet-nach-dem-internet-eine-persoen-
liche-anamnese/ vom 9. März 2016.
Rise Of The Bots
Sonja Kollerus
Google tut es, Microsoft tut es, Medien tun es und Facebook seit neuestem auch
(schon wieder) – sie alle verwenden Bots. Manche treten schüchtern in den Hinter
grund und andere preschen sichtlich nach vorne. Neu sind sie genau genommen
nicht, aber sie vermehren sich in brisanter Geschwindigkeit und werden immer
intelligenter. Was sie alle gemeinsam haben? Bots sind Computerprogramme, die
weitgehend automatisch ihre Aufgaben abarbeiten.
Laut dem Digital Trend Report 2016 von Business Intelligence generieren diese
Computerprogramme rund 50 % des gesamten Online-Traffics. Doch nicht jeder
Bot ist gleich. Unternehmen können durch sie profitieren, oder auch vor neuen
Herausforderungen gestellt werden. Die gute Nachricht ist: die sogenannten Good
Bots überwiegen. Sie generieren 29 % des Traffics, sind leicht als Computer
programm erkennbar und dienen in der Regel der Sammlung von Information.
Das wohl bekannteste Beispiel für Good Bots sind Googlebots, auch Crawler
genannt. Sie sind Freunde des Unternehmertums. Denn wer will nicht, dass die
eigene Website von Google indexiert und so bei User-Suchanfragen gefunden
wird? Falls man sie doch nicht mag, helfen robot.txt oder Robots-Meta-Tags
dabei, sich in den Tiefen des Darknets zu verstecken.
S. Kollerus (*)
Traismauer, Österreich
E-Mail: sonja.kollerus@gmx.at
Der Grund für den erhöhten Buzz bezüglich Bots ist, dass die Technologie
stetig voranschreitet. Schon seit langem arbeiten Entwickler an der Verbesserung
des Verstehens natürlicher Sprache und der Schaffung von künstlicher Intelligenz.
Das ist der Grund, warum auch Chatbots immer stärker in den Markt drängen.
Microsoft, Kik und Facebook – sie alle stellen sich mit ihren Services in das
Rampenlicht und signalisieren die Möglichkeiten für Marken. „WeChat“ in China
und „Line“ in Japan konnten sich bereits länger popularisieren.
Die grundlegende Idee ist die einer Konversation als Plattform – Virtuelle
Assistenten mit denen du sprechen kannst und die individuelle Aufgabenstellung
für dich lösen. Man denke an Siri, nur besser.
Neue Chancen ergeben sich für Handel, Medien und Marken. Unternehmer und
Entwickler sind seit April in der Lage, ihre eigenen Bots für den Messenger auf-
zusetzen und zur Preview einzureichen. Die Bots befinden sich allerdings noch in
der Beta-Version.
Die Bots können direkt und automatisch auf User-Anfragen antworten und
unterschiedliche Inhalte ausspielen.
Von Automated Subscription Content wie Wetter- oder Verkehrs-Updates,
bis hin zu Customized Communication wie Shipping Notifications oder Live
Automated Messages sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Zudem wird der
Weg geebnet, auch komplexere Bots zu programmieren. Diese sollen die natürliche
Sprache interpretieren, kontinuierlich lernen und sich stetig verbessern. Künstliche
Intelligenz eben.
Facebook konnte mit der Uber Integration das Potenzial der Bots unter
Beweis stellen. Als beschreibende Demonstration: Mit einem Click auf einen
Transport Button oder eine Adresse und der Auswahl von Uber, wird ein Chat
Fenster geöffnet. Ein interaktives Panel ermöglicht folglich die Auswahl des
Abholpunktes, der Zieldestination und der Zahlungsoption. Während der Fahrer
sich annähert erhält der User Updates, kann sich die Karte ansehen oder direkt
den Fahrer anrufen.
Vorteile durch den Messenger Bot ergeben sich für jeden, der Menschen auf
Mobile Devices erreichen will. Die Theorie ist einfach. Einen Messaging Thread
benützen, der bereits besteht, in einer App, die sich bereits etabliert hat. Dadurch
entfallen für Unternehmen die Entwicklung, Promotion und Etablierung einer
App am Markt. Dies ist bei der vorherrschenden Penetration des Marktes schließ-
lich kein leichtes Unterfangen.
Rise Of The Bots 17
Ein Alternativszenario wäre, dass sich die Funktionen der Chatbots künftig
direkt in die Suchmaschinen verlagern. Google nähert sich bereits mit großen
Schritten. Erst diesen Mittwoch (18.05.2016) kündigte der Internetgigant einige
Neuerungen an. Darunter auch ein eigener Digital Assistant und eine Messaging
App namens Allo – eine direkte Kampfansage.
Warum Facebook, Google und Co. Interesse daran haben, eine übergreifende
Plattform zu schaffen, ist klar. Das Wettrennen der großen Player um die Markt-
führerschaft hat bereits begonnen. Wer es schafft, einen echten Mehrwert zu bie-
ten und sich zu etablieren, hält die Macht inne. Das Unternehmen, dass die Bots
kontrolliert, kann unter anderem über neue Sub-Bots und Funktionen entschei-
den. Gruselig wird es dann, wenn man bedenkt, dass Personal Assistants darü-
ber entscheiden können, von welcher Marke du deine Pizza beziehst oder welche
Nachrichten du liest.
Nicht nur die Facebook Chatbots können intelligent kommunizieren, sondern
auch Microsofts „Tay“ auf Twitter. Tay gibt automatisch Antworten auf User-Fragen.
Das Problem ist, künstliche Intelligenz ist (noch) nicht fehlerfrei. Die Dinge liefen
etwas außer Plan als Tay rassistische Kommentare auf Fragen ausspuckte.
18 S. Kollerus
Rassistische Kommentare sind zwar böse, aber es war zumindest keine Absicht
von Microsoft. In den Tiefen des Netzes gibt es auch Bots, die wirklich böse
Absichten verfolgen. Man bedenke Trojaner und Co. Nun wird auch die Werbe-
industrie zunehmend mit einem Problem konfrontiert: Ad Frauds. Bad Bots pene-
trieren das Ökosystem und ahmen menschliches Verhalten nach. Sie verstecken
sich hinter der Identität menschlicher Nutzer und nisten sich in ihren PCs ein.
Genau genommen sind sie nichts anderes als Trojaner. Ohne dass der PC-Besitzer
etwas bemerkt, wird der Bot vom Botnet Center aktiviert und besucht auf dessen
Anweisung verschiedenste Websites, scrollt sich durch Seiten und klickt Links.
Sie boosten damit den Traffic bestimmter Web Hosts, wodurch diese höhere
Umsätze generieren können. Dabei stehlen sie jedoch die Umsätze der Wer
betreibenden. Laut Integral stehen ca. 15 % aller Ads unter Betrugsverdacht. Es
wird für Impressions bezahlt, die nie ein Mensch gesehen hat, sondern ein
Computerprogramm. Diese Ad Frauds kosteten der Werbeindustrie 2015 weltweit
ca. 6,3 Mrd. US$.
Wer sind die Betrüger? Der Botnet Operator sowie Publisher, die wissentlich
Traffic einkaufen, um mehr für ihre Anzeigenplätze verlangen zu können.
User können sich vor den bösen Bots schützen, indem sie gute und aktuelle
Anti-Virenprogramme installieren. Supplier und Werbetreibende haben es etwas
schwerer. Zunächst können Blacklists mit den enttarnten Seiten erstellt werden.
Außerdem sind die Impressions laufend zu überwachen. Denn es gibt bestimmte
Indikatoren, die verraten, dass der Traffic nicht von einem Menschen stammt.
Diese werden jedoch nicht alle preisgegeben, weil sonst Hacker einen Anstoß
hätten, neue Wege zu finden. Beispielhaft löscht kein menschliches Wesen dieser
Welt jeden Tag um Punkt 09:00:00 Uhr in der Früh seine Cookies.
Seriöse Supplier überwachen ständig ihre Impression und entfernen betroffene
Seiten durch Blacklisting. Jedoch gibt es keine Garantie, dass man niemals einem
Ad Fraud zum Opfer fällt. Solange eine Nachfrage herrscht und Menschen Geld
mit diesem Geschäft verdienen, wird es auch immer jemanden geben, der es macht.
Résumé
Bots bewegen sich überall im Netz, ob wir sie bemerken oder nicht. Manche
von ihnen sind hilfreich und bieten spannende Funktionen, manche sind teil-
weise schon etwas gruselig und andere einfach nur eine Plage. Doch gehen nicht
immer Chancen und Risiken Hand in Hand? Wie immer darf man auf die Zukunft
gespannt sein.
Rise Of The Bots 19
Till Wäscher
T. Wäscher (*)
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin, Deutschland
E-Mail: till.waescher@medienpolitik.eu
und Co: niemand kann mit Sicherheit sagen, ob und wann diese Firmen jemals
nennenswerte Umsätze und Gewinne erwirtschaften. So hat der weltweit größte
Medienkonzern Comcast zuletzt hunderte Millionen Dollar in die Web-Marken
Buzzfeed und Vox Media investiert (ebenso Axel Springer, das Anteile Business
Insider und Mic.com erworben hat), in der Hoffnung dass diese Marken in den
nächsten zehn bis zwanzig Jahren – auf Grundlage ihrer Bewertung – so wert-
voll werden wie etablierte US-Kabelsender. Da jedoch weiterhin völlig offen ist,
wie journalistische Angebote im hart umkämpften Web langfristig profitabel wer-
den können, darf zumindest bezweifelt werden, ob sich diese Investitionen wirk-
lich lohnen. GigaOm, eine gehypte Technologie-Newsseite, die von Investoren
22 Mio. einsammeln konnte, musste im vergangenen Jahr wegen fehlender Mit-
tel ihren Betrieb einstellen.
Kritiker der Theorie einer zweiten tech bubble wie Marc Andreessen weisen
zu Recht daraufhin, dass die Situation in vielerlei Hinsicht anders ist als vor fünf-
zehn Jahren. Damals waren es hunderte von börsennotierten Unternehmen, die
hoffnungslos überbewertet waren, heute handelt es sich überwiegend um private
Unternehmen. Das Investitionsniveau in Start-Ups hat deswegen noch lange nicht
das Niveau von 1999 erreicht. Zudem sind nicht nur Technologie- und Internet-
firmen (zu) hoch bewertet; Robert Shiller spricht deshalb auch von der Gefahr
einer everything bubble, die alle Sektoren der Wirtschaft betrifft. Dennoch bleibt
das Risiko einer zombie start-up apocalypse immanent. Diese hätte jedoch auch
positive Seiten: die Unternehmen wären bei ausbleibenden Kapitalinfusionen
dazu gezwungen, natürlich zu wachsen und müssten sich auf ihre eigentlichen
Aufgaben konzentrieren: reale Umsätze und Gewinne erwirtschaften.
URL: http://www.carta.info/79092/alarmismus-oder-nur-eine-frage-der-zeit-
platzt-die-zweite-dot-com-blase/ vom 9. September 2015.
Wer Wachstumsunternehmen nicht
versteht, kann Wachstumsmärkte nicht
von Blasen unterscheiden
Marcel Weiß
M. Weiß (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: marcel@neunetz.com
Unternehmen länger Verluste; und gleicht das mit Risikokapitalrunden aus. (Bei-
spiel: Uber will ein globaler Transportkonzern werden. Weil die Dynamiken und
Potenziale so offensichtlich sind und es hier dank Netzwerkeffekten einen erheb-
lichen First-Mover-Vorteil zu geben scheint, nimmt es viel Risikokapital auf und
gibt mehr aus als es im laufenden Betrieb einnimmt.)
Das ist ein simpler Vorgang, der nichts darüber aussagt, ob man hier einen
Teil einer Blase sieht oder nicht. Es sagt nichts darüber aus, ob das Unternehmen
sich aufbläht und implodiert oder der nächste Gigant am Markt ist. (Wobei kon-
stante Finanzierungsrunden zumindest daraufhin deuten, dass Investoren in den
nicht-öffentlichen Zahlen etwas von Wert sehen. Gruppendenken unter Investoren
kann das natürlich wieder verwässern.)
Wenn Gewinne der letzten Quartale keine nützlichen Kennziffern sind, dann
braucht es andere Kennzahlen, um die heutige und künftige Wirtschaftlichkeit
eines Unternehmens einzuschätzen. Eine Kennziffer ist dabei recurring revenues.
Diese Kennziffer ist schwammig definiert. Aber Quartalsgewinne sind ebenfalls
nur auf den ersten Blick bessere, „härtere“ Zahlen. Denn obwohl jede/r weiß, was
Gewinn ist, ist der Weg dahin beeinflussbar: Alle Marketingausgaben gestoppt,
keine Investitionen in neue Fabrikanlagen und -zack!- ein Unternehmen macht
Gewinn in einem Quartal, in dem es zugunsten dieser schwarzen Zahl auf Wachs-
tum durch neue Kunden dank Marketing und mehr Produkte dank Fabrikanlagen
verzichtet.
Im Wachstumskontext wird ausgewiesener kurzfristiger Gewinn willkürlich.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Amazon genau so erklären wie Uber. Beide
Unternehmen können mehr oder weniger gegen eine Wand fahren, aber die Wahr-
scheinlichkeiten tendieren aktuell eher dagegen.
Das Interessante ist natürlich folgendes: Wer sich von jungen (Tech-)Unter-
nehmen bedroht fühlt oder wer ein Interesse daran hat, diese Unternehmen in der
Öffentlichkeit herunterzuspielen (um etwa als Manager die eigenen Mitarbeiter
und Shareholder zu beruhigen), kann immer auf das Narrativ zurückgreifen, diese
jungen Unternehmen würden keine Gewinne machen, es sei alles auf Sand gebaut.
Dieser Argumentation zu folgen fällt nicht schwer. Die vermeintliche Offensicht-
lichkeit, die kurzfristiges und langfristiges vermischt, trübt leicht den Blick.
Die Folge ist, dass selbst jetzt, 2015, wenn eigentlich jedem halbwegs aufmerk-
samen Beobachter klar sein sollte, dass softwaregetriebene Unternehmen praktisch
jede Branche umkrempeln und sich in die Mitte der Wertschöpfung stellen kön-
nen, wenn sie genügend Zeit haben, es also selbst jetzt immer noch Manager und
ganze Branchen gibt, die glauben, bei ihnen, ausgerechnet bei ihnen, sei es anders
und die Softwareriesen von heute und morgen hätten gegen sie keine Chance.
Während Software beginnt, die Welt zu erobern, und diesen Eroberungsfeldzug im
Wer Wachstumsunternehmen nicht versteht, kann Wachstumsmärkte … 27
Martin Oetting
In den Debatten um Google, Facebook, die NSA, Spionage und Schlandnet kann
man immer wieder erleben, dass irgendein Politiker (es sind immer Männer, ich
habe so was noch nicht von Politikerinnen gehört1), fordert, es müsse einen euro-
päischen Internetgroßkonzern geben, der den Silicon Valley-Größen Paroli bieten
kann. Da ich bei solchen Forderungen in den Medien nie sehe, dass diesen Leuten
erklärt wird, warum das eine komplette Schnapsidee ist, schreibe ich das hier mal
auf. Vielleicht finden deren Assistenten oder Referenten – oder wie die Menschen
heißen, die für Politiker die Recherche übernehmen – diesen Text ja zufällig und
geben das bei Gelegenheit mal weiter.
Es gibt aus meiner Sicht wohl nur einen Grund, warum Politiker meinen, dass
eine solche Forderung inhaltlich Sinn haben könnte. Sie denken bei dem Thema
offenbar an ein Vorbild, das wir alle kennen, nämlich ehemals EADS/heute Air-
bus. Für alle Politiker, die im Stil von ,,Den Amerikanern haben wir’s mit Boe-
ing doch auch gezeigt, das sollte jetzt mit Google & Facebook ja wohl auch zu
machen sein.“ unterwegs sind, schreibe ich die folgenden Zeilen.
Die Analogie mit Airbus ist aus drei Gründen ein Irrtum.
1Nachtrag und Korrektur, Merkel selbst hat’s offenbar auch gefordert, damit also doch auch
eine Politikerin.
M. Oetting (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: martin@oetting.de
Der erste Irrtum entsteht aus der besonderen Rolle dieses Konzerns – der größte
Geldbringer für Airbus ist der Bau und Vertrieb von zivilen und militärischen
Flugzeugen, hinzu kommt der Bau und Verkauf von weiterem Militärgerät.
Militärische Flugzeuge und Geräte werden fast ausnahmslos von Regierungen
gekauft, also ebenfalls von Politikern. Zivile Fluggeräte werden zwar überwie-
gend von privaten Fluggesellschaften gekauft, aber viele von ihnen waren früher
Staatsbetriebe und sind immer noch eng verkoppelt mit regierungsnahen Kreisen.
Mit anderen Worten: Airbus ist unter anderem wohl ein politisch geschaffener
Erfolg, weil das Projekt von Politikern betrieben wurde, um Politiker zu bedie-
nen. Bei Airbus bleiben diejenigen, die so einen Konzern politisch wollen, und
diejenigen, die für die Leistungen dieses Konzerns bezahlen, unter sich. Daher
kann man sich aus der Politik heraus den Konzern auch sehr schön so gestalten,
dass er für die Politik – als Kunde – funktioniert.
Zweitens ist das Geschäft mit Flugzeugen und Waffen strukturell ein ganz anderes.
Man braucht unfassbare Investments in technische Entwicklung, die sich teilweise
nur mit Milliardenunterstützung stemmen lassen. Bei solchen Milliardensummen
kann man dann auch fette Strukturen bauen, die mit Stäben und Räten und Vor-
ständen und Administration und Benefits und Firmenwagen und allem anderen
funktionieren, was die Politik kennt und wohl irgendwie händeln kann.
n=1
Drittens ist die Inspiration Airbus trügerisch, weil das Unternehmen meines
Wissens nach (?) das einzige politisch gewollte europaweite Konzernprojekt ist,
das überhaupt funktioniert. Und bei einer Stichprobe von n = 1 sollte man ja
bekanntlich immer sehr, sehr vorsichtig sein.
Internetkonzerne dagegen werden nur groß, wenn sie drei ganz andere Voraus-
setzungen erfüllen:
An Politiker, die einen europäischen Internetgroßkonzern fordern 31
Zunächst mal müssen sie bei Millionen Menschen in möglichst vielen Ländern
auf der ganzen Welt gut ankommen. Und diese sind in der alles überwältigenden
Mehrheit keine Politiker. Wie man ein Produkt an Millionen Menschen auf der
ganzen Welt erfolgreich vermarktet, weiß kaum ein Politiker.
Zweitens entstehen sie nur dann, wenn Menschen, die die entsprechenden Talente
besitzen – unterstützt von anderen Menschen, die über entsprechende Finanzmit-
tel verfügen – aus eigener Initiative heraus so hart an dem Projekt arbeiten, wie
sie es nur tun, wenn sie es als ihr ureigenes Projekt begreifen. Ein Projekt, wel-
ches sie mit enormer Energie, mit Schweiß, Erschöpfung und Tränen zu einem
Erfolg führen können, der die Welt verändern kann und der dann ihr ganz eigener
Erfolg ist. Diese Projekte sind zwangsläufig immer eine Form von Ego-Vehikel.
Solche Gründer glauben daran, dass sie in einer Art Schicksalsgemeinschaft mit
einigen anderen Verrückten (ja, Verrückte müssen sie schon sein) eine Sache
schaffen, die vielleicht die Welt verändert (oder doch zumindest die Online-
Welt, und auf dem Weg dahin hoffentlich auch das eigene Bankkonto). Niemand
verausgabt sich derartig für eine Sache, weil sie von der Politik als volkswirt-
schaftlich wünschenswert befunden und womöglich subventioniert wird. Wer
Internetkonzerne baut, tut das, weil er sich großen Herausforderungen, dem glo-
balen Wettbewerb und einem ganz eigenen Arbeitsumfeld stellen will – um dort
einen ganz eigenen Erfolg zu erringen. Das allerletzte, was solche Leute wollen,
ist, sich mit Politikern zu treffen, um darüber zu debattieren, warum denn noch
immer nicht das deutsche Google entstanden ist.
Und drittens sind sie eben nicht auf Milliardeninvestments in unglaubliche tech-
nische Entwicklung angewiesen, sondern diese Firmen entstehen dort, wo sich
viele Millionen auf unzählige Beträge von $ 100.000 hier und $ 50.000 dort, und
2 Mio. da drüben verteilen, damit überall kleine ,,Pflanzen“ dieser Verrücktheit
blühen, aus der dann immer mal wieder und mit viel Glück ein globaler Super-
kracher wird.
32 M. Oetting
Thymian Bussemer
Notorisch wird das Internet als Reich der gedanklichen Freiheit beschrieben.
Dabei ähnelt es oft einer geistigen Strafkolonie. Denn regelmäßig schlägt die
Freiheit im Netz in Bedrängung, Gruppenzwang und Drangsalierung um. Es geht
in diesem Text um die dunkle Seite der digitalen Freiheit, um das Potenzial des
Netzes, aus der Anonymität heraus Massen-Erregungen zu erzeugen und diese in
zerstörerischer Art und Weise gegen einzelne Personen oder Institutionen zu rich-
ten. Und es geht um den Daten-Schatten, den wir mit jeder Bewegung im Netz
erzeugen und den wir auch dann nicht mehr loswerden, wenn er uns längst zur
Last geworden.
Bewusst sind uns diese Gefahren schon lange, doch im Zeitalter von voll ent-
falteten Social Media und Web 2.0 wird die Janusköpfigkeit des Netzes für jeden
offensichtlich: Das vermeintliche Reich der Freiheit und der herrschaftsfreien
Kommunikation lädt auch zu ungehemmter Triebabfuhr ein, was neue Typen von
Erregungsexzessen und Skandalisierungen mit sich bringt.
Deren Hauptkennzeichen: Man muss nicht mehr prominent oder sonst wie
hervorgetreten sein, um zum Opfer zu werden. Gleichzeitig wird – vor allem
getrieben von Big Data – die Kontrolle im Netz immer engmaschiger. Das Ergeb-
nis dieser Entwicklung ist paradox: Während die Vorhersagbarkeit unseres Ver-
haltens exponentiell zunimmt, zieht ein neues Zeitalter der Unsicherheit herauf.
T. Bussemer (*)
Leiter Personalstrategie und Nachhaltigkeit, Volkswagen AG, Wolfsburg, Deutschland
E-Mail: t.bussemer@gmx.de
„Ende des Zufalls“ und „Ende der Kontrolle“ – passt das zusammen?
Ganz offensichtlich ja. Liest man die beiden Bücher parallel, entsteht ein verwir-
rendes und dennoch gleichzeitig konsistentes Bild der dialektischen Veränderun-
gen an der Nahtstelle von interpersonaler und Massenkommunikation: Während
private Informationen im Zeitalter von Big Data zu Quellen der massenhaften
Datenaggregation und einem damit verbundenen neuen Typus der sozialtechni-
schen Steuerung werden, erfolgt gleichzeitig eine Privatisierung der früher den
professionellen Massenmedien vorbehaltenen Funktion der Öffentlichmachung
und Skandalisierung.
Das Ergebnis ist paradox. Auf der einen Seite wird alles vorhersagbar: in wel-
chem Stadtviertel und zu welcher Uhrzeit vermutlich ein Einbruch geschieht,
wann und für wie lange eine dem eigenen Befinden nach gesunde Person zu
einem bestimmten Zeitpunkt der Zukunft ins Krankenhaus muss, wer wo und in
welcher Hotelklasse Urlaub machen wird, obwohl er noch gar nicht gebucht hat –
Big Data macht durch statistische Korrelation erstaunlich zuverlässige Aussagen
über unser zukünftiges Verhalten und markiert damit den Beginn eines Zeitalters
der vollständigen Vermessung des Menschen.
Auf der anderen Seite gibt es, was die Zirkulation von Daten über uns angeht,
einen beinahe totalen Kontrollverlust, der dann doch wieder in das Reich des
Zufalls verweist: auf was für Fotos wir zufällig mit wem getaggt werden, in
1Pörksen, Bernhard und Detel, Hanne (2012): Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kont-
rolle im digitalen Zeitalter, Köln.
2Klausnitzer, Rudi (2013): Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vor-
das heute journal immer noch ein verbindendes Moment, das die Nation als Dis-
kursraum zusammenhält, doch daneben existiert eine unüberschaubare Varietät
von special interest-Öffentlichkeiten.
Diese Diversifizierung sowie die damit einhergehende Globalisierung von
gesellschaftlicher Kommunikation machen die zentrale Nachrichtenlenkung, die
Unterdrückung von Informationen und die Gleichschaltung der veröffentlichten
Meinung zunehmend schwierig. Die Unmöglichkeit der Verhängung von Infor-
mationsquarantänen stellt Diktaturen heute vor allem aufgrund der Reichweite
der elektronischen Medien vor große Probleme. Das ist die positive Seite.
Die negative Seite ist, dass die heute eben immer seltener von professionellen
Journalisten für das Publikum anwaltschaftlich betreuten Medienforen im Inter-
net nicht mehr nach Relevanz-, sondern nur noch nach Aufmerksamkeitskriterien
funktionieren. Und da die self-made-Publizistik im Netz in einem Spannungs-
und auch Konkurrenzverhältnis zum professionellen Journalismus steht, was zur
Folge hat, dass dieser die Blogosphäre zwar stets argwöhnisch beobachtet, gele-
gentlich aber auch dreist imitiert, kommt es quasi durch die Hintertür zu einer
Verschiebung des gesamten Gefüges.
Medienkommunikation wird strukturlos, dem öffentlichen Diskurs im Internet
fehlen die Filter in Gestalt der Gatekeeper, die Diskursmoderatoren, und auch die
zur Mäßigung mahnenden Stimmen sind ihm abhanden gekommen. Dort, wo pro-
fessionelle Medien noch in Debatten eingreifen und diese strukturieren, werden
sie immer häufiger zu reinen Verstärkern der digitalen Erregung, zu Resonanzräu-
men für Themen und Wertungen, die Trolls, Blogger oder Netzaktivisten in den
Diskurs eingespeist haben.
Beobachtet werden kann diese Veränderung der Medienkultur vor allem am Bei-
spiel von Skandalen, deren Auslöser, Verlaufsformen und Folgen sich im Online-
Zeitalter massiv transformiert haben. Die beinahe epidemische Zunahme von
Skandalen ist ohnehin eines der markantesten Kennzeichen hoch beschleunigter
Mediengesellschaften.
Im Digitalzeitalter kommt noch eine qualitative Veränderung hinzu: Frü-
her hatte ein Skandal fast immer mit dem Fehltritt einer hochgestellten oder
bekannten Persönlichkeit zu tun, meist wurden entlang von ihm zentrale Werte
und Anschauungen einer Gesellschaft neu verhandelt. Heute dagegen kann es
jeden treffen, und es geht auch nicht mehr darum, ob ein Tabubruch vorliegt oder
Überwachung und Exzess 37
moralische Grenzen neu vermessen werden, sondern nur noch um die Frage,
welches Erregungs- und auch Delektierungspotenzial ein Skandal bietet.
Ein diachroner Blick auf drei selektiv ausgewählte Skandaltypen soll dies ver-
deutlichen.
(1)
Den Jenninger-Skandal von 1988 kann mal als klassischen Moral-Skandal des
alt-bundesrepublikanischen Feuilletons lesen.
Im November 1988 hielt der damalige Bundestagspräsident Philipp Jennin-
ger zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome im Bundestag eine Rede, deren
Leitmotiv die Frage war, was die Anziehungskraft des Nationalsozialismus aus-
gemacht hatte und wer der heute Lebenden dieser wohl zu widerstehen gewusst
hätte. Jenninger zufolge stellte sich für die Deutschen zur Zeit der sogenannten
Reichskristallnacht
nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss viel-
leicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging
einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar
wieder groß, ja, größer und mächtiger als je zuvor. – Hatten nicht eben erst die Füh-
rer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung
gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge
verholfen? Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit
doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals –, die ihnen nicht zukam? Mussten
sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht viel-
leicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Ent-
sprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden
Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und
Überzeugungen?3.
3http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/jenninger_rede/jenninger_rede.
pdf.
38 T. Bussemer
Weise deutlich: Er übernahm ganze Passagen aus Jenningers Rede in seine eigenen
Texte – und niemand nahm daran Anstoß.
In der alten Bundesrepublik gab es zahlreiche weitere vermeintliche NS-
Skandale, die ähnlichen Popularisierungsmustern wie der Fall Jenninger folg-
ten. Dazu zählen die von Frank Schirrmacher kunstvoll in der F. A. Z. inszenierte
Walser-Bubis-Debatte und, Jahre später, die Enthüllung, dass die linksliberalen
Intellektuellen Günter Grass und Walter Jens in ihren Jugendjahren Mitglied in
NS-Organisationen gewesen waren.
Stets wurde der mediale Sturm effektvoll in Szene gesetzt, ebbte aber bald
wieder ab.
(2)
Neben diesen Typ des klassischen politisch-moralischen Skandals traten schon im
Vor-Internet-Zeitalter und ungefähr parallel zur Durchsetzung des Privatfernse-
hens neue Formen der Skandalisierung, in deren Zentrum immer seltener Politi-
ker und politische Vorgänge standen. Nicht mehr das hohe Amt war entscheidend,
um Objekt eines Skandals zu werden, sondern ein besonderes Verhalten oder
Geschehen, welches es den Medien erlaubte, Aufmerksamkeitsexzesse zu insze-
nieren um die Medienkonsumenten zu starker emotionaler Involvierung – ganz
gleich, ob zustimmender oder ablehnender Art – einzuladen.
Es entwickelte sich ein Muster der emotionalen Vereinnahmung, das bis heute
auch die Erregung in den Social-Media-Welten leitet. „Gefühlsjournalismus“
nannte der Autor Roland Kirbach diesen neuen Blick auf Menschen und ihre per-
sönlichen Kalamitäten in der Zeit 4 und meinte damit ein Inszenierungsmuster,
das auf die ständige Steigerung menschlicher Dramatik aus ist, auch hoch politi-
sche Situationen nur unter dem Gesichtspunkt von persönlichem Sieg oder Nie-
derlage interpretiert und mittlerweile das Muster für fast jede Art der
Medienproduktion abgibt.
Als Beispiel führte Kirbach die Quizshows im Fernsehen an: Während zu den
Zeiten des Alt-Entertainers Hans-Joachim Kulenkampff die Bewunderung für
den „enzyklopädischen Alleswisser“ im Mittelpunkt des Spannungsbogens einer
Show stand, seien diese Sendungen heute so inszeniert, dass sich vor allem der
Stress der Situation, die enorme Anspannung der Kandidaten auf die Zuschauer
übertrage, die diesen Kitzel wohlig erschauernd und oft mit besserwisserischer
Attitüde auf dem heimischen Sofa goutieren.
4RolandKirbach (2005): Zum Abschuss freigegeben; in: Die Zeit Nr. 24 vom 9.6. http://
www.zeit.de/2005/24/Medienopfer.
Überwachung und Exzess 39
Ein Volk von Voyeuren ist so herangezogen worden, das vor allem eines sehen will:
Sieger und Verlierer. Und ein Heer von Exhibitionisten stellt sich nur zu gern zur
Verfügung. Geltungsbedürfnis, der Wunsch, wenigstens für einige Momente promi-
nent zu sein, drängen den ‚kleinen Mann‘ vor die Kamera – und sei es als Loser
oder Taugenichts.5
(3)
Mit dieser Analyse sind die Funktionsmuster des heutigen Social-Media-Skandals
schon gut beschrieben, denn genau dieser Mechanismus ist es, der auch den Auf-
merksamkeitsexzess im Netz leitet.
Gewöhnliche Menschen können im Zeitalter allgegenwärtiger Publizität
wegen kleiner Verfehlungen oder Peinlichkeiten so stigmatisiert werden, dass
ihnen danach kein normales Leben mehr möglich ist. Das hat vor allem mit der
Windeseile zu tun, mit der sich heute Gerüchte und auch Klatsch über den Globus
verbreiten.
5RolandKirbach (2005): Zum Abschuss freigegeben; in: Die Zeit Nr. 24 vom 9.6. http://
www.zeit.de/2005/24/Medienopfer.
40 T. Bussemer
Weltweite Berühmtheit hat im Jahr 2005 das so genannte „Dog Shit Girl“
durch die Mutter aller Shitstorms erlangt. Es handelte sich dabei um eine junge
Koreanerin, deren kleiner Hund einen U-Bahn-Zug voll kotete. Die Koreanerin
weigerte sich auch nach der Aufforderung durch andere Fahrgäste, den Kot zu
entfernen. Ein Passagier machte daraufhin Fotos von ihr und dem Hund und
stellte diese auf eine viel besuchte koreanische Web-Site. Von dieser wurden die
Bilder millionenfach heruntergeladen und weitergeleitet. Bald war die Hundebe-
sitzerin auch namentlich identifiziert und wurde als Dog Shit Girl zum Freiwild.
Auf der Straße wurde sie regelmäßig mit Müll beworfen, ein Unbekannter
schaffte es sogar, in ihre Wohnung einzudringen und die Badewanne mit Hunde-
kot zu füllen. Was das Dog Shit Girl heute macht und wo es lebt, ist nicht
bekannt.6
6Vgl.
Bergmann, Jens und Pörksen, Bernhard, Hg. (2009): Skandal. Die Macht öffentlicher
Empörung, Köln, S. 14 f.
Überwachung und Exzess 41
die das Setting prägende Virtualität scheinen das Aufbrechen kulturell erlernter
Scham- und Höflichkeitsregeln im Netz zu begünstigen.
Dieses mittlerweile beinahe omnipräsente Marodeurstum kann nicht ohne
Rückwirkung auf diejenigen bleiben, an die es meist gerichtet ist: Personen, die
sich beruflich in der Öffentlichkeit bewegen.
Ein öffentliches Amt zu bekleiden verlangt heute automatisch die Bereitschaft,
sich ununterbrochen einer Vielzahl von Schmähungen und Beleidigungen aus-
zusetzen. Wer zum Beispiel Spitzenpolitiker sein möchte, muss bei der Sichtung
seiner persönlichen Korrespondenz viel Langmut mitbringen. Denn was sich täg-
lich an Zuschriften in elektronischen und realen Postkörben findet, ist mit dem
Begriff Zumutung meist noch freundlich umschrieben.
Beschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen finden sich dort auch an
normalen Tagen gleich dutzendfach, nach besonderen Ereignissen kann die
Schmähkorrespondenz mit dem geballten Volksunmut leicht auf mehrere tau-
send Zuschriften anschwellen. An sich gut gemeinte Websites wie „Abgeordne-
tenwatch.de“ zwingen Parlamentarier, auch noch zu den obskursten politischen
Fragen Stellung zu nehmen, Paketsendungen, die gebrauchte Haarbürsten („Min-
destlohn“), verrostete Münzsammlungen („Euro-Krise“) oder schlicht Hausmüll
(„kommunale Gebühren“) enthalten, sind an der Tagesordnung. Das Verhältnis
von sinnvollen, die Regeln des Umgangs beachtenden Zuschriften zum bloßen
Kommunikationsschrott beträgt in der Regel 1:10.
Die Schamlosigkeit, mit der in Blogs, Online-Kommentaren und E-Mails
Politiker – ganz gleich, welcher Partei sie angehören – angegriffen und niederge-
macht werden, müsste eigentlich jedem Menschen mit ein bisschen Kinderstube
die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die Schmähungen beziehen sich auf alle
Teile des Politiker-Körpers, auf vermeintlich gemachte Aussagen (gerade nach
Fernsehsendungen stellt sich immer wieder heraus, dass die vom Volkszorn inkri-
minierten Sätze gar nicht gefallen sind), auf die persönlichen Lebensumstände
und natürlich auch auf die politische Verortung eines Amtsträgers. Da ist regelmä-
ßig von „endlich die hässliche Fresse operieren“ die Rede, Aufforderungen wie
„Maul halten“ sind noch höflich, und Hinweise darauf, dass sich die Privatadresse
„leicht herausfinden“ lässt, absolut normal.
Es handelt sich bei dieser Art der Kommunikation nicht um bewusste, ratio-
nale Einflussnahme auf politische Willensbildungsprozesse – die gibt es auch –,
sondern um psychopathologische Aussetzer, die ein Ventil suchen.
Besonders intensiv werden derartige Diffamierungen nach großen Fernsehauf-
tritten. Offenbar verschaffen sich nicht unerhebliche Teile des Fernsehpublikums
dadurch Triebabfuhr, dass sie sich direkt nach der Sendung an den Rechner setzen,
um dort in E-Mails so richtig Luft abzulassen. Regelmäßig setzen die Verfasser
42 T. Bussemer
Es ist üblich geworden, Menschen die in irgendeiner Form aus dem Brei der (Netz-)
Menschen herausstechen, anzugreifen. Jede sichtbare Person wird bekämpft, belei-
digt und beschimpft.
Die hier kurz durchmusterten Phänomene zeigen: Die Öffentlichkeit ist seit eini-
gen Jahren in einem rauschhaften Zustand, und die Droge der universellen Ver-
netzung tut ihr nicht gut. Zeit zum Nachdenken bleibt kaum noch, denn eine
Erregungswelle jagt die nächste, und jeder hat die Chance, daran teilzuhaben,
indem er einen Skandal anprangert oder einen Shitstorm entfacht.
Die Doppelbewegung, die jede anklagende, verleumdende oder desinformie-
rende Äußerung im Internet mit sich bringt, ist dabei den wenigsten Menschen
bewusst: Denn wer im Netz pöbelt, trifft nicht nur denjenigen, auf den er zielt,
sondern verrät auch Dinge über sich selbst. Dem Reich der scheinbar grenzen-
losen Freiheit, das zur vermeintlich folgenlosen Triebabfuhr einlädt, steht eine
immer rigidere und perfektioniertere Kontrolle gegenüber, die auch das prekäre
Anonymitätsversprechen von temporären E-Mail-Adressen und tarnenden User-
Namen zur Farce werden lässt.
Der Schatten, den unsere eigenen Daten werfen, ist viel länger als wir es ver-
muten. Ob dies freilich zu Verhaltensänderungen führt, bleibt abzuwarten.
Hoffnung sollten wir eher darauf setzen, dass das Spiel beginnt, langweilig zu
werden: Wie Skandalisierungen funktionieren, wird im Big-Data-Zeitalter immer
44 T. Bussemer
leichter voraussagbar. Und nur noch, wen es dann trifft, liegt außer dem Bereich
der Kontrolle.
Gleichzeitig werden die uns umgebenden Erregungswellen immer faden-
scheiniger, ihre Folgenlosigkeit mit jedem Mal offensichtlicher. Denn wenn ein
Shitstorm auch vorgibt, einen Missstand anzuprangern und damit ein politisches
Instrument zu sein: in der Regel verändert er nicht die Welt, sondern beschädigt
nur die Reputation einer Person oder Organisation.
Auch das kann ein politischer Akt sein, doch nachhaltig ist dieser in den sel-
tensten Fällen. Eine echte Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist viel
komplizierter als das berühmte „click here to safe everything“, es suggeriert und
verlangt zumindest ein duales Vorgehen in Netz- und realer Lebenswelt. Wenn die
Verbesserung der Welt per Knopfdruck steuerbar wäre, würden wir in anderen
Verhältnissen leben.
Bleibt noch die Frage der Moral.
Zunehmend regt sich im Netz so etwas wie schlechtes Gewissen. Dass hinter
der Belustigung, Empörung und Erregung menschliche Schicksale stehen, spricht
sich in dem Maße herum, in dem immer mehr Menschen von Skandalisierung
betroffen sind. Auch dies trägt dazu bei, dass der Rausch der Vernetzung verfliegt.
Es ist an der Zeit für das Umschalten von Resonanz auf Relevanz. Barack
Obama hat am 13. Januar 2011 bei der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs
von Tucson einen bemerkenswerten Satz gesagt: „In Zeiten eines sehr polarisier-
ten Diskurses sollten wir wieder in einer Art und Weise miteinander reden, die
heilt und nicht verletzt. Ich bin überzeugt, wir können es besser.“7
URL: http://www.carta.info/72138/uberwachung-und-exzess/ vom 27. April
2014.
7Pörksen, Bernhard und Detel, Hanne (2012): Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kont-
rolle im digitalen Zeitalter, Köln.
Konturen einer Konter-Revolution:
Krieg der Daten gegen die
Kommunikation
Felix Stalder
PRISM, XKeyscore und kein Ende in Sicht. Seit dem wir den Überwachungs-
programmen ins Gesicht sehen, lässt es sich nicht mehr leugnen: Die Internet-
Revolution befindet sich in ihrer konterrevolutionären Phase. Es ist ein Krieg der
Daten gegen die Kommunikation.
In den 1990er Jahren trat eine Internetrevolution an, um durch Dezentralisie-
rung, Kooperation und Transparenz neue Möglichkeiten individueller und kollek-
tiver Autonomie zu schaffen. Heute nehmen Bestrebungen Überhand, die eben
gewonnene Freiheit durch neu ausgerichtete Kontrollmechanismen wieder einzu-
fangen und zu neutralisieren. Standen in der ersten Phase die Möglichkeiten der
Kommunikation im Fokus, sind es in der zweiten Phase das Sammeln und Aus-
werten von Daten.
Es ist eine Eigenart digitaler Technologie, dass jede Handlung, die wir durch
sie und mit ihr ausführen, gleichzeitig auf zwei Ebenen stattfindet, auf der men-
schenlesbaren Ebene der Kommunikation und der maschinenlesbaren Ebene der
Daten. Auch wenn Kommunikation und Daten gemeinsam entstehen, könnten
ihre sozialen Möglichkeiten kaum unterschiedlicher sein. Vereinfacht gesagt:
Kommunikation ist der sinnhafte Austausch zwischen Menschen, ausgerichtet auf
Verständigung. Dabei sollten die Formen und Inhalte nicht übermäßig standardi-
siert sein. Sie sollten Unerwartetes, Abweichendes, Einmaliges enthalten, denn
werden sie zu formelhaft, schwindet die Aufmerksamkeit und die Kommunika-
tion bricht ab.
F. Stalder (*)
Wien, Österreich
E-Mail: felix@openflows.com
Der Austausch hat auch immer ein horizontales Moment. Eine Person spricht
mit einer anderen. Auch wenn Kommunikation in allerlei hierarchische und ver-
mittelnde Instanzen eingebaut ist, so versuchen doch immer Sprecher Zuhörer zu
erreichen. Das macht sie im Kern offen. Der Sprecher muss sich zumindest über-
zeugen können, dass der Zuhörer auch zuhört, und das macht diesen, im Ansatz,
selbst zum Sprecher. Kommunikation also ist im Ansatz transparent. Der Zuhörer
muss verstehen, was der Sprecher sagt. Die kommunizierenden Akteure müssen
sich irgendwie begegnen, was aber auch zu Konflikten führen kann. Entsprechend
ist gute Kommunikation immer plural und dezentral. Auch unter den Bedingun-
gen der Massenmedien ist Vielfalt ein hohes Gut, das wesentlich zur Qualität der
gesellschaftlichen Kommunikation beiträgt.
In der ersten Phase des Internets wurden nun alle diese Eigenschaften der Kom-
munikation extrem erweitert. Die neuen Technologien ermöglichten es, horizon-
tale, dezentrale, offene und transparente Kommunikationsformen im einen noch
nie da gewesenen Umfang zu realisieren. Neue Organisationsformen entstanden,
die sich durch Freiwilligkeit und Partizipation auszeichneten, auf Basis umfassen-
der, für alle zugänglicher, meist archivierter und damit referenzierbarer Kommu-
nikationsflüsse.
Flexible, einbeziehende, offene Strukturen, die bisher nur in kleinen Grup-
pen funktionierten, wurden auf viel größere übertragen. Die „Community“ – eine
Gruppe Gleichgesinnter die sich freiwillig zusammenschließt, um kollektiv zu
handeln – wurde der Leitbegriff dieser Phase. Communities schufen Freie Soft-
ware, Wikipedia, die Remix-Kultur, die Occupy-Bewegung und unzählige neue
Räume kollektiven Handelns, quer durch das ganze gesellschaftliche Spektrum.
Daten sind anders. Sie sind, wieder etwas vereinfacht, die Domäne der
Maschinen. Dazu müssen sie hochgradig standardisiert sein. Widersprüchlichkei-
ten und Abweichungen sowie inkompatible Klassifikationen und Formatierungen
müssen unter allen Umständen vermieden werden. Der Wert der Daten liegt in
ihrer Einheitlichkeit, nur dadurch können sie analysiert werden. Daten sind ihrem
Wesen nach vertikal. Sie entstehen auf einer anderen Ebene als die Ereignisse, die
sie hervorbringen.
Bei jedem Telefongespräch fallen beim Netzanbieter Daten an – wer mit wem
spricht, wo die Personen sich aufhalten, wie lange das Gespräch dauert und so
weiter -, unabhängig vom Inhalt des Gesprächs und ohne Zutun der Telefonieren-
den. Das macht es überaus einfach, die Daten unter Verschluss zu halten, denn sie
Konturen einer Konter-Revolution: Krieg der Daten gegen … 47
entstehen unsichtbar für die Handelnden. Was danach mit ihnen geschieht, wie
sie ausgewertet werden, das steht in keiner für den Einzelnen nachvollziehbaren
Verbindung zu seinem eigenen Tun.
Datensätze gewinnen mit zunehmender Größe an Wert. Das löst eine starke Ten-
denz der Zentralisierung aus, zumal es komplex und teuer ist, riesige Datenmen-
gen zu verwalten. Es ist eine Eigenart digitaler Daten, dass sie problemlos ihren
Aggregatzustand wechseln können. Mussten wir einst Karten in verschiedenen
Maßstäben kaufen, die jeweils fixe Sichtweisen boten, können wir heute bruchlos
von der galaktischen Perspektive auf den gesamten Planeten zum „Street View“
auf einzelne Gassen zoomen. Datenzentralisierung und Aggregation bedeuten
heute nicht mehr Informationsverlust, sondern freies Skalieren von einer Sicht-
weise zur anderen. Insofern sind mehr Daten immer besser als weniger Daten. Es
gibt keine natürliche Grenze der Sammelwut.
Das Symbol dieser zweiten Phase ist nicht mehr die Community, sondern
das Datencenter – eine Blackbox mit industriellen Dimensionen, kapitalinten-
siv, komplex und opak. Das Datencenter brachte die Cloud hervor, in der unsere
Daten verschwinden, um allgegenwärtig zu werden; die Personalisierung, die uns
verspricht, den Kommunikationsüberfluss in den Griff zu bekommen; es ermög-
licht das ,,Profil“, das zunehmend bestimmt, wie wir uns durch Welt (offline und
online) bewegen können, und es brachte den ,,großen Bruder“ zurück, jene all-
wissende Obrigkeit, von der wir glaubten, wir hätten sie hinter uns gelassen.
Aus großen Datenbeständen lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die auf der
Ebene der Kommunikation gar nicht existieren. Es lassen sich Muster erkennen
und Wahrscheinlichkeiten zukünftigen Handelns ermitteln. Darauf werden Stra-
tegien aufgebaut, um diese Wahrscheinlichkeiten zu manipulieren. Das können
freundliche, unterstützende Eingriffe sein, die dem Nutzer jene Dinge, die er von
sich aus machen möchte, erleichtern und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
dass sie gelingen. Das können aber auch repressive Eingriffe sein, die es den
Menschen schwerer machen oder sie gar daran hindern, ihre Pläne umzusetzen.
48 F. Stalder
Repression ist aber die Ausnahme. Mit großen, gut organisierten Datenmengen
lassen sich Menschen steuern, ohne dass ihnen diese Steuerung bewusst wird.
Die Polizei wird nur im Notfall, wenn alles andere versagt hat, losgeschickt. Die
Daten bieten die Grundlage dafür, die Umgebung, in der Menschen handeln, vor-
zustrukturieren, bevor sie handeln. Dadurch wird der Eindruck der individuellen
Freiheit erhalten, obwohl die Freiheit nur noch darin besteht, aus Optionen auszu-
wählen, die ein anderer aus eigennützigen Motiven bereitgestellt hat. Amazon, der
große Onlinehändler, wird nie ein Buch empfehlen, das er nicht im Angebot hat.
In der Folge entsteht ein neues Machtgefälle zwischen denen, die Zugang zu
den Daten und damit den entsprechenden Wissensvorsprung besitzen, und denen,
die auf der Ebene der Kommunikation verharren müssen. Unterm Strich kommt
heraus, dass zwar die Kommunikationsmöglichkeiten extrem ausgeweitet wurden,
Kommunikation als solche aber an Bedeutung verliert. Sie dient zunehmend nur
noch als Anreiz, Daten zu produzieren. Facebook interessiert sich nicht für Kom-
munikation. Wäre Facebook nicht um sein Image besorgt, würde es sich aus dem,
worüber und wie sich seine Nutzer unterhalten, ganz heraushalten. Denn egal was
ausgetauscht wird, alles generiert verwertbare Daten.
Die Gewichtsverschiebung von der Kommunikation zu den Daten ist keines-
wegs auf das Internet beschränkt. In unseren zunehmend postdemokratischen
Gesellschaften kommuniziert Macht nicht mehr, sie managt, möglichst ohne
wahrgenommen zu werden. Und wenn sie spricht, spricht sie am liebsten in Zah-
len. Das folgenreichste Projekt der EU im letzten Jahrzehnt ist eine Zahl: 3 %
Obergrenze bei der Neuverschuldung.
Um an dieser Situation etwas zu ändern, müssen wir uns nicht nur Gedanken über
neue Gesetze, sondern auch über Strukturen machen, die der Kommunikation
wieder Gewicht verleihen. Grundsätzlich müssen wir dahin kommen, dass zent-
ral gesammelte Daten offengelegt werden, damit die Gesellschaft als Ganzes von
den Erkenntnissen, die sich daraus gewinnen lassen, profitieren kann. Daten, die
nicht offen sein sollten, weil sie etwa die Privatsphäre betreffen, sollten möglichst
dezentral verwaltet werden.
Konturen einer Konter-Revolution: Krieg der Daten gegen … 49
David Schraven
In den vergangenen Jahren ist ein Streit eskaliert. Ein Streit, der uns alle betrifft.
Es geht um die Freiheit der Presse, um die Freiheit der Information und damit um
die Entwicklung unserer Demokratie. Es geht darum, wie viel wir wissen dürfen.
Der Streit begann unmerklich. Angeregt durch Beispiele in anderen Ländern,
wie Schweden oder den USA, wurden in Deutschland Informationsfreiheitsrechte
geschaffen, im Bund und in den Ländern. Bürger durften nun in Akten schauen,
um sich aus erster Hand über Bauprojekte und Umweltsünden zu informieren.
Eine unbemerkte demokratische Revolution. Das deutsche Prinzip des Amts-
geheimnisses wurde in das Gegenteil gekehrt. Grundsätzlich ist nun nicht mehr
alles geheim, sondern öffentlich. Nicht mehr Minister und Oberbürgermeister –
sprich: „die da oben“ – dürfen bestimmen, wer etwas wissen darf. Sondern jeder
Bürger – sprich: „die da unten“ – haben die Macht über die Informationen in den
Amtsstuben.
Die Idee dahinter ist so schlicht wie demokratisch. Aufgeklärte Menschen sol-
len über ihre Geschicke bestimmen dürfen.
Die Änderung des Prinzips vollzog sich schleichend. Nur selten schauten Bür-
ger und Journalisten in die Unterlagen der Ämter – zu gewohnt waren alle daran,
dass „die da oben“ das Wissen kontrollieren. Dennoch entstand eine Bewegung.
D. Schraven (*)
Essen, Deutschland
E-Mail: david.schraven@correctiv.org
Eine kleine, schwache Bewegung, die selbst kaum verstand, was sich wirklich
abspielte. Mithilfe von Anträgen und punktuellen Klagen, mithilfe von Schulun-
gen und Tipps gelang es immer häufiger, Informationen zu beschaffen, die politi-
sche Entscheidungen beeinflussten.
Doch in all ihrer Unsicherheit erkannte die Bewegung nicht, dass in den
Ministerien und Ämtern eine Gegenbewegung entstand. Getragen von Politikern
und Verwaltungsbeamten, die nicht wollen, dass ihre Entscheidungen von außen
beeinflusst werden.
Es ist eine Gegenbewegung, die Macht hat, die auf Zeit spielt. Die über gren-
zenlose Finanzressourcen verfügt. Die sich die besten Anwälte leisten kann. Eine
Gegenbewegung, die den alten Zustand verteidigt. Das Amtsgeheimnis. Sie will,
dass die Bürger grenzenloses Vertrauen schenken und nicht selbstbewusst Aufklä-
rung verlangen.
Diese Gegen-Aufklärung hat den Kampf vor einiger Zeit aufgenommen, weil
sie weiß, dass ihr mit der Macht über die Informationen die Deutungshoheit über
das Geschehen entgleitet. Wenn Informationen offengelegt werden müssen, kön-
nen Lügen bestraft werden. Dann funktionieren Halbwahrheiten, Auslassungen,
Verzerrungen, Kungeleien und Günstlingswirtschaft nicht mehr.
Transparenz bedeutet Kontrolle – auch Selbstkontrolle – weil jede Handlung
öffentlich werden kann.
Förderanträge, Bewilligungsbescheide, Auftragsvergaben und Handlungsemp-
fehlungen. Alles kann öffentlich werden – wenn jemand danach fragt.
Für die einen ist das gut: Korruption kann entdeckt werden.
Für die anderen ist das schlecht: Macht wird beschränkt.
Absurde Gesetzauslegungen
Wir stehen mitten in diesem Streit um mehr Transparenz. Er wird mit allen Mit-
teln geführt. Und es ist unklar, wie er ausgeht.
Im Jahr 2012 habe ich für die Funke-Mediengruppe die sogenannten „Afgha-
nistan-Papiere“ veröffentlicht. Mithilfe dieser als „VS – nur für den Dienst-
gebrauch“ gestempelten Unterlagen wurde der Verteidigungsausschuss des
Bundestages hinter verschlossener Tür wöchentlich über den Afghanistan-Krieg
informiert.
Die Papiere zeigten für jeden nachvollziehbar, dass uns jahrelang Märchen über
den Krieg erzählt wurden. In Afghanistan wurde nichts besser. Im Gegenteil: die
Lage hatte sich von Jahr zu Jahr verschlimmert. Schon zuvor waren Berichte erschie-
nen, in denen aus den Papieren zitiert wurde. Aber das Verteidigungsministerium
Geheimniskrämer: Warum wir uns sorgen 53
konnte seine Version der Wirklichkeit weiterverbreiten, weil niemand mithilfe der
Originaldokumente belegen konnte, wie weit die Version des Amtes von den Tatsa-
chen entfernt war. Das Verteidigungsministerium hatte die Deutungshoheit.
Dann veröffentlichten wir die Afghanistan-Papiere. Kurz darauf korrigierte das
Ministerium seine Version der Wirklichkeit.
Mich rief eine Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums an. Der zuständige
Minister damals: Thomas de Maizière, heute Innenminister. Die Mitarbeiterin
sagte, ich solle die Papiere aus dem Internet löschen. Sie schwieg eine Sekunde;
setzte neu an: Minister de Maizière wünsche dies.
Ich habe nichts gelöscht. Und die Funke-Mediengruppe auch nicht.
Dann hat uns das Ministerium einige Wochen später wegen Verletzung des Urhe-
berrechtes verklagt. Ein absurder Vorgang. Das Urheberecht ist dazu da, das
Recht des Einzelnen an seinem geistigen Eigentum zu schützen. Und nicht um
den Bürgern die Informationen vorzuenthalten, die in ihrem Namen erstellt und
von ihnen selbst bezahlt wurden. Die Afghanistan-Papiere sind zusammenge-
stoppelte Berichte von Beamten – keine Romane. Das ist ein wesentlicher Unter-
schied. Das eine erschafft der Einzelne. Das andere verfassen Staatsbeamte im
Auftrag der Bürger.
Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, mit dem Urheberrecht Veröffentlichun-
gen zu unterbinden. Hitlers „Mein Kampf“ etwa wurde nur von einem Menschen,
einem Urheber verfasst. Und deswegen konnte das Land Bayern in Deutschland
verhindern, dass das Pamphlet gedruckt wird, weil das Land das Urheberrecht an
„Mein Kampf“ geerbt hatte. In wenigen Monaten läuft nun das Urheberecht ab.
Und „Mein Kampf“ kann veröffentlicht werden. Die Afghanistan-Papiere nach
dem Wunsch des Verteidigungsministeriums nicht.
Ich saß im Gericht den ordensbehangenen Offizieren des Ministeriums gegen-
über. Ich habe mit dem Recht und der Pflicht der Presse argumentiert, die Men-
schen mithilfe von Originaldokumenten über die Wirklichkeit zu informieren.
Die Ordensträger wollten davon nichts hören. Sie wollen die Herrschaft über die
Informationen behalten. Sie verschanzen sich hinter ihrem absurden Urheber-
recht.
Der Fall geht jetzt vor den Bundesgerichtshof.
Und es gibt noch einen Fall, in den Thomas de Maizière verwickelt ist. Dies-
mal als Bundesinnenminister.
54 D. Schraven
Daniel Drepper trieb vor einigen Jahren mit Niklas Schenck eine Recherche
für mein Ressort bei der Funke-Mediengruppe voran. Wir wollten wissen, wie die
deutsche Sportförderung tatsächlich aussieht. Ob gemauschelt und getrickst wird?
Daniel und Niklas beantragten Akteneinsicht beim Innenministerium.
Diesen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz hat das Ministerium
damals in 66 einzelne Anträge aufgespaltet und dafür mehr als 14.000 € an
Gebühren in Rechnung gestellt.
Mithilfe der Gebühren sollte nicht nur das Informationsinteresse von Daniel
und Niklas abgewürgt werden. Es ging darum, andere Nachfrager abzuschrecken.
Daniel hat mithilfe des Deutschen Journalisten Verbandes gegen die Gebühren
geklagt.
Er hat vor dem Verwaltungsgericht Berlin und dem Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg gewonnen.
Die Gebühren waren unrechtmäßig.
Doch das ignoriert das Ministerium. Es ist vor das Bundesverwaltungsgericht
in Leipzig gezogen. Das Ministerium weiß, dass es verliert. Doch wer hat schon
das Geld, ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zu bezahlen. Kaum
jemand.
Was riskiert das Ministerium? Nichts. Es gewinnt in jedem Fall Zeit. Und alle
lernen, wer Informationen will, muss sich auf einen langen Rechtsstreit auf Basis
einer absurden Gebührenrechnung einrichten. Die Abschreckung von Thomas de
Maizière wirkt.
Nicht nur das Urheberrecht wird benutzt, um der Öffentlichkeit die Einsicht in
Akten so schwer wie möglich zu machen. Auch das Geld der Bürger wird miss-
braucht, um Transparenz zu verhindern.
Groteske Schwärzungen
Aber das ist nicht alles. Das Innenministerium von Thomas de Maizière hat sei-
nerzeit Teile Sportakten entfernt, andere waren geschwärzt. Häufig berief sich
das Ministerium dabei auf angebliche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der
zu großen Teilen mit Steuergeld geförderten Sportverbände, die geschützt werden
müssten.
In einem Fall, bei der Deutschen Eisschnelllaufgemeinschaft, haben wir diese
Schwärzungen stellvertretend angegriffen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat uns
teilweise Recht gegeben. Das Ministerium legte Berufung ein, die vom Ober-
verwaltungsgericht zurückgewiesen worden ist. Noch während der Verhandlung
Geheimniskrämer: Warum wir uns sorgen 55
kündigte das Ministerium an, auf jeden Fall in Revision gehen zu wollen – wie-
der vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.
Es ist das Gleiche. Das Ministerium von Thomas de Maizière riskiert mit der
abenteuerlichen juristischen Begründung eines potenziellen Betriebsgeheimnis-
bruchs das Geld der Bürger in einem aussichtslosen Rechtsstreit.
Eine Szene vor Gericht war besonders bezeichnend: Ein Vertreter des Ministe-
riums fragte: „Muss so was denn wirklich veröffentlicht werden?“ Die Richterin
antwortete: „Sie haben da einen ganz falschen Denkansatz. Es geht hier um die
Frage: Darf so etwas überhaupt geheim gehalten werden? Erst einmal ist nämlich
alles öffentlich. Und alle Ausnahmen von der Veröffentlichung müssen sehr gut
begründet und ganz eng ausgelegt werden.“
Auch unser Datenjournalist Stefan Wehrmeyer hat die intransparente Haltung
des Innenministeriums schon viele Male erlebt. Stefan hat die Seite fragdenstaat.
de gegründet, die es jedem Bürger ermöglicht, ganz einfach Anfragen an Behör-
den zu senden. Das Innenministerium akzeptiert seit einiger Zeit keine Anfragen
mehr von E-Mail-Adressen, die auf fragdenstaat.de enden. Sie ignorieren damit
die Transparenzwünsche der Bürger, gegen geltende Gesetze. Für die Bürger ist
es sehr schwer, dagegen anzukommen.
Selbst mit dem Urheberrecht versuchte das Innenministerium fragdenstaat.de
Probleme zu machen. Nachdem ein Bürger eine Stellungnahme zu einem Urteil
per IFG bekommen hatte, wollte die Behörde dem Bürger die Veröffentlichung
der Stellungnahme im Netz verbieten. Der Grund, erneut: Das Urheberrecht. Das
Innenministerium nahm sich die Kanzlei Redeker Sellner Dahs und mahnte frag-
denstaat.de ab. Vergeblich. Auch die Rechtsanwälte konnten nicht verhindern,
dass das Ministerium im Anschluss gleich mehrfach vor Gericht verlor. Erneut
war Steuergeld verschwendet worden, um einen unsinnigen juristischen Streit zu
führen.
Die Ministerien organisieren ihren Kampf gegen Transparenz seit einigen Jah-
ren untereinander. Regelmäßig trifft sich eine Gruppe Beamter, um Strategien
zur Abwehr von Anfragen zu diskutieren. Treffpunkt ist das Innenministerium.
„Wenn ein IFG-Antrag eines Journalisten vorliegt, sind alle einschlägigen Aus-
nahmegründe (…) zu prüfen“, zitierte vor zwei Jahren Zeit-Online aus den Pro-
tokollen. Nach der Veröffentlichung trafen sich die Beamten weiter, schrieben
danach jedoch nicht mehr mit. So kann die Abwehr von Transparenz nicht noch
einmal transparent gemacht werden.
56 D. Schraven
Die Geheimniskrämer
Ich kenne einen Minister, der Anordnungen auf kleine Klebezettel schreibt und
diese in seine Akten pappt. Warum? Sollte jemand in die Akten schauen wollen,
werden die Klebezettel aus den Akten entfernt. Damit niemand nachvollziehen
Geheimniskrämer: Warum wir uns sorgen 57
kann, was dieser Minister wann angewiesen hat. Dieser Mensch will keine Spu-
ren in den Dokumenten hinterlassen. Es scheint, als wolle er nicht zur Rechen-
schaft gezogen werden.
Es gibt sogar ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium, in denen die Aus-
kunftspflichtigen ihre Emails nicht mit Namen unterschreiben – anscheinend,
weil sie nicht für ihre Worte festgemacht werden wollen. Sie verstecken sich in
der Anonymität. Ihre Emails unterschreiben die Ministerialen namenlos mit: „Ihr
Pressereferat“. Selbst der Servicedienst der Telekom ist offener.
Der Streit um Transparenz lohnt sich.
1962 in der Spiegel-Affäre ging es um die Frage, was die Presse berichten
darf.
Der Streit war heftig und er wurde gewonnen.
Heute geht es um mehr. Es geht darum, was die Menschen wissen dürfen. Es
geht nicht um einzelne Berichte. Es geht um ganze Dokumente und Aktenberge,
die veröffentlicht werden.
Es geht darum, ob der Journalismus der Zukunft seine Behauptungen anhand
von Dokumenten beweisen darf; ob die Bürger sich selber ein Bild machen kön-
nen.
Es geht um die Frage: Wer hat die Deutungshoheit? Die Ämter? Oder die Bür-
ger?
Es ist eine Machtfrage. Und wir haben sie gestellt.
Der Autor ist Redakteur des Recherchezentrums correctiv.org. Die Redaktion
finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch:
Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie cor-
rectiv.org unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden
Sie unter correctiv.org
URL: https://correctiv.org/blog/auskunftsrechte/artikel/2015/08/30/pressefrei-
heit-warum-wir-uns-sorgen/ vom 30. August 2015.
Freiheit in den Zeiten der Statistik
Kai Biermann
Überwachung durch Geheimdienste ist nur eine der Bedrohungen der Bürger-
rechte. Der Versuch, mithilfe von Big Data Verhalten vorherzusagen, um Risiken
zu minimieren und Geld zu sparen, ist ebenso gefährlich: Menschen könnten sich
so ihrer Freiheit berauben.
Was hat Statistik, was haben Big Data und Algorithmen mit Freiheit zu tun?
Lassen Sie mich Ihnen dazu eine wahre Geschichte erzählen.
Target ist nach WalMart der zweitgrößte Discounteinzelhändler der USA.
Kleidung, Möbel, Spielzeug, Zahnpasta – dort gibt es alles und das möglichst
billig. Vor einiger Zeit kam ein wütender Mann in eine Target-Filiale außerhalb
von Minneapolis und wollte den Filialleiter sprechen. Er wedelte vor dessen
Nase mit Rabattgutscheinen herum und beschwerte sich: „Meine Tochter hat die
hier in ihrer Post gefunden. Sie ist noch in der Highschool, und Sie schicken Ihr
Rabattmarken für Babysachen und Kinderbetten? Wollen Sie sie etwa ermuntern,
schwanger zu werden?“
Der Filialleiter schaute sich die Gutscheine an, sie waren eindeutig an die
Tochter des Mannes adressiert und priesen unter anderem Schwangerschaftsmode
und Wickelkommoden an. Er entschuldigte sich wortreich für das Missverständ-
nis. Ein paar Tage später rief er noch einmal bei dem Vater an, weil er noch ein-
mal für den Ärger um Verzeihung bitten wollte. Zu seinem Erstaunen war der
Vater reichlich beschämt und sagte: „Ich hatte ein längeres Gespräch mit meiner
Tochter. Dabei musste ich feststellen, dass es Aktivitäten in meinem Haus gibt,
von denen ich keine Ahnung hatte. Sie wird im August ein Kind bekommen. Und
ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.“
K. Biermann (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: kai.biermann@neusprech.org
mit dem Ausdruck „Vorurteil“ bezeichnet und war gesellschaftlich geächtet. Mit
Big Data aber kann es missbraucht werden, können Vorurteile zum Standard
mutieren.
Target errechnet aus den Einkäufen seiner Kundinnen, ob diese schwanger
sind. Das Unternehmen vergleicht dazu das Einkaufsmuster einer Kundin mit den
Mustern, die es aus seinen Daten kennt und kann so mit hoher Wahrscheinlich-
keit errechnen, wann genau das Baby auf die Welt kommen wird. Sie sind nicht
nur ziemlich gut darin, den Geburtstermin zu treffen, sie wissen auch, in welchem
Abschnitt der Schwangerschaft die Eltern was kaufen. Warum das so ist, weiß das
Unternehmen nicht. Es ist ihm auch egal. Dass es so ist, genügt – um zu wissen,
wann welche Werbung eintreffen muss, um diesen bis dahin vielleicht noch unbe-
wussten Kaufwunsch auszunutzen.
Alles, was Target dazu braucht, sind Daten. Das Unternehmen versucht,
jeden Kunden, der in einen seiner Läden oder auf seine Website geht, eindeutig
zu markieren. Jeder bekommt eine sogenannte Gast-ID, eine Nummer, unter der
gespeichert wird, was dieser spezielle Kunde gekauft und getan hat. Was hat er
angesehen, was bezahlt, was bewusst ignoriert? Hat er mit Kreditkarte bezahlt
und mit welcher? Hat er einen Rabattcoupon benutzt und woher kam der? Hat
er sich beschwert und worüber? Auch Tageszeit und Wetter werden registriert.
Alles wird gespeichert. Target erweitert diese Kundenprofile um jeden Datensatz,
den der Konzern irgendwo kaufen oder bekommen kann. Alter, Familienstand,
geschätztes Einkommen, Wohnort, Automarke, Jobs, Ausbildung, Interessen,
politische Einstellungen – jede noch so kleine Information ist von Interesse.
Wenn Sie jetzt denken, solche Datensammlungen seien doch nur in den USA
möglich, dann sollten Sie einen kurzen Moment lang darüber nachdenken, wie
oft Sie bereits etwas bei Amazon bestellt haben. Oder bei Google. Oder bei
Apple. Oder was Facebook über Sie weiß. Jeder dieser Konzerne sammelt genau
wie Target alle Informationen über seine Kunden, die sich finden lassen. Und im
Internet sind das eine Menge – beispielsweise dank Cookies und dank der Brow-
serhistory, den Seiten also, die jemand zuvor im Netz besucht hat. Und auch in
Deutschland kann man viele demografische Daten kaufen, samt der dazu gehö-
renden Namen und Adressen.
Target nun durchsucht diese Daten, um eine ganz spezielle Zielgruppe zu
finden. Sie wollen Werbung an Frauen schicken, die im zweiten Drittel ihrer
Schwangerschaft sind – denn ihre Daten zeigen, dass das der Zeitpunkt ist, an
dem Eltern beginnen, Babyausstattung einzukaufen. Die einzelnen Informationen
wirken harmlos und ohne Zusammenhang. In der Masse jedoch, als Big Data,
zeigen sich darin Muster:
62 K. Biermann
Bei Amazon entstehen solche Profile jeden Tag, sie wachsen in den Daten.
Das weiß nicht nur Amazon, das wissen sicher auch staatliche Ermittler. Na und,
könnten Sie sagen, das ist doch etwas Gutes, es trifft doch die richtigen. Aber so
funktionieren Profile und Wahrscheinlichkeiten nicht. Auch Apotheker bestellen
Feinwaagen und Chemikalien.
Es geht um Ähnlichkeit. Ihr Verhalten wird mit dem Verhalten der Zielgruppe
verglichen und wenn es sich ähnelt, werden auch Sie zum Ziel, ob sie etwas
damit zu tun haben, oder nicht. Sie können es nicht verhindern, Sie können es
nicht beeinflussen, ja Sie erfahren es nicht einmal.
Noch ein drittes Beispiel: Robert McDaniel lebt in Chicago in der Community
Austin im Bezirk West Side, in einer Gegend, in der die Kriminalitätsrate hoch
ist. Er ist in seiner Jugend ein paar Mal verhaftet aber nie angeklagt worden. Nur
einmal wurde er verurteilt, wegen einer Ordnungswidrigkeit. Als im Juli 2013
eine Polizistin vor der Tür des 22-Jährigen stand, war er leicht verwirrt. Sie war
freundlich, aber eindeutig in ihrer Botschaft an McDaniel: Er solle besser schnell
sein Leben ändern oder er müsse die Konsequenzen tragen. Barbara West, so der
Name der Polizistin, gab ihm zu verstehen, dass sie viel über McDaniel wisse.
Beispielsweise, dass sein bester Freund im vergangenen Jahr ermordet worden
war. McDaniel drohe das gleiche Schicksal, wenn er nichts unternehme, sagte
sie ihm. Außerdem werde er bei dem kleinsten Vergehen mit maximaler Härte
bestraft werden – McDaniel war auf der sogenannten „Heat List“ gelandet.
West bezog ihre Informationen aus einer Datenbank der Polizei von Chicago.
Die nutzt Mathematik, um vorherzusagen, wer in nächster Zeit Opfer oder Täter
in einem Gewaltverbrechen wird und führt diese Namen in eben jener „Heat
List“. Ein Pilotprojekt, finanziert vom National Institute of Justice.
Für die Liste werden viele Informationen gesammelt: Demografie, Einkom-
men, Hauspreise und natürlich Polizeiberichte. Doch geht es dabei nicht einfach
um Wahrscheinlichkeiten. Die Polizei analysiert Netzwerke. Andrew Papachristos
hat das Verfahren entwickelt. Er ist Professor für Soziologie an der Universität
Yale. Er hatte beobachtet, dass die Opfer von Gewaltverbrechen in der Region
oft einen ähnlichen Hintergrund haben. Wenn man mit Leuten herumhängt,
die ins Gefängnis gehen, die erschossen werden, so seine Theorie, so teilt man
deren Haltungen und Verhaltensweisen und setzt sich also selbst dem Risiko aus,
Gewalt zum Opfer zu fallen, auch wenn man gar nicht kriminell ist. Das Verhal-
tensprofil ist entscheidend. Auf Basis dieser Analyse führt die Polizei von Chi-
cago 400 Menschen in ihrer „Heat List“ und besucht sie wie McDaniel. Einerseits
wird ihnen dabei gedroht, andererseits werden ihnen von der Stadt Angebote
gemacht, ihnen bei der Jobsuche oder bei der Suche nach sozialen Angeboten zu
helfen. Peitsche und Zuckerbrot – allein auf Basis von Statistik. Eine Art Sippen-
haft, denn die Betreffenden müssen wie gesagt selbst gar nicht kriminell sein.
64 K. Biermann
Und auch das gibt es in Deutschland. Wir nennen es nicht „Heat List“, son-
dern „Gefährder“. Das klingt nach Gefahr, nach bedrohlichen Leuten, und genau
das soll es auch, um von der Tatsache abzulenken, dass es hier um Wahrschein-
lichkeiten geht, nicht um Fakten. Denn damit sind Menschen gemeint, gegen die
es keine Beweise gibt, keine Anklage, kein Urteil. Sie gelten allein deswegen als
„Gefährder“, weil ihr Verhalten dem Verhaltensprofil von jenen ähnelt, die spä-
ter Terroristen wurden: zum Islam konvertiert, längere Zeit nach Pakistan oder
Afghanistan gereist, mit Terroristen bekannt oder Geld gesammelt für Unterstütz-
gruppen von Terroristen. Kriminelles getan haben müssen sie nichts. Trotzdem
wird allein aufgrund von Verhaltensprofilen gegen sie vorgegangen, sie werden
beobachtet, verfolgt, am Reisen gehindert.
Diese Art von „Gefahrenabwehr“ ist inzwischen Standard in Deutschland. Alle
Erweiterungen von Polizei- und Geheimdienstgesetzen der vergangenen zwanzig
Jahre beschäftigen sich vor allem damit: kein Risiko eingehen. Die Polizei Ham-
burg hat seit 1995 mehr als 50 Mal ganze „Gefahrengebiete“ in der Stadt ausge-
wiesen. Einziges Kriterium bei der Definition der Gefahr sind Verhaltensprofile,
nicht Straftaten. Das bisher letzte, im Januar 2014, führte zu heftigen Protesten.
Und die Polizei von Nordrhein-Westfalen hat gerade angekündigt, die Soft-
ware zu testen, mit der solche „Heat Lists“ erstellt werden. Sie will so die Zahl
der Einbrüche senken.
Statistische Vorhersagen aufgrund von Ähnlichkeiten und Mustern haben
beträchtliche Vorteile. Menschen können dank ihnen nicht nur künftige Risiken
verstehen, sondern auch die zugrunde liegenden Faktoren zu beeinflussen ver-
suchen und so unter Umständen erreichen, dass die entsprechenden Probleme
vielleicht nie eintreten. Damit lassen sich Gefahren verhindern, aber auch Waren-
kreisläufe effizienter machen. Es kann der Gesellschaft viel Geld und Leid spa-
ren.
Aber mit der Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, geht auch etwas zutiefst
menschliches verloren: Zukunft wird so nicht mehr als offen begriffen, Schicksal
nicht mehr als ungeschrieben. Es droht die Gefahr, dass jeder Mensch anhand der
Vorhersage seines Verhaltens beurteilt wird und nicht mehr danach, was er wirk-
lich tut. Noch bevor er oder sie handeln kann, sind er oder sie bereits schuldig
gesprochen und verurteilt.
Das erinnert manchen von Ihnen sicher an den Film „Minority Report“, in
dem eine „Pre-Crime“-Polizei Verbrecher festnimmt, bevor sie jemanden umbrin-
gen können. Das klingt erst einmal gut, es klingt wie ein Verbrechen ohne Opfer.
Doch das stimmt nicht. Es gibt ein Opfer, es ist der- oder diejenige, die festge-
nommen werden. Denn solche Vorhersagen aufgrund von Wahrscheinlichkeiten
und Korrelationen sprechen dem Fast-Täter den freien Willen ab, sich im letzten
Moment anders zu entscheiden. Sie entmündigen ihn und damit alle Menschen.
Freiheit in den Zeiten der Statistik 65
Und das nicht aufgrund seines oder ihres eigenen Verhaltens. Sondern weil
sein Verhalten so ähnlich aussieht wie das Verhalten von Menschen, die irgend-
wann zuvor die gleiche Tat begingen. Sieht so ähnlich aus… Es mag auf den ers-
ten Blick wie eine gute Idee wirken, mit der Analyse vergangener Dinge auf die
Zukunft zu schließen. Aber eigentlich ist es ein Schuldigsprechen aufgrund von
Dingen, die andere Menschen in einer ähnlichen Lage taten und nicht aufgrund
des individuellen Verhaltens.
Das ist nicht fair.
Es verweigert den Betroffenen die Freiheit, selbst zu bestimmen, wohin ihr
Weg sie führen soll. Es verhindert unter Umständen Risikobereitschaft und Neu-
gier. Menschen können nicht mehr unbeschwert nach vorn blicken, nicht mehr
ausprobieren, sich nicht mehr spontan anders entscheiden.
Seit dem Feudalismus war diese ureigene Freiheit des Menschen, selbstbe-
stimmt zu agieren, nicht mehr so gefährdet wie heute. Der Wille, immer genauere
Vorhersagen zu treffen, immer effizienter zu sein, immer mehr planen zu können,
führt dazu, dass immer mehr Daten gesammelt werden.
So entsteht Schritt für Schritt eine totale Überwachung aller Lebensbereiche.
Um das zu verhindern, braucht es neue Gesetze. So wie einst die Meinungs-
und Pressefreiheit in Verfassungen verankert wurde, muss nun festgeschrieben
werden, dass wir unabhängig von Vorhersagen und Vergleichen sein müssen.
Es braucht Transparenz und Aufklärung. Jedem muss klar sein und klar wer-
den können, was Wahrscheinlichkeiten sind, wie Profile entstehen, wie Algorith-
men wirken und welche Aussagen damit über einen Menschen und sein Verhalten
möglich sind.
Es braucht Kontrolle und Grenzen. Datenspeicherung lässt sich nicht mehr
verhindern, wenn jedes Gerät Daten sammelt. Das Verknüpfen von Daten, das
Bilden von Profilen aber kann kontrolliert werden.
Es braucht mehr Macht für den Einzelnen, und weniger Macht für die Staaten
und Konzerne. Recht und Technik müssen jedem Nutzer die Möglichkeit geben,
zu erkennen, was andere über ihn erfahren können und selbst zu bestimmen, ob
sie das auch erfahren sollen. Ohne solche Regeln wird es bald keine Freiheit mehr
geben, sondern nur noch Sklaven der Statistik.
Weiterführende Informationen
• Zeit Online 2014, „Das BKA will in die Zukunft sehen“ http://www.zeit.de/
digital/datenschutz/2014-03/bka-data-mining-predictive-policing.
• Zeit Online 2011, „Die Polizei als Hellseher“ http://www.zeit.de/digital/daten-
schutz/2011-08/predictive-policing.
66 K. Biermann
• American Civil Liberties Union 2014, “Chicago Police ‘Heat List’ Renews
Old Fears About Government Flagging and Tagging” https://www.aclu.org/
blog/technology-and-liberty/chicago-police-heat-list-renews-old-fears-about-
government-flagging-and.
• Viktor Mayer-Schönberger 2014, “Freiheit und Vorhersage”, Vortrag re:publica
https://www.youtube.com/watch?v=XRPFSbxybxs.
• Financial Times 2014, “Big data: are we making a big mistake?” http://www.
ft.com/cms/s/2/21a6e7d8-b479-11e3-a09a-00144feabdc0.html#axzz2xS1VXiUc.
Sebastian Leuschner
„Ich surfe, also bin ich.“ Das ist nach der Internet-Milieu-Studie des Deutschen
Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet das neue Credo der sogenann-
ten Digital Natives, die bereits jetzt 44 % der Bevölkerung ausmachen und sinn-
bildlich für die wachsende Bedeutung des Internets in der Lebensgestaltung der
Menschen stehen. Auch das Verfassungsrecht reagiert auf diese Entwicklung:
Bereits garantierte oder sich abzeichnende Grundrechte wie etwa die auf die Inte-
grität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, auf Internetzugang
und dauerhaft hohe Verfügbarkeit, auf Vergessen, auf Schutz vor Surveillance,
auf Anonymität im Netz, auf digitales Eigentum, auf digitale Sorglosigkeit und
digitale Bildung, auf die Abhaltung digitaler Versammlungen sowie auf politische
und gesellschaftliche Partizipation, nicht zuletzt auch ein mögliches Recht auf
digitalen Widerstand verdeutlichen die Breite der Digitalisierung der Grundrechte
in der Informationsgesellschaft. Das Internet ist heute auch „Grundrechtsverwirk-
lichungsnetz“.
Entsprechend laut werden die Rufe nach neuen Katalogen digitaler Grundrechte.
Entsprechende Vorschläge kommen z. B. aus Frankreich, die brasilianische Marco
Civil da Internet gilt als erste bereits in Kraft getretene „Internet-Verfassung“ der
S. Leuschner (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: sebastian.leuschner@hiig.de
Welt. Vor zwei Wochen forderte auch der Präsident des Europäischen Parlaments
Martin Schulz eine „Charta der Grundrechte für die digitale Zeit“. Jüngst hat Bun-
desjustizminister Heiko Maas den Vorschlag aufgegriffen und sogar bereits 13 erste
Artikel vorgeschlagen.
Macht eine solche Charta aber überhaupt Sinn? Was kann sie leisten? Wie weit
soll sie reichen? Und wer soll sie ausarbeiten?
Bei der Frage, wie sinnvoll ein weiterer Grundrechtskatalog wirklich wäre,
wird oft auf die normative Kraft der bestehenden Grundrechte verwiesen, die mit
entsprechender Auslegung auch eine digitale Dimension bekommen könnten (so
etwa die Ansicht der Europäischen Kommission in ihrer Cybersicherheitsstra-
tegie, insbes. S. 18). Braucht es also wirklich noch einen, dazu noch bereichs-
spezifischen Grundrechtskatalog in Europa oder der Welt? In der Tat hat die
Rechtsprechung eine erstaunliche Innovationskraft bewiesen, was die Geltung der
Grundrechte im Internet betrifft. So erfand das Bundesverfassungsgericht 2008 das
Recht auf die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme oder
kurz das Computer- bzw. IT-Grundrecht und deutet zumindest an, dass es Teil des
Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sein könnte, sich einen Inter-
netanschluss leisten zu können. Es bringt damit möglicherweise bereits ein allge-
meines Recht auf Internetzugang auf den Weg, das dann etwa nicht nur Ansprüche
auf finanzielle Unterstützung für Hilfsbedürftige, sondern auch Ansprüche zur not-
wendigen Infrastrukturversorgung vermitteln könnte. Daneben hob der EuGH das
sogenannte Recht auf Vergessen als besondere Ausprägung des Datenschutzgrund-
rechts aus der Taufe, was sich politisch zuvor nicht durchsetzen konnte.
All diese Grundrechte sind damit zwar geltendes oder werdendes Verfassungs-
recht, sie werden in den Verfassungstexten selbst aber nicht mehr unmittelbar
abgebildet. Das Computergrundrecht ist als spezielle Ausprägung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts im Grundgesetztext ebenso wenig präsent wie seine Grund-
lage, die auf einer Zusammenschau von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG basiert.
Das gleiche gilt auch für das deutsche Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung, obwohl es heute zu den wichtigsten Freiheitsgrundrechten überhaupt zählt.
Im kodifizierten Unionsrecht fehlt etwa das Recht auf Vergessen als spezieller Aus-
prägung des Datenschutzgrundrechts aus Art. 8 GRCh, wobei immerhin letzteres
selbst anders als im Grundgesetz in der Grundrechtecharta explizit erwähnt ist.
David A. Strauss fragt im aktuellen Harvard Law Review mit Blick auf die
U.S.-amerikanische Verfassung jüngst „Does The Constitution Mean What It
Says?“ und konstatiert ein immer größeres Auseinanderfallen von Verfassungsrecht
Eine „Charta der Grundrechte für die digitale Zeit“ … 69
und Verfassungstext. Aber nicht nur dort, sondern auch in Europa entfernen sich
geltende Verfassungsrechte von den ihnen zugrunde liegenden Verfassungstexten –
dies gilt jedenfalls für den Bereich der digitalen Grundrechte.
Diese gegenwärtige und sich zudem verschärfende Unsichtbarkeit digita-
ler Grundrechtsverbürgungen ist ein Problem, haben doch gerade Verfassun-
gen immer auch eine informierende, wenn nicht gar edukative Funktion mit
Blick auf den juristischen Laien. Dies betrifft nicht nur die konkreten juristi-
schen Grundrechtsgehalte, sondern auch die ihnen zugrundliegende, erst einmal
nicht-juristischen Wertentscheidungen: Wer im Grundgesetz nichts findet, wird
möglicherweise gar nicht auf die Idee kommen, zur Durchsetzung ihres Com-
putergrundrechts überhaupt Rechtsbeistand zu suchen; daneben wird das unge-
schriebene Grundrecht aber auch nicht das allgemeine Freiheitsverständnis seiner
Träger_innen – unabhängig von seinen ganz konkreten juristischen Detailgehal-
ten – in dem Maße prägen können, wie das ein geschriebenes Grundrecht kann.
Den Bürger_innen fehlen dann möglicherweise entsprechende argumentative,
sich aus der konkreten Wertentscheidung speisende Ressourcen in gesellschaft-
lichen und politischen Debatten. Effektiver Grundrechtsschutz ist daher keine
exklusive Angelegenheit juristischer Eliten, sie muss die juristischen Laien immer
auch mitbedenken und einbeziehen und Grundrechtsverbürgungen deshalb mög-
lichst transparent gestalten.
Dazu kommt, dass die Inanspruchnahme geltender Grundrechte auch im
Online-Bereich zum Teil die Grundrechtsdogmatik unnötig verkompliziert hat.
Wie man die Schutzbereiche des Fernmeldegeheimnisses, des Rechts auf infor-
mationelle Selbstbestimmung, des Computergrundrechts sowie des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts als Auffanggrundrecht beim Zugriff auf Kommunikations-
daten voneinander abgrenzt, bereitet beispielsweise große Probleme. Dies alles
lässt sich auch einfacher regeln, wenn man einen Schritt zurückgeht und zu kom-
pliziert gewordene Dogmatik durch eine eindeutigere Kodifikation entschlackt.
Daneben sind bereits jetzt bestimmte Verbürgungen derart eigenartig gegen-
über den ihnen zugrunde liegenden klassischen Grundrechten, dass nicht nur aus
Bürger_innen-, sondern auch aus eng juristischer Perspektive gerechtfertigt ist,
sie als eigenständige Grundrechte zu konzipieren und zu kodifizieren. Das Recht
auf Vergessen etwa hat sich bereits sehr weit von seiner datenschutzrechtlichen
Grundlage entfernt: Das Datenschutzgrundrecht war eine Erfindung gegen die
unverhältnismäßige Datenerhebung seitens des Staates, das Recht auf Verges-
sen bindet (freilich mediatisiert über das sekundärrechtliche Datenschutzrecht)
Private und schützt nicht vor der rechtswidrigen Datenerhebung, sondern vor
den Gefahren der Permanenz ursprünglich rechtmäßig erhobener Daten. Seine
weitgehende Eigenständigkeit spiegelt sich auch in der rhetorischen Kraft der
70 S. Leuschner
Bezeichnung dieses Anspruchs als eigenes Grundrecht. Die Medien sprechen hier
regelmäßig vom Recht auf Vergessen, nicht vom allgemeinen Datenschutzrecht.
Besonders heikel ist schließlich die Frage, wie weit die Bindungswirkung
digitaler Grundrechte reicht. In einem grenzenlosen Internet, das ganz überwie-
gend private Akteure konstituieren und beherrschen und daneben Hoheitsgewal-
ten für extraterritoriale Übergriffe nutzen, stellt sich auch die Frage, ob eine auf
die öffentliche Gewalt und territorial begrenzte Grundrechtswirkung noch Sinn
macht.
Ob man angesichts all dieser Befunde so weit gehen soll, nach den sozialen
und wirtschaftlichen Grundrechten der zweiten und den Kollektivrechten etwa
auf Umweltschutz der dritten Generation von einer vierten Grundrechtsgeneration
des Informationszeitalters zu sprechen, ist heute noch kaum zu beantworten. Des-
halb fragt sich auch, ob eine eigene Charta der digitalen Grundrechte das richtige
juristische Format ist. Denkbar ist alternativ auch, die geltenden Grundrechtskata-
loge lediglich zu ergänzen. Jedenfalls aber ist die Zeit in der Tat reif für eine wie
auch immer geartete Kodifikation. Im Bereich des digitalen Grundrechtsschutz
müssen sich Verfassungstext und Verfassungsrecht wieder stärker annähern.
Ein AGB-Grundrecht
Mit der Kodifikation der bereits durch die Rechtsprechung entwickelten oder
angedachten digitalen Grundrechte ist es dabei nicht getan. Neben den eingangs
schon erwähnten weiteren möglichen Grundrechten wäre etwa auch über eine Art
Grundrecht nachzudenken, das Nutzer_innen mehr Schutz vor digitalen „Allge-
meinen Geschäftsbedingungen“ verschafft. Dabei geht es nicht um Datenschutz,
sondern um Vertragsfreiheit. Diese ist angesichts der nicht mehr zu bändigenden
Flut von AGBs, denen die Nutzer_innen zur Nutzung heute schon fast essenziel-
ler Kommunikationsdienste zustimmen müssen, nur noch ein theoretisches Kons-
trukt. Das wird schon daraus ersichtlich, dass den Nutzer_innen zur Zustimmung
oft nur noch ein Link zu den AGB, nicht aber die AGB selbst angezeigt werden.
Tatsächlich geben über 60 % aller Nutzer_innen an, AGB und Datenschutzbe-
stimmungen kaum oder gar nicht zu lesen. Die Dienste nehmen sie dennoch in
Anspruch, weil die Online-Kommunikation heute zur Lebenswirklichkeit gehört
und der Verzicht auf sie schlichtweg zur sozialen Isolation führen würde.
Selbstredend ließe sich auch vieles über Änderungen des geltenden AGB-
Rechts auf einfachgesetzlicher Ebene bewältigen. Dennoch ist die Grund-
rechtsdimension dieser Problematik unverkennbar. Die Grundrechtecharta der
EU verbürgt in Art. 38 heute schon den Verbraucherschutz (wenn auch nur als
Eine „Charta der Grundrechte für die digitale Zeit“ … 71
Die Grundrechte binden nach klassischem Verständnis unmittelbar nur die eigene
öffentliche Gewalt, nicht aber Private. Gleichwohl wird das Netz aber vor allem
durch eben diese ungebundenen Privaten konstituiert und beherrscht. Daneben
agieren ausländische öffentliche Gewalten im grenzenlosen Netz extraterritorial
und verletzen die den Grundrechten zugrunde liegenden Werte. Die Grundrechts-
dogmatik versucht sich hier mit den Figuren der grundrechtlichen Schutzpflicht
und der mittelbaren Drittwirkung zu helfen.
Die mittelbare Drittwirkung kann sich aber nur dort entfalten, wo das Zivil-
recht eine entsprechende Auslegung zulässt; und die grundrechtliche Schutz-
pflicht ist eigentlich eine Ausnahme vom Regelfall des Verständnisses der
Grundrechte als Abwehrrechte. Sie verpflichtet nur zu einem Minimum an Schutz
und belässt Legislative und Exekutive sehr große Spielräume. Wenn aber die den
Grundrechten zugrunde liegenden Werte wie im Online-Bereich nicht mehr vor-
wiegend durch den Staat, sondern gleichermaßen auch durch Private gefährdet
72 S. Leuschner
sind, zwingt dies dazu, neu nachzudenken. Eine für den Ausnahmefall geschaf-
fene dogmatische Figur taugt nicht zur Anwendung auf den Regelfall. Im Internet
konstituieren und beherrschen private Unternehmen wie Facebook, Twitter und
Google schon jetzt nahezu „quasi-öffentliche Räume“ und Infrastrukturen. Des-
halb muss es möglich werden, netzbeherrschende Akteure unabhängig von ihrer
privat- oder öffentlich-rechtlichen Verfasstheit unmittelbar an Grundrechte zu bin-
den. Nur so kann ein hohes digitales Schutzniveau gewährleistet werden. In sei-
nem Google vs. Spain-Urteil behandelt der EuGH Google im Prinzip schon jetzt
wie eine grundrechtsgebundene Daten verarbeitende Behörde. Auch wenn Art. 8
GRCh hier nach wie vor nur vermittelt durch das europäische Sekundärrecht zur
Anwendung kommt, unterscheiden sich die materiellen Rechtsfolgen für Google
kaum mehr von denen einer unmittelbaren Bindung durch das Grundrecht.
Daneben müsste die Charta auch das Problem der extraterritorialen Grund-
rechtswirkung thematisieren, indem sie etwa die klassischen Kriterien der Aus-
übung von Hoheitsgewalt als die Voraussetzung für die Grundrechtsbindung
(s. etwa Art. 1 EMRK) aufgibt und durch passendere Konzepte ersetzt. Denn
Grundrechtsbeschränkungen finden im Netz oft gerade nicht nur durch die Aus-
übung klassischer Hoheitsgewalt im Rahmen eines Subordinationsverhältnisses
statt. Viele grundrechtsproblematischen Handlungen erfordern gerade keine Herr-
schaft ausübende Stellung der jeweiligen Hoheitsgewalt. Ihnen genügt schlicht-
weg, dass entsprechende technische Mittel und Kompetenzen vorhanden sind, die
entsprechende Maßnahmen auch in fremden Herrschaftsräumen unabhängig von
der dort statuierten Staatsgewalt ermöglichen.
URL: http://verfassungsblog.de/eine-charta-der-grundrechte-fuer-die-digitale-
zeit-und-warum-wir-sie-brauchen/ vom 11. Dezember 2015.
Das Facebookariat übernimmt:
Demokratie jenseits der Parteien?
Stefan Heidenreich
Die Erfolge der AfD bei den Landtagswahlen, der Siegeszug Donald Trumps und
eine Reihe weiterer Beispiele zeigen: Aus Netz-Plattformen wachsen neue Bewe-
gungen heran.
Nicht wegen, sondern trotz seiner Partei hat Kretschmann im Südwesten
gewonnen. In Grenzen gilt für Malu Dreyers Erfolg wohl dasselbe. Viel deutet
daraufhin, dass Parteien im alten Sinn ausgedient haben, auch das Ergebnis der
AfD. Sie laden nicht zur Beteiligung ein. Sie wirken hermetisch und verschlos-
sen. Als Organisationsform sind sie altertümlich im Vergleich zu dem, was wir
von sozialen Netzwerken her mittlerweile gewohnt sind.
Die Effekte des Wandels lassen sich in nahezu allen westlichen Demokratien
beobachten, am deutlichsten derzeit bei den US-Vorwahlen. Dort entfalten ein-
zelne Figuren wie Sanders oder auch Trump eine weit größere Wirkung als die
Parteien, unter deren Dach sie formell kandidieren. Sie nutzen die Partei noch als
Plattform, agieren aber auch gegen das innerparteiliche Establishment. Nun funk-
tionieren US-Parteien sehr anders als deutsche, aber einige Parallelen lassen sich
doch ziehen.
Im Ganzen haben Parteien die jüngsten Wahlen in Deutschland verloren – ins-
gesamt, als politische Organisationsformen. In allen drei Ländern haben traditio-
nelle Parteien weniger als die Hälfte aller Wahlberechtigen anlocken können. Der
Rest stimmt entweder für Bewegungen, für einzelne charismatische Köpfe oder
für gar nichts.
S. Heidenreich (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: mail@stefanheidenreich.de
Die AfD ist keine normale Partei. Wie sie ihre Unterstützter in sozialen Netz-
werken organisiert, hat Malte Henk in einem großartigen Text beschrieben. Sie
ist ein Facebook- und Social Media-Cluster, der sich für Wahlen die Parteiform
überstülpt. Voraussetzung dafür war der Schritt, die alten Vertreter des Parteien-
tums – Lucke und Henkel – rauszuschmeißen. Damit konnte das Facebookariat
übernehmen. Der Weg für eine aus den sozialen Medien wachsende Bewegung
war frei. Das Programm spielt offenbar bei einem großen Teil der Wähler eine
untergeordnete Rolle. Hauptsache es geht gegen die existierenden Parteien – wie
man der von jung und naiv auf Facebook dankenswerterweise nachgereichten
ZDF-Grafik entnehmen kann.
Dummerweise wirken rassistische, nationalistische und rechte Thesen in der
Online-Politiklandschaft Deutschland derzeit besonders attraktiv. Hass, Unter-
gangsfantasien und Angst vor Fremden haben hierzulande noch immer die Kläffer
hinterm Sofa hervor gelockt.
Warum es in Deutschland keine vergleichbare linke Bewegung gibt, lässt
sich leicht erklären. Das Thema wäre noch einmal einen eigenen Artikel wert,
aber machen wir es an dieser Stelle kurz: „Die Linke“ als Partei bildet das beste
Bollwerk gegen jede linke Bewegung. Sie besetzt die politischen Themen, entra-
dikalisiert sie und blockiert mit ihrer Partei-Organisation genau den Raum, den
eine Bewegung bräuchte. Die traditionelle Zerstrittenheit, ein Mangel an Uto-
pien, rückwärtsgewandter Marx-Dogmatismus und ein latentes Misstrauen gegen
neue Technologien tun ihr übriges, um eine linke Bewegung vorerst unmöglich zu
machen.
Wenn die Presse nun geschlossen über die AfD herfällt und vor dem neuen
Rassismus warnt, ist das ungefähr so zielführend wie Trolle zu füttern. Die Reak-
tion übersieht die tieferen Gründe der Bewegung. Die Bestürzung der Anderen
kann die Wähler der AfD nur im Stolz über ihren Erfolg bestärken. Erklären lässt
sich der Effekt recht einfach, wenn man Netzwerk-Prozesse und die zugehörigen
Theorien berücksichtigt. Netzwerke fördern zwei scheinbar gegenläufige Tenden-
zen. Zum einen verbinden sich rasch viele Leute sehr eng und aktiv miteinander.
Gleichzeitig bilden die Cluster abgeschottete Kommunikationszirkel. Der Kampf-
begriff „Lügenpresse“ drückt die aktive Selbstbezüglichkeit und Abschottung aus.
Aber das ist nur die eine Hälfte. Tatsächlich ist die Mitmach-Kommunikation in
Netzwerken tausend mal attraktiver als die etablierte Presse mit ihrem oberlehrer-
haften Qualitäts-Anspruch.
Wer die neuen Bewegungen nun allesamt als populistisch beschimpft, bestätigt
nur die klare Frontlinie. Hier geht es nicht um Politik, sondern um neue Platt-
formen der Kommunikation und die entsprechenden politischen Organisations-
formen. Überhaupt zeigt das Schimpfwort „Populismus“ in erster Linie auf das
Das Facebookariat übernimmt: Demokratie jenseits der Parteien? 77
eigene Versagen. Weil die alten Parteien, genau so wie die alte Presse, die Öffent-
lichkeit zusehends schlechter erreichen, gelten Populisten plötzlich als übel,
gleich welche Meinung sie äußern. Gerade so als gehöre es sich in einer Demo-
kratie nicht, die Ansichten breiter Bevölkerungsschichten zu vertreten – eine eini-
germaßen absurde Verdrehung der Ausgangslage. Das Problem liegt eher darin,
dass in Deutschland diese Art von Populismus derzeit leider nur am rechten und
rassistischen Rand stattfindet. Das sieht in anderen Ländern anders aus.
In Europa gibt es eine ganze Reihe fortschrittlicher Bewegungen, um nur
Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland zu nennen. Die 5 Stelle in Ita-
lien gehört dazu wahrscheinlich nicht, wobei noch offen ist welche Richtung sie
nun einschlägt, nachdem Grillo von dem alleinigen Führungsanspruch scheinbar
ein wenig abrückt. Sollte sie sich allerdings zu einer normalen Partei wandeln,
wird sie den Charakter einer Bewegung verlieren, und damit auch deren Anzie-
hungskraft. Dieses Schicksal bedroht jede Bewegung, sobald der Höhepunkt
überschritten ist und Wachstum in Konsolidierung übergeht. Es besteht Grund zu
der Hoffnung, dass das auch die AfD betreffen wird. Die Piraten haben ja sei-
nerzeit eindrucksvoll vorgeführt, wie gut soziale Netzwerke sich zur Selbstzerstö-
rung eignen. Ein Haufen zorniger Wutbürger sollte da mithalten können.
Die klassischen Partien werden heute von zwei verschiedenen Seiten zerlegt,
bisweilen von beiden gleichzeitig. Social Media-Bewegungen drohen auf der
einen und charismatische Köpfe auf der anderen Seite. Den Parteien selbst gelingt
es nicht mehr, politische Zustimmung oder gar Begeisterung zu bündeln. Sie wir-
ken wie „Shell Institutions“ im Sinn von Anthony Giddens. Formell bestehen sie
zwar noch weiter, ohne aber ihre eigentliche Aufgabe erfüllen zu können. Manch-
mal geben sie noch die formale Hülle für eine neue Bewegung ab. Andernfalls
gehen sie langsam unter, oder auch schnell.
Wir können eine kleine Grammatik der neuen politischen Lage nachzeich-
nen. Es gibt Bewegungen und Parteien. Mit oder ohne charismatische Figur. Die
Unterscheidung zwischen links und rechts macht keinen wirklichen Sinn mehr.
Bezeichnenderweise gibt es keine Bewegung, die dieses Begriffspaar noch in
Anspruch nimmt. Neue politische Unterscheidungen lauten eher: mit oder gegen
das Establishment, für oder gegen den neoliberalen Konsens, rassistisch oder
nicht.
Ihre seltener gewordenen Erfolge verdanken Parteien heute oft den charismati-
schen Köpfen. Voraussetzung dafür ist, dass es diesen Figuren gelingt, die inhalt-
lich schon entleerten Parteien auch personell ruhig zu stellen. Der Fall Merkel
gibt dafür eine hervorragendes Beispiel. Wie kaum einem anderen Parteivorsit-
zenden ist es ihr gelungen, Alpha-Kläffer und Karrieristen aus der CDU zu ver-
78 S. Heidenreich
treiben oder zumindest zum Schwiegen zu bringen. Für Kretschmann bei den
Südwest-Grünen gilt dasselbe.
Leider gibt es in Deutschland kaum Mischformen zwischen Bewegung und
Partei, wie sie etwa Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in
den USA darstellen. Bis einem gewissen Grad auch Trump. Die US-Vorwahlen
zeigen derzeit sehr deutlich, wo die Konflikte zwischen neuer Bewegung und
etablierter Parteiorganisation verlaufen, jedenfalls in den lockerer geknüpften
angelsächsischen Parteien. Im straffer organisierten Parteiensystem Kontinental-
europas entstehen die Bewegungen eher gegen die Parteien, meistens um einen
charismatischen Kopf, wie etwa Pablo Iglesias und Podemos, Tsipras und Syriza,
Bepe Grillo und 5 Stelle.
Auch hierzulande kommen die Parteien nicht darum herum, auf die neuen
Bewegungen zu reagieren. Nicht nur politisch, sondern auch in ihrer Organisation
und Kommunikation. Das angelsächsische Modell kann dabei durchaus ein Vor-
bild sein. Es würde voraussetzen, die eigene Organisation zu lockern und inner-
parteiliche Beweglichkeit zuzulassen. Der Umbau ginge mit einem erheblichen
internen Macht- und Kontrollverlust einher. Von daher wird es kaum eine Partei
geben, die ihn freiwillig auf sich nimmt. Die Öffnung hin zum Modell einer aus
sozialen Medien wachsenden Bewegung scheint ein Weg zu sein, vielleicht der
einzige, um das Überleben unter Netz-Bedingungen zu sichern. Die Partei würde
sich in einen lockeren Organisationsrahmen verwandeln, der politische Bewe-
gungen mit ihrer Energie der Motivation und Beteiligung nicht abweist, sondern
begrüßt und aufnimmt.
URL: http://www.carta.info/81079/das-facebookariat-uebernimmt-demokratie-
jenseits-der-parteien/ vom 17. März 2016.
Wozu braucht es noch Bibliotheken?
Leonard Novy
Die Debatte über den richtigen Umgang mit den Chancen und Störpotenzialen
der Digitalisierung ist in vollem Gang – und sie macht auch vor Bibliotheken
nicht halt.
Bis vor kurzem galt das ernüchternde Diktum des US-amerikanischen Inves-
tors Peter Thiel, „We wanted flying cars, instead we got 140 characters.“ Der
PayPal-Gründer und venture capitalist bezog sich auf die Science-Fiction-Visio-
nen und Technikeuphorie der 1960er und das, was gegen Ende der Nuller-Jahre
das Netz zu prägen schien: soziale Medien wie Facebook oder die Microblog-
ging-Plattform Twitter. In der Tat schien die Digitalisierung lange vor allem die
Kreativwirtschaft, die Film-, Musik- oder Journalismusbranche zu betreffen
beziehungsweise: aus den Angeln zu heben: Big Data, Google Glass, selbstfah-
rende Autos und Milliarden im Internet der Dinge vernetzter Geräte. 2014, im
Jahr 1 nach der Snowden-Affäre, hat das Tempo spürbar angezogen.
Insofern kommt der globale Trendreport des Weltverbands der Bibliotheken
IFLA, „Die Wellen reiten oder von der Flut überrascht werden? Die Herausfor-
derungen eines dynamischen Informationsumfeldes meistern“, der am vergan-
genen Dienstag auf dem 103. Bibliothekartag in Bremen präsentiert wurde, zur
rechten Zeit. Auch der Anspruch der Autoren, Entwicklungsdynamiken der Digi-
talisierung und ihre Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik umfassend zu
beleuchten, um sich darauf aufbauend systematisch den Konsequenzen für das
Bibliothekswesen widmen zu können, zeugt von Weitsicht. Schließlich stehen wir
erst am Anfang grundlegender Umwälzungen.
L. Novy (*)
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin, Deutschland
E-Mail: leonard.novy@medienpolitik.eu
Bibliotheken im Kontext
Die IFLA-Publikation basiert auf den Inputs von Experten und Stakeholdern aus
unterschiedlichen Bereichen, die „aktuelle und künftig wahrscheinliche“ Trends
im globalen Informationsnetz identifizieren, für die bibliothekarische Fachwelt
aufbereiten und so die Basis für eine Diskussion über zukünftige Prioritäten
innerhalb der weltweiten Bibliotheksgemeinschaft schaffen sollen.
Eine solch holistische Herangehensweise ist sinnvoll, denn weder Bibliothe-
ken als Institution, noch die Digitalisierung können isoliert betrachtet werden.
Vielmehr gilt es, Digitalisierung im Kontext anderer, teils langfristig wirkender
Prozesse wie Individualisierung und Globalisierung zu verstehen, also im Kontext
der Wechselwirkungen zwischen medialem Wandel, sich verändernden ökonomi-
schen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie ist Spiegel und Treiber
gesellschaftlicher Veränderungen und sich verändernder Selbstverständnisse und
Erwartungen – auch von Bibliotheksnutzern.
Nicht zuletzt die NSA-Affäre und die aktuelle Debatte um die Dominanz von
Google haben dazu geführt, dass neben den enormen Möglichkeiten, die mit die-
sen Entwicklungen einhergehen, zusehends Fragen nach Risiken und Nebenwir-
kungen in den Blick rücken.
Einerseits, gewissermaßen auf der Haben-Seite, stehen der erweiterte Zugang
zu Informationen und Wissen (Trend 1 im Bericht: „Neue Technologien werden
den Zugang zu Informationen einerseits erweitern, andererseits begrenzen“), die
Vervielfältigung der Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten und Mit-
sprache (Trend 4: „Hochvernetzte Gesellschaften werden neuen sozialen Grup-
pen und Stimmen mehr Gehör verschaffen und sie stärken“), die Optimierung von
individuellen Handlungschancen, wie auch volkswirtschaftlicher Effizienz.
Andererseits macht sich ein – wenn auch vielerorts diffuses – Unbehagen über
die Folgen der Vernetzung auf den Menschen, über Manipulation, Abhängigkeit
und Kontrolle breit.
Neben den Verheißungen, die die Entwicklung des Internets zur zentralen
gesellschaftlichen Infrastruktur des 21. Jahrhunderts versprach, steht plötzlich
das Orwell’sche Schreckensszenario eines „informationellen Totalitarismus“
(Harald Welzer), dem der formalisierte Datenschutz nichts entgegenzusetzen
hat. (Trend 3: „Die Grenzen der Privatsphäre und des Datenschutzes werden neu
definiert werden.“)
Das Netz ist eben keine Demokratisierungsmaschine, sondern eine Technolo-
gie, die auch für machtpolitische Zwecke, in jedem Fall aber für die Umsetzung
wirtschaftlicher Interessen verwendet werden kann. Voraussetzung sind Daten,
Wozu braucht es noch Bibliotheken? 81
Die Folgen dieser Entwicklungen sind nicht nur ökonomischer Natur. Auf dem
Spiel steht nichts Geringeres als die Grundlagen demokratischer Gemeinwesen:
das Recht auf Selbstbestimmung, Informations- und Meinungsfreiheit und Privat-
sphäre.
Die Politik hinkt diesen Entwicklungen naturgemäß hinterher. Die zeitliche
Koinzidenz der Finanzkrise ab 2008 mit dem Aufstieg algorithmengetriebener
Finanztransaktionen ist kein Zufall: Die Digitalisierung ist Ausdruck und Faktor
einer sich potenzierenden Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die die
Handlungsfähigkeit der Politik auf die Probe stellt. Wie im Brennglas spiegeln
sich hier die Herausforderungen modernen Regierens. Das Internet lässt die tra-
ditionelle Abgrenzung zwischen nationaler und internationaler Sphäre obsolet
erscheinen, unterminiert Konzeption und Wirksamkeit staatlicher Souveränität.
Gleichzeitig (Anhänger Colin Crouchs würden hier postdemokratische Ten-
denzen am Werk sehen) nehmen die Asymmetrien im Kräfteverhältnis zwischen
einer chronisch ressourcenschwachen Lobby für Grund- und Verbraucherrechte
und der hochprofessionalisierten Interessenvertretung der IT-Giganten stetig zu.
Die Schwierigkeit, Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbst-
bestimmung unter den Bedingungen entfesselter Informations- und Überwa-
chungsmärkte mittels des formalisierten Datenschutzes effektiv zu sichern, steht
beispielhaft für diese vielschichtige Unwucht der Verhältnisse.
82 L. Novy
Jetzt aber verwandelt sich die materielle Welt selbst in Daten und also findet der
Übertritt statt: Auto, Haus, menschlicher Körper und, nicht zu vergessen, Cash,
anfassbares Geld.
Aus dieser Beobachtung ergeben sich eine Reihe von Implikationen für Biblio-
theken: Was ist bewahrenswert? Wie umgehen mit dynamischen Publikationen?
Was ist privat, was öffentlich?
Und sie verweist darauf, dass das Internet eben nicht einfach nur ein neues
Medium ist. Es markiert einen alle Medienformen und Branchen beeinflussenden
medienevolutionären Sprung. Als „Übermedium“ ist es der historisch gewachse-
nen Funktion von Bibliotheken durchaus vergleichbar.
Wozu braucht es noch Bibliotheken? 85
Eva Flecken
Eva Flecken ist umgezogen und hat ausgemistet. Dabei hat sie einen Streifzug
durch ihre technische Vergangenheit unternommen.
Zwischen Staubwolken sitzen und sich wundern. Wundern über die eigenen
Geschichten. Über schlimme Frisuren, jugendliche Mädchenfreundschaften und
rührende Liebesbriefe. So gestaltet sich für mich ein Umzug.
Von vielen Geschichten bleibt nicht mehr als ein zerknicktes Foto oder ein
bekritzeltes Papier. Ich halte die gegenständliche Erinnerung in der Hand und
wiege ihren Wehmutsfaktor ab. Wiegt die Wehmut schwer, darf das Erinnerungs-
stück bleiben. Ist sie zu leicht, muss das Teil gehen. Umzug ist, wenn die Jugend-
sünden in eine einzige Kiste passen müssen und andere Erinnerungen nicht mehr
mitreisen dürfen.
Ein Umzug im Jahr 2015 bedeutet aber nicht mehr nur die übliche Erin-
nerungsschwermut. Das Kistenpacken im digitalen Zeitalter führt mir außer-
dem mein Alter vor Augen – insbesondere meine technische Vergangenheit und
Gegenwart: aus der Zeit gefallene Endgeräte und überflüssige Informationsme-
dien.
Die Digitalisierung füllt Müllsäcke und schärft zugleich den Blick für die
wesentlichen Erinnerungsstücke. So manch Analoges verliert seinen Wert, gar
seine Funktion, anderes gewinnt an neuer Bedeutung.
E. Flecken (*)
Berlin, Deutschland
URL: https://twitter.com/@frau_flecken
Wörterbücher
Bücher wegzuwerfen, ist ein Frevel. Bücher sind wie Möbel. Sie gehören zur
Wohnung, wie auch Esstisch, Kleiderschrank oder Bett Teil der Einrichtung sind.
Nun habe ich aber doch zum ersten Mal freiwillig Bücher weggeschmissen –
und zwar Wörterbücher. Der zerfledderte Englisch-Deutsch/Deutsch-Englisch
Langenscheidt wird keinen Platz in meinem neuen Bücherregal finden. Auch der
Rechtschreib-Duden muss draußen in der Mülltonne bleiben. Ein Smartphone-
Nutzer muss in seinem Bücherregal keinen Staub-Raum mehr für Wörterbücher
lassen. Will das englische Wort für „Umzug“ partout nicht einfallen, helfen Leo
und Linguee ohnehin schneller weiter als ein verlorener Griff ins Regal.
Gerät dadurch eigentlich das schöne Wort „Nachschlagen“ in Vergessen-
heit? Findet es gar seinen Platz auf der Liste fast vergessener Wörter? Immerhin
schlägt der User keine Seiten in der Smartphone-App um. Vielleicht werden wir
Begriffe zukünftig „nachtippen“ statt „nachschlagen“?
Klapp-Handy
Wenn der Umzug ansteht: Besser mal aufheben für #Karneval pic.twitter.com/
x7t8dEeEiM (Eva Flecken (@frau_flecken) 13. Juni 2015).
Der erste Impuls, das Handy wegzuwerfen, wich der Überlegung, welch famoses
Karnevalskostüm mit solch einem Technik-Relikt realisiert werden könnte. Also
ist der Handy-Knochen aus der Tüte mit alten Gigasets, die allesamt entsorgt
wurden, in die Kiste voller Karnevalsutensilien gewandert.
Das Handy perpetuiert damit durchaus seine Funktion als Kommunikationsin-
strument, allerdings weniger als technisches Verbindungsglied, sondern eher als
Kommunikationsanlass – gewissermaßen als ein karnevalesker Lockruf. Rosen-
montag wird zeigen, ob das Motorola-Klapphandy seinen neuen Dienst leistet.
Auch so ein Fundstück. Wir werden wohl unsere Enkel dazu befragen müssen.
URL: http://www.vocer.org/was-bleibt-ist-ein-mixtape/ vom 27. Juli 2015.
Teil II
Ausfaltung von Kommunikationsoptionen
Warum die SMS trotz
Nutzungsrückgang nicht stirbt
Daniel Kuhn
Seit zwei Jahren geht die Zahl der versendeten SMS in Deutschland massiv
zurück, doch das Ende der Kurznachrichtentechnologie ist deswegen noch lange
nicht in Sicht.
Bis vor zwei Jahren ist die Zahl der versendeten SMS in Deutschland stetig
gestiegen. Mit der starken Verbreitung der Smartphones und der Beliebtheit von
Instant Messengern hat dieses Wachstum nun aber ein Ende gefunden und viele
Beobachter prophezeiten daraufhin sogar das Ende der Kurznachricht. Die Zahl
der gesendeten SMS ist zwar stark rückläufig, doch wird die Technologie nicht
komplett von Instant-Messenger-Apps verdrängt, da es immer noch viele Anwen-
dungsbereiche gibt, in denen die SMS überlegen ist.
Die erste SMS wurde 1992 versendet und mit der starken Verbreitung vom
Mobiltelefonen ab Mitte der 90er Jahre etablierte sich die Kurznachricht als ein
unheimlich beliebter und kostengünstiger Weg, um schnell kurze Mitteilungen
an seine Kontakte zu senden. Trotz Aufkommen der Smartphones konnte die
SMS bis 2012 ein stetiges Wachstum verzeichnen – fast 60 Mrd. Kurznachrich-
ten wurden in dem Jahr laut BITCOM verschickt. 2013 war das Wachstum dann
aber erstmals zu Ende – es wurden plötzlich nur noch 37,9 Mrd. Nachrichten
verschickt, ein Rückgang von 37 %. Diese Talfahrt setzte sich 2014 fort und die
D. Kuhn (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: aircoholic@gmail.com
Anzahl der versendeten Kurznachrichten ging erneut 41 % auf 22,5 Mrd. Nach-
richten zurück. Die Zahl der versandten SMS hat sich innerhalb von nur 2 Jah-
ren mehr als halbiert. Ein Grund das Ende der Technologie auszurufen ist es aber
trotzdem nicht, denn selbst 2015 und mit dem Boom von Smartphones und Ins-
tant-Messaging-Apps wie WhatsApp oder Snapchat, gibt es noch viele sinnvolle
Anwendungsbereiche für die SMS.
Universelle Kommunikation
Die Technologie zum Senden und Empfangen von SMS ist nicht von einer mobi-
len Internetverbindung abhängig. Jeder, der ein Mobiltelefon besitzt, kann die
Kurznachrichten nutzen. Wer noch ein Feature-Phone benutzt, wird also nicht von
der Kommunikation ausgeschlossen, wie es etwa bei OTT-Apps wie WhatsApp,
WeChat, Facebook Messenger etc. der Fall ist. Auch sind diese Apps nicht immer
für alle Smartphone-Betriebssysteme oder ältere Versionen derer erhältlich. Und
bevor man die Großeltern an ein Smartphone und WhatsApp gewöhnt, sendet
man ihnen die Geburtstagsgrüße lieber weiter per SMS.
Auch die TAN für Vorgänge beim Online-Banking kann bisher auf keinem ande-
ren Weg so schnell und effektiv an die Nutzer übermittelt werden.
Die Mobilfunkbetreiber beklagen zwar den Rückgang der SMS um über die
Hälfte innerhalb von zwei Jahren, doch das ist eher in den Umsatzeinbußen
begründet. Jahrelang waren SMS-Dienste eine Goldgrube, bei der die Provider
an jeder gesendeten Kurznachricht verdienten – an einer WhatsApp-Nachricht
verdienen die Provider jedoch nichts, da für diese lediglich die mobile Daten-
verbindung verwendet wird, die bei den meisten Nutzern in Form einer Flatrate
abgerechnet wird. Aber seien wir doch mal ehrlich, 22,5 Mrd. SMS ist immer
noch verdammt viel und entspricht ungefähr den Zahlen von 2007. Doch die SMS
wird trotz des technischen Fortschritts, zumindest in naher Zukunft, auch noch
weiterhin Bestand haben. Totgesagte leben eben doch länger.
Auch so ein Fundstück. Wir werden wohl unsere Enkel dazu befragen müssen.
URL: http://www.netzpiloten.de/sms-deutschland-kurznachrichten-smartphones/
vom 15. Mai 2015.
Druckstückfremdeln
Christoph Kappes
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
Ben Thies
Das von Eli Pariser entwickelte Konzept der „Filter Bubble“ ist zurzeit so popu-
lär wie nie. Nur wenige Stunden nachdem das Ergebnis der US-Wahl fest stand,
wurden schon Stimmen laut, denen zufolge die „Filterblase“ viele Vertreter von
Medien und Politik (inkl. einiger Mitglieder des Republican National Commit-
tee) habe denken lassen, dass Donald Trump die Wahl verlieren werde. Joshua
Benton führt an, dass nicht zuletzt die mit Falschmeldungen „bewaffnete“ Filter-
blase auf der anderen Seite dazu beigetragen habe, Trump-Wähler zu mobilisie-
ren (siehe auch: „Donald Trump won because of Facebook“). Auch bei dem für
unwahrscheinlich gehaltenen Ausgang des Brexit-Referendums im Juni wurde
die Filterblase und aus ihr resultierende „Echokammern“ von diversen Nachrich-
tenmedien und Bloggern als Erklärung dafür herangezogen, dass viele Remain-
Wähler wenig bis gar nichts von der Opposition mitbekommen hatten (siehe
beispielsweise der New Statesman und der dahin gehend oft zitierte Tweet von
Tom Steinberg).
Die Filterblase (siehe dazu Parisers TED-Talk) beschreibt eine figurative
Sphäre, in der einem Internetnutzer nur beziehungsweise hauptsächlich die
Inhalte zur Verfügung gestellt werden, die ihn (wahrscheinlich) interessieren. Um
dieses individuelle Interesse zu ermitteln, laufen bei Internetdiensten wie Google,
B. Thies (*)
Zeppelin Universität, Friedrichshafen, Deutschland
E-Mail: b.thies@zeppelin-university.net
Trotzdem wird sich der Begriff Filter Bubble wahrscheinlich weiterhin in der
Medienlandschaft halten. Auch wenn die meisten Studien den Filteralgorithmen
im Bestfall einen geringen Einfluss auf die Inhaltsselektion zusprechen: Der
schwer greifbare Begriff eignet sich wohl einfach zu gut als Erklärung für die
spezielle Dynamik öffentlicher Diskurse im digitalen Zeitalter.
URL: http://www.carta.info/83922/mythos-filterblase/ vom 11. November 2016.
Echokammern sind nicht harmlos
Ulf J. Froitzheim
Dass sie (die Filteralgorithmen) eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, da sie
Nutzern eine ganz bestimmte Realität diktieren, kann nur dann der Fall sein, wenn
wir die Gesellschaft davor als gefährdet durch ein Diktat der Funk- und Printmedien
betrachten.
Ben Thies, 11. November 2016 via Carta.info
Das ist zu kurz gesprungen. Filteralgorithmen stellen eine Gefahr für die Gesell-
schaft dar, aber sie diktieren den Nutzern ebenso wenig etwas, wie dies die Funk-
und Printmedien konnten. Sie sind der Einstieg, ein Anfang.
Die Gefahr hängt also nicht damit zusammen, dass man seiner Filterblase
nicht mehr entkommen könnte, wenn man sich einmal in ihr häuslich eingerichtet
hat. Sie liegt in dem sozialpsychologischen Belohnungssystem, in das sie insta-
bile oder verunsicherte Menschen hineinziehen. Die Metapher der Echokammer
ist insofern die wichtigere und richtigere, und darum sollten wir uns auf sie kon-
zentrieren: Die Filterblase sorgt als Positivauswahl nur für einen steten Zustrom
an vermeintlichen Neuigkeiten, die einem ins Weltbild passen. Sie verhindert
nicht den Zustrom an diesem Weltbild widersprechenden Nachrichten. Diese
kommen durchaus noch beim Rezipienten an – allerdings meist auf Umwegen,
mit entsprechenden Stille-Post-Effekten, wobei der Bias beabsichtigt sein kann
oder unbewusst hineingebracht wird.
Die Resonanz in der Echokammer, die den sprichwörtlichen Bürgermeister
von Wesel zum Esel macht, unterscheidet sich grundlegend von einem Aussieben
des Inputs nach Nutzervorlieben. Bei Letzterem geht es nur um Aufmerksam-
keitsmanagement, also eine Relevanzfilterung, bei ersterem um die Einordnung
des für relevant befundenen Inputs auf einer Gut-Böse- oder einer Wahrheits-
skala. Die Filterblase ist ein algorithmisches Konstrukt, die Echokammer ein
menschliches Phänomen. Nicht nur per Like und Share, sondern auch mit Kom-
mentaren etikettieren Opinion Leaders (die es immer noch innerhalb jeder sozia-
len Gruppe gibt) Input von bestimmten Absendern als weniger glaubwürdig oder
manipulativ („Lügenpresse“).
Dadurch, dass im Gegensatz zu traditionellen Medien mit begrenztem Platz
für Leser- oder Zuschauerfeedback beliebig viele Teilnehmer ihren Senf dazu
abgeben und die Inhalte per Mausklick weiterverbreiten können, ist eine ganz
neue Dynamik entstanden. Der Netzwerkeffekt vergrößert schnell die Reichweite
von „Informationen“, die bei klassischen Medien zurecht im Recherche-, Quali-
täts- und Rassismus-Filter hängen bleiben. Online und offline getrennt zu denken,
wäre fatal: Sobald das Echo eine kritische Masse an Gleichgesinnten sugge-
riert, beginnt die Diffusion ins „Real Life“; dann rotten sich die Pegidisten vor
der Oper zusammen, und „besorgte Bürger“ überfallen Busse mit Flüchtlingen.
Eine alte Erkenntnis bleibt wahr: Die Hemmschwelle für verbale und körperliche
Gewalt sinkt, wenn die potenziellen Gewalttäter sich nicht mehr als Individuen
fühlen, sondern als Teil einer Gruppe.
Weil es im akademischen Sinn des Wortes asoziale Charaktere (empathie-
lose Egoisten, Narzissten und Psychopathen) immer gab und geben wird, hat die
klassische Tageszeitungs- oder Nachrichtenmagazin-Redaktion gerade auch bei
Leserbriefen sehr bewusst den Gatekeeper gespielt: Beleidigende Zuschriften und
offenkundige Lügen landeten ebenso sicher im Papierkorb wie anonyme Trak-
tate oder solche mit offensichtlich gefälschtem Absender. Das hatte nicht nur mit
der presserechtlichen Verantwortung zu tun, sondern auch mit gesellschaftlichem
Konsens, dass der soziale Friede ein Mindestmaß an Redlichkeit und Umgangs-
formen erfordert (ein Konsens, der im US-Wahlkampf beängstigend erodierte).
Echokammern sind nicht harmlos 107
Diese für einen seriösen Diskurs sehr wertvolle Filterinstanz fiel in den sozi-
alen Medien, zu denen auch die Leserforen der Onlineausgaben klassischer
Verlage und Sender gehör(t)en, komplett weg – geopfert auf dem Altar einer
Netzkultur, die sich irrigerweise (oder fatalerweise) an den Notwendigkeiten in
unfreien Gesellschaften orientierte, in denen es gefährlich ist, seine Meinung
öffentlich zu sagen. Das Schicksal eines Rā’if Badawī droht hier niemandem, und
Deutschland ist auch nicht die Türkei.
Folge dieses durchaus gut gemeinten Wegfalls sozialer Korrektive: Vertreter
extremer Ideologien und Anhänger wahnhafter Ideen (Reptiloiden, Chemtrails,
Flat Earth Movement, „Firma“ Deutschland etc.) fanden im Schutz der Anonymität
endlich Ihresgleichen. Nicht nur das. Es gab nun auch einen funktionierenden Busi-
ness Case für Manipulateure, die es verstehen, mittels Sockenpuppen und Bots die
Lautstärke des verzerrten Echos enorm zu verstärken und latente Paranoia in mani-
feste zu verwandeln, die sie nur noch auf Sündenböcke ihrer Wahl zu projizieren
brauchen. Wer das alles auch „nach Trump“ noch auf die leichte Schulter nimmt,
stelle sich nur einmal vor, was für ein Dorado das Web heute einem Goebbels oder
Mielke böte. Oder dem gelernten Geheimdienstler Putin bietet.
Das Infame ist, dass diese Manipulation für ihre Opfer einen hohen Belohnungs-
wert hat: Scheinbar werden sie mit ihren Ängsten und Ressentiments nicht nur ernst
genommen, sondern auch noch im Glauben bestärkt, sie hätten Recht. Wurden sie
bisher von den Vernünftigen in der Gesellschaft marginalisiert („Du immer mit Dei-
nen Hirngespinsten, geh mal zum Arzt“), fühlen sie sich durch die positiven Rück-
kopplungsschleifen als Teil einer alles besser wissenden Noch-Minderheit oder
einer schweigenden Mehrheit, die von „denen da oben“ ausgenutzt wird.
Diese Effekte entziehen sich natürlich der Empirie, denn das Forschungsob-
jekt ist intransparent. Man müsste die Akteure identifizieren, die echten wie die
virtuellen, allein schon weil die Zahl der vermeintlichen Teilnehmer regelmäßig
höher ist als die der dahinter stehenden Menschen. Man müsste Interviews mit
diesen realen Personen führen und sowohl quantitativ als auch qualitativ den Bei-
trag und Einfluss fingierter Personae untersuchen. Mir fällt weder technisch noch
sozialwissenschaftlich eine Methode ein, mit der man hier valide Messungen
anstellen könnte. Wir haben hier wirklich das Problem, dass man Thesen weder
verifizieren noch falsifizieren kann – es sei denn, jemand entwickelt eine forensi-
sche KI-Applikation mit belegbarer Zuverlässigkeit.
Ich würde jedoch lieber das Individuum als letzte Filterinstanz betrachten.
Das würde wohl jeder gern. Nur ist die Weltgeschichte voll von Beispielen, dass
die Filterinstanz oft überfordert und manipulierbar ist. Deshalb braucht es
108 U.J. Froitzheim
Adriana Radu
Eine neue Generation wächst heran: Digital Natives schicken sich Links via
Skype als Liebeserklärung, schreiben auf Blogs über ihr Leben und erholen sich
in Entzugskliniken vom Internet. Brauchen die jungen Leute eine Internet-Thera-
pie? Oder sollte die Gesellschaft ihre Haltung gegenüber der Technik therapieren?
2006, ich bin 17. Mein Programmiererfreund Markus, der vier Jahre älter ist,
legt mir eine Gmail-Adresse an. Yahoo sei doof, meint er. Ich weiß nicht so wirk-
lich, sage lahm „ja“.
2007, wir streiten uns tierisch, weil ich nicht mit ihm skypen will. Und wenn
überhaupt, will ich gar nicht, dass er mir während wir sprechen Links schickt.
Das ist mir zu anstrengend. Mit 20 mache ich mit ihm beinahe Schluss, weil er
mir während eines Gesprächs erzählt, dass er sich mit einem Kumpel darüber
unterhalten hat, was ein anderer Kumpel bei Facebook gepostet hat. Ich schreie,
Twitter sei blöde Zeitverschwendung.
Mittlerweile schickt er mir jeden Tag 10+ Links via Skype und fragt immer
nach, ob ich sie lese. Wenn das nicht der Fall ist, wird er verbal sehr aggressiv. Er
hat das Gefühl, mich interessiert seine innere Welt nicht. Das wäre einfach seine
Art, zu kommunizieren. Kurz danach denkt er sich eine bessere Lösung aus: ich
muss Google Reader aktivieren und ihm da konstant folgen. Er exportiert seine
Abonnements auf mein Konto und empfiehlt mir, was ich auschecken sollte. Ende
2010 sind wir nicht mehr zusammen. Ich spioniere ihm mithilfe von Google Rea-
der mehr als ein Jahr lang nach.
A. Radu (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: adriana@sexulvsbarza.ro
2011. Ich lerne Thomas kennen. Ich mag ihn auf ganz vielen Weisen. Bin
aber ein bisschen enttäuscht, dass er nicht ganz à la page ist, was E-Mail Provi-
der angeht: Er schreibt mir von seiner GMX Adresse. Ich helfe ihm, eine eigene
Gmail Adresse anzulegen. Kurz danach erkläre ich ihm, wie er seine Nachrich-
ten besser lesen kann, würde er die ganzen Feeds bei Google Reader lesen. Ich
exportiere meine Feeds für ihn. Er ist mit der Gmail-Adresse ganz zufrieden.
Google Reader verwendet er zwei Mal. Später bin ich super erleichtert, als das
Tool stirbt: eine Internet-Abhängigkeit weniger. Meinen Facebook-Account habe
ich nicht vor zu deaktivieren, sondern verbringe da viel Zeit. Mit meinen Eltern
spreche ich sehr oft via Skype.
Internetentzug?
Vor der Entzugsklinik: Ich begleite eine gute Freundin, die eine Depression hat
und zu viel Marijuana raucht. Sie müsste da ein paar Tage bleiben. Nachdem sie
die Internierungspapiere unterschreibt, weint sie und schreit, weil es ihr nicht
erlaubt ist, ihren Laptop mitzunehmen. Vor ein paar Tagen nur postete sie ein
Foto bei Facebook mit dem Status „cause I am the superwoman and I am gonna
come rescue you!“ Das Foto hat mehr als 60 likes bekommen. Sie postet jeden
Tag. Sie hat keinen Job und muss ein Jahr an der Uni wiederholen. Sie hat vor
kurzem versucht, sich das Leben zu nehmen.
Braucht unsere Beziehung zu Internet eine Therapie? Oder brauchen wir
eine Therapie? Thomas hat anders (read: gesünder) auf einen ähnlichen Pattern
reagiert, weil er eine andere Person ist. Also inwiefern können wir sagen, dass
Technologie gut oder schlecht ist?
2012. Ich gewinne eine Ausschreibung und starte mit der Kohle eine Web-
seite für sexuelle Aufklärung für Jugendliche. Ich verwalte die Webseite, kommu-
nizieren mit meinem Team, schreibe Artikel, produziere Videos und mache die
Darstellung vor der Kamera, entwickle mich zum Social Media-Manager. Zum
ersten Mal konsumiere ich das Internet nicht mehr, sondern verwende es um
anderen etwas beizubringen.
Ich ermutige Thomas, einen eigenen Blog zu erstellen, wo er vorzeigen kann,
was er alles macht (vom Bauingenieur zu Musik und Theater). Langsam kann ich
ihn überzeugen. Er macht das. Als es darum geht, seinen ersten Blog-Post bei Face-
book mitzuteilen, ist es ihm zu peinlich. Ich schreibe ihm in die Statuszeile und cli-
cke auf „Post“. Thomas wirft sich theatralisch auf unser Bett und ruft „Ich sterbe“.
Das Ziel seines Blogs ist es, seine Beschäftigungen zu katalogisieren. Ich
dagegen will Wissen vermitteln. Dafür muss ich meine Zielgruppe erreichen.
Deshalb investiere ich viel Zeit darin, die Sozialen Medien zu beobachten.
Sieben Jahre Hassliebe zu Google, Facebook und Co. 111
Nichtsdestotrotz habe ich oft das Gefühl, meine Website wäre organisierter, wenn
Thomas sie leiten würde. Weniger Facebook-abhängig, mehr darauf konzentriert,
Inhalte zu produzieren.
2014, ich bin 24. Thomas und ich sind nach Berlin gekommen. Sein neuer
Arbeitgeber hat ihn gegoogled und seinen Blog gesehen. Thomas und ich haben
den Tor-Browser heruntergeladen. Mein Facebook-Newsfeed ist jetzt leer. Ich
habe alle Feeds abbestellt. Die Facebook-Seite meines Sexualaufklärungsprojek-
tes verwaltet ein 17-jähriges Mädchen. Ich finde heraus, dass ich Twitter-talentiert
bin und verdiene ein bisschen Geld damit.
Letzte Woche wollte ich Thomas die Rede von Ellen Degeneres bei den
Oscars zeigen. „Wer ist sie?“, fragt er mich. Ich stoppe das Video, mache einen
neuen Tab auf und will Ellen gleich googlen, um ihm dabei Sachen zu erklären.
„Was machst du?“, fragt Thomas. „Wir schauen uns doch das Video an, oder?
Kannst du mir nicht in zwei Sätzen erklären, wer sie ist?“ Ich kann, oder ich
konnte, ich werde es versuchen.
Meine Gras rauchende Freundin raucht kein Gras mehr. Sie hat auch kein
Internet auf ihrem Handy mehr. Nachdem wir nicht mehr zusammen waren,
führte Markus aus München über zwei Jahre hinweg eine Online-Beziehung mit
einem Mädchen aus Kuala Lumpur. Immer noch in München, ist er jetzt mit einer
Chinesin zusammen, die, soviel ich via Facebook verstehe, in London lebt. Das
habe ich gesehen, als ich an einem fremdem PC war. Sonst habe ich ihn bei Face-
book geblockt.
URL: http://berlinergazette.de/hassliebe-zu-google-facebook/ vom 17. März 2014.
Empört Euch
Die Möglichkeit, der eigenen Unzufriedenheit und auch (ganz unironisch) Empö-
rung über das Verhalten von Menschen mit Reichweite Gehör zu verschaffen, ist
kein Makel. Es ist ein Schritt zu einer Gesellschaft, in der Menschen auf lange
Sicht respektvoller und umsichtiger miteinander umgehen.
Über wenig sind sich Leitmedien, Blogs und Intellektuelle so einig wie bei
der „digitalen Empörung“. Furchtbar. Schlimm. Pranger. Man kann sich ja gar
nicht mehr raustrauen. So werden wir alle zu angepassten, langweiligen Zombies,
weil wir uns gar nichts mehr trauen können!
Bei all der Kritik an meinungsstarken Kommentaren im Netz klingen immer –
allerdings oft unausgesprochen – zwei Sätze mit, die wie keine anderen für die Dele-
gitimation von Kritik stehen: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ und „Das
muss man auch mal aushalten können.“
Im Moment wird viel über den Autor Jon Ronson berichtet, dessen Buch „So
you’ve been publicly shamed“ Fälle öffentlicher Empörung, die sich gegen die
Taten von einzelnen Menschen richtete, zusammenfasst und weitgehend zum
Schluss kommt, dass diese neue Dynamik öffentlicher Kritik einem Pranger ent-
spräche.1 Ronson nimmt in seinem Buch einen Gedanken auf, der insbesondere in
der Kritik an den Aktivitäten in sozialen Medien immer wieder seinen Nieder-
schlag findet: Kritik solle man doch bitte den Expertinnen und Experten überlas-
sen, den Journalistinnen und Journalisten, der Wissenschaft und der Politik.
1Für ein detaillierteres Review verweise ich hier auf „Pranger sind immer die anderen“ vom
brillianten @map.
Die öffentliche Kritik in seiner Netzdynamik sei vor allem gefährlich für die
Ordnung und insbesondere auch einzelne ins Fadenkreuz genommene Individuen.
Die Ordnung wird gefährdet durch die Aufmerksamkeitswelle, die einzelne im
Netz anschieben können und die sich binnen Minuten zu einem Tsunami hoch-
schaukeln kann wobei sie aufgrund der mangelnden strukturellen Verankerung
diversen Kräften Anschlussmöglichkeiten bietet: Eine Kritik an den Aktionen
einer Bank kann in der Kürze, die die Darstellung als Facebook Post oder Tweet
erzwingt, auch sehr einfach in beispielsweise einen antisemitischen Kontext ein-
gebettet werden – selbst wenn dieser nie geplant oder mitgedacht war.
Doch die größere Gefahr besteht – in dieser Lesart – für Individuen: Ein unbe-
dachter Tweet und schon ist der Job Geschichte und man im eigenen Wohnum-
feld isoliert, nachdem Irgendjemand mit einer gewissen Öffentlichkeit das Thema
aufgebracht und skandalisiert hat. Müssen wir Menschen nicht davor schützen?
Meinungsfreiheit und so?
Sicherlich spielt das weit verbreitete Missverständnis bzgl. der Meinungs-
freiheit eine Rolle. Denn anstatt sie als Schutzrecht gegen staatliche Eingriffe in
die Publikationsfreiheit zu begreifen wird sie gerne als Freibrief dafür herange-
zogen, konsequenzlos irgendwelche Thesen, Kommentare oder sogar Angriffe in
den analogen oder digitalen Raum kotzen zu dürfen. Von mir aus können Men-
schen das auch gerne machen, aber die Konsequenzen werden sie halt tragen
müssen. Auch wenn sie vielleicht gar nicht verstehen, warum jemand nicht mit
einer rassistischen Bezeichnung tituliert werden will.
„Empörung“ hat in den letzten Monaten meiner Wahrnehmung nach einen
gewissen Bedeutungswandel durchgemacht, insbesondere wenn der Zusatz „digi-
tale“ davor steht. Während 2010 Stéphane Hessels Bestseller Empört Euch! noch
durchaus sehr positiv aufgenommen wurde, beschwert man sich in den Feuil-
letons und Kolumnen der Republik über die, die sich den Aufruf (bewusst oder
unbewusst) zu Herzen genommen und aus seinem ursprünglichen engen The-
menkorsett befreit haben. Empört Euch! hätte in Deutschland wohl eher Empört
Euch – aber bitte nicht so! heißen sollen. Schockiert von der Wirkmacht des pub-
lizierenden Pöbels wendet sich die Bevölkerungsschicht, die Publikationsmacht
als ihr Privileg auffasst, gegen Kritik und Protest. Ist ja nur virtuell und zählt
nicht, richtet sich gegen arme Einzelne, die das sicher nicht böse gemeint haben
und außerdem machen sie das in ihrer Freizeit ohne Bezahlung etc. etc. etc. Ich
könnte mittlerweile ein Buch schreiben mit all den Kritikdelegitimationsvorlagen,
aus denen sich die Netzbetrachtung vieler Medien und Einflussreicher speist.
Anstatt die Diskussionen in sozialen Medien als mögliche Infusion neuen
Lebens in eine zwischen Parteipolitik und Alternativlosigkeit eingeklemmte und
fast erdrückte Debatte zu betrachten, die gesellschaftliche Normen in großer
Empört Euch 115
Breite sichtbar debattiert, ist man pikiert darüber, dass plötzlich auch Menschen
wie ein Harald Martenstein oder ein mittlerweile verstorbener FAZ-Herausgeber
öffentliche Ohrfeigen für ihre – mit der Macht und Gravitas uralter Zeitungen
vorgetragenen – teils abstrusen, teils menschenverachtenden, teils schlicht tum-
ben Kommentare einstecken müssen. Empörung als Ausdruck der Kritik an der
unreflektierten Grenzüberschreitung der Mächtigen wird von Mächtigen nicht
gerne gesehen, who would have thought?
Dabei ist sicherlich was dran an der Kritik des Clicktivismus, bei dem dann
irgendeine Online-Petition X Clicks bekommen soll, um … dann viele Clicks zu
haben. Genauso ist bei Kritik an Personen und der Weiterverbreitung dieser Kri-
tik über den Kontext der ursprünglichen Aussage nachzudenken: Wenn jemand
mit 30 Followern nen dummen Tweet schrieb und die Person darauf hingewiesen
wurde, ist ein Retweet vielleicht nicht unbedingt notwendig oder es zielführend
am Entstehen einer Empörungswelle mitzuarbeiten.
Aber bei aller valider und notwendiger Kritik an unseren Kommunikations-
praktiken und den technischen Mechanismen, die unsere Kommunikation online
formen: Artikel, in denen der Begriff „digitale Empörung“ als Geißel unserer
Gesellschaft identifiziert wird, tragen nur äußerst selten mehr als „aber nun lass
mich doch machen was ich will“ bei.
Die Möglichkeit, der eigenen Unzufriedenheit und auch (ganz unironisch)
Empörung über das Verhalten von Menschen mit Reichweite Gehör zu verschaf-
fen, ist kein Makel. Es ist ein Schritt zu einer Gesellschaft, in der Menschen auf
lange Sicht respektvoller und umsichtiger miteinander umgehen. Wir brauchen
den öffentlichen Diskurs über die Werte, die unsere Welt und Gesetzgebung for-
men sollen. Ein Diskurs, der sich oft erst an Grenzübertretungen entzünden kann.
Die Ablehnung öffentlicher Empörung hat sicherlich auch mit einer man-
gelnden Fehlerkultur in dieser Gesellschaft zu tun. Mit dem Zwang, nach außen
perfekt zu sein, den eigenen Lebenslauf möglichst ideal zu halten. Keine Ecken,
keine Kanten, keine Fehler. Der direkte Weg von Geburt zur Uni zur Anwaltspra-
xis, ins Abgeordnetenbüro oder in die Chefetage. Öffentliche Empörung, die man
plötzlich nicht mehr kontrollieren kann, ist da natürlich fatal. Aber daran sehen
wir, dass öffentliche Kritik eben nicht die Gesellschaft „gleichförmig“ und „lang-
weilig“ macht. Das ist sie nämlich schon weitgehend. Sie ist vielmehr ein Aus-
weg, ein Schritt zu einem menschlicheren Umgang miteinander.
In diesem Sinne: Empört euch. Und seid dankbar, wenn andere sich genug
Gedanken um euch machen, um sich zu empören. Empörung ist eine Chance.
Empörung ist auch Teil einer lebendigen Demokratie. Empört euch.
116 tante (J. Geuter)
Richard Meng
R. Meng (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: richard.meng@t-online.de
Die Frage, die bleibt nach so viel Aufgeregtheit und ständig wechselnden The-
menstellungen, ist die: Wie lernen wir wieder mehr Gelassenheit? Die Wahrheit
ist: Wir alle wären nicht zufrieden gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft ledig-
lich erklärt hätte, dass sie jetzt erst mal ein paar Tage Zeit zur Untersuchung
braucht und vorher nichts öffentlich mitzuteilen ist. Wir hätten – wie immer –
gerne mit dem Transparenzargument herumgefuchtelt und die Journalisten hätten
sich – wie immer – bei der Suche nach undichten Stellen und Exklusivinfos mit
noch größerem Recht auf der Seite des Publikums gesehen.
Dabei gab es viele Momente, in denen man eigentlich doch die Frage stellen
könnte: Musste das zu diesem Zeitpunkt schon sein – und musste es so überhaupt
sein? Das betrifft ausdrücklich nicht nur die üblichen Übergriffe von Boulevard
und Privatsendern auf Angehörige und Freunde der Opfer, speziell in Haltern.
Diese professionell durchgezogenen Überraschungsangriffe auf die Privatsphäre
von Menschen, die dem – zumal in dieser Situation – nicht gewachsen sind und
Dinge preisgeben, die im Boulevard dann zur Story in der Story aufgeblasen wer-
den.
Eigentlich begann es schon fast mit dem Absturz selbst. Eilmeldungen und
Liveschalten in diverse Pariser TV-Studios zu einem Zeitpunkt, als die German-
wings-Maschine eigentlich noch in der Luft sein sollte, Richtung Düsseldorf.
Echtzeitvoyeurismus verpackt als Nachrichtensendung. Und so gut wie in Echt-
zeit sickerte – vermutlich bei den Untersuchungsbehörden in Paris – dann schon
wieder durch, in welche Richtung die französische Staatsanwaltschaft ermittelte.
Wie fast immer inzwischen hat schon bei den Staatsanwälten jemand sich wichtig
getan und ungewisse Wasserstände ausgeplappert – sodass, so viel sei ihm zuge-
standen, der leitende Staatsanwalt in Marseille zumindest Argumente hatte, offen-
siv vor die Kameras zu gehen, bevor noch mehr Mutmaßungen durchgestochen
werden.
Dass dieser Ermittler dann aber 24 h nach dem Absturz und mitten in den
Untersuchungen in einem eitlen Auftritt vor der Echtzeit-Weltöffentlichkeit auch
gleich den Pilotennamen nennt und – so viel Service muss sein – auch noch mal
buchstabiert, zeigt erst so richtig die Unsensibilität, zu der die allgemeine News-
geilheit führt. Wer will da noch richten über Medien, die den Namen fortan ver-
wenden? Und wo ist dann noch der qualitative Unterschied zum Zeigen von Fotos
eines Mannes, dessen Angehörige Sekunden vorher noch davon ausgehen muss-
ten, dass auch er nur Opfer ist?
Die Kette, das sieht man daran, setzt sich fort. Und hinter individuellem Ver-
halten und Einzelentscheidungen steckt eben auch hier System. Alles sofort
wissen wollen – und wenn’s sich später als falsch erweist, war’s eben falsch.
Totaltransparenz, die Dabeisein suggeriert. Und: Hauptsache, im Geleitzug nicht
Die Mediatisierungsneurose 119
gefehlt zu haben, denn das hält heute niemand mehr aus. Man stelle sich zum
Beispiel auch vor, Politiker von Rang würden auf die üblichen nichtssagenden
Sätze der Betroffenheit und Trauer verzichten. Was würde daraus von interessier-
ter Seite – die es immer gibt – nicht Böses gegen sie gemacht werden können?
Was wiederum bedeutet: Es war schlicht ein Akt der Professionalität, Staats-
besuche abzubrechen und/oder an den Unglücksort zu reisen. Denn die Aufgabe
der Identitätsstiftung im allgemeinen nationalen Entsetzens- und Trauerdrama ist
ja ernsthaft vorhanden und abzuarbeiten. Es ist in der mediatisierten Welt schlicht
auch ein Job der Politik, sich durch Wahrnehmung solcher Jetztzeit-Rollen selbst
abzusichern, auch wenn das mit Politik im administrativen Sinne wenig zu tun
hat. Prompt haben die unvermeidlichen Meinungsforscher der Kanzlerin beschei-
nigt, wie sehr ihre Sympathiewerte mit dieser neuerdings „Kümmern“ genannten
Rolle des Verkörperns von Gefühlen zu tun haben.
Wenn das so ist, dann lässt sich auch das Staatsschauspiel Trauerarbeit nicht
ernsthaft professionell infrage stellen. Dann haben überhaupt in diesem Wochen-
drama die meisten öffentlichen Akteure schlicht ihre Rolle möglichst extensiv
gespielt. Und in reziproker Weise gehören dazu auch die Kritiker der Kritiker,
denn diese Rolle gehört längst dazu. Gut, dass das so ist: Die Medienkritik (wenn
auch oft leider nicht in jenen Medien, die den Takt vorgeben), das Hinterfragen
und Infragestellen der Berichterstattung, hat zumindest in den seriösen Medien
einen bemerkenswerten Standard erreicht. Auch dafür gibt es ein Publikum, das
bedienst sein will. Was aber nicht verhindert, dass das derart qualifiziert Kriti-
sierte weiter geschieht. Dass die Mediatisierung zu einer Gesellschaftsneurose
führt. Einer Krankheit letzten Endes, aber einer, die sich längst in der Normalität
der Lebensgewohnheiten breit macht.
Wohl wahr: Den Treibsatz solcher Prozesse bilden die Online-Medien. Und
deren Leitportale entwickeln sich insgesamt eher immer noch weiter in Richtung
Dramatisierung als in Richtung zeitsouveräne Gelassenheit. Hier ist tatsächlich
ein Mechanismus am Werk, der es schwer macht, vom Publikum Distanz zu for-
dern, während es ständig mit neuen Exklusiv-Häppchen aufgeputscht wird. Hier
sorgen die technischen Möglichkeiten der zeitgleichen weltweiten Kommunika-
tion für eine Logik der Zuspitzung, mit der einordnender Überblick ausgerechnet
im subjektiven Gefühl des Informiert-Seins verloren geht.
Aber was hilft’s? Gegen Sturmwellen hilft nur Standfestigkeit. Es gibt keinen
anderen Weg, als Medienkompetenz – gesellschaftlich betrachtet – eben nicht nur
als Konsumkompetenz zu verstehen, sondern auch als Einordnungskompetenz.
Als die Stärke, Geschwätz (und sei es „Experten“-Geschwätz) von Informationen
zu unterscheiden. Und das Problembewusstsein bei all den Akteuren – auch den
Amtspersonen aller Art – zu schärfen, die den medialen Windmaschinen immer
120 R. Meng
wieder nur zu gerne Futter liefern, und sei es nur um sich selbst wichtig zu tun.
Auch den Mund zu halten kann mal ein Dienst an der Gesellschaft sein. Fragt
sich dann aber auch, wem solcher Dienst noch ein Verhaltensmaßstab ist.
URL: http://www.carta.info/78043/die-mediatisierungsneurose/ vom 1. April
2015.
Warum Click-Aktivismus etwas ändern
kann
Till Westermayer
Eine erste große Welle von politisch motivierten Profilbildänderungen bei Face-
book fand – mit technischer Unterstützung durch den Konzern – im Sommer 2015
anlässlich eines wegweisenden Urteils des Supreme Court zur gleichgeschlechtli-
chen Ehe (Obergefell v. Hodges) statt. Der folgende Text ist als Kommentar dazu
entstanden.
T. Westermayer (*)
Freiburg, Deutschland
E-Mail: till@tillwe.de
Natürlich ist es „Clicktivism“, wenn jede/r durch ein paar Mausklicks das
Profilbild einfärben kann, um damit eine Haltung auszudrücken. Ich bin trotz-
dem überzeugt davon, dass diese Form des Aktivismus nicht unterschätzt werden
sollte. Auch das Demonstrieren auf der Straße, die Teilnahme an einem CSD oder
das Tragen eines Anti-AKW-Aufklebers auf der Aktentasche sind nicht mehr –
und nicht weniger – als symbolische Handlungen. Und wer eine Unterschriften-
liste unterzeichnet, möglicherweise sogar noch anonym, tut ebenfalls etwas, ohne
viel zu tun. So scheint es zumindest.
Momentaufnahme: Bei mir sind derzeit etwa 12 % der Profilbilder meiner
Facebook-FreundInnen eingefärbt, weltweit sollen es einige Millionen Menschen
sein, die hier mitgemacht haben. Das als Bewegung darzustellen, wäre übertrieben.
Trotzdem kann sich etwas ändern, indem Menschen ihre Haltung sichtbar machen.
Ich sehe hier zwei Aspekte. Zum einen geht es bei symbolischen Handlun-
gen um Masse und um Sichtbarkeit. Jede Unterschrift mehr, jede Demoteilneh-
merIn mehr, noch ein regenbogengestreiftes Bild – als das zahlt auf das Konto
„Sichtbarkeit“ eines Themas ein. Je mehr, je exponierter, desto wahrscheinlicher,
dass Massenmedien etwas aufgreifen, dass eine politische Haltung wahrgenom-
men wird. Das aber bedeutet, dass die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung sich
ändert. Wenn plötzlich überall Regenbogen zu sehen sind, könnte das ja heißen,
dass die Mehrheit der Menschen viel aufgeschlossener ist, als manche gedacht
hatten. Es verschieben sich Deutungsmuster im Diskurs. Wenn dann noch Mei-
nungsumfragen dazu kommen, die diese Verschiebung bestätigen, verfestigt sich
Warum Click-Aktivismus etwas ändern kann 123
eine neue thematische Hegemonie, die „gefühlte Mehrheit“ – die durchaus eine
Rolle dafür spielt, wie Politikerinnen und Politiker handeln – verändert sich.
Zum anderen gibt es eine individuelle Ebene. Je mehr wir erkennen, dass auch
Facebook nur ein Teil der realen Welt ist, desto deutlicher wird, dass symbolisches
Handeln reale soziale Folgen haben kann. Wenn Menschen darüber berichten,
dass ihr Facebook-Bekanntenkreis auf Regenbogenstreifen homophob reagiert
hat, dann ist das eine reale soziale Folge. Und gerade Facebook ist eben nicht nur
algorithmisch fixierte Filterblase, sondern oft ein Überlappen ganz realer Teilöf-
fentlichkeiten. Der Regenbogenavatar wird eben auch für die KollegInnen, die
Nachbarschaft, den Sportverein oder die alten SchulfreundInnen sichtbar. Damit
wird aus dem Äußern der privaten politischen Einstellung ein politisches Handeln.
Ganz klein, niedrigschwellig, aber doch mit einer Hürde versehen, die in den anti-
zipierten Reaktionen anderer besteht. Den eigenen Avatar sichtbar für ein politisches
Statement zu nutzen, heißt auch, für dieses einstehen zu müssen, darauf angespro-
chen zu werden – bis hin zum „Freundschaftsverlust“ oder zum Kommunikationsab-
bruch. Oder, im besten Fall: Bis hin zur Einstellungsänderung im Freundeskreis.
Das Digitale ist real – und wir sollten uns das nicht kleinreden lassen.
Ich will damit nicht das Wort dafür reden, dass jede Form des digitalen Aktivismus
politisch Gewicht hat. Es gibt unzählige Onlinepetitionen ohne jede Folge. Längst
nicht alles, worüber sich eine Filterblase empört, multipliziert sich in den gesellschaft-
lichen Diskurs. Aber es kann passieren – und gerade dann, wenn so etwas letztlich
doch sehr persönliches wie das eigene Abbild massenhaft und damit sichtbar in die-
ses politische Spiel hineingebracht wird, und wenn es noch dazu in dieser Form (d. h.
technisch von Facebook selbst unterstützt) etwas Neues ist – dann verschiebt sich
der Diskurs, dann manifestiert sich eine Änderung der gesellschaftlichen Stimmung.
(Ähnlich ist es, wenn Menschen von sich aus eine politische Botschaft in ihren Freun-
deskreis hinein verteilen – und auch das geschieht nur in ganz bestimmten Fällen).
Die Besonderheit des Moments heißt allerdings auch: die nächste, übernächste
und überübernächste Kampagne, die darauf setzt, das Menschen ihren Avatar ver-
ändern, muss sich von den Regenbogenstreifen abheben. Sonst fehlt es an Neu-
heitswert und damit an gesamtgesellschaftlicher Sichtbarkeit.
Warum blogge ich das? Weil mich das Kleinreden nervt.
URL: http://blog.till-westermayer.de/index.php/2015/07/01/warum-click-akti-
vismus-etwas-aendern-kann/ vom 1. Juli 2015.
Verantwortung durch Reichweite
Lisa Haala
Mit großer Reichweite geht auch eine gewisse Verantwortung einher. Nicht
immer werden YouTuber dieser gerecht. Warum ist die richtige Wortwahl und das
Bewusstsein um ebendiese Verantwortung so wichtig?
Es ist ein leidiges Thema und durchaus eines, das gern umgangen wird. Nie-
mand will es so recht annehmen und es wird genauso gern abgeschoben wie die
Frage nach dem Startum der YouTuber. Nichtsdestotrotz wird es immer wieder
aktuell und gerade einige Vorfälle in jüngster Zeit sind mir etwas bitter aufgesto-
ßen. Es gibt ein Problem mit direkten Worten: Sie bieten hinterher keine Mög-
lichkeit mehr sie zu verschleiern. Aber es gibt Momente, wo das Setzen von
direkten, wohlgemeinten Wörtern notwendig ist. Und es mag sein, dass ich mir
mit den folgenden Sätzen keine Freunde mache. Aber wenn allein Sätze Freunde
machen, ist sowieso irgendetwas schief gelaufen.
Verantwortung durch Reichweite. Ja, sie besteht und ist dabei keine Frage des
Wollens.
„Ich wollte das nie.“ Nun, das mag sein. Aber niemand wird einer Mutter, die
ungewollt schwanger geworden ist, die Verantwortung für ihr Kind absprechen.
Ob man es nun will oder nicht, durch eine gewisse Reichweite übernimmt man
eine gewisse Verantwortung. Und ja, YouTuber müssen Opfer bringen für das
Privileg ihr Hobby zum Beruf gemacht zu haben, selbstständig zu sein und ihre
Zeit frei gestalten zu können – mit nicht unerheblicher Vergütung. Ein Teil davon
ist wohl in gewisser Weise der Verlust der Privatsphäre bis zu einem gewissen
Grad. Damit rechtfertige ich in keiner Weise das Belagern von Wohnungen oder
L. Haala (*)
Köln, Deutschland
E-Mail: lisa.haala@googlemail.com
das (mir komplett unverständliche) Recht, das sich manche nehmen, YouTuber
bei Sichtung umarmen zu dürfen, sondern zum Beispiel die Einschränkung der
Bewegungsfreiheit bei öffentlichen (Groß-)Ereignissen. Man kann es wohl als
eine Art Gleichgewicht sehen. Und wer sich dazu entscheidet in die Öffentlichkeit
zu treten, der muss auch die damit einhergehende Verantwortung tragen. Denn
es ist eine Entscheidung – jeder von ihnen hätte sich durchaus von der Kamera
abwenden können, als es absehbar wurde, welche Ausmaße das Ganze annimmt.
Allgemeinwohl
Es geht mir dabei nicht unbedingt um den Content, der an Inhalt mangeln kann.
Die meisten YouTuber machen kein Bildungsfernsehen (oder „Bildungs-You-
Tube“) und das müssen sie auch nicht. Sie machen den Content, den sie gut
können, den die Zuschauer sehen wollen und der unterhält. Dass in den Videos
natürlich keine Gewalt oder Drogen verherrlichenden Szenen vorkommen sollten,
ist dabei wohl so klar, dass ich schon die Erwähnung überflüssig finde – aber neh-
men wir es der Vollständigkeit halber mit auf. Also unterliegt natürlich auch der
Content gewissen Grenzen und kann durchaus mal daneben greifen.
Mir persönlich wird die vorhandene Reichweite immer noch zu wenig zum
Allgemeinwohl genutzt, denn das ist wohl der erste Punkt, den die Verantwortung
trifft. Man sollte doch meinen, dass sich mit einer millionenstarken Fanbase sich
einige Aktionen auf die Beine stellen lassen. Aber wie viel tun unsere Abo-Mil-
lionäre für das Allgemeinwohl? Warum sind solche Aktionen wie die #Lemon-
FaceChallenge von Y-Titty, die Unterstützung der Kindernothilfe durch Kayef
oder der Spendenstream für die Erdbebenopfer in Nepal von Gronkh nicht längst
wenige unter vielen? Warum gibt es keine Projekte, die diese vorhandenen Reich-
weiten und Möglichkeiten vielleicht auch gebündelt nutzen?
Der zweite Kritikpunkt trifft die direkte Verantwortung für die eigenen Abon-
nenten. Mir geht es um die Botschaften, die teils in aber oft auch außerhalb der
Videos vermittelt werden. Wenn Timo dazu auffordert, aus dem System auszubre-
chen oder Chris es als stark hinstellt, Menschen mit unangenehmen Meinungen
aufs Maul zu hauen.
Und dann hilft es nicht, Tweets schnell wieder zu löschen. Das Internet ver-
gisst nicht. Der Samen ist gesät und er wird Wurzeln schlagen. Es geht nicht um
Verantwortung durch Reichweite 127
einen einzigen Tweet und jeder von uns verliert im Eifer des Gefechts manchmal
Wörter, die er am liebsten vergessen sehen würde. Es geht um das, für was sie als
YouTuber stehen. Es geht um ihren Stand in der Gesellschaft und ihre Aufgabe
als Vorbild. Denn das sind sie unweigerlich. Die Leute sehen sie nicht nur, sie
glauben ihnen. Teilweise sickern ihre Worte komplett ungefiltert und unbedacht
ins Bewusstsein und verankern sich dort.
Die folgende Argumentation ist lediglich exemplarisch und es gibt noch deut-
lich mehr schlechte Beispiele – und damit meine ich nicht die YouTuber sondern
die fehlgesetzten Aussagen.
Neben Timos Wellen schlagenden Tweets der letzten Woche, die dazu auffor-
derten, aus dem System auszubrechen und ein Studium niedermachten, hat auch
Taddl schon einige Male „08/15-Schreibtischjobs“ mit unangebrachten Worten
bedacht.
Es ist nicht jeder dafür gedacht, aus dem System auszubrechen und es sind
wahrlich mehr Leute glücklich mit einem geradlinigen Lebenslauf als mit der
Verantwortung, die beispielsweise durch die Selbstständigkeit kommt. Und
das muss auch so sein. Jeder Mensch hat andere Ziele für sein Leben und jeder
Mensch wird durch andere Dinge erfüllt. Und niemand hat das Recht, die Träume
oder Vorstellungen eines anderen kleinzureden oder schlechtzumachen. Manch
einer lebt hinter einem Schreibtisch ein komplett erfülltes Leben, während ein
anderer dabei zugrunde gehen würde. Jeder muss seinen Weg selbst finden und
einige benötigen durchaus einen Anstoß, auch mal über den Tellerrand zu blicken.
Aber deshalb besteht keine Notwendigkeit, das, was im Teller ist, als schlecht
darzustellen. Wenn jeder aus der Gesellschaft ausbricht, dann gibt es keine
Gesellschaft mehr. Manche Dinge mögen für den ein oder anderen unverständlich
sein, aber sie alle haben ihren Zweck. Ein Studium als Ganzes oder die Arbeit für
einen Vorgesetzten als minderwertig darzustellen, ist überheblich, dumm, respekt-
los und vollständig verantwortungslos.
Meinungsäußerung
Es gibt wenig Dinge, die ich wirklich absolut nicht abkann. Eins davon sind Fal-
ten im Bettlaken, ein anderes das inflationäre Verwenden des Satzes „Aber das
ist meine/deine/seine/ihre/.. Meinung!“ Natürlich hat jeder das Recht, sich eine
eigene Meinung zu bilden und solche Dinge zu denken, sich besser zu fühlen als
andere (was angeblich sogar die Lebenserwartung erhöht), aber mit der Anzahl an
Leuten, die man mit seinen Worten nicht nur erreicht, sondern auch hochgradig
beeinflusst, ist die Wahl der richtigen Wörter ausschlaggebend und dabei muss
128 L. Haala
man immer die Wirkung beachten, die die eigenen Aussagen auf andere haben
können. Ein einfaches „Du hast aber zugenommen.“ kann im schlimmsten Fall
zur Magersucht führen und ebenso kann ein „Ein Studium ist scheiße.“ Auswir-
kungen haben, die nicht absehbar sind. Und so gehört es zur Verantwortung, die
mit der Reichweite kommt, auch mal seine Meinung für sich zu behalten oder sie
zumindest in Worten zu äußern, die man vorher durchdacht hat.
Das ist nicht einfach – ohne Frage. Jeder von uns ist mal aufgebracht, traurig,
wütend oder frustriert, fühlt sich missverstanden und grundlos angegriffen. Und
jedem von uns können dann Worte entfliehen, die wir später bereuen – ob nun
den Inhalt oder nur, dass andere sie gelesen haben. Im größten Teil der Fälle sind
die Auswirkungen dieser Ausbrüche nicht groß oder schlimm, doch je höher die
Reichweite und der Einfluss ist – beides Dinge, die zweifelsohne vorhanden sind –
umso wahrscheinlicher ist es.
Das Publikum auf YouTube ist oft jung und leicht beeinflussbar und wenn
ihnen dann ein älteres, erwachsenes, im Leben stehendes Vorbild sagt, dass stu-
dieren oder ein „gewöhnlicher Bürojob“ scheiße ist, dann muss es wohl so sein.
Und wenn man die Verantwortung für die Auswirkungen solcher Sätze nicht
übernehmen kann – und das kann niemand – dann sollte man sich beim nächsten
Mal vielleicht doch die Zeit nehmen, den Tweet noch mal zu lesen, bevor man ihn
abschickt.
Ihr habt Verantwortung. Gewollt oder ungewollt, sie ist da. Sie liegt auf euren
Schultern. Also werdet dieser Verantwortung gerecht und seid die Vorbilder, die
ihr selbst gern gehabt hättet. Die Tatsache, dass Meinungen gehört werden, ist ein
Privileg und eine Last. Nutzt die Privilegien, die euch gegeben sind, um die Last
zu minimieren.
URL: http://broadmark.de/artikel/kolumne/verantwortung-durch-reichweite/27312/
vom 17. Mai 2015.
Was hilft mir das Recht auf Vergessen,
wenn ich nicht für mich sein kann?
Maximilian Steinbeis
Privacy heißt, für mich bleiben zu können. Eine Grenze ziehen zu dürfen zwi-
schen mir und der Gesellschaft, ab der sie mich in Ruhe lassen muss und ich von
ihrer moralischen, politischen und ökonomischen Inanspruchnahme unbehelligt
bleibe. Mich undurchsichtig machen, mich verhüllen, mich verbergen zu dürfen,
in meinen Kleidern am Leib, in den Wänden meiner Wohnung, in meiner eigenen
Person.
Meine Privacy zu verteidigen, dazu ist der Datenschutz da, und den Daten-
schutz in Europa zu verteidigen, dazu ist, wie sich vorletzte Woche herausstellte,
der Europäische Gerichtshof da, der zu diesem Zweck Google verurteilt hat,
Informationen über Leute nicht mehr in ihren Suchmaschinen-Ergebnissen zu lis-
ten, wenn sie das nicht wollen. Das Urteil hat eine Menge Kritik erfahren, weil es
das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die Meinungsfreiheit derer, die
Informationen verbreiten wollen, nicht ausreichend schützt. Das leuchtet mir alles
durchaus ein. Aber sollten wir uns nicht mindestens genau so viel Sorgen um
jenes Recht auf Privacy machen, das das Google-Urteil eigentlich schützen soll?
Letzten Dienstag war an der Humboldt-Uni als Gast von des Rule of Law
Center am WZB der amerikanische Verfassungsrechtler Jack Balkin von der Yale
Law School zu Besuch. Der ist nicht nur Begründer des legendären Blogs Balki-
nization (dazu haben wir mit ihm ein Interview geführt, das wir nächste Woche
hier posten werden), sondern auch einer der klügsten Köpfe der an klugen Köp-
fen nicht armen liberalen US-Verfassungsrechtsszene.
M. Steinbeis (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: ms@verfassungsblog.de
Und wenn irgendwo noch ein großer Konzern sich für Free Speech ins Zeug
wirft, dann hat er ganz anderes damit im Sinn: Dann will die Telekom damit
erreichen, bei der Datendurchleitung diskriminieren zu dürfen – Free Speech
heißt dann, dass niemand einem Netzbetreiber vorschreiben darf, welche Daten
er transportiert und welche nicht. Dann wollen die Koch-Brüder damit erreichen,
sich politischen Einfluss kaufen zu dürfen – Free Speech heißt dann, dass nie-
mand einem reichen Mann vorschreiben darf, welchen Kongresskandidaten er
unterstützt und welchen nicht. „Was Free Speech bedeutet“, so Jack Balkin am
Dienstag, „verändert sich unter unseren Füßen.“
Das Ergebnis ist, dass der feuchte Traum der Sicherheitsbürokratie Wirklich-
keit wird: Sie kann tatsächlich regulieren, was an Kommunikation in der Gesell-
schaft passiert. Sie hat uns im Griff. Nicht jeden einzelnen von uns, aber uns alle
insgesamt dafür um so fester. Der individuelle Grundrechtseingriff ist dabei so
zersplittert, kollateralisiert und aufgelöst wie der faule Immobilienkredit in einem
AAA-gerateten Paket Asset Backed Securities. Weit und breit ist niemand in
Sicht, dessen Protest genügend Gewicht auf die Waage bringen könnte, um die-
sem Traum ernsthaft im Weg zu sein. Solange wir nur unermüdlich miteinander
sprechen, läuft alles wie geschmiert.
Womit wir beim Thema Privacy wären. Dass das Google-Urteil des EuGH
gegen den Traum der Sicherheitsbürokratie nichts hilft, sondern im Gegenteil ihn
erst richtig beflügelt, liegt auf der Hand.
Es hilft mir vielleicht, wenn jemand einen fiesen Blogpost oder ein demütigen-
des Foto von mir hochgeladen hat. Das ist schön.
Aber es hilft mir nicht gegen den Befund, dass ich kaum einen Atemzug tun
kann, ohne damit irgendwelche Datenturbinen anzutreiben. Es hilft mir nicht dage-
gen, dass ich das lidlose Auge des Überwachungsstaats auf mir ruhen fühle bei
allem, was ich tue. Es hilft mir nicht gegen den Eindruck, dass man in Ruhe gelas-
sen werden und in der Unauffälligkeit verschwinden nur noch dann kann, wenn
man dauernd mittendrin ist. Es hilft mir nichts gegen die Einsicht, dass es regel-
recht riskant werden kann, einfach mal die Tür hinter sich zumachen zu wollen.
Der EuGH hat ein epochales Grundsatzurteil zum Schutz meiner Privacy
gefällt. Aber ich fühle mich bedrohter denn je.
URL: http://verfassungsblog.de/hilft-mir-das-recht-auf-vergessen-wenn-ich-
nicht-fuer-mich-sein-kann/ vom 31. Mai 2014.
Snowden-Leaks & Privacy: Mehr
Bewusstsein und mehr Kommunikation
Die Ergebnisse einer explorativen Untersuchung zum Einfluss der ersten Snow-
den-Leaks im Juni 2013 auf Facebook-Profile zeigen einen Zuwachs an Bewusst-
sein im Umgang mit persönlichen Informationen im Speziellen sowie einen an
Kommunikation insgesamt. Trotz komplexer technischer und juristischer Zusam-
menhänge zeugen offenbar implizit vorgenommene Verhaltenssensibilisierungen
von einer aufkommenden Kultur des Datenschutzbewusstseins. Auf der Seite der
Nutzer, nicht der Organisationen.
Im Juni 2013 gelangten die ersten von Whistleblower Edward Snow-
den geleakten Informationen über die Praktiken der NSA an die Öffentlichkeit.
Aus den veröffentlichten Geheimdienstinformationen ging hervor, dass umfas-
sende Datensätze erfasst, gespeichert und analysiert werden. Dies geschieht
ohne ersichtliche Grenze und mit unbestimmbarer Dimension: weltweit, die ver-
schiedensten Kommunikationsmittel betreffend und weitgehend ohne konkreten,
belastbaren Anlass.
J. Schindl (*)
Wien, Österreich
E-Mail: jennifer.schindl@gmx.at
J. Krone
Institut für Medienwirtschaft, FH St. Pölten, St. Pölten, Österreich
E-Mail: jan.krone@fhstp.ac.at
Eine Ursache für die Unsicherheiten der Nutzer von Social Software über die Ver-
wendung persönlicher Informationen durch unbekannte Dritte sind zum einen die
schwer fassbare, weltweite Vernetzung und die damit einhergehende schwindende
Relevanz geografischer und organisatorischer Grenzen. Zum anderen erschweren
die komplexen juristischen, international uneinheitlichen Zugänge ein Verständnis
für das, was Nutzer von Social Software-Plattformen heute als „schützenswerte
persönliche Informationen“, also Daten, die über Person, Ort und Zeit zu einem
Beziehungsgeflecht verbunden werden können, empfinden. Als Konsequenz sind
die User als kleinste Einheit selbst angehalten mit ihren persönlichen Informati-
onen sorgfältig abwägend statt unbedacht und auf Dritte vertrauend umzugehen
(Datensparsamkeit).
Begleitend mit der durch Surveillance einhergehenden Ernüchterung ob eines
akzeptablen Schutzniveaus der informationellen Selbstbestimmung hinsichtlich
freier Kommunikation wird verstärkt öffentlich darauf aufmerksam gemacht, dass
der Schutz persönlicher Daten via Social Software – weder national noch interna-
tional – zureichend geregelt, geachtet und die Gesetzeslage nicht zur Genüge dem
Fortschritt der digitalen Entgrenzung von zwischenmenschlicher Kommunikation
angepasst ist. Auch stellt das Abschöpfen/Verarbeiten von persönlichen Informa-
tionen nach spezifischen Zielinteressen nicht nur eine Problematik aus der Pers-
pektive des Staates bzw. der Staatengemeinschaft, sondern ebenso auf der Ebene
Individuum und Organisation/Industrie dar.
Persönliche Informationen gelten als wertvolle Ressource und das Bedürfnis
nach vernetzter Kommunikation ist nicht stagnierend oder rückläufig. Gemessen
an der populärsten Social Software Facebook gewinnen Kommunikationsoptio-
nen nach wie vor stetigen Zulauf.
diesem Jahr insgesamt 711 Postings lieferten, untersucht. Die willkürliche Stich-
probe entstammt dem internationalen „Freundesstamm“ der Co-Autorin. Von 233
angefragten Fällen antworteten 115 mit einer Zustimmung zur anonymen Eva-
luation ihrer Profile und den dort sichtbaren Informationen – ohne Hinweis auf
den Untersuchungszweck. In Bezug auf die Grundgesamtheit (757 Mio. aktive
User weltweit im 4. Quartal 2013) handelte es sich um eine explorative Studie,
die ein Schlaglicht abliefert. Dem Ziel folgend, eine Bewusstseinsänderung hin-
sichtlich Datenemissionen von Individuen zu messen, wurden die Ergebnisse des
ersten (Prä-Snowden-Leaks) und zweiten Halbjahres (Post-Snowden-Leaks) 2013
gegenübergestellt. Vor und nach der Zäsur zur Internet-Surveillance.
Als notwendige, theoretische Grundlage der Untersuchung dienten zum einen
die zeitgemäße Annahme, dass Profile von Facebook-Usern als Veröffentlichun-
gen im Sinne einer Zugriffsoption durch eine sehr große Anzahl unbekannter
Dritte als Teil der Öffentlichkeit anzusehen sind. Zum anderen wurde eine Abs-
traktion rechtswissenschaftlicher Komplexe zu „persönlichen Informationen“
vorgenommen. Das Medienrecht als sogenannte „Gemengelage“ umschließt
den Untersuchungskern „persönliche Informationen“ aus hier drei als wirksam
erachteten Bereichen: die auf Massenmedien angewandte Sphärentheorie zum
Persönlichkeitsrecht, Datenschutzgesetze für die Regelung im Umgang mit per-
sonenbezogenen Daten sowie das Urheberrecht in Bezug auf Geoinformationen.
Als erstes Ergebnis der Untersuchung ergab sich eine schwach rückläufige Ent-
wicklung der Angabe geschützter, persönlicher Information auf Facebook vom
ersten auf das zweite Halbjahr 2013. Betrachtet man die Resultate unter quali-
tativen Aspekten, lässt sich feststellen, dass die regressive Veränderung bei den
untersuchten 50 Fällen jeden Geschlechts, jeder Herkunft und jeder Ausbildung
gleichermaßen auftritt.
Ein umgekehrter Trend lässt sich im zweiten Ergebnis der empirischen Unter-
suchung erkennen, wenn die Anzahl und Entwicklung aller erfassten Angaben
auf den untersuchten Profilen auf Facebook herangezogen werden. Es erfolgt
ein Anstieg der Postings von der ersten auf die zweite Jahreshälfte 2013. Der
Anteil der insgesamt 711 Postings betrug im ersten Halbjahr 46,55 %, im zweiten
Halbjahr 53,45 %.
Für das Jahr 2013 kann ein Snowden-Effekt für das Untersuchungssample ausge-
macht werden. Die Ergebnisse weisen weder die Abkehr von der Plattform, noch
eine Reduktion der Posting-Aktivität aus. Zudem ist eine leichte Sensibilisierung
im Umgang mit persönlichen Daten erkennbar. Dieses Ergebnis unterstützt die
Auffassung, dass die Aufklärungsarbeit um die Snowden-Leaks aka die Empfeh-
lung zur Datensparsamkeit das Verhalten zumindest der Facebook-User zu ver-
ändern imstande ist. Die hier herangezogenen Profile machen zumindest für die
138 J. Schindl und J. Krone
Martin Hoffmann
Anderswo wird gerade der Journalismus neu erfunden – hierzulande wartet man
lieber noch ein bisschen ab. Wir zeigen sechs große Trends der nächsten Jahre.
Erinnert sich noch jemand an Zoomer.de? Nein? Kein Wunder. Das Nachrich-
tenportal, bei dem die Nutzer über die Themen mitbestimmen konnten, wurde im
Februar 2009 eingestellt. Seitdem gab es in Deutschland kein richtiges Experi-
ment mehr in Sachen News-Websites. Die großen Player orientierten sich lange
mehr oder weniger am Vorbild Spiegel Online, investierten viel in Suchmaschi-
nenoptimierung und wenig in Gedanken darüber, wie eine Nachrichten-Seite im
21. Jahrhundert aussehen sollte. Die Impulse in der News-Branche kommen hier-
zulande meistens von außerhalb. Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick über
den Tellerrand, wo gerade heftig an der Neuerfindung der Online-News gefeilt
wird.
Für einen Vortrag bei der Zukunftswerkstatt Radio-Nachrichten im MDR-Lan-
desfunkhaus Magdeburg habe ich die aktuellsten Trends mal zusammengefasst.
Neben den „großen“ sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter gibt es
inzwischen einen neuen Trend: Private Gruppen-Kommunikation über Messen-
ger-Dienste wie Snapchat oder Whatsapp wird immer populärer. Ob Arbeitskol-
legen, ehemalige Mitschüler oder Partyfreunde – es gibt für jede Gelegenheit
M. Hoffmann (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: martin.hoffmann@mrtnh.de
die richtige Gruppe. Nur Nachrichten finden hier bislang noch nicht bzw. kaum
statt. Warum eigentlich, dachte sich wohl auch die BBC und preschte zur Wahl
in Indien vor. Über eine kurze Mitteilung an einen Whatsapp-Account der BBC
konnte man die neuesten Updates zur Wahl abonnieren. In bester Live-Ticker-
Manier bekamen die Nutzer aktuelle Entwicklungen, Zwischenstände und Zah-
len aufbereitet als Text, Grafik, Video und Audio auf ihr Smartphone geschickt.
Ganz ähnliche Versuche gab es auf Snapchat zum Beispiel von der Washington
Post zum Superbowl oder vom amerikanischen ARD-Hörfunk-Pendant NPR.
Der große Vorteil daran: Über die Push-Funktion schaffen es die Nachrichten mit
ziemlicher Sicherheit auf den Smartphone-Homescreen des Nutzers. Schließlich
will niemand die neuesten Nachrichten in seinem favorisierten Gruppenchat ver-
passen. Dadurch werden die Meldungen mit hoher Wahrscheinlichkeit gelesen.
Oder anders gesagt: Der Homescreen wird der neue Newsfeed. Wer seine Nach-
richten noch an den Mann bringen will, muss hier auf jeden Fall auftauchen – und
ganz nebenbei sind diese Kanäle auch ein super Rückkanal für User Generated
Content.
Wahl. Anders ausgedrückt: Die Homepage ist noch nicht ganz tot. Aber sie siecht
langsam dahin.
Im April launchte Vox.com, das neue Baby von Ezra Klein. Auffällig dabei: Vox.
com setzt unter anderem auf eine andere Darstellungsvariante als weite Teile der
Konkurrenz. Die Macher zerlegen ihre journalistischen Geschichten in kleine
Einzelteile. Einfaches Beispiel: der Artikel zum Thema Marihuana-Legalisie-
rung. Die Erzählweise pendelt zwar irgendwo zwischen Wikipedia und New York
Times – ist aber nichtsdestotrotz spannend. Denn das dahinter stehende Format
der Cards hat großes Potenzial. Warum ich Cards so super finde? Sie sind das per-
fekt Nutzungsszenario für mobile Endgeräte: äußerst kompakt, beliebig kombi-
nierbar, einfach wiederverwertbar. Das hat auch Google mittlerweile erkannt und
setzt seit dem letzten, Plattform übergreifenden Redesign sehr stark auf die Kar-
ten-Anmutung, die kleine Informationshappen in mundgerechten Stücken präsen-
tiert. Vor allem bei Google Now, dem Versuch des „Suchmaschinenriesen“ noch
stärker im Alltag seiner Nutzer präsent zu sein, ist das schon jetzt das Mantra.
Die Route vom Heimat- zum Arbeitsort wird ebenso auf einer einzelnen Karte
präsentiert, wie die Statistiken zum Baseball-Spiel von letzter Nacht. Der Vorteil:
Die Darstellung funktioniert auf jedem denkbaren Endgerät – inklusive Google
Glass. Aber das alles ist erst der Anfang: Cards werden schon in ein paar Jahren
allgegenwärtig im Netz sein. Und auch die Art und Weise, wie wir Nachrichten
konsumieren, verändern.
Vor ein paar Wochen erschien auf Quartz.com eine wunderbare Infografik dazu,
welche Berufszweige in Zukunft durch Roboter ersetzt werden könnten. Dass
es darin eine eigene Kategorie für Jobs im Bereich „Media, Entertainment &
Sports“ gab, war alles andere als ein Zufall. Denn die ersten Algorithmen, die
automatisch Nachrichten-Artikel schreiben, sind längst im Einsatz. So wurde der
erste Artikel auf der Website der LA Times nach einem Erdbeben im März von
einem Bot geschrieben. „Wir waren innerhalb von drei Minuten online“, sagte
Ken Schwencke, Journalist und Programmierer der LA Times hinterher in einem
Interview. Der komplette Artikel lautete wie folgt:
144 M. Hoffmann
A shallow magnitude 4.7 earthquake was reported Monday morning five miles from
Westwood, California, according to the U.S. Geological Survey. The temblor occur-
red at 6:25 a.m. Pacific time at a depth of 5.0 miles. According to the USGS, the
epicenter was six miles from Beverly Hills, California, seven miles from Univer-
sal City, California, seven miles from Santa Monica, California and 348 miles from
Sacramento, California. In the past ten days, there have been no earthquakes magni-
tude 3.0 and greater centered nearby. This information comes from the USGS Earth-
quake Notification Service and this post was created by an algorithm written by the
author.
Schwencke hatte schon vor zwei Jahren seinen so genannten „Quakebot“ pro-
grammiert, der automatisiert zu allen Erdbeben-Meldungen eines amerikanischen
Erdbeben-Institutes kurze Nachrichten in einem bestimmten Format verfasst. Was
zunächst simpel klingt, zeigt auf, wohin die Reise geht. Nachrichten folgen sehr
oft bestimmten Mustern und orientieren sich in ihrer Sprache an bestimmten Vor-
gaben. Füttert man einen Bot nun mit den richtigen Vorgaben und zapft die rich-
tigen Datenquellen an, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Nachrichten
schreibt, die von denen eines „echten“ Nachrichten-Redakteurs nicht mehr zu
unterscheiden sind. Ob Verbrechen, Börsennachrichten oder Sportjournalismus:
Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Konrad Weber hat gerade ein paar
denkbare Szenarien zusammengefasst, wie Algorithmen den Journalismus ver-
bessern könnten. Es gilt: Journalisten tun gut daran, diese technologiegetriebene
Neuerung aktiv mitzugestalten. Sonst könnten einige von ihnen in ein paar Jahren
tatsächlich durch Roboter ersetzt worden sein.
Kaum ein Markt im Netz ist derzeit so umkämpft wie der Bewegtbildmarkt. Kein
Wunder, verlagern sich die wichtigen Werbegelder doch zunehmend vom TV ins
Internet. Davon versucht zuallererst YouTube zu profitieren. Die zweitgrößte Such-
maschine der Welt will schon länger ein Umfeld schaffen, in dem sich Kreative
wohl fühlen. Mit eigenen Programmen wurden z. B. neue Formate unterstützt.
Inzwischen haben sich auch die ersten Vermarktungsnetzwerke gegründet. Gewisse
YouTuber sind mittlerweile nicht mehr nur innerhalb der Szene ein Begriff, son-
dern auch weit darüber hinaus. Bestes Beispiel dafür dürfte neben Y-Titty auch Flo-
rian Mundt, alias LeFloid, sein. Er hat inzwischen über 1,8 Mio. Abonnenten auf
seinem YouTube-Kanal – und hat im letzten Jahr mit seinen „LeNews“ eine Sen-
dung an den Start gebracht, die das tagesaktuelle Geschehen kommentiert. Nicht
umsonst ist LeFloid in diesem Jahr für den Grimme-Online-Award nominiert. Die
Journalismus: Die neuen Nachrichtenkonkurrenten im Netz 145
schnell geschnittenen Clips strotzen nur so vor Witz – und Meinung – und errei-
chen trotzdem beachtliche Abrufzahlen. Beinahe klassisch versucht dagegen das
amerikanische Start-up NowThis News den Markt zu erobern. In kurzen Bewegt-
bildclips setzt die Seite voll auf virale Effekte – und versucht mit Videos vor allem
auf die Smartphones der Leute zu kommen. Unter anderem wurde dafür das For-
mat der 5 W-Videos entwickelt. In einem kurzen Videoclip werden darin die klas-
sischen journalistischen 5 W-Fragen beantwortet. Ideal für eine Zielgruppe, die
ihre Inhalte zunehmend unterwegs und über das Smartphone konsumiert. Auch
die BBC experimentiert schon länger mit Bewegtbild bei Instagram. Unter dem
Label „BBC Instafax“ werden über den BBC-News-Kanal mehrmals am Tag kurze
Nachrichtenvideos veröffentlicht, die – dank Text im Bild – auch dann funktionie-
ren, wenn man die Kopfhörer mal vergessen hat.
Meta-Daten versehenem Journalismus steckt, ist viel, viel größer. Wer sich näher
für das Thema interessiert, dem sei diese Leseliste ans Herz gelegt.
URL: http://www.netzpiloten.de/journalismus-die-neuen-nachrichtenkonkur-
renten-im-netz/?doing_wp_cron=1469018901.4687709808349609375000 vom
3. Juni 2014.
Gesellschaftliche Selbstverständigung
jenseits der Filterblasen
Maja Malik
Die zentrale Frage ist doch: Auf welche Informationen können wir uns einzeln
und als Gesellschaft verlassen? Journalismus kann und sollte nicht endgültig
definiert werden. Aber er muss auf Fakten setzen und verschiedene Perspektiven
beleuchten, um den Cyber-Propagandisten nicht das Feld zu überlassen.
Es gibt ein schon oft zitiertes Bonmot des Kommunikationswissenschaftlers Ste-
phan Ruß-Mohl, journalistische Qualität zu definieren gleiche dem Bemühen, einen
Pudding an die Wand zu nageln.1 Die Frage, was Journalismus ist – und damit
immer gleichzeitig auch: was nicht Journalismus ist – ist eng daran gebunden und
genauso schwierig. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Einen Pud-
ding an der Wand braucht kein Mensch. Aber eine Auseinandersetzung darüber, was
(guter) Journalismus ist, brauchen wir dringend, und zwar immer wieder von neuem.
Erstens, weil Journalismus für die Selbstverständigung und einen Zusammen-
halt einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, deren Ordnung nicht auto-
ritär bestimmt wird.
Zweitens, weil sich Journalismus ständig wandelt, durch Veränderungen im
Inneren und sich ändernde Umweltbedingungen.
Drittens, weil die Auseinandersetzung darüber, was (noch) Journalismus ist
und – damit verbunden – was er leisten soll und kann, Probleme und Verände-
rungsmöglichkeiten offensichtlich werden lässt.
M. Malik (*)
Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
Münster, Deutschland
E-Mail: maja.malik@uni-muenster.de
Das Arbeitspapier von Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz leistet einen Bei-
trag zu dieser Auseinandersetzung, indem es normativ Kriterien formuliert, mit
denen sich Journalismus von anderen Medienangeboten unterscheiden lassen
soll, insbesondere von der sogenannten Animationsarbeit. Nur Medienangebote,
die gleichermaßen aktuell, allgemein verständlich, relevant, richtig, kontrollie-
rend, überparteilich und unabhängig sind, seien als Journalismus zu verstehen
(S. 17 ff.). Dass diese Normen im Einzelnen wie auch insgesamt an vielen Stel-
len angreifbar sind, führt Volker Lilienthal in dieser Debatte detailliert und tref-
fend aus: Warum muss Journalismus so eng definiert werden? Wie lassen sich
die genannten Kriterien messen und beurteilen? Wer sollte eine Hoheit darüber
besitzen, die Kriterien zu prüfen und ggf. Medien als nicht-journalistisch aus dem
Schutzbereich von Artikel 5 GG auszuschließen?
Zugleich zeigt das Arbeitspapier mit der hier folgenden Debatte beispielhaft,
dass der Versuch, Journalismus konkret zu bestimmen und von anderer öffent-
licher Kommunikation zu unterscheiden, häufig zu einer Diskussion über seine
wesentlichen Merkmale, seine schützenswerten Grundlagen, schwierige Umwelt-
bedingungen oder Einflussnahmen und Lösungsmöglichkeiten führt. Solche Aus-
einandersetzungen führen auch zu einer Vergewisserung über die grundlegenden
Erwartungen an den Journalismus, die wir auch in dieser Debatte sehen: Dass
journalistische Berichterstattung auch heute noch im Idealfall aktuell, relevant,
richtig und unabhängig sein soll, wird von keiner der Autor_innen und Kommen-
tator_innen grundsätzlich infrage gestellt.
Eine breitere und kontroversere Diskussion um diese Kriterien wäre allerdings
entstanden, wenn Arlt und Storz ihre sieben Normen noch weiter konkretisiert
hätten. Ihre Ausführungen bleiben zu abstrakt und wagen nicht, in der Realität der
vielen und vielfältigen Medienangebote konkrete Medien als nicht-journalistisch
zu benennen.
Je konkreter eine Journalismus-Definition ist, desto mehr Schwierigkeiten
handelt sie sich zwangsläufig ein. Eine präzise, am Einzelfall anwendbare Defi-
nition beinhaltet zwangsläufig Entscheidungen und Festlegungen, die dann auch
kritisiert werden können, weil sie stets auch anders getroffen werden könnten.
Dies wird zum Beispiel bei den Diskussionen um Punkt 5 des Medienkodexes
von Netzwerk Recherche deutlich. Hier heißt es „Journalisten machen keine
PR“. Medienschaffende, die sowohl im Journalismus als auch in der PR arbei-
ten, gelten damit nicht mehr als Journalisten. Dagegen wehren sich vor allem
Freiberufler_innen, die sich selbst als Journalisten verstehen, aber wegen gerin-
ger Einkünfte im Journalismus auch Geld in der PR verdienen (müssen). Umge-
kehrt vertritt der Deutsche Journalistenverband (DJV) auch Menschen, die in
Gesellschaftliche Selbstverständigung jenseits der Filterblasen 149
Bedeutung für die Einzelnen oder für die Gesellschaft informieren, die somit
als Seismograf, als Frühwarnsystem für relevante Probleme fungieren, und um
Medien, die sich auf beobachtbare Tatsachen beziehen und hierbei auch verschie-
dene Perspektiven benennen. Mit diesen Themen bekommt die Gesellschaft eine
gemeinsame Agenda und eine gemeinsame Vorstellung von der Wirklichkeit.
Dies können dann sowohl nachrichtliche als auch kommentierende oder unter-
haltende Formate sein, in Form von Blogs wie auch auf gedrucktem Papier und
vielleicht in Teilen auch von Maschinen erstellt. Finanziert werden können sie
durch Spenden, Gebühren, Micropayment, Abonnements und auch durch Wer-
bung, für die marktschreierisch um Aufmerksamkeit gekämpft wird. Solange
Medienangebote (auch) aktuelle, relevante und auf Tatsachen basierende Informa-
tionen veröffentlichen, können sie grundsätzlich der gesellschaftlichen Selbstver-
ständigung dienen.
Es mag vielen nicht gefallen, dass Simplifizierung, Visualisierung und Skan-
dalisierung damit auch als Strategien des Journalismus akzeptiert werden (die es
übrigens schon immer gab, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen). Aber
nicht diese „Animationsarbeit“ ist heute das zentrale Problem, sondern dass die
Wahrnehmung von relevanten Themen und Problemen entlang verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen so stark gespalten ist (siehe die Beiträge von Meng
und Flecken in dieser Debatte). Und erst recht, dass die Frage, welche Informa-
tionen wahr oder unwahr, zumindest plausibel und verlässlich sind, zu so unter-
schiedlichen Einschätzungen führt, wie dies zurzeit in vielen Ländern Fall zu sein
scheint. Journalismus muss es daher vor allem schaffen, sich weiter auch in den
Blasen der sozialen Netzwerke als verlässliche Informationsinstanz durchzuset-
zen und eben nicht den Cyber-Propagandisten das Feld zu überlassen.
URL: http://www.carta.info/84242/gesellschaftliche-selbstverstaendigung-jen-
seits-der-filterblasen/ vom 07. Dezember 2016.
Nach dem Text: Facebook und
die De-Institutionalisierung des
Journalismus
Stefan Schulz
S. Schulz (*)
Frankfurt, Deutschland
E-Mail: mail@stefanschulz.com
in den privaten Haushalten immer viel präsenter war und das auch geblieben ist.
Vom Internet, das uns heute überall hin, bis unter die Bettdecke begleitet, ganz
zu schweigen. Es kommt uns heute geradezu wie eine Verschwendung vor, auf
einem Bildschirm, der alles kann, nur Text anzuzeigen. Und kein Inhalte-Anbie-
ter ist so waghalsig, diese Reduktion der Möglichkeiten auf gerade einmal 26
Buchstaben heute noch zu versuchen. Vielmehr hat sich die vermeintlich unum-
stößliche Erkenntnis durchgesetzt, dass das größte Problem des Papiers seine
Limitierung war, die nun mit digitalen Papier, dem Bildschirm, endlich über-
wunden wurden. Auf ein Bildschirm passt unendlich viel Text, wenn auch nicht
gleichzeitig, und man kann ihn nicht nur einmal bedrucken, sondern 60 Mal pro
Sekunde. Warum also sollte man all die neuen Möglichkeiten nicht auch nut-
zen? Warum soll man den Journalismus, der uns die Welt vermittelt, weiterhin
auf das Medium Text beschränken, um Sachen zu erklären, die viel schneller und
viel tief gehender mit anderen Methoden dargestellt werden können? Diese Frage
hat sich auch der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg gestellt – und beantwor-
tet. Er sagte vor zwei Jahren: „Das Ziel ist eine perfekte, personalisierte Tages-
zeitung für 1 Mrd. Menschen zu entwickeln.“ Seine Methode war der Newsfeed,
die chronologische Auflistung aller Ereignisse, die Menschen interessieren. Sei es
ein Erdbeben in Nepal, die Geburt einer englischen Prinzessin, die Urlaubsreise
einer nahen Freundin oder der erfolgreiche Schulabschluss von der Cousine einer
Freundin, die man noch nie im Leben gesehen hat und auch nie sehen wird. Als
Facebook diesen Newsfeed 2006 einführte, der all diese Informationen an einem
Ort bündelte und anzeigte, protestierten 10 % aller damaligen Facebook-Nutzer
dagegen. Facebook war jung, gerade zwei Jahre alt. Heute wissen wir aber, die
Idee war revolutionär und die massenhafte Kritik ist verstummt. Wir haben uns
daran gewöhnt, selbst Nachrichtenwert für andere zu haben und über das Leben
anderer informiert zu werden. Facebook macht uns diesen neuen Platz in unserer
Gesellschaft schmackhaft.
Wenn wir Facebook öffnen, steht an erster Stelle eine persönliche oder gar
private Meldung. Jemand den Sie kennen teilt etwas mit, für das sie sich inter-
essieren. Und an dieser Meldung hängt ein Bild. Der erste Blick auf den Face-
book-Newsfeed verrät jedem Nutzer, dass es hier um ihn geht. Dann folgen die
Sachen, die Facebook so wichtig sind: Facebook versorgt seine Nutzer mit Nach-
richten. Wenn Sie sich fünf Minuten bei Facebook aufhalten, erfahren Sie alles
was sie interessiert über die Welt und über ihren Platz in der Welt. Facebook
hat einen sehr guten Mittelweg gefunden: Anders als eine Zeitung, informiert
sie Facebook nicht nur darüber, was hinter dem Horizont passiert. Und anders
als Gespräche unter Freunden, Tratsch in Klassenzimmern und am Arbeitsplatz,
informiert sie Facebook auch darüber was hinter dem Horizont passiert. Dieses
Nach dem Text: Facebook und die De-Institutionalisierung … 153
Kunststück gelang einem 26-Jährigen, Greg Marra, der das Entwicklerteam des
Newsfeeds leitet und der wahrscheinlich jünger ist als jeder deutsche Volontär.
Wobei die meisten Zeitungen schon keine mehr haben, die Frankfurt Allgemeine
Zeitung beispielsweise bildet schon keine Journalisten mehr aus. Dieser junge
Mann und seine gerade mal 16 Mitarbeiter haben den Kampf gegen alle Zeitun-
gen der Welt aufgenommen und wie wir heute absehen können – gewonnen. Will
man etwas darüber erfahren, wie wir uns die Welt vergegenwärtigen, wie wir uns
darüber informieren, was uns betrifft, welches Bild wir uns von der Gesellschaft
und ihre Zukunft machen, müssen wir auf Facebook achten. Die Rolle und die
Funktion des Journalismus in der Gesellschaft wird heute von Facebook geplant.
Facebook weiß, welche Funktion der Journalismus künftig übernehmen kann –
und soll. Wie so viele Entwickler aus dem Silicon Valley, äußert sich auch Greg
Marra nicht zu seiner Arbeit, zumindest nicht öffentlich. Der eine Satz, den er auf
seinem Facebook-Profil zu seiner Arbeit sagt, ist allerdings sehr aussagekräftig.
Er schreibt: „Ich helfe Menschen dabei, die Welt durch die Augen ihrer Freunde
zu sehen.“ Nur hat Facebook primär natürlich ganz anderes im Sinn, als uns über
die Welt zu informieren in der wir leben. Diese Aufbereitung und Zugänglich-
machung von Wissen ist lediglich das Mittel für den eigentlichen Zweck dieses
sozialen Netzwerks, nämlich sich in der Aufmerksamkeitsökonomie gegen Kon-
kurrenten durchzusetzen.
Der Auftrag, den sich Facebook selbst stellt, ist ganz profan: Es geht darum
Werbeplätze zu erschließen und sie so vielen Menschen wie möglich schmack-
haft zu machen. Facebook hat dafür eine gute Strategie gefunden: Die Ent-
wickler schauen sehr genau hin, wie Menschen Medienangebote nutzen. Und
sie achten darauf, wann Menschen besonders hohes Engagement in der Rezep-
tion zeigen. In der Aufmerksamkeitsökonomie gilt die alte Logik: Zeit ist Geld.
Und auch das Rezept ist relativ bekannt: Wer die Instinkte bedient, gewinnt im
generellen Kampf um Aufmerksamkeit. Und wer dann geschickt die Emotionen
bedient, stellt die Aufmerksamkeit auf Dauer. Facebook hat die ganze Bandbreite
an Angeboten zur Verfügung, um mithilfe dieses Rezept eine leicht verträgliche
Nachrichtendiät für seine Nutzer zu entwickeln. Egal welchen der mehr als eine
Milliarde Nutzer man nun nimmt, ein Aspekt gilt für alle: Der journalistische Text
ist wahrscheinlich die unattraktivste Form, um Aufmerksamkeit zu erregen, und
zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu motivieren. Das gilt nicht für Texte
allgemein, sondern eben für den journalistischen, der nicht an uns speziell adres-
siert ist, der deswegen auch nur selten wirklich eilt und von dem wir, schon bevor
wir ihn lesen, wissen, dass ihm wohl nichts Konkretes folgt – vor allem nicht hin-
sichtlich einer Änderung unseres Verhaltens.
154 S. Schulz
Wenn Menschen lesen und gerne lesen, sind es vor allem private Nachrich-
ten. Facebooks Erkenntnisse schlagen sich in besonderer Weise in der finan-
ziellen Strategie des Unternehmens nieder. Für WhatsApp, den SMS Dienst,
bezahlte Facebook 19 Mrd. $ Für Instagram, das soziale Netzwerk, das nur mit
Bildern funktioniert, bezahlte Facebook eine Milliarde Dollar, zu einer Zeit, als
diese eine Milliarde noch wahnwitziger klang als die 19 Mrd. für WhatsApp.
Aber beide Investitionen haben sich offenbar gelohnt. Facebook hat einen enor-
men Vorsprung in der Ausbeutung von Aufmerksamkeit. Insbesondere auf Han-
dybildschirm schlägt Facebooks Wachstum alles, sogar Googles gigantische
Verbreitung. Facebook hat viel Geld und es investiert viel Geld, der Journalismus
bekommt davon allerdings nichts ab. Facebook beginnt gerade damit Texte der
New York Times bei sich zu hosten. Und zwar aus ganz nahe liegenden Grün-
den: die Menschen, die diese journalistischen Texte lesen, kümmern sich nicht
darum, wo sie herkommen. Ob sie ihn auf der Webseite der New York Times
lesen oder direkt bei Facebook macht keinen Unterschied. Abgesehen von einem
sehr kleinen: Der Leser spart einen Klick. Ist ein Text bei Facebook nur verlinkt,
muss man eben diesen Link klicken, um lesen zu können. Gibt es den Text direkt
bei Facebook, kann man ihn gleich lesen. Das klingt, als ginge es mir hierbei
etwas zu sehr ums Klein-Klein des Medienwandels. Aber der Stand der Dinge
ist: Facebook optimiert seine Position im Kampf um Aufmerksamkeit gerade im
Hundertstel-Sekunden-Bereich. Das Papier wurde ja schon abgeschafft. Die Web-
seiten der großen Zeitungen könnte man im Grunde nun auch abschaffen. Warum
soll man Texte nicht bei Facebook lesen? Nur in seltenen Fällen interessieren sich
Leser dafür, wer einen Text geschrieben hat und wo er ursprünglich publiziert
wurde. Das, was die Leser heute am meisten interessiert, ist, wer ihnen den Text
empfohlen hat. Wir haben es mit der De-Institutionalisierung des Journalismus in
vollem Gange zu tun. Wenn sich die nächsten fünf Jahre so entwickeln wie die
vergangenen fünf Jahre, interessieren sich 2020 nur noch Journalismus-Studenten
dafür, dass es noch Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder die Frankfurter
Allgemeine Zeitung gibt. Weil sie sich dann immer noch darüber freuen werden,
wenn sie in diesen Blättern ihren ersten Text publizieren. Und sie werden ernüch-
tert feststellen, dass es sonst niemanden mehr interessieren wird.
Es stellen sich zwei Fragen: Was bedeutet dieses Verschwinden der journalis-
tischen Institution? Und wer ist an ihrem Verschwinden schuld? Ich beginne mit
der zweiten Frage. Aus der Sicht eines deutschen Verlegers, ist am gegenwärti-
gen Zustand des Journalismus ganz allgemein das Internet und im Besonderen
Facebook schuld. Es gibt in den Redaktionen allerdings etliche Journalisten, die
es besser wissen. Frank Schirrmacher schrieb mit „Payback“ und „Ego“ zwei
Bücher, die sich mit den Grundlagen des Strukturwandels befassten. Die Frage,
Nach dem Text: Facebook und die De-Institutionalisierung … 155
was noch auf uns zukommt, beantwortet derzeit niemand so gut wie Christoph
Keese in seinem Buch „Silicon Valley“. Und das Buch der ehemaligen und der-
zeitigen (Vize)-Chefredakteure von Spiegel und Stern, Stefan Aust und Thomas
Ammann, heißt „Digitale Diktatur“. Ihre Werke haben niemanden so wenig
beeindruckt, wie die deutschen Verlagschefs. Nur ein kleiner Einblick: Die Frank-
furter Allgemeine Zeitung stemmt sich gerade gegen die Entwicklungen und
plant für die kommenden Jahre einen Abonnementpreis von 1000 € im Jahr. An
die Rettung der Institution im alten Stil wird in Frankfurt noch geglaubt, derzeit
mit der Hilfe von Roland Berger. Tatsächlich ist längst dokumentiert, wohin die
Reise geht, und worum es den Redaktionen gehen sollte. Es gibt insbesondere
ein Dokument, das kürzlich alle aufschreckte. Im Mai 2014 veröffentlichte die
New York Times unabsichtlich ein 100-seitiges Dokument, in dem sich Mit-
arbeiter des Hauses mit dem Zustand ihrer Zeitung beschäftigten. Sie führten
dafür mehrere Dutzend Interviews und schauten sich die ökonomischen Kenn-
zahlen ihres Geschäfts genau an. Eine der wichtigsten Erkenntnisse betrifft auch
alle deutschen Zeitung: Zwischen den Jahren 2011 und 2013 sank die Zahl der
Leser, die die New York Times über die Homepage der Zeitung besuchte, um die
Hälfte. Statt 160 Mio. Leser, kamen nur noch 80 Mio., um sich auf der Startseite
im Nachrichtenangebot zu bedienen. Tatsächlich wurden es aber nicht weniger
Leser. Nur kamen die Leser eben nicht mehr über die Startseite, die die Redaktion
zusammenstellte. Sondern die Leser kamen, weil sie Empfehlungen in sozialen
Netzwerken folgten. Sie sahen also tatsächlich nur den einzelnen Artikel, auf den
sie hingewiesen wurden und dann gingen sie wieder. Eine überwältigende Mehr-
heit der Leser ist nur noch Laufpublikum. Diese Zahlen der New York Times sind
inzwischen schon wieder zwei Jahre alt. Die Zahlen sagen: Die Leser interessie-
ren sich noch für die Inhalte der Zeitungen, aber ihre Treue gilt heute Facebook.
Für die deutschen Zeitungen verlief es ganz genauso. 2014 wurden rund ein Drit-
tel aller Leser von Facebook vermittelt. Das bedeutet für die Zeitungen im Detail:
Wer eine Nachrichtenseite direkt aufruft, bleibt rund viereinhalb Minuten und
klickt bis zu 25 Seiten an. Wer dagegen einem Social Media Link folgt, bleibt
nur eineinhalb Minuten und klickt nur rund fünf Seiten an. Das ergab eine Erhe-
bung von Comscore, einem amerikanischen Unternehmen für Marktforschung,
das diese Zahlen für das Pew Research Center erhoben hat. Ähnliche regelmäßige
und intensive Forschung für Deutschland gibt es nicht. Das Problem für die Zei-
tungen ist nun, dass sie dieses Spiel mitspielen müssen. Da die gedruckte Zeitung
als Umsatz- und Gewinnbringer ausfällt, wird nur in die digitale Zeitung inves-
tiert. Diese wird nicht mehr am Stück vertrieben, sondern jeder Text muss sich
einzeln in der Aufmerksamkeitsökonomie bewähren. Eigentlich ist die Zeitung
schon längst abgeschafft. Wie sehr die Zeitung schon umgebaut sind, bekommt
156 S. Schulz
man als Leser im Grunde nicht mit. Auch die Mitarbeiter in den Redaktionen
übersehen den Strukturwandel. Was man bemerkte, ist, dass das Feuilleton der
FAZ in einem Jahrzehnt von 12 auf 4 Seiten schrumpfte und das wieder häufi-
ger schwarz-weiß gedruckt wird. Von allem anderen bleibt jedoch nur ein diffu-
ser Eindruck der Veränderung. Aber es gibt zumindest eine Geschichte die ich
hier erzählen kann, die es ein wenig verdeutlicht. Anfang 2014 schrieben zwei
Kollegen und ich einen großen Recherchetext, der ohne Diskussion die gesamte
Seite 1 des Feuilletons einnahm. Es ging um den digitalen Wandel in Europa, die
Gesetzgebung und Lobbyeinflüsse. Und natürlich sollte dieser Text auch auf der
Internetseite der FAZ prominent publiziert werden. Nur stellte sich die Online-
redaktion an diesem Morgen quer. Es gab nämlich etliche andere, und attrakti-
vere Themen als unser 600-Zeilen-Stück. Der Konflikt auf der Arbeitsebene
zwischen dem Feuilleton und der Onlineredaktion spitzte sich dann so zu, dass
am Ende Frank Schirrmacher als Herausgeber entscheiden musste, damit dann
auch für alle klar war, dass es sich jetzt um eine verbindliche Entscheidung han-
delte. An diesem Tag erfuhr Schirrmacher das erste Mal, wie es in der Online-
redaktion zugeht. Wie in jeder großen Onlineredaktion in Deutschland wird der
Tag nämlich von einer Software geplant – Chartbeat. Chartbeat ist wahrschein-
lich das weitverbreitetste Werkzeug, um Leserströme auf Webseiten zu analysie-
ren. Die Software verfolgt jeden Leser auf Schritt und Tritt. Die Daten über das
Leseverhalten lassen sich dann übersichtlich anzeigen, man kann live beobach-
ten wie die Leser lesen. Es gibt dann beispielsweise Tachonadeln, viele Tabellen,
Balkengrafiken und all das, womit man sich große Datenberge darstellbar macht.
Die Redakteure können sich das Leseverhalten allerdings auch auf der Webseite
direkt anschauen. Redakteure im Dienst sehen dann ihre Seite, wie sie sie ihren
Lesern präsentieren, nur bekommen Sie an jedem Text einen kleinen Hinweis.
Am Text klebt dann eine kleine Blase, die farblich anzeigt ob dieser Text gerade
besser oder schlechter im Vergleich zu anderen Texten auf der Seite und zu vor-
herigen Texten an derselben Stelle liegt. Wenn Sie durch eine Onlineredaktion
laufen, sehen sie wahrscheinlich auf sehr vielen Bildschirmen die Webseite der
Redaktion mit diesen grünen, grauen und roten Lämpchen an den Texten. Und
wenn es rot leuchtet ist das eine Handlungsaufforderung. Rot markierte Texte lau-
fen beim Publikum nicht gut. Ist man an der Reichweite der eigenen Webseite
interessiert – und das ist das Einzige, was die Redaktion heute noch interessiert
– müssen Sie diese Texte austauschen. Dass es diese Software gibt und dass sie
in der eigenen Onlineredaktionen den Alltag bestimmt, überraschte Schirrma-
cher. Er rief daraufhin verantwortliche Feuilleton-Redakteure und diensthabende
Online-Redakteure zu sich, um grundsätzlich zu klären, dass die Linie der Zei-
tung von ihren Herausgebern festgelegt wird und nicht von einer Software. Nun
Nach dem Text: Facebook und die De-Institutionalisierung … 157
ist Frank Schirrmacher der gewesen, der sich wie kein zweiter mit dem digitalen
Wandel befasste. Sie können erahnen wie wenig andere leitende Journalisten in
Deutschland wissen was in ihren Häusern vor sich geht und wie sich die Funktion
des Journalismus in der Gesellschaft verändert. Sie wissen es nicht. Sie können
sich alle über Google und Facebook aufregen. Aber ihren eigenen Zulieferer-Sta-
tus kennen sie nicht.
Trotz des hehren Anspruchs, eine Säule der Demokratie zu sein und trotz des
unerschütterlichen Glaubens, dem Publikum ein alternativloses Angebot von
Relevanz zu machen, haben sich die journalistischen Institutionen selbst den
Boden unter ihren Füßen weggerissen. Die Verlage haben ihre Zeitungen schon
der neuen Internetlogik geopfert, als es Facebook noch gar nicht gab. Nun sind
sie dem Unternehmen ausgeliefert, weil nur Facebook noch Zugänge zu neuen
Lesern bietet. Laut einer zwei Jahre alten Erhebung des Pew-Research-Cen-
ters erhält ein Drittel aller Amerikaner seine Nachrichten über Facebook. 16 %
der 5000 Befragten sagte, sie gingen gar nicht wegen der Nachrichten dort hin.
Aber 78 % sagen, sie stolpern bei Facebook über Nachrichten, die sie sonst nie
erreicht hätten. Verlage, die ihr Medienangebot fürs Internet aufbereiten, müssen
sich an Facebooks Logik orientieren: Sie brauchen Inhalte, die niemanden über-
fordern, die emotional ansprechend sind, die das Publikum mit etwas Konkretem
beschäftigen. Vier Fünftel der Inhalte, die durch Verlage zu Facebook gespielt
werden, werden dort wieder aussortiert. Facebook möchte nicht – Zitat von Face-
book: „dass Nutzer etwas verpassen, für das sie sich wirklich interessieren“. Das
würde nämlich angeblich passieren, sagt Facebook, wenn Facebook-Nutzer ihre
Nachrichten selbst sortieren. Über die Frage, wie Facebook die Inhalte sortiert und
ganz direkt Einfluss auf politische Diskussionen nimmt und beispielsweise Wah-
len beeinflusst, müsste extra gesprochen werden. Für jetzt soll nur angemerkt sein:
Facebook greift in den Newsfeed seiner Nutzer ein und sortiert ihn nach mehreren
100 Kriterien, die natürlich niemand kennt außer Facebook. Als die Verlage, lange
vor Facebook, damit begannen, ihre Inhalte auch online zu publizieren, saßen
sie einem Irrglauben auf. Ihre Rechnung funktioniert nicht: Die Relevanz einer
gedruckten Zeitung und die Reichweite eines Onlineangebots addieren sich nicht.
Stattdessen fiel der Reichweite die Relevanz zum Opfer. Die Webseiten der gro-
ßen Zeitungen haben im Internet ungefähr zehnmal so viel Leser wie auf Papier.
Bei dem reichhaltigen Online-Angebot nimmt aber kein Leser mehr die finanzi-
elle Hürde einer gedruckten Zeitung. Als ich im August 2011 zu FAZ kam wurde
sie jeden Tag 462.000 mal gedruckt. Bei meiner letzten Konferenz im Dezember
2014 bereitete Günter Nonnenmacher die Feuilletonredaktion darauf vor, dass die
Gesamtauflage nun unter 300.000 fällt. Ich zitiere das hier etwas indiskret, weil
diese Zahlen inzwischen bekannt sind. Auf der anderen Seite fallen die Preise der
158 S. Schulz
Onlinewerbung ins Bodenlose. Warum soll noch jemand 80.000 € pro Tag dafür
bezahlen, bei Spiegel Online werben zu dürfen, wenn es ohnehin niemanden inter-
essiert, dass es sich um die Seite von Spiegel Online handelt?
Die Printredaktionen sind mitten im Schrumpfungsprozess und die Online-
redaktionen müssen jetzt alles auf Reichweite trimmen. Wie die Stimmungen in
den Redaktionen sind, muss man niemandem beschreiben. Arbeit lässt sich nicht
mehr auf Hospitanten abwälzen, weil es kaum noch welche gibt. Volontäre wird
es auch nicht mehr geben. Neueinstellungen in die Redaktionen sowieso nicht.
Die Zeitungen vergreisen. Zeitung wie die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ
haben Jahresumsätze von mehreren hundert Millionen Euro, dafür, dass rund 100
Menschen täglich eine Zeitung schreiben. Wie kann eine Rechtfertigung dafür
künftig aussehen? Oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk: Rechnerisch, das
sind die Budget-Zahlen für 2015, könnte die ARD, das ZDF und das Deutsch-
landradio – aus den drei Häusern besteht das Institutionengefüge des öffentlich-
rechtlichen Rundfunks – 89.000 Journalisten ein Jahresgehalt von 100.000 €
bezahlen. Warum sollte man nicht jedem Journalisten sagen: „Hier hast du
100.000 Euro, kauf dir eine Kamera, ein Mikrofon und einen Computer, tu dich
mit Kollegen zusammen und berichte uns einmal pro Woche etwas spannendes
aus der Welt. Nächstes Jahr bekommst du die nächsten 100.000 Euro“. Das aktu-
elle Budget für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk würde ausreichen, 89.000
Journalisten auf solche Jahresmissionen zu schicken. Dafür, dass mehr als 90 %
dieses Geldes, derzeit mit Journalismus recht wenig zu tun haben, gibt es heute
nur noch komplizierte, juristisch – aber keine vernünftige Rechtfertigung mehr.
Die privatwirtschaftlichen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunk-
häuser wissen das eigentlich. Sie werden jetzt zehn Jahre leiden und dann werden
sie verschwinden. Mir sind noch keine Mittel eingefallen, die das Leiden lindern
oder die gar das Verschwinden aufhalten könnten. Tatsächlich ist es schlimmer.
Betritt man diese Organisationen, fällt als Erstes auf, dass sie selbst nicht darüber
Auskunft geben können, warum es sie gibt. Wenn sich FAZ-Redakteure morgens
treffen, wissen Sie, dass es einer ihrer Tagesordnungspunkte ist, eine Glosse für
Seite 1 zu finden. Aber sie suchen sie nur aus Tradition. Es gibt keinen allgemei-
nen Grund dafür, diese kleinen Meinungsstücke rechts oben in die Ecke der ers-
ten Seite zu schreiben. Es gibt auch keine Rechtfertigung dafür, weshalb es pro
Tag nur eine und nicht beispielsweise drei Glossen gibt. Und so wird Tag ein, Tag
aus morgens gefragt: „Haben wir schon eine Glosse?“ Und wenn man ein hat, ist
alles gut.
Die Probleme der journalistischen Institutionen lassen sich im Detail beschrei-
ben aber nicht lösen. Und würde man einfach Facebook zum Schuldigen erklären,
Nach dem Text: Facebook und die De-Institutionalisierung … 159
wäre das ein Fehler. Es wäre viel zu leicht, Facebook und das Internet einfach
so miteinander zu verwechseln, auch wenn diese Unternehmen das selbst gerne
tun und obwohl diese Unternehmen wie Parasiten die Möglichkeiten des Internets
ausbeuten, was natürlich nicht ohne direkte Effekte, auch auf die Institutionen der
Massenmedien, bleibt. Die Verlage dachten, das Internet sei nur ein weiterer Ver-
breitungsweg. Nicht zu erkennen, dass sich das Netz technisch darüber weit hin-
aus weiterentwickelte – das ist der Fehler, der nun nicht mehr zu revidieren ist.
Nun zu der zweiten noch offenen Frage: Was bedeutet diese Entwicklung für uns
und unser Bild von der Gesellschaft in der wir leben? Es gibt einen Hoffnungs-
schimmer, schließlich hängt unser Schicksal nicht an einzelnen orientierungslo-
sen Organisationen. Gerade was die Massenmedien betrifft, fällt nämlich eine
Unterscheidung sehr leicht und das ist die Unterscheidung zwischen Organisati-
onen und Institutionen.
Die Republica ist einmal als Bloggerkonferenz gestartet, jetzt ist sie eine
Konferenz für Bild, Ton und Videovermittlung – in der Textproduktion und Text-
vermittlung eigentlich keine Rolle mehr spielt. In der Suche nach einer guten
Zukunft spielt der geschriebene Text eine sehr untergeordnete Rolle. Darin
könnte der Fehler liegen. Wollte man tatsächlich über das demokratische, ver-
lässlichste und zukunftsträchtigste Medium etwas sagen – muss man über Schrift
sprechen. Und zwar ganz bewusst darüber, was die geschriebene Sprache eigent-
lich vom gesprochenen Wort unterscheidet, unabhängig davon ob man in einer
Kneipe ein Gespräch führt, per Skype eine Konferenz abhält oder per Periskope
lifestreamt, was man gerade erlebt. Denn all diese altbekannten und neuen, tech-
nologiegestützten Formen, Gespräche zu führen, bleiben doch bloße Interaktio-
nen. Wer an diesen Gesprächen teilnimmt, muss sich auf einen vorgegebenen
Rhythmus einlassen. Und man kann auch nicht dulden dass mehr als ein Thema
gibt, über das kommuniziert wird. Sprecher müssen anwesend oder zumindest
sichtbar sein und die Überzeugungskraft eines Sprechers hängt recht häufig
davon ab, wie laut er werden kann. Die Schrift, der geschriebene Text, erlaubte
schon vor Jahrhunderten viel mehr. Autoren von Schrift werden beispielsweise
in Ruhe gelassen. Es gibt einen deutlichen und wichtigen zeitlichen Unterschied
zwischen der Formulierung und der Publikation eines Gedankens. Für die Leser
gilt, dass sie diesen Gedankengängen im eigenen Rhythmus und in selbst gewähl-
ter Reihenfolge folgen können. Beim Lesen ist der Autor abwesend, vielleicht
sogar unbekannt. Keine seiner persönlichen und sozialen Eigenschaften spielt
beim Lesen eine Rolle. Geschriebene Texte, die überzeugen sollen, können nur
inhaltlich überzeugen. Außer dem Inhalt eines Textes steht dem Leser schließlich
nichts zur Verfügung, was ihm dabei hilft, die Glaubwürdigkeit eines Textes zu
bewerten. Das macht die Qualität eines Textes aus. Er muss verständlich sein,
160 S. Schulz
Der Journalismus ist nicht der einzige Bereich, in dem die Schrift zur Seite
gedrängt wird. Denken Sie an die Piratenpartei, die glaubte, sich allein durch
Gerede auf Parteitagen organisieren zu können. Der Satz, dass sie kein Programm
habe, wurde legendär. Und er stimmte selbst dann noch, als die Piraten sich auf
einen Text einigten, weil es wiederum keinen Text gab, in dem geregelt wurde,
wie verbindlich das geschriebene Programm jetzt eigentlich sein sollte. Ohne
Text gelingt die Institutionalisierung nicht – deswegen ist diese Partei schon wie-
der Geschichte. Im Journalismus wird es künftig so weitergehen: Bei Facebook
werden Videos radikal bevorzugt. Die Playtaste hat Facebook schon abgeschafft,
die Videos laufen einfach los, sobald sie in den Blick der Nutzer geraten. Google
fördert Projekte mit lustigen Namen wie „Ground Truth“, Informationen wer-
den auf Zahlen reduziert und direkt auf Landkarten angezeigt, um Sachverhalte
zu erklären. Googles hat im April einen 150-Million-Euro-Fond gegründet, um
Medienhäuser darin zu unterstützen, neue Technologien zu benutzen und Apps zu
entwickeln. Die großen Zeitungsverlage haben das Angebot gerne angenommen.
Und Google wird sich gewundert haben, dass sie die De-Institutionalisierung der
Medien nun direkt in den Redaktionen vorantreiben können. Der nächste Wahl-
kampf in Amerika wird per Livestream entschieden. Das nächste große Ding im
Journalismus ist nicht mehr die Dokumentation und Reflexion, sondern das Mit-
erleben und Mitfühlen. Die Technologie setzt direkt an unseren Sinnesorganen an
und kommt vorzugsweise in Form einer Brille daher. Google hat mit seiner Brille
noch nicht viel Erfolg gehabt. Facebook allerdings hat sich die Schlüsseltechno-
logie schon einverleibt, als es für mehr als eine Milliarde Dollar das Unterneh-
men hinter Oculus Rift, einer Brille für virtuelle Realität, gekauft hat. Ähnliche
Technologien haben inzwischen alle großen IT-Unternehmen im Angebot. Jour-
nalismus wird nicht mehr eine Sache der Erkenntnisse und Inhalte sein, sondern
eine Sache der Eindrücke und der Gefühle. Inzwischen gibt es nun auch schon
die ersten Studien, die ermittelt haben, dass Menschen Facebook und Google weit
mehr Vertrauen entgegenbringen, als Medienhäusern. Objektivität ist jetzt ein
Qualitätsmerkmal der technologischen Plattformen. Fragt man Google, ist der im
eigenen Haus, von den eigenen Ingenieuren entwickelte Such- und Sortier-Algo-
rithmus, ein Naturphänomen, wie von Gott gegeben. Die meisten Menschen tei-
len diese Einschätzung. Journalismus ist nur noch ein Informationsangebot unter
vielen. Umso mehr er sich auf das vermeintlich sichere Fundament der Seriosi-
tät zurückzieht, desto mehr macht er sich zu Recht lächerlich. Der MIT-Professor
Thomas Pettitt vor, nicht die Zukunft zu beklagen, sondern sich über die Vergan-
genheit zu wundern. Er spricht von der Gutenberg-Parenthese – von einem histo-
rischen Einschub. Die Menschheit hatte in den vergangenen 500 Jahren Schrift
und Buchdruck zur Verfügung. Jetzt hat sie mehr und deswegen fällt sie wieder
162 S. Schulz
zurück in die Zeit vor dem 15. Jahrhundert – als das Schicksal der Gesellschaft in
einzelnen Interaktionen verhandelt wurde. Die Gesellschaft hat sich in der Aus-
einandersetzung mit sich selbst wieder vom Eigenrecht der Situation gefangen
nehmen lassen. Wir werden so viel wie nie zuvor über die Welt wissen, in der wir
leben. Aber die bisherigen Wege, uns mit dem zu befassen, was uns betrifft, wer-
den versagen.
URL: http://www.carta.info/78527/nach-dem-text-facebook-und-die-de-insti-
tutionalisierung-des-journalismus/ vom 15. Mai 2015.
Breaking News: 23 Thesen
23 Mal Medienzukunft
O. Reißmann
E-Mail: mail@olereissmann.de
Und jetzt schauen wir uns die App-Innovationen der letzten Jahre an. Flip-
board kommt von Menschen, die für Microsoft und für Apple garbeitet haben.
Circa, eine App, die Nachrichten in Häppchen verpackt, kommt von einem
Meme-Macher, der mit einer Webseite für Katzenbilder reich wurde. Yahoo gibt
Millionen aus für eine App eines Jugendlichen, der mit Nachrichten experimen-
tiert hat.
Alles das hätte von uns kommen können und sollen. Lassen wir uns nicht
in die Tasche stecken.
Quelle: machtVZ
6. Sendung mit der Maus für Erwachsene – dann aber bitte in gut
Gedruckte Medien landen irgendwann im Papierkorb. Im Internet bleiben Artikel
noch lange sichtbar.
Das hat zwei Folgen: Wir können nicht mehr faul sein. Artikel „versenden“
sich nicht mehr. Die bleiben klickbar. Und zweitens: Wir finden uns nicht mehr
zurecht.
Nehmen wir den NSA-Skandal: Knapp ein Jahr, pro Nachrichten-Seite gibt es
hunderte Artikel. Aber was genau passiert ist, das müssen wir uns immer noch
merken, jeder Journalist für sich. Nutzen wir die Link-Struktur nicht richtig?
Vielleicht liegt das daran, dass wir selten darüber nachdenken. Journalisten
wollen Nachrichten machen, sie wollen nicht die Wikipedia sein. Die gibt es ja
schon und die läuft auch ganz gut.
Aber es muss ein Mittelweg her. Wir sollten uns ein Beispiel an der Sendung
mit der Maus nehmen, nur diesmal für Erwachsene. Einige Sätze reichen nicht,
um die Ukraine-Krise zu erklären, während man über die jüngste Entwicklung
berichtet. Die Leser wollen Hintergründe.
Und genau diese Entwicklung sehen wir gerade. Überall werden sogenannte
„Explainer“ geschrieben. Sie tragen Überschriften wie „Wie funktioniert“ oder
„So geht“ oder „8 Fragen zu“.
Es würde uns gut stehen, diese Explainer noch viel öfter einzusetzen und sie
vielleicht sogar als eigenes Modell für Nachrichten zu begreifen.
168 J. Binsch et al.
Quelle: Curved
Das ist „Curved“, eine schicke Seite, die über Handys und das Internet berichtet.
Abgeguckt ist das Ganze bei dem Technologieblog „The Verge“. Hinter „Curved“
steht kein traditioneller Verlag. Das findet man aber erst im Impressum oder wenn
man nach ganzen unten auf die Seite scrollt: Die Seite kommt von Sinner Schra-
der Content und der E-Plus-Gruppe.
Handynews vom Provider? Das ist so ein bisschen wie DB Mobil, die Kun-
denzeitung der Bahn. Dabei sieht „Curved“ gar nicht schlecht aus, hat große Bil-
der und durchdachte Funktionen.
Das Problem ist doch, das kein klassischer Verlag so eine Seite gestemmt
hat. Für „Curved“ ist das natürlich kein Problem, die versuchen nun, diese Lücke
zu schließen. Je weniger wir in Technik investieren, desto eher kommen neue
Konkurrenten auf die Idee, sich mit uns anzulegen. Wenn wir es nicht machen,
machen es andere.
die wir nicht kommen. Aber wir fahren hin, das trifft sich gut, sagt uns Bescheid,
wir kümmern uns drum. Wir sind eure Reporter. Daraus sind viele Geschichten
entstanden.
Ein Einzelschritt wird zu einer Formatidee. Aber Geschichten haben viel mehr
Schritte. Man führt Interviews, macht Fotos, schreibt Gesagtes auf, telefoniert mit
Experten. Es gibt viele Punkte, die sich für ein eigenes Format eignen.
Und weil es BuzzFeed in Deutschland noch nicht gibt, führten die Links eben auf
andere Webseiten. So wie hier, zu Süddeutsche.de. Oder hier, zu Spiegel Online:
170 J. Binsch et al.
Der falsche BuzzFeed-Account hat aber nicht nur lustige Links herumgeschickt,
er lässt sich auch als Experiment verstehen: Wie viel BuzzFeed steckt schon
längst in deutschsprachigen Seiten? Funktionieren viele Artikel nicht längst ähn-
lich, müssen nur die Überschriften angepasst werden? Wie viel Entertainment
Breaking News: 23 Thesen 171
bieten deutschsprachige Seiten – ist BuzzFeed längst unter uns, oder warum
macht kein deutsches Verlagshaus etwas Ähnliches?
Viel interessanter waren aber die Follower. Das waren schnell über 200, dar-
unter Chefredakteure und Social-Media-Verantwortliche: Jochen Wegner, Fran-
ziska Bluhm, Marcus Schwarze, Sebastian Matthes, um nur einige zu nennen.
Außerdem viele junge Journalisten.
Kein Wunder: Es gibt in Deutschland eine regelrechte BuzzFeed-Obsession.
Bei Google News findet man 960 Treffer zum Thema. Wir glauben: Die Bran-
che langweilt sich ein bisschen. Es gibt zu wenig Experimente. Zoomer.de ist vor
fünf Jahren eingegangen. Die Schweiz hat immerhin Watson. In den USA gibt es
eine ganze Reihe aufregender neuer Seiten. Und wir? Wir warten alle gespannt
auf BuzzFeed.
Nach fünf Tagen hat „Meedia“ dann Mutmaßungen über BuzzFeedDE angestellt
und in den USA beim Original nachgefragt. Der Account wurde dann umbenannt
in „BuzzFakeDE“ und schlief kurz danach ein. Auch die „taz“ war ganz traurig,
dass der Account nicht echt war. Aber Martin Giesler und Ole Reißmann hatten
einfach keine Zeit mehr.
172 J. Binsch et al.
10. Diese Formel bringt bare Klicks. Alle machen mit. Was dann passierte,
konnte keiner wollen
Jetzt müssen wir mal kurz über Geld reden. Das ist ein Problem in der digitalen
Medienwelt: Mit Klicks verdient man nicht so viel wie am Kiosk. Denn die Zei-
tung gibt es nur als Ganzes. Im Internet kämpft jeder Artikel für sich – um Klicks,
Likes und Shares. Jeder Text ist ein einzelnes Atom.
Die Antwort darauf ist eine Formel.
Quelle: Netzpiloten.de
Breaking News: 23 Thesen 173
Sie bringt bare Klicks. Wir bauen unsere Überschriften danach auf. Alle haben sie
schon mal gesehen, denn sie ist überall. Aber was dann passierte, konnte keiner
wollen.
Quelle: Twitter
CNN hat das Prinzip der Formel übernommen. Dabei ist eine Überschrift so
geschrieben dass sie Neugier erzeugen soll. Am Ende bleibt etwas offen, und
man muss die Geschichte anklicken, um die Neugier zu befriedigen. Bei einer
Geschichte über Vergewaltigung funktioniert das nur nicht so recht.
Es gibt Seiten wie Upworthy, Heftig oder LikeMag, die treiben das auf die
Spitze. Versuchen Sie mal, da zu widerstehen.
Das gibt es auch auf Deutsch, zum Beispiel bei Heftig und LikeMag:
„Bei dieser 79-jährigen Tänzerin gähnen zuerst alle..doch plötzlich geschieht
etwas Unfassbares..WOW!“ – LikeMag.
„Eine Frau lernt einen obdachlosen Mann in Brasilien kennen. Ich hätte nie
erraten, was als nächstes passiert“ – Heftig.
Die Masche ist irgendwann durch. Sie funktioniert bei Upworthy, aber nicht
bei CNN.
wann Leute auf „teilen“ klicken – und machen damit Journalismus: Hunderttau-
sende Likes mit hochpolitischen Geschichten über rassistische Diskriminierung
durch Polizisten oder Geschichten über den Klimawandel.
Und wenn wir uns nicht um Facebook kümmern, dann tun es die anderen:
Nicht nur der ärgerliche Klickschrott, sondern auch der publizistische Rand.
Angefangen bei den „Deutsche Wirtschafts Nachrichten“ mit seiner Euro-Angst
bis hin zu den Verschwörungstheorien des Kopp-Verlags.
kann gut davon leben. Auf Youtube, gerade in Deutschland, sind auf den ersten
zehn Plätzen fast ausschließlich solche Spieler. Das ist das Geschäftsmodell, das
funktioniert.
Jetzt machen Games-Journalisten genau das gleiche. Sie spielen ein Spiel,
genau wie diese Menschen auch, sie schreiben eine Kritik. Wieso gibt es keine
Youtube-Videos davon?
Diese Art von Youtubern ist nur ein Beispiel. Den gleichen Typ gibt es auch im
Bereich Kultur, im Bereich Wissen, im Bereich Politik.
Es ist ein riesiger Markt da, den wir außer Acht lassen, weil wir zu faul sind.
Auf Twitter ein Hashtag einzugeben und dann in den Artikel zu schreiben @
bloederUsername805 giftet gegen Merkel. Das können wir sehr gut. Aber zu
schauen, wie funktioniert das System Video, wieso sieht das alles, und zwar aus-
nahmslos alles, so unterschiedlich aus als klassische Fernsehbeiträge? Was kön-
nen wir davon lernen? Das sind die Fragen.
fiken, die beim Drüberscrollen interaktive Funktionen offenbaren. Kurz, es ist ein
Feuerwerk der Kreativität.
Wir haben keine Daten dazu vorliegen, wie viele Leute die Geschichte „unbe-
dingt später lesen wollten“ und das nie getan haben. Die Medienwelt jedenfalls
reagierte wie ein ausgehungerter Hund, dem man einen Knochen hinwirft. Jetzt
sehen wir überall Schneeflockengeschichten. Das ist erst mal ein tolles Experiment.
Die Sache dabei ist nur: Snowfallen ist kein Verb. Eine langweilige Geschichte
ist immer noch eine langweilige Geschichte, wenn man sie snowfalled.
Die Geschichte muss gut genug sein. Lange, ausführliche Monstergeschichten
funktionieren. Auch Mobile. Aber es gibt keinen Platz für Mittelmaß. Wenn wir
also Snowfall machen, dann bei Geschichten, die es wert sind. Entweder es rockt,
oder man lässt es sein.
„But in major breaking news situations, it becomes abundantly clear that large
numbers of readers are glued to our Twitter feed and waiting for the next update“ –
Nieman Lab.
Es gibt eine lange Forschungstradition zum Vertrauen in Medienmarken. Über
Vertrauen diskutieren wir seit 20 Jahren, prinzipiell sollte uns das also nicht über-
raschend.
Gleichzeitig wird unsere Arbeit immer mehr auf die Probe gestellt. Wir ste-
hen verstärkt einer Öffentlichkeit gegenüber, die Fakten prüft und uns hinterfragt.
Überall werden Kommentare geschrieben. Garantiert gibt es mindestens zwei
Dutzend Menschen, die sich mit einem Thema viel besser auskennen als wir und
dazu einen Blog schreiben. Sie finden schnell heraus, ob wir da gerade ein Foto
des falschen Flugzeugtyps zu unserer Geschichte verwenden.
Wir müssen uns also mehr anstrengen – und wir müssen transparent mit Feh-
lern umgehen. Wenn wir in diesem Umfeld überleben, uns beweisen, dann nimmt
das Vertrauen in uns sogar noch zu.
und zumindest alles ausprobieren. So wie die BBC auf Instagram geht und Videos
produziert. So wie Buzzfeed auf Vine 40 Bilder in sechs Sekunden packt. So wie
auch Snapchat mit seiner Funktion „Stories“ – das ist eine Einladung, sich damit
auseinanderzusetzen.
Otfried Jarren
Die Vertrauenskrise von Medien und Journalismus ist vor allem dem Ende von
Massen- und Monopol-Medien geschuldet. Während sich der Journalismus
jedoch längst weiter ausdifferenziert, hält die Medienbranche an überkommenen
Einheitsvorstellungen und einer künstlichen Überhöhung von Massenmedienor-
ganisationen fest. Damit erschwert sie die überfällige Debatte darüber, was Publi-
zistik und Journalismus sind und in Zukunft sein werden.
Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz (Aufklärung oder Animationsarbeit?
Zur Deformation des Journalismus) stimme ich zu: Der Begriff Qualitätsjourna-
lismus führt in die Irre. Das hat diverse – generell historische – Gründe: Zunächst
einmal sind es die Journalistinnen und Journalisten selbst, die sich nicht unter-
scheiden wollen. Sie wollen keiner Profession mit klaren und weitgehend unbe-
strittenen beruflichen Regeln und Normen angehören. Sie sehen sich als eine
Berufsgruppe, wollen sich nicht voneinander unterscheiden. Sie wollen den freien
Beruf, auch im Angestelltenstatus, ohne besondere Merkmale. Und sodann sind
es ihre Arbeitgeber, die für ihre Branche und für ihre Produkte keine Unterschei-
dungen einführen wollen – aus ökonomischen Gründen. Es sind Arbeitgeber, die
den Journalismus als Beruf erst ermöglichen, weil sie ihn durch die Etablierung
einer Medienorganisation arbeitsteilig organisieren und auf eine gewisse Dauer
stellen. Erst dadurch kann Journalismus erwerbsmäßig betrieben werden. Durch
die Organisationsbildung wird die Aufdauerstellung eines spezifischen publizisti-
schen Leistungsspektrums ermöglicht, für das konstitutiv erst einmal Werbekun-
den gefunden und sodann auch Rezipienten gewonnen werden müssen. Durch
einen unternehmerischen Entscheid wird Journalismus (heute) institutionalisiert.
O. Jarren (*)
IPMZ, Zürich, Schweiz
E-Mail: o.jarren@ipmz.uzh.ch
Ein freier Journalismus, ein Journalismus ohne eine Organisation oder einen
Zugang zu einer Medienorganisation zur Verbreitung journalistischer Produkte,
hat sich als Beruf nicht ausbilden können. Zugespitzt formuliert: Journalismus
als berufliche Tätigkeit ohne eine Organisation gibt es nicht, zumindest nicht auf
Dauer. Publizistische Tätigkeiten aber waren und sind immer möglich, die Blog-
gerinnen und Blogger sind dafür ein Beispiel.
Medienorganisationen stellen Journalisten an oder beauftragen Personen mit
journalistischen Aufgaben. Die Verleger oder Medienmanager legen fest, in wel-
cher technischer Form sie Medienleistungen anbieten wollen, welche Formate
gelten sollen und welche Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Journalisten
haben das umzusetzen, was an publizistischer Linie von den Eigentümern defi-
niert und von der Redaktionsleitung über Rollenzuweisung und als redaktionel-
les Programm definiert wurde. Im Rahmen dieser Zwecksetzungen wie Vorgaben
agieren sie auf Basis spezifischer handwerklicher Normen und Regeln. Dazu
gehören beispielsweise die Nachrichtenwerte, aber eben auch andere Regeln.
Derweil sind, wie auch der Beitrag von Arlt und Storz dokumentiert, viele weitere
Regeln dazugekommen.
Die Idee der Massenmedien ist es, möglichst viele mit möglichst gerin-
gem Aufwand zu erreichen. Im Gesamtmarkt führt das zu Anpassungen der
Anbieter an die Konkurrenten
Die Idee der Massenmedien (der publizistischen Medien bzw. der Publizistik) ist
es, möglichst viele mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen. Im Gesamt-
markt führt das zu Anpassungen der Anbieter an die Konkurrenten – so ist man
auf der sicheren Seite. More of the same garantiert zumindest eine gewisse
Beachtung. More of the same minimiert vor allem die Risiken in der publizisti-
schen Produktion. Zu viel Neues, Einmaliges, Innovatives ist riskant. Die rela-
tiv hohen Fixkosten bei Verlagen wie Sendern zwingen zu einer industriellen,
möglichst seriellen Produktionsweise. Selbst bei sinkenden Fixkosten (so bei
Produktion und Distribution) gibt es heute massiven neuen Druck im Markt: Im
Wettbewerb mit immer mehr Anbietern steigen die Kosten (Werbung, Marketing,
PR), damit man mit seinen Angeboten aufgefunden wird. Die Produkte müssen,
um Wiedererkennung und Kundenbindung zu erreichen, standardisiert sein. Sie
müssen gar formatiert sein, um Produktion und Rezeption optimal aneinander
anzugleichen.
Auf dem Prüfstand. Was will eigentlich Journalismus? 183
Die Rezipienten sollen möglichst wenige Ressourcen für die Produkte auf-
wenden, weshalb die Finanzierung über andere Quellen, so vor allem die Wer-
bung, im privaten Mediensektor konstitutiv ist. Die dauerhafte Bindung des
Publikums an das Produkt wird dabei angestrebt. Formale wie inhaltliche Wie-
dererkennbarkeit, Festlegung auf schon Erwartetes, Vermeidung von Über-
raschungen usw. gehören deshalb zum massenmedialen Geschäftsmodell.
Produktdifferenzierung wird zwar auf der Unternehmensebene partiell betrieben,
aber nicht im publizistischen Kernbereich. Es gibt nicht die FAZ und die FAZ
PLUS. Senderfamilien im Fernsehen bilden hier eine Ausnahme. Produktdif-
ferenzierungen wären grundsätzlich möglich, aber dann müsste über Qualität,
über Leistungen und Preise mit den potenziellen Rezipienten gesprochen und
verhandelt werden. Und man müsste ein verlässliches Produktversprechen, so
auch bezüglich der Qualität, abgeben. Das hat die Branche immer vermieden:
Die industrielle Massenproduktion (so beim Druck oder bei der Produktion von
audiovisuellen Beiträgen: hoher Aufwand, hohe Kosten) war ein Grund dafür, auf
Differenzierungen zu verzichten. Das galt zudem, solange die Werbung dominant
den Journalismus finanzierte.
Konsequenz: Über Preise und Leistungen gibt es im publizistischen Markt
keine wirklichen Vorstellungen, zumal bei den Rezipienten. Damit wurde auch
nicht über Qualitäten gesprochen, und es mussten nicht bestimmte Preise für
bestimmte journalistische Leistungen definiert und kommuniziert werden. Das
war dem Journalismus recht. Er konnte sich auf eine Art Sinnstifterposition, nie
und nimmer an materiellen Dingen orientiert, ausrichten. Über Leistungen, Kos-
ten, Preise, Qualitäten schwieg man lieber, und externe Anfragen wies man ab
(„kann man nicht messen“).
Zwar hat das Publikum unterschieden zwischen eher seriösen und eher nicht
so seriösen oder zwischen mehr oder weniger glaubwürdigen Medien, aber die
Branche hat daraus nichts gemacht. Unterscheidungen wären im Massenmarkt
eben schwierig gewesen und hätten zudem das Geschäft mit den Werbekunden
gestört, die andere Interessen als die Rezipienten haben. Durch Gattungsmarke-
ting oder Titel-Positionierungen hat man zwar versucht, den „klugen Kopf“ aus-
zuweisen, aber zu sehr viel mehr kam man nicht. Qualität wurde lange Zeit mit
normativer Ausrichtung verknüpft: wir stehen für die Wirtschaft, wir sind linksli-
beral. Kauf mich, abonniere mich – ich stehe für diese (gar für Deine) Richtung.
Richtungen und Positionen als Qualitätsmerkmale. Die Zeitungsbranche konnte
sich dies mangels Konkurrenz leisten.
Radio und Fernsehen, zur Ausgewogenheit verdammt, spielen ohnehin bei
ambitionierten journalistischen Zielen eine untergeordnete Rolle. Wenn dort
explizit publizistische Ziele verfolgt werden, dann wird dem parteipolitischen
184 O. Jarren
Die von Arlt und Storz behauptete Vertrauenskrise von Medien und Journalis-
mus ist vorhanden. Sie hat vor allem mit dem Ende von Massen- und Monopol-
Medien und den daraus entstandenen Folgen für den traditionellen Journalismus
zu tun. Aus dem publizistisch hoch konzentrierten Medienanbieter- ist ein Nach-
fragemarkt geworden. Zudem sind neue Akteure in den Markt als Wettbewerber
um Werbung wie Aufmerksamkeit eingetreten (Suchmaschinen, Plattformen).
Aber mehr als nur das: Sie bieten den Bürgerinnen und Bürgern eigenständige
Informations- wie Kommunikationsmöglichkeiten mit erheblicher Reichweite an.
Die bisherigen Massenmedien und ihr Journalismus, zudem den ökonomischen
wie politischen Eliten nah und eng verbunden, haben das Artikulations-, Informa-
tionsvermittlungs- und – vor allem auch – das Deutungsmonopol verloren. Nach
einer Phase der Pluralisierung seit Mitte der 80er Jahre, so durch immer weitere
massenmediale elektronische Angebote, sind nun mit dem Internet und den Social
Media weitere Akteure angetreten. Diese geben anderen Stimmen Gehör. Mit
einmal wird sichtbar, zumindest in Einzelfällen, was die Massenmedien und ihre
Journalisten alles (nicht) leisten.
Mehr und mehr wird deutlich, woran sich die Journalisten vor allem orientie-
ren, was sie nicht beachten, was sie weglassen, wie sie bewerten. So wird mit
dem einen oder anderen Mal überdeutlich, wer sich wie positioniert, vor allem
wer zu „denen da oben“ gehört. Es werden, nicht in allen Fällen und nicht über-
all, aber in vielen Einzelfällen, plötzlich Unterscheidungen möglich bezüglich
bezogen auf Themen, Beteiligte und eben auch auf Qualitäten. Unterschiede, die
exemplarisch nur sein mögen, die aber neu einen Vergleich ermöglichen, ganz
bequem ohne Kauf und Abonnement und nur aufgrund technologischer Gegeben-
heiten: Man kann von der einen zur anderen Informationsquelle – wischen. Und
man kann selbst weiter suchen gehen. Was wurde denn da von den Journalisten,
die ja behaupten, die Relevanz anhand der Nachrichtenwerte professionell zu
bestimmen, ausgewählt? Wem dienen die ausgewählten Themen, warum werden
immer wieder dieselben Expertinnen und Experten ausgewählt?
Durch Internet und Social Media können Einzelne wie Gruppen sich nun
selbst darstellen, untereinander austauschen, sich selbst organisieren. Sie sind auf
die Wahrnehmung und die Vermittlungsleistungen durch die Massenmedien wie
den Journalismus weniger als früher angewiesen. Zudem können sie auf journa-
listische Thematisierungen wie Bewertungen selbst rasch und unmittelbar reagie-
ren, ohne bei den Medienorganisationen anklopfen zu müssen. Zugleich aber
können sich alle bei den von Medienredaktionen betriebenen Online-Plattformen
beteiligen. Dort kommentieren sie, zugleich aber bringen sie auch Themen vor.
Was wird daraus? Ein Großteil wird weggefiltert, weil man es nicht bringen dürfe
oder könne – sagen die Community-Redakteure. Eingeladene Beteiligung – doch
woran, wozu und mit welchem Zweck?
186 O. Jarren
Dem Überschuss an kommunikativen Möglichkeiten wie auch Akten steht ein auf
Selektion getrimmter redaktioneller Apparat der Massenmedien gegenüber. Es
sind die Community- oder Social-Media-Teams, die hier agieren. Selbst in den
Online-Ausgaben wird eine Art redaktionelle Linie gepflegt, auch wenn Debat-
ten möglich sind und freigeschaltet werden. Was bewirken diese Kommentare
und Mitteilungen beim journalistischen Kernteam, bei der Themensetzung, bei
der Kommentierung? Oder haben wir es tatsächlich nur mit Kritikern, Trollen und
shit storms zu tun?
Der Umgang mit Online-Angeboten, mit Foren und Social Media ist auch im
Journalismus noch nicht institutionell geklärt. Selektion, Moderation, Kommen-
tierung, (rasche) Reaktion sind spezifische Anforderungen – sind dafür Journa-
listinnen und Journalisten qualifiziert und vorbereitet? Auf alle Fälle differenziert
sich damit der Journalismus aus, organisational wie auch auf der Rollen- und
Handlungsebene. Und es entstehen neue Formen publizistischer Produkte, die
zum Haus, zur Marke gehören. In welchem Bezug aber stehen diese Leistungen
zu journalistischen Leistungen und Qualitäten? Nun gibt es zudem auch Plattfor-
men jenseits der publizistischen Medien, die vielfach eine höhere Reichweite ver-
sprechen. Alle können wählen, können ständig ausweichen, und das tun sie auch.
Die von der gesamten Medienbranche verweigerte Debatte um Publizistik
und Journalismus, was also Publizistik ist und Journalismus alles sein kann, wird
nun an anderen Orten, an anderer Stelle sowie auch von (journalistischen) Laien
und auch mit anderen Argumenten geführt. Der Massenmedienblock mit sei-
nen Journalistinnen und Journalisten kommt auf einen anderen Prüfstand. Auch
wenn die Bürgerinnen und Bürger um die Bedeutung von Fremdreferenz und
somit die Relevanz der journalistischen Medien wissen, so stellen sie jetzt ver-
stärkt grundsätzliche Fragen an die Massenmedien und die Journalisten und ihr
Leistungsspektrum. Was wird geboten? Wofür stehen Medien und Journalismus?
Für Informationen und Bewertungen? Die kommen auch aus nicht-journalisti-
schen Quellen. Es gibt zahllose seriöse Informationsanbieter wie -vermittler, und
es werden ständig mehr. Was sind die Unterschiede, zumal solche, die zu einer
Bezahlung einer Leistung führen?
Auf dem Prüfstand. Was will eigentlich Journalismus? 187
Das Zeitalter der Massemedien ist vorbei. Damit geht auch die Zeit jenes
sich als eine „Einheit“ verstehenden Journalismus vorbei
Die Gesellschaft wird sich weiter ausdifferenzieren. Damit steigt der Informa-
tions- und Kommunikations-, Bewertungs- und Orientierungsbedarf kontinuier-
lich an. Das Zeitalter der Massemedien ist vorbei. Damit geht auch die Zeit jenes
sich als eine „Einheit“ verstehenden Journalismus, der sich in diesen Medien
entwickelt hat, vorbei. Der Journalismus hat sich zwar längst differenziert. Noch
aber halten Unternehmen, Gewerkschaften, Berufsverbände, Selbstregulierungs-
organisationen und andere an Einheitsvorstellungen fest. Die von Arlt und Storz
angestoßene Debatte über den Journalismus ist nötig. Es sollte eine offene und
breite Diskussion geführt werden, auch um Verkürzungen zu vermeiden: Die
Stilisierung „Ohne Journalismus keine Demokratie“ trägt eben nicht. Natürlich
benötigen wir für ein offenes, demokratisches politisches System bestimmte Ver-
mittler, die unabhängig sein müssen, aber das kann sich nicht allein auf den einen
(politischen) Journalismus reduzieren.
Es haben sich unterschiedlichste Formen von Journalismus etabliert. Das Ein-
heitsverständnis wie die Überhöhung von Massenmedienorganisationen und Jour-
nalismus aber ist ein Problem in der Debatte.
Selbstverständlich: Die Erhaltung und Entwicklung eines unabhängigen, kul-
turell stabilen und robusten Journalismus muss auch aus normativer Warte ein
medienpolitisches Ziel sein. Die Erhaltung von irgendwelchen Medienorganisa-
tionen aber macht keinen Sinn. Insoweit geht es um Journalismus in einem wei-
ten Verständnis. Der aber muss zeigen und dokumentieren, was er will und kann.
Und er wird sich organisieren und Organisationen geben müssen.
URL: http://www.carta.info/82917/auf-dem-pruefstand-will-eigentlich-journa-
lismus/ vom 29. Juli 2016.
Medienkritik-BINGO #1: Katastrophe,
Lust, Gier, Aufklärung, Pferde,
Restzweifel, Erregungszyklen,
Empörung, Druck, Karthasis
Annette Baumkreuz
Und ja, die „#1“ im Titel bedeutet, dass ich beabsichtige, in Zukunft weitere
Bingoblätter zu veröffentlichen. Bleiben Sie stark!
A. Baumkreuz (*)
Gießen, Deutschland
E-Mail: annette.baumkreuz@gmail.com
URL: https://annettebaumkreuz.wordpress.com/2015/04/07/medienkritik-
bingo-1-katastrophe-lust-gier-aufklarung-pferde-restzweifel-erregungszyklen-
emporung-druck-katharsis/ vom 07. April 2015.
Warum ich an einem Snapchat-Format
arbeite
Jannis Kucharz
Snapchat ist noch immer in alle Munde und Hirne. Medienmacher, Marketeers
und Journalisten grübeln ob und wie sie Inhalte für eine Plattform erstellen sol-
len, bei der nach 24 h alles wieder verschwindet. Interessanterweise tun sich
gerade Onlinejournalisten schwer damit, die es gewohnt sind, für ein ewiges
Archiv zu arbeiten.
Alte Journalisten sind da fast schon wieder im Vorteil, schließlich war es lange
üblich, dass Fernsehbeiträge sich versenden und die Zeitung von gestern „old
news“ ist. Aber auch von YouTubern erreicht mich die Frage: Wieso machst du
dir den Aufwand, Inhalte für Snapchat zu machen? Du könntest das doch auch für
YouTube tun.
Also dachte ich mir, erkläre ich mal ein bisschen, was für mich aktuell den Reiz
von Snapchat ausmacht, um dort auch journalistisch angehauchte Formate aus-
zuprobieren. Es reicht mir nicht aus, eine neue Plattform nur von außen zu
betrachten und schlimmstenfalls sogar zu belächeln. Dazu bin ich noch nicht
„zu alt“ genug. Ich will selbst die Möglichkeiten ausprobieren, testen und ver-
suchen zu verstehen, was den Reiz ausmacht. Speziell dann, wenn es so ein
J. Kucharz (*)
Mainz, Deutschland
E-Mail: kontakt@netzfeuilleton.de
Mein Format heißt im Moment programmatisch „#TIL – Heute habe ich gelernt“.
Darin teile ich in unregelmäßigen Abständen in einer Snapchat-Story für mich
interessante Fakten und Zusammenhänge, die ich kürzlich erfahren habe. Ich
habe schon über den ehemaligen Grenzstreifen zwischen BRD und Sowjet-
staaten gesprochen, Lachskanonen, das Alkoholverbot in Irland an Karfrei-
tag, ausgedachte Orte auf Straßenkarten und darüber, warum Piraten eigentlich
Augenklappen tragen. Dafür nutze ich die snapchattypische Mischung aus kurzen
Videoclips und Fotos mit Text, Emojis und Kritzeleien on Top.
Diese einfache Mischung aus Video und Foto fand ich von Anfang an span-
nend. Und ich finde, der Aufwand ist erstaunlich gering. Vor allem, wenn man
es mit klassischer Postproduktion vergleicht. Da ist jede eingefügte Grafik oder
Schrift ein Aufwand. Bei Snapchat bin ich im Prinzip zum Schnitt in der Kamera
gezwungen und Special Effects entstehen tatsächlich einfach mit dem Finger.
Das bedeutet einerseits, dass man seine Story etwas im Voraus planen muss,
gleichzeitig veröffentlicht man sie aber schrittweise (Videoschnipsel können
maximal 10 s lang sein) und kann so währenddessen noch auf Fragen reagieren,
die Story länger oder kürzer machen. Zur Geschichte über das Alkoholverbot am
Karfreitag in Irland habe ich beispielsweise abends noch ein Addendum gedreht
und hinterhergeschickt, als ich doch noch ein Hotel gefunden habe, das Alkohol
ausgeschenkt hat. So haben sich für mich einige der Schwächen oder Begrenzun-
gen von Snapchat im Nachhinein als Stärke erwiesen. Ich meine, im Vergleich zu
Warum ich an einem Snapchat-Format arbeite 195
einem YouTube-Video fällt die gesamte Postproduction weg. Dadurch ist es schon
beinahe wieder weniger Aufwand. Aber das ist nur einer der Gründe, weshalb ich
dieses Format auf Snapchat produziere und nicht auf YouTube.
Tatsächlich erreiche ich auf Snapchat mehr Leute. Dabei mache ich YouTube
mittlerweile seit mehreren Jahren, habe Click-Hits mit 100.000 oder 30.000 Auf-
rufen gelandet und 850 Abonnenten gesammelt. Trotzdem erreiche ich auf Snap-
chat momentan mehr Leute. Denn von meinen 850 Abonnenten erreiche ich bei
YouTube längst nicht mehr alle. So kommt es, dass ein reguläres YouTube-Video
von mir innerhalb von zwei Wochen gerade einmal 140 Aufrufe erzielt. Ohne
an dieser Stelle zu tief in die Probleme einzusteigen, die YouTube hat, liegt das
vor allem am YouTube-Algorithmus. Längst bekommen nicht mehr alle Abon-
nenten alle Videos angezeigt und der Algorithmus belohnt vor allem Kanäle, die
sehr regelmäßig produzieren. Bei Snapchat gibt es das (noch) nicht. Hier werden
einem alle Storys angezeigt, lediglich nach Aktualität sortiert. Und ohne zu wis-
sen, wie viele Abonnenten ich dort genau habe, kann ich sagen, das meine Storys
dort Hunderte Abrufe erreichen. In 24 h.
Für mich ein weiteres Indiz dafür, wie intensiv die Nutzung von Snapchat derzeit
ansteigt. Und ich würde lügen, würde ich nicht zugeben, dass dies nicht auch ein
Teil der Überlegung ist, dieses Format jetzt zu probieren. Auf YouTube kann man
mit einem neuen Format derzeit niemand hinter dem Ofen hervorlocken. YouTube
als Plattform wächst auch nicht mehr so rasant, Snapchat dagegen schon. Hier hat
man also noch die Chance, mit der Plattform mitzuwachsen.
Auch die mediale Aufmerksamkeit liegt auf Snapchat. Und so führt das Format
dazu, dass mein Account auf Medienportalen zum Folgen empfohlen wird oder
die Themen darin von anderen Medien aufgegriffen werden.
196 J. Kucharz
Das alles bedeutet, dass Snapchat im Moment für mich die Plattform ist, um
Neues auszuprobieren und ein junges Publikum zu erreichen. Und sogar von
Georg habe ich schon ein Lob für meine Storys bekommen.
URL: http://netzfeuilleton.de/snapchat-format/ vom 30. März 2016.
Wir brauchen keinen Darsteller-
Journalismus
Hardy Prothmann
Es sind immer noch, um ein paar Dinge zu nennen, Recherche und Redlichkeit,
Ausdrucksfähigkeit und Unabhängigkeit, die die Arbeit eines Journalisten prägen
sollten. Wer über Journalismus und dessen Wandel redet, der muss also über Inhalte
reden.
H. Prothmann (*)
Mannheim, Deutschland
E-Mail: chefredaktion@rheinneckarblog.de
kein Auto, keine Klospülung. Oder nur mal ab und zu. Redlichkeit und Unabhän-
gigkeit müssen das „ideologische Fundament“ im Journalismus sein. Man könnte
es auch Berufsehre nennen. Und die Überzeugung muss sein, Nachrichten zu
erzeugen, die „fit to publish“ sind. Die Relevanz haben und nicht nur dem allge-
meinen Rauschen dienen.
Guter Journalismus muss auch in Zukunft bezahlt werden. Die Entwicklung ins-
besondere der Tageszeitungsbranche darf man getrost als hausgemachte Katastro-
phe oder als GröHaMallZe-Syndrom bezeichnen: Größtes Harakiri-Management
aller Zeiten. Und wir reden hier über den Teil des Medienbetriebs, der immer
noch die allermeisten Menschen erreicht. Die Branche hat es geschafft, innerhalb
von 12 Jahren mehr als die Hälfte ihres Anzeigenumsatzes zu verlieren, beim
Gesamtumsatz wurde ein Viertel eingebüßt.
Wer sich ein wenig für Wirtschaft interessiert und sich wundert, wie eine derart
missgewirtschaftete Branche überleben kann, der denkt daran, das alles relativ ist
und man früher Traum-Umsatzrenditen von 20–30 % eingefahren hat. Da hüpfte
Wir brauchen keinen Darsteller-Journalismus 199
Das gilt auch für den überwiegenden Teil der neuen „Unternehmerjournalisten“.
Was Jeff Jarvis als „entrepreneurial journalism“ als Zukunftsvision anpreist, ist
und bleibt eine solche. Sich „umsonst“ in Szene zu setzen muss irgendwann in
bare Münze umgewandelt werden, sonst ist alles nur heiße Luft. Selbstständige
Journalisten, die mit Haltung in den Tag gehen und fähig sind, hart recherchierte
und relevante Storys zu machen – denen rennen die Werbekunden nicht die Tür
ein, schon gar nicht die, über die gerade kritisch berichtet worden ist. Insbeson-
dere die neu entstandenen Angebote durchleben härteste Zeiten. Wer heute in
einer total vernetzten Welt als Individualist eine Rolle spielen will, muss extrem
gut sein und/oder Glück haben, um die Nische zu besetzen. Wer das nicht ist,
muss sich vernetzen und Teil eines Systems werden. Der Spiegel ist ein System,
die Landesrundfunkanstalten sind ein System und große Zeitungen ebenfalls. Und
trotzdem kämpfen allem mit erheblichen Problemen.
200 H. Prothmann
Warum? Weil man in alten Strukturen denkt. Man gehört zum System oder eben
nicht. Also zum WDR oder NDR, zur FAZ oder zum Spiegel oder zur Süddeut-
schen. Dass es schon lange verteilte System gibt, wie etwa die Nachrichten-
agenturen, die ARD oder „Kooperationen“, ist irgendwie in den meisten Köpfen
noch nicht angekommen. Wer tatsächlich meint, die goldene Zukunft von vie-
len „Midia Öndreprenörschips“ sei gekommen, ist komplett auf dem Holzweg.
Die gesamte Journalismus-Branche steckt nach Jahrzehnten einer Art imperia-
len Großreichphase in der größten Krise aller Zeiten. Die Fähigkeiten, die man
braucht, um ein relevantes, journalistisches Angebot zu machen, sind enorm. Und
niemand kann sie allein erfüllen. Es braucht Arbeitsteilung und Spezialistenwis-
sen. Wer noch in „linke Zeitung“, „konservative Zeitung“, „Rotfunk“ oder „CSU-
Funk“ denkt, hört die Einschläge nicht.
Der einzige Weg für „Individualisten“, ob Verlag oder Einzelkämpfer, ist eine
konsequente Vernetzung ihrer speziellen Kenntnisse und die Bereitschaft, dieses
zu teilen – aber nicht für lau, sondern betriebswirtschaftlich organisiert. Aufmerk-
samkeit ist und bleibt die Währung, die man „verkaufen“ kann. Ob das über ein
Abo, über den Verkauf oder über Crowd-Sourcing, Stiftungen, Fördervereine pas-
siert, ist im Endeffekt egal. Nicht egal ist, ob die Kasse leer ist oder die inhalt-
liche Arbeit bezahlt werden kann. Ebenfalls nicht egal ist die Haltung derer, die
von inhaltlichem Journalismus profitieren. Das ist die Gesellschaft insgesamt,
also jeder Politiker, jeder Geschäftsmann, jeder Prominente aus Kunst und Sport
und auch der Wissenschaft. Hier fehlt eine gemeinsame Initiative, durch Journa-
lismus-Anbieter, den Wert von Journalismus positiv neu „in den Markt der Mei-
nungen“ zu bringen.
Qualitätsmarke Journalismus
Denn was tatsächlich fehlt, ist eine grundlegende Wertschätzung von guter jour-
nalistischer Arbeit – die grundlegende Nicht-Wertschätzung hängt am Fehlen von
gutem Journalismus. Frühere Forschungsschwerpunkte beschäftigten sich mit
Wir brauchen keinen Darsteller-Journalismus 201
Das Letzte, was der Journalismus mit Blick auf die Zukunft braucht, sind Midia
Öndreprenörschips, die nur Darsteller-Journalismus sind. Wenn die Branche sich
erhalten und retten will, dann in der Rückbesinnung auf ein ordentliches Hand-
werk mit Qualitätssiegeln, die man aber dringend entwickeln und fördern muss.
Systemübergreifend. Recherche und Ausdrucksfähigkeit, Redlichkeit und Unab-
hängigkeit sind wesentliche Pfeiler dafür. Mit einer Geschäftsleitung und einer
Redaktion – getrennt voneinander. Aber die müssen nicht „in einem Haus sitzen“.
Die können verteilt agieren, so wie Konzerne wie SAP ihre Produkte 24 h am Tag
rund um die Welt weiterentwickeln. Der hier auf CARTA thematisierte „Media
Entrepreneur“ ist weitgehend utopisch. Er muss Geschäftsführung und Marketing
können, Vertrieb, Personalwirtschaft, Buchhaltung, Vertragsrecht, Systemadmi-
nistration, F&E, Weiterbildung und so weiter. Dazu muss er kommunale Abläufe
verstehen und bewerten können oder die Verwaltungsabläufe in Brüssel oder
Berlin kennen, er muss Polizeiarbeit aus dem Effeff beherrschen und die Traditi-
onslinien sämtlicher Vereine im Einzugsgebiet beherrschen. Oder er schließt sich
einem oder mehreren verteilt arbeitenden Systemen an.
Sonst übernehmen andere den Saustall, den wir aktuell leider mit kritischem
Blick nur als solchen bezeichnen können. Und die machen garantiert keinen rele-
vanten, überprüfbaren und aufrechten Journalismus, der der Meinungsbildung
dient. Die machen einfach nur irgendeine Meinung. Heute so und morgen anders.
Und wenn es „gut läuft“ – extrem.
202 H. Prothmann
URL: http://www.carta.info/75262/wir-brauchen-keinen-darsteller-journalismus/
vom 20. Oktober 2014*.
(*nicht mehr verfügbar).
#Heftigstyle: Bitte hört auf mit der
Prostitution
Tobias Gillen
Ich bin genervt. Genervt von all den Überschriften im sogenannten „Heftigstyle“.
Genervt davon, wie viele geschätzte Medien inzwischen auf diesen Zug aufsprin-
gen. Genervt von der zunehmenden Klicknutten-Prostitution der „Qualitätsme-
dien“. Ein paar Worte dazu.
Nein, dieser Text treibt euch nicht die Tränen in die Augen, verändert euer
Leben oder macht irgendetwas anderes mit euch, eurer Verwandtschaft oder sonst
wem. Lest ihn oder lasst es, teilt ihn oder lasst es, druckt ihn aus und hängt ihn
euch über die Couch – oder lasst es.
Ich habe mir jetzt gut eine Woche das Spektakel um die „Enthüllung“ der zwei
Spezialisten hinter heftig.co angesehen und immer wieder juckte es mir in den
Fingern. Jetzt muss ich einfach mal ein bisschen Dampf ablassen.
Mir kommen inzwischen tatsächlich fast die Tränen, wenn ich so einen
Unsinn wie „Irgendwas passierte. Wenn du das liest, kommen dir die Tränen“
lese. Da gehen zwei Betriebswirte hin und sammeln irgendwo im Internet
Dinge zusammen, die in – es ist mir schleierhaft – irgendeiner Weise emotiona-
lisieren sollen, packen eine Überschrift in diesem Stil davor und hauen sie auf
Facebook raus. Simpel, aber effektiv. Denn mit über 800.000 Facebook-Fans
und 2,4 Mio. Shares in einem Monat kann sich diese Art von „Unterhaltung“
leider sehen lassen – zumindest zahlenmäßig.
T. Gillen (*)
Mechernich, Deutschland
E-Mail: info@tobiasgillen.de
Öffentlich-rechtliches Clickbaiting
Was mich stört ist aber weniger der Erfolg dahinter. Und es ist mir auch egal,
woher heftig.co seine Inhalte bezieht und ob das in irgendeiner Weise mit dem
Urheberrecht kollidiert. Es ist vielmehr das, was wir daraus machen. Wie viele
Postings, Tweets, Kommentare habe ich in der letzten Zeit gelesen, die sich über
die Website beschwert haben, die darin eine Zukunft des Journalismus sehen
wollten oder die einfach nur angewidert waren. Und wie viele Artikel habe ich in
der Folgezeit gelesen, die genau mit diesen Clickbait-Methoden versucht haben,
ein Stück vom großen Kuchen abzuhaben?
In Erinnerung ist mir etwa ein Posting der „ZDF heute“-Redaktion geblieben.
Es ging um einen Artikel auf heute.de zur „Kritik am Anti-Homo-Gesetz“. Die
Weltbank hatte einen Kredit für Uganda eingefroren als Reaktion auf das Gesetz.
Das Twitter-Team teasert ihn wie folgt an:
Uganda stellt Homosexualität unter Strafe. Ihr glaubt nicht, was die Weltbank dar-
aufhin gemacht hat. http://www.heute.de/protest-gegen-anti-homosexuellen-gesetz-
weltbank-stoppt-kredit-fuer-uganda-32153072.html … (ZDF heute (@ZDFheute)
28. Februar 2014)
Als Reaktion auf eine kritische Stimme zu diesem Clickbaiting rechtfertigt sich
die Redaktion wie folgt:
Sind die Hausaufgaben also, dass man bei populären Websites abschaut, wie man
Leser auf die Seite bekommt? Nun, erfolgreich erledigt – das muss man dann
wohl zweifelsfrei anerkennen. Aber hat die Redaktion von „ZDF heute“ tatsäch-
lich den Anspruch, sich in den Netzwerken auf eine Stufe mit „Buzzfeed“, der
„Huffington Post“ oder eben heftig.co zu stellen? In dem Fall wäre ich als Gebüh-
ren zahlender Freund der Öffentlich-Rechtlichen enttäuscht.
Ich erwarte Fakten. Klare Worte. Und wenn sich eine von den Gebührenzah-
lern finanzierte Redaktion auf Twitter austobt, freue ich mich darüber – wirklich.
Aber bitte ohne den plumpen Versuch, die Nutzer auf die Website zu ziehen. Am
„inhaltlich korrekt“ ist in dem Fall übrigens auch nicht zu rütteln. Aber leider
war der Tweet für meinen Geschmack a) unvollständig und b) durch die direkte
Ansprache zu persönlich.
#Heftigstyle: Bitte hört auf mit der Prostitution 205
Unterschwellige Ironie
Aber nicht nur das ZDF nervt mit dem Clickbaiting im „Heftigstyle“. Eine kleine
Auswahl, bei der ich mich beim Tumblr „Sag es heftig!“ bedient habe: „Huf-
fington Post“, Stern.de, N24, die „Stuttgarter Zeitung“, „11 Freunde“, DRadio
Wissen, watson.ch, die „Mittelbayerische Zeitung“, der „Focus Online“-Chefre-
dakteur und t3n.de. Es ist leider tatsächlich nur eine kleine Auswahl.
Ich finde das so abstoßend und weiß kaum, wie ich genau beschreiben kann,
warum eigentlich. Es ist vermutlich, weil immer so eine unterschwellige Ironie
mitschwingt. Etwas in die Richtung: „Wenn sich jemand beschwert, können wir
ja immer noch sagen, es war nur ein Scherz.“ Symptomatisch finde ich dabei
einen Tweet und einen Blogbeitrag vom geschätzten Kollegen Julian Heck. So
schrieb er mir in der vergangenen Woche auf Twitter aus der Seele:
Liebe Kollegen, mir gehen die verbuzzfeedeten und verheftigten Titel inzwischen
kräftig auf die Eier. Ausgelutscht. Langweilig. Erwartbar (Julian Heck (@julian-
heck) 27. Mai 2014).
Er schrieb dann auf eine Reply noch, dass etwa die Kollegen von lousypennies.de
momentan mit diesen Mitteln experimentieren: „Ok, wenns bei seinem Publikum
funktioniert. Aber nervig.“
Sechs Tage später veröffentlicht er auf seinem Blog einen Beitrag mit dem
Titel: „Der Facebook-Post mit meiner neuen Webseite sorgte für viele Likes.
Nummer 36 löste einen Heulkrampf aus!“
Aufgrund seines Postings wenige Tage zuvor schloss ich, dass er das wohl
nicht ganz ernst meinen kann. So schreibt er unter dem Posting über das Feed-
back zu seiner neuen Portfolio-Seite:
Ach so: Erwähnen sollte ich zur Befriedigung der Neugier vielleicht noch, dass es
sich bei Nummer 36 – wovon im Titel die Rede ist – um Christian Lindner, Chef-
redakteur der Rhein-Zeitung, handelt. Ich habe zwar nicht geheult, aber mich
gefreut. Solche Überschriften sind ja scheinbar gerade im Trend und locken heftig
viele Leser an. Die Überschrift dieses Beitrages ist aber natürlich Quatsch und völ-
lig überzogen. Das sind solche Überschriften übrigens immer und überall. Bitte hört
damit auf. Alle. Endgültig.
Fakt ist aber leider, dass sich auch Julian Heck dieses Mittels bedient hat. Sei es
nun aus Spaß, Ironie oder „Quatsch“. Fakt ist, dass er möglicherweise davon pro-
fitiert hat. Und sich am Ende – so wie ich es bei vielen Kollegen und Medienhäu-
sern zumindest vermute – ein kleines Hintertürchen offenhält.
206 T. Gillen
In dem Fall muss er leider – auch wenn ich immer wieder begeistert bin, was
er alles auf die Beine stellt – herhalten, um mein Gefühl zu beschreiben. Nicht,
weil ich es bei ihm besonders schlimm finde. Sondern einfach, weil er der Ein-
zige ist, der das Hintertürchen auch transparent offenlegt – ob bewusst oder unbe-
wusst.
Das ist es, was mich so sehr stört. Wollen wir Qualität oder Quantität? Wollen
wir Leser oder schnelle Klicks? Heftig.co wird den Journalismus nicht angreifen,
wie von einigen Kollegen in der letzten Zeit ebenfalls befürchtet. Die Seite zeigt
uns ganz im Gegenteil, wie wir uns von unjournalistischen Nervportalen abheben
können. Eine Frage des Journalismus wird daraus nur, wenn wir dem Clickbai-
ting-Erfolg hinterherrennen wie ein Eichhörnchen auf Speed seinen Nüssen.
Denn dann laufen wir wirklich Gefahr, uns irgendwann nicht mehr abzuheben.
Qualitativ hochwertige Themen finden ihre Leser auch ohne solche Teaser. Und
sie werden auch geteilt. Clickbait ist kein neues Phänomen. Es war schon immer
nervig. Aber durch den „Heftigstyle“ hat es klar erkennbar eine neue Dimension
erreicht.
Ich finde: Entweder man hat seine kritische Meinung zu dieser Stilform (die
irgendwann auch den letzten Nutzer nerven wird – davon bin ich überzeugt!) und
hält sich entsprechend konsequent daran. Oder man setzt auf sie – dann aber bitte
#Heftigstyle: Bitte hört auf mit der Prostitution 207
ebenfalls konsequent und ohne sich zu wundern, dass man in eine Schublade mit
den Klicknutten gesteckt wird. Nur diese latente Ablehnung, der Neid auf die
Zahlen von heftig.co, der in der letzten Zeit bei vielen Kommentaren mitschwang
und dann das Ausnutzen der Mittel – das passt nicht zusammen.
Und das nervt mich. Ganz gewaltig sogar.
URL: https://www.tobiasgillen.de/heftigstyle-clickbait-medien/ vom 5. Juni 2014.
Zwischen Information und
Unterhaltung: Publizistische Divergenz
in der Medienkonvergenz
Jan Krone
Die Reaktionen reichen also von Empörung über Konsterniertheit bis hin zu Ver-
einnahmungen in den eigenen Betrieb. Man stünde der Entpolitisierung des Publi-
kums hilflos gegenüber und sehe in der hohen, technisch gemessenen Reichweite
die Kumulation des an sachlicher Berichterstattung desinteressierten Boulevards
J. Krone (*)
Institut für Medienwirtschaft, FH St. Pölten, St. Pölten, Österreich
E-Mail: jan.krone@fhstp.ac.at
Die Fokussierung auf Klickzahlen oder Flies, die streng genommen erst einmal
nichts anderes besagen, als dass einer Site/Subsite oder einem Inhalt eine trotz
dauerhafter Speicherung flüchtige Sympathiebekundung zuteilwird, verschleiert
die Trennlinie der kommunikativen Genres um den Preis der Werbevermarktungs-
option. Nur liegt einem Werbung treibenden Unternehmen oder dessen Agenten
weniger an einer politisierten oder zerstreuten Gesellschaft, als vielmehr an spe-
zifischen Zielgruppendefinitionen als Konsens für ein konstruiertes Publikum, das
wenig mit einem sozialen Abbild der Summe an Individuen gemein hat.
Orientieren sich nun die Bediener des kommunikativen Genres Information
auf die quantitativen Substrate aus dem kommunikativen Genre Unterhaltung,
ist das Missverständnis des Publikums und auch der vermeintlichen Konkurrenz
vollkommen.
Zwischen Information und Unterhaltung … 213
Das Publikum möchte sowohl das eine als auch das andere in seiner Opti-
onsvielfalt nutzen und trifft damit keine qualitative Aussagen zur Wertschätzung
eines Angebots oder Rankings zur gesellschaftspolitischen Verfasstheit einer
Grundgesamtheit (Likes und Shares implizieren dies zwar, lassen sich dahin
gehend aber nicht ausreichend verifizieren; es bleibt eine ad hoc-Sympathiebe-
kundung).
An diesem Zustand lässt sich weder durch die Bediener des einen kommu-
nikativen Genres etwas ändern, noch durch die des anderen. Die Entscheidung,
in welcher Verfassung welche Kommunikationsformen angestrebt werden, trifft
alleine das Individuum, und das nahezu autark auf Basis der grundlegenden Dis-
position des Gemüts zu einem bestimmten Zeitpunkt (Uwe Hasebrink: „Ich bin
viele Zielgruppen“).
Unter Konkurrenzaspekten weist die Auseinandersetzung der Informations-
medien mit den Unterhaltungsmedien auf einen hilflosen, missinterpretierten
publizistischen Wettbewerb hin. Doch nicht nur das, auch im ökonomischen Wett-
bewerb ist deutlich geworden, dass die Werbefinanzierung online eine zunehmend
geringere Rolle im Erlösspektrum von Massenmedien spielt.
Wenn Redaktionen und Verwaltungseinheiten von Nachrichtenjournalismus-
Verlagen oder verlagsnahen journalistischen Akteuren eine gegenüber der Inter-
net- und Publikumsrealität unnütze und abwegige Allianz mit der Fokussierung
auf Reichweitenrankings als gemeinsames Wirkungsziel bilden, ist das maximal
der Wunsch nach Skalierbarkeit des nicht ausreichend Skalierbaren.
Das Angebot an Werberaum übersteigt schlicht die Nachfrage und wird auch
absehbar nicht das notwendige Preisgefüge entstehen lassen.
Die Akklimatisierung mit einem Nischenbewusstsein abseits publikumsbin-
dender Großereignisse im Medien- und damit auch Oberflächenwandel und den
daraus zu ziehenden Konsequenzen für das Geschäftsmodell ist trotz des ersten
Eindrucks in den Zehner-Jahren nicht allen Playern des Medienbetriebs gleich-
mäßig gelungen.
Douglas C. Adams Metapher des Stroms (des Nachrichtenjournalismus) der
sich im Ozean (des hybriden Kommunikationskanals Internet) auflöst, ist aus die-
ser Perspektive auch 19 Jahre nach der Veröffentlichung treffend. (Wired, Nr. 1,
1995, britische Ausgabe nach „Lachs im Zweifel“, S. 155–160).
Die Annahme konvergenter kommunikativer Genres offenbart die Missdeu-
tungen der Nachrichtenjournalismus-Verlage, die Reichweitenwerte mit Infor-
mationsbedürfnis gleichsetzen, an die Gratifikationserwartungen des Publikums.
Dabei handelt es sich grundsätzlich um zwei unterschiedliche Kommunikati-
onsziele, die jedoch über den gleichen Vertriebskanal bedient werden. Der Weg in
214 J. Krone
ein gänzlich neues Mediensystem ist entgegen der Auffassung vieler Nachrichten-
journalismus-Verlage noch nicht abgeschlossen.
Die Diskussion um Unterhaltungsangebote, und insbesondere die um neue
Akteure wie Heftig.co, zeigt, nüchtern betrachtet, einen ungezwungenen Ver-
gleich von Äpfeln mit Birnen, oder einfach nur den Neid um qualitativ nicht veri-
fizierbare Messeinheiten. Die Qualität des Werberaums definiert sich nach dem
Werbeumfeld, das nicht zwangsläufig einem bestimmten kommunikativen Genre
entsprechen muss, um für Werbeeinschaltungen attraktiv zu sein.
Der Medienwandel verändert Zugriffs- und Handhabungsbedingungen, nicht
aber die kommunikativen Funktionen. Die Annahme einer solchen kommuni-
kativen Konvergenz ist ein Missverständnis. Die Funktionen bleiben stabil, sind
jedoch eng zusammengedrängt. Auch dafür steht der Begriff „Konvergenz“,
mathematisch sogar korrekt.
Exkurs Urheberrecht
Alf Frommer
Chuck Norris ist Textredakteur bei der Brigitte und ein Habicht holt eine Drohne
vom Himmel. Was läuft eigentlich gerade falsch im Journalismus?
Lesen ist eine unheimlich beglückende Tätigkeit. Sie ist Informationsver-
mittlung oder auch nur Ablenkung. Sie kann im besten Falle eine Weltreise sein,
bei der man sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt. Lesen hat Gesellschaf-
ten verändert, Revolutionen erst möglich gemacht. Luthers Thesen wären nichts
gewesen, wenn er sie nicht auf ein Blatt Papier geschrieben hätte. Heute würde
er sie wahrscheinlich ins Netz stellen und die Menschen würden es in sozialen
Netzwerken teilen. Buzzfeed würde eine Liste posten: „95 Thesen, für die sich
Menschen unter 25 überhaupt nicht mehr interessieren.“ Heftig würde vermutlich
in typischer Clickbait-Lyrik sagen: „95 Thesen, die das Christentum auf den Kopf
stellen, bei Nummer 34 trittst du endgültig aus der katholischen Kirche aus.“ Bei
BILD Plus würde es heißen: „Exklusiv-Interview mit dem Ostdeutschen, der mit
seinen Thesen Europa in Aufruhr bringt.“ Einen Tag später kann man das dann
umsonst bei Focus Online nachlesen.
Lesen ist heute moderner und alltäglicher denn je. Wir machen es eben nur
auf anderen Plattformen. Online, mobil eher nebenbei und in Häppchen statt Hap-
pen. Wir lieben Listen, die uns die Welt erklären. Vielleicht nicht die Welt, aber
unsere. Die erste Welt. Lesen wird gleichzeitig immer individueller: ich lese Heri-
bert Prantl und nicht die Süddeutsche. Oder Stefan Niggemeier, der seine eigene
Marke geworden ist. Lese-Marken können über ihre Texter und Redakteure eige-
nes Profil gewinnen und ein Gesicht bekommen. Brands wie Spiegel, Bild oder
A. Frommer (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: alf.frommer@ressoucenmangel.de
eben auch Brigitte verlieren immer mehr an Gewicht. Online suchen Leser selbst
nach Inhalten und Texten von bestimmten Schreibern. Orientierung bieten dabei
immer weniger die Namen der Publikationen, denn Marken werden durch das
Internet immer gleichförmiger:
Neben den üblichen News teilen heute alle journalistischen Angebote Inhalte
wie „Habicht greift Drohne an“, „Frau läuft 10 Stunden durch New York und
wird über 100mal belästigt“ oder „Carolin Kebekus parodiert Atemlos von
Helene Fischer.“ Diese Inhalte teilen dazu noch etliche Blogs und natürlich meine
Facebook-Freunde oder die Menschen denen ich bei Twitter folge. Irgendwann
klickt man vor lauter Verzweiflung drauf, weil man denkt: muss ja was dran sein.
Doch der Leser klickt nur noch auf den Inhalt und verbindet ihn kaum noch mit
dem Angebot, das ihn gepostet hat: Habe ich mir bei Spiegel Online den Habicht-
Angriff angesehen? Oder bei bild.de? Oder war’s bei den Blogrebellen? Huf-
fington Post? Mashable? Krautreporter? Facebook? Twitter? Oder sonst wo? Die
Marken verschwimmen hinter den immer gleichen Inhalten, mit denen der Jour-
nalismus von heute versucht, Leser auf seine Webseiten zu locken.
Viele Marken verkaufen gerade ihre Seele an den Content: gut ist, was beliebt
ist und Klicks generiert. Gut ist weniger, was wirklich zur Marke passt. Muss
ich den Habicht-Angriff bei Spiegel Online wirklich auch noch zeigen? Ist die
Carolin Kebekus Parodie ein solch universell interessanter Inhalt, dass ihn völ-
lig unterschiedliche Publikationen wie horizont.net, meedia.de oder der Trierische
Volksfreund in ihren Online-Angeboten posten müssen? Natürlich gab und gibt es
immer ähnliche Inhalte, die in vielen Medien Platz finden. DPA-Meldungen zum
Beispiel. Aber DPA-Meldungen waren nie die DNA einer Zeitschrift. Der Finger-
abdruck eines Magazins entsteht in dem Moment, wenn ein Redakteur in seinem
eigenen Stil ein aktuelles oder vergessenes Thema im wahrsten Sinne des Wortes
beschreibt. Darum kauft man eine Zeitung oder ist bereit dafür online Geld aus-
zugeben. Nicht für die Carolin Kebekus Parodie nebst Besprechung, die ich bei
allen anderen auch angeboten bekomme, sondern durch Originalität.
Die sogenannte Krise des Journalismus, ist eigentlich eine Krise der Monetari-
sierung von Journalismus. Denn es gibt heute mehr gut ausgebildete Journalisten
und Plattformen für eben diese, auf denen sie sich austoben können, als früher.
Das heißt: das Angebot von gutem Journalismus ist weiterhin da und ist wahr-
scheinlich größer als früher. Nur finden die Verlage keine Antwort, wie sie dar-
auf reagieren sollen, dass ihnen im Print die Anzeigenkunden weglaufen – oder
wegen sinkender Auflagen weniger zahlen. Und sie suchen immer noch vergeb-
lich im Digital-Bereich nach einem Weg, wie man da eigentlich Geld macht.
Außer vielleicht der Axel-Springer-Verlag, der aber im Grunde immer weniger
Verlag und immer mehr Digital-Konzern wird. So kann man das auch machen.
Content essen Seele auf 217
Andere wie G+J setzen einfach klassisch den Rotstift an. Kosten reduzieren. Mit-
arbeiter entlassen. Fertig. Die Mittel der Vergangenheit, um die Zukunft zu gestal-
ten. Oder besser: die Zukunft zu verwalten.
Das man dabei aber gleich einem Klassiker wie der Brigitte das Herz raus-
reißt, hat eine neue Qualität. Ein Magazin ohne schreibende Redakteure ist wie
eine Autowerkstatt ohne Mechaniker oder eine Armee ohne Soldaten. Irgendwie
sinnlos. Ein Unternehmen, dies sind zunächst mal seine Mitarbeiter. Gerade bei
einem kreativen Business, wie dem Journalismus, bei der es auf die Ideen der
Redakteure ankommt. Die Themenfindung auch – ganz wichtig – das Verständ-
nis für seine Leser. Das wissen um deren Bedürfnisse. All das verliert man, wenn
man nur noch mit Freelancern arbeitet, die heute für die Apotheken Umschau
schreiben, morgen für Brand Eins und übermorgen für die Brigitte (leider sind
nur die wenigsten so gefragt). Das sind – nicht böse gemeint – bezahlte Dienst-
leister, die bestimmt keine schlechte Arbeit abliefern, aber eben nicht die Brigitte
oder der Stern sind. Sie schreiben letztlich für sich, nicht für die Marke, in deren
Auftrag sie texten.
Durch Zusammenlegung von Redaktionen spart man eben nicht nur Kosten,
sondern schrumpft auch seine eigene Wiedererkennbarkeit. Wenn aber alles eine
Soße ist, warum soll ich das noch am Kiosk kaufen oder im Internet dafür bezah-
len? Da werden Marken kaputt gespart und ein Image zerstört. Das ganze noch
mit zynischen Pressemitteilungen zu begleiten, die verkünden, dass ab jetzt durch
die Impulse von außen alles besser wird, ist eine weitere Katastrophe. Schließlich
sagt man den entlassenen Redakteuren auch noch, wie gut man auf sie verzichten
kann. Ich stelle mir gerade vor, wie bitter dies für sie sein muss.
Zum Schluss: ich bin kein Journalist, sondern ein Leser. Und für mich werden
täglich Inhalte ins Netz gestellt oder auf Papier gedruckt. Ich bin interessiert und
mag gute Geschichten und gut gemachten Journalismus. Natürlich habe ich die
gleichen Fehler wie alle Leser: online möchte ich gerne nichts bezahlen (obwohl
ich die Krautreporter mit einem Abo unterstütze) und Print lese ich immer weni-
ger oder nur noch spezieller. Magazine wie Geo Epoche, von der ich ein Abo
habe. Einfach weil ich darin Themen finde, die ich woanders nicht finde. Also
keinen Habicht der eine Drohne angreift oder eine Frau, die durch New York
läuft. Fragt doch mal uns Leser, was wir uns wünschen und nicht nur die Cont-
roller aus der Buchhaltung oder die klickgeilen Jungs und Mädels aus der Social
Media Abteilung. Vielleicht wäre das mal ein Anfang und nicht nur ein Ende. Wie
bei der Brigitte.
218 A. Frommer
Ronnie Grob
Für den Journalismus ist das Internet ein Eldorado der Möglichkeiten. Und doch
eine einzige Enttäuschung: Weil damit kaum Erlöse erzielt werden, findet der
große Teil des wertvollen Journalismus immer noch außerhalb statt. Geld verdie-
nen lässt sich vor allem mit schreierischen, journalismusfernen Inhalten.
Ich hätte nicht erwartet, dass es so weit kommt. Aber vielleicht muss ich eini-
gen Kritikern des Internets Recht geben. Denn die großen, mit der Explosion von
Möglichkeiten im Internet geschmiedeten Träume konnten bisher nicht erfüllt
werden. Viele der solche Visionen hegenden kreativen Geister leben stattdessen
fast prekärer als in Vor-Internet-Zeiten. Musiker gehen auf Marathon-Konzert-
tourneen, Künstler füllen Förderanträge aus und Journalisten wechseln zuhauf in
die PR und „kommunizieren“ fortan. Oder es funktioniert die Quersubventionie-
rung: Man ist bekannt für das eine, verdient das Geld aber mit etwas anderem.
Sascha Lobo hat das Internet im Januar 2014 als „kaputt“ bezeichnet, und damit
vor allem die dort praktizierten, aus Steuer- und Werbegeldern finanzierten Über-
wachungstätigkeiten gemeint. Das ist zwar eine etwas sehr vereinfachte Darstel-
lung, aber wenn das Wort enttäuschte Verheißungen eines Spiel- und Werkzeugs
benennt, dann ist sie nachvollziehbar.
Die wirtschaftlichen Nutznießer des Medienwandels im publizistischen
Bereich sind bisher einige wenige große Plattformen und ihre Investoren. Haben
diese oft keine eigenen Inhalte erstellenden Plattformen publizistische Ziele,
so unterscheiden sie sich von jenen des klassischen Journalismus. Was natür-
lich auch mit der durch den Medienwandel veränderten Struktur zu tun hat. Was
R. Grob (*)
Zürich, Schweiz
E-Mail: ronniegrob@gmail.com
immerhin teilweise funktioniert im Netz, ist das Geldsammeln. Direkt per IBAN
oder auf Crowdfunding-Portalen wie Kickstarter, Indiegogo oder Wemakeit.
Muss sich der ernsthafte Journalismus zukünftig um Spendengelder von Lesern
und Mäzenen bemühen?
Es wird offensichtlich: Hinter den Verheißungen des Medienwandels öffnen
sich Abgründe. Um den klickheischenden Titel einzulösen, liefern wir also acht
knackige Schlagzeilen, wie sie Internetfreunde lieben – und acht unangenehme
Wahrheiten dahinter, die sie gerne verdrängen. Es ist der Start einer Serie zum
Journalismus im Internet.
2. Grenzenlose Möglickkeiten!
– von denen nicht nur die Journalisten, sondern auch die Konsumenten überfor-
dert zu sein scheinen. Die inszeniert abgeschlossene Welt einer Tageszeitung oder
einer Tagesschau-Ausgabe ist zwar keine adäquate Abbildung der Wirklichkeit,
entspricht aber offenbar dem Bedürfnis vieler Menschen nach Überschaubarkeit.
3. Das Netz ermöglicht es uns, immer freier, immer schneller, immer schran-
kenloser zu kommunizieren!
Doch wir liefern unsere Daten freiwillig an Milliardenkonzerne aus, die uns über-
wachen und die nicht verhindern können, dass uns Regierungen überwachen.
Silke Fürst
Die viel diskutierte „Krise“ der Medien dreht sich längst nicht mehr nur um die
einbrechenden Erlöse des Journalismus. Immer häufiger wird die Qualität der
Medien infrage gestellt, auch fernab vom pauschalen Vorwurf der „Lügenpresse“.
Zugleich ist es allerdings das Verhalten der Nutzer, das mehr denn je den
Journalismus steuert. Zugespitzte Schlagzeilen und leichte Themen erregen viele
Klicks und spülen Geld in die Kasse. Das verändert den Journalismus. Aber ist
dies wirklich im Interesse der Nutzer?
„Putins Tochter und der Milliardär“ (spiegel.de), „Österreicher essen mehr
als Amerikaner“ (diepresse.com) und „Teenager verursacht tödlichen Unfall bei
Spritztour“ (faz.net) – das sind Schlagzeilen von derzeit meistgeklickten Bei-
trägen. In einer aktuellen Schweizer Studie sagt fast die Hälfte aller befragten
Journalisten, dass Klickzahlen die Auswahl und Darstellung von Themen stark
verändert haben (S. 19). Denn kaum ist die Story online, wandert der Blick schon
auf die Daten. Erregt sie das Interesse der Leser? Was früher nur durch kostspie-
lige und zeitaufwendige Publikumsforschung herausgefunden werden konnte, ist
für Journalisten seit einigen Jahren jederzeit verfügbar. Klickzahlen gelten als die
„Echtzeit-Quoten“ des Journalismus. Sie erlauben unmittelbare Anpassungen.
Sollte der Beitrag doch anders platziert werden? Braucht es eine andere Schlag-
zeile oder muss der Kern der Nachricht anders dargestellt werden? Ein weiterer
Blick auf die Daten zeigt dann, ob sich der erhoffte Effekt einstellt oder ob man
zukünftig vielleicht besser die Finger von dem Thema lässt. Auch auf unerwartete
S. Fürst (*)
Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung DCM,
Universität Freiburg, Fribourg, Schweiz
E-Mail: silke.fuerst@unifr.ch
Klick-Magneten kann reagiert werden: „Da setzen wir nach“ mit Updates und
weiteren Beiträgen zum Thema.
Mit diesen technologischen Entwicklungen müsste sich die Beziehung zwi-
schen Journalisten und ihrem Publikum eigentlich verbessern. Denn lange Zeit
haben Journalismuskritiker und Journalismusforscher beklagt, dass Redakteure
an ihren Lesern vorbeischreiben. Eigenbrötlerisch. Selbstzufrieden. An der Aner-
kennung und den Reaktionen der eigenen Kollegen orientiert. Von den Daten der
Publikumsforschung wollten manche Redakteure lieber nichts wissen oder hat-
ten keinen Zugang dazu. Bekannt waren vor allem die Verkaufs- und Abozahlen.
Doch warum sich eine Zeitung an einem Tag besser verkaufte als an einem ande-
ren, ließ sich nicht direkt feststellen. Ohne Publikumsforschung musste sich der
Journalist beim Schreiben vor allem auf seine Intuition verlassen. Und die sagte
ihm oft zu Unrecht: Der Leser ist an sensationellen Nachrichten und leichtem
Unterhaltungsstoff interessiert. Zumindest nahmen dies Ende der 60er Jahre die
Journalismusforscher Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher an. In ihrem
einflussreichen Buch „Der mißachtete Leser“ forderten sie deshalb mehr Mar-
keting ein. Jeder Journalist könne sich mithilfe von konkreten Nutzungsdaten
beantworten, ob er mit den eigenen Beiträgen wirklich jene Leser gewinnt, die er
erreichen wollte (S. 156).
Sind nun mit den stets präsenten Klickzahlen die Zeiten des missachteten
Lesers endlich vorbei? Dazu liegen inzwischen rund 40 Studien vor. Und diese
legen ganz andere Schlüsse nahe. Der Einzug von Klickzahlen in die Redakti-
onen folgt vor allem einer kommerziellen Logik. Aus dem Meer verfügbarer
Daten sind jene ausschlaggebend, die sich als Werbewährung durchgesetzt haben.
Dies sind noch immer die Zahl der Seitenaufrufe und die Anzahl der Nutzer. Es
ist jedoch weithin bekannt, dass Klicken nicht Lesen bedeutet. Oft schauen sich
Nutzer einen Beitrag nur wenige Sekunden an. Gerade die provokativen Schlag-
zeilen, sensationellen Nachrichten und prominenten Namen lassen viele Nutzer
zunächst neugierig werden. Und viele Online-Zeitungen bedienen das. Doch oft
verlassen Leser diese Seiten wieder genauso schnell wie sie sie gefunden haben.
Gut recherchierte Beiträge zu aktuell relevanten Themen werden dagegen etwas
weniger angeklickt, aber dafür tatsächlich gelesen. Hinweise darauf geben umfas-
sende Datenanalysen der derzeit erfolgreichsten Analysesoftware Chartbeat, über
die CEO Tony Haile berichtet.
Redaktionen verfügen auch über diese Daten. Zu Zeiten von Glotz und Lan-
genbucher war das noch ein unvorstellbarer Traum. Unmittelbar nachverfolgen
können, wie lange Nutzer auf einem Beitrag verweilen. Wie weit sie sich auf der
Seite nach unten bewegen und dem Verlauf des Artikels folgen. Für den journa-
listischen Alltag spielt das heute trotzdem kaum eine Rolle. Im Netz gilt das als
Die Klickzahlen-Falle … 225
besonders populär und erfolgreich, was viel geklickt und verbreitet wird. Journa-
listen stöbern in sozialen Netzwerken und Suchmaschinen nach trendigen The-
men und Schlagworten. Was richtig gut läuft, muss man selber auch verbraten.
Das spült Traffic auf die eigene Seite. Nicht bei allen Online-Zeitungen hat sich
dies gleich stark durchgesetzt.
Natürlich bringen Redaktionen auch die Themen, die sie für wichtig halten.
Professionelle Kriterien werden nicht über Nacht begraben. Aber sie verändern
sich schleichend, wenn es einen neuen Maßstab gibt, der als objektiv gilt und es
zugleich den Werbekunden recht macht. Welches Thema sollen wir bringen, was
ist wichtiger? Über Relevanz lässt sich trefflich streiten. Klickzahlen scheinen
dagegen eindeutig zu sein. „Na ja, man muss ja nur mal online schauen, dann
sieht man, ob das ein Thema ist“, sagt ein befragter Journalist in einer deutschen
Studie.
Das ist kein Einzelfall. Internationale Studien zeigen, dass in Redaktionskon-
ferenzen über Klickzahlen diskutiert wird. Sie sind ein gewichtiges Argument.
Und verglichen werden kann alles in wenigen Sekunden. Wie schlagen wir uns
im Verhältnis zur Konkurrenz? Welche Art von Themen treiben die Klickzahlen
nach oben? Wer sind unsere trafficstarken Autoren? In diesem Wettbewerb wer-
den Redakteure auch gepusht. Mehr Bezahlung für hohe Klickzahlen. Konkrete
Zielvorgaben, was reingeholt werden muss. Aufforderungen, die eigenen Beiträge
in sozialen Netzwerken zu promoten. Der Journalist als Marketing-Manager in
eigener Sache.
Das bleibt nicht ohne Wirkungen. Mehrmals täglich checken viele Journalis-
ten die neuesten Bewegungen auf der Webseite. Ganz oben blinkt die Anzahl der
Nutzer. Als „Top Pages“ werden die Beiträge aufgelistet, die am meisten ange-
klickt wurden. Damit stellt sich für Journalisten die Frage: Ist meine Geschichte
auch dabei? Wie kommen meine Beiträge an? Hohe Klickzahlen bringen Hoch-
stimmung an den Arbeitsplatz: „Yes, tschacka!“, die Geschichte läuft. Wer im
Vergleich mit den Kollegen schlecht abschneidet, ist betroffen, ja zum Teil depri-
miert.
Die Zugriffe auf einzelne Beiträge sind oft niedriger als man früher dachte.
Darunter leiden auf Dauer das Selbstwertgefühl und die Zufriedenheit mit der
eigenen Arbeit. Chartbeat weiß das natürlich, bekommt Rückmeldung aus den
Redaktionen, dass die Zahlen oft gar nicht für gute Stimmung sorgen (S. 16).
Deshalb versucht die Softwarefirma positive Elemente einzubauen. Ein „broken
dial“ springt dem Journalisten entgegen, wenn er mit einem Beitrag einen neuen
Klick-Rekord erzielt. Warum zerspringt das Messgerät? Journalisten sollen nicht
wissen, wie hoch ihr Rekord genau ist, denn vielleicht sind die Zahlen nur mini-
mal höher. Anstatt ernüchternder Genauigkeit wieder zurück in die Zeit, als man
226 S. Fürst
sich sein Publikum noch vorstellen durfte. Doch Funktionen wie das „broken
dial“ erhöhen wohl allenfalls den Sarkasmus darüber, dass Boulevardthemen am
ehesten zum neuen Rekord taugen. Etwa eine Geschichte zu David Beckhams
Unterwäsche (S. 16), wenn es sonst nicht gut läuft. Nachrichtenseiten, die ihre
Seriosität nicht aufs Spiel setzen mögen, wollen solche boulevardesken Geschich-
ten zumindest nicht zum Aufhänger des Tages machen. Aber manchmal können
selbst traditionelle Medienmarken wie CNN der Versuchung nicht widerstehen.
Es geht also mehr denn je darum, den Nutzer zu verstehen. Was lädt ihn wirk-
lich zum Lesen ein? Wozu braucht er die Zeitung und den Journalismus? Leser
sollten sich nicht durch Beiträge klicken, um sich zu fragen: „Was sind das denn
für Nachrichten? Ist das wirklich das wichtigste Geschehen des Tages?“ (S. 764)
Die Missachtung des Lesers beginnt heute damit, dass Online-Zeitungen nicht
eine Kernleserschaft erreichen und binden wollen, sondern nach allen Nutzern
fischen, die im Netz nach irgendetwas suchen. Wer Klickzahlen mit dem gleich-
setzt, was das Publikum will, hat die Maßstäbe der Werbekunden zu seinen eige-
nen gemacht und vergessen, dass Journalismus in den Augen der Nutzer von
vielfältigen Themen und Stimmen und einer glaubwürdigen Berichterstattung
lebt. Auch im Netz wollen Leser wissen, was die wichtigsten Themen des Tages
sind, was den gesellschaftlichen Diskurs entfacht.
Die neuen technologischen Möglichkeiten sind also nicht Selbstzweck. Es
kommt darauf an, wie sie gebraucht werden. Sie können Hinweise dazu liefern,
welche Themen und Geschichten die Nutzer zum Lesen einladen und sie wieder-
kommen lassen. Am Ende des Tages muss der Journalist sich zudem ein eigenes
Urteil leisten können. Und zwar: Unabhängig von einem Blick auf die aktuellen
Daten mit der journalistischen Qualität seiner Arbeit zufrieden zu sein.
Dieser Artikel basiert auf einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, die die
internationale Forschung zum Thema systematisiert und kritisch diskutiert: Fürst,
Silke (2017): Popularität statt Relevanz? Die journalistische Orientierung an
Online-Nutzungsdaten. In: Mämecke, Thorben/Passoth, Jan-Hendrik/Wehner,
Josef (Hrsg.): Bedeutende Daten. Modelle, Verfahren und Praxis der Vermessung
und Verdatung im Netz. Wiesbaden: Springer VS Verlag.
URL: http://de.ejo-online.eu/digitales/die-klickzahlen-falle vom 12. November
2015.
Abgrund des Journalismus:
Wie funktioniert die wichtigste
Informationsquelle der Digital Natives?
Hannah Schraven
H. Schraven (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: schraveh@gmail.com
Vice wirkt auf unsere Generation genauso anziehend, wie die Drogen, über
die regelmäßig berichtet wird. Was 1994 als kleines, popkulturelles Stadtmagazin
von Shuroos Alvi und seinem Freund dem Illustrator Gavin McInnes gegründet
wurde, ist zu einem wahren Multimedia-Riesen herangewachsen.
Es erscheint mittlerweile mit einer weltweiten Auflage von 1,2 Mio. in siebzehn
verschiedenen Sprachen. Ein eigenes Record Label, Film-und Buchproduktio-
nen, sowie mehrere Websites sind nur einige der vielen Auswüchse der letzten
Jahre. Einst diente Voice of Montreal, so der ursprüngliche Name der Zeitung,
als Sprachrohr cooler Szene-Kids, deren Interesse hauptsächlich dem Punkrock
und den Drogen galt. Provokation und ein Hang zur Rüpelhaftigkeit wohnten ihr
schon damals inne. Seit das Magazin 1999 seine Wurzeln in New York schlug
und sich in Vice, deutsch Laster, umbenannte, hat sowohl die Anhängerschaft, als
auch das Content stetig zugenommen.
Dass der Hype nun scheinbar auch in meinen trauten Freundeskreis
geschwappt ist, hat mich nachdenklich werden lassen. Ich war davor fest davon
überzeugt gewesen, eine solche Form der Nachrichtenübermittelung könnte nie-
mals die gute alte Tageszeitung von unserem Küchentisch verdrängen. Mit beson-
derer Seriosität zumindest, kann das Magazin nicht glänzen. Der Suchtfaktor
scheint dafür umso größer zu sein. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Vice-
Youtube-Channel mittlerweile über drei Millionen Abonnenten mit den neusten
Geschichten aus den gefährlichsten Regionen der Welt oder aber aus dem Alltag
füttert.
Kochshows, Drogenexperimente und Clips von der neusten Fashion Week
sind inbegriffen. Tatsächlich lässt sich die immense Verbreitung und Produktion
von Online-Video Content, die die Vice-Macher seit einigen Jahren betreiben, als
wohl signifikantester Einschnitt innerhalb der Historie des Magazins bezeichnen.
Wer sich vor ein paar Monaten noch amüsierte, wenn Vice für das neue CNN
gehalten wurde, dem ist das Lachen inzwischen vergangen. 2003 begann die
europaweite Expansion, seit 2005 liegt die gedruckte Ausgabe auch in Deutsch-
land kostenlos in den Läden. Von den Kooperationen mit dem ZDF und Spiegel
TV will ich gar nicht anfangen zu reden.
Abgrund des Journalismus … 229
Ihrem Konzept und ihrer Zielgruppe sind die Vice-Macher von Beginn an treu
geblieben. Fragt man Geschäftsführer Shane Smith, was eine gute Story bieten
muss, lautet die Antwort: Einfachheit, einen Aufhänger und einen Schlag ins
Gesicht. Umso härter der ausfällt, umso besser. Seit 2011 hat es sich der Fern-
sehsender HBO zur Aufgabe gemacht, eine Vice-Nachrichtenserie in sämtlichen
US- Haushalten zu verbreiten. „Geschichten vom Rande des Abgrundes“ möch-
ten die Macher liefern und schicken ihre Reporter dafür in die Slums nach Rio, zu
Hinrichtungen oder zur Jagd auf mutierte Schweine auf dem ehemaligen Tscher-
nobyl-Gelände.
Wer die krasseste Story und die dramatischsten Bilder mit nach Hause bringt,
gewinnt. Da spielt es auch keine Rolle, ob abgehackte Gliedmaßen auf Fotos auf-
tauchen oder jemand um sein Leben bangen muss. Ich sehe die Vice-Nachrich-
ten auch in unserer Wohnung schon bald auf dem Fernsehbildschirm flimmern.
Adios, liebe Tagesschau. Du wirst mir fehlen.
Für Smith steht diese Form der Informationsverbreitung in der Tradition des
in den 70ern propagierten Gonzo-Journalismus. Jegliche Neutralität weicht einer
subjektiven, gerne auch emotionalisierten Narration, die sich dadurch auszeich-
net, den Erzählenden in direkte Beziehung mit den Geschehnissen zu setzen. Wir
erfahren, wie sehr Smith nach Gesprächen mit auszubildenden Attentätern im
Kindesalter erschüttert ist und was passiert, wenn man einen Reporter auf LSD
zur Fashion Week schickt. Der Gonzo-Journalismus wurde übrigens schon 1970
nicht unter den Oberbegriff des Journalismus, sondern der Literatur gefasst.
Vice wirkt auf unsere Generation wie die süchtig machende Informationspille,
auf die wir jahrelang gewartet haben. Folgt man den Angaben des Magazins, setzt
sich die Leserschaft überwiegend aus 20–40 Jährigen zusammen. Was ist es, das
Vice so anziehend für uns als junge Leser macht und uns die Geschichten so mit-
fiebern lassen, als wären wir selbst dabei?
Es sind vor allem drei entscheidende Gründe, die die enorme Beliebtheit des
Magazins ausmachen. Klickt man sich durch das Videomaterial der Webseite, tau-
chen immer wieder diesselben Bilder auf. Junge, zumeist nicht unattraktive Typen
werden in den Kongo oder auf die Philippinen geschickt, um eine gute Geschichte
zusammen zu zimmern. Ihre Füße zieren die neusten Air Max, sie sehen aus, als
hätten sie einen ähnlichen Musikgeschmack wie wir und als würden sie den ein
230 H. Schraven
oder anderen Klub von Innen kennen. Kurzum: Man kann sich gut vorstellen, die-
sen Personen im eigenen sozialen Umfeld zu begegnen. Es könnten auch unsere
Freunde sein. Und mit denen kann man sich leichter identifizieren, als mit dem
anzugstragenden Nachrichtensprecher.
Dazu kommt, das Vice sich auch sprachlich an dem orientiert, was wir aus
unserer Umgebung gewohnt sind. Es ist dasselbe Prinzip, das dieses Jahr auch
den Film „Fack ju Göhte“ zu einem absoluten Kassenschlager hat werden lassen.
Zeitgemäßer und gegenwärtiger kann Sprache in unserer Generation wohl nicht
sein. Und das erzeugt Vertrauen.
Man kann den Machern von Vice vieles absprechen. Jedoch nicht ihre Cle-
verness und ihr Gespür im Umgang mit Medien. Das Magazin versteht es besser
als jedes andere, sich uns, den „Digital Natives“, anzupassen und mit der Omni-
präsenz der Bilder innerhalb der Gesellschaft umzugehen. Und zwar nicht durch
Unterwerfung, sondern durch Einverleibung dieser. Wir, die mit Internet, Fernse-
her und Computern aufgewachsen sind, betrachten die ständige Anwesenheit der
Medien inzwischen als ebenso natürlich, wie die unserer engsten Freunde. Was
unseren Eltern noch immer gewöhnungsbedürftig erscheint, ist für uns längst zur
Selbstverständlichkeit geworden. Deshalb setzen wir uns, um auf dem Laufenden
zu bleiben, nicht mehr mit der Tageszeitung, sondern mit unserem Smartphone
ins Café.
Vice hat sich dieses Konzept zunutze gemacht, indem es sämtliche multimediale
Kanäle belagert. Der Online-Content hat die gedruckte Ausgabe des Magazins
längst abgelöst und es fällt schwer, beim Surfen nicht in dem weiten, aus Youtube
Videos, Fernsehserien und Fotostrecken gestrickten Netz hängen zu bleiben. In
einer mehr und mehr visuell orientierten Gesellschaft, liegt es nahe, dass sich die
Leserschaft gerne durch optische Reize verführen lässt.
Der dritte Grund für den Hype um ein Medium, das uns tagtäglich mit ebenso
verstörenden, wie auch banalen Schlagzeilen versorgt, liegt wohl in den Tiefen
unserer Gesellschaft verborgen und ist gleichermaßen bezeichnend, wie auch
kritikwürdig. Schon 1967 sprach Guy Debord von einer „Gesellschaft des Spek-
takels“, in der nur noch die größte Dramatik so etwas wie Aufmerksamkeit und
Anteilnahme im Menschen regen kann, während alles andere spurlos in der Ver-
gessenheit zu versickern scheint. Wahrscheinlich liegt Debord jetzt spöttisch
lachend in seinem Grab, denn im Hinblick auf den bahnbrechenden Erfolg von
Vice scheint seine Vorhersage eingetroffen zu sein.
Abgrund des Journalismus … 231
Wie sonst ließe sich erklären, dass Bilder und Videos, die jegliche Distanz
zu dem abgebildeten Geschehen verloren haben, so viel mehr Interesse in uns
wecken, als neutrale Berichterstattungen aus den Krisengebieten? Vice hat es sich
nicht zur Aufgabe gemacht, unseren Durst nach Informationen zu stillen, sondern
die in uns allen schlummernde Sensationslust in höchstem Maße zu befriedigen.
Von seinen Anhängern wird Vice schon als der Anfang einer journalistischen
Revolution gesehen, bei der Informationsprogramme wie BBC oder CNN die
Krone an die neuen, auf die Medienwelt perfekt zugeschnittenen Nachfolger
abgeben müssen. Die Frage, die ich mir nun jedoch stelle: Lässt sich eine solche
Form der Berichterstattung, die primär darauf ausgerichtet ist, uns mit dramati-
schen Effekten bei Laune zu halten, überhaupt noch unter den Begriff des Jour-
nalismus fassen? Zwar mag Vice die Storys aus ihrem abstrakten Kontext reißen
und verleiht ihnen somit eine besondere Art von Authentizität.
Die amateurhaften Videomitschnitte erwecken den Eindruck, als befänden
wir uns mitten im Geschehen. Anderseits jedoch, wirken sie wie Schnappschüsse
aus einem Abenteuerurlaub und verlieren somit jegliche Ernsthaftigkeit. Betrach-
tet man den lockeren Umgang der Vice-Macher mit den Materialien, scheint der
Unterhaltungswert der Bilder über den Informationsgehalt gesiegt zu haben. Und
wenn Kriegsvideos im Internet als gelungene Alternative zum neusten Actionfilm
im Fernsehen aufgefasst werden und noch dazu maßgeblich zu dem Coolness-
faktor eines Magazins beitragen, bekommt die ganze Sache einen bitteren Beige-
schmack.
Äußert man diese Kritik, muss man sich jedoch gleichzeitig fragen, was es über
unsere Generation aussagt, dass uns die gewöhnlichen Berichterstattungen aus
Zeitung und Fernsehen mittlerweile zu Tode langweilen, während Vice spannen-
der als jeder Krimi erscheint. Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass die angekün-
digte Herrschaft durch Medien wie Vice ausbleiben wird. Momentan scheint es,
als würden die deutschen Leser dem Konzept mit weitaus mehr Skepsis gegen-
überstehen, als das Publikum in den USA.
Zwar wird Vice auch hier von einem Großteil junger Menschen regelmäßig gele-
sen, jedoch lässt die laut gewordene Kritik aus verschiedensten Ecken vermuten,
232 H. Schraven
dass es Shane Smith und seiner Gefolgschaft nicht gelungen ist, das Bedürfnis nach
seriösem Journalismus in der Gesellschaft zu befriedigen. So dienen die Geschich-
ten der jungen Reporter am Ende doch nur unserer Unterhaltung. Sie mögen viel-
leicht die Gespräche abends in der Bar oder auf der Party bereichern, danach jedoch
verebben sie lautlos. Dass die Ernsthaftigkeit der Thematiken dabei im Geschrei
untergeht, ist eine Tatsache, die alles andere als zufriedenstellend ist. Im Angesicht
der angekündigten Weltrevolution jedoch, scheint sie das kleinere Übel zu sein.
URL: http://berlinergazette.de/vice-journalismus-abgrund/ vom 4. Februar 2014.
Warum ich als Journalist nur noch die
Monster füttere
Martin Giesler
Too long, didn’t read: Weder der User (Web 2.0 Hurra!), noch der Journalist ent-
scheiden darüber, welche Informationen den Leser erreichen sollten – das machen
die Milliarden-Dollar-Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley via Algorithmen.
Und wir Journalisten tun momentan alles dafür, uns in diese perverse Abhängig-
keit zu stürzen.
Dieser internetzentristische Dauer-Konkurrenzkampf geht mir zunehmend
auf den Saque. Das Problem: Egal wie sehr man sich anstrengt, am Ende gewin-
nen immer Facebook, Twitter und Google. Ich arbeite beruflich als Redakteur
beim ZDF in der Redaktion von heute.de. Dort kümmere ich mich um den steten
Infostrom von Reportern, Agenturen und Social Media, sowie deren Aufbereitung
und Verbreitung auf der Website, sowie in den sozialen Netzwerken.
Das ist mein Job. Wenn wir das Jahr 2005 schrieben, wäre hiermit meine
Tätigkeit ausreichend beschrieben. Wir befinden uns aber im Jahr 2014 und mit-
ten in einer Zeit, die InternetSocial-Media-Jünger als Informations-Revolution
beschreiben. Und das hat Konsequenzen.
Parallel zu meinem Job beim ZDF bin ich als Journalist-Privatperson-Hybrid auf
Twitter unterwegs. Dort schreibe ich unter @martingiesler vornehmlich Tweets rund
um die Zukunft des Journalismus/Medien. Darüber mache ich mir freiwillig und im
M. Giesler (*)
Göttingen, Deutschland
E-Mail: mail@martingiesler.de
Charakter eines Zweitjobs Gedanken. Über 5500 Follower und 1000 E-Mail-Abon-
nenten goutieren das.
Darüber hinaus betreibe ich mit Freunden aus Berlin zusammen dieses Blog
hier zu News, Musik, Medien und Webkultur. Die Blogrebellen sind ein durchaus
weitreichenstarkes und gut organisiertes Kollektiv, das mir die Möglichkeit bietet,
all die Learnings zur Zukunft des Journalismus/Medien schnell auszuprobieren.
Ferner bin ich Herausgeber des Social Media Watchblogs, das ich im Jahr
2013 kurz vor den Snowden-Enthüllungen mit meinem Schweizer Journalisten-
Kollegen @KonradWeber gegründet hatte, um Social Media kritisch zu beobach-
ten und der oftmals viel zu wohlwollenden Berichterstattung der Techblogs etwas
entgegenzusetzen. Mittlerweile ist das Watchblog zu einer Mehrautoren-Plattform
gereift.
Zusammengefasst arbeite ich also durchschnittlich 8.5 h pro Tag für das ZDF
und davor und danach noch einmal gute 4–5 h an den anderen Projekten. Macht
also insgesamt rund 13 h pro Tag – wir nennen es Arbeit. Aber eigentlich füttern
wir die ganze Zeit nur die Monster.
Warum tue ich mir diesen Stress an? Warum lasse ich es nicht einfach bei dem
8.5-Stunden-Tag bewenden und all die anderen Projekte gut sein? Was macht für
mich diese Faszination aus? Was ist meine Motivation dahinter? Warum komme
ich gerade jetzt zu dem Punkt, mir darüber Gedanken zu machen? Was bringt es
mir? Warum störe ich mich jetzt auf einmal daran?
Wer sich einmal mit der Zukunft der Medien und des Journalismus beschäf-
tigt hat, kommt zu dem Schluss, dass einerseits mittels der neuen Kommunika-
tions-Werkzeuge jeder zu jeder Zeit ein Millionenpublikum erreichen kann und
andererseits dadurch aber auch jeder mit jedem zu jeder Zeit in Konkurrenz
zueinander steht.
Theoretisch könnte also jeder, der sich gerade einen Twitter-Account zulegt,
mit einer absolut großartigen Geschichte die Aufmerksamkeit der Welt auf sich
ziehen. Praktisch ist es dann doch eher so, dass auch in den sozialen Netzwerken
Filterbubbles entstehen, die durch neue Formen von Gatekeepern verwaltet wer-
den.
Warum ich als Journalist nur noch die Monster füttere 235
Wenn wir uns also vor Augen führen, dass Journalismus den Leser künftig vor
allem über soziale Netzwerke erreichen wird, dann kommen wir unweigerlich zu
dem Schluss, dass Journalisten sich den Spielregeln der Platzhirschen Facebook,
Twitter und Google unterwerfen: Reichweite aufbauen, Social-Media-Optimiert
texten, exklusive und originäre Inhalte auf ihren Plattformen stattfinden lassen.
Zudem werden einem als Journalist heute Kontrollmöglichkeiten an die Hand
gegeben, um zu überprüfen, welche Inhalte und welche Journalisten wie gut
performen. 8 Likes für einen Artikel? Lachhaft. 4 Retweets? Fahr nach Hause!
Was gut performt, entscheiden die Giganten aus dem Valley mit ihren Algorith-
men. Alles wird auf maximale Verwertbarkeit getrimmt. Schwarz und Weiß. Die
Debatten, die ich erlebe, kennen nur wenige Farben.
Ich werde als Journalist also zermürbt zwischen der ständigen Selbstkontrolle
via Statistik-Tools, dem internationalen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeiten
und der niemals endenden Informationsflut. Und wehe es wird ein Nano-Informa-
tionsbröckchen nicht berücksichtigt oder drüber berichtet. Journalismus passiert
heutzutage viel zu selten, um wirklich Informationen zu transportieren als viel-
mehr um im steten Strom an Informationsgier oben zu schwimmen – wer nicht
den Facebook-Algorithmus bezwingt, findet nicht statt.
Antje Schrupp
Es ist schon ein paar Wochen her, dass Martin Giesler einen eher pessimistischen
Internetartikel schrieb. Mich hat frappiert, wie unterschiedlich er und ich das
Internet und speziell das Bloggen erleben, und ich überlegte mir, woher das kom-
men könnte. Ich glaube, der Unterschied ist, dass er das Thema aus einer journa-
listischen Perspektive betrachtet, ich hingegen nicht. Vielleicht sind Internet und
Journalismus ja tatsächlich unvereinbar.
Diese drei Punkte finde ich dabei besonders wichtig. (Ich beziehe mich stell-
vertretend auf Zitate aus Gieslers Blogpost, aber ähnliche Argumente finden sich
ziemlich oft in der Debatte.).
„Zusammengefasst arbeite ich also durchschnittlich 8.5 h pro Tag für das ZDF
und davor und danach noch einmal gute 4–5 h an den anderen Projekten. Macht
also insgesamt rund 13 h pro Tag – wir nennen es Arbeit.“
Dass dies eine Sichtweise ist, die nur Journalisten (oder vielleicht sonst noch
Irgendwas-mit-Medien-und_oder-Uni-Leute) haben können, ist offensichtlich:
Wenn eine Bäckerin neben ihrem Job bloggt, käme sie nie auf die Idee, das Arbeit
zu nennen. Wir nennen es nicht Arbeit, wir nennen es Engagement, Hobby, Akti-
vismus, Liebhaberei. Eine Tierärztin hätte nie den Anspruch, dass sie mit ihrem
A. Schrupp (*)
Frankfurt, Deutschland
E-Mail: post@antjeschrupp.de
privaten Blog Geld verdienen muss, ein Richter nicht den Anspruch, dass er wäh-
rend der Arbeitszeit seine Social Media Kontakte pflegen kann. Warum haben
Journalisten diesen Anspruch?
Gerade dieses Missverständnis hat übrigens gar nichts mit dem Internet zu
tun. Journalisten konnten schon immer ihre politischen Ansichten in ihrer Arbeit
umsetzen, bei ihnen vermischte sich Arbeit und Teilnahme am politischen Dis-
kurs. Früher mussten sie am Gatekeeper Redaktionsleitung vorbei, heute am
Gatekeeper Algorithmus. Normalsterbliche mussten schon immer sehen, wo sie
blieben, wenn sie ihre Flugblätter verteilten, Diskussionsveranstaltungen abhiel-
ten, Projekte gründeten und so weiter.
Für Menschen, die nicht im Journalismus arbeiten, ist das Internet also eine
Erleichterung, für Journalist_innen eher nicht.
„Theoretisch könnte also jeder, der sich gerade einen Twitter-Account zulegt, mit
einer absolut großartigen Geschichte die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zie-
hen. Praktisch ist es dann doch eher so, dass auch in den sozialen Netzwerken Fil-
terbubbles entstehen, die durch neue Formen von Gatekeepern verwaltet werden.“
Internetdiskurse finden immer in Filterbubbles statt, soviel ist klar. Und auch
eine Binse. Denn: Offene Räume, in denen alles gesagt werden kann, gibt es
nicht. Jeder Blog, jedes Medium, jedes Profil interagiert immer nur mit einem
bestimmten Ausschnitt von mehr oder weniger Gleichgesinnten.
Nur: Journalist_innen und andere Menschen nähern sich dieser Filterbubble
von unterschiedlichen Seiten her an. Der Journalist konnte auch schon vor dem
Internet seine Nachrichten und Ansichten unter die Leute bringen, und sich bei
den klassischen Newsmedien sogar tendenziell „an alle Leute“ richten. Andere
Menschen hingegen hatten vor dem Internet keine Publikationsmöglichkeit
und daher lediglich Zugang zu einer winzig kleinen Filterbubble, nämlich ihren
Bekannten, Kolleginnen, politisch Ähnlichdenkenden, Nachbarn. Selbst diejeni-
gen, die vor dem Internet schon publizierten, erreichten mit ihren Büchern oder
Artikeln in Fachzeitschriften nur einen relativ kleinen Kreis, nämlich diejenigen,
die an ihren Inhalten zumindest so sehr interessiert waren, dass sie dazu ein Buch
kaufen oder sich auf den Weg zu einer Veranstaltung machten. Diese Hemm-
schwelle ist mit dem Internet deutlich gesunken, es passiert sogar – der Google-
Suchfunktion sei Dank – gar nicht so selten, dass Menschen ganz zufällig über
ihre Seiten stolpern.
Drei Gründe, warum das Internet für Journalisten … 241
Von daher: Ja, im Internet kommunizieren wir alle innerhalb einer Filter-
bubble, nur dass diese für Journalist_innen tendenziell kleiner, für alle anderen
aber deutlich größer geworden ist.
Lorenz Lorenz-Meyer
Das Wort „Kampagne“ hat einen negativen Beigeschmack. Nicht so sehr in der
Werbung oder PR – dort zeigen wir Verständnis dafür, dass Kommunikationsziele
in größeren, orchestrierten Projekten über längere Zeiträume verfolgt werden, das
gehört dort zum Geschäft. Aber im Journalismus gelten Kampagnen als anrüchig.
Redaktionen oder einzelne Journalisten, die Positionen beziehen und diese dann
auch noch hartnäckig verfolgen, riskieren, auf diese Positionen reduziert zu wer-
den und insgesamt an Reputation und Glaubwürdigkeit einzubüßen.
Ich habe bereits an anderer Stelle über die Frage nachgedacht, was eigentlich
problematisch ist an einem engagierten, parteilichen Journalismus, und bin zu
dem Schluss gekommen, dass das eigentlich bedrohte und schützenswerte Gut
im Journalismus nicht die Unparteilichkeit ist, sondern die Unabhängigkeit des
Urteils. Hier möchte ich nun dafür argumentieren, dass es Themenfelder gibt, in
denen journalistische Kampagnen nicht nur akzeptabel, sondern sogar notwendig
sind.
Die empirische Nachrichtenwertforschung hat über die letzten ca. 100 Jahre
Befunde darüber erhoben, welche Ereignisse es schaffen, in journalistische
Medien zu gelangen. Auch wenn das immer wieder missverstanden wird: Diese
L. Lorenz-Meyer (*)
Hochschule Darmstadt, Mediencampus, Dieburg, Deutschland
E-Mail: lorenz.lorenz-meyer@h-da.de
Befunde sind nicht normativ angelegt. Das heißt: Sie geben nicht wieder, wie
Journalisten Nachrichten auswählen sollten, sondern wie sie es de facto tun. In
den ermittelten Nachrichtenfaktoren (Relevanz, Aktualität, Prominenz, Betrof-
fenheit, Nähe,…) spiegelt sich einerseits wider, wie Redaktionen ihren journalis-
tischen Auftrag verstehen, und andererseits, was sie von ihren Lesern, Nutzern,
Zuschauern oder Zuhörern und deren Nutzungspräferenzen wissen.
Es überrascht also nicht, dass die Nachrichtenfaktoren kein wirklich konsis-
tentes System ergeben. Denn nicht immer lassen sich journalistischer Auftrag
und Publikumsnachfrage zur Deckung bringen. Dies ist besonders dann nicht
der Fall, wenn Ereignisse, die als gesellschaftlich bedeutsam (Nachrichtenfaktor:
Relevanz) eingeschätzt werden, komplex, strukturell und in ihren Konsequen-
zen langfristig und vermittelt sind. Ereignisse wie der Klimawandel, die Ver-
selbstständigung der Finanzmärkte, der Niedergang der Mittelschichten oder die
Erosion der Bürgerrechte in den westlichen Gesellschaften lassen sich schlecht
bebildern oder personalisieren, sie sind nicht tagesaktuell, weisen oft wenig spür-
bare Nähe zu den Konsumenten auf.
sein Publikum über längere Strecken zu binden, mitzunehmen und auf Weiter-
gehendes vorzubereiten – zu ,primen‘, wie der medienpsychologische Jargon es
nennt. Mit Geduld und Zielstrebigkeit ist es so möglich, Themen aufzubauen und
im Bewusstsein der Rezipienten zu verankern.
Natürlich wird dies in den Redaktionen auch immer wieder versucht. Wann
immer eine neue Studie über abschmelzende Eiskappen erscheint oder die Regie-
rungschefs sich zu einem weiteren Klimagipfel treffen, zieht man wieder den
einsamen Eisbär aus der Bilderschublade, permutiert erneut die einschlägigen
Schlagworte. Und immer wieder versucht man auch, einen neuen, noch nicht
erschöpften Dreh zu finden: diesmal eine Geschichte über eine Inuit-Familie statt
der zuvor erzählten Geschichte über die arktische Tierwelt. Und so lange Edward
Snowden in Moskau im Exil ist, hat auch der Kampf gegen staatliche Beschnüf-
felung ein sympathisches Gesicht – auch wenn es nicht unser Gesicht ist, und wir
das Thema so weiterhin bequem vor uns her schieben können.
So bleiben all diese journalistischen Bemühungen um Relevanzvermittlung
leider meist ad hoc und kurzatmig, es gibt keinen Zusammenhang, keine Dra-
maturgie, keinen Plan, die Brücke zur Erlebniswelt des Publikums wird nicht
geschlagen. Bei den Rezipienten entsteht unterm Strich der Eindruck des Still-
stands und der Redundanz – ein Eindruck, der allein den Impuls erzeugt, bei die-
sem und beim nächsten Mal abzuschalten, auszusteigen, weiterzuklicken.
Hier kommt der Begriff der Kampagne ins Spiel. Kampagnen sind langfris-
tige, orchestrierte Maßnahmen, die ein anspruchsvolles Kommunikationsziel
verfolgen. Und genau daran fehlt es: Wie die Werbung oder die PR, muss
der Journalismus es lernen, stärkere Botschaften zu entwickeln (und seien es
zunächst einmal Relevanzbotschaften) und diese im Sinne von Kampagnen
nachdrücklich und nachhaltig zu kommunizieren. Das Publikum wird sich dem
nicht widersetzen, wenn die Botschaften argumentativ glaubhaft aufgebaut und
spannend vermittelt werden, im Gegenteil: Es will gefesselt werden. (Wie so
etwas funktionieren kann, kann man gerade am immensen Erfolg der US-ame-
rikanischen True Crime-Podcastserie „Serial“ beobachten, in der dem Publikum
neben einem 15 Jahre alten Kriminalfall zugleich ein Einblick in die Stärken und
Schwächen der US-amerikanischen Kriminaljustiz vermittelt wird.).
246 L. Lorenz-Meyer
Christoph Kappes
Es ist interessant, dem Journalismus in einer Debatte um sich selbst dabei zuzu-
sehen, wie er Erwartungen an sich selbst stellt: unabhängiger, hintergründiger,
langsamer, distanzierter, meinungslastiger soll er beispielsweise sein – in man-
chen Punkten auch das Gegenteil. Das Thesenpapier der OTTO-Brenner-Stif-
tung wirkt aus meiner Perspektive wie ein Musterbeispiel: in Schritt eins wird
über die Staatsform der Demokratie die Notwendigkeit und Unabhängigkeit von
Journalismus betont und in Schritt zwei die Bedrohung durch trojanische Infor-
mationsangebote beklagt, die „Animationscharakter“ haben, um der „Aufmerk-
samkeitsökonomie“ zu dienen. Das sind keine erregenden Neuigkeiten, und wenn
sie dann noch im Duktus der Frankfurter Schule vorgetragen werden (Stichwort:
Nachrichten als Ware), wirkt das ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Noch interessanter ist aber, wie eine Journalismus-Debatte verläuft. Denn sie hat
viele Stimmen, sie ist unübersichtlich, findet kein Ende, gereiztes „Hört doch
bitte auf!“ oder amüsiertes „Meta Meta!“ ist zu hören. Es ist auf den ersten Blick
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
erstaunlich, dass das Wissen über den Zustand des Journalismus und seine Zukunft
nicht mit jedem Text über dieses Thema zunimmt, wie man hoffen könnte. Das
Wissen nimmt mit jedem Text ab, weil jeder Text eine neue Interpretation hin-
zufügt und alte Interpretationen infrage stellt. Es gibt fast kein empirisches Vor-
gehen, Meinungen türmen sich auf Meinungen, gefolgt von Befragungen über
Meinungen, denen man Meinungen hinzufügt; das Lagebild ist widersprüchlich,
brüchig, lückenhaft. Weniger als eine Woche nach einem klaren Votum des briti-
schen Souveräns ist jedenfalls nicht mehr klar, ob es dazu kommt. Rudolf Augstein
sagte „Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind,
wächst“. Leider ist es schlimmer, denn das Problem ist nicht nur quantitativ, son-
dern qualitativ: Wissen im Sinne einer Information, die vielleicht nicht wahr, aber
doch gesichert ist, nimmt bei Debatten nämlich ab.
Diese Beobachtung ist der Schlüssel, um die Probleme des Journalismus zu
verstehen. Denn was für Texte über den Journalismus gilt, gilt für jeden journa-
listischen Text über jeden anderen Gegenstand. Zwar gibt es noch eine Ebene
verlässlicher Fakten, etwa ein Abstimmungsergebnis, ein erlassenes Gesetz,
eine Zahl im Bundeshaushalt. Auf der Ebene der Bewertungen und der Einord-
nungen aber ist der Journalismus in den Fängen der steigenden Komplexität sei-
nes Berichtsgegenstandes. Das ist auch ganz subjektiv meine Erfahrung auf den
Gebieten Digitalisierung und Netzpolitik, wo ich die steigende Komplexität nach-
weisen könnte – auch ich als Experte bin in einigen Teilbereichen überfordert und
nicht sofort sprechfähig. Komplexität im engeren Sinne und nicht als „Kompli-
ziertheit“ heißt ja, dass es keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
mehr gibt. Die Konsequenz: Man lernt mit jedem gelesenen Text, dass alles auch
ganz anders sein könnte. Ein Gefühl, gesichertes Wissen erworben zu haben,
stellt sich nicht ein; vielmehr fühlt man sich unbefriedigt wie ein Junkie. Die
Funktion der Massenmedien ist nicht Erkenntnis, sondern die Erzeugung/Bear-
beitung von Irritation und die Steuerung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft,
um es mit Luhmann mit zwei Formulierungen aus „Die Realität der Massenme-
dien“ zu sagen. Wir müssen die Unklarheiten selbst lösen oder uns auf andere
verlassen.
Man muss das noch weiterdenken: Eine sinnvolle Diskussion über den Journalis-
mus ist nie eine Diskussion nur über Journalismus allein, sondern eine der Bezie-
hung zwischen dem Journalismus und seiner Umwelt. Wir sehen nämlich, wie
sich die Umwelt des Journalismus wandelt. Erstens die räumliche Verdichtung
Die Journalismus-Krise ist eine Krise seiner Umwelt 249
Leser nutzen viel mehr Produkte als noch zu Print-Zeiten. Durch die digitalen
Zugriffswege zu Medienprodukten auf der Angebotsseite entsteht auf der Rezi-
pientenseite massive Unsicherheit: Diese vielen Sichten auf die Welt fügen sich
nicht ohne weiteres zu einem großen Bild, sind widersprüchlich, brüchig, lücken-
haft. Wer kann denn im Publikum wirklich erklären, ob es zu einem Brexit kom-
men wird? Oder wie es zum Scheitern des Arabischen Frühlings kam? Wer hat
den Streit FBI vs. Apple wirklich verstanden – außer zehn Tech-Journalisten?
Niemand kann die medialen Auswerfungen zu einem Topos von ihren Unstim-
migkeiten, Unschärfen und Widersprüchen bereinigen, weil die Topoi selbst so
unklar oder widersprüchlich geworden sind oder die Auflösung höchste Kennt-
nis der Zusammenhänge voraussetzt. Mit einfachen Erklärungen geben wir uns
ja nicht mehr zufrieden: Den Glauben an Kirche, Kaiser, politische Autoritäten,
Brockhaus, Knigge und Eltern haben wir uns ja in der Moderne selbst genom-
men (jetzt sind unter anderem Parteien und Gewerkschaften dran). Hier sieht man
sofort, dass die unbestreitbare Vertrauenskrise des Journalismus systematisch eine
Tendenz seiner Umwelt ist: Wo Institutionen an Vertrauen verlieren, verliert auch
der Journalismus als institutionelle Praxis an Vertrauen.
Schon ohne das Internet war angesichts zerfallender Institutionen keine ketze-
rische Frage mehr: Wieso sollten wir denn ausgerechnet Journalisten weiterhin
glauben, wenn wir auch Kirche, Duden und Politikern weniger glauben? Mit die-
sen Welterklärern muss die Glaubwürdigkeit verglichen werden, nicht mit Ärzten
und Polizisten. Jetzt, mit Hinzutreten des Internets haben wir Jedermann-Kritik,
die eine neue Dimension hat. Gerade Journalisten wissen, welche Wirkung Kritik
250 C. Kappes
haben kann: Mit Kritikschriften als Werkzeug der Aufklärung haben Kirche und
Könige ihre Stellung eingebüßt. Die Kritikmaschine Internet stellt jede Aussage
in Zweifel – und dies auch noch direkt an den Produkten des Journalismus. Es
werden also nicht etwa nur Texte kritisiert, es wird mit den Texten immer auch
Journalismus als Institution (soziale Praxis) kritisiert. Die Vertrauenskrise des
Journalismus lässt sich also recht gut ohne selbstgemachte Ursachen des Journa-
lismus erklären: sie hat mit Gesellschaft und Kommunikationsmitteln zu tun.
Aus Leserperspektive zeigt es sich noch dramatischer. Denn der Leser – und
zwar auch der, der unterhalten werden will! – muss Konzepte der Welt bilden,
er muss Sinn für sich erzeugen. Der Nachrichtenkonsum der Onliner erfolgt mit
weit weniger Markentreue (viele Medienmarken) als in der Prä-Internet-Zeit.
Wer von diesen ein konsistentes Bild (etwa zur Finanzkrise) haben will, muss
hohen Aufwand betreiben, um alle Information zu filtern und von Widersprüchen
zu bereinigen. Der Aufwand des Lesers ist also durch Medienvielfalt gestiegen,
ein schon 1973 von Daniel Bell beschriebenes Phänomen („Die nachindustrielle
Gesellschaft“). Da trotz leicht steigenden Mediennutzungszeiten niemand alles
verfolgen kann, spaltet sich das Publikum unter Selektionszwang in thematisch
Interessierte und Desinteressierte. Unter beiden Gruppen gibt es Menschen,
die dem Journalismus auf ihre Art zu schaffen machen, seien es gut informierte
„Foristen“, die mit jeder Kritik die Institution angreifen, seien es Desinteres-
sierte, welche trollen oder Texte unverstanden und zumeist auch ungelesen kri-
tisieren. Beide Phänomene schaden dem Journalismus. Als „Onliner“ sehe ich
immer deutlicher, dass das tägliche Bündel der Print-Zeitung eine Entlastung
darstellt, weil es begrenzt und somit bewältigbar ist. Einige haben diesen Bedarf
erkannt und mit ihren „Morning Briefings“, „Espressos“ und anderen Newslettern
reagiert. Der Erfolg spricht dafür, dass wir mittelfristig dann doch zu einer Art
teilpersonalisiertem Bouquet im Webclient kommen – eine Art Rösselsprung über
den Newsletter zur Site als dessen URL-Geschwister. Tl;drs, Abstracts und Kura-
tierung zeigen auch in diese Richtung.
Die Journalismus-Krise ist eine Krise seiner Umwelt 251
Qualitätsprobleme?
Viele digitale Phänomene lassen sich jedoch ganz wider den Zeitgeist nicht nur
als Belastung, sondern sogar als Entlastung des Journalismus deuten.
252 C. Kappes
1. Mit der Nutzungsänderung vom Push zum Pull (Google etwa) und der Tech-
nik der Verlinkung wird Aufmerksamkeit auf andere Inhalte verschoben, etwa
Quellendokumente, Studien, Websites der Akteure.
2. Stabiler und instruktiver Inhalt findet sich häufig in der Wikipedia, die in den
ersten Tagen eines Ereignisses halbwegs neutral und gesichert guten Überblick
bietet. Ich jedenfalls beobachte bei mir, dass ich ein aktuelles Thema bei Wiki-
pedia nachlese (und für weniger aktuelle die einleitenden Teile von Dissertati-
onen).
3. Trotz aller Kritik am Niveau von Onlinekommentaren finden sich auf Face-
book gute Statements und Beiträge bei den Akteuren, Experten, Journalisten.
Das eine oder andere Medienmagazin nährt sich davon. Kann es sein, dass auf
einer Art digitaler Allmende schon die Kühe grasen, während Medienprofis
auf die privaten Bauernweiden starren?
4. Twitter ist eine weitere mediale Schicht, welche schneller operiert als journa-
listische Produkte sein können, daher entlastet Twitter den Journalismus. Was
über Social Media eine Nachricht war, lässt den Massenmedien Raum für
Deutung. Die Erwartung, man müsse als Journalist so schnell wie Twitter sein,
ist nicht nur völlig praxisfern, sie ist auch systemisch ohne Nutzen.
5. Neben der Sicht, dass der Journalismus angegriffen wird, ist auch die Sicht
valide, wonach die Massenmedien in vielen Dimensionen eine Erweiterung
erfahren, „entgrenzt“ sind. So erzählen animierte GIFs der Netznutzer zum
Brexit ein Narrativ, mit dem sich Journalismus auseinandersetzen kann, so
übernehmen bestimmte Twitterer Kritik-, Moderations- oder Verstärkerrollen,
so erspart das E-Plus-Magazin „Curved“ journalistische Handyberichte, ohne
dass die demokratische Willensbildung gefährdet wäre.
Lösungen
Es liegt auf der Hand, dass bei „Ausbildung“ und „Bezahlung“ sowie „Unab-
hängigkeit“ Handlungsbedarf ist. Dabei ist die Finanzierungsfrage vorrangig, sie
erscheint mir aber wegen der Bedeutung des Journalismus für die Gesellschaft
letztlich unkritisch – eine Gesellschaft, die ihre Selbstbeschreibungen nur noch
mit Content Marketing erhält, würde sofort zu kollabieren drohen und folglich
eine öffentlich-rechtliche Lösung finden.
In Zeiten des Umbruches muss „outside the box“ gedacht werden. Es sind ein
paar grundsätzliche Dinge zu klären:
Rollenbilder
Menschen vergleichen heute das Gehirn gern mit einem Computer, nachdem es
die Generationen davor erst für eine Wachstafel, dann für ein mechanisches Werk
und dann für eine Schalttafel gehalten haben. Ist der Journalist ein „Informations-
verarbeiter“ oder fallen wir auf eine Analogie zur Arbeitsweise von Computern
Die Journalismus-Krise ist eine Krise seiner Umwelt 255
herein, die so unpassend wie der alte „Bote“ ist? Denn wie kann den Journalis-
mus etwas unterscheiden, was für Richter, Politiker, Mediziner gleichermaßen
gilt, die ja ebenso nichts anderes als Informationsverarbeitung betreiben? Ist er
„Sprecher“, wie das Papier der Brenner-Stiftung sagt? Muss ein Journalist von
seiner Rolle her vielleicht immer mehr auch irgendwie ein Didaktiker sein,
irgendwie ein Dirigent und Moderator und Diskurs-Strukturierer, in Zeiten der
Groko ein Oppositioneller oder irgendwie ein Change Manager oder ein Kon-
fliktbearbeiter sein? Ein Ziele-Sucher mehr als ein Ziele-Haber, wie Dirk Baecker
über postheroische Führung schreibt? Mir gefällt diese Sicht, denn den hero-
ischen Leitartikler, der uns seine beschriebene Tafel herabreicht, kann ich nur
noch in der größten Krise als Welterklärer ertragen.
Vielleicht ist er aber auch Vermittler und Schnittstelle, das überschneidende
Element des Mediensystems und des Berichtsbereiches zugleich, da er der Gesell-
schaft fortlaufend eine Beschreibung von ihr liefert, die sie fortlaufend braucht.
Das klingt abstrakt, ist aber die Erklärung für ganz konkrete Phänomene wie
zum Beispiel Meldungs-Redundanzen und – Selbstverständlichkeiten, etwa zu
Verurteilungen von Mördern. Vielleicht ist der Journalist sogar in einer Position
wie das mittlere Management, von dem Luhmann schreibt, es sei für eine lose
Kopplung der Personenkreise „oben“ und „unten“ zuständig. Sinn des mittleren
Managements sei es, die Ebenen so zu trennen, dass „die oben“ und „die unten“
ihre Routinen erledigen. Für Journalisten könnte das heißen: Journalisten sind an
der Grenze von beispielsweise Politik und Gesellschaft und haben in beide Rich-
tungen zu vereinfachen. Die zynische Interpretation dessen: Journalismus bietet
dem Politiker das Gefühl, eine chaotische Welt als geordnet wahrzunehmen, und
eine Illusion von Steuerbarkeit der Welt. Dem Publikum bietet er neben Unterhal-
tung einige einfache Erklärungen und eine Illusion von Steuerbarkeit der Welt.
Dass sie für beide Seiten nicht steuerbar ist, hat gerade der Brexit eindrucksvoll
bewiesen.
URL: http://www.carta.info/82592/die-journalismus-krise-ist-eine-krise-seiner-
umwelt/ vom 8. Juli 2016.
Zur Umweltkrise des Journalismus
Fritz Iversen
Dieser Beitrag entstand als Kommentar zu dem Artikel von Christoph Kappes
„Die Journalismus-Krise ist die Krise seiner Umwelt“.
Dass „Wissen“ durch unstrukturierte Debatten abnimmt, scheint logisch zu
sein, insofern nach und nach jedes „Wissen“ auf einen Zweifel trifft. Trotzdem
würde ich beim Thema Journalismus auch das anzweifeln. Stimmt es denn, dass
es „kein empirisches Vorgehen“ gibt?
Die Debatten teilen sich in zwei Hemisphären: Auf der einen Seite die Abneh-
mer („Lügenpresse!“, „Qualitätspresse?!“, „Zu teuer!“ etc.), auf der anderen Seite
die Branche selbst, und das sind Empiriker. Viele ihrer Ansichten sind ausformu-
lierte Praxisstrategien, aktuelle Erfahrungen. Brancheninsider hören auch stark
aufeinander. Wenn z. B. die Rheinzeitung Rechenschaft ablegt, wie es sich hinter
der Paywall lebt, dann ziehen daraus andere ihre Schlüsse.
However, die Grundthese, dass der Journalismus an und durch seine „Umwelt“
leidet, ist kaum anzuzweifeln. „Umwelt“ ist dabei mE nach ein guter Begriff, weil
die Leidenspunkte ein durchaus unübersichtliches Geflecht von sich gegenseitig
beeinflussenden Faktoren und Dilemmata bilden.
Man kann die verwickelten Problemlagen auch mit einer hochgradig verbas-
telten IT-Systemlandschaft vergleichen, sagen wir mal mit den IT-Systemen einer
Airline, die über 50 Jahre an allen Ecken und Enden gewachsen sind. Die sind
nur unter großen Risiken und großem Aufwand zu verändern. Die sogenannte
„geschäftsstrategische Reagibilität“ nimmt in Legacy-Systemen immer ab.
F. Iversen (*)
Königstein, Deutschland
E-Mail: fritz-texter@email.de
a) Das Publikum trennt sich in eine Vielzahl von Publiktümer mit unterschiedli-
chen Gewohnheiten und Interessen.
b) Alle haben gemeinsam: Sie interessieren sich.
Wie bekloppt interessieren sich alle für Neuigkeiten (die nur selten das Wich-
tigste in der Welt sind), dann aber auch für Themen (von Fachverlagen kann man
lernen, z. B. Ebner).
Auch „Aufklärung“ muss daher aufgeklärt übers Publikum nachdenken und
sich mit solchen Fragen beschäftigen wie: Für wen wird dieser Artikel geschrie-
ben? Aus welchen Gründen möchten diese Leute ihn lesen (Relevanz)? Was ist
der Punkt, der sie besonders stark interessieren könnte?
Aus der Falle der Buzzfeed-Köder befreit man das Publikum nicht durch
Appelle an den Selbstanspruch ans Informiertsein, sondern durch Arbeit für ihre
Interessen.
Wenn die Menschen im Netz mehr journalistische Produkte nutzen als je
zuvor, dann deshalb, weil sie sich entlang ihrer eigenen Lesewünsche ihr Menü
selbst zusammensuchen, „zusammenfinden“ (was aus sich heraus für einen Ver-
lust an Autorität bzw. „Vertrauen“ in journalistische Produkte sorgt). Am meisten
vom Aussterben bedroht sind die uninteressanten Artikel, die auf die angeführ-
ten Fragen keine Antwort haben. Oder anders gesagt: Je relevanter ein Artikel für
ein Publikum ist, desto weniger Tricks benötigt er in der Vermarktung. Siehe den
gewissen Erfolg von Longreads, und auch Blendle ist ein Indikator, dass das inte-
ressegeleitete Lesen der unterbödige, letztlich einzig tragende Haupttrend ist.
Buzzfeed ist nur scheinbar die Zukunft, läuft sich in Wahrheit tot, wie sich
auch Werbung am dicken Fell der Menschen immer wieder totläuft. „Focus“
könnte man als Versuch sehen, Interessen „animiert“ anzusprechen, ich glaube
allerdings nicht, das man im Hause Burda wirklich versteht, was sie treiben, weil
Focus nur noch aus dem Controlling heraus gesteuert zu sein scheint.
260 F. Iversen
Lorenz Matzat
2016 wird das vorerst beste Jahr für Datenjournalismus in Deutschland werden.
Diese Prognose kann ich mit gutem Gewissen abgeben. Denn folgen wir dem
Bild des „hype cycle“ ist der „Pfad der Erleuchtung“ erreicht – der „Gipfel der
überzogenen Erwartungen“ und das folgende „Tal der Enttäuschungen“ liegen
hinter uns: Es geht langsam aber stetig bergauf, was z. B. im Datenjournalismus-
katalog zu betrachten ist.
(Einige der in diesem Beitrag erwähnten Arbeiten: http://katalog.datenjourna-
lismus.net/#/).
Es zeigt sich aber auch anhand folgender Faktoren: Mit BR Data hat der erste
öffentlich-rechtliche Sender nun ein explizites Datenjournalismusteam (in der
Schweiz gibt es das schon etwas länger mit SRF Data). Es besteht derzeit aus
sieben Personen. Nach dem Sommer kamen die ersten Werke und insgesamt lässt
sich sagen: Das sieht vielversprechend aus. Eine Serie zum Thema Geflüchtete
widmete sich u. a. der Frage, wer eigentlich die staatlichen Gelder einstreicht, die
in diesem Sektor verteilt werden. Für so etwas ist Datenjournalismus perfekt und
sollte öfter angewandt werden. Denn viel zu selten wird sich der Frage gewidmet,
wohin denn öffentliche Gelder eigentlich fließen, die „weg“ sind. Das jüngste
Werk anlässlich des Klimagipfels wagt einen Blick in die Zukunft der Skigebiete:
So sollte regionaler Datenjournalismus aussehen. Im Bereich Design/Usability ist
aber noch Luft nach oben.
L. Matzat (*)
Open data city, Berlin, Deutschland
E-Mail: matzat@lokaler.de
Frauen leiten
Das Datenjournalismusteam bei Spiegel Online wurde dieses Jahr auf 2,2 Stellen
aufgestockt: Christina Elmer wurden Patrick Stotz und 1/5 Achim Tack zur Seite
gestellt. Daraus ergab sich zum Beispiel der Schwerpunkt Betongold, den ich für
eines der gelungensten ddj-Werke im deutschsprachigen Raum in diesem Jahr
halte. Bleibt die Frage, wie sich der angekündigte 20-prozentige Stellenabbau
beim Spiegel auf den Datenjournalismus dort auswirkt. Hinsichtlich von Design
und Usability könnten die Hamburger jedenfalls auch noch Verstärkung gebrau-
chen.
Übrigens: Ein interessantes Phänomen in der doch kleinen deutschsprachigen
Datenjournalismuswelt ist, dass von den wenigen Abteilungen die meisten von
Frauen geleitet werden (Christina Elmer bei SpOn, Sylke Gruhnwald bei SRF,
Ulrike Köppen beim BR).
Die solideste Arbeit in Sachen Datenjournalismus hat dieses Jahr Zeit Online
abgeliefert – sowohl inhaltlich als auch ästhetisch (der insgesamt gelungene
Relaunch der Website zeugt von einer ausgereiften Digitalkompetenz). In Arbei-
ten wie zur Ärztedichte oder jüngst zu Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime
zeigt sich, was ein Haus mit viel Recherchekapazitäten zusammen mit Entwick-
lern und Designern zu leisten vermag.
Auf deutlich weniger Ressourcen kann das Morgenpost-Interaktivteam
zurückgreifen. Auch wenn die Funke-Mediengruppe unlängst ankündigte, ein
paar Scheite mehr obendrauf zu legen (was vielleicht auch mit Vorgängen beim
Konkurrenten Tagesspiegel zu tun haben könnte, s. u.). Jedenfalls hat das Team
dieses Jahr zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, die technisch und optisch beein-
druckend waren und zeigen, wie digitaler Lokaljournalismus auch aussehen kann.
Bei manchen der Stücke standen große Vorbilder Pate, was auch immer korrekt
erwähnt wird. Zudem ist immer eine ordentliche Eigenleistung erkennbar – im
Datenjournalismus 2015: Ein Rückblick 263
Gegensatz zur FAZ, die recht unverfroren das von der NYT vom New Yorker ins-
pirierte M29-Werk der Morgenpost nahezu eins zu eins nachbaute. Hervorhebens-
wert ist, dass die Morgenpost-Programmierer von der Firma webkid zahlreiche
making-ofs veröffentlichten. Was ich mir bei den Morgenpost-Stücken für 2016
wünsche: mehr „j“ ins „dd“ – also statt deskriptivem Journalismus mehr Analyse
und Investigation.
… But I think there are big advantages in terms of collaboration: digital journalism
as a whole, and especially it seems anything where data analysis and web develop-
ment are involved, seems to be inherently very collaborative. The whole concept of
open source is about riffing on other people’s work, taking something someone else
has done and adding to it. That collaborative spirit is a massive help. Without it, we
wouldn’t move along as quickly.
Diese Kultur ist, soweit ich das überblicke, einmalig in der Journalistenwelt.
Während z. B. in den Kreisen des Investigativjournalismus doch mehr dem, ent-
schuldigt den saloppen Begriff, „Schwanzvergleich“ gehuldigt wird, ist Koope-
ration und Austausch in datenjournalistischen Kreisen weit verbreitet. In welcher
Sparte gibt es sonst noch regelmäßige offene Treffen wie ddjhh, ddjmuc, ddjnrw
oder ddjberlin? Wo finden sich sonst noch solch aufwendig produzierten Handrei-
chungen wie das Angebot rddj von Timo Grossenbacher (SRF Data)?
Gut, es ist nicht alles eitler Sonnenschein. Viele Themen bleiben meiner Mei-
nung nach im Datenjournalismus noch unterbelichtet: Etwa wird sich dem wichti-
gen Komplex „algorithmic accountability“ weiterhin nicht gewidmet. Oder siehe
das eingangs erwähnte Lobbyradar. Ein für mich betrüblicher Vorgang ist auch,
dass OpenDataCity, das ich einst mitgründete, offenbar in einigen Turbulenzen
ist: Im Oktober verließ das sechsköpfige Entwicklerteam geschlossen die Daten-
journalismusagentur; einige von ihnen sind nun wohl beim Tagesspiegel tätig,
wie sich u. a. Linkedin-Profilen entnehmen lässt. D. h. es könnte also sein, dass
2016 auch der Tagesspiegel öfter in den Datenjournalismus-Ring steigt. Es gab
dort schon vereinzelt ddj-Stücke zu sehen, etwa dieses Jahr „Mehrfahrtgelegen-
heiten“. (Update: Die Abteilung beim Tagesspiegel heißt „Data Science and Sto-
ries“.).
264 L. Matzat
Talente finden
Wenig sichtbar war 2015 in meinen Augen die Süddeutsche (obwohl dort durch-
aus etwas geschah). Doch das kann sich ändern: Zwar ging Steffen Kühne zu BR
Data – dafür wechselte Vanessa Wormer im Herbst von der Heilbronner Stimme
(nach einer Fortbildung in New York) als Datenjournalistin zur SZ.
Dieses Jahr kam Correctiv richtig in Schwung. Es ist eines der wenigen
genuinen journalistischen Start-ups hierzulande (im Sinne von unabhängig und
eines, das eigenständige journalistische Inhalte erzeugt). Krautreporter konnte ja
seine vollmundigen Ankündigungen, bei denen auch die Rede von interaktiven
Anwendungen und Datenjournalismus war, weitgehend nicht erfüllen. Correctiv
setzt jedenfalls Themen um, bei denen Datenanwendungen und Visualisierungen
immer wieder eine Rolle spielen. Dabei wäre bei der Vielzahl der Projekte des
Recherchebüros – so scheint es mir zumindest – der Rat angebracht: Weniger ist
mehr.
Einen weiteren Schub für Datenjournalismus in Deutschland gab die VW-Stif-
tung, die ein Programm zu Wissenschaft und Datenjournalismus auflegte. Immer-
hin 750.000 € fließen nun in acht Kooperationen, die aus über 80 Einreichungen
ausgewählt wurden; mir scheinen die alle recht wissenschaftslastig zu sein. Mal
abwarten, was dabei Journalistisches herauskommt. Jedenfalls gab es im Zuge
dieses Programmes im November auch eine Tagung in Zusammenarbeit mit dem
Netzwerk-Recherche; dessen Jahrestagung hat sich mittlerweile wohl zu dem ddj-
Treffen im deutschsprachigem Raum gemausert.
Selbstredend geschah noch einiges mehr bei verschiedenen Medien, darun-
ter Lokal- und Regionalzeitung, was hier im Einzelnen nicht aufgeführt wurde.
Aber wie gesagt, Datenjournalismus hat Zukunft. Das zeigte sich nicht zuletzt
anhand einer der besten – wie ich fand – Arbeiten dieses Jahr: Airbnb versus Ber-
lin. Die entstand in dem Hochschulkurs „From Reading to Exploring – Visuelles
Geschichten-erzählen im Daten-journalismus“ in Potsdam. So sei den Redaktio-
nen und Verlagen geraten: Kooperiert mehr mit Hochschulen. Dort finden sich die
Talente.
URL: http://datenjournalist.de/datenjournalismus-2015-ein-rueckblick/ vom
15. Dezember 2015.
Wissenschaftsjournalismus:
Von der Aufmerksamkeits- zur
Desinformationsökonomie
Stephan Ruß-Mohl
S. Ruß-Mohl (*)
Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz
E-Mail: stephan.russ-mohl@usi.ch
PR Publika
50 %
Nicht berücksichtigt: 0-50 Prozent der Kosten
von Medienproduktion
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk (direkte Finanzierung)
0%
Quelle: Eigene Darstellung www.ejo.ch
In der „guten, alten“ Zeit finanzierten Leser und Inserenten die Medien,
Journalisten und PR-Leute waren zahlenmäßig in etwa gleich stark.
Soweit die alte Welt des Journalismus. Eine Bestandsaufnahme der Wissen-
schaftskommunikation heute sieht etwas anders aus: Unstrittig gibt es 2015 mehr
und besser ausgebildete Wissenschaftsjournalisten als vor 30 Jahren, es gibt aber
Wissenschaftsjournalismus … 269
auch – im Vergleich zur Zahl der Wissenschaftsjournalisten – sehr viel mehr und
sehr viel besser ausgebildete PR-Experten im Wissenschaftsbetrieb selbst.
Zur Bestandsaufnahme gehört, dass Wissenschaftler sich weiterhin in Kon-
kurrenz um Reputation befinden. Reputation im engen Kreis der jeweiligen Sci-
entific Community ist für sie wichtiger als öffentliche Aufmerksamkeit, sie sind
also nicht so „mediengeil“ wie Politiker, Sportler oder Kulturschaffende. Für For-
scher kann es riskant sein, sich öffentlich zu exponieren. Sie haben Angst, dass
ein Journalist in seiner Darstellung etwas verdreht und ihre Reputation darunter
leidet. Diese Angst ist begründet, denn auf der Medienseite führt die gesteigerte
Konkurrenz um Aufmerksamkeit gerade online zu Verlusten an Seriosität und
Sensationsmache.
Doch etwa seit dem Beginn des neuen Jahrtausends – die Prozesse überlappen
sich – wird Wissenschaftsjournalismus immer stärker abgelöst durch Wissen-
schaftskommunikation. Was ist seitdem passiert? Der genuine Journalismus im
Sinne von Helmut F. Spinner schrumpft. Auf der einen Seite laufen wir Leser alle
ins Internet, wo wir merkwürdigerweise nicht mehr bereit sind, für guten Jour-
nalismus zu bezahlen. Jahr für Jahr wandert mehr Werbung dorthin ab, wo deren
Zielgruppen viel besser erreichbar sind: zu Facebook und Google. Suchmaschi-
nen und soziale Netzwerke betrieben aber keinen Journalismus, sondern reichen
diesen allenfalls weiter und verlinken ihn. Das bedeutet: für guten Journalismus
bleibt immer weniger Geld übrig.
Wissenschaftsjournalismus … 271
Journalismus
im Bermuda-Dreieck :HUEXQJ
ZDQGHUWLQV,QWHUQHW
GRUWKHUUVFKW:HWWEHZHUEGLH
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35 JHKWJHJHQ1XOO RQOLQH 3XEOLND
Ä*UDWLV³SURGXNWH
Das Bermuda-Dreieck des Journalismus – Die Finanzierung durch Werbung, PR und Leser
funktioniert nicht mehr.
Aus meiner Sicht sind wir bereits auf dem Weg von der Aufmerksamkeits- zu
einer Desinformationsökonomie: Offenbar lohnt es sich für eine ganze Reihe von
Akteuren, die „neben“ dem Journalismus tätig geworden sind, in der Öffentlich-
keit präsent zu sein und Desinformation zu verbreiten. Da sind Spin-Doktoren,
Geheimdienste, autoritäre Regime und die sogenannten Trolls sowie Social bots,
also Roboter, die Texte schreiben können, aber auch Akteure, die sehr engstirnig
bestimmte Eigeninteressen oder auch Verschwörungstheorien vertreten und in den
sozialen Netzwerken oder der Blogosphäre aktiv sind. Und da sind außerdem die
Algorithmen, die nach – für uns wenig nachvollziehbaren – Kriterien entschei-
den, was wir überhaupt erfahren und was nicht.
Aber auch im „konventionellen“ Wissenschaftsjournalismus gibt es ange-
sichts der finanziellen Nöte der meisten Redaktionen Entwicklungen, die mit
Sorge erfüllen. Dazu zwei Beispiele aus der Schweiz – Ähnliches entwickelt sich
gewiss auch anderswo: Die Schweizerische Depeschenagentur (sda), das helve-
tische Pendant zur dpa, hat seit 2008 eine neue Wissenschaftsredaktion, die pro
Tag fünf bis zehn Meldungen produziert. Finanziert wird diese Wissenschaftsre-
daktion nicht etwa von der Nachrichtenagentur und damit von den Medienunter-
nehmen als deren Kunden, sondern von der Schweizer Rektorenkonferenz und
vom Schweizer Nationalfonds, dem wichtigsten Wissenschaftsförderer des Lan-
des. Eine hochproblematische Konstruktion, denn die Wissenschaftsberichterstat-
tung bekommt damit vermutlich eine interessengesteuerte Verzerrung.
Nicht minder heikel erscheint mir das zweite Beispiel. In der Schweiz gibt es zwei
Stiftungen, die den Wissenschaftsjournalismus fördern. Doch anstatt Gelder für
seriöse Medien zur Verfügung zu stellen, etwa die Neue Züricher Zeitung oder den
Tages-Anzeiger, finanzieren sie Wissenschaftsjournalismus im Gratisblatt 20Minu-
ten um junge, wenig wissenschaftsaffine Zielgruppen zu erreichen. Damit wird
nicht nur die Gratis-Kultur gefördert, es wird ein ohnehin hochprofitables Gratis-
Medium sogar noch – mit immerhin 386.000 Schweizer Franken pro Jahr – dafür
belohnt, dass es tut, was es ohnehin tun sollte: angemessen über Wissenschaft zu
berichten. Die journalistischen Inhalte steuert eine Agentur bei, in der zwar pro-
fessionelle Wissenschaftsjournalisten sitzen, die aber auch PR-Aufträge wahr-
nimmt. Interessenskonflikte sind also auch hier programmiert.
Wissenschaftsjournalismus … 273
Leonard Novy
L. Novy (*)
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin, Deutschland
E-Mail: leonard.novy@medienpolitik.eu
Die erste, von Sarah Koenig präsentierte Staffel untersucht einen Mordfall aus
Baltimore, der letztes Jahr an die ehemalige Reporterin der Baltimore Sun her-
angetragen wurde. Der zur Tatzeit 17-jährige Adnan Syed wurde 1999 von einer
Jury schuldig gesprochen, seine Ex-Freundin Hae Min Lee kaltblütig ermordet zu
haben. Adnan, ein intelligenter, allseits beliebter Teenager, der den Spagat zwischen
muslimischer Tradition und den Verführungen des Lebens an der Woodlawn High
School, zwischen Moschee und Marijuana, scheinbar mühelos hinbekam, beteu-
erte stets seine Unschuld. Und 15 Jahre nach seiner Verurteilung mehren sich die
Zweifel: Ging bei den Ermittlungen alles mit rechten Dingen zu? Wurden Spuren
übersehen? Welches Motiv sollte Syed, der auch nach seiner Trennung ein gutes
Verhältnis zur Ermordeten hatte, gehabt haben? Hat die inzwischen verstorbene
Strafverteidigerin ihren Job gut gemacht? Was, wenn nicht die Wahrheit, könnte
Jay, einen Schulfreund des Verurteilten, dazu bewegt haben, Syed zu belasten?
Koenig, für die sich der Fall als eine Art „Shakespear’sches mash-up“ präsen-
tierte („Young lovers from different worlds thwarting their families, secret assi-
gnations, jealousy, suspicion and honor besmirched“), fing an zu recherchieren.
Herausgekommen ist ein intelligentes, ungemein spannendes „Whodunit“. Woche
für Woche nimmt Koenig, die die Sendung aus der Ich-Perspektive präsentiert,
ihre Hörer mit auf ihre Suche nach der Wahrheit, interviewt Zeugen und Exper-
ten, wertet Beweise aus oder analysiert Dokumente.
Serial kommt ohne viel Multimedia-Blingbling aus und präsentiert sich auch
nicht als Detektiv-Spiel zum Mitmachen. Es ist kein Aktenzeichen XY… unge-
löst ohne Laiendarsteller (und ohne Bild). Im Vordergrund steht die Geschichte
und ihre Erzählerin. „We want to give you the same experience you get from a
great HBO or Netflix series, where you get caught up with the characters and the
thing unfolds week after week, but with a true story, and no pictures. Like House
of Cards, but you can enjoy it while you’re driving“, erklärte Ira Glass von This
American Life, als er die erste Episode von Serial präsentierte.
Klassisch ist das Format auch in dem Sinne, dass es auf serielles Erzäh-
len setzt und neue Folgen im Wochenrhythmus jeweils am Donnerstag ins Netz
stellt, statt wie Netflix oder Amazon komplette Staffel gleichzeitig zu veröffentli-
chen (wodurch das „Binge Watching“ von Serien wie House of Cards endgültig
zu einer allseits sozial akzeptierten Freizeitbeschäftigung wurde). Während die Ende
September komplett en bloc veröffentlichte Amazon-Serie Transparent zwar hoch-
gelobt wurde, aber heute schon wieder beinahe vergessen ist, entstand um Serial so
eine sich Woche für Woche steigernde Begeisterung, die heute einer „kulturellen
Obsession“ gleicht und längst auch auf anderen Plattformen wie reddit stattfindet.
„Serial“ – Ein Podcast erobert die Welt 277
Leonard Novy
L. Novy (*)
Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin, Deutschland
E-Mail: leonard.novy@medienpolitik.eu
an den Problemen vorbei. Denn zum einen zeigen Produktionen diverser, teils
deutlich weniger potenter europäischer Sender, dass Innovationen keine Frage des
Geldes sind. Und selbst wenn man sich – mit guten Gründen – von dem Gedan-
ken verabschiedet, dass hierzulande jemals den US-Vorbildern vergleichbare
Serien entstehen: Das erklärt nicht, warum amerikanische TV-Stars wie Jimmy
Kimmel und Jimmy Fallon in den USA regelmäßig virale Erfolge erzielen (bis in
die Social Media-Timelines vieler Deutscher hinein), während RTL im Internet
jenseits der eigenen „Video on Demand“-Plattformen kaum stattzufinden scheint.
Die Idee für RTL-Samstag Nacht war auch geklaut, in der konkreten Umset-
zung aber spiegelte und prägte die Sendung Humor und Befindlichkeiten der
damaligen Zeit. Und sie war Sprungbrett für eine Gruppe von Comedians und
Autoren, die eine ganze Generation, im Fall von Olli Dittrich bis heute, komö-
diantisch begleitet hat. Die RTL-Exporte der letzten Jahre hießen Cindy aus
Marzahn und Markus Lanz, geprägt hat der Sender schon lange nichts und nie-
manden mehr. Angesichts der trostlosen Ambitionslosigkeit dessen, was insbe-
sondere RTL an Unterhaltungsformaten beispielsweise am Freitagabend abspult,
gereichen schon eine Helene Fischer-Parodie von Carolin Kebekus oder ein Böh-
mermann-Video hierzulande zur Sensation. Es stellt sich die Frage, warum es
andernorts dagegen, unter hyperkompetitiven Rahmenbedingungen und in nicht
minder durchökonomisierten, auf planbaren Erfolg setzenden Apparaten, nicht
nur ab und an gelingt, sondern gängige Praxis ist, aus den Strukturen heraus krea-
tive, überraschende Akzente zu setzen und zum Mainstream zu machen.
Totgerittene Formate, das Festhalten an bewährten Gesichtern – dahinter
steckt der verzweifelte Versuch, den Erfolg der Vergangenheit, der stark an etab-
lierte Marken geknüpft ist, zu konservieren und die Erosion der eigenen Relevanz
aufzuhalten. Es ist der Staub des Gewohnten, der das Gebilde noch zusammen-
hält. Und die Marketing-Symbiose mit dem Boulevard. RTL und BILD verhal-
ten sich zueinander wie zwei Hunde, die sich auf der Straße aufgeregt kläffend
an den Genitalien schnüffeln und dabei unaufhörlich im Kreis laufen. Auch da
schaut man als Passant immer wieder hin. Ein klares Konzept, eine inhaltlich wie
ästhetisch überzeugende Antwort auf aktuelle und kommende Herausforderungen
des Fernsehens sieht anders aus.
Noch stimmen die Zahlen. RTL ist profitabel, profitabler als die Konkurrenz,
aber im Kerngeschäft vermutlich am Zenith angekommen. Und die Schonfrist für
Frank Hoffmann, den nicht mehr wirklich neuen Nachfolger Anke Schäferkordts
als RTL-Chef, dürfte vorbei sein. Es geht nicht darum, das Rad neu zu erfinden.
RTL war immer eher Ballermann, nie Avantgarde. Auch die Erfolge der Vergan-
genheit basierten letztlich darauf, etwas in Kultur und Gesellschaft Vorhandenes
aufzugreifen, populär zu verarbeiten und schließlich mit maximaler Wirksamkeit
282 L. Novy
massenmedial zu verbreiten. Als Zuschauer musste man das nicht mögen, auch
nicht einschalten, doch entziehen konnte man sich dem nur schwer. Die Köl-
ner trafen den Nerv der Zeit. Heute sind sie – im doppelten Wortsinn – drauf und
dran die Nerven zu verlieren. Sollte RTL-Veteranin Frauke Ludowig auch 2020
noch allabendlich aus der Requisite ins Exclusiv-Studio geschoben werden und
dann genauso aussehen wie in den Nullerjahren, als der Abstieg des ehedem
alle vor sich hertreibenden Senders begann, haben ihre Maskenbildner endgültig
einen Fernsehpreis für ihre Restauratoren-Arbeit verdient. Beim Sender ist der
Lack heute bereits ab. Da glänzt nichts mehr. RTL lebt von der Substanz, von
Variationen des immer gleichen. Der Sender ist kreativ bankrott.
URL: http://www.carta.info/77718/fernsehen-aus-der-zeitkapsel-rtl-ist-kreativ-
bankrott/ vom 19. März 2015.
Teil IV
Medienwirtschaft im Wandel
Titanenkämpfe
Christoph Kappes
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
1. Google und Facebook brauchen gute Inhalte und für beide stehen die Zei-
chen an der Wand: Googles Milliardenprodukt „Google +“ scheitert nicht
an Registrierungen, sondern an Inhalt. Der einzige einigermaßen erfolgrei-
che Vorläufer von Facebook war Myspace, gescheitert an trashigen Inhalten.
Ohne Inhalte keine Aufmerksamkeit und ohne Aufmerksamkeit kein Verkauf
von Werbung. Google und Facebook haben ein Interesse an der Produktion
von hochwertigen Medieninhalten.
2. Es ist dafür ökonomisch nicht nötig, Interesse an „Qualitätsjournalismus,
dem es um Objektivität und Wahrhaftigkeit geht“, zu haben. Diese Unter-
nehmen operieren nach ökonomischer Logik. Entscheidend ist, dass am
Ende Nutzer maximal verwertet werden können. Demnach ist in der Tat
der Bonbon und seine Verpackung egal, den Nutzer lesen sollen, Hauptsa-
che es werden Bonbons gegessen. Das ist für printgeprägte Kulturjournalis-
ten frevelhaft, aber wer macht denn jeden Tag zu einem festen Zeitpunkt die
gleiche Menge Zeitungsseiten voll, unabhängig von der Nachrichtenlage?
Ein Zufall, dass es immer passt. Es ist für Google und Facebook, das muss
man umgekehrt auch sagen, sekundär, in welchen Organisationsformen die
Medieninhalte zustande kommen; wichtig ist nur, dass es starke Marken
sind. Das heißt klar: am Erhalt der Organisation haben weder Google noch
Facebook ein besonderes Interesse, sie könnten auch Inhalte von veränder-
ten (entgrenzten, von Overheads befreiten) oder von neuen Organisationen
leben, zum Beispiel crowdgefundeten Journalistengruppen, falls diesen ein
qualitativ gutes Angebot gelingt.
3. Die Vorstellung, dass Google und Facebook Wettbewerber von Medienunter-
nehmen seien, ist – auch wenn sie neuerdings ständig wiederholt wird – so
simpel nicht zutreffend. Zwar buhlen beide um Aufmerksamkeit und beide
leben (wenigstens zum Teil) von Werbung. Ihre Wertschöpfung ist aber eine
andere, ihre Produkte und Dienste unterscheiden sich von Medienproduk-
ten. Als (mehrseitige) Plattformen haben beide maximale Werbeumsatz nur,
wenn sie maximale Reichweite und Werbeeffizienz durch verwertbare Nut-
zerdaten haben. Folglich sind sie wirtschaftlich erfolgreicher, wenn sie inhal-
teneutral sind. Zudem tragen ihre Marken keine publizistischen Angebote
und ihre Mission passt nicht dazu. Mir ist rätselhaft, warum Medienschaf-
fende sich dessen nicht im klaren sind. Zudem gilt es wenn, dann nur für
den werbefinanzierten Teil. Im übrigen sind die sog. Rubrikenmärkte (vulgo:
„Kleinanzeigen“) als eine Haupterlösquelle zwar von Zeitungen weg-,
aber nicht zu Google oder Facebook hingewandert: mit Immonet, Immo-
web, Stepstone und so weiter erwirtschaftet die Axel Springer SE in der
„Classifieds“-Sparte einen Milliardenumsatz (übrigens ganz konsequent und
Titanenkämpfe 287
beispielhaft transformiert). Und dann sind da noch eBay (auch mit mobile.
de), die Scout-Gruppe etc. Man verstehe mich nicht falsch: Diese Angebote
geraten stärker unter Druck, weil die Big Player zunehmend die transaktions-
nahen Bereiche beherrschen (/me hier vor Jahren in der FAZ, nun liest man
immer häufiger davon), aber es ist nicht mehr das Problem von Zeitungsver-
lagen.
4. Ich sehe Google und Facebook, wenn ich nicht ökonomisch auf sie schaue,
vor allem als informationsordnend. Nachdem man versehentlich das WWW
erfunden hatte, explodierte die Anzahl verfügbarer Inhaltsseiten und sie
waren permanent verfügbar. Suchmaschinen und Soziale Netzwerke sind
Antworten auf gesellschaftliche Bedürfnisse. Sie bieten neue, leistungsfähi-
gere Zugangsmethoden als der bloße Link (ggf. auch gelistet in Verzeichnis-
sen) und das WhoIS es bot. Sie ermöglichen überhaupt erst den Zugang zu
Medienangeboten, machen sie sichtbar – und das, sagen wir in einer „Basis-
version“ kostenlos, indem Google die Medienangebote in der organischen
Suche darstellt und Facebook immerhin Linkpublikation an Dritte ermög-
licht. Diesen Effekt sollte man sehen. So habe ich zum Beispiel überhaupt
erst den Tagesspiegel entdeckt und die taz ist mir sympathisch geworden;
beides hat ökonomischen Wert, nämlich Markenwert.
5. Wenn Google oder Facebook eigene Medienangebote hätten haben wollen,
hätten sie die Washington Post gekauft oder andere Experimente mit Nach-
richtenagenturen (2007 hier – diese Branche ist furchtbar vergesslich) wei-
tergeführt. Es macht aber strategisch keinen Sinn, weil – siehe oben – beide
Giganten auf ein Ökosystem angewiesen sind und anders als Verleger auch in
Ökosystemen denken, jede Internetanalyse beginnt mit Traffic in einem Öko-
system. Selbstverständlich kann man versuchen, alle Medienpartner gemein-
sam zu „umarmen“, indem man ihre Marken auf die Plattformen lockt. Ein
Rattenfängerspiel wäre jedoch höchst gefährlich, weil das einzige, was die-
sen Unternehmen außer sich selbst und (davon bin ich überzeugt: einem aus
dem Nichts von der Seite auftauchenden Wettbewerber) schaden kann, ist
Regulierung, die von der Öffentlichkeit befeuert wird. Wenn sich schon kein
Kanzler mit BILD verscherzen wollte, warum sollten Google und Facebook
es gleich mit allen Medienunternehmen tun.
6. Nach allem, was ich aus der Branche höre, haben deutsche Medienunterneh-
men das Spiel um Standardwerbung bereits verloren. In den USA werden
bereits über 60 % des Werbemarktes mit Realtime-Plattformen („Program-
matic“) vermittelt, die medienangebotsübergreifend Nutzerprofile vermark-
ten. Die Vorstellung, um es drastisch zu sagen, in einem „Umfeld“ könnten
„Werbeplätze“ vermarktet werden, ist so nicht mehr richtig. Die Vermarktung
288 C. Kappes
haben längst die Plattformanbieter unter Kontrolle. Wenn ein Nutzer bei FAZ,
WELT, ZEIT oder SPON vorbeischaut, bekommt er in Echtzeit die bestpas-
sendste Werbung und es ist dabei vom Medienangebot entkoppelt. Man sollte
sich das eher wie eine löchrige Medienwand namens FAZWELTZEITSPON
vorstellen, hinter die wie im frühen Theater Produktdarstellungen gerollt
werden. Und der Abstand deutscher Anbieter zu den großen U.S.-Anbietern
nimmt mit atemberaubendem Tempo zu: Retargeting zum Beispiel ist für
deutsche Anbieter kein profitables Geschäft mehr, das Geschäft ist global
geworden und globale Anbieter erhalten mehr und bessere Daten und Jour-
neys von Lesern als ein nationaler und zudem beschränkter Dienst. Vielleicht
bloggt man weniger über die Zukunft des Journalismus und guckt lieber mal,
wie viel Benzin noch im Tank ist.
7. Wer aber als Medienanbieter ganz den Weg zu den Plattformen geht, begibt
sich in eine irreversible Abhängigkeit. Analytics-Einbindung von zum Bei-
spiel Comscore, wie Facebook sie beschreibt, sind nicht alle Nutzerdaten,
und Nutzerdaten sind nicht gleich Nutzerdaten, der Wert liegt in Rohdaten.
Möglichkeiten der Leserinteraktion sind zwar effizient, aber beschränkt (ver-
gleiche Newsletter und Posting). Wer die Kontrolle über den Kundenkontakt
hat und diesen freiwillig an irgendjemand anderen abgibt (und sei es an die
Bahnhofsmission), macht einen schweren strategischen Fehler. Ich habe erst
im März hier ausführlich dazu geschrieben.
8. Abgesehen davon funktionieren Sonderwerbeformate nicht mehr, fallen
Affiliates weg, steht Medienunternehmen die Option auf eCommerce (noch)
nicht zur Verfügung. Auch stehen keine Tools für attraktive Inhalteformate
wie das sog. „Storytellung“ (= parallaxe, multimediale, scrollbare Schnee-
fälle) und Datenjournalismus zur Verfügung. Und: das Facebook-Umfeld
schadet der Medienmarke. Ich halte es daher für eine abwegige Vorstellung,
alle Unternehmen würden vollständig zu Facebook wandern, wie Turi es
beschreibt. Wahrscheinlicher ist es für Medienunternehmen, deren Manage-
ment sich in eine ausweglose Situation manövriert hat, und die ab dem Tag
bei Facebook tatsächlich nur noch einen Bruchteil des Verlagsmanagements
benötigen. Wahrscheinlich ist es auch für Kleinanbieter wie Turi, die als
One-Man-Unternehmen sich nur noch um Inhalte kümmern müssen, nach-
dem sie bei Facebook die Kontonummer ins Nutzerprofil eingetragen haben.
Vielleicht ist es eine Option für Krautreporter-artige Vorstöße von Journalis-
tengruppen.
9. Trotzdem ist Schwarz-Weiß-Denken fehl am Platz. Es kann durchaus sinn-
voll sein, ein bestimmtes Bouquet vollständig auf sozialen Netzwerken
anzubieten. Man muss sich von der Vorstellung lösen, die FAZ oder der
Titanenkämpfe 289
Angesichts der zunehmenden Relevanz von Facebook für die Rezeption von
journalistischen Inhalten werden sich Medienunternehmen Instant Articles kaum
entziehen können. Gefährden sie damit ihre Marken? Und welche Konsequenzen
ergeben sich daraus für Vertrauen, Reputation und Markenführung?
Instant Articles sind „A new way for publishers to create fast, interactive
articles on Facebook“. Instant Articles trennen erstens einen Artikel vom
Verbundprodukt Online-Auftritt. Dieses „Article-Unbundling“ ist seit dem
Verteilen von Artikeln über Online Social Networks nicht neu. Zweitens ändert
sich mit Instant Articles aber auch der Host des Inhaltes vom Absender der
Medienmarke zu Facebook. User gelangen nicht mehr durch Anklicken auf
die Webseiten des Medienprodukts. Facebooks Hauptargument für Instant
Articles sind die langen Ladezeiten der Medieninhalte auf den Webpages der
Medienprodukte. Instant Articles sollen also das Rezeptionserlebnis für die User
verbessern.
Emily Bell wies in ihrer Reuters Memorial Lecture Silicon Valley and
Journalism: Make Up or Break Up? darauf hin, dass “news spaces are no longer
owned by newsmakers”. Die überwiegende Mehrheit der Facebook User erhalten
Nachrichtenempfehlungen von Facebook-Freunden und nicht über direktes
Folgen oder Fan-Sein von Medienprodukten. Inwieweit Facebook als Social-
Network-Gigant in Monopolstellung Nachrichteninhalte hosten sollte, und so aus
Medienmarken haben eine Signalfunktion für das Publikum und steuern die
Medienauswahl sowie die Erwartungen, die dem Rezeptionserleben entgegen
gebracht werden. Die Medienmarke besteht zunächst einmal aus einem
Selbstbild, der Brand Identity, das ein Set aus Eigenschaften und Merkmalen ist.
Diese Identität wird innerhalb des Medienunternehmens definiert und kann auch
„hidden“, also nicht bewusst oder organisational manifestiert, bei Mitarbeitenden
von Medienunternehmen vorliegen. Die Markenidentität wird anhand des
Medienprodukts und der Unternehmenskommunikation nach außen getragen.
Beim Publikum entwickelt sich ein Markenimage, das aus funktionalen und
symbolischen Nutzenassoziation besteht. Sowohl inhalts- und leistungsbasierte
Eigenschaften als auch assoziative und visuelle Merkmale konstituieren das
mediengattungs- und -typenabhängige Markenimage (bspw. informative
Qualitäts-, unterhaltende oder Boulevardmedien). Das Image kann somit zwar je
nach Nutzungserfahrung zwischen Rezipienten leicht variieren, sollte optimaler
Weise jedoch nicht von der Brand Identity abweichen, um Unstimmigkeiten zu
vermeiden. Einmal etabliert, bleiben Wissen und Einstellungen zur Medienmarke
stabil. Eben diese Image-Stabilität und die Übereinstimmung mit der Brand
Identity sind durch das Unbundling via Facebook Instant Articles gefährdet.
Medienmarken im Facebook-Kiosk 293
Die Image-Entwicklung für neue User einer Medienmarke oder von neuen,
unbekannten Medienmarken kann schwieriger werden. Jedes Markenimage setzt
zunächst einmal Markenbekanntheit voraus. Zwar betont Facebook, dass eine
markenspezifische Gestaltung der Artikel möglich ist, d. h., Logo, Schriftart
und Farbe können analog zum Online- bzw. Offline-Auftritt der Marke gestaltet
werden. Durch das auszugsweise Lesen von Inhalten auf dem sozialen Netzwerk
ohne Verlinkung zum Medienkernprodukt lässt sich eine Brand Awareness und
folgend ein klares Medienmarken-Image bei den Usern aber nur aufwendig
erreichen. Durch die Steuerung von Nachrichten über Empfehlungen von
„Freunden“ und den Facebook-Algorithmus weicht die Nutzung von Artikeln
zwischen einzelnen Publikumsmitgliedern ab. Damit können interindividuelle
Unterschiede beim Image zunehmen.
Typischerweise sind Medienmarken als Einzelmarken ohne ein Markendach
in einem „House of brands“ organisiert oder stehen in Beziehung zu einem
Stammprodukt („endorsed brand“). Mit dem Host Facebook kommt für Social-
Media-User eine externe, „markenfremde“ Ebene dazu. Dies könnte vor allem
bei qualitätssensitiven Medienmarken oder Marken, deren Image nur schwer
mit dem Image von Facebook vereinbar ist, zu einem Problem werden. Eine
Unstimmigkeit in der Imagewahrnehmung mit dem Sozialen Netzwerk kann auch
unabhängig von der Nutzung von Instant Articles bestehen. Bei einer negativen
Einstellung des Kunden gegenüber Facebook könnte sich das negative Image –
das auch durch einen kritischen öffentlichen Diskurs ausgelöst werden kann –
auf die Medienmarke transferieren. Die Markenkooperation würde so zu einem
Reputations- und Vertrauensverlust führen. Insbesondere informationszentrierte
„Qualitätsmedien“ sind jedoch auf Reputation und Vertrauen angewiesen.
Zusammengefasst zeigen sich Gefahren
1. für die Reputation von Medienmarken, deren Image (stark) vom Facebook-
Image abweicht,
2. für das Etablieren vom Markenimage bei neuen Usern und
3. für Marken, die wenig bekannt sind. Andererseits sind Medienmarken auf
Facebook als zusätzlichen Vertriebskanal angewiesen, um Bekanntheit zu
erlangen oder zu erhöhen.
294 J. Lischka und I. Krebs
Stefan Schulz
Zu Beginn eine Pointe, weil sie als solche gedacht ist. Doch achten wir diesmal
nicht nur auf den Wortlaut, sondern machen wir das Medium selbst zur Nachricht.
Der letzte Satz der Glosse, die am 10. Mai die Medienseite der „Frankfurter
Allgemeinen“ schmückt und seit dem Vortag auf faz.net ganz oben steht, lautet:
Über Facebook muss man nicht mehr wissen, als dass der Konzern natürlich keinen
„neutralen“ Nachrichtenalgorithmus hat, ganz gleich, ob er noch manipuliert wird
oder nicht.
Der Witz ist natürlich, dass Leser viel mehr über Facebook wissen sollten, als die
Autorin ihnen hier vorgibt. Die eigentliche Pointe ist aber eine andere, nämlich
dass sich die Zeitungsredaktion bei diesem Thema für das Format Glosse ent-
schied, also für die verlegen-humorvolle Themensetzung mit hinreichender Revi-
sionschance – oder wie man im Journalismus salopp sagt: persönliche Meinung.
Der Platz für Glossen in Zeitungen und auf ihren Internetseiten ist stets oben
in der Ecke. Die F.A.Z. beispielsweise entschied sich für den Platz in der Ecke
oben rechts. Egal welches Buch der Zeitungen man morgens aufschlägt, die Poli-
tik und die Wirtschaft beginnen mit einem pointierten Zweispalter in drei Absät-
zen; im Feuilleton und auf der Medienseite werden Glossen rechts oben in einer
Spalte und ohne Absätze durchgeschrieben.
S. Schulz (*)
Frankfurt, Deutschland
E-Mail: mail@stefanschulz.com
oder „CNN“ sie aufgriffen. Themen wiederum, die auf diesen Seiten auftauch-
ten, aber bei Facebook noch nicht debattiert wurden, wurden „in die Trending-
Topics injiziert“, damit sie auch bei Facebook stattfanden. Das Verschwinden von
„MH370“ oder der Terror von „Charlie Hebdo“ wurde auf diese Weise per „injec-
tion tool“ als „Trending-Topic“ fabriziert. Zuweilen besetzte Facebook sogar den
ersten Platz der „Trending-Topics“-Themenliste durch solch eine redaktionelle
Entscheidung.
Sei Facebook einmal selbst Thema in den Nachrichten, mussten erst mehrere
Manager zustimmen, ehe das Thema in die „Trending-Topics“ aufgenommen
wurde. Als Konkurrent in diesem neuen Nachrichtengeschäft waren die Mitarbei-
ter angehalten, Twitter als Quelle oder Thema möglichst zu vermeiden. Wenn ein
Thema bei Twitter omnipräsent war, bei Facebook aber noch fehlte, wurden Mit-
arbeiter „schreiend“ angewiesen, diesen Sachstand schleunigst zu ändern, berich-
tete ein Mitarbeiter.
#BlackLivesMatter sei in die „Trending-Topics“ aufgenommen worden, nach-
dem Zuckerberg öffentlich dafür kritisiert wurde, dass dieses Thema nicht auf-
tauchte. Immer wieder habe es Themen gegeben, die in die „Trending-Topics“
aufgenommen wurden, „damit das Netzwerk wie der Ort aussieht, an dem Men-
schen über harte Nachrichten diskutieren“. „Wenn diese Themen auf Facebook
nicht trenden, würde das Facebook schlecht aussehen lassen“, sagte einer der
Kuratoren aus Facebooks Team.
Der letzte Satz gibt Anlass zu Spekulationen: Denn für wen genau sähe Face-
book denn schlecht aus, wenn manche politische Themen nicht auf Facebook
diskutiert würden? Zumindest eine Antwort ist einfach: Facebook sähe bei den
Menschen schlecht aus, die in Wahlkampfzeiten – beispielsweise im Jahr einer
Präsidentenwahl – milliardenschwere Wahlkampfbudgets investieren, dorthin,
wo sie das Publikum vermuten, ein Publikum, das angeblich viel über politische
Themen diskutiert. Aus dieser Perspektive ist die laufende Debatte für Facebook
besonders schädlich.
Ein ehemaliger Mitarbeiter, der sich selbst als eher konservativ einschätzt und
die Arbeit seiner Kollegen argwöhnisch beobachtete, führte ein kleines digitales
Logbuch und notierte: Scott Walker, Rand Paul, Steven Crowder, Mitt Romney,
Glenn Beck und andere konservative Medienmacher und Politiker schafften es
nicht in die Trending-Topics, obwohl sie und ihre Themen quantitativ dafür mehr
als qualifiziert gewesen seien. Es stellen sich also nüchterne, ökonomische Fra-
gen: Soll man auf Facebook Werbebudgets verbraten, allein um gegen die politi-
schen Haltungen der Mitarbeiter des Unternehmens anzuarbeiten?
Die Facebook-Lüge 301
Felix Stalder
Digitalität – das meint nicht nur Computer, Smartphone oder Internet. Digitali-
tät ist mehr, greift in alle Lebensbereiche ein, ist kennzeichnend für eine Epoche.
Momentan wird die Kultur der Digitalität maßgeblich von Playern wie Facebook
geprägt. Hat die Zivilgesellschaft ausgedient oder muss sie nach neuen Waffen
suchen?
In den 1990er Jahren entstanden eine Vielzahl kultureller Nischen, die durch
die direkte und bewusste Auseinandersetzung mit neuen Technologien geprägt
waren. Im Zentrum des Interesses stand die Vielfalt und die Andersartigkeit, wes-
halb man auch immer darauf achtete über digitale Kulturen im Plural zu sprechen.
In meiner Arbeit spreche ich nun von der Kultur der Digitalität im Singular.
Damit will ich darauf hinweisen, dass es etwas Gemeinsames gibt. Etwas, das
alle diese Phänomene, die sich seit den 1990er Jahren ja nochmals massiv ausge-
breitet haben und heute den Mainstream bilden, durch gewisse Strukturmerkmale
verbindet.
F. Stalder (*)
Wien, Österreich
E-Mail: felix@openflows.com
Für mich sind Medien Technologien der Relationalität, das heißt sie erleichtern
es, bestimmte Arten von Verbindungen zwischen Menschen und zu Objekten zu
schaffen. „Digitalität“ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf
Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transfor-
mation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordi-
nation persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.
Damit soll weniger die Dominanz einer bestimmten Klasse technologischer
Artefakte, etwa Computer, ins Zentrum gerückt werden und noch viel weniger
soll das „Digitale“ vom „Analogen“, das „Immaterielle“ vom „Materiellen“ abge-
grenzt werden. Auch unter den Bedingungen der Digitalität verschwindet das
Analoge nicht, sondern wird neu be- und teilweise sogar aufgewertet.
Auf der Suche nach neuen Waffen: Überwachung, Commons … 305
Damit rückt meine Konzeption der Digitalität in die Nähe des Begriffs des
„Post-Digitalen“, wie er in kritischen Medienkulturen seit einigen Jahren ver-
mehrt verwendet wird. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen „neuen“ und
„alten“” Medien und der ganze mit ihr verbundene ideologische Ballast, etwa
dass das Neue die Zukunft und das Alte die Vergangenheit repräsentiere, abge-
lehnt.
Die ästhetischen Projektionen – Immaterialität, Perfektion und Virtualität –,
die nach wie vor das Bild des „Digitalen“ bestimmen, werden ebenso verworfen.
Es ist vor allem in Bezug auf diese techno-utopische Ästhetik und die mit ihr ver-
bundenen ökonomischen und politischen Perspektiven, dass sich „post-digital“
kritisch positioniert.
Für eine breitere Analyse ist der Begriff des Post-Digitalen jedoch problematisch,
denn er braucht den engen Kontext der Medienkunst und deren Technikfixierung,
um als Gegenposition lesbar zu werden. Ohne diesen Kontext sind Missverständ-
nisse nicht zu vermeiden, das Präfix post- wird oft in dem Sinne gelesen, dass
etwas vorbei sei oder dass man zumindest nun verstanden habe, worum es geht
und sich Neuerem zuwenden könne.
Das Gegenteil trifft zu. Die meisten langfristig relevanten Entwicklungen
nehmen erst jetzt konkrete Form an, nachdem sich digitale Infrastrukturen und
die durch diese in den Mainstream gebrachten Praktiken im Alltag breit gemacht
haben.
Denn erst heute, wo die Faszination für die Technologie abgeflaut ist und
ihre Versprechungen hohl klingen, wird die Kultur und Gesellschaft in einem
umfassenden Sinne durch Digitalität geprägt. Vorher galt dies nur für bestimmte,
abgrenzbare Bereiche. Diese Hybridisierung und Verfestigung des Digitalen, die
Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digi-
talität ihre Dominanz.
Heute in einem allgemeinen Sinn von „Post-Digitalität“ zu sprechen, ist, als
würden wir das 17. Jahrhundert als „Post-Print“ bezeichnen, nur weil sich die
Werte der Buchkultur allgemein zu verbreiten begannen und nicht mehr auf einen
kleinen Kreis von Gelehrten beschränkt waren.
306 F. Stalder
Wenn Digitalität zur dominanten Kultur wird, dann verändert sich das Feld und
die Wahrnehmung bestimmter Akteure. Nehmen wir Hacker, im engeren Sinn von
Computerhacker. Sie sind diejenigen, die am besten die infrastrukturellen Bedin-
gungen verstehen und diese auch noch am besten verändern können.
Ich halte es allerdings für einen fatalen Fehler, dass die unzweifelhafte Kom-
petenz auf einem Gebiet – des technischen Machens – als privilegierter Zugang
zur Realität verstanden wird. Vielfach beruhen komplexe technische Systeme auf
trivialen anthropologischen bzw. soziologischen Annahmen, was sehr problema-
tisch ist.
Hacker im weiteren Sinne, also Menschen, die komplexe Systeme so umkonfi-
gurieren können, dass sie für etwas eingesetzt werden können, das nicht im Sinne
der Erfinder ist, sind heute notwendiger denn je. Wir sind in immer mehr Situa-
tion mit Systemen konfrontiert, die wir nicht einfach verlassen können, die aber
dringend dazu gebracht werden müssen, Dinge zu tun, die ihre Schöpfer nicht
intendierten. Denn wenn weiter alles nach Plan funktioniert, dann werden die
sozialen und ökologischen Probleme nur zunehmen.
Modelle entwickelt werden, die nicht auf Überwachung und Ausbeutung beruhen.
Das müssen wir aber selbst machen. Der „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff)
wird das nicht für uns bereitstellen. Und das wird nicht ohne Kämpfe gehen,
womit wir wieder bei den Notwendigkeit der richtigen Waffen wären.
Und jetzt?
Wir befinden uns mitten in einem historischen Wandel, der sich in den Grundzü-
gen weder steuern noch aufhalten lässt. Die Gutenberg Galaxis ist zu Ende. Wenn
man bedenkt, dass diese nicht nur Aufklärung und technischen Fortschritt, son-
dern auch die Kolonialisierung, den Holocaust und den Klimawandel hervorge-
bracht hat, dann kann man dieses Ende nicht nur rein negativ sehen.
Man sollte sich aber fragen, welche Werte einem besonders wichtig sind, und
wie man diese unter veränderten Voraussetzungen weiterentwickeln und stärken
kann. Dabei darf man aber nicht an den Formen festhalten, sondern muss ich auf
die Inhalte konzentrieren.
Was heißt etwa „Demokratie“ wenn wir sie nicht an Formen der Partizipation,
die im Wesentlichen aus dem 18 Jahrhundert stammen (Wahlen, alle 4 Jahre) fest-
machen? Wie sähen zeitgemäße Formen aus? Das ist eine Generationenaufgabe,
aber klar ist, dass sich der kollektive Wille nicht nur in Form eines Kreuzes auf
einen Stück Papier artikulieren kann.
URL: http://berlinergazette.de/digitalitaet-ueberwachung-commons/ vom 14.
Juli 2016.
Besser reden mit unseren Lesern
Stefan Plöchinger
Wir haben einen Fehler im System. Nämlich in den Foren der Nachrichtenseiten.
Es ist Zeit, das zuzugeben. Wir müssen den Leserdialog neu denken.
Ich glaube, dass die Diskussion über das Thema überfällig ist. Darum will
ich meine Sicht auf das Problem schildern, die Gedanken vorstellen, die wir uns
gerade machen, und zum Schluss Lösungsvorschläge skizzieren. Anfangen aber
will ich mit der Post, die ich von Lesern zum Thema bekomme.
Manche beklagen sich tatsächlich über den Untergang der Meinungsfreiheit,
weil sie in unseren Foren zensiert werden. Sinngemäß poltern sie: „Bloß weil ich
einen blöden Satz über Schwule geschrieben habe, sperren Sie mein Kommentar-
profil. Ist es schon wieder soweit?“ Seit einigen Monaten mischen sich darunter
mehr Mails anderer Menschen. Sie beklagen, wir würden die Man-wird-doch-
noch-mal-sagen-dürfen-Ausfälle ersterer Leser nicht scharf genug zensieren. Sie
S. Plöchinger (*)
München, Deutschland
E-Mail: stefan.ploechinger@sz.de
jeder versteht etwas anderes darunter, was die Sache nicht leichter macht. Aber
ein paar Sachen wissen wir über jenes Phänomen, das unter dem Begriff gefasst
wird.
Wieso das Gepöbel vermutlich doch nicht nur von einem harten Kern einzelner
Menschen ausgeht, sondern die Unmenschlichkeiten zutiefst menschlich sind,
hat jüngst Evelyn Roll in einer SZ-Wochenendausgabe analysiert. Das Essay ist
„Pöbelmaschine“ betitelt und beginnt mit einem wunderbaren Vergleich:
wechselt. Die Frau tritt hart in die Bremse und ruft: ‚Du blöder Wichser, hast wohl
einen Vollschuss an der Latte! Mach dich wech in deiner elenden Bonzenschleuder.‘
Als sie erkennt, dass der Wichser eine Frau ist, sagt sie auch noch: ‚Oh, fuck! Tussi
am Steuer! Hätte ich mir denken können! Und so was hat Führerschein, dämliche
Kuh, blond gefärbte!‘ […] Wenn diese Frau nicht gerade allein am Steuer sitzt, hält
sie sich für taktvoll und zivilisiert, für eine Liebhaberin von Diskretion und Anstand.
Gestern noch hat sie ihren Studenten einen Vortrag gehalten darüber, was der Verlust
an Zivilisiertheit für die Menschenwürde bedeutet. […] Offenbar reicht schon ein
kleiner Schreck, dazu das Bewusstsein, dass niemand zuhört, und, zack, ist der Fir-
nis der Zivilisiertheit gerissen. Die Frau im dunklen Auto bin ich. Warum mache ich
so was? Nur, weil mich niemand hören kann? Was stellt Anonymität mit zivilisierten
Menschen an?
Die österreichische Medienjournalistin Ingrid Brodnig hat ein Buch über Anony-
mität im Netz, deren Wert und Folgen, deren Sinn und Unsinn geschrieben. Sie
unterfüttert die geschilderten Erfahrungen aus der Pöbler-Praxis mit Theorien und
Studien. Ihre differenzierte Betrachtung lohnt zu lesen, sie sortiert das Phänomen
und verweist zum Beispiel auf den „Online Disinhibition Effect“, auf Deutsch in
etwa: die „Online-Enthemmung“. Diese entsteht durch die
Knackiger auf Englisch die Faktoren nach John Suler, zitiert nach diesem auf-
schlussreichen Wikipedia-Artikel:
Wem das noch zu kompliziert ist, den verweist Brodnig zur Vereinfachung auf die
„Greater Internet Fuckwad Theory“:
Es ist die alte Streitfrage zwischen Print- und Onlinekollegen: Wenn sich jeder
Leserbriefschreiber mit Name und Anschrift bekennen muss, wieso nicht auch die
Netzdiskutanten? Würde das nicht Missbrauch erschweren und die Diskussion
ziviler machen?
Anonymität ist in Wahrheit das falsche Wort in der Debatte. wutmann71 mag
für normale Leser nicht erkennbar sein als Hans Wurst aus München-City, wenn
er auf einer Nachrichtenseite über eine jüdische oder muslimische Weltverschwö-
rung schreibt. Aber die Redaktion kennt sein Profil und seine Mailadresse, oft
auch den echten Namen. Er ist identifizier- und ansprechbar. Darum ist Pseudony-
mität der angemessene Begriff.
Pseudonymität ist ein Bonus, den wir kommentierenden Lesern zugestehen,
damit in Zeiten weiträumiger Netzüberwachung durch NSA, Regierung und
Unternehmen Äußerungen nicht mit Klarnamen auf immer und für jeden goog-
lebar werden. Das Recht, nicht hundertprozentig digital verfolgbar zu sein, ist in
einer Demokratie eine wichtige Errungenschaft, deren Erhalt es abzuwägen gilt
Besser reden mit unseren Lesern 315
Bei vielen Websites, Onlinediensten und Medien findet bereits ein Umdenken
dahingehend statt, dass Störenfriede und Schreihälse nicht zum Nachteil jener, die
konstruktiv mitdiskutieren wollen, geschützt gehören. Für einzelne Websites und
Onlinedienste kann eine Abkehr von der Anonymität durchaus eine Lösung sein
[…]. Doch eine totale Abkehr von der Anonymität ist eine ziemlich einschneidende
Maßnahme; wie wäre es denn, wenn man es zuerst mit etwas sanfteren Methoden
versuchte? Stichwort: Moderation.
Man muss wegen der pseudonymen Pöbler und Trolls im Netz die Idee der Anony-
mität nicht aufgeben. Man kann ihnen schreiben: Ihr Ton und Ihre Unterstellungen
verderben unsere Debattenkultur. So wie man versuchen kann, einen Popler an der
Ampel streng anzuschauen, damit er sich selber peinlich wird. Viel einfacher ist:
wegklicken, den Troll nicht füttern, den Pöbler ignorieren, seine Kommentare nicht
online schalten, entfreunden auf Facebook, nicht mehr folgen auf Twitter. Und wenn
morgens um sieben an der Ampel wieder einer neben einem in seinem Auto sitzt mit
dem Finger tief in der Nase? Gar nicht erst hinschauen. Geht doch.
Das ist ein Appell an die Klugheit der vielen anderen. Anders gesagt: Nervige
Mitschüler zu ignorieren, hat noch jeder Klasse gutgetan.
Besser reden mit unseren Lesern 317
Leserdialog
Das Argument, Moderation sei Zensur, ist grundfalsch. Nie war die Chance,
irgendwo irgendwelche Thesen zu publizieren, so groß wie heute im Netzzeit-
alter. Wieso aber sollten ausgerechnet Nachrichtenseiten mit ihrem Multimil-
lionenpublikum dieser Ort sein – wenn alle dort davon genervt sind, Leser wie
Redakteure? Wieso ändern wir nicht unsere Regeln so, dass Menschen durchkom-
men, die wirklich etwas beizutragen haben?
Damit zu Ideen, die Interaktion mit den Lesern neu zu denken.
Die allererste Überlebensfrage, die sich eine Nachrichtenseite stellen sollte
im allumfassenden Wettbewerb im Internet, wo jeder einen harten Markenkern
braucht und eine sauber definierte Zielgruppe: Für wen machen wir das hier alles
eigentlich?
„Für unsere Leser“ – antworten nach meiner Erfahrung viele Journalisten vie-
ler Seiten spontan und leicht wohlfeil, denn „für die Verleger“ oder „fürs Geld“
ist verpönt. Dass sich so viele Kollegen hinter dieser Antwort versammeln kön-
nen, liegt vor allem an deren Unschärfe. Denn für welche Leser genau arbeitet
man genau? Eher die Google-Leser, die ein- oder zweimal im Monat zufällig
vorbeischauen? Die Stammleser, die quasi täglich kommen und bestenfalls einige
wenige hunderttausend sind, aber irgendwann auch ein Abo bezahlen würden?
Die Eliten aus Politik, Wirtschaft, Kultur, weil wir Journalisten uns in dieser
Gesellschaft wohlfühlen, oder die einfachen Leute? Die Leser, die unsere Marke
schon lange kennen, oder das möglichst große Massenpublikum, weil man die
Strahlkraft der Marke ja im Netz vergrößern kann? Eher die Jungen, weil sie die
Zukunft sind, oder die Alten, weil sie Geld haben? Lieber die Hippen, oder die
Hartarbeitenden, oder die Schnittmenge aus beiden?
Journalisten fällt es oft noch schwer, ein klares Bild der gewünschten Kern-
gruppe zu skizzieren. Die publizistischen Profile der verschiedenen Nachrichten-
seiten differenzieren sich gerade erst aus, zugegeben viel zu spät. Entsprechend
spät kristallisiert sich auch das publizistische Verständnis vom Ideal-Leser jeder
Seite sowie dem erwünschten Dialogangebot für ihn. Und so gibt es recht unent-
schieden fast überall noch irgendwelche Kommentarfunktionen, die routiniert
schicksalsergeben runtermoderiert werden, soweit es das Budget erlaubt; bei
manchen also intensiver, bei anderen weniger. Nur wenige Seiten – wie der Stan-
dard in Österreich – versuchen, für reichlich Geld neue Lösungen zu entwickeln
wie eine Selbstmoderation der Diskutanten. Abwarten, was diese Investition
bringt.
318 S. Plöchinger
1. Konzentrieren
Irgendwer, vermutlich Spiegel Online, hat auch in Deutschland damit angefan-
gen, dass jedes Thema auf jeder Nachrichtenseite direkt dort kommentiert werden
soll, wo ein Text publiziert worden ist. Vor zehn Jahren war das plötzlich Markt-
standard. Und ist es immer noch, obwohl die digitale Welt seither gelernt hat,
bessere Diskussionen auf Plattformen wie Facebook, Twitter, Google Plus oder
Disqus zu organisieren.
Wieso noch Debatten zu jedem Text auf unseren Seiten anbieten, statt dorthin
zu verlinken, wo meistens mehr und anregender über diese Texte geredet wird?
Wieso alles auf der eigenen Seite unter Kontrolle haben wollen – was vom Auf-
wand her eh nie kontrollierbar war und niemals sein wird, selbst wenn wir drei-
mal so viele Moderatoren hätten? Wieso die Debatte auf unseren Seiten nicht auf
zwei, drei, vier große Themen am Tag konzentrieren?
Konzentrieren heißt auch: Die Diskussion, die noch auf der eigenen Seite
stattfindet, klarer fokussieren. Mit Beteiligung der Redaktion, zumindest in
Gestalt eines informierten, engagierten Moderators.
Die „New York Times“ überlegt sich seit langer Zeit, zu welchen Texten und
Themen sie Debatten zulässt, weil sie das Gespräch im Wortsinn führen will –
und tut das dann auch. Bei ihr finden niveauvolle Debatten statt, auch mit Pseud-
onymen.
In einer klugen Reduktion der Diskussion liegt eine Chance: wenn dadurch
mehr Zeit bleibt für das Herausheben und Moderieren guter Argumente; wenn
dadurch der Ton stimmt; wenn die vielen Leute, die niemals Kommentare schrei-
ben würden, sie aber lesen, sich besser fühlen in einer echten Gemeinschaft der
Leser und irgendwann vielleicht auch mitmachen wollen.
Besser reden mit unseren Lesern 319
2. Ernst nehmen
Wer miterlebt hat, wie oft wir wichtige Anregungen von Nutzern für unsere
Leser-Aktion „Die Recherche“ bekommen, wird nicht mehr lange über Pseud-
onymität oder Klarnamen nachdenken, sondern den Beteiligten einfach danken,
egal wie sie genannt werden wollen. Wer Leser ernsthaft einbezieht und ihnen
nicht bloß ein Biotop für irgendwelche Äußerungen bietet, kann mit ihrer Hilfe
tatsächlich besseren Journalismus machen. Das ist uns durch die Reihe klar
geworden.
Leser ernst zu nehmen, kann sich in vielen Formen äußern. Zeit Online pub-
liziert zum Beispiel Leserartikel. Wir haben zweimal kartenbasierte Umfragen
zu kontroversen Münchner Projekten gemacht (1, 2). Über das Diskussionsni-
veau war da nie zu klagen. Wir machen Videoformate mit Redakteuren, die auf
Leserfragen antworten, kuratieren gute Leserbeiträge für die Forumsseite in der
Zeitung und haben eine Mood Map zur Steuergerechtigkeit crowdsourcen lassen.
All das schafft Mehrwert für Nutzer, die mitmachen, wie auch für Nutzer, die das
Ergebnis anschauen.
Die Leser so ernst zu nehmen, dass wir ganze Erzählungen um ihre Anregun-
gen und Beiträge herum stricken – das tun wir noch viel zu selten. Ich bin mir aber
sicher, dass wir immer, wenn wir es tun, ein paar sporadische Leser zu Stammle-
sern machen. Wann sonst kann ein Leser so Einfluss nehmen auf das Programm
einer Nachrichtenseite? Pöbler können bei solchen Dialogangeboten versuchen,
ihr Werk zu verrichten. Aber in der Masse der Ernsthaften gehen sie unter.
Paywall. Ich bevorzuge den Begriff Leserklub, weil ich glaube, dass der Journalis-
mus der digitalen Zukunft eine wohlmeinende Offenheit braucht.
Nun kann man Leser in einen Klub auf vielerlei Art einladen. Einladend ist,
wenn Foren auf Nachrichtenseiten keine Kneipen mit Schreikultur sind, son-
dern Salons mit Streitkultur – selbst wenn es am Ende weniger Salons als Knei-
pen gibt. Einladend ist, wenn Lesern zugehört wird, die Anregungen haben oder
Kritik vorbringen; wenn sie mitmachen können, sobald sich eine gute Gelegen-
heit bietet. Einladend ist, wenn wir immer wieder Experimente wagen, die Spaß
machen und/oder Mehrwert bieten.
Ich will die Erwartungen auf unsere weiteren Ideen für einen neuen Leserdia-
log nicht zu hoch schrauben. Wie das ideale Angebot aussieht, weiß keiner. So ist
das in der neuen, unsicheren, agilen Medienwelt. Wir werden bald Experimente
wagen, damit sich unsere Stammnutzer am Ende wohler fühlen. Hoffentlich. Wir
fragen uns gerade: Wie werden die klassischen Trolle reagieren, wenn wir unsere
Foren verändern? Werden einzelne Veränderungen auch gut meinende Forennut-
zer vergrätzen? Die darunterliegende Frage: Wie schaffen wir es, klug ein Kom-
munikationsproblem zu lösen, das nicht alle Leser als gleich oder gleich schlimm
wahrnehmen? Wie viel Rücksicht müssen wir bei Reformen nehmen, und wie
viel dürfen wir nehmen?
Wir werden lernen dabei. Doch aus Angst vor Veränderung weiterzumachen
wie bisher, würde die Fehler im System zementieren. Das erleichtert nichts. Mit
dieser Taktik haben wir lange genug Erfahrungen gemacht.
URL: http://ploechinger.tumblr.com/post/90956559317/besser-reden-mit-unse-
ren-lesern vom 6. Juli 2014.
No Comment – Wer leistet die
Verdichtung
Christoph Kappes
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
Auf der Suche nach Antwort auf Paradoxien kann man verrückt werden. Und
obwohl die Debatte von Annahmen und Konzepten durchzogen ist, muss man
vielleicht sogar ganz theoriefrei die Meinungsäußerungen von Millionen Men-
schen in Millionen von Kommunikationssituationen einzeln analysieren, bevor
man mit „Trollen“, „Pöblern“ und dergleichen hantiert. Ganz aus dem Bauch her-
aus gilt für mich nach einigen Jahren Online-Diskussion: Wenn ich einen Troll
entdecke, frage ich mich als erstes, ob ich ihn selbst konstruiere. Pöblern halte
ich versuchsweise Dummheit und Kränkung zugute. Insgesamt nehme ich miss-
liebige Inhalte eher hin wie Regen und Schnee – und Profis müssen Jacken anzie-
hen. Diese Distanz ist aber sicher nicht jedermanns Sache.
Unabhängig davon ist es naheliegend, dass sich eine Gesellschaft ein paar
Jahrzehnte bei Auftreten eines neuen Mediums1 damit beschäftigt, wer wo mitre-
den soll.2 Die Debatte ist also keineswegs eine medieninterne, subjektive, sondern
sie geht alle an.
SZ – kein Aufreger
Ich finde den Standpunkt der SZ gut vertretbar, denn Kommentare anzubringen
ist ja nicht unmöglich, sondern sie finden nun auf SZ-eigenen Debatten-Seiten
statt. „Zensur“ ist es schon deswegen nicht, weil man so staatliche (Vor-)Zensur
bezeichnet. Es kann ja jeder sagen, wo er will – das Internet bietet ja mit dem
Link die zentrale Funktion einer Referenz auf einen anderen Inhalt. Man könnte
sogar sagen: Was formal Links zwischen Dokumenten und Dokumentstellen sind,
kann ja inhaltlich als „Kommentar“ genutzt werden. Und wenn die neuartigen
SZ-Debatten in relevante Bereiche vorstoßen, wird dort ohnehin der bevorzugte
Platz fürs meiste Meinen sein. Ein Aufreger ist die neue Kommentarpolitik der
SZ also nicht.
1Zumal, wozu auch schon einiges gemeint wurde, das Internet eher ein Metamedium ist,
ein Container für alles, ergänzt um neue Zugriffsweisen, Ebenen, Räume usw.
2… auch wenn es eh nur alle tun und diskutieren, die Zeit, Kompetenz und Nerven dazu
haben.
No Comment – Wer leistet die Verdichtung 323
3Im Unterschied zu den meisten (Mit-)Menschen halte ich das Trollschema für einen
Schutzmechanismus meiner Psyche, um mich mit dem Fremden und Anderen nicht befas-
sen zu müssen. Beleidigen können mich ohnehin nur Menschen, die ich ernst nehme, und
das ist a priori bei Menschen, die mir negative Eigenschaften zuschreiben und die mich
nicht kennen, nicht der Fall. Wobei ich gerne zugebe, dass diese Dickhäutigkeit für einen
alten, weißen Mann viel leichter herstellbar ist als für einen Menschen, der öfters Diskrimi-
nierungen ausgesetzt ist.
324 C. Kappes
Die Störer-Schemata „Troll“ und „Pöbler“ machen es allen leichter, ihre Abwehr-
maßnahmen zu begründen. Über den echten Troll, der ein eigenes Spiel spielt,
wurde viel geschrieben, gegen ihn ist kaum ein Kraut gewachsen.
Der „Pöbler“ pöbelt auch über Banalitäten, wenn er aber politisch wird,
erfüllt er eine gesellschaftliche Aufgabe. Erstens: Die Empörung ist, das mag
gefallen oder nicht, die Mutter der Demokratie (Sloterdijk) und insoweit legi-
tim. Früher hätte man von „Gegenöffentlichkeit“ gesprochen. Zweitens: Opposi-
tion gegen Herrschaft ist und darf mit Emotion verbunden sein; Ungerechtigkeit
4Die Credits für die Verwendung gehen an Kathrin Passig, die letzte im Internet auffindbare
Quelle ist von 1995 und vermutlich so alt wie das Erfundensein von Kuchenbacken und
Schule gleichzeitig, ergoogelt also seit dem 2. Jahrhundert vor Christi Geburt, wobei wir
der Einfachheit halber so tun, als hätte der persische Golf (Schule, 4000 v. Chr.) über 3000
Jahre darauf gewartet, dass frühestens 800 v. Chr. ein Grieche dort einen Kuchen backt
(wahrscheinlich war es aber eher andersherum.).
No Comment – Wer leistet die Verdichtung 325
macht zornig. Drittens: Es gibt keinen Grund für eine Erwartung, dass sich die
Habermas’sche Utopie eines rationalen Diskurses ausgerechnet unter den Bedin-
gungen des Internets beim gemeinen Bürger verwirklicht, wenn sich nicht ein-
mal Stars, Journalisten und Intellektuelle bei Talkshows an einfachste Regeln des
Aussprechenlassens halten. Viertens: Die Grenze ist ohnehin fließend, wie „Troll“
Uwe Ostertag, von der FAS hier porträtiert (treffend-böse zu diesem Text Gregor
Keuschnig hier), durch seine Antwort zeigt. Ironie, Intervention und „Populis-
mus“ sind ja nicht verboten, vielleicht ist solch ein Fall nur ein Mengenproblem?
Aus diesen Gründen ist die Idee, den Pöbler (weg-)zumoderieren, mindestens mit
Fragezeichen zu versehen.
In jedem Fall hat der Pöbler aber auch eine informationsökologische Funktion.
Sicher gibt es Pöbler mit schlechter Laune, Dummheit, Aggression und patholo-
gisch-psychischen Problemen. Aber wo der Troll irritiert und die Kommunikation
befällt wie ein Virus das Immunsystem, ist der Pöbler die Figur, die vielen ande-
ren Arbeit abnimmt. Der Pöbler ermöglicht allen, dass sie sich benehmen können,
wo eigentlich zu pöbeln wäre.5 Der Pöbler markiert die Stelle, die zur Bepöbe-
lung geeignet ist – er ist ein Wegweiser, ein Filter-Indikator, ein Relevanzmarker
im neuen digitalen Meer.
Für den Löschbeirat habe ich kürzlich hier eine Fingerübung gemacht, um den
Zynismus und die Verachtung zu herauszuarbeiten, die Autoren wegen ihres blin-
den Flecks nicht sehen können. Kolumnen-Schreihälsen, jungen „wilden“ Auto-
ren sowie alten „missmutigen“ Autoren (also fast allen) gelingt es immer wieder,
ihre Abscheu gegenüber bestimmtem Verhalten so pauschal und vage zum Aus-
druck zu bringen, dass sich ganze Bevölkerungsteile angesprochen fühlen – der
Hang zum „Narrativ“ versperrt die Analyse. Der sodann entstehende Trollbefall
und Nano-Shitstorm sollte als wertvolle Markierung angesehen und deutlich
angezeigt werden: Kommentarspalte unbegehbar = Beitrag bestritten. (Leider
bringen Fake-Kommentare das Kommentarsystem als Ganzes in einen paranoiden
Zustand. Vielleicht wird aus diesem Grund doch lieber gelöscht.)
5Auf solche Irrwitzigen Bemerkungen kommt man nur, wenn man zu lange nachdenkt –
Was soll das? Sie Troll!
326 C. Kappes
Es wäre naiv, auf das Web als Kommentarraum zu verweisen, nur weil es diesen
technisch abbilden kann. Auf einer Beziehungsebene geht es darum, ob der eine
dem anderen Aufmerksamkeit verschafft: Der Zeitungsverlag dem Leser nämlich.
Es entstehen Tauschverhältnisse unter den Beteiligten: Der eine gibt, der andere
nimmt, und zugleich gibt der Nehmende etwas zurück. So gibt ein Leser mit sei-
nem guten Leserkommentar lesenswerten Inhalt zurück, im Gegenzug darf er
die Bühne für Sichtbarkeit benutzen – der Tausch geht auf. Diese ökonomische
Perspektive auf Verlag und „nützliche“ wie „schädliche Leser“ erhellt die Prob-
lematik. Der Troll ist aus dieser Perspektive nur ein Nehmender und gibt Irrita-
tion zurück – kein Deal für den Verlag. Trolle auszusperren und die Diskutanten
etwa wie beim Spiegel Online nur noch untereinander Aufmerksamkeit tauschen
zu lassen, macht also ökonomisch durchaus Sinn – und zwar ganz unabhängig
davon, ob Personalkosten entfallen könnten (vgl. Ploechinger hier). Demgegen-
über könnte es sogar sein, dass Journalisten gern Haltung, Qualität und Unab-
hängigkeit betonen, weil es ihnen unmoralisch vorkommt zu sagen: „Ich habe
keinen Bock, mich mit solchem Mist zu beschäftigen, denn weder werde ich
dafür bezahlt, noch bringt es mich voran.“ Unter drei hört man solche Sätze aber
schon. Warum auch nicht, was wäre falsch daran? Gerade Berufsinformationsver-
arbeiter müssen klug mit ihren Ressourcen umgehen. Vielleicht wäre es mal Zeit
für eine ordentliche Publikumsbeschimpfung, statt sich an Trollen abzuarbeiten.
Dahinter steckt eben nicht immer ein kluger Kopf, sondern manche misanthro-
pische Arschgeige. Leider gilt es als ungehörig, Arschgeigen als Arschgeigen zu
bezeichnen – oder liegt es am ökonomischen Verhältnis zum zahlenden Kunden?
Wenn wirklich „Online-Enthemmung“ das Problem ist (mehr hier im Abschnitt
„Theorie der Pöbler“), würde ein Leser-Pranger gute Dienste leisten. Aus Gepö-
bel könnten Debatten gemacht werden: Kolumne „Der letzte Dreck – Jetzt schla-
gen wir zurück“.
Pöbeltum auf die Marke zurückwirkt – Fakten, die schon wegen eines werbefi-
nanzierten Geschäftsmodells nicht durchgehen können. Wenn jemand parasitär
Aufmerksamkeit frisst, dann darf es nur die Werbung sein, mit der sich Journa-
lismus finanziert. Inhalt mit Trollbefall ist nicht vermarktbar. Parasiten, die jour-
nalistische Stücke vorkosten, sind nicht erwünscht, weil sie das Geschäftsmodell
gefährden. Schlimmer noch: es unterliegen werbefinanzierte Journalismusange-
bote dem Fluch der Happiness, dem Facebook unterliegt. Wo dort nur „Gefällt
mir“ vorgegeben wird, ist in werbefinanzierten Onlinemedien das Hässliche,
Unflätige, Schmutzige nicht erwünscht. Streit muss schön und wohlgeformt sein,
sonst verkauft er nicht.
Beide, die Massenpublikation und das soziale Netzwerk, werden nur in
puncto Happiness noch übertroffen vom Blogger, der sich auf sein Hausrecht
beruft, obwohl ihn sein WordPress.com-, Tumblr-, Squarespace- und Google-
Plus-Account nichts gekostet hat und er sich sein Blog in nur zehn Sekunden
zusammengeklickt hat. Er proklamiert also Herrschaftsrechte an geistigen Gütern
Dritter und schließt aus der Anbringung von Grafiken und einer Ein-Euro-
Domain, dass er Kommentare nach Belieben löschen dürfe. Dahinter liegt in allen
Fällen die Vorstellung, dem Anderen stünde Aufmerksamkeit auf dem eigenen
Claim nicht zu. Der Kommentator muss sich schon seine Aufmerksamkeit selbst
verdienen, es sei denn, der (Blog-)Geber gewährt sie in fürstlicher Art, als Gegen-
gabe nach einer Gabe von Inhalt (0:39).
Soll nun jeder alles sagen, überall? Technisch macht das Internet es möglich,
sozial ist es aber zweifelhaft. Es muss jeder eine Grenze ziehen, der Kommuni-
kation zustande kommen lassen möchte, indem er andere Kommunikation eben
nicht zustande kommen lässt – die „Selektionsleistung“ ist ein alter Luhmann-
Hut. Freie Räume für „Jedermannkommentare“, in denen also jeder jedem
jederzeit ohne Bedingung und ungeordnet antworten kann, werden unter den
Bedingungen des Internets möglich, sie dürfen aber nicht die Regel werden, weil
das Kommunikation und Sinnfluss eher behindert als fördert. Grenzziehung ist
eine Selektionsleistung, wenngleich die öffentliche Unordnung von 4chan und
Etherpad auch ihren Reiz hat. Auch das Geschäftsmodell zwingt zu einer Grenz-
ziehung. Das Ergebnis ist, dass zwei Kräfte in dieselbe Richtung wirken.
Das spricht für „zentrales Wegsteuern“ von Kommentarmassen beliebigen
Inhalts. Es spricht einiges für eine Drehung von „Kommentar“ zu „Community“,
einem nicht content-, sondern lesergetriebenen Ansatz: die Chance auf sinn-(!)-
328 C. Kappes
Ja, so ist es gemeint: Es mag um der höchsten Ziele von Demokratie und Mei-
nungsfreiheit richtig sein, dass jeder alles kommentiert. Doch findet durch die
neuen Möglichkeiten des Internets eine Atomisierung der Öffentlichkeit statt
und ebenso gesunkene Barrieren führen zu einer Unordnung. Technische Öffent-
lichkeit wird leichter, kommunikative „Öffentlichkeit“ schwieriger – Klaus
Kusanowsky erklärt es häufiger im Blog und weist auch daraufhin, dass die
Unordnung geradezu die Ursache ist dafür, dass alle immer lauter werden beim
Versuch, irgendjemanden zu überzeugen, der gar nicht adressiert ist (Erklärung
z. B. hier).
Diese neuen Bedingungen erschweren zunächst (gegenüber der Internet-Vor-
zeit) den Meinungsbildungsprozess in der Demokratie, der Meinungen erst ver-
dichten muss, damit entschieden werden kann. Neue Mittel der Strukturbildung
sind also notwendig – und Social Media leistet es auch: Twitter (Facebook) mit
Retweets (Teilen), Hashtags, sozialen Graphen und Relevanzselektion von Inhal-
ten.
Massenmedien, die keine vergleichbaren Mechanismen haben, die also Hun-
derte Kommentare einfach nur auflisten, können keine Verdichtung leisten. Sie
bieten einen Einblick in die Denkwelt des gemeinen Kommentaristen, aber sie
lasten dem Leser den Verdichtungsaufwand auf, der neulich noch die ureigenste
Aufgabe der Medien war. Der erhöhte Durchsatz an Inputs kann nicht mit weni-
ger Struktur auskommen, die Inputs müssen mehr Ordnung haben, damit die
Leistung sich nicht verschlechtert. Dies wäre dann eine schöne Begründung,
warum SZ und auch Krautreporter mit der eingeschlagenen Richtung richtig
liegen.
Das Buch hat die Kommunikation der Gesellschaft und damit auch die Gesell-
schaft stark verändert: Kritik bezog sich auf einen Inhalt, der nicht mehr flüchtig
war, und sie selbst war ebenso verkörpert und konnte sich dadurch leicht verbrei-
ten. Noch ist nur eine Vorahnung, aber sie ist recht naheliegend: Das Internet als
nächstes mediales Paradigma ist der Turbo der Kritik.
Erstens: „Streiterei“ nimmt nicht nur bei Leserkommentaren zu. Sie ist gut
auf Twitter zu sehen: Kurztexte setzen Bedeutungen voraus, fehlende Kontexte
verursachen Missverständnisse, Welten mit unterschiedlichen Kulturmustern,
Sprachcodes und Zielen („Medien“) prallen aufeinander (und führen vielleicht
die Gesellschaft auf eine evolutiv höhere Stufe: „Entdifferenzierung der gesell-
schaftlichen Teilsysteme“ durch „neuartige Assimilations- Reintegrations- und
Identitätsprozesse“).
Zweitens: Als Verstärker wirken internetspezifische Erregungseffekte (s. Peter
„Rauschebart“ Kruse), gespeist aus Publikums-Content der spontanen Meme und
Anti-Irgendwas-Tumblr.
Drittens: Populistische Formate wie Kopp und DWN, „Reality“-Fakes von
heftig.co und Journalismus-Attrappen (Credits für @niggi) der Huffington Post
sind erst der Anfang einer Emotionalisierung bis zur Argumentlosigkeit. Nach
Yellow Press und Unterschichten-Fernsehen (Harald Schmidt) kommt das Unter-
schichten-Internet – auch von Akademikern gern gesehen (siehe Antwort von
RTL auf Harald Schmidt).
No Comment – Wer leistet die Verdichtung 331
Wenn Kommentare bei Massenmedien nicht gut funktionieren, soll man Kom-
mentarmöglichkeiten einschränken, abschneiden, weglassen? Gegen alle drei
obigen diskursiven Brandbeschleuniger haben herkömmliche Massenmedien
auf Dauer kaum eine Chance auf Aufmerksamkeit, wenn sie einfach nur „publi-
zieren“, indem sie Texte in die Landschaft stellen und sich nicht um Resonanz-
räume kümmern. Wer sich als Leser nicht aktiv entscheidet, ein kommunikativer
Internet-Eremit zu werden, wird von jedem zweiten Leitkommentar durch ein
animiertes GIF abgehalten, das die Aufmerksamkeit umlenkt. Sinkende Klickra-
ten bei Displaywerbung zeigen, dass Menschen zwar lernen. Im Moment messen
aber Suchmaschinen wie soziale Netzwerke Masse statt Klasse und bevorzugen
so Aufmerksamkeitsdiebe.
Zudem kann eine Einzelpublikation wenig gegen die kulturelle Veränderung
der Diskussionsstile unternehmen: Wenn bei SZ und Welt gepöbelt wird, steigt
die Wahrscheinlichkeit für die FAZ ebenso.
Es gibt auch keine Impfung gegen Kritik-Infektion: Ein reeszett.de ist schnell
(vergleiche http://blog.refefe.de) gemacht, alle Akteure werden noch zu tun
bekommen mit neuen Watchblogs und anderen Beobachtern, die sich bisher nicht
artikuliert haben. Aggregatoren und Suchmaschinen und Linkgewebe machen
diesen „Critical Layer“ ohnehin erschließbar. Kein Medienakteur kann Kritik und
ihre Sichtbarkeit noch verhindern – die Frage ist also eher, ob er über die Folgen
von Kritik noch ein bisschen Kontrolle haben möchte, indem er sie selbst kriti-
siert.
So gesehen kommt die Frage, ob man noch kommentieren darf, seltsam naiv
vor. Die Frage ist eher, wohin sich der Kommentar-Überdruck entlädt – zur Kon-
kurrenz oder zu Facebook als Müllabfuhr der Kritik, wo alle Kritik möglichst
weit weg von der Zeitungsmarke schnellstmöglich in den Timeline-Orkus sickert?
Besser wäre eine Lösung, die Kritik filtert und in konstruktiv-dialektische For-
men transformiert, damit sie als Motor für sozialen und anderen Fortschritt fun-
gieren kann.6
6Auf marodierende und verbal-brandschatzende Rentner dürfen wir uns jedenfalls einstel-
len, die den Jungen die Bildungsbudgets kürzen.
332 C. Kappes
Der Kommentar zwar kein Format von Gewicht, er ist kleiner als der neudeut-
sche „Microcontent“; der Artikel, der Leitkommentar etc., sie alle sind die großen
Sinneinheiten, die eine Debatte tragen. Doch ist der „Kommentar“ ein Stück kul-
turelle Verarbeitung durch „die Massen“, er verarbeitet im Grunde den kulturel-
len Nährstoff großer Texte sichtbar zu Kulturkompost und trägt den Dung weiter,
bis er überall den Boden fruchtbar machen konnte (http://de.wikipedia.org/wiki/
Kompostierung). So können die Nährstoffe in einer großen Verstoffwechselung
ausgewählt und wieder in neue kulturelle Artefakte integriert werden. Wer online
kommentiert, spricht über etwas, und dieses online Sprechen macht den kultu-
rellen Prozess. Kopie und Link als Technik kompostieren nicht, sie lassen alles
unberührt oder ändern Kontext und Fokus. Sie ver-, zer- und be-arbeiten aber
nichts, erst der Kommentar als Sinnverarbeitung leistet das.
Diese Micro-Verarbeitung mit dem „Kommentar“ als kleinstem Baustein darf
man daher auch politisch nicht unterschätzen. Sie ist der Meinungsbildungspro-
zess im digitalen Raum (und nicht „ein Leserbrief“). Sie ist Teilhabe an Öffent-
lichkeit, genauer: es entstehen hierdurch erst Teil-Öffentlichkeiten. Der Prozess
besteht eben nicht nur aus dem Lesen und stillen Verarbeiten von Texten. Daher
würden Verlage (genauer: alle kommerziellen Online-Inhalte-Angebote) durch
die Abbildung von Leserkommentaren eine öffentliche Funktion erfüllen.
Kann man, fragt Jochen Wegner von ZEIT Online, Debatten Facebook überlas-
sen? Wo sollen die Menschen denn sonst kommentieren, wenn nicht bei Massen-
medien? Natürlich kann jedermann irgendwo „ins Internet schreiben“, geringe
Medienkompetenz vorausgesetzt: Tumblr, Jimdo, WordPress, Squarespace sind in
Minuten aufgesetzt. Wer aber keine fremde Aufmerksamkeit auf seinem Haben-
konto hat, singt sein Lied allein im All – das ist also politisch keine Lösung.
Facebook ist für 1,3 Mrd. Menschen individuell eine Option, aber als Zentral-
plattform für politische Debatten scheidet es aus, solange es nicht zu Neutralität
verpflichtet werden kann und dieses auch nicht prüfbar ist oder es keine ver-
gleichbaren Alternativen gibt. Die Manipulation des Newsstreams kann ein
Desaster sein.7 Für Verlage scheidet die Plattform im übrigen auch aus, weil sie
7Das Problem ist nicht die „Filter Bubble“, siehe mein MERKUR-Text hier.
No Comment – Wer leistet die Verdichtung 333
Sebastian Baumer
Der deutsche Online-Journalismus will mich nicht als Kunde. Dabei ist es eigent-
lich gar nicht so schwer, mich als Kunden für Journalismus im Netz zu gewinnen.
Ich bin sofort bereit, nicht nur Werbung in Kauf zu nehmen, sondern sogar für
Texte im Netz zu bezahlen.
Was ich suche? Nur das Übliche, das, was ich seit einigen Jahren gewohnt
bin: Intelligente, gerne auch lange Texte („Long-Reads“), tiefer gehende Analy-
sen aus Politik, Wissenschaft und Kultur, ein paar wiederkehrende Kolumnen von
Leuten mit starker Meinung und offenem Geist, eben den Qualitätsjournalismus,
den ich aus den Print-Formaten kenne, die ich allerdings aus Zeit- und Gewohn-
heitsumstellungsgründen immer weniger am Kiosk zu kaufen und dann umständ-
lich auf Papier zu lesen in der Lage bin.
Hier stehe ich also, mitteljunger Leser der alten Schule, bereit, völlig rei-
bungslos in die digitale Welt rübertransformiert zu werden, Geräte alle vorhan-
den, Affinität zum Bildschirmlesen auch seit Jahren antrainiert, kann losgehen,
Leute. Im Grunde will ich gar nicht so viel mehr als die gedruckte, bewährte Zei-
tung als Webseite, wenn es sein muss mit Log-in, von mir aus hier und da ein
Video oder eine interaktive Grafik. Es sollte also wirklich einfach sein, mich als
zahlenden Digitalkunden zu gewinnen, oder?
Das Absurde ist: Es existiert so ziemlich alles mögliche (inklusive eigener
Facebook- und Twitter-Redaktion), aber genau das Angebot der gedruckten Zei-
tung in vernünftiger digitaler Form, das existiert nicht. Das muss man mehrfach
schreiben, um es durch Wiederholung zu betonen: Ausgerechnet das in Print seit
S. Baumer (*)
Hamburg, Deutschland
E-Mail: baumer@silpion.de
Diese Ausrichtung wird als „Zukunft des Journalismus“ verkauft, weil ein
paar amerikanische Webseiten, die man nur mit viel geistiger Verrenkung jour-
nalistisch nennen kann (Buzzfeed, Vice) damit massiv Traffic erzeugen und mit
diesem Traffic die Werbekunden überzeugen.
Den „richtigen“ Journalismus, den gibt’s in Deutschland nicht im Netz (eng-
lischsprachige Gegenbeispiele: New Yorker, Aeon Magazine, Blogs wie Wait-
butwhy, etc.), nur lieblos kostenpflichtig zum Download in einem dem Papier
ähnelnden Format oder maximal als ein paar Tage später nachgeschobene Zweit-
verwertung einiger Artikel.
Das absolut Naheliegendste, die schlichte digitale Spiegelung der wirklich
lesenswerten und intelligenten Inhalte, die bereits vorhanden sind und die seit
Jahren Käufer finden, das liegt fast verschämt hinter einen Link zum PDF oder
zur App, in der man es dann noch mal runterladen muss, nachdem man sich regis-
triert hat und irgendeine einem merkwürdig vorkommende Zahlweise angegeben
hat, die sich selbst erneuert, zum gleichen Preis der Printausgabe, obwohl keine
Druck- und Logistikkosten mit drin sind.
Oder anders gesagt: Die seit Jahren zum Teil sehr treuen Print-Leser, die nicht
nur Geld ausgeben wollen und können, sondern sich auch mit dem jeweiligen
Blatt identifizieren, genau die Leute, die eigentlich die Kern-Community auch im
Netz werden müssten, hohe Prio, Bernd, die sind den Verlagen dort scheinbar ein
eher ein lästiges Anhängsel. Gepflegt und hofiert wird stattdessen eine über zufäl-
lige Facebook-Links kommende LOL-Masse.
Man kann eigentlich nur hoffen, dass die deutschen Verlagshäuser mit dieser
absurden Strategie so richtig auf die Schnauze fallen, ja, vielleicht auch in Teilen
einfach pleite gehen. Danach werden eventuell wieder ernsthaftere, auf Langfris-
tig- und Nachhaltigkeit ausgerichtete Modelle entstehen, und zwar in digitaler,
webbasierter Form. Stirb schneller, Journalismus.
URL: https://lampiongarten.wordpress.com/2015/10/05/suche-qualitaetsjour-
nalismus-im-netz-biete-geld/ vom 5. Oktober 2015.
Warum die Diskussion pro und contra
Adblocker unsinnig ist
Thomas Stadler
T. Stadler (*)
Freising, Deutschland
E-Mail: ts@cplus.de
ihnen dies möglich ist. Werbepausen im Fernsehen überbrücken die meisten Men-
schen mit der Fernbedienung, Briefkastenwerbung unterbindet man durch den
bekannten Aufkleber oder dadurch, dass man Prospekte und Werbebeilagen direkt in
die Papiertonne verfrachtet. Was bei E-Mails der Spamfilter ist, ist für Websites der
Adblocker. Die Legitimität der Werbevermeidung wird auch von niemandem infrage
gestellt, außer von den Werbetreibenden selbst und auch das war schon immer so.
Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man wie Jan Gleitsmann die Nut-
zer von Adblockern als asozial beschimpft. Bedeutet das im Gegensatz etwa, dass
sozial ist, wer Werbung treibt? Oder muss man nicht vielmehr beide Annahmen als
sinnfrei betrachten? Das Treiben von Werbung ist ebenso legitim wie das Anliegen,
diese Werbung nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Deshalb halte ich es auch für
überflüssig, sich lange mit Argumenten pro und contra aufzuhalten. Die Benutzung
eines Werbeblockers bedarf keiner besonderen Begründung. Dass man die Werbung
nicht sehen will, ist als Grund nämlich völlig ausreichend. Es ließe sich an dieser
Stelle auch formaljuristisch argumentieren und darauf verweisen, dass die Rechts-
ordnung den Einsatz von Werbeblockern nicht verbietet. Das ist freilich auch der
Grund dafür, dass die Verlage ähnlich wie beim Leistungsschutzrecht für Presseer-
zeugnisse langsam damit anfangen, auch hier nach dem Gesetzgeber zu rufen.
Mit welchen Bandagen werden die Werbetreibenden also künftig gegen
Adblocker kämpfen? Den juristischen Kampf haben sie in erster Instanz bei meh-
reren Landgerichten zunächst verloren. Und auch wenn ich das Geschäftsmodell
von Adblock Plus durchaus für diskutabel halte, übrigens anders als die bislang
damit befassten Landgerichte, wird kaum ein Gericht Werbeblocker per se ver-
bieten. Die Werbetreibenden können vorerst also nur an die Nutzer appellieren, so
wie das SZ oder FAZ praktizieren, oder es mit einem Brachialmodell versuchen,
wie es BILD derzeit tut. Es wäre durchaus interessant zu sehen, was passiert,
wenn sich viele großen Informationsportale dem BILD-Modell anschließen und
das ist letztlich auch die Hoffnung, die Stephan Goldmann in seinem Blogbei-
trag artikuliert. Würden sich die Nutzer dem beugen und ihre Adblocker wieder
abschalten, um die Inhalte überhaupt sehen zu können, oder würden die großen
Verlage und Portale wegen des zurückgehenden Traffics zurückrudern?
URL: http://www.internet-law.de/2015/10/warum-die-diskussion-pro-und-con-
tra-adblocker-unsinnig-ist.html/ vom 18. Oktober 2015.
Zeitungsverlage und
Wirtschaftsjournalismus: Die Grenzen
der Diversifikation
Jan Krone
Aus Verlagen werden Medien- oder gleich Mischkonzerne, thematisiert wird das
in den hauseigenen Presseprodukten jedoch kaum. Die Glaubwürdigkeit des Jour-
nalismus gerät in Gefahr.
Nach der Erkenntnis von sich im Medienwandel verändernden Erlösmodel-
len für Tages- und Wochenzeitungen setzen die Verlage verstärkt auf sogenannte
Diversifikationserlöse aus Nebengeschäften. Doch der Erfolg multipel aufgestell-
ter Handelsplattformen kann das Kerngeschäft „seriöser Journalismus“ nachhaltig
unterminieren. Die Grenzen der Diversifikation sollten bei Geschäftsfelderweite-
rungen jederzeit mitgedacht werden.
Das Erreichen des sogenannten binary turn ist im Zeitungsverlagsgeschäft
die gegenwärtige Aufgabe von Management und Redaktionsverantwortlichen.
Mit dem ausgelaufenen Jahr 2013 verdichten sich Anzeichen, dass insbesondere
mittelgroße und große Verlagshäuser dem Trend einiger Vorreiter hin zu Medien-
Mischkonzernen folgen. Mitteilungen über Spin-offs markengebundener oder
markenungebundener eCommerce-Aktivitäten drängen in die Brancheninforma-
tionen und stehen für ein kommerzielles Ausgründen von Service-Rubriken und
Werberaum der redaktionell gestalteten Bündel Tages- und Wochenzeitung.
In einem ZEIT-Interview thematisiert Burda-Vorstand Paul Bernhard Kallen
neben anderen Problemfeldern das Verhältnis von Massenmedien und Werbekom-
munikation generell. Dabei nimmt er aus der Burda-Perspektive Bezug auf die
sich im Medienwandel verändernde Werbevermarktung, wie die daraus für Ver-
lage entstehenden Optionen für Nebengeschäfte.
J. Krone (*)
Institut für Medienwirtschaft, FH St. Pölten, St. Pölten, Österreich
E-Mail: jan.krone@fhstp.ac.at
Hier soll der Fokus auf Tages- und Wochenzeitungen gerichtet werden, deren
Wirkung/Reichweite auf lokale, regionale und überregionale Wirtschaftsbericht-
erstattung schwerer wiegt als in den Gattungen Zeitschrift (Ausnahme Nachrich-
tenmagazine), kommerzielles Radio und Fernsehen.
prächtigen Bilanzen führte) die von der Gesellschaft erwarteten Leistungen unterlau-
fen, mittelfristig zugunsten von Warenhandelshäusern um ihre Markenstärke bringen
und die Vielfalt unabhängiger, kontinuierlicher Berichterstattung weiter schwächen.
Leonhard Dobusch
Nach einer ersten Phase des Hypes rund um (vermeintliche) Potentiale von
„Sharing Economy“ ist mittlerweile Ernüchterung eingekehrt. Proteste gegen
Mobilitätsplattformen wie Uber und der Boom von AirBnB in Gegenden mit
knappem Wohnraum lassen die Skepsis gegenüber den Versprechen der Sharing
Economy wachsen. Bei aller berechtigter Kritik am anfänglichen Hype droht die
jetzt einsetzende Gegenbewegung das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn,
erstens, werden mit dem Label „Sharing Economy“ sehr unterschiedliche Arten
kollaborativen Wirtschaftens bezeichnet und, zweitens, sind die Auswirkungen
von Sharing Economy je nach Ansatz und Regulierung sehr unterschiedlich.
Gemeinsam ist den verschiedenen Spielarten von Sharing Economy, dass sie
nur deshalb möglich sind, weil digitale Technologien Transaktionskosten reduzie-
ren und neue Dienstleistungen praktikabel machen. Während sämtliche Varianten
von Sharing Economy auf diesen neuen technischen Möglichkeiten aufbauen,
sind die Auswirkungen je nach Typus von Sharing Economy durchaus unter-
schiedlich. Im Folgenden wird zu Illustrationszwecken eine grobe Differenzie-
rung zwischen zwei verschiedenen Arten von Sharing Economy vorgenommen:
L. Dobusch (*)
Institut für Organisation und Lernen, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
E-Mail: Leonhard.Dobusch@uibk.ac.at
Bekannte Beispiele für diese Form der Sharing Economy sind Plattformen wie
„CouchSurfing“ oder die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia (Abb. 1).
Im Fall von CouchSurfing bieten Menschen mit einer Gästecouch oder einem
Gästezimmer anderen für kurze Zeit eine Möglichkeit zur kostenlosen Übernach-
tung. Sowohl AnbieterInnen als auch NutzerInnen verfügen über eine Profilseite
und können sich nach einer Übernachtung gegenseitig bewerten. Auf diese Weise
wird Vertrauen kommodifiziert, sinkt das Risiko „wildfremde“ Menschen bei sich
zu Hause zu beherbergen: Wer bereits viele positive Bewertungen erhalten hat,
dem wird eher vertraut als Neulingen. Zentrale Leistung der Plattform Couch-
Surfing ist es, an kurzzeitigen Übernachtungsgästen Interessierte mit potenziellen
Gästen zusammenzubringen. In den Nutzungsbedingungen von CouchSurfing ist
es dabei explizit verboten, für die Übernachtungsmöglichkeit Geld zu verlangen.
Tun das Anbieter dennoch, können sie gemeldet und gesperrt werden. Im Vor-
dergrund sollen Gastfreundschaft und wechselseitiges Kennenlernen stehen und
nicht Profitmotive – zumindest bei den NutzerInnen der Plattform.
Die Plattformbetreiber können durchaus Profitmotive verfolgen; solange bei
den Beitragenden und NutzerInnen der Plattform kein unmittelbar reziproker Aus-
tausch von Gegenleistungen erfolgt, handelt es sich tendenziell um nicht-marktli-
che Formen der Sharing Economy. Noch eindeutiger als bei Couchsurfing ist das
bei der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia der Fall. Weder erhalten deren frei-
willige AutorInnen eine Vergütung noch müssen die NutzerInnen der Wikipedia
dafür bezahlen. Und auch die Wikimedia Foundation, die Betreiberin der Wiki-
Softwareplattform, ist eine spendenfinanzierte Non-Profit-Organisation. Erst digi-
tale Technik ermöglichte es tausenden dezentral verteilten Freiwilligen ihr Wissen
mit anderen zu teilen und zu einer kollektiv verfassten Enzyklopädie beizusteuern.
Jenseits von Hype und Ernüchterung: Zwei Gesichter … 349
können über die Plattform AirBnB kurze Phasen von Leerstand überbrücken oder
überhaupt die Chance für profitablere Verwertung ihres Wohnungseigentums im
Vergleich zu herkömmlicher Vermietung sehen. NutzerInnen sehen in AirBnB
eine oft kostengünstigere Alternative zu Hotels und schätzen bisweilen auch den
unmittelbar-persönlichen Kontakt mit VermieterInnen. Genauso wie bei Couch-
surfing können sich sowohl AnbieterInnen als auch NutzerInnen gegenseitig
bewerten und so zur Bildung von Vertrauen beitragen. Angesichts des reziproken
Austauschs geldwerter Leistungen – Wohnraum gegen Geld – ist die Rolle von
AirBnB aber nicht nur jene einer Vernetzungsplattform, sondern auch die eines
Marktplatzes.
Analog zu AirBnB ist die Situation beim anderen prominent-umstrittenen Fall
von Sharing Economy, der Mobilitätsplattform Uber. Auch hier geht es um den
unmittelbar reziproken Austausch geldwerter Leistungen, von Taxiservices über
Kurierdienstleistungen bis hin zu Ridesharing.
Eine unmittelbare Folge des primär kommerziellen, marktlichen Charakters
von Plattformen wie AirBnB und Uber ist jedoch auch, dass bestehende gesetz-
liche Regelungen des Hotel- oder Transportgewerbes bzw. zur Beschäftigung
(schein-)selbstständiger MitarbeiterInnen einschlägig und anzuwenden sind –
zumindest bei Überschreiten von Umsatzgrenzen, die auf Gewerbsmäßigkeit hin-
deuten.
mit ein und derselben Plattform sowohl positive als auch negative Externalitäten
einhergehen. Im viel diskutierten Fall von AirBnB hängen die Externalitäten ent-
scheidend von Kontextbedingungen wie dem Wohnraumangebot, Leerstand sowie
Nutzungsweise (Gelegenheitsnutzung vs. Vollzeitnutzung sowie gewerbliches vs.
nicht-gewerbliches Ausmaß) ab.
In vielen Fällen sind jedoch nur geringfügige Anpassungen bestehender Regu-
lierungen erforderlich, um diesbezügliche Herausforderungen zu adressieren.
In der Regel ist die Beantwortung der Frage der Gewerbsmäßigkeit anhand der
Überschreitung von Umsatzgrenzen ein guter Indikator für die Notwendigkeit
der Anwendung entsprechender Regelungen auch auf neue Formen von „Sharing
Economy“, also im Fall von AirBnB beispielsweise bei gewerbsmäßiger Vermie-
tung von Privatwohnungen in Form der analogen Anwendung von Bestimmungen
für Ferienwohnungen.
Die Tendenz zur marktbeherrschenden Stellung weniger großer Sharing-
Plattformen kann diesbezüglich sogar einen Vorteil darstellen, weil die Platt-
formbetreiber ein natürlicher Ansprechpartner für die Durchsetzung bestehender
Regelungen (z. B. Einhebung von Abgaben) auch im Bereich der Sharing Eco-
nomy sind. In bestimmten Fällen kann jedoch auch eine Änderung bestehender
Regulierungen geboten sein, insbesondere wenn Geschäftspraktiken vor allem der
Wettbewerbsvermeidung oder Regulierungsumgehung dienen.
Dieser Beitrag ist in leicht adaptierter Form in der Zeitschrift Wirtschaftspoli-
tik-Standpunkte der Arbeiterkammer Wien erschienen (Ausgabe 1/2016).
URL: https://netzpolitik.org/2016/jenseits-von-hype-und-ernuechterung-zwei-
gesichter-der-sharing-economy/ vom 23. März 2016.
Crowdwashing
Crowdfunding kleidet sich gerne in den Mantel der Alternative zum bestehenden
System. Doch Crowdfunding ist nicht „Capitalism Light“. Es ist einfach Capita-
lism.
Crowdfunding ist aktuell der ganz heiße Scheiß. Beim klassischen Crowdfun-
ding werden potenzielle Produkte direkt an die potenziellen Abnehmer herange-
tragen: „Wirf 50 € in den Topf und wenn 50000 € zusammenkommen, wird diese
Kaffeemaschine in Gartenzwergform Realität und Du bekommst eine der ersten.“
Auf der größten Plattform Kickstarter beispielsweise wurden nach diesem Modell
im Jahr 2013 von 3 Mio. Menschen insgesamt 480 Mio. US$ eingesammelt. Die
Virtual Reality Brille Oculus Rift wurde so mit Kapital versorgt genau wie eine
kaum noch überschaubare Zahl an Videospielen, kleinen technischen Gimmicks
oder Büchern. Nicht alle Projekte sind dabei „klassisches Crowdfunding“ in dem
Sinne, dass sie ohne ein erfolgreiches Funding gar nicht existieren werden; mitt-
lerweile existieren über Plattformen wie Flattr oder Patreon auch Möglichkeiten
Menschen für die Dinge, die sie sowieso tun, zu unterstützen.
Crowdfunding ist aber mehr als nur eine Möglichkeit, für das eigene Projekt
Geld einzusammeln. Crowdfunding trägt schon den Begriff der Crowd im Namen
und impliziert damit eine Form der Gemeinschaft gegen die übermächtigen Pow-
ers-that-be: „Wir hier werfen alle gemeinsam Geld zusammen, damit wir endlich
die gartenzwergförmige Kaffeemaschine haben können, die SIE nicht finanzieren
wollen!“ Crowdfunding gibt sich wie Punk: Widerstand gegen bestehende Struk-
turen.
In diesem Framing gedacht wirkt Crowdfunding wie ein perfekter Ansatz für
das Netz, die logische Weiterentwicklung der Ideen des Internets in den Bereich
der Ökonomie. Es ist dezentral und verteilt die „Last“ über viele einzelne, alleine
möglicherweise im Vergleich eher „schwache“ Peers. Dieser Ansatz ist disruptiv
und nimmt den wenigen mächtigen Entitäten, die bisher als Gatekeeper auf dem
Zugang zum Markt sitzen (indem sie beispielsweise Gründungsfinanzierung lie-
fern), ihre exklusive und exkludierende Macht. Unabhängigkeit at last!
Aber es ist was faul im Staate Crowdfunding. Dabei ist eines der offensicht-
lichsten sicherlich die Ökonomisierung sozialer Beziehungen, wie es Christoph
Kappes nannte. Denn bei der ersten Ansprache potenzieller Unterstützender wird
üblicherweise das engere soziale Netzwerk involviert: „Freunde, ich brauche
Euch euer Geld“. Nun ist es nicht verwerflich, die eigenen Freunde und Kontakte
auch in ökonomischen Fragen um Hilfe zu fragen1 und bei gemeinsamen Interes-
sen befriedigt so eine Kampagne sogar möglicherweise ein bestehendes Bedürf-
nis der Peergroup. Die eigenen sozialen Beziehungen auf diese explizite Weise in
wirtschaftliche Verhandlungsmasse umzusetzen fühlt sich dennoch eher ungut an.
„Beziehungen sind das neue Öl“?
Denn bei allen Versprechungen macht Crowdfunding eben nicht unabhängig.
Es macht abhängig von anderen, nicht mehr der Bank oder einem anderen Kapi-
talgeber sondern dem weiteren, eigenen sozialen Umfeld. Natürlich sind wir alle
immer abhängig von den Menschen um uns, das ist ja was ein soziales Netzwerk2
ausmacht (nicht die Softwareplattform sondern diese Dinge, in denen wir
gemeinsam leben). Durch Crowdfunding überlagern wir allerdings unsere Sup-
portstrukturen mit einer finanziellen Ebene, die die Beziehungen sehr schnell
belasten kann: Wenn Freunde die Investoren werden, wird der Projektfehlschlag
schnell zum Ende einer Freundschaft.
Insbesondere bei Medien-Crowdfunding für Bücher, Spiele oder Journalismus
birgt eine solche Verbindung zu den Lesenden oder Spielenden auch deutliche
Gefahren: Wie reagiert mein Publikum, wenn ich Dinge schreibe oder produziere,
die nicht direkt den Wünschen meiner Lesenden entsprechen? Wo vorher Verlage
oder Publisher Publikationen vorfinanzierten und die Lesenden diese dann halt
kauften oder nicht, ist das Publikum selbst nun Vorfinanzierer mit daraus abge-
leitet einer anderen Anspruchshaltung. Die gefeierte Unabhängigkeit entwickelt
sich so einfach zu einer anderen geistigen Fessel.
Crowdfunding ist immer auch Werbung. Ein einfacher Weg, eine große Menge
Buzz zu generieren schon bevor es überhaupt ein Produkt gibt. Geld einzusam-
meln, bevor man irgendetwas geliefert hat. Crowdfundende sind mehr als nur
Käufer, sie sind gefühlt am Entstehensprozess beteiligt und so auf einem ganz
anderen Level motiviert auch ihre eigenen Freunde vom Projekt zu überzeugen.
Eine solche Goldgrube bleibt natürlich nicht lange unausgebeutet. Durchaus
erfolgreiche Filmemacher nutzen mittlerweile Crowdfunding, um Filme zumin-
dest teilzufinanzieren. Das minimiert das Risiko für das Filmstudio: Die Werbe-
kampagne ist eingebaut und relativ günstig und es muss weniger eigenes Geld
eingesetzt werden. Die eventuellen Profite aus dem Verkauf des Films bleiben
natürlich trotzdem beim Studio.
Doch auch für die Fundenden ist Crowdfunding nicht nur eine Möglichkeit,
endlich die Produkte zu bekommen, von denen man immer geträumt hat, son-
dern auch problematisch. Das Investitionsrisiko liegt verteilt auf jedem und jeder
Einzelnen. Doch können die Menschen, die das Geld beisteuern wirklich ein-
schätzen, ob das versprochene Projekt oder der Projektplan überhaupt realistisch
sind? Haben sie die Fähigkeiten und das Wissen um eine fundierte Entscheidung
zu treffen? Wer schon mal was gecrowdfundet hat wird wissen, wie viele der
Projekte ihre Deadlines nicht einhalten. Nicht wenige Projekte fallen nach dem
erfolgreichen Funding direkt in Funkstille und lassen lange nichts von sich hören
bis dann irgendwann das Scheitern des Projektes verkündet wird. Jedes Entwick-
lungsprojekt birgt Risiken, je deutlicher bekannte Wege verlassen werden, desto
größer.
Für das oft kaum einschätzbare Risiko, welches die Crowd trägt, bekommt
diese das Produkt selbst. Keine Teilhabe, keine Aktien, keine Mitbestimmung.
Die Firma, deren Oculus Rift die Crowd finanziert hatte, wurde kürzlich für
2 Mrd. US$ an Facebook verkauft. Die Crowd, die durchaus Teil hatte an diesem
Erfolg, sah davon nichts.
Crowdfunding kleidet sich gerne in den Mantel der Alternative zum bestehen-
den System: In der Crowd ist alles kuschelig und es geht nur um coole Projekte,
die die bösen Firmen nicht wollen oder nicht verstehen. Aber Crowdfunding ist
eben nicht „Capitalism Light“. Es ist einfach Capitalism. Crowdfundende sind
normale Investoren, nur ohne Teilhabe, ohne Aktien und ohne Partizipation am
Erfolg.3 (Es hat gute Gründe, dass Investoren immer Aktien für ihr Geld neh-
men!) Crowdfunding ist Image, die Idee der Alternative und des Widerstands
ohne Alternative oder Widerstand zu sein.
3Es hat gute Gründe, dass Investoren immer Aktien für Ihr Geld nehmen.
356 tante (J. Geuter)
Analog zum Greenwashing möchte ich deshalb den Begriff des Crowdwa-
shings einführen. Crowdwashing ist eine Form der PR, die durch das Finanzie-
rungsmodell „Crowdfunding“ die Idee von Community und Teilhabe dieser auf
das eigene Produkt projiziert, ohne diese anzubieten.
Crowdfunding ist nicht generell schlecht. Viele wundervolle, alternative Pro-
jekte wurden auf diesem Wege erst möglich gemacht. Wenn man allerdings die
Domäne des Aktivismus und der Überzeugungstaten verlässt, wird Crowdfun-
ding schnell zu alternativromantischer Beteiligungs-PR und der Übervorteilung
von Menschen, denen der Zugang zu bestimmten Fähigkeiten oder Informationen
fehlt. Und das ist wenig revolutionär und „Internet“ sondern eher „same shit, dif-
ferent day“.
URL: https://connected.tante.cc/2014/06/16/crowdwashing/ vom 16. Juni 2014.
Warum ich die Krautreporter
unterstütze
Thierry Chervel
Gerade habe ich die 60 € für die Krautreporter überwiesen. Über 5000 künftige
Premiumnutzer haben das bereits getan. Wir dürfen uns darauf freuen, die Artikel
„unserer“ Reporter künftig kommentieren zu können.
Die 15.000 zahlenden Leser werden die Krautreporter auch noch erreichen – und
hoffentlich mehr! Damit wäre (mit der klitzekleinen Ausnahme des Perlentauchers)
das erste wirkliche Online-Medium in Deutschland entstanden. Ich meine damit ein
Medium im Feld allgemeiner Information, das sich – wie auch immer – aus eigener
Kraft finanziert und das nicht Ableger eines größeren Medienhauses ist. Vier Ein-
sichten der letzten 15 Jahre bewegen mich, die Krautreporter zu abonnieren:
T. Chervel (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: chervel@perlentaucher.de
New York Times etwa, Dean Baquet, hat in der Los Angeles Times die Informatio-
nen eines AT & T-Angestellten nicht gebracht – laut ABC-News (unser Resümee)
war das der größte Leak vor Snowden. Auch die New York Times hat zur Zeit der
Bush-Regierung Informationen aus Patriotismus zurückgehalten. Deutschen Zei-
tungen ist so ein Verhalten nicht fremd: Die taz wurde seinerzeit gegründet, weil
sich die übrigen Zeitungen zur Zeit der RAF-Anschläge der Nachrichtensperre
des „Großen Krisenstabs“ beugten. Ja, der Guardian spielte in der Geheim-
dienstaffäre eine Hauptrolle. Der Guardian ist aber auch diejenige Zeitung in der
Welt, die den Medienwandel am radikalsten gestaltet.
Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gegen Google zeigt,
dass selbst die traditionelle Öffentlichkeit, zu der Richter ganz sicher gehören,
inzwischen das Netz als die Öffentlichkeit betrachten. Ob eine Information in
Zeitungsarchiven verschimmelt – so ihre übrigens trügerische und falsche Mei-
nung (mehr hier) – ist letztlich irrelevant. Erst Google stellt die Öffentlichkeit her.
Zeitungen, die sich mit Paywalls vom Netz abwenden, kehren der Öffentlichkeit
den Rücken. Viele Zeitungen haben das Google-Urteil bejubelt. Sie bejubeln den
Verfall ihres Status.
Stefan Niggemeier hat in seinem Blog begründet, warum die Krautreporter,
anders als Mediapart in Frankreich oder De Correspondent in den Niederlanden,
keine Paywall aufrichten. Mag sein, dass sie den einen oder anderen „Longread“
in Zukunft absperren. Aber das Wesentliche kostenlos herzugeben, ist richtig,
denn ohne das wäre es nicht öffentlich. Hätten die Krautreporter systematisch mit
Paywall agiert, hätte ich sie wohl nicht unterstützt.
Das World Wide Web existiert seit zwanzig Jahren. Niemand hat mir in die-
ser Zeit vorgeführt, dass sich Journalismus refinanzieren kann, jedenfalls nicht im
Sinne eines profitablen Geschäftsmodells. Die jüngsten Diskussionen in der New
York Times, die als globales Medium eine sogar erfolgreiche Paywall hat, machen
deutlich, dass auch hier das ökonomische Problem noch längst nicht gelöst ist
(Marcel Weiß und Johannes Kleske diskutieren hier über dieses Thema). Mag
sein, dass einige englischsprachige Medien mit ihrem Vorteil der globalen lingua
franca ökonomisch irgendwie überleben werden. In kleineren Sprachen wird das
nicht funktionieren.
Zu 2: Also ja, wir müssen es einsehen. Es gibt keine Ökonomie der Information.
Und es hat sie wahrscheinlich nie so recht gegeben. Zeitungen transportierten
Information eine Zeit lang huckepack. Eigentlich waren sie die Googles und eBays
ihrer Zeit, die mit Rubrikenanzeigen ihre lokalen Märkte organisierten. Manche
dieser Zeitungen hatte sich einem Informationsauftrag verschrieben, andere ver-
standen sich als Unterhaltungsmedien. Die große Zeit der „freien Presse“ mit ent-
sprechendem Selbstverständnis reichte von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis
Warum ich die Krautreporter unterstütze 359
zur Entstehung des Internets. Zuvor waren die Zeitungen zwar Leitmedium, aber
sehr häufig weltanschaulich oder organisatorisch gebunden, nicht „frei“: Sie waren
katholisch, evangelisch, gewerkschaftlich oder kommunistisch und finanzierten
sich über Mitgliedschaften und Zwangsabos. Das ist nicht das, was man heute als
jene von Habermas besungene Öffentlichkeit versteht.
Magazine wiederum profitierten davon, dass Werbetreibende Kontakte such-
ten. Wie sollte Mercedes sonst mitteilen, dass es ein neues Modell gibt? Die
Magazine hatten eine Rente aus ihren TKPs – den Preisen, die Werbetreibende
für tausend Kontakte bezahlten. Der Spiegel hatte eine Million Auflage. Der TKP
für eine Seite lag bei 50 €. Preis für eine ganzseitige Anzeige: 50.000 €. Das ist
vorbei. Private Fernseh- und Radiosender spielen für die von mir hier fokussierte
demokratische Öffentlichkeit keine Rolle. Sie sind nicht in erster Linie journa-
listische Medien. Das wenige, das sie an journalistischer Information bieten, ist
ihnen nicht selten durch irgendwelche Staatsverträge aufgezwungen. Das Inter-
net hat diesen Konstruktionsfehler der demokratischen Öffentlichkeit bloß gelegt,
weil es die hochprofitablen Bündel, mit denen Information transportiert wurde,
aufgelöst hat.
der einzige denkbare Ort einer breiten Öffentlichkeit. Hauptimpulse dafür sollten
nicht von überkommenen Akteuren oder der Politik – sondern von den Bürgern
selbst kommen.
Darum ist die Idee der Krautreporter richtig: Wenn es keine Ökonomie der
Information gibt, dann müssen sich gesellschaftliche Gruppen und Akteure über-
legen, wie sie Öffentlichkeit selbst herstellen. Eine der möglichen Formen ist,
dass Journalisten sich ihre Finanzierung bei ihren Lesern suchen. Es gibt auch
andere: Medien, die durch Stiftungen oder durch Mäzene finanziert werden, wie
etwa propublica oder The Intercept.
Zu 4: Und natürlich muss auch die Idee einer durch die Öffentlichkeit finanzier-
ten und dennoch unabhängigen Information neu erwogen werden.
Nichts gegen das Öffentlich-Rechtliche, aber in Zeiten des Medienwandels
können Anstalten, die einst als Gegenbild der privaten Medien konzipiert wurden,
nicht einfach per Zwangsgebühr als Anstalten zementiert werden.
In Zeiten fehlender Geschäftsmodelle für unabhängig finanzierte Medien fal-
len die über 200 € jährlich, die die Bürger für „Tatort“ und „heute journal“ obli-
gatorisch hinblättern, zu sehr ins Gewicht. Sie beschneiden die Medienetats der
Bürger und erschweren somit Innovation, wie sie die Krautreporter verkörpern.
Das Spielgeld der Bürger für Neues ist zu gering. Acht Milliarden Euro – nicht
viel weniger als für die Kirchen, genauso viel wie für das gesamte Kulturleben
sämtlicher Bundesländer und Gemeinden – werden in einen Apparat gesteckt, der
dem Medienwandel mühsam und lustlos hinterherhinkt.
Überdies stehen die Anstalten in ihrer künstlich genährten Wonneproppigkeit
einem bröckelnden Print-Sektor gegenüber und teilen mit ihm eines der Haupt-
symptome: Ihr Publikum altert, auch wenn es ihnen durch ihre verfassungsge-
richtlich patentierte Endlosschleife nicht wegstirbt. Wie gesagt: Die Privatsender
zählen hier nicht, weil sie für Information kaum erheblich sind.
Die Idee einer öffentlich-rechtlich geförderten Öffentlichkeit müsste also
ganz neu formuliert werden. Der ursprüngliche Mangel, der die Anstalten legiti-
mierte – die raren Frequenzen, die keinen neuen Hugenbergs ausgeliefert werden
sollten – existiert nicht mehr. Die Gefahr lauert von anderer Seite: Zu schützen
und zu entwickeln wäre vor allem die Idee des offenen Internets: freie Informa-
tion, Open Access, Open Source.
Drei Kräfte bedrohen das offene Netz: die großen Internetkonzerne, die es sich
am liebsten ganz unter den Nagel reißen würden, die etablierte Medien- und Kul-
turindustrie, die die Informationen und Werke als ihr „geistiges Eigentum“ stets
durch ihre eigenen Kanäle zirkulieren lassen will, und die Staaten, die ihren Sou-
verän den Geheimdiensten ausliefern.
Warum ich die Krautreporter unterstütze 361
Die Piratenpartei hat leider auf ganzer Linie versagt. Aber die Fragen, die sie
stellte, bleiben akut. Eine Frage wäre: Welche Modelle lassen sich finden, um
auch Internetprojekte und -medien – etwa über Ausschreibungen – an der Ent-
wicklung einer neuen Öffentlichkeit partizipieren zu lassen? Ein Teil der der bis-
herigen Rundfunkgebühren müsste hierfür umgewidmet werden.
Diese Fragen werden sich nur in Medien wie den Krautreportern stellen las-
sen. Öffentlich-rechtliche Anstalten, aber auch Printmedien werden schon die
Diskussion mit allen Kräften abwehren.
URL: https://www.perlentaucher.de/blog/455_warum_ich_die_krautreporter_
unterstuetze.html vom 3. Juni 2014.
Sechs übellaunige Bemerkungen zu
den Krautreportern
Christoph Kappes
Das Krautreporter-Funding ist für die deutsche Medienszene ein besonderes und
ein positives Ereignis. Es ermutigt viele Journalisten, es zeigt Wertschätzung für
einen Beruf mittelmäßiger Reputation, es hilft aus Erstarrungs- und Opferpositio-
nen heraus.
Es wirkt übellaunig, schon am Folgetag des Fundings Beobachtungen aufzu-
schreiben, die den Siegestaumel stören könnten, zumal ich ja einige persönlich
kenne und schätze, zum Beispiel Christoph Koch und Hans Hütt (und sympa-
thisch sehen sie auch aus). Ich wünsche Ihnen nur das Beste. Aber: Wer Reporta-
gen macht, der muss dabei nicht nett sein. So ist es auch bei Beobachtungen und
Analysen – sie sind nicht immer nett:
Wer sog. „virale“ Information in Verkehr bringt, hofft darauf, dass andere seine
Botschaft kostenlos verbreiten, indem sie selbst Zeit und Aufmerksamkeit auf-
wenden und dieses in Netzwerkverbindungen ersten, zweiten und dritten Gerades
provozieren. Das ist die Stärke sozialer Netze, welche die bestehenden sozialen
Strukturen abbilden, die zumeist nicht aus ökonomischen Gründen gewachsen
sind. Wer auf Facebook verknüpft ist, ist tatsächlich aus sozialen, kulturellen,
politischen und Arbeitskontexten miteinander verbunden.
Crowdfunding, in diesem exzessiven und professionellen Maß wie bei Kraut-
reporter betrieben monetarisiert soziale Beziehungen zugunsten derjenigen, die
ökonomische Ziele verfolgen. (Die Kaskade, beginnend bei SpOn über andere
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
Medien bis zur Dosierung von Supportern und einem spannenden Endspurt mit
Sponsoren war erkennbar dosiert.)
Wer die Texte von Frank Schirrmacher gelesen hat, dem werden die Ohren
klingeln. Die Durchökonomisierung sozialer Strukturen und das Handeln mit
Kalkül, die Existenz von Systemen, die ein bestimmtes Handlungsmuster unter-
stellen und damit prägen, das war eines seiner Lieblingsthemen (z. B. Niederge-
legt im Buch „Ego“ und endlos vielen Interviews wie hier im taz-Interview). Man
muss ihm dabei nicht folgen (zum Buch hier im Merkur) und auch ich tue das
nicht. Für mich sind soziale Beziehungen genau dadurch strukturiert, ja: konstitu-
iert, dass Kennen (Daten über andere!) und Verpflichtungen (auf sozialer Ebene)
entstehen, gerichtet auf Ziele (Handlungen, Güter, Geld). Ist den Krautreportern
aber klar, was sie mit viralen Kampagnen strukturell tun, so sollten sie künftig
sorgsam mit dem Vorwurf der „Ökonomisierung“ in ihren Reportagen umgehen.
Wir haben für die physische Welt soziale Regeln entwickelt, die uns vor über-
raschenden Transaktionsversuchen schützen: Tupperpartys sind verpönt, Haus-
türwerbung ist reguliert, Zeugen Jehovas leben gefährlich und wer Freunden
Provisionsansprüche nicht aufdeckt, verhält sich unfreundlich. Telefonanrufe zu
Werbezwecken sind weitgehend verboten, laute metallene Klingeltöne über anste-
hende Kirchenveranstaltungen sind normiert – im Grunde ist jede Übernutzung
von technischen Kommunikationsmitteln sozial geächtet.
Wie kann es da in Social Media sozial in Ordnung sein, Informationswege
zu verstopfen und fremde Aufmerksamkeit zu kapern? Informationswege sind
unsere Informationsallmende. Zugegeben: mit meiner Logik hätte die französi-
sche Revolution nicht stattfinden können und es ist nicht weit bis zum distinguier-
ten Vorwurf „dgitaler Bettelei“. Trotzdem sollten informationsökologische Kosten
eigener Handlungen der Allgemeinheit nur in Grenzen aufgelastet werden, ganz
wie im Umweltschutz. Die Regel „Mehr Geld durch mehr Getöse“ halte ich
jedenfalls für asozial. (Und ich weiß, dass ich im Glashaus sitze.)
3. Der Preis für Werbefreiheit ist Werbung, der Preis für Unabhängigkeit ist
Abhängigkeit
Wie auch immer man sich zu Crowdfunding mit Social Media stellt: Es handelt
sich um nichts anderes als um Werbung, sozial verpackt (im Marketing-Sprech:
Word of Mouth, von Mavens etc.). Sie speist sich in das digitale Nervensystem
Sechs übellaunige Bemerkungen zu den Krautreportern 365
ein und verlagert eigentlich genau deswegen, weil sie das Endprodukt werbefrei
halten will („distortion-free“ und unabhängig), die Probleme nur auf einen frü-
heren Zeitpunkt: Werbung findet nun eben in der Fundingphase statt – mit dem
gleichen Werbedruck, um genauso viele Pfund an Aufmerksamkeit zu erreichen.
Und Abhängigkeit entsteht zum Lesermarkt mit einem anderen Problem,
das Schirrmacher ganz klar beschreibt und vor dem er immer gewarnt hat (und
diese Meinung teile ich). Zitat: „Das wird am meisten geklickt und bringt mir
am meisten Geld und befriedigt das egoistische Interesse des Einzelnen am ehes-
ten, nämlich das nach Skandalisierung und so weiter.“ Ein erfolgreiches Angebot,
das nicht den Weg Richtung Boulevard gehen will, darf sich nicht auf Bekundun-
gen von „Haltung“ verlassen. Es muss strukturelle, organisatorische, prozessuale
Antworten finden, denn die Leserfinanzierung allein ist sicher nicht die Antwort.
(Und wenn, so wäre es eine „Positionierung“ im betriebswirtschaftlichen Sinne
mit erklärtem Anspruch und Zielgruppe. Genau diese Positionierung liefern die
Krautreporter mit dem Vorschlag, „Geschichten zu erzählen“, eben nicht. Schlim-
mer noch: Wenn irgendein Format „Geschichten erzählen“ will, dann ist es die
Werbung.) Der Preis für Unabhängigkeit ist Abhängigkeit.
Krautreporter haben immer wieder mit „wir“ geworben. Was berechtigt dazu, von
„wir“ zu sprechen? Vermutlich gemeint ist die Interessengleichheit von Grün-
dern und Lesern, ein Ergebnis zu erreichen, zum Beispiel guten Journalismus
mit Reportagen, neudeutsch Win-Win. Man stelle sich gleichartiges in anderen
Branchen vor: Ein Cloud-Dienst würde mit „wir“ werben, „wir gründen Cloud-
Service – zahle jetzt den Betrag für ein Jahr“. „Kaufe jetzt schon 12 paar Socken
und gründe so mit uns den Sockenversand der Zukunft“. „Lass uns einen Tele-
kommunikationsanbieter gründen und zahle jetzt Deine Handyflatrate für ein Jahr
im Voraus“. Man sieht: das „wir“ ist nur das, was Angebot und Nachfrage ver-
bindet, also der Regelfall in unserer Wirtschaftsordnung. Dieses „wir“, mit dem
die Anbieterseite sich mit der Nachfrageseite verschmelzen will, es ist bestenfalls
unangemessen anbiedernde Werbung, schlimmstenfalls ein Fraternisierungsver-
such zum Zwecke der Täuschung.
Ein solches „wir“ ist unter Privaten möglich, meiner Meinung nach handelt es
sich aber tatsächlich um gewerbliche Tätigkeit und sie dient ja auch dem Lebens-
unterhalt. Für gewerbliche Tätigkeiten sollten andere Kommunikationsregeln gel-
ten, meines Erachtens hält sich auch sonst jeder daran. Weiter als bis zum „Du“
geht nicht einmal Ikea.
366 C. Kappes
Die Formulierung „wir gründen“ hat in vielen Kontexten den Leser mit einbe-
zogen und als Mitgründer angesprochen. Richtig ist aber das Gegenteil: Keiner
der Leser hat Stimmrechte in der GmbH, keiner hat Geschäftsanteile, keiner hat
Gewinnbezugsrechte. Alle diese Rechte sind bei den Gründern verblieben. Die
Leser haben in der Gesellschaft keinerlei Rechtsansprüche. Das einzige, was sie
erworben haben, sind Lieferansprüche auf etwaige künftige journalistische Pro-
dukte. Die Leser tragen das volle Insolvenzrisiko, und das ist häufig bis zum Ende
der Fundingperiode nicht wirklich weit hergeholt, wenn Unternehmen Kapi-
talbedarf haben. Statt dieses Risiko auszugleichen, gewinnt der Funder aber im
Gegenzug aber nicht mal Rechte: Die Leser haben unsichere, unbeschriebene und
unklare Produktbezugsrechte, wohingegen die Gründer schon mit erfolgreichen
Funding eine Marke schaffen, deren Wert ausschließlich ihnen zufällt.
Wenn es sich nicht um journalistische Produkte handeln würde und die Mitwir-
kenden nicht einigermaßen gut in der Netzszene verwurzelt wären, wenn also
von Nonames unklare und nicht näher beschriebene Bezugsrechte für Heizdecken
gegen Vorkasse ausgelobt werden, würden allen die Alarmglocken klingeln.
Schlimmer noch: Wer keinen förmlichen Businessplan hat, wer keine Mis-
sion und Vision hat, und wer noch nicht einmal ein minimales Produkt und noch
weniger einen Proof of Concept hat, der kann im Online-Medienbereich maxi-
mal mit einer Bewertung von 300.000 € für das ganze Unternehmen rechnen. Das
bedeutet: Die Crowdfunder hätten also für den gleichen Preis drei Unternehmen
zu 100 % kapitalseitig übernehmen können. Statt als Kaufpreis wäre die gleiche
Summe ins Stammkapital geflossen und jeder Funder wäre beteiligt gewesen. Für
den Fall späteren Gewinns hätte man sogar den Löwenanteil (sagen wir 2/3) nicht
als Stammkapital, sondern als rückzahlbares Darlehen auslegen können. Für den
Fall des Unternehmensverkaufes hätten die edlen Abonnierer ihren Anteil auf den
Verkaufserlös des Unternehmens bekommen. Die Leser hätten so weniger Geld
einsetzen und mehr unternehmerische Kontrolle haben können.
Im Grunde handelt es sich um ein Produktfunding, dass nicht die geringsten
Anforderungen an ein Unternehmensfunding erfüllt. Keine testierten Bilanzen,
keine geprüften Planzahlen, keinerlei Haftung für Falschangaben, keine eindeu-
tige Aussage zur Vermittlungsprovision der Sparker UG – nicht einmal die Sat-
zung schien zur Einsicht ausgelegt. Dass es nicht zu einem Aufschrei kam, wo
doch sonst das Netz Schandtaten an jeder Ecke wittert, ist ein Zeichen dafür, dass
Sechs übellaunige Bemerkungen zu den Krautreportern 367
dieser Markt dringend reguliert werden muss. Niemand hat erkannt, dass dies
eigentlich ein Fall für Prospekthaftung und Verbraucherschutz ist. Eine als Unter-
nehmensbeteiligung anmoderierte Vorschusszahlung öffnet Tür und Tor für Miss-
brauch und muss Regularien unterworfen werden, um Verbraucher zu schützen.
Es ist ein Glücksfall, dass dieser Fall gut gehen wird, weil die Beteiligten
sozial verwurzelt (und gut öffentlich beobachtet) sind und anscheinend persönlich
den richtigen Kompass haben, wenn es auf hohe See geht.
URL: http://christophkappes.de/sechs-ubellaunige-bemerkungen-zu-krautre-
portern/ vom 14. Juni 2014.
Die Krautreporter: Kritik der Kritiker
Kai Schächtele
Wo man es in diesen Tagen mit jedem „Ist das euer Ernst, Krautreporter?“– Ein-
trag beinahe bis auf die Titelseite des deutschsprachigen Internet schafft, weil ihn
jeder teilt, der sich insgeheim „Hähä, habe ich doch gleich gesagt.“ denkt: Was
für eine mutige Prognose, wirklich. Dass die Krautreporter aus dem Stand eine
voll funktionstüchtige Redaktionsmaschine würden bauen können, war ungefähr
so realistisch wie die Prognose, dass die deutsche Nationalmannschaft nach dem
Finale von Rio jeden Gegner vom Platz husten würde. Jeder, der ein Magazin
gelauncht hat, weiß, was das für ein langer, mühsamer Prozess ist. Das ist kein
Hundert-Meter-Lauf, bei dem man mit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe
im Ziel wäre. Es ist ein Marathon, bei dem es nach dem ersten Kilometer erst
richtig losgeht. Und wahrscheinlich wäre es klüger gewesen (wenn auch unmög-
lich), sich nach der erfolgreichen Kampagne erst einmal für ein Jahr zurückzuzie-
hen, um zu planen und Routinen und Abläufe zu entwickeln. Im Moment haben
wir stattdessen einen unverstellten Blick in den Krautreporter-Maschinenraum, in
dem noch lange nicht jedes Rädchen ins andere greift – es sind ja noch nicht ein-
mal alle Rädchen verschraubt. Aber vieles läuft schon erstaunlich gut.
Natürlich sind die Krautreporter Opfer ihrer eigenen Großmäuligkeit, die sich
vor allem darin manifestiert hat, der Online-Journalismus sei kaputt und sie wür-
den das wieder hinkriegen. Zum einen war diese Großmäuligkeit aber nur von
der eines anderen geborgt, der davon sprach, dass das Internet kaputt sei, ohne
K. Schächtele (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: ks@kaischaechtele.de
Für @krautreporter auf dem Weg nach #Paris. Danke jetzt schon mal für’s mitden-
ken – welche Hintergründe interessieren euch? #CharileHebdo (Victoria Schneider
(@vic_schneider) January 10, 2015).
Die Krautreporter: Kritik der Kritiker 371
Sie folgte damit dem Beispiel des Reporters Jon Henley, der seine Recherchen
für den Guardian regelmäßig auf diese Weise beginnt. In der sehr sehenswerten
Dokumentation Journalismus von morgen – Die virtuelle Feder, die im vergan-
genen Sommer bei arte lief, erzählt er davon, wie er in seine Recherchereisen
regelmäßig die Twitter-Follower einbindet: Was interessiert euch, habt ihr Ideen,
habt ihr Kontakte? Genauso ging Victoria Schneider vor: Sie ließ sich in Paris
sowohl von ihrer eigenen Nase leiten wie von dem, was ihr die Follower mit auf
den Rechercheweg gaben. Parallel fragte die Redaktion in Berlin die Krautre-
porter-Mitglieder, die Franzosen sind, in Frankreich leben oder eine besondere
Verbindung zum Land haben, nach ihren Eindrücken, Erfahrungen und Beobach-
tungen. Daraus entstanden mehrere lesenswerte Stücke von Victoria Schneider
wie dieses über Muslime, die sich in Frankreich nicht zuhause fühlen. Außer-
dem trug die Redaktion eine Auswahl der Kollektivrecherche in einem eigenen
Text zusammen, aus dem sich wiederum die deutsche Übersetzung eines von
Luc Bessons ursprünglich auf Facebook veröffentlichten Briefes an einen fikti-
ven muslimischen Bruder ergab. Und zum Ende dieser Woche in Paris unterhiel-
ten sich Sebastian Esser und Victoria Schneider über ihre Eindrücke vor Ort via
Skype (und veröffentlichten es auf Soundcloud).
Der kollaborative Journalismus, der Macher und Rezipienten auf Augenhöhe
zusammenführt, wird unseren Beruf wesentlich prägen. Cordt Schnibben hat in
seinem Spiegel-Blog-Eintrag zur Recherche der Hintergründe des MH17-Abstur-
zes beschrieben, wie das Netz die Wahrheitsfindung verändert. Die Krautreporter
marschieren in genau diese Richtung. Man kann das auf ihrer Seite gut nachvoll-
ziehen, es ist alles da. Man muss sich nur die Mühe machen, es zu sehen. Doch
das machen offensichtlich nur wenige: Das Soundcloud-Gespräch hat bislang
keine 30 Abrufe.
Seit zwei, drei Jahren vergehen kaum ein Mittagessen oder ein Feierabend-
bier, ohne dass sich Journalisten darüber beklagen, aus den Verlagen kämen keine
oder zu wenige innovatorische Impulse. Und dann versuchen es ein paar Selbst-
ständige mit der Hybris und der Naivität, die man für eine solche Unternehmung
braucht (mal eben knapp eine Million Euro einzusammeln, ohne zu wissen, wor-
auf man sich da wirklich einlässt – das muss man sich erst mal trauen), einen
innovatorischen Impuls zu setzen, und kriegen jetzt beinahe jede Woche Knüppel
zwischen die Beine geworfen. Beziehungsweise zwischen die Finger. Wie unter
solchen Bedingungen die dringend notwendigen Innovationen über unsere Bran-
che kommen sollen, soll bitte mal jemand derer erklären, die sich jetzt über die
Performance der Krautreporter beschweren. Natürlich machen sie nicht alles rich-
tig im Moment. Aber sie machen auch nicht alles falsch. Im Gegenteil.
Meine 60 € fürs zweite Jahr sind ihnen jedenfalls schon jetzt sicher.
372 K. Schächtele
Stephan Goldmann
Bezahlschranken sind schon lange der Traum der Verlage – jetzt scheinen sie
greifbarer denn je. Naht die Rettung des Journalismus? Ich glaube nicht daran …
und nenne drei Gründe.
Neulich bei einer Podiumsdiskussion über die Zukunft des Journalismus:
Professor Michael Haller sieht einen Weg die Profession Journalismus zu retten
darin, dass Leser endlich dafür bezahlen. Das ist nicht neu. Neu ist auch nicht,
dass er nicht alleine mit dieser Ansicht steht. Schon immer war es die Hoffnung
der Verlage per Paywall abzukassieren – endlich den „Geburtsfehler des Inter-
nets“ zu beheben (so als das Internet für Verleger erdacht worden wäre … nur
irgendwie falsch).
Schließlich hatte man das bei der Zeitung ja auch so gelöst: Info für Geld. Es
fehlte bisher nur der Mut, Dasselbe online zu tun. „Die ersten, die eine Paywall
einrichten“, so dachten wohl viele Verlage, „gehen unweigerlich den Bach run-
ter.“
Und dann hat es einfach einer gemacht: Die mutige Rhein-Zeitung führte die
Bezahlung schrittweise ein und rechnet nun den Erfolg vor. Der Bann scheint
damit gebrochen. Und das ist in dieser Klarheit in Deutschland tatsächlich neu.
Paywalls scheinen zu funktionieren, der Leser zahlt. Bringt das endlich die
ersehnte Rettung des Journalismus?
Ich glaube es nicht, und um mich umzustimmen, müsste man mir erst diese
drei Argumente widerlegen.
S. Goldmann (*)
München, Deutschland
E-Mail: stephan@goldmann.de
ist noch tausendfach nerviger als jedes Werbelayer – und schon das akzeptiert der
Nutzer nicht.
Meist kann der Leser dann auch nicht nur ein oder zwei Beiträge kaufen, son-
dern muss sich auf ein Abo festlegen oder für einen festen Zeitraum zahlen. Das
würde natürlich wieder dem Modell „Tageszeitung“ entsprechen: Ich kaufe ein
Paket, weiß nicht, was darin steckt und darf mir ein paar Sachen selbst heraus-
picken. Der Rest bleibt ungesehen. Eine Art Zwangsabnahme für zu 90 % unge-
wollte Artikel. Der Journalist wäre wieder Herr über die Auswahl.
Hach ja, das ist irgendwie soooo …90er. Aber eben nicht mehr zeitgemäß und
nicht mehr das, womit Menschen aufgewachsen sind, die nach 1990 geboren wur-
den. Sie wollen und bekommen Information entbündelt. Das kann man beklagen,
aber kann man es ändern? Ich glaube nicht.
Selbst wenn das aber keine Rolle spielt, bleibt die Frage, wie viele Zeitungs-
angebote denn in Deutschland profitieren können? Wie viel Geld gibt ein Leser
aus, der für einen Monat nahezu unendliche Netflix-Unterhaltung für 7,99 €
gewohnt ist? Was sind ihm dann Nachrichten aus der Politik wert? Wie viele
Abos wird er sich leisten? Und vor allem: Was wird ihn interessieren? Lokaljour-
nalismus oder internationale News? Nische oder Generalist?
Für alle derzeitigen Angebot ist das sicher kein Platz mehr. Einige werden
nicht mitmachen oder gar auf der Strecke bleiben. Es wird noch weniger Arbeit
für uns Journalisten geben.
Doch den gesamten Journalismus als Profession damit zu retten, das wird
nicht klappen.
URL: http://www.lousypennies.de/2015/04/22/drei-gruende-warum-ich-nicht-
an-den-erfolg-von-paywalls-glaube/ vom 22. April 2015.
Paid Content für Verlage: Indirekte
Erlösmodelle via Infrastruktur-
Netzbetreiber
Wie bisher steuert kaum ein Teil des Publikums journalistische Angebote ob der
sie umgebenden Werbeschaltungen an. Neu ist aber, dass Werbung Online nicht
mehr wie in Printmedien fix an einen bestimmten, sie umgebenden Content
gebunden ist. Als besonders wirksam zeigen sich daher aktive, softwaregestützte
Werbevermeidungsstrategien, die vielfach den Nutzen des genuinen Nutzenanlas-
ses “Informations- und Unterhaltungsbedürfnis“ sogar noch aufwerten (Ladezei-
ten, fokussierte Nutzung). Derartige Mediennutzungssituationen als Grundlage
für die Geschäftsmodellentwicklung führen ein stoisch angewandtes Tausender-
preis-Paradigma ad absurdum und offenbaren die Unzulänglichkeiten einer aus
der analogen Medienwelt übernommenen Vorgehensweise. Ausnahmen bilden
hier die langsam einsetzende Umorientierung auf „Cost-per-X“-Abrechnungsein-
heiten des Direktmarketings sowie die Classified-Sektionen der Verlage und ihrer
verbundenen Tochterunternehmen.
Unvermindert bleibt allerdings die Frage nach dem für „Journalismus Online“
funktionablen Geschäftsmodell als Schlüsselthema bestehen, setzt doch das Man-
tra einer redaktionellen Unabhängigkeit ausreichende Mittelflüsse des Publikums
voraus. Aus Gründen der stärkeren Nutzung von Ertragsmöglichkeiten war eine
Rückwärtsintegration der Verlage traditionell durch eigene Druckereien gesichert,
eine Vorwärtsintegration durch eigene Vertriebsstrukturen. Bei TV- und Hörfunk-
veranstaltern zählen die Vertragsbeziehungen zu technischen Vertriebsdienstleis-
tern zu den vertikalen Integrationsbestrebungen. Das Verbreitungsmedium ist
bei traditionellen Medien zentral für die Wertschöpfung. Diese Rolle nehmen im
Zuge der digitalen Distribution nun Provider elektronischer Medien und damit
gekoppelten Dienstleistungen wie Internetzugang und Telefonie als neue Interme-
diäre ein.
So lohnt es sich auf eine von der Verlagsbranche in der Breite noch nicht
antizipierte Kooperations-Option hinzuweisen: der vertraglich vereinbarten
Auslieferung ganzer Titel über im Markt fest verankerte Netzwerkprovider wie
Kabelgesellschaften, Satellitennetz- oder Mobilfunkunternehmen sowie WLAN-
Betreiber, die bereits einer Vielzahl von Fernsehsendern und Radioprogrammen
einen gesicherten Vertrieb an Millionen überregional oder Hunderttausende regi-
onal angesteuerte Endgeräte/Haushalte gegen Entgelt garantieren. Der Vertrieb
kann über Kundenkonten auf die generische Website, als WLAN-Freischaltung
und/oder Applikations-gebunden via SmartTV/Tablet/SmartPhone erfolgen.
Die aus den Überlegungen zu einer Internet-Ökonomie bekannten Überzeu-
gungen wie das Erreichen spezifischer kritischer Massen, Lock-In-Effekte sowie
der Aufbau von Business-Webs ermöglichen exakt diese Voraussetzungen für
den gebündelten Vertrieb, der ein Kernerfolgsmerkmal des Tages- und Wochen-
zeitungsverlagsgeschäfts (synonym Publikumszeitschriften) ausmacht. Zudem
werden die Verlage von den schwer kalkulierbaren Handlingkosten des einzelnen
Artikelvertriebs im Onlinesektor entbunden.
Ein weiterer Vorteil von Netzwerk-Vertriebsstrukturen gegenüber auf Einzel-
stücke abstellende Plattformen – wie sie Vertriebskooperationen von Apple, Face-
book & Co. angestrebt werden – liegt in der nicht zwingenden Verwässerung von
ursprünglichen Redaktions-Marken.
380 J. Grüblbauer und J. Krone
Medienpolitische Effekte
Werke, der Obsoleszenz eines Leistungsschutzrechtes und ggf. noch einiger wei-
terer Probleme.
URL: http://www.carta.info/79238/paid-content-fuer-verlage-indirekte-erloes-
modelle-via-infrastruktur-netzbetreiber/ vom 15. Oktober 2015.
Wollen Sie diese News-App wirklich
löschen?
Jörgen Camrath
J. Camrath (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: joca@me.com
Wer heute einen Blick auf die erfolgreichsten Apps wirft, die Apple, Google
und Microsoft anbieten, der sieht vor allem soziale Netzwerke, Messenger und
Spiele ganz weit vorne. Nach Angeboten von Verlagen muss man etwas suchen.
Aktuell ist die Kicker-App in Deutschland auf Platz 57 die bestplatzierte News-
App bei den kostenlosen Programmen in Apples App Store, Spiegel Online liegt
auf Platz 87 und BILD auf 155 (Stand: 5. Februar). Warum eigentlich?
Zunächst einmal hat eine gewisse Sättigung im Umgang mit Apps eingesetzt.
Das konnte ich bei mir selbst, aber auch bei Freunden und Kollegen feststellen.
Noch vor ein paar Jahren habe ich regelmäßig neue Programme heruntergeladen.
Entweder weil sie mir von Bekannten empfohlen wurden. Oder weil ich einen
Artikel darüber gelesen hatte. Oder weil ich im App Store drüber gestolpert war.
Mittlerweile kommt vielleicht alle paar Wochen noch ein neues Programm hinzu.
181 sind es aktuell auf meinem iPhone. Die große Masse davon sind Karteilei-
chen, die selten bis nie zum Einsatz kommen und die nur installiert sind, weil ich
mir beim digitalen Aufräumen einrede, dass ich sie ja vielleicht doch irgendwann
mal brauchen könnte.
Tatsächlich nutze ich 40 bis 50 Apps mehr oder weniger regelmäßig. Regelmä-
ßig bedeutet, dass ich sie mindestens einmal pro Woche öffne. Viele – darunter die
sozialen Netzwerke, Messenger-Apps und meine E-Mail-Programme – brauche
ich sogar jeden Tag. Ob nun privat oder für die Arbeit: auf meinen mobilen Gerä-
ten läuft alles zusammen. Kalender, Termine, Fotos, Nachrichten, Kontakte…
mein Leben erhält durch Smartphone und entsprechender Dienste eine gewisse
Grundordnung. Da alles hervorragend funktioniert, muss ich mir keine Gedanken
über Alternativen machen. Sicher – wenn jemand behauptet, dass die neue Out-
look-App besser als Inbox oder Mailbox ist, dann probiere ich sie aus. Und wenn
mein (ehemaliger) Arbeitgeber Slack einführt, dann lade ich das Programm eben
herunter. Aber grundsätzlich bin ich bequem geworden. Außerdem stört mich die
Unübersichtlichkeit der diversen App Stores. Und mich nervt, dass ein Unterneh-
men nach dem anderen dazu übergeht, seine Angebote auf mehrere Programme
aufzuspalten. Aus Foursquare wurde Foursquare und Swarm, aus Facebook wurde
Paper, Mentions, Messenger etc. All diese Punkte spielen auch eine Rolle, wenn
ich über mein Problem mit News-Apps spreche.
Vor ein paar Wochen wurde ich gefragt, ob ich denn die Apps von Spiegel Online
nutzen würde. Wer die Entwicklung in den vergangenen Monaten und Jahren beob-
achtet hat, der kann bestätigen, dass man beim Hamburger Verlag viel Zeit und Geld
in die Programme für Smartphones und Tablets investiert. Es gibt eine App für Win-
dows Mobile sowie jeweils eine „Der Spiegel“- und eine „Spiegel Online“-App für
Android und iOS. An einer dezidierten iPad-App wird aktuell gearbeitet. Sie soll
noch in diesem Jahr herauskommen. „Der Spiegel“ is even available as an app in
English. Ganz zu schweigen von der Spiegel-TV-App.
Wollen Sie diese News-App wirklich löschen? 385
Komplett richtig! Wir arbeiten daran, die iPad-App in diesem Jahr fertig zu bekom-
men (Matthias Streitz (@StreitzM) February 4, 2015).
Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Fülle an Optionen musste ich
die Frage verneinen. Zwar habe ich die SPON-App auf meinem iPhone instal-
liert. Allerdings geht die Nutzung nicht über den alltäglichen Griff zum Handy
ob der neuesten Push-Breaking-News hinaus. Das soll nicht bedeuten, dass ich
Spiegel Online überhaupt nicht lese. Ganz im Gegenteil. Allerdings nutze ich
genau wie bei Zeit Online, Süddeutsche, FAZ und Co. nicht die diversen mobi-
len Programme der Verlage. Ich setze vielmehr auf eine universale Super-App,
die mir alle Nachrichten zentral an einem Ort präsentiert. Die App ist kostenlos,
plattformübergreifend und in allen anderen Programmen auf meinem Smartphone
(Facebook, Twitter…) bereits integriert. Ich rede vom Browser.
Der Browser wurde entwickelt, um Webseiten darzustellen und seinen Nutzern
den Zugang zum Internet zu ermöglichen. An dieser grundlegenden Funktion hat
sich bis heute kaum etwas geändert. Egal ob Firefox, Internet Explorer, Chrome
oder Safari: der Browser dürfte mit Abstand das am meisten genutzte Programm
überhaupt sein. Sowohl auf dem Computer, als auch auf mobilen Geräten wie
Tablets und Smartphones. Wann immer jemand einen Link öffnet, springt der
Browser ein. Die API machen es möglich. Sie sorgen dafür, dass Programme wie
Twitter und Facebook nicht ihre eigenen Lösungen mitbringen müssen, sondern
auf Apples Safari, Googles Chrome oder Microsofts Internet Explorer zurückgrei-
fen können.
Ich mag den Browser. Ich bin mit ihm groß geworden, habe ihm beim Wach-
sen zusehen können. So wie sich das Internet weiterentwickelt hat, hat sich auch
der Browser weiterentwickelt. Bilder, interaktive Grafiken, Videos – sogar Spiele:
Firefox, Chrome und Co. können heute viele Dinge, die früher undenkbar waren.
Als sich Steve Jobs 2007 für Web-Apps aussprach, war die Kritik der Entwickler
berechtigt. Und aus Sicht der Hersteller zahlreicher mobiler Programme ist sie
es bis heute. Ein Spiel wird als native App noch viele Jahre lang leistungsfähi-
ger sein als eine Browser-Lösung. Und ein Navigationstool mit diversem Kar-
tenmaterial läuft einfach flüssiger als eigenständige App. Trotzdem bin ich der
Meinung, dass – gerade wenn wir von redaktionellen Angeboten sprechen – kein
Grund mehr besteht, in native Apps zu investieren.
Einige Punkte, warum Web-Apps früher oder später native Apps ablösen wer-
den, hat Ryan Matzner schon 2012 für Mashable aufgeschrieben. Darum soll es
in diesem Text aber gar nicht gehen. Vielmehr steht die journalistische Perspek-
tive im Vordergrund. Ich habe nämlich Angst, dass die Verlage zu viele Ressour-
cen an proprietäre Lösungen verschwenden und damit den gleichen Fehler wie
386 J. Camrath
die Musik- und die Filmbranche begehen. Auch dort hatten Labels und Studios
lange versucht, mit eigenen Diensten Kunden zu gewinnen und an sich zu bin-
den. Den Konsumenten gefiel das überhaupt nicht. Sie wandten sich stattdessen
Firmen wie Apple, Amazon, Spotify und Netflix zu, die es verstanden hatten, ein
großes Angebot an Inhalten plattformübergreifend bereitzustellen.
Heute kann ich Filme diverser Studios und Serien zahlreicher TV-Sender bei
Netflix und Watchever abrufen. Ich kann Lieder und Hörbücher unterschiedlichs-
ter Labels und Verlage bei iTunes mit meinem Fingerabdruck bezahlen. Doch
eine App oder einen Dienst, wo einem alle Zeitungs-, Zeitschriften- und Online-
nachrichtenangebote übersichtlich präsentiert werden, sucht man vergeblich. Wo
ist das Angebot, bei dem ich nicht nur ganze Ausgaben, sondern auch einzelne
Artikel kaufen kann? Bei dem die Bezahlung so einfach wie der Einkauf bei Star-
bucks ist? Wo die Möglichkeit besteht, auf soziale Netzwerke zuzugreifen und
Empfehlungen von Freunden zu integrieren?
Habe mir soeben die FAS für 3,10€ runtergeladen – wegen eines einzigen Artikels.
Fühle mich schmutzig (Richard Gutjahr (@gutjahr) 9. Februar 2015).
Wenn die Verlage nicht aufpassen, werden Facebook und Co. über kurz oder
lang in diese Lücke stoßen und eigene News-Apps vorstellen. Wer einen Blick
auf die Zahlen wirft, der erkennt, dass ein immer größerer Teil der Besucher von
Nachrichtenseiten wie WSJ.com, New York Times und Zeit Online über soziale
Netzwerke kommt. Es wäre also nur logisch, sollten die US-Konzerne in diese
Richtung streben. Entsprechende Bemühungen laufen schon länger. Inhalte,
die speziell für Facebook produziert werden, erfreuen sich großer Beliebtheit.
Auch Snapchat experimentiert neuerdings mit eigenen Formaten. Dank der gro-
ßen Marktmacht der sozialen Netzwerke würde den Verlagen dann ein ähnliches
Schicksal wie den Musikstudios drohen. Die mussten Apple vor ein paar Jah-
ren beim Aufbau des iTunes-Stores einen Freifahrtschein ausstellen, da sie sich
angesichts von Online-Piraterie und sinkenden Erlöszahlen in der Defensive und
zum Handeln genötigt sahen. Die Film- und Fernsehbranche kämpft mit ähnli-
chen Problemen. (Hierzu unbedingt auch den Text „Please, [Insert Tech Platform
Here], Take My Business!“ von Mat Yurow lesen.)
Karsten Lohmeyer hat in seinem Blog vor einigen Tagen ähnliche Bedenken
am Beispiel Facebook geäußert. Es wäre ein Leichtes für den Tech-Konzern,
journalistische Beiträge von Verlagen innerhalb des Netzwerkes oder einer damit
verbundenen App zu streuen. Die relevanten Daten darüber, was seine Nutzer
interessieren könnte, sammelt das Unternehmen schon länger und seit kurzem
noch in größerem Umfang. Auch eine Art Paywall ließe sich leicht implementie-
Wollen Sie diese News-App wirklich löschen? 387
ren. Ein Teaser und der Hinweis, dass X Freunde bereits für diesen Text oder die-
ses Video bezahlt und es empfohlen haben, schon will ich mitreden. (Ein Anreiz,
den Medium.com übrigens hervorragend für sich nutzt.) Die Verlage erhalten am
Ende Anteile an den Werbeerlösen oder (ähnlich wie beim Apple-Vorbild) 70 %
des Preises, den die Nutzer für einen Beitrag zahlen. Den Rest behält Facebook.
Ob die Medienhäuser ihre Inhalte tatsächlich auf Facebook-Servern ablegen oder
weiterhin eine eigene Homepage betreiben, wird sich zeigen.
Aber noch einmal weg von Facebook und zurück zu den Apps. Denn darum
sollte es ja eigentlich gehen. Wenn ich mir nun wünsche, dass Verlage weniger
Zeit und Geld in die Entwicklung von News-Apps investieren, dann ist Spiegel
Online dafür zunächst einmal ein denkbar schlechtes Beispiel. Ein Blick auf die
IVW-Zahlen zeigt nämlich, dass deutlich mehr Besucher die Apps des Hamburger
Medienhauses nutzen als die mobile Webseite. Im Januar 2015 standen 34,5 Mio.
„Mobile Visitor“ 47,3 Mio. „App Visitor“ gegenüber. Allerdings: bei insgesamt
230 Mio. Besuchern im Januar kommt auch heute noch ein Großteil der Besucher
über andere Wege auf die Inhalte des Hamburger Verlages.
Schaut man sich die Konkurrenz um SZ, ZEIT Online, Bild und Welt an, dann
sieht die Sache schon ganz anders aus. Zwar ist auch dort in den vergangenen
Monaten ein Anstieg der „Mobile Visits“ zu erkennen. Apps spielen dabei jedoch
nur eine Nebenrolle.
388 J. Camrath
URL: http://joca.me/2015/02/12/wollen-sie-diese-news-app-wirklich-loeschen/vom
12. Februar 2015.
Unternehmenskommunikation
auf Facebook – ein Geschäft mit
Unsicherheiten
Christoph Kappes
C. Kappes (*)
Fructus GmbH, Hamburg, Deutschland
E-Mail: ck@christophkappes.de
kostet und für sich allein das Publikum nicht erweitert. Drittens ist auch ein
Ende des Nutzungswachstums nicht absehbar, sodass die hypothetische Reich-
weite weiter zunimmt. Zusätzlich werden in den nächsten Jahren vor allem neue
Schwerpunkte wie News, Kleinanzeigen, Social Commerce und Social TV das
Wachstum weitertreiben.
Kostenlosigkeit und immense Reichweite klingen für Geschäftskunden und
NGOs verführerisch, doch wie ratsam ist ein Engagement aus einer strategischen
Perspektive wirklich? Diese müssen zum einen in Marktkategorien und damit
im Wettbewerbs- und Abgrenzungsdimensionen denken: Welche Bedeutung sol-
len soziale Netzwerke als Kommunikations- und künftig auch Transaktionskanal
bekommen? Was machen meine Wettbewerber – und wie kann ich mich differen-
zieren? Zum anderen denken Unternehmen in Investitionen, Risiken und Return
on Investment: Wie hoch darf eine Investition, ein zeitliches Engagement sein,
mit welchen Risiken ist es behaftet? Wann zahlt es sich aus?
An positiven und begeisterten Stellungnahmen von Internetexperten und
Social-Media-Beratern mangelt es nicht. Trotzdem sind einige Punkte kritisch zu
sehen. Zunächst zu Problemen fast aller sozialer Dienste am Beispiel Facebook:
Strategische Probleme
und wiederkehrende Besuche als Fans von Sportschuhmarke A erweisen und genau
diese Fans von Sportschuhmarke B nun umworben werden sollen? Erscheint dann
Werbung von B auf der Seite von A, neben der eigentlichen Unternehmensfläche?
Man könnte meinen, dass es nicht im Interesse von Facebook sei, seine Stellung
auszunutzen und auf diese Art potenzielle Werbekunden zu vergraulen. Doch
warum eigentlich? Zum einen sind Fanpage-Betreiber wie die Sportschuhmarke A
nicht zwingend auch zahlende Werbekunden, zum anderen zeigt das Beispiel der
Google-Suchmaschine genau dieses Handlungsmuster: Zuerst wird ein Werbeplatz
geschaffen, dann dort hohe Aufmerksamkeit erzeugt, und im letzten Schritt der
Werbeplatz versteigert. Herrschaft über die Werbefläche hat nur der Diensteanbie-
ter, der sie meistbietend versteigert. Ist wirklich noch niemandem aufgefallen, dass
er durch Gewinnung von Fans die maschinelle Segmentierung dieser Personen für
Wettbewerber-Ansprache vorbereitet?
In diesem Zusammenhang ist auch nicht unkritisch, dass über die Fan-Bezie-
hung die Kundenbeziehung öffentlich sichtbar wird. Wettbewerber finden hier
also die Kunden in einem Kundensegment, das thematisches Interesse zeigt,
eventuell wechselbereit ist und im Ausland über die E-Mail-Adresse identifiziert
wird. Schon heute gibt es Auslandsdienstleister, die Kundenlisten aus öffentli-
chen Social Media-Plattformen liefern, auf Wunsch also auch Kundendaten des
Unternehmens A an das Unternehmen B. Manche Fachleute meinen, dass die
Aufdeckung von Kundendaten unvermeidbar sei, weil Kunden selbst öffentlich
über Ihre Erfahrungen mit bestimmten Produkten und Dienstleistungen sch-
reiben würden – man müsse also offensiv mit diesem Thema umgehen. Gegen
diese Argumentation spricht aber, dass die eigenen, erfolgreichen Aktivitäten die
Erkennbarkeit von Kundenbeziehungen zwangsläufig fördern. Es stellt sich somit
die Frage, warum man zuerst Kosten aufwendet, um passive zu aktiven Kunden
zu machen, um sodann in Kauf nehmen zu müssen, das genau diese Daten dann
in wohlsortierten Datentöpfen Wettbewerbern angeboten werden.
Anders als sonst im Web regiert Facebook über Kommunikation auf der Platt-
form. Das ist aus Haftungsgründen gerechtfertigt, die Gesetzgeber Facebook
auferlegen. Für dort werbende Unternehmen bedeutet das aber mehrerlei: Ers-
tens hat Facebook eigene Regularien entwickelt, die man kennen und einhalten
muss, beispielsweise im Bereich der Gewinnspiele. Zusätzlich zur nationalen
Rechtslage muss das werbetreibende Unternehmen also die Regularien erlernen.
Unklar ist die mittelfristige Entwicklung solcher Hausordnungen: werden sie
394 C. Kappes
komplexer, werden sie gar so restriktiv wie bei Apple, das barbusige Frauen der
BILD-Zeitung verbannt? So entsteht heute quasi „Recht im Recht“, genauer: ein
privatrechtliches Regime innerhalb einer gesetzlichen Ordnung. Dieses Regime
wird global auf Facebook härter, wenn Staaten irgendwo die Inhaltehaftung aus-
bauen. Gesellschaftlich mag es wünschenswert sein, dass sich große Digitalplayer
faktisch um die soziale Ordnung kümmern und Standards schaffen. Unternehmen
begeben sich hier allerdings langfristig auf unsicheres Terrain. Nachdem nun
„Hassrede“ gemaßregelt wird, obwohl sie nicht verboten ist (!), ist es nur noch
eine Frage der Zeit, bis sexualisierte Darstellungen und „Negerküsse“ im Garten
des Schönen verboten werden.
Die Nutzungsbestimmungen von Facebook sind klar: Facebook hat einfache Nut-
zungsrechte an Inhalten von Kunden bzw. Interessenten, aber auch von Unternehmen.
Unternehmenskommunikation auf Facebook – ein Geschäft mit … 395
Nach den jetzigen Bestimmungen kann Facebook die Inhalte einer Unternehmens-
fanpage, die Nutzerbeiträge, einen Abschnitt der mehrseitigen Kommunikation oder
gar alles an anderer Stelle verwerten. Noch kann niemand einschätzen, ob dieser Fall
jemals praktische Relevanz haben wird. Es sollte jedoch vor einer Investition bzw.
personalintensiven Maßnahmen in eine Fanpage klar sein, ob das Unternehmen mit
der Weitergabe dieser Inhalte einverstanden wäre. Twitter beispielsweise erwirtschaf-
tet einen Teil seines Umsatzes damit, dass es Nutzerbeiträge anderen Unternehmen
zur Analyse bereitstellt. Technisch ist es heute schon möglich, dass Unternehmen A
die Nutzeräußerungen zu Unternehmen B auf Stimmung und Beschwerdethemen
analysiert: die Deutsche Bank wird bald wissen, welche Produkte anderer Banken
warum floppen und welche Prozesse fehlschlagen.
Kundendaten-Übergabe
Werbetreibende auf Facebook erhalten keine Daten über Interessenten und Nut-
zer. Moderne Online-Marketing-Methoden brauchen jedoch Daten, damit maxi-
male Effizienz der Werbemittel erreicht wird. Aus Unternehmenssicht ist es daher
keine gute Lösung, wenn zweistellige Prozentbereiche des Traffics nicht zur
Verfügung stehen. Eigentlich sollte es so gelöst werden wie auch sonst im Web:
Durch eine Einwilligungserklärung erhält der Werbetreibende die Nutzerdaten.
Solange diese Gewinnung von Kundendaten nicht gegeben ist, weist Facebook
einen strukturellen Fehler auf: Wenn zwei miteinander kommunizieren (End-
kunde und Unternehmen), hat allein ein Dritter (Facebook) Daten über deren
Kontakt.
wird, denn die Funktionen und die Mediennutzung sind noch zu sehr im Fluss.
Viele Unternehmen befinden sich seit Anbeginn auf Facebook auf einem Wachs-
tumspfad: mehr Nutzer, mehr Inhalte, mehr Interaktion. Was aber ist, wenn es
Verteilungskämpfe um Aufmerksamkeit gibt, weil alle Unternehmen eines Mark-
tes mit allen Nachfragern kommunizieren? Hierbei ist auch an Phänomene zu
denken, die im Social Web durch Massennutzung und technische Verstärker noch
kommen werden. Wird man vielleicht auch an einem Tag mit einem „Shitstorm“
30 % aller Fans verlieren, weil es automatische „Ent-Liker“ gibt?
Die Reichweiten-Mär
Zu den Mysterien um Facebook gehört, dass jedermann den Schluss plausibel fin-
det, weil „schon 30 Millionen“ Menschen auf Facebook seien, müsse man selbst
auch dort sein. Das ist zwar nicht falsch, aber auch nicht richtig, weil es nicht
in Investitionsalternativen gedacht ist. Zum ersten ist aus Unternehmenssicht eine
Facebook-Fanpage genauso schlecht im Internet sichtbar wie ein normaler Web-
auftritt, wenn man beide nicht verlinkt und bewirbt: „Von nichts kommt nichts“
gilt auch hier. Und zum zweiten sind Menschen, die „auf Facebook“ sind, auch
außerhalb im Internet anzutreffen. Man erreicht also zwei Mal mehr Menschen,
wenn man das ganze Internet adressiert. Die beliebte Bildsprache von Facebook
als Staat und drittgrößter Nation der Welt führt also in die Irre. Das Internet ist
das größte Web der Welt und Facebook ist knapp ein Drittel davon.
Auch ist die Reichweite von 30 Mio. Menschen nicht eine tatsächliche Reich-
weite, sondern eine hypothetische. Auch auf Facebook beginnt man mit Reich-
weite Null. Hinzu kommt, dass nur ein Bruchteil der Kontakte erreicht werden:
die Reichweite je nach Posting hängt von vielen Faktoren wie dem konkreten
Engagement ab, sie liegt aber typisch bei nur 3 bis vielleicht 10 %. Nun steckt
dahinter auch der Gedanke, dass aktuelle Interaktion wichtiger ist als einmali-
ges, drei Jahre altes Klickbekenntnis. Es fällt aber schon auf, dass Unternehmen
zunächst Aufwand zur Gewinnung von Interessenten betreiben müssen, um dann
noch ein zweites Mal Aufwand betreiben zu müssen, um diese zu erreichen.
Weniger nüchtern formuliert: Facebook gibt Unternehmen erst ein Megafon an
die Hand, hält aber 95 % der potenziellen Zuhörer die Ohren zu, wenn man es
nicht bezahlt.
Unternehmenskommunikation auf Facebook – ein Geschäft mit … 397
Zum ersten: Alles, was Zeitgeist ist, ist es irgendwann nicht mehr. Menschen kön-
nen der Dinge müde werden, die heute noch ansprechend sind. Es ist daher mit-
telfristig unklar, welche Image-Seiteneffekte eine Facebook-Präsenz haben wird.
Zum zweiten: Facebook ist auf ein Mehr von Allem ausgerichtet: mehr Freunde,
mehr Fanpages, mehr Gefällt-Mir-Klicks. Werden soziale Netzwerke überhaupt
die geeigneten Werkzeuge bieten, um dem Immer-Mehr eine reinigende Gegen-
funktion zu bieten? Wo bleibt etwa die Funktion, die mir vorschlägt, passive Kon-
takte zu löschen? Quantität verhindert Qualität, Datenschrott entsteht. Drittens:
Die Produktentwicklung von Facebook ist atemberaubend: ein hohes Tempo,
gepaart mit höchster technischer Komplexität. Doch kann es sein, dass das Pro-
dukt zum Moloch wird, wie so viele andere Produkte auch: unübersichtlich,
schlecht benutzbar, fehleranfällig. Es wäre nicht das erste Mal in der Softwarege-
schichte, dass eine Lösung in der Sackgasse endet.
Zudem zeichnet sich eine Universallösung, die also alles können soll, häu-
fig dadurch aus, dass sie für speziellere Anwendungen nur mittelmäßig geeignet
ist. Je größer Facebook wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass langfristig
Spezialplattformen kommen. Wir sehen es ja jetzt schon an den verschiedenen
Facebook-Marken und -Apps: Die Produktdiversikation kann zu Wucherungen
führen.
Produktstrategische Probleme
Ein fremdes Produkt einzusetzen hat mehrere Vorteile: Man muss keine Software
selbst teuer, Know-how-intensiv und risikobehaftet entwickeln. Doch dies hat
auch Nachteile – und wer einen eigenen Auftritt und einen bei Facebook parallel
unterhält, kumuliert eventuell beides.
Zugegeben: viele Funktionen von Facebook wie die Anzeigenplanung sind fas-
zinierend einfach und gut gelöst. Man erhält aber bei Facebook immer nur eine
einzige Lösung für ein Problem. Im Web hingegen hat ein Unternehmen immer
die Wahl zwischen verschiedenen Software-Lösungen, ob es nun eine große
oder eine kleine, eine spezifische oder unspezifische Lösung ist. Zwei Dutzend
398 C. Kappes
Wer auf einem kostenlosen Internetdienst aktiv ist, hat nur die Features, die zu
diesem Zeitpunkt allen zur Verfügung stehen. Wünsche werden – wie immer bei
Produkten – zumeist gern entgegengenommen, deren Umsetzung steht jedoch in
den Sternen. Wer Facebook nutzt, nutzt Facebook. Wer einen Webauftritt nutzt,
kann ihn in alle Richtungen verändern: Funktionen und Schnittstellen anders
definieren, Prozesse und Workflows individuell festlegen. Diese Unabhängigkeit
ermöglicht den Unternehmen, sich im Wettbewerb zu unterscheiden.
Die Struktur von Facebook als Plattform bringt es mit sich, dass im Vergleich zu
herkömmlichen Webangeboten entweder Funktionen fehlen (etwa ein Newsletter-
Tool) oder diese vom Web-Standard abweichen. Das kann Aufwand an anderer
Stelle erhöhen, zum Beispiel, wenn ein Teil der Kunden den Newsletter über
Facebook-Nachrichten bezieht, ein anderer über normale Mailadressen. In jedem
Fall bedeutet es doppelten Lernaufwand, solange man seine Webpräsenz nicht
schließt.
Kommunikative Eignung
Für einige Markenanbieter ist es generell fragwürdig, ob sie sich überhaupt sozi-
aler Netzwerke bedienen sollen, und für welche Dauer ihre Entscheidung gültig
wäre.
wirken als im Rest des Internets. Es handelt sich eben um ein Stück Software und
nicht um einen Weißraum, einen Rahmen, ein unbedrucktes Blatt. Das Problem ist
jedoch: Ein unverwechselbarer Eindruck entsteht so nicht, erzählerische Dramatur-
gie ist begrenzt und ein multimediales Erlebnis mit eigenständigen Interaktionsele-
menten ist ausgeschlossen. Hier spricht Software mit dem Nutzer. Als Träger für
Imagewerbung und Markenbildung, beispielsweise durch eigenständige filmisch-
dramaturgische oder künstlerisch inspirierte Formate ist diese Plattform nicht so
gut geeignet wie ein selbstbestimmter Webauftritt.
@ChristophKappes Willst Du eigentlich Leser? Ich finds super, aber das bedeutet,
dass der normale Leser es grauenhaft findet. Textwüste (— Sebastian Baumer (@
noemata) 1. März 2015).
Marken sind mit Versprechen und Werten aufgeladene Wörter und Zeichen, die
neben der wirtschaftlichen Funktion für den Verkäufer auch eine soziale Funk-
tion für den Käufer haben. Für den Käufer wirken Marken identitätsstiftend: sie
ermöglichen die Abgrenzung gegenüber anderen und die eigene Einordnung im
sozialen Gefüge. Nicht jede Marke muss daher zweiseitig kommunizieren, schon
gar nicht in sozialen Netzwerken. Und Orientierung geben uns einerseits Unse-
resgleichen in Augenhöhe, anderseits aber auch immer schon Orientierungs-
zeichen mit Distanz und Höhe – bei Leitmarken bis hin zur Schweigsamkeit.
Social-Media-Gurus mag diese Sicht als gestrig erscheinen. Doch kommunizieren
gerade die Internetgiganten Apple und Google auf ähnliche Weise. Eric Schmidt,
der CEO von Google, twitterte zwei Informationen monatlich, die sich meist auch
im Blog fanden, Steve Jobs war bekannt für seine rüden Mails. Google kommu-
niziert einseitig auf Facebook, Apple ist gar nicht aktiv. Beide Marken sind neben
Coca Cola die werthaltigsten Marken der Welt.
Fazit
nicht geschädigt wird, das Unternehmen Substanzielles zu sagen hat und Investitio-
nen möglichst unabhängig von der Facebook-Plattform sind. Zudem eignet sich eine
Fanpage für Spezialzwecke wie Servicebehandlung und Rekrutierung. Ganz allge-
mein lässt sich sagen, dass Facebook gut als Stimulus einsetzbar ist, und dies auch
deswegen, weil es mit relativer Treffsicherheit eine große Reichweite hat, sobald
man dafür bezahlt.
Aber: Alle Aktivitäten in sozialen Netzwerken sollten so konzipiert sein, dass
sie die herkömmliche Website nicht ersetzen, sondern ergänzen. Kunden sollten
in Richtung dieser Website gelenkt werden, sie ist der zentrale Kontaktpunkt aller
Online-Aktivitäten. Nur hier besteht maximale Differenzierungsmöglichkeit vom
Wettbewerb, nur hier kann exakt das Kundenverhalten analysiert werden, nur hier
können Kundendaten in eigene Systeme überführt werden und hier bestehen die
wenigsten Abhängigkeiten von Dritten.
URL: http://christophkappes.de/unternehmenskommunikation-auf-facebook-
ein-geschaeft-mit-unsicherheiten/ vom 1.März 2015.
Teil V
Regulierung im Medienwandel
Informationelle Selbstzertrümmerung
Michael Seemann
Das klingt erst mal gut, aufrüttelnd und irgendwie moralisch richtig. Bis man sich
mit der Frage befasst, was denn das eigentlich sein soll, ein „Data Object“.
M. Seemann (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: mymspro@googlemail.com
Dazu ein Beispiel: Das Zitat fand seinen Weg zu mir in Form eines Tweets.
Nicht aber eines Tweets von Alexander Dix. So weit ich weiß, benutzt er kein
Twitter. Er ist in diesem Fall also selbst kein „Data Subject“. Der Tweet stammt
viel mehr von Gabriela Zanfir, einer Mitarbeiterin beim EDPS. Sie zitiert Alexan-
der Dix hier namentlich. Die Frage scheint mir also offensichtlich: Ist hier etwa
Alexander Dix, ohne überhaupt Data Subject sein zu müssen, zu einem „Data
Object“ geworden? Und führe ich diese Dataobjektifizierung durch das digitale
Zitieren dieses Tweets nicht noch fort und erweitere die Datenobjektsammlung
damit wiederum um Gabriela Zanfir selbst?
Objektifizierung. Überall. Schlimm!
So geht das die ganze Zeit. Die Rhetorik ist alarmistisch, die Geschehnisse
banal. Irgendwas stimmt mit diesem ganzen Datenschutz-Diskurs nicht. Wir
alle sind in unzähligen Datenbanken verzeichnet und werden dort immer wieder
der einen oder andern Datenverarbeitung unterworfen. Niemand kann von sich
behaupten_kein_Datenobjekt zu sein und dennoch malen wir es als Horrorsze
nario an die Wand. Was genau ist hier also „at stake“?
Ich glaube, es gibt in der westlichen Welt kaum ein Thema, über das unehrli-
cher gesprochen wird, als über Datenschutz. Und – um an dieser Stelle Alexander
Dix auch zu verteidigen (den ich eigentlich sehr schätze) – das liegt nicht einfach
an den einzelnen Protagonist/innen dieses Diskurses. Die Lüge besteht aus einem
ganzen System unhinterfragter Annahmen und Behauptungen, die sich im Laufe
der Zeit zu einer Ideologie sedimentiert und einer kollektiven Illusion tradiert
haben. Nur hier und da erkennt man die „Glitches“, also die Stellen, wo die Lüge
unmissverständlich aufblitzt und in kurzen Momenten mit einer Klarheit droht,
das ganze System zum Einsturz zu bringen könnte. Die Aussage von Dix ist so
ein Glitch. Es gibt aber ungleich größere.
Der Fall des Safe-Harbor-Abkommens kann gut und gerne als das Ground
Zero dieses Systems verstanden werden und in seinen Trümmern lässt es sich gut
studieren. Wir erinnern uns: Das Safe-Harbor-Abkommen bestand im Grunde
aus der Behauptung, Unternehmen in den USA würden ihr Handeln dem Niveau
europäischer Datenschutzbestimmungen unterwerfen. Dafür mussten sich Unter-
nehmen ungeprüft zertifizieren lassen und schon war die Behauptung rechtskräf-
tig. Also wahr. Auf so ne Art.
Die Episode erinnerte sehr an Hans Christian Andersens bekanntes Märchen:
Des Kaisers neue Kleider. Dem Kaiser wird von einem Scharlatan ein Gewand
aus dünnstem Stoff aufgeschwatzt, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Die
Leichtigkeit dieses Nichts wurde dem Herrscher alsbald als Tragekomfort ange-
priesen und die Tatsache, dass er nichts an hatte, schlicht geleugnet. Aufgrund
einer sozial induzierten kognitiven Dissonanz traut sich niemand bei Hofe darauf
Informationelle Selbstzertrümmerung 405
hinzuweisen, dass der Kaiser ja eigentlich nackt ist. Erst als er mit dem nichtvor-
handenen Kleid in die Öffentlichkeit tritt, ruft ein Kind die Wahrheit: „Der hat ja
gar nichts an!“, woraufhin alle anderen sich ebenfalls trauen das Offensichtliche
auszusprechen.
Max Schrems hieß das Kind in unserem Fall. Er hatte es in einem Musterpro-
zess gegen Facebook bis zum EuGH geschafft, welches mit Schrems feststellte,
dass das Safe Harbor-Abkommen schon immer nackt war, dass die Behauptung
die Unwahrheit war und überhaupt alles eine große Lüge. Pfui! Böse, USA!
Schrems wiederum bezog sich in seiner Argumentation auf ein anderes rufen-
des Kind: Edward Snowden. Der hatte gezeigt, dass US-Unternehmen nicht ohne
Kooperation und/oder heimlicher – sogar illegaler – Bespitzelung von den dor-
tigen Geheimdiensten arbeiten könnten. Damit war die Nacktheit des Kaisers
bewiesen und konnte selbst von noch so rhetorisch geschickten Anwälten nicht
mehr bestritten werden.
Weil es aber auch für Selbstverständlichkeiten wie der Tatsche, dass das Inter-
net nun mal bis nach Amerika reicht, eine Rechtsgrundlage braucht, machten sich
Juristen und Politiker sogleich daran einen Safe Harbor-Nachfolger zu konstru-
ieren. Das neue Kleid heißt nun Privacy Shield, doch jenseits der aufgerüsteten
Rhetorik (weg von der weltläufigen Offenheit des Hafens hin zur militaristischen
Logik einer Defensivwaffe) hatte sich am Tragekomfort des neuen Kleides ver-
dächtig wenig geändert.
Viele glauben, dass auch das Privacy-Shield einer juristischen Prüfung nicht
standhalten werde. Max Schrems selbst hat mehrmals angemerkt, dass ein gül-
tiges Abkommen unter der Prämisse der allgemeinen Geheimdienstüberwa-
chung gar nicht möglich sei. Wie solle denn ein Bürger/eine Bürgerin noch eine
„informierte Zustimmung“ zur Datenverarbeitung geben, wenn denn prinzipiell
unwissbar sei, wer dann auf die Daten Zugriff habe und was dieser jemand dann
damit anstelle? Solange eine solche geheimdienstliche Praxis vorherrsche, könne
eigentlich eine rechtliche Grundlage für ein solches Abkommen gar nicht im
Bereich des Möglichen liegen.
Interessant wird es, wenn man dieses Argument weiterdenkt. Auf die Frage, ob
denn dann in Europa die Rechtsgrundlage für Datenverarbeitung in diesem Sinne
nicht ebenfalls fraglich ist, da ja auch hier Geheimdienste nachgewiesener Maßen
geheime Dinge mit den hier gespeicherten Daten machen, bejaht Max Schrems
durchaus. Glücklicher Weise gibt es hier kein Abkommen, dass infrage stehen
würde. In den eigenen vier Wänden darf der Kaiser natürlich nackt rumlaufen.
Man kann das noch weiterspinnen, wie ich es ja bereits seit einigen Jahren tue:
Wenn wir 1) nicht mehr kontrollieren können, welche Daten über uns an welchen
406 M. Seemann
Stellen gesammelt werden, weil wir die ganze Welt mit immer mehr und immer
unsichtbareren Sensoren ausstatten;
Wenn wir 2) die Kapazitäten von Leitungen und Datenträgern immer weiter
erhöhen, sodass Daten in immer größerem Umfang immer problemloser von A
nach B kopiert werden können;
Wenn wir 3) immer bessere Methoden und Software zur Datenauswertung
bereitstellen, die noch aus den unschuldigsten Daten komplexe Profilbildungen
und unvorhergesehene Erkenntnisse erlauben;
Wenn wir also den informationellen Kontrollverlust auf den Ebenen der
Sammlung, Speicherung und Auswertung erleben, wie können wir dann über-
haupt noch – egal wo – von einer „informierten Einwilligung“ sprechen, ohne uns
in die eigene Tasche zu lügen?
Und hier nähern wir uns endlich dem Kern des Systems aus Lügen: der „Infor-
mationellen Selbstbestimmung“. Die Idee, dass ich das Recht habe zu kontrollie-
ren, wer etwas über mich weiß und was er mit diesem Wissen anstellt, mag in den
80er Jahren eine kühne Utopie gewesen sein, heute ist sie ein gefährliches, nie-
mals einzulösendes Versprechen, das – weil es niemals zugeben darf, eine Lüge
zu sein – immer weitere Lügen gebiert.
Seien wir das Kind und sprechen es aus: die Illusion der „Informationellen
Selbstbestimmung“ konnte nur deswegen funktionieren, weil wir alle mitgelo-
gen haben und auch heute bereit sind jederzeit zu lügen. Jedes Mal, wenn wir
„Ok“ oder „Ich habe verstanden“ bei den unzähligen Terms of Service, Allge-
meinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbelehrungen geklickt haben, aber
in Wirklichkeit nicht das Gefühl hatten, wirklich zu wissen, was da mit unseren
Daten geschieht, haben wir mitgeholfen diese kollektive Fiktion am Leben zu
erhalten. Unsere Lügen haben sich akkumuliert zu einem System der Unehrlich-
keit, in der die eine Lüge die andere Lüge deckte und als Wahrheit verifizierte.
Und nun stehen wir auf unserem eigenen Lügenberg und übersehen von dort die
Trümmer von Safe Harbor, welches doch auch nur eine weitere Lüge war. Und
wir lachen. Worüber lachen wir eigentlich?
Ganz konkret: Wem bringt der Fall von Safe Harbor denn jetzt irgendwas?
Also mehr Sicherheit? Mehr Schutz? Irgendwelche sonstigen Vorteile?
Die Antwort ist: Niemandem. Irgendetwas. Also bis auf die Deutsche Tele-
kom, für die die Rechtsunsicherheit amerikanischer Serverbetreiber einen riesi-
gen anstrengungslosen Reibach bedeutet.
In Wirklichkeit ist der Fall von Safe Harbor vergleichbar mit dem Platzen der
Kreditblase von 2008. Es wird bis heute fälschlicher Weise behauptet, damals
seien Werte vernichtet worden. Das stimmt nicht. Der Wert war nie da, er war
immer nur behauptet. Genau so wie der „Schutz“ durch Safe Harbor immer nur
Informationelle Selbstzertrümmerung 407
behauptet war. Durch den Wegfall von Safe Harbor ist niemand mehr oder weni-
ger geschützt. Und egal wie das neue Abkommen aussehen wird, der Schutz wird
sich nicht wesentlich verschlechtern oder verbessern. All das sind nur Schatten-
boxkämpfe von Politiker/innen und Jurist/innen.
Mein Eindruck ist mittlerweile, dass die verbissene Verteidigung der Informa-
tionellen Selbstbestimmung einer Implementierung von tatsächlichem Schutz für
Individuen im Weg steht. Wir sollten aufhören, darüber zu streiten, wie wir ein
fiktives Recht bewerkstelligen können und anfangen zu fragen, welche Probleme
sich denn nun aus Datenhaltung und -verarbeitung konkret für Menschen erge-
ben.
Unser Motto sollte sein: Schützt die Menschen, nicht die Daten. Und das geht
nur, wenn man sich von dem Konzept der Informationellen Selbstbestimmung
endlich verabschiedet.
Es gibt da durchaus Ansätze das zu tun. Hans-Peter Bull, erster Bundesdaten-
schutzbeauftragter
Deutschlands sieht das Konzept der informationellen Selbstbestimmung eben-
falls am Ende. Niko Härting wirbt mit der Neuausrichtung des Datenschutzes
anhand eines risikobasierten Ansatzes.
Ich denke, diese Ansätze gehen in die richtige Richtung. Es gibt unterschied-
liche Gefahren durch unterschiedliche Daten für unterschiedliche Menschen. Was
für den einen eine Gefahr ist, ist für den anderen kein Problem. Ich will deswegen
auf einer etwas abstrakteren Ebene einiger der Gefahren aufzeigen:
Wenn wir diese Probleme in den Vordergrund stellen wird schnell klar, dass
Datenschutz oft nur eine sehr schlechte Antwort auf die Herausforderungen der
digitalisierten Welt ist. Es gibt bessere Ansätze: Diskriminierungsverbote, demo-
kratische Kontrollinstanzen, Kompetenzbeschneidung von Behörden, mehr
Transparenzanforderungen, auch für Unternehmen, etc. Klar. Das sind alles nur
Flicken. Das ist nicht ein schön in einem Stück gefertigtes Kleidchen und der Tra-
gekomfort ist nicht so toll, wie bei der luftig leichten informationellen Selbstbe-
stimmung.
Aber wir könnten alle wieder ein bisschen ehrlicher sein und ich bin fest über-
zeugt, dass das Schutzniveau unterm Strich steigen würde.
408 M. Seemann
Lars Bretthauer
1.) Mit der Vorratsdatenspeicherung wird eine neue staatliche Kontrolle der digi-
talen Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) beschlossen.
Damit wird eine Politik umgesetzt, die die IuK-Technologien primär als Gefahr
für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse begreift, anstatt diese als Ansatzpunkt
progressiver gesellschaftlicher Entwicklungen zu nutzen.
Fand diese Überwachung bisher vor allem punktuell und bezogen auf Einzelfälle
statt, vollzieht sie sich nun flächendeckend und automatisiert. Auf diese Weise
wird auch die Ausübung staatlicher Herrschaft immer intransparenter: Die Bürge-
rInnen wissen zwar von der flächendeckenden Speicherung, was aller Voraussicht
nach bereits einschüchternde Effekte haben wird. Sie wissen darüber hinaus aber
nicht, wann ihre Daten abgerufen werden.
L. Bretthauer (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: lbretthauer@reflect-online.org
Hierzu zählen etwa das Recht auf freie und geheime Kommunikation ebenso wie
Prozesse der Meinungsbildung und der Organisationsfreiheit. Eine präventive
staatliche Überwachung der Zivilgesellschaft wird hier aller Voraussicht negative
Effekte haben und zur Selbstkontrolle des eigenen Kommunikations- und Orga-
nisationsverhaltens führen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht etwa am Bei-
spiel von Videoaufnahmen nach dem Bayerischen Versammlungsgesetz sehr
plastisch formuliert.
6.) Die Große Koalition setzt mit der Vorratsdatenspeicherung ein politisches Projekt
durch, das sowohl von den Gerichten auf deutscher und europäischer Ebene erheb-
lichen juristischen Zweifeln ausgesetzt ist als auch von BürgerInnenrechtsgruppen
wie dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und einer Reihe von Berufsverbänden
kategorisch abgelehnt wird.
Fazit
Tabea Rößner
Die Zahl der Löschanträge ist europaweit hoch, das Verfahren seitens der Such-
maschinenanbieter aber noch stark optimierbar. Da eine Abwägung zwischen der
Verletzung von Persönlichkeitsrechten einerseits und der Beachtung von Presse-
und Meinungsfreiheit andererseits stattfinden muss, sind die Anbieter selbst als
entscheidende Instanz jedoch keine Lösung.
Das Urteil des EuGH zum sogenannten „Recht auf Vergessen“ ist einige
Monate her, die Diskussion rund um die Umsetzung der Vorgaben bei der
Löschung von Links durch Google ruhiger geworden. Indes sind die Löschungen
in vollem Gange, die dabei aufgetauchten Fragen weiterhin dringlich und bedür-
fen einer Lösung.
Google holte sich dazu in den vergangenen Wochen Rat bei einem Experten-
gremium von 7 Mitgliedern verschiedener europäischer Staaten und Professionen,
um das Urteil möglichst reibungslos umzusetzen. Allein: Das Gremium ist ledig-
lich beratend, endgültige Beschlüsse treffen andere. Was warum gelöscht wird
und wer darüber im Einzelfall entscheidet – das scheint nach wie vor ungeklärt.
Die Umstände der Löschungen sind weiterhin intransparent.
Dass wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten, zeigt alleine schon
das Aufkommen an Löschanträgen in der kurzen Zeit:
200.000 Löschanträge haben Europäerinnen und Europäer in den vergangenen
sechs Monaten nach dem Urteil an Google gerichtet, knapp 33.000 davon kamen
aus Deutschland. Rund 700.000 Links wollte man europaweit aus den Sucher-
gebnissen entfernt haben, 123.000 Links wurden von Deutschen beanstandet. Die
T. Rößner (*)
Deutscher Bundestag, Berlin, Deutschland
E-Mail: tabea.roessner@bundestag.de
es nicht ihr Geschäftsmodell gravierend stört. Etwas anderes kann man von dem
Unternehmen auch nicht unbedingt verlangen. Ohne misstrauisch zu werden,
muss man doch fragen: Ist die Aufgabe nicht etwas zu bedeutend, um es in die
Hände von Suchmaschinen zu legen?
Hinzu kommt, dass das Löschverfahren aufgewertet werden müsste. Bisher
erhält die von der Löschung betroffene Seite, die den verlinkten Inhalt ins Netz
gestellt hat, erst im Nachhinein einen schlichten Hinweis auf die Löschung. Eine
vorherige Anhörung erfolgt nicht. Für eine Abwägung, wie es das Grundgesetz
erfordert, müssten aber umfassende Informationen eingeholt werden. Das ist für
ein rechtmäßiges Verfahren unabdingbar. Gleichzeitig wäre es unter Datenschutz-
gesichtspunkten geradezu kurios, eine private Suchmaschine für eine solche
Abwägung noch mehr personenbezogene Informationen einholen zu lassen.
Wer könnte also entscheiden?
Unser Rechtssystem hat eine lange Expertise in der Abwägung dieser kollidie-
renden Grundrechte. Es ist das tägliche Brot von Richtern und Datenschutzbeauf-
tragten. Hier ist eine immense praktische Übung vorzuweisen. Diese Erfahrungen
könnte und sollte man nutzen. Auch wenn es da immer wieder Ausreißer gibt,
scheint eine unabhängige Kommission, eingebunden in die nationale, staatliche
Verwaltung/ Organschaft der bessere Ort, diese sensible Aufgabe zu tragen. Die
Furcht vor einer staatlichen Zensurbehörde teile ich weniger. Man könnte ein
geordnetes, nachvollziehbares Verfahren einrichten, welches im Anschluss wei-
terhin gerichtlich überprüfbar ist.
Angesichts der Tragweite von Löschungen müssten die Entscheidungen
gegebenenfalls auch dokumentiert werden. Das ist schwierig, denn Öffentlich-
keit würde hier gerade das Ziel ad absurdum führen – es wäre nicht die erste
„Schwarze Liste“, die durchsickert. Hier müsste eine sichere Regelung gefunden
werden, wie zum Beispiel nach dem Vorbild der Robinsonliste.
Das Recht auf Vergessen ist nicht perfekt. Natürlich kann es umgangen
werden – aus dem Ausland oder mit ein paar Tricks hierzulande werden die
gelöschten Links weiterhin auffindbar sein. Dennoch spricht das nicht gegen
die Etablierung dieses Rechts. Die technischen Möglichkeiten sind zu komplex
und global, als dass es immer einwandfreie rechtliche Lösungen gibt, die keine
Schlupflöcher lassen. Das Ziel ist vielmehr, das Verständnis einer bestimmten
Grundrechtsabwägung auch im Internet durchzusetzen.
416 T. Rößner
URL: http://www.carta.info/76820/das-recht-auf-vergessen-loeschverfahren-
mit-bedacht-regulieren vom 14. Januar 2015.
Muss Facebook stärker gegen
rassistische Postings vorgehen?
Thomas Stadler
Als Betreiber eines sozialen Netzwerks hat Facebook die Vorgaben des Straf-
rechts und zum Schutz der persönlichen Ehre zu beachten – und es darf politisch
auch angehalten werden, seine eigenen Standards zu befolgen.
Bundesjustizminister Heiko Maas fordert von Facebook ein stärkeres Vor-
gehen gegen rassistische Äußerungen. Konkret verlangt Maas, dass Facebook
ein Team mit deutschsprachigen Mitarbeitern einstellt, das gezielt gegen Hass-
Botschaften vorgeht, die über das soziale Netzwerk verbreitet werden und Aus-
länder und Flüchtlinge betreffen. Das hat erwartungsgemäß zu kontroversen
Diskussionen geführt, im Heise-Newsticker war sogar davon die Rede, Maas
würde ein deutschsprachiges Zensurteam von Facebook fordern.
Im Zusammenhang mit amerikanischen Anbietern wie Facebook oder Google
wird immer wieder die Frage gestellt, weshalb sie sich überhaupt an deutschen
Gesetzen orientieren sollten. Diese Frage ist sowohl in der deutschen wie auch
der europäischen Rechtsprechung geklärt. Maßgeblich für die Anwendung von
nationalem Recht ist ein hinreichender Inlandsbezug. Wenn also beispielsweise
auf Facebook Deutsche, in deutscher Sprache, über ein aktuelles inländisches
Thema wie den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland diskutieren, dann ist
der Bewertungsmaßstab der Äußerungen der Nutzer das deutsche Recht.
Sobald Facebook Kenntnis von Äußerungen erhält, die Strafgesetze verletzen,
also insbesondere eine Volksverhetzung oder Beleidigung darstellen, ist Facebook
zur Löschung verpflichtet. Gleiches gilt auch für ehr-, persönlichkeits- und daten-
schutzrechtsverletzende Postings.
T. Stadler (*)
Freising, Deutschland
E-Mail: ts@cplus.de
Nun ist allerdings nicht alles, was man als rassistisch oder hetzerisch betrach-
ten kann, ohne weiteres strafbar. Die Hürden für eine Volksverhetzung im Sinne
von § 130 StGB sind vielmehr eher hoch, sodass sie nur in wenigen Fällen über-
schritten sein werden.
Ein Blick in die Gemeinschaftsstandards von Facebook macht allerdings deut-
lich, dass Facebook nach seinen selbst aufgestellten Regeln, die die Nutzer bei
der Anmeldung akzeptieren, Hassbotschaften ganz allgemein verbietet. Wer eine
Person, wegen ihrer Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, wegen ihrer sexuellen Ori-
entierung oder des Geschlechts direkt angreift oder Hass gegen eine solche Perso-
nengruppe schürt, wird nach diesen Regeln bei Facebook gelöscht. Die Schwelle
der Community-Standards von Facebook ist also deutlich niedriger als die des
§ 130 StGB bei der Volksverhetzung.
An dieser Stelle muss sich Facebook in der Tat fragen lassen, warum es sich
nicht einmal an seine eigenen, selbstgesetzten Regeln hält. Gemessen an den
eigenen Standards hätte Facebook in letzter Zeit deutlich mehr löschen müssen.
Meine Erfahrung als Anwalt ist die, dass Facebook auch bei klar rechtswidrigen
Äußerungen häufig nicht reagiert, während beispielsweise nackte Brüste oder
auch (behauptete) Urheber- oder Markenrechtsverletzungen oftmals sehr schnell
gelöscht werden.
Den Vorschlag von Heiko Maas, dass Facebook ein deutschsprachiges Team
zusammenstellen soll, das rechtswidrige Äußerungen von Nutzern überprüft,
kann man meines Erachtens nicht ernsthaft kritisieren. Facebook hat als Betreiber
eines sozialen Netzwerks die Vorgaben des Strafrechts und zum Schutz der per-
sönlichen Ehre zu beachten und es darf politisch auch angehalten werden, seine
eigenen Standards zu befolgen.
Man muss andererseits natürlich berücksichtigen, dass das übereifrige Löschen
von Postings die aus dem rechten Spektrum kommen, auch die Meinungs- und
Informationsfreiheit der Nutzer beeinträchtigen kann. Unserem Grundgesetz
liegt das Konzept einer streitbaren Demokratie zugrunde und auch Rechtsradi-
kale, Rassisten und Nazis können sich deshalb in ihrem Sinne an der öffentlichen
Debatte beteiligen, solange sie keine Straftatbestände erfüllen oder die persön-
liche Ehre eines Anderen verletzen. Die Löschung von Postings erfordert daher
immer eine sorgfältige Abwägung. Dass diese Abwägung zumindest in einem ers-
ten Schritt auf Unternehmen wie Facebook abgewälzt wird, mag man bedauern
oder für bedenklich halten, liegt aber in der Natur der Sache. Wer, wenn nicht
Facebook selbst, sollte die Durchsetzung von Regeln auf Facebook denn gewähr-
leisten? Die Entscheidungen von Facebook bestimmte Inhalte zu löschen oder
nicht zu löschen, unterliegen außerdem der gerichtlichen Kontrolle. Facebook
wird derzeit von Deutschland aus nur selten verklagt, weil es vielen Betroffenen
Muss Facebook stärker gegen rassistische Postings vorgehen? 419
Thomas Levermann
Journalismuskrise?
Diskutiert wird ja intensiv – aktuell zum Beispiel hier vom geschätzten Christoph
Kappes auf Carta – wie der Journalismus den Herausforderungen der Gegenwart
und Zukunft begegnen kann. Vor dem Hintergrund der #Brexit-Debatten alleror-
ten möchte ich eine These formulieren: Wir müssen als Gesellschaft den Umgang
mit Medien neu lernen. Das gilt für die Politik, die Wirtschaft, die Staatsbürger,
ja, die Medien als Institutionen mit ihren Managern und Journalisten gleicherma-
ßen.
Dromologie
T. Levermann (*)
Medien- und Kommunikationsmanagement, Mediadesign Hochschule für Design und
Informatik Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: Thomas@mediadraufblick.de
(Friedrich Nietzsche, dieser Nerd, tippte den Satz im Februar 1882 in Großbuch-
staben auf seiner neuen Schreibmaschine in einem Brief an den Freund Heinrich
Köselitz)
Dreht sich die Journalismus- und Mediendebatte in diesen Zeiten nicht immer
noch um die längst von den Medientheoretikern verworfene Ansicht, man bilde
die Wirklichkeit ab? Sind es Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen einer kom-
plexen, chaotischen, krisenhaften, globalisierten Welt, über die Journalisten schrei
ben oder tragen die Journalisten es über die Medien hinein (die EU, der EURO,
die Politiker, die Flüchtlinge sind schuld? Nur ein Brexit hilft)?
Alles was wir über die Welt wissen, sagt Niklas Luhmann, das wissen wir über
die Massenmedien, diese aber manipulieren. Sie kommunizieren nicht nur über
Ereignisse (wie den Brexit), sie kommunizieren sich als Ereignis mit (siehe „Han-
delsblatt goes London“ mit all seinen medialen Derivaten. Vermarktung inklu-
sive).
Und so sucht sich jede Affinity Group unter den Medienkonsumenten seine
Medien mit der von ihnen akzeptierten synthetischen Wirklichkeit (alles andere
ist dann Lügenpresse) und umgekehrt suchen sich die Medien diejenige Affinity
Group, die ihnen Geschäft beschert (z. B. The Sun).
Paulo Virilio hat die zunehmenden Geschwindigkeiten der Medien bis zum
„Rasenden Stillstand“ schon vor mehr als 30 Jahren vorausgesehen. In der Echt-
zeitkommunikation einer heutigen Erlebnisgesellschaft (und der Brexit ist als
Gewinner-Verlierer-Erlebnis [machtpolitisch] in Szene gesetzt worden) mit
Ereignismedien (live wurde von den Auszählungsergebnissen in der Nacht mit
interaktiven Karten berichtet) ist es kein Wunder, dass der Mensch mit seinem
natürlich-biologisch limitierten Wahrnehmungsvermögen nicht mehr mitkommt
(oder warum fragten die Briten erst nach dem Ergebnis dieses Google, was denn
die Folgen wären und wunderten sich die jungen Briten, das es „real, not a game“
war).
Sowohl seitens der Produzenten als auch seitens der Rezipienten geht alles zu
schnell. Das Gefühl für Raum und Zeit der Reflexion ist weg. Die Produzenten
stehen unter digital-ökonomischen Druck, die Rezipienten kapitulieren vor der
Geschwindigkeit und bleiben stehen (z. B. Brexit-Anhänger und ähnliche ältere,
sozial und kulturell eher schwächer geprägte Mitmenschen). Sie suchen ihren
Platz wieder in der Welt, die sie früher noch kannten und ihnen mentale Heimat
waren, und die ihnen die Medien früher so schön geordnet haben. Heute brin-
gen die Medien die Welt eher in Unordnung (wie die Murdoch-Presse in England
als Brexit-Betreiber) und bedienen sich halunkenhafter, narzisstischer Populisten
(Farage, Johnson, Cameron). Diese Art des Journalismus ist nicht der richtige
Medienkompetenz neu lernen 423
Wir brauchen die transzendentale Erkenntnis Kants vielmehr als gesamte Gesell-
schaft – daran arbeiten die Medien überragend mit – den Umgang mit diesen,
unseren Medien besser zu beherrschen. Die gesellschaftliche Primärfunktion der
Massenmedien liegt nach Luhmann in der Beteiligung aller an einer gemeinsam
geteilten Realität bzw. in der Erzeugung einer Fiktion, die dann zur Realität wird.
Im Ergebnis sollten die Journalisten nicht so sehr eine Welt erklären, die sie nie
erklären können (höchstens populistisch simpel, wenn sie nicht zur Lügenpresse
gehören wollen), als vielmehr das, was Medien daraus machen. Auch Journalisten
bedienen sich derselben.
Denn, das sagt Luhmann in „Die Realität der Massenmedien“, Kap. 1, Ausdif-
ferenzierung als Verdoppelung der Realität, S. 9 (2., erw. Auflage, Opladen 1996)
auch, ohne Medien geht es nicht:
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen
wir durch die Massenmedien. […] Andererseits wissen wir so viel über die Mas-
senmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem
424 T. Levermann
Tobias Schwarz
Steter Tropfen höhlt den Stein: Die Verwaltung des Bundestags versucht sich vor-
sichtig in mehr Transparenz. Anlass war die Aussperrung von Bloggern vor einem
Jahr.
Ende Januar 2014 verschärfte die Pressestelle des Bundestags die Akkreditie-
rungsbedingungen – mit der Folge, dass es Bloggern nicht mehr gestattet war, als
akkreditierte Pressevertreter den Bundestag zu besuchen. Ein Presseausweis war
von nun an Bedingung für den Zutritt zum Parlament, doch diese Beschneidung
der Pressefreiheit sorgte für Protest, dem die Verwaltung sich langsam beugt.
Etwas mehr Transparenz verspricht die Verwaltung. Und wieder freien Zugang
für Blogger.
Vor kurzem hat die Bundestagsverwaltung im Pressebereich von Bundestag.de
die Zugangs- und Verhaltensregeln für den Bereich der Bundestagsliegenschaften
veröffentlicht. Dort, wo vorher nur das Formular für die befristete Presse-Akkre-
ditierung beim Deutschen Bundestag war, gibt es auf einmal einen Einblick in die
Regeln, nach denen der Zugang zum Bundestag geregelt wird. Keine spannende
Lektüre, aber eine, aus der vorher zwar gerne zitiert wurde, die man aber als
betroffener Antragssteller nicht zu sehen bekommen hat. Dieses kleine bisschen
mehr Transparenz könnte nur der Anfang sein. Doch allein bis zu diesem Punkt
war es ein langer Weg. Angefangen hat alles vor einem Jahr, als mir der Zugang
zum Bundestag als akkreditierter Medienvertreter verweigert wurde.
T. Schwarz (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: tob.schwarz@gmail.com
„Zu viele Blogger haben versucht sich zu akkreditieren“, mit dieser wirklich
dreisten Lüge lehnte die Pressestelle des Bundestags am 29.01.2014 meinen
Antrag auf Akkreditierung, wie ich ihn bis dahin einige Dutzend Male erfolgreich
gestellt hatte, überraschend ab. Angeblich gebe es zu viele Blogger, die über den
Bundestag berichteten, und der Sicherheitsbereich des Bundestags könnte des-
halb überfüllt sein. Daraufhin seien die Akkreditierungsbedingungen verschärft
worden. Eine schriftliche Kopie dieser neuen oder auch der alten Bedingungen
konnte nicht vorgezeigt werden.
Wie mir erging es auch anderen Bloggern und es stellte sich die grundlegende
Frage, ob den Vertretern der sogenannten neuen Medien nicht die gleichen Rechte
eingeräumt werden, wie sie die traditionelle Presse besitzen. Viele Medien grif-
fen den Vorfall auf und auch Vertreter der Politik, allen voran Abgeordnete aus
dem Bundestag, stellten sich auf die Seite der Blogger. Der CDU-Abgeordneter
Thomas Jarzombek forderte zum Beispiel, „dass der Bundestag offener werden
muss“, denn „wer berichtet und Öffentlichkeit schafft, muss die gleichen Rechte
wie die traditionelle Presse haben“. Petra Sitte von der Linkspartei brachte den
Fall in den Ältestenrat des Bundestags.
Ändern konnte diesen Zustand nur die Verwaltung des Bundestags, die dem
Bundestagspräsidenten untersteht, seit 2005 der Bochumer CDU-Politiker Nor-
bert Lammert. Im Ältestenrat nahm sich die Parlamentarische Geschäftsführerin
der Linksfraktion dem Problem an und schilderte in dem Gremium u.a. meinen
Fall. Die Runde einigte sich darauf, dass die Bundestagsverwaltung zeitnah einen
nachvollziehbaren Kriterienkatalog für die Vergabe von Presseakkreditierungen
verfassen sollte, der journalistisch arbeitende Blogger nicht gegenüber Journalis-
ten benachteiligt.
Der die Bundestagsverwaltung leitende Direktor Horst Risse stellte dar-
aufhin in einem Brief an den Ältestenrat klar, „die Pressestelle des Bundestags
unterscheidet bei der Vergabe lediglich zwischen hauptberuflichen Journalisten
und Personen, die nicht hauptberuflich journalistisch tätig sind – und nicht etwa
zwischen Internet-Medien und traditionellen Medien oder Bloggern und Nicht-
Bloggern“. Mit dieser Unterscheidung war es den meisten Bloggern erst einmal
wieder möglich, sich als Presse für den Bundestag akkreditieren zu lassen. Seit-
dem kam es auch zu keinen weiteren Vorfällen, die ähnlich gelagert waren.
Blogger im Bundestag: Ein Hauch von Transparenz 427
Blogfreundlichere Akkreditierungsregeln?
Seit Risses Brief an den Ältestenrat legt die Bundestagsverwaltung die Akkredi-
tierungsbedingungen wieder offener aus. Für Petra Sitte stellt die Einhaltung der
genannten Kriterien einen wichtigen Schritt dar, sie wies im Ältestenrat aber dar-
auf hin, dass diese grundsätzlich problematisch sind, da sie gegen den Gleichbe-
handlungsgrundsatz nach Artikel 5 des Grundgesetzes verstoßen.
Wie könnten dann blogfreundlichere Akkreditierungsregeln aussehen? Meiner
Vorstellung nach müsste es anstatt des Presseausweises vollkommen ausreichen,
wenn Blogger entweder einen Redaktionsnachweis besitzen oder ihr Blog die
„Allgemeine Informationspflichten“ nach Paragraph 5 des Telemediengesetzes
erfüllt. Zu irgend etwas muss dieser Paragraf ja mal nützlich sein. Des Weiteren
sollten Tagesakkreditierungen höchstens für bis zu drei Tage ausgestellt werden,
unabhängig davon, ob die den Antrag stellende Person hauptberuflich Journalist
oder Blogger ist. Damit würde die Verwaltung auch das selbstverschuldete Pro-
blem mit den Hausausweisen in den Griff bekommen. Und Tagesakkreditierun-
gen sollten sich bis zum Vorabend beantragen lassen, da manche Tagesordnungen
erst wenige Tage vor den Sitzungsterminen veröffentlicht werden. Das ermöglicht
auch eine zu organisierende Anreise zu Sitzungsterminen.
428 T. Schwarz
Eine Beteiligung der Zuschauer an der Entscheidung über Formate und Themen
könnte dazu beitragen, das Akzeptanzproblem des öffentlich-rechtlichen Rund-
funks zu verringern. Dabei sollten auch die Kostenstrukturen offengelegt werden.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat ein Legitimationsproblem: Junge Men-
schen meiden zunehmend das öffentlich-rechtliche Angebot, das böse Wort vom
„Rentner-Rundfunk“ oder „Kukident-Sender“ macht die Runde und die Anstalten
werden für ihr mangelndes Transparenzgebaren kritisiert. Auch wenn die Exis-
tenz der Öffentlich-Rechtlichen verfassungsrechtlich garantiert ist, müssen sie
sich dieser Kritik stellen – ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der keine Akzep-
tanz bei den Beitragszahlern mehr hat, dürfte auf lange Sicht politisch nur schwer
haltbar sein. Schon jetzt liegt die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft der Nut-
zer öffentlich-rechtlicher Medien lediglich bei etwa der Hälfte der tatsächlichen
monatlichen Abgabe von 17,98 €1. Das können die Sender nicht dauerhaft igno-
rieren.
1Siehe Robert Schlegel/Wolfgang Seufert: Why pay more for less? A contingent valuation
analysis of Germany’s PSM. Paper presented at the RIPE Conference 2012, Sydney.
C. Herzog (*)
Department of Media & Communication, Erasmus University Rotterdam,
Rotterdam, Niederlande
E-Mail: herzog@eshcc.eur.nl
H. Beck
Hochschule Pforzheim, Ingelheim, Deutschland
E-Mail: hanno.beck@hs-pforzheim.de
Was ist dran am Rentner-Rundfunk? Selbst die ARD erkennt, dass das Durch-
schnittsalter der ARD- und ZDF-Zuschauer auf mittlerweile gut 60 Jahre gestie-
gen ist. Fast die Hälfte der Zuschauer ist über 65 Jahre alt – also im Rentenalter2.
Diese Entwicklung mag auch daran liegen, dass die Internet-Aktivitäten der
öffentlich-rechtlichen Anstalten zunehmend online-basierten Mediennutzungsge-
wohnheiten hinterherhinken. Im Jahr 2013 wurden gerade einmal 2,4 % der ange-
meldeten Erträge aus den Rundfunkbeiträgen auf Telemedienkosten verwendet3.
Zum Vergleich: Die BBC setzte im gleichen Jahr 5,32 % ihrer Gebühreneinnah-
men für Online-Aktivitäten ein4.
Im engen Zusammenhang damit steht auch die Kritik, dass die öffentlich-
rechtlichen Sender zu wenig in die Entwicklung innovativer Formate investieren,
die geeignet wären, jüngere Zielgruppen zu erreichen. Mit internationalen Serie-
nerfolgen wie „Breaking Bad“ oder „Homeland“ können heimische Produktionen
schwer mithalten. Ferner stehen solche erfolgreichen Formate nicht in den Media-
theken, sondern bei Watchever, Netflix und Hulu zum Abruf bereit. Zudem wird
darüber diskutiert, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten lediglich erfolgrei-
che Formate von den Privaten kopieren und Gesichter der Privaten abwerben5 –
nicht gerade ein Nachweis von Innovationskompetenz.
Ein weiteres Akzeptanzproblem mag in mangelhaften und föderal unter-
schiedlichen Transparenzniveaus der Sendeanstalten liegen: Elementare Control-
ling-Kennzahlen werden weiter als Betriebsgeheimnis behandelt. Zwar mögen
Produzentenberichte ein erster Schritt in Richtung transparente Auftragsvergabe
sein, die Programmkosten eines „Tatorts“ lassen sich daraus allerdings nicht ent-
nehmen.
2Siehe Volker Giersch: Ein nur noch seltenes Paar. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk und
Jugend – Strategien gegen den Generationenabriss, in: „ARD-Jahrbuch 2008“, S. 23–29.
319. KEF-Bericht, 2014, S. 48, 143.
net-Engagement siehe auch: Hanno Beck/Andrea Beyer: Wo Politiker in der ersten Reihe
sitzen, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 24. Mai 2008; Hanno Beck/Andrea
Beyer: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Zeitalter der Digitalisierung, in: „Ordo. Jahr-
buch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“, Band 61, 2010, S. 235–264.
5Vgl. Hanno Beck/Andrea Beyer (2013), Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk in der Krise:
Reformbedarf und Reformoptionen, in: „Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft
und Gesellschaft“, Band 64, 2013, S. 221–252.
Transparenz und Partizipation 431
6BVerfG, 1 BvF 1/11 vom 25. März 2014, Rn 87. Zu Pfadabhängigkeiten siehe auch:
Christian Potschka: Towards a Market in Broadcasting. Communications Policy in the UK
and Germany, Palgrave Macmillan, 2012.
7Vgl. Christian Herzog/Kari Karppinen: Policy streams and public service media funding
reforms in Germany and Finland, in: „European Journal of Communication“, 29. Jahrgang,
Nr. 4, 2014, S. 416–432.
8Hanno Beck/Andrea Beyer: Zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ein Vor-
schlag, in: „Wirtschaftsdienst“, 89. Jahrgang, Nr. 12, 2009, S. 827–834; Hanno Beck/And-
rea Beyer: Rundfunkgebühr, Haushaltsabgabe oder Rundfunksteuer?, in: „Publizistik“, 58.
Jahrgang, Nr. 1, 2013, S. 69–91.
9Vgl. Ulrich Hamenstädt: Die Logik des politikwissenschaftlichen Experiments, Springer
VS, 2012.
432 C. Herzog und H. Beck
Ein Einwand aus den Reihen der Öffentlich-Rechtlichen gegen ein solches Expe-
riment könnte darin bestehen, dass die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
ja gerade darin besteht, die Präferenzen der Zuschauer zu ändern, und dass man
befürchten müsse, dass dann Programme gesendet würden, die zwar dem Willen
10Ein Anhaltspunkt für dieses Argument findet sich im Steuersystem der Schweiz: Dort
hat man festgestellt, dass in Kantonen mit direktdemokratischer Beteiligung 30 % weniger
Steuern hinterzogen werden als in Kantonen, die keine solchen Rechte kennen. Vgl. Han-
nelore Weck-Hannemann und Werner W. Pommerehne: Einkommensteuerhinterziehung in
der Schweiz. Eine empirische Analyse, in: „Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft
und Statistik“, 125. Jahrgang, Nr. 4, 1989, S. 515–556.
Transparenz und Partizipation 433
artiges Experiment zeitlich befristen und einen festen Zeitplan sowie die einzu-
haltenden Standards bei der Evaluation festlegen. Der ergebnisoffene Charakter
des Experiments, ob eine neue öffentlich-rechtliche Zuschauerdemokratie dem
Legitimationsproblem der Anstalten wirksam entgegentritt, wäre so gesichert.
Einen Versuch ist es wert.
URL: http://www.carta.info/77747/transparenz-und-partizipation/ vom 22.
März 2015.
Nachtrag
Im 20. KEF-Bericht wurde eine Senkung des Rundfunkbeitrags auf 17,20 €
empfohlen.12 Die Eingangs genannte Studie von Schlegel und Seufert ist nicht
repräsentativ. Von 2012 bis 2015 hat ZDFneo das TVLab veranstaltet. Dort wur-
den diverse Programmtrailer vorgestellt und Nutzer konnten abstimmen, welcher
der Trailer produziert werden soll. Im Jahr 2014 beteiligten sich 13.232 Nutzer
an diesem Auswahlprozess. Eine Begleitforschung wie in diesem Beitrag vor-
geschlagen wurde allerdings nicht durchgeführt.13 Eine aktuelle Initiative in die
gleiche Richtung ist der „Call for Podcasts“ des Bayerischen Rundfunks. Auch
dort kann über die Verwendung eines kleinen Teils der öffentlichen Mittel von
Nutzern abgestimmt werden.
1220. KEF-Bericht, 2016, S. 16. Siehe auch Christian Herzog/Heiko Hilker/Leonard Novy/
Orkan Torun (Hrsg.): Transparency and Funding of Public Service Media. Die deutsche
Debatte im internationalen Kontext. Springer VS, 2017; Christian Handke/Christian Her-
zog: Entscheidungsexperimente als Grundlage für die Bewertung und Ausgestaltung öffent-
lich-rechtlicher Medienangebote, in Christian Herzog/Heiko Hilker/Leonard Novy/Orkan
Torun (Hrsg.) „Transparency and Funding of Public Service Media. Die deutsche Debatte
im internationalen Kontext“, Springer VS, 2017.
13Christian Herzog/Hanno Beck: Experimental media policy, in „International Journal of
Małgorzata Steiner
M. Steiner (*)
Berlin, Deutschland
E-Mail: margo.steiner@gmail.com
mit mehr Daten erzielt werden kann – beispielsweise, wenn Ärzte den Gesund-
heitszustand einer Person detailliert analysieren und mit einer Vielzahl von ano-
nymisierten Daten anderer Patienten vergleichen können. Es geht darum, durch
bessere Steuerung knapper Ressourcen zentralen Herausforderungen, auf die wir
noch keine Antworten haben, besser begegnen zu können, etwa weil immer mehr
Menschen in immer größeren Städten leben, weil sich Migrationsströme um die
Erde bewegen und die Folgen des Klimawandels offen sind.
Nun bringt allein die Verfügbarkeit personenbezogener Daten Risiken mit
sich. Schon 1983 haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts davor
gewarnt, dass der „gläserne Mensch“ mit der Demokratie unvereinbar sei. Und
Entscheidungen über ein ahnungsloses Individuums aufgrund irgendwelcher omi-
nöser Daten, von denen der Betreffende nichts weiß, seien menschenunwürdig.
Zwar wird das Europäische Datenschutzsystem durch die neue Datenschutz-
grundverordnung in Zukunft „dichter“ in dem Sinne, dass es auch auf amerika-
nische Unternehmen, die europäischen Kunden ihre Dienstleistungen anbieten,
anzuwenden ist. Trotzdem steht fest: Der Trend zum Datensammeln lässt sich
nicht stoppen, weil über Daten inzwischen ganze Märkte funktionieren.
Viele dieser so wertvollen Daten gelangen mit unserer Genehmigung in die
Hände von Unternehmen. Denn auf ‚Akzeptieren‘ klicken wir alle – allzu oft
ahnungslos – recht zuverlässig. Während aber die Menge der zu Verfügung ste-
henden Daten enorm wächst, stehen diese in der Regel weder den Verbrauchern
selbst noch der Forschung zur Verfügung. Auch gemeinwohldienliche Nichtre-
gierungsorganisationen partizipieren derzeit kaum am Datenreichtum unserer
Gesellschaft.
Nur wenige Unternehmen verfügen über mächtige Dateninfrastrukturen, also
sowohl über enorme Mengen wertvoller Daten als auch über die entsprechenden
Analysefähigkeiten. Manche horten diese Informationen, um sich so den ent-
scheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber Rivalen zu sichern, andere betreiben
mit den Daten einen regen Handel. Das Geschäft von Firmen, die auf den Handel
mit Daten spezialisiert sind, sogenannte Data Broker, ist alleine in den Vereinig-
ten Staaten mehrere Milliarden US-Dollar wert. Die auf Daten basierte Werbein-
dustrie hatte dort im Jahr 2014 Einnahmen in Höhe von 50 Mrd. US$.
„Der Geist ist aus der Flasche“, sagt Dirk Helbing, Professor für Soziologie
an der ETH Zürich. Große Mengen unserer Daten sind schon online und werden
genutzt. Jedes Mal wenn wir „googeln“, hinterlassen wir Spuren in der digitalen
Welt. Jede Minute werden auf YouTube 300 h neuer Videos geladen, auf Twitter
350.000 Tweets gesendet und mehr als 4 Mio. Facebook-Posts „geliked“. Alle
diese Daten erlauben wertvolle Aussagen über Individuen. Bis 2020 soll nach
Schätzungen des World Economic Forums die Menge der digitalen Daten 44 mal
Digitales Gemeinwohl durch faire Datenpolitik 437
größer sein als 2009 – auch weil sie zunehmend nicht mehr von Menschen, son-
dern von „smarten“, mit dem Internet (und damit auch unter einander) verbunde-
nen Geräten generiert werden.
Informationelle Selbstbestimmung im 21. Jahrhundert muss anders aussehen
als das, was man sich in den 1980er Jahren darunter vorgestellt hat. Es ist eine
wichtige und – zugegeben – schwierige politische Aufgabe, die Datenpolitik so
zu gestalten, dass wir einerseits von der Verfügbarkeit der Daten profitieren kön-
nen, anderseits aber vor Missbrauch dieser Daten geschützt werden. Beim Daten-
schutz sollte es nicht nur um „Abwehr“ gehen, sondern auch um „gute Nutzung“
von Daten. Eine Nutzung, von der die ganze Gesellschaft profitieren kann.
Statt so zu tun, als ob eine „Ausgabesperre“ für Daten möglich und erstrebens-
wert wäre, sollten wir den Schwerpunkt auf Transparenz und Kontrolle der kon-
kreten Datenverwendung verlagern und den Schwerpunkt der Datenpolitik darauf
legen, sicherzustellen, dass die Datenauswertung auch gemeinwohlorientierten
Zwecken dient. Die soziale Marktwirtschaft, ein zentrales Prinzip des Grundge-
setzes, muss auch in die datenbasierte Wirtschaft Einzug halten.
Wie würde eine soziale Marktwirtschaft für Daten aussehen? Mindestens diese
drei Elemente sollte sie enthalten:
Hermann Rotermund
Am Anfang war das soziale Netzwerk. Die Website des damaligen SWF3 (heute
SWR) entstand aus einem Diskussionsforum im Fido-Netz und mutierte Anfang
1995 zur offiziellen Vertretung dieser damals noch jungen Radiowelle. Auch
Fritz.de und die Website von Radio Bremen 4 entstanden außerhalb der Sender,
aus der Mitte der jungen Netzkultur. Dann erfolgten die offiziellen Gründungen
in Bayern, Bremen, Hessen usw., schließlich auch im Sommer 1996 die der ard.
de. Die Kommunikation mit den Nutzern trat nun in den Hintergrund. Immer-
hin jedoch blühten auf einigen dieser Websites eigenständige Produktionen auf:
eigens für das Web konzipierte Features und Kurse, dazu umfangreiche Bera-
tungsangebote wie die Datenbank des ARD-Ratgebers Recht. Wir hätten heute
geringere Sorgen, wenn es dabei hätte bleiben dürfen. Aber auf dem öffentlich-
rechtlichen Großtanker entwickelte sich erst ein Verständnis des Medienwandels
und seiner Folgen für die Zukunftsfähigkeit des Rundfunks, als schon ein völlig
anderer organisatorischer und rechtlicher Kurs vorgezeichnet war. Die Internet-
Angebote laufen im Beiboot von Radio und Fernsehen mit, aber speziell der Kon-
takt zur jüngeren Generation ist längst abgerissen.
Nun will die Medienpolitik mit dem Online-Jugendangebot, das gegen den
Widerstand der Sender durchgesetzt wurde, das seit zwanzig Jahren systematisch
aufgegebene Terrain zurückgewinnen. Die wichtigsten Absichten dieser Initiative:
H. Rotermund (*)
Bonn, Deutschland
E-Mail: hr@weisses-rauschen.de
Die Policy Netzneutralität ist zunehmend Gegenstand der breiten politischen Aus-
einandersetzung – unter dem Vorzeichen konkurrierender Deutungshoheiten.
Nach früheren Einlassungen zur Policy Netzneutralität im Jahr 2009, die vor
allem Fragen der Kommunikations- und Medienfreiheit von Multimediadiens-
ten/Massenmedien ohne eigene Netzinfrastruktur in neuen Vertriebsumgebungen
thematisierten, bedarf es in einem fortgeschrittenen Diskurs einer Wiedervorlage
mit einem geöffneten, wettbewerbsbezogenem Fokus. Bisherige Regelungswerke
stehen nach wie vor im Status der Problemdefinition. Der zugrunde liegende
Meinungsbildungsprozess verläuft durchwegs konfliktgeladen, zumal das EU-
Parlament in der Entschließung vom 3. April 2014 eine klare Position gegen den
EU-Kommissionsvorschlag bezogen hat, woraufhin der Ball nun an den EU-Rat
weitergespielt wird. Dieser sympathisiert bekanntermaßen mit den Positionen der
EU-Kommission, deren marktliberale Gesinnung eine stärkere Re-Fokussierung
auf wirtschafts- und wettbewerbspolitische Sachverhalte erwarten lässt.
Doch was blieb vom bisherigen Diskurs bis auf die notwendige Bewusst-
seinsbildung? Die Antwort auf diese Frage lässt sich zu Beginn des Jahres 2015
noch weniger einfach beantworten als im Zuge der Verhandlungen um die Policy
Netzneutralität, im Rahmen des Telekommunikations-Reformpaketes der Euro-
päischen Union aus dem Jahr 2009. Ein Trend ist jedoch hervorzuheben: Ein
Umdeuten der Policy Netzneutralität.
Die Auflösung der schwierigen Frage, wie es sich mit der Kommunikations- und
Medienfreiheit im Kontext breitbandiger Versorgung der Haushalte und Medien-
vielfalt verhält, ist bislang ein weißer Fleck in der Gemengelage der Einlassun-
gen. Konkret: Dass es in der EU (Ausnahme Ungarn bestätigt die Regel) keine
Diskriminierungen aufgrund meinungsrelevanter Inhalte gibt, ist ein breiter
Konsens. Nicht entschieden ist allerdings die Glättung der Problematik, welche
Mediengattungen und elektronischen Dienste in den Genuss einer nicht-diskri-
minierenden Weiterleitung ihrer Datenemissionen kommen und welche nicht.
Anbieter multimedialer, redaktioneller Beiträge benötigen mehr Bandbreite
als solche, die reinen Text und Bilder zur Rezeption anbieten. Medienkonzerne
beispielsweise können diese Problematik durch den Zukauf von Bandbreite in
fremden Netzen genauso elegant lösen wie durch den Unterhalt eigens betriebe-
ner Distributionsinfrastrukturen in Form von Content Delivery Networks. Kleine
und mittelständische Medienbetriebe laufen hier Gefahr, entweder dem Goodwill
der Telekommunikationsanbieter ausgeliefert zu sein oder erschöpfen ihre Reich-
weite im Rahmen der eigenen Vertriebsressourcen. Damit wäre die Policy Netz-
neutralität Gegenstand der Medienkonzentrationsproblematik.
Wichtig in diesem einleitenden Zusammenhang ist ein EU-weites Problem-
bewusstsein zu dem Terminus „Bandbreite in Telekommunikationsnetzen“. Ab
welcher Datenübertragungsrate kann von „Breitband“ gesprochen werden? Dass
sich am Markt angebotene Bandbreiten in Zukunft wahrscheinlicher in Richtung
„mehr“ entwickeln werden, dürfte dabei das geringste Problem sein. Problema-
tisch bleibt in diesem Zusammenhang nur, dass verfügbare Breitbandkapazi-
täten zu einem der am besten gehüteten Betriebsgeheimnisse der Netzbetreiber
zählen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass das mantraartige Lamento über
Kapazitätsengpässe und die vehemente Forderung nach öffentlichen Mitteln zur
Finanzierung des Breitbandausbaus nicht weiter hinterfragt werden, und dies
trotz kolportierter Mehreinnahmen durch eine „abgeschaffte“ Netzneutralität. Ein
weiterer staatlich-gestützter Fall von Double Exploitation, also doppelter Abrech-
nung?
Und damit willkommen im unübersichtlichen Gelände der Policy Netzneu-
tralität, in der jeder Zugang zur Problematik eine eigene Arena bildet, die den
Deutungsanspruch für sich mit jeweils guten Gründen erhebt, wie etwa die Anti-
Netzneutralitätskampagne der europäischen Telekomkonzerne verdeutlicht. In
diesem Zusammenhang ist auch ein abstruser Beitrag des österreichischen Tele-
komanbieters A1 erwähnenswert, der die Geschäftspraktiken von Apple als Ver-
stoß gegen die Netzneutralität deutet, um dadurch auf Diskriminierungspraktiken
446 J. Krone und T. Pellegrini
Bleibt man bei der EU-zentrierten Perspektive, dem Verständnis von Netzneutra-
lität als Interconnection-Phänomen, befinden sich die unterschiedlichen Zugänge
zur Policy Netzneutralität unter dem Dach der Universaldienste-Richtlinie der
Europäischen Union, die der Funktionsweise des Internets insofern entgegen-
kommt, als dass es sich um einen gemeinsamen politischen Raum 28 souveräner
Staaten handelt. Lohnenswert ist die EU-Perspektive weiterhin deshalb, weil sich
die politische Debatte in den USA nicht nur von dem Ursprung der Policy Netz-
neutralität qua Verwaltungsweg getrennt hat, des diskriminierungsfreien Trans-
ports von Daten zwischen Netzen unterschiedlicher Betreiber, sondern weil es
perspektivisch einfach unlogisch wäre, Internetregularien auf nationalstaatlicher
Ebene, zumal in der EU, durchzuführen.
Arm an Komplexität des politischen Formulierungsprozesses ist die Hand-
habung des Universaldienste-Aspekts damit nicht. Es prallen die Arenen des
Technologiezentrismus, des Ökonomiezentrismus sowie des Kommunikations-
zentrismus ungebremst aufeinander und nutzen den Begriff „Netzneutralität“ bis-
weilen populistisch im Sinne des jeweils eigenen Interessenkataloges.
Geht es unter technologischen Aspekten vornehmlich um Lösungen des effek-
tiven Datenmanagements inklusive Routing und Peering sowie die Bandbreiten-
entwicklung, vertreten die Akteure dieser Arena den ungeliebten Standpunkt, eine
in reiner Form beschriebene Netzneutralität habe es ohnehin nie gegeben. Eine
Parität zwischen Upload- und Downloadgeschwindigkeiten kam nur im präkom-
merziellen Stadium des Internets vor. Und ohne Traffic Management würde das
Internet heutiger Prägung zwangsläufig kollabieren.
Doch genau am Beispiel Traffic Management wird ersichtlich, wie die
Umdeutung des Diskursgegenstandes Netzneutralität stattfindet. Denn Traffic
Management erfolgte bisher weitgehend diskriminierungsfrei und geschäftsmo-
dellagnostisch. Unter den Bedingungen diskriminierungskritischer Specialized
Services wird es jedoch zur Grundlage neuer Erlösmodelle.
Entsprechend hält die Ökonomie-zentrierte Arena ein Festschreiben eines
gleichberechtigten Datentransports ohne Diskriminierungen für dysfunktional vor
Netzneutralität in der EU: Wiedervorlage 2015 447
Alternative Versorgungsstrategien
Die politische Auseinandersetzung der letzten Jahre hat, nicht nur auf EU-euro-
päischer Ebene, immer wieder zu erstaunlichen Twists geführt. Es werden sowohl
unterschiedliche Grundannahmen zur Netzneutralität verfolgt und graduelle
Abstufungen mal in die eine, mal in die andere Richtung vorgenommen. Objektiv
betrachtet hat die Policy Netzneutralität daraus enormen Schaden genommen und
sollte in ein politisches Programm münden, dass sie von der Agenda streicht.
Dazu lohnt beispielsweise der Blick auf das um Finnland erweiterte Baltikum,
dessen Staaten bereits zu Beginn der Konsultation für das EU-Telekom-Reform-
paket 2009 die Befassung mit der Policy Netzneutralität abgelehnt haben. Mit
dem Hinweis, dass es der taugliche Wettbewerb sei, der diese spezielle Regu-
lierung überflüssig mache. Sobald ein Markt einen intensiven Wettbewerb und
dem Nachfrager eine hohe Anzahl an Anbietern biete, ginge es den Netzzugangs-
dienstleistern im ureigenen Interesse nur mehr darum, das beste Angebot für den
Endkunden zu präsentieren. Dysfunktionale Effekte wie gezielte Diskriminierun-
gen würden auf diese Art und Weise der Marktgestaltung durch ein Marktversa-
gen des spezifischen Angebots aussortiert. Und zwar genau in dem Moment, da es
ein konkurrierender Anbieter inkludiert. Dieser ideale Zustand verlangt selbstver-
ständlich nach Marktvoraussetzungen, die in der überwiegenden Anzahl der EU-
Mitgliedsstaaten aus unterschiedlichen Gründen und Motiven nicht gegeben sind
und wahrscheinlich niemals erreicht werden.
Es mangelt in der EU beispielsweise an flächendeckender Versorgung mit
Glasfaserkabelinfrastruktur. Es mangelt an bereits bekannten Regulierungsmaß-
nahmen für ehemalige staatliche Monopolisten, virtuelle Internetservice-Provider
verpflichtend zuzulassen und mit einer Preiskontrolle zu versehen (Call-by-Call-
Verfahren zur Auswahl des Netzbetreibers). Weiterhin sind die Versuche bis
heute als zart zu bezeichnen, WIMAX als alternativen Zugangskanal zu etablie-
ren (Internetzugang in ländlichen Gebieten? Kein Problem!). Energisch wurde
448 J. Krone und T. Pellegrini
Dass sich eine der drei politischen Arenen Verbraucherschutz, Ökonomie, Tech-
nologie mit ihren jeweiligen Interessen radikal durchsetzen werden, ist genauso
wenig zu erwarten wie ein tragfähiger Konsens, der die Balance der Kräfte und
Positionen widerzuspiegeln imstande ist. Die Standpunkte der Verhandlungspar-
teien lassen sich mit folgenden Perspektiven also grob zusammenfassen: