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Verbrechen

Brabenec ln der Regen-


Veselx'l bogenbucht

Utopischer Roman
Ungewöhnlich ist der Fall, den
der Detektiv Rodin und der
Psychologe Dr. Holberg über-
nommen haben. Ungewöhnlich
ist auch der Tatort — die Regen-
bogenbucht des Mare Imbrium
auf dem Mond. Was ist gesche-
hen? Ein Mitarbeiter des Mond-
observatoriums wird tot aufge-
funden.
Rodin und Holberg ermitteln,
daß der Funktechniker Schmidt
vorsätzlich getötet wurde. Neun
Menschen, zuverlässige, über-
durchschnittlicheWissenschaftler
stehen in dem Verdacht, einen
Mord begangen zu haben.
Aber ihre Alibis scheinen hieb-
und stichfest zu sein. Erst nach
einer Reihe von Fehlschlüssen
begreifen die Kriminalisten, daß
das Verbrechen ohne die spezifi-
schen Gegebenheiten der luna-
ren Umwelt nicht ausführbar ge-
wesen wäre. Gerade die beson-
deren Bedingungen auf dem
Mond wußte der Täter für sich
zu nutzen.
Der Autor hat es verstanden,
die Kriminalhandlung wirkungs-
voll und glaubwürdig mit den
utopischen Umständen zu ver-
binden, die die Voraussetzungen
für jenes seltsame Verbrechen
und seine erfolgreiche Aufklä-
rung boten.
Jifi Brabenec
Jif‘i
Zdenek Vesely

HWil lHIlibHI HI HI Hl H IHI IHI I I!


Verbrechen
in der Regen-
bogenbucht

Utopischer Roman

Verlag Das Neue Berlin


Titel des Originals:
„Zloöin V duhovem zälivu"
Aus dem Tschechischen übersetzt von Josef Ulrich
Dienstag: Ein absurder Fall

Den Liebenden geraubt

„Major Rodin? Das freut mich! Guten Tag. Bitte, nehmen


I
Sie Platz l“
„Danke.“
Das ist also der Direktor, überlegte der Major, während er
sein Gegenüber musterte. Ein Direktor, zu dessen Ressort
das Weltall gehört und in dessen Tagebuch der Mond als
Gegenstand täglicher Beratungen ausgewiesen wird. Eigent-
lich sieht er gar nicht danach aus. — Und die Händel Sonn-
abends geht er wahrscheinlich kegeln.
„Sehen Sie, Major, das ist eine etwas seltsame, auf den er-
sten Blick fast unglaubliche Geschichte. Es handelt sich um
ein tragisches Ereignis im Mondobservatorium. Aber viel-
leicht ist es besser“, der Direktor drückte auf eine Taste sei-
ner Sprechanlage, „wenn wir — ich lasse Doktor Holberg bits
ten —, wenn wir einen Fachmann hinzuziehen.“
Der Major folgte der einladenden Geste und nahm sich eine
Zigarette aus einem Ebenholzkästchen. In eine Rauchwolke
gehüllt, wandte er sich erwartungsvoll der Tür zu.
„Das ist Doktor Erza Holberg aus der Klinik für kosmische
Medizin.“ Der Chef des Instituts deutete in die Richtung des
Eintretenden. „Und dies ist Major Leopold Rodin, er ist vor
einer Weile aus der Zentrale hier eingetroffen.“
„Freut mich.“ Der Arzt sah den Kriminalisten neugierig prü-
fend an.
Der Direktor heftete seinen Blick auf die plastische Mond-
karte an der Wand, die mit scheinbar unverständlichen Zei-
chen und mit Fähnchen in fünferlei Farben bedeckt war.
„Um von vorn zu beginnen: Schwerpunkt unserer Arbeit auf
dem Mond sind die Observatorien. Sie sind schon so oft be-
schrieben, bewundert und kritisiert worden, daß es überflüs-
sig ist, ausführlicher darauf einzugehen. Darum nur das Not-
wendigste. Im Observatorium in der Regenbogenbucht haben
wir ständig eine Besatzung von neun Personen. Sie wird je-
weils nach drei Monaten abgelöst. Für die wissenschaftliche
Forschung ist das eine kurze Zeit, aber für den Organismus
und die Psyche des Menschen bedeutet es fast eine Ewig-
keit.“
„Und diese neun . . .P u
„Vier wissenschaftliche Mitarbeiter und fünf Techniker. Der
Funktechniker Michael Schmidt gehörte zur Besatzung. Er
'starb unter Umständen, die bisher noch nicht befriedigend ge-
klärt wurden.“
Rodin nickte schweigend, überzeugt, daß der Mensch um so
mehr erfährt, je weniger er fragt. Sollte diese Methode jedoch
versagen, dann würde er die Rolle des stummen Zuhörers
schon rechtzeitig aufgeben.
„Vielleicht möchten Sie Näheres wissen?“ Eine Spur von Ent—
täuschung färbte die Stimme des Direktors.
Wahrscheinlich geht er sonnabends wirklich kegeln, schoß es
Rodin durch den Kopf. Und wenn er mit einer gutgezielten
Kugel alle neun umlegt, strahlt auf seinem Gesicht ein zufrie-
denes Lächeln.
„Ja, natürlich.“
„Hier auf der Erde geht es jetzt auf Vollmond zu.“ Die
Worte des Direktors strömten eine Kühle aus wie ein steiner-
nes Gebäude. „In der Regenbogenbucht herrscht allerdings
noch Dunkelheit, dort dauert die lunare Nacht an. Doch zur
Sache. Am Sonnabendmorgen wurde Schmidt tot aufgefun-
den.“ Die kräftige Hand berührte unwillkürlich den Mond-
globus auf dem Tisch. „Er kam etwa achthundert Meter vom
Stütunkt entfernt und nur wenige Schritte neben dem Ra-
dioteleskop, das er reparierte, ums Leben.“
Hat er den Globus jetzt nicht wie eine Kugel beim Kegeln
angefaßt, dachte der Major unwillkürlich. Gewiß, der Dau-
men lag den Fingern gegenüber. Fast gleichzeitig lächelte er
wieder ermunternd, aber die Gereiztheit schwand nicht aus
dem Blick des Direktors.
„Wir haben festgestellt, daß der Funktechniker durch einen
Pistolenschuß getötet wurde. Selbstverständlich ist der Schuß
aus einer Signalpistole abgegeben worden. Andere Waffen
gibt es dort nicht, und wir hoffen, daß es sie niemals geben
wird. Ein Unglücksfall?“ Der Mann hinter dem Schreibtisch
schüttelte skeptisch den Kopf. „Schwerlich. Also Selbstmord?
Aber warum? Das gerade muß aufgeklärt werden. Auf die-
sem exponierten Arbeitsplatz, der, bildlidl gesprochen, im
Blickpunkt der ganzen Welt steht — in der Nacht trifft das
sogar wörtlich zu —, können wir es uns nicht leisten, eine so
sonderbare Sache ungeklärt zu lassen. Sie wird viel Staub
aufwirbeln, das steht fest. Man wird darüber schreiben und
dabei nicht mit Fragezeichen sparen! Hier liegt Ihre Aufgabe,
Major: Licht in diesen unglücklichen Fall zu bringen und die
Zusammenhänge zu untersuchen.“
„Darf ich vielleicht um einige Details bitten?“
„Selbstverständlich! Ich kann das alles schon auswendig, es
raubt mir den letzten Nerv, nachts kann ich kaum noch ein
Auge zumachen. Schmidt ging zum großen Radioteleskop auf
dem Hügel. Das war am Sonnabend um neun Uhr mor-
gens.“
„Nach unserer Erdzeit“, fügte der Experte aus der Klinik für
kosmische Medizin hinzu.
„Zwei Stunden später, genau eine Minute vor elf, stieg über
dem Radioteleskop eine rote Leuchtkugel auf. Ein Hilferuf,
eine Art SOS der Mondmeere, aber nicht nur der Meere . . .
Die Kontrollanlage reagierte auf das entsprechende Farb-
spektrum und löste Alarm aus. Zwei Minuten nach elf trat
die Besatzung in den Schutzanzügen vor dem Eingang des
Hauptgebäudes an.“
„Bis auf Irina Dario“, bemerkte Doktor Holberg.
„Richtig, es fehlte nur die Funktechnikerin Dario. Sie stand
gerade mit der Erde in Fernschreibverbindung.“
„Ich verstehe.“
„Nachdem sich also die Leute versammelt hatten, eilten sie
zum Hügel. Dort bot sich ihnen ein unschöner Anblick.
Schmidt lag regungslos auf dem Rücken, die Arme von sich
gestreckt. Neben der rechten Hand befand sich die Signal-
pistole, aus der drei Schuß abgegeben worden waren. Von
den sechs Patronen im Magazin fehlten gerade diese drei.
Ein Schuß hatte ihn gestreift, aber das kann Ihnen besser der
Doktor sagen.“
Major Rodin wandte sich schweigend Holberg zu.
„Am Sonnabendnachmittag schickte man Schmidts Leichnam
mit einer Sonderrakete Zur Erde. Zu diesem Zeitpunkt lag
uns bereits der Bericht über die vorläufige Untersuchung von
Frau Doktor Santos vor, die im Observatorium arbeitet. Sie
scheint in jeder Hinsicht eine Kapazität zu sein. Schmidt war
zweimal angeschossen. Ein Schuß hatte ihn leicht an der
Schulter gestreift, den Deltamuskel beschädigt, aber keine
Knochen verletzt. Das zweite Geschoß traf genau ins Herz,
es durchschlug die rechte Herzkammer.“
„Der erste ein Streifschuß, der zweite ein Treffer ins Herz.“
Rodin betrachtete bei diesen Worten angestrengt den Mond-
globus.
„Wollen Sie überhaupt keine Fragen stellen?“ Die Stimme
des Direktors zitterte vor Erregung.
Der Major lächelte entschuldigend und trotz seiner fünfzig
Jahre fast jungenhaft schüchtern. „Natürlich werde ich fra-
gen. Hat das erste Geschoß, das die Schulter verletzte, auch
den Schutzanzug durchschlagen? Ich meine den Skaphan-
der.“
Der Direktor und Doktor Holberg tauschten einen verwun-
derten Blick. In ihren Augen war nichts zu erkennen, was
dem Major geschmeichelt hätte. Am allerwenigsten Staunen
über seinen Scharfsinn.
„Selbstverständlichl“ Holberg musterte den Detektiv ein-
dringlich. „Was denn sonst?“
„Was war der Funktechniker Schmidt für ein Mensch? Hatte
er in der letzten Zeit irgendwelche Schwierigkeiten? Gab es
Komplikationen in seinem Leben?“
Der Mann hinter dem Direktorenschreibtisch lebte sichtlich
auf. Die letzte Frage des Majors schien ihn Zu beruhigen. Er
fragte also doch! Wie konnte es auch anders sein.
„Sie meinen, ob etwas bekannt ist, was auf selbstmörderische
Absichten hindeuten würde? Nein, nichts dergleichen. Ich
habe telefonisch mit dem Kommandanten des Stützpunktes
gesprochen. Er sagte nur, daß Schmidt in den letzten Tagen
besonders nachdenklich gewesen sei. Sie werden sicher zu-
geben, daß dies kein Grund zur Beunruhigung war, schon
gar nicht Zu Gegenmaßnahmen.“
„Ganz recht“, stimmte der Major zu. „Wenn sich alle nach-
denklichen Leute das Leben nehmen wollten, wäre die Welt
bald eine große Einöde.“
Der Institutschef holte einen Aktendeckel mit Schmidts Na-
men aus dem Schreibtisch hervor und blätterte in den Papie-
ren.
„Michael Schmidt, geboren dort und dort, Ingenieur, absol-
vierte die Fakultät für Elektrotechnik, Spezialist für kosmi-
sche Telekommunikation. Er’beschäftigte sich mit der Radio-
astronomie, ein überall erfolgreicher Mensch, ein hoffnungs-
voller Wissenschaftler und so weiter. Ich könnte eine ganze
Stunde über ihn reden und nur Gutes sagen. Man kann sich
schwer vorstellen, was für Beweggründe er für einen Selbst-
mord gehabt haben mag. Das möchten wir ia gerade von
Ihnen hören.“
„Und Schmidts Privatleben?“
„Ich wüßte nichts Besonderes. Damit will ich aber nicht
sagen, daß er kein Privatleben gehabt hätte. Stellen Sie sich
einen gutgewachsenen Mann mit scharfgeschnittenem Profil
vor, der eine ganze Gesellschaft unterhalten kann, geistreich,
ohne billige Effekthascherei — und Sie haben Schmidt. Ein
Mann, der den Frauen gefällt.“
„Im Observatorium gibt es auch Frauen, nicht wahr? Diese
' Dario, dann die Ärztin. . . Wie heißt sie
Funktechnikerin
doch gleich?“
„Santos.“
„Richtig, Santos. Sind das alle?“
„Ja. Zwei Frauen und sieben Männer. Entschuldigen Sie,
jetzt nur noch sechs. Ich kann mich immer noch nicht daran
gewöhnen.“
„Zwei Frauen. Alt, jung? Attraktiv oder...“ Der Major
suchte nach einem geeigneten Ausdruck.
„Jung, gewiß. Attraktiv? Wahrscheinlich. Aber nehmen Sie
das mit Vorbehalt zur Kenntnis. Ich bin da kein Fach-
mann.“ Der Direktor hob abwehrend die Hände. „Ich be-
stimmt nicht.“
„Also jung, anziehend. Und Schmidt, sollte er vielleicht. . .“,
murmelte der Major undeutlich.
Doktor Holberg verzog unzufrieden das Gesicht. „Sie schie-
ßen daneben. Sie denken an einen Selbstmord wegen unglück-
licher Liebe, nicht wahr? Weit gefehlt! Ein Mensch wie
Schmidt würde das niemals tun. Nicht einmal zur Zeit der
Minnesänger. Und heute erst recht nicht. Ganz ausgeschlos-
sen!“
„Selbstmord grenzt wahrscheinlich in jedem Fall an Patholo-
gie“, hielt Rodin ihm entgegen.
„Allerdings. Und was wollen Sie daraus schlußfolgern?“
„Der eigentliche, unmittelbare Anlaß zur Tat braucht in kei-
ner Weise entscheidend zu sein, und er entzieht sich auch der
Beurteilung eines geistig gesunden Menschen. Es ist doch
schon vorgekommen, daß ein Hysteriker nur deshalb Selbst-
mord verübte, um sich an jemandem zu rächen. Daß sich ein

IO
Wahnsinniger die Adern durchschnitt, nur um das Blut sprit-
zen zu sehen.“
„Natürlich sind solche Sachen schon passiert. Ja, noch aus—
‚gefallenere Dinge. Aber auf der Erde! Sie dürfen nicht ver-
gessen, daß zum Mondobservatorium sorgfältig ausgewählte
Leute delegiert werden. Unter Tausenden ausgewählt, Ma-
jor! Da rutscht keiner durch, der nur eine Spur schwachsinnig
wäre, geschweige denn ein ausgesprochener Narr! Ist es nicht
so?“
„Ja, es ist so, wie der Doktor sagt“, pflichtete der Direktor
bei. „Auf dem Mond laufen keine Narren herum. Darauf
können Sie jede Wette eingehen — sogar um Ihren Kopf.“
„Ich habe schon die verschiedensten Wetten verloren, deshalb
wette ich nicht, schon gar nicht um meinen Kopf. Sie sagen, es
sei unglaubhaft, daß Schmidt Selbstmord verübt hat. Und
doch ist er tot, nicht wahr? Wir wissen nur, daß er in den
letzten Tagen ein bißchen sonderbar war, daß er nachdenk-
lich ausgesehen hat. Betrachten wir das doch mal etwas näher.
In welchem Zustand fand man seinen Leichnam?“
„Nach dem Bericht von Frau Santos war er in der Kälte er-
starrt, was übrigens durchaus verständlich ist. Während der
lunaren Nacht liegt die Temperatur dort bei etwa hundert-
vierzig Grad unter Null. Ein Grad mehr oder weniger spielt
hier keine Rolle. Der durchschossene Skaphander konnte den
Körper nicht vor der Kälte schützen.“
„Ich war noch nicht auf dem Mond und kenne die dortigen
Bedingungen nicht. Ich weiß nur, was mir aus der Zeitung
oder aus dem Fernsehen im Gedächtnis haftengeblieben ist.
Wie ist das mit den Signalpistolen? Trägt die ieder bei
sich?“
Der Direktor öffnete ein Seitenfach seines Schreibtisches und
entnahm ihm eine Signalpistole.
„Jeder“, bestätigte er. Dann entfernte er mit einem Griff das
Magazin aus der Pistole und reichte dem Major die leere
Waffe. „Jeder, der sich vom Haupttrakt des Stütunktes ent-

II
fernt. Eine rote Leuchtkugel ist ein Hilferuf. Ausschlag-
gebend ist dabei natürlich das Licht und keinesfalls der Ge-
räuscheflekt. Auf dem Mond pflanzt sich der Schall nicht fort,
weil es dort keine Atmosphäre gibt, wie wir sie auf der Erde
kennen. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen.“
Rodin spielte mit der Pistole, die sich durch einen auffallend
langen Abzug auszeichnete.
„Ist es nicht eigenartig, daß jemand eine Leuchtkugel ab-
schießt, also um Hilfe ruft und dann Selbstmord verübt?“
Der Chef des Instituts schaute den Detektiv betroffen an.
„Natürlich, es gibt noch mehr solche verblüffenden Umstände.
Man könnte den Verstand verlieren. Gerade deshalb haben
wir Sie ja angefordert. Bei einem klaren Fall wüßten wir uns
selbst zu helfen. Über den Widerspruch, von dem Sie reden,
haben wir lang und breit debattiert. Ohne Erfolg. Schließlich
sagten wir uns: Wer weiß, was sich im Hirn eines Selbstmör-
ders abspielt. Vielleicht, so fiel mir ein, hat er tatsächlich
um Hilfe gerufen. Gegen sich selbst, verstehen Sie? Gegen
die eigenen selbstmörderischen Gedanken, gegen die Depres-
sion, die ihn befallen hatte, bis er ihr doch unterlag.“
„Schon möglich. Aber zuerst müssen wir alle anderen Lösun-
gen ausschließen. Dazu gehört auch — bitte, fahren Sie nicht
gleich auf — ein Mord. Kann irgend jemand von der Besat-
zung den Funktechniker umgebracht haben? Eine Minute vor
elf flammte über dem Radioteleskop die Leuchtkugel auf,
und zwei Minuten nach elf waren alle, bis auf Fräulein Dario,
vor dem Haupteingang versammelt. Kann man die Entfer-
nung zwischen dem Tatort und dem Stützpunkt in drei Minu-
ten zurücklegen?“
„Ausgeschlossen!“ Der Direktor nahm einen Zirkel und ging
zur plastischen Mondkarte. Er steckte die Entfernung ab und
verglich sie mit dem Zentimetermaß. „Das sind reichlich acht-
hundert Meter.“
„Ein guter Läufer schafft das in zwei Minuten“, hielt Rodin
entgegen.

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„Ja, in der Trainingshose und im Trikot, mit Spikes an den
Füßen, aber nicht im Skaphander. Und auf der Aschenbahn,
nicht über zerklüftete Felshalden.“
„Auf dem Mond ist der Mensch doch leichter.“
„Trotzdem ist es bis zum Radioteleskop ein Weg von gut zehn
Minuten. Die achthundert Meter, die ich ausgemessen habe,
sind im Gelände in Wirklichkeit zwei bis drei Kilometer.
Niemand könnte gleichzeitig an beiden Orten sein. Das ist
völlig ausgeschlossen.“
„Gut. Und die Besatzung eines anderen Stützpunktes?“
„Wir haben uns bereits erkundigt. Am Sonnabend hat weder
ein Raketoplan noch ein Geländefahrzeug einen anderen
Stüt2punkt verlassen. Über Fußtouren brauchen wir nicht zu
reden, die nächste Station liegt im Stürmischen Ozean, tau-
send Kilometer von uns entfernt. Beim Frühstück hat in den
Observatorien niemand gefehlt und beim Mittagessen eben-
falls nicht. Genügt das?“
„Ja. Und irgendeine kurzfristige Expedition?“
„Zur Zeit befindet sich keine auf dem Mond.“
„Wäre es möglich, daß irgendwelche vernunftbegabten Ge-
schöpfe gelandet sind?“
„Majorl“ Der Direktor maß Rodin mit einem gequälten
Blick.
„Es bleibt also tatsächlich nur die Möglichkeit eines Selbst-
mordes oder eines Unglücksfalles?“
Der Institutschef seufzte.
„Einen Unglücksfall würde ich ruhig ausschließen. Dazu
konnte es praktisch nicht kommen.“
„Sind Sie sich dessen völlig sicher? Nehmen wir an, Schmidt
hatte einen Grund, um Hilfe zu rufen. Wahrscheinlich fühlte
er sich einer Ohnmacht nahe, oder die Klimaanlage versagte.
Er schaltete den Sender ein, aber es blieb alles still. Mag sein,
daß er von einer Bodenwelle verdeckt wurde oder daß das
Gerät vorübergehend aussetzte. Er zog die Signalpistole, war
aufgeregt oder bekam keine Luft mehr. Verzweifelt, im Un-

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terbewußtsein, hob er mit gewohnter Bewegung die Pistole,
und dabei löste sich der Schuß. Nun?“
„Ich glaube . . .“
„Wenn Sie gestatten“, Doktor Holberg fiel seinem Chef ins
Wort, „nur eine kleine Bemerkung. Sobald die Reihenfolge
einer bestimmten Handlung durch äußere Einflüsse gestört
wird, wirkt sich das auf das menschliche Verhalten aus. Das
läßt sich nicht bestreiten. So, als würde die Oberfläche eines
Spiegels plötzlich Wellen schlagen, wird alles anders darge-
stellt, deformiert. In einem solchen Fall kann ein Mensch
tatsächlich entgegengesetzt handeln, als man voraussetzen
würde.“
„Das bestätigt doch . . .“, versuchte der Detektiv einzuwen-
den.
„Das bestätigt nichts. Sie dürfen nicht vergessen, daß ver-
schiedene Reflexe durch ihre Wiederholung die Eigenschaft
der Beständigkeit annehmen. Sie verwandeln sich in ein dy-
namisches Stereotyp, in ein mechanisches System von Reak-
tionen auf bestimmte Reizgruppen. In welcher geistigen Ver-
fassung Sie auch sein mögen, beim plötzlichen Aufblitzen
eines Lichtes werden Sie immer die Augen Zukneifen, nicht
wahr? Aber bei diesen Leuten in der Regenbogenbucht ist
auch das Manipulieren mit den Pistolen zu einem mechani-
schen Reflex geworden. Schmidt war selbstverständlich aus-
gebildet, er hat die Pistole oft gezogen und abgeschossen. In
welche Richtung? In die Höhe, immer nur in die Höhe, nie
nach unten oder seitwärts, also niemals in Schulter- oder
Herzrichtung. Er würde deshalb stets, selbst in Augenblicken
verminderter Urteilsfähigkeit, in die Höhe zielenl Da müß-
ten ihn schon sehr sonderbare Krämpfe befallen haben.
Nein“, der Doktor schüttelte energisch den Kopf, „Schmidt
konnte sich nicht zufällig erschießen.“
„Vergessen Sie nicht“, setzte der Direktor die Gedanken des
Arztes fort, „daß es einer ganz beachtlichen Anstrengung be-
darf, im Skaphander auf das eigene Herz zu zielen. Schmidt

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mußte große körperliche Kräfte entwickeln, damit er sich
überhaupt die Leuchtkugel in den Körper jagen konnte. Er
handelte also überlegt, bewußt. Das erstemal traf er nur die
Schulter, und deshalb wiederholte er seinen Versuch. Das
läßt doch auf einen hartnäckigen, geradezu starrköpfigen
Selbstmörder schließen, oder nicht?"
Der Kriminalist nickte nachdenklich.
„Demnach kann es sich also nicht um einen unglücklichen Zu-
fall handeln.“
„Nein“, antworteten der Direktor und der Arzt wie aus
einem Mund.
Im Arbeitszimmer breitete sich bedrückende Stille aus. Rodin
bediente sich noch einmal aus dem Ebenholzkästchen. /
„Was geschähe wohl“, er stieß einen langen Rauchkegel aus,-
„wenn ich mir auf dem Mond eine Zigarette anstecken
würde?“
Der Institutsleiter warf einen überraschten Blick auf den Kri-
minalisten. „Gehört diese Frage auch zur Sache?“
„Selbstverständlich. Ich würde mich doch nicht erdreisten, nur
so zur Unterhaltung . . .“
„Auf dem Mond können Sie nicht rauchen. Dort gibt es kei-
nen Sauerstoff, die Zigarette würde nicht brennen. Und im
Stützpunkt ist es nicht erlaubt.“
„Aber die Leuchtkugel?“
„Das Geschoß führt nicht nur Brennstoff, sondern auch ein
Oxydationsmittel mit sich.“
Rodin wandte sich zum Fenster und zielte probeweise in die
Luft.
„Wie hoch würde sie tragen, wenn ich jetzt abschösse?“
„Etwa hundertfünfzig bis zweihundert Meter.“
„Gut. Nun noch etwas zum Obduktionsbefund. Vielleicht
können Sie mir Auskunft geben, Doktor Holberg?“
„Bitte. Ich werde Sie nicht mit Details ermüden. Kurz und
bündig: Im Bruchteil einer Sekunde entwich die Luft aus dem
beschädigten Skaphander. Es trat eine sofortige Dekompres-

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sion und eine blitzartige Hypoxie ein. Schmidt verlor augen-
blicklich das Bewußtsein. Unmittelbar danach starb er.“
Der Major schaute den Arzt nicht an, sondern starrte wie ge-
bannt auf den Mondglobus, als würden seine Augen von
einem verborgenen Magneten angezogen. Dann riß er seinen
Blick fast mit Anstrengung los und brummte: „Interessant.“
„Bitte?“ Der Direktor beugte sich ein wenig vor.
„Mir ist nur gerade etwas eingefallen.“
Der Institutsdirektor betrachtete Rodin eine Weile erstaunt,
dann richtete er einen fragenden Blick auf den Arzt. Aber der
beobachtete nur gespannt den Major und biß sich auf die Lip-
pen.
„Sie könnten mir noch erzählen, aus welcher Richtung die
Schüsse abgefeuert wurden.“
„Von vorn, wobei die Schußrichtung von rechts oben nach
links unten verlaufen sein muß“, sagte der Doktor mecha-
nisch, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. „Er hat die
Waffe naturgemäß in der rechten Hand gehalten.“
„Und sagen Sie, Doktor, aus welcher Entfernung sind die
Schüsse abgegeben worden?“
Doktor Holberg schwieg. Er blickte Rodin unverwandt in die
Augen.
„Nun?“ Der Direktor klopfte ungeduldig auf die Tisch-
platte.
„Das läßt sich nicht genau bestimmen.“ Der Doktor zuckte
die Schultern. Er sprach leise, betroffen, und zwischen den
einzelnen Wörtern legte er nachdenkliche Pausen ein. „Bei
sauberen Wunden würde man die Entfernung nach der Ro-
tation der Geschosse bestimmen, zum Beispiel an einem Kno-
chendurchschuß; das Projektil hat auf den verschiedenen Ab-
schnitten seiner Bahn eine unterschiedliche Rotation. Schmidts
Wunden sind jedoch durch die explosive Dekompression, die
in der Luftleere eingetreten ist, zerfetzt worden. Daraus auf
die Rotation der Leuchtkugeln schließen zu wollen würde an
Leichtsinn grenzen. Da das Geschoß den Körper aber vol-

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lcnds durchschlagen hat, ist anzunehmen, daß es aus der
Nähe abgefeuert wurde. Die Patronen haben nämlich eine
ziemlich geringe Anfangsgeschwindigkeit.“
„Und noch etwas: Wann trat die Bewußtlosigkeit ein?“
„Zwei bis drei Zehntelsekunden nach dem ersten Durchschla-
gen des Skaphanders.“ Der Arzt sprach jetzt im Flüsterton,
so daß der Direktor seinen Sessel näher rüdcen mußte, um
ihn zu verstehen.
Major Rodin blickte den Chef des Instituts ernst an. „Lang-
sam beginnt sich alles zu klären. Mir scheint, daß ich bereits
dahintergekommen bin. Was soll nun weiter geschehen?“
„Wieso?“ Der Direktor wischte sich mit dem Handteller über
die Stirn. „Ich habe eine unselige Ahnung . . .“
„Ihre Ahnung ist richtig. Es handelt sich tatsächlich nicht um
einen Selbstmord oder um einen unglücklichen Zufall. Schmidt
wurde erschossen, vielleicht sogar vorsätzlich ermordet.“
„Ermordet?“
„Ja, alle Umstände deuten darauf hin. Nicht wahr?“ Die
Augen des Majors blitzten den Arzt an.
„Es scheint so“, räumte Holberg ein. „Es ist eigentlich voll-
kommen sicher. Nur will es mir nicht in den Kopf.“ Seine
Miene verdüsterte sich. „Ich begreife nicht, warum mir das
nicht gleich klar wurde. — Aber das klingt alles so unwahr-
scheinlich, ganz unglaublich! Wie könnte ein Mensch nur im
entferntesten eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen. Und
dennoch! Ent-setz-lichl“ Schnaubend zerriß er die einzelnen
Silben.
Der Direktor fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lip-
pen. „Meinen Sie wirklich, daß es ein Verbrechen ist?“ Als er
seine Augen jetzt auf Rodin richtete, machte er einen müden
Eindruck. „Gibt es denn keine andere Erklärung?“ fügte er
fast bittend hinzu.
„Was für eine? Überlegen Sie selbst! Der erste Schuß ver-
letzte Schmidt an der Schulter. Wäre das auf der Erde ge-
schehen, dann hätte er mit einem solchen Kratzer den Selbst-

2 Vescly, Verbrechen
I7
mordversuch ohne weiteres wiederholen ‚und sich ins Herz
schießen können. Aber auf dem Mond? In der Luftleere, so
behauptet der Doktor, verlor der Funktechniker zwei bis drei
Zehntelsekunden nach der Beschädigung deslSkaphanders das
Bewußtsein. Konnte Schmidt in dieser kurzen Zeit noch ein-
mal abschießen? Probieren Sie selbst, wie langsam der Abzug
zurückkommt.“
Der Direktor schüttelte nur stumm den Kopf.
„Das konnte er nicht mehr“, antwortete statt seiner Doktor
Holberg. „Das ist ausgeschlossen. Nein, Schmidt konnte kein
zweites Mal abdrücken. Es war tatsächlich Mord, anders läßt
es sich nicht erklären. Der Mörder verletzte Schmidt an der
Schulter. Er vergaß jedoch, daß auf dem Mond selbst dieser
Treffer tödlich ist, und feuerte noch den zweiten Schuß ab.
Eigentlich umsonst, und auch wieder nicht umsonst, denn er
machte damit das Verbrechen offenkundig.“
„Ein Mord!“ Die Blicke des Direktors glitten wehmütig über
den Mondglobus. „Ein Mord auf dem Mond! Ein Verbre-
chen in der Regenbogenbucht! Das ist doch ganz unglaublich!
In der heutigen Zeit! Wer konnte sich dazu hinreißen lassen?
Wer nur?“
„Das wird die Untersuchung zeigen.“ Trocken unterbrach
Major Rodin die Gefühlsausbrüche des Direktors. „Ich fürchte
nur, daß das von der Erde aus nicht zu machen sein wird.“
„Sie fliegen zum Mond! Selbstverständlich!“ Neue Energie
belebte den Institutschef. „So eine Gemeinheit! Ein Mord!“
zischte er wütend. „Ein Verbrechen im Mondobservatorium!
Das ist ein Skandal! Eine widerliche Angelegenheit!“
„Ein Mord ist immer widerwärtig“, bemerkte Doktor Hol-
berg leise. „Auf der Erde wie auf dem Mond.“
„Schön, das ist ja richtig, aber immerhin, bedenken Sie, auf
dem jungfräulichen Mond!“ Der Direktor stredcte die Hand
aus und legte sie auf den Mondglobus, als wolle er die Kugel
auf seinem Handteller wiegen.
Rodin beobachtete ihn dabei aus schmalen Augen. Wirklich,

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dachte er, wie er den Globus anfaßt, das drückt zärtliche
Liebe aus. Es gibt eben die verschiedensten Interessen und
Steckenpferde, ja selbst eine Vorliebe für bestimmte Arten
von Oberflächen. Der eine streichelt gern ein Fell oder glatte
Seide, ein anderer berührt gern mit der Stirn kühles Glas, ein
dritter spürt gern unter den Füßen groben Kies oder feinen
Sand, der vierte umschließt mit seinen Händen gern eine Rute
oder einen Stock — warum also nicht auch eine glatte Kugel.
Ob es einen emotionellen Zusammenhang zwischen der Lei-
denschaft eines Keglers und der eines Selenologen gibt? Wer
weiß? Der Mond erscheint auch als glatte, kalte Kugel. Wie
mag wohl dieser jetzt verbitterte Mann an die Spitze des
Instituts gelangt sein? Wenn er wirklich kegelt . . .
„Noch heute nacht werden Sie zum Mond starten. Wenn Sie
acht g vertragen, fliegen Sie mit der Rakete des Bereitschafts-
dienstes. Morgen nachmittag sind Sie in der Regenbogen-
bucht.“ Der Direktor klopfte mit dem Finger auf den Glo-
bus. „Wir werden alles veranlassen.“
„Ich fürchte, daß ich mich auf dem Mond nicht besonders aus-
kennen werde.“ Aus der Stimme des Majors war keine Be-
geisterung herauszuhören. „Offen gestanden, ich sehne mich
überhaupt nicht nach einem solchen Ausflug. Ich habe mich
irgendwie an die Erde gewöhnt.“
„Sie können glücklich sein, daß sich Ihnen eine solche Ge—
legenheit bietetl“ fiel ihm der Direktor ins Wort.
Rodin ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen. „Ich
gebe ja zu, daß es meine Pflicht ist. Gut. Ich brauche aber
einen Begleiter, den ich nach den Dingen fragen kann, die
ich nicht verstehe. Mit den Leuten aus dem Observatorium
kann ich ja nicht gut darüber sprechen.“ Rodin streifte den
Mondglobus mit einem flüchtigen Blick. „Jeder von ihnen
kann doch der Täter sein l“
„Sie haben recht“, stimmte der Direktor zu. „Sie bekommen
einen Begleiter. Aber wen?“ Er griff zum Telefon, aber im
letzten Augenblick ließ er die Hand wieder sinken und nickte

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dem Arzt zu. „Was würden Sie davon halten, Doktor Hol-
berg? Sie kennen den Fall. In der Regenbogenbucht waren
Sie auch schon. Sie könnten dem Major eine wirkliche Hilfe
sein.“
„Ich wollte zwar morgen angeln gehen“, wehrte sich der Dok-
tor schwach, „aber wenn der Major meint, daß ich mich ein
bißchen nützlich machen könnte, würde ich mitfliegen.“
„Da fällt mir ein“, der Kriminalist legte die Stirn in kummer-
volle Falten, „daß ich gar keine Papiere habe. Brauche ich
nicht eine Genehmigung?“
Der Institutschef nickte. „Ja, aber nur von den Ärzten.“
Den Rest des Tages verbrachte Rodin mit Besuchen bei den
verschiedensten Fachärzten, bei der Untersuchung in der Un-
terdruckkammer, in Räumen mit extremen Temperaturen und
auf der Zentrifuge. Als die Acht-g-Belastung einsetzte,
glaubte er zu wissen, daß der Mörder niemand anders als der
Institutsdirektor war, der ihn jetzt, noch vor dem Start zum
Mond, aus dem Wege räumen lassen wollte.
Die Ärzte waren nicht ganz mit Rodins niedrigem Blutdruck
zufrieden, aber sie unterschrieben das Protokoll. Gegen Mit-
ternacht traf der Detektiv endlich die letzten Reisevorberei-
tungen.
Sein Blick wurde von der silbernen Scheibe des Mondes am
nächtlichen Himmel angezogen. Wo ist nun seine Romantik
geblieben, fragte sich Rodin in Gedanken. Wo sein magisches
Gesicht? Die Menschen haben ihn mit dem Feuer ihrer Mo-
toren bezwungen, in den Drahtgeflechten ihrer Radarschirme
eingefangen und in dicken wissenschaftlichen Wälzern seziert.
Die Gelehrten und Ingenieure haben ihn den Liebenden und
den Dichtern geraubt. So mußte er also enden.- Einst beteten
ihn ganze Völker an und lagen vor ihm auf den Knien. Und
heute? Heute steige ich in eine Rakete und kann morgen
schon auf seiner Nase spazierengehen.
Als sich Major Rodin schon längst in der Rakete ausgestreckt
hatte, kam er von seinen Gedanken immer noch nicht los.

20
Sicher ist das nur ein Traum, dachte er. Ich liege und schlafe.
Durch das offene Fenster scheint mir der Mond ins Gesicht,
und mir träumt, daß der Schlafanzug ein Skaphander ist und
daß ich von der Erde zum Mond fliege, um eine geheimnis-
volle Angelegenheit zu untersuchen. Ein Kriminalist im Welt-
all, ein Detektiv auf dem Mond, das ist doch völlig absurd!
Diesen eigenartigen physischen Zustand kenne ich schon. Ich
kann mich genau erinnern, wie mir einmal träumte, ich hätte
Flügel und könnte wie ein Adler in den Lüften kreisen. Ich
stürzte zur Erde hinab, dann schwang ich mich wieder zu den
Wolken empor. Das alles war kinderleicht. Ich habe dabei
bestimmt nicht mehr gewogen als der Schatten eines Koli-
bris.
Jetzt gaukelt mir der Traum vor, ich befände mich im Zu-
stand der Schwerelosigkeit. Natürlich, auch Träume haben
ihre Logik. Wenn ich zum Mond fliege, muß ich auch die
Schwerelosigkeit empfinden.
Vielleicht war das ganze Gespräch mit dem Institutsdirektor
auch nur ein Traum gewesen.
„Ich habe eben mit dem Gedanken gespielt, daß ich das alles
nur träume", sagte der Major schließlich zu seinem Begleiter.
Dabei schaute er sich aufmerksam in der Kabine des Welt-
raumschiffes um.
Doktor Holberg zog die Brauen hoch. „Sie und träumen?
Das paßt nicht recht zusammen. Ein gerissener Krimina-
list. . .“
„Wieso gerissener?“
„Ich meine damit weder moralische Verkommenheit noch ab-
gestumpfte Gefühle, sondern Ihr professionelles Herangehen
an die Dinge, Ihre Erfahrungen, die gewährleisten, daß Sie
nicht so leicht einer Sinnestäuschung zum Opfer fallen. Sie
sind doch gewohnt, in eine Bildergalerie zu kommen, einen
Rahmen mit der Lupe zu untersuchen und festzustellen: Hier
ist ein braunes Haar mit rötlicher Tönung. Seine Besitzerin ist
ein Meter sechzig groß, sie bevorzugt impressionistische Ma-

ZI
ler und wohnt in der nächsten Umgebung. Laden Sie sie zur
Vernehmung vor, sie muß den Cezanne wieder heraus-
rücken.“
„Es freut mich, Doktor, daß Sie eine so gute Meinung von
mir haben. Eine bessere als ich selbst, aber . . .“
„Sie machen sich den Unterschied zwischen einer Vorstellung
und der Wirklichkeit bewußt. Sie erkennen ihn ganz genau.
Aber gerade für den Traum ist charakteristisch, daß er die
logische Gedankenfolge und die Zusammenhänge zerreißt.
Sie, Major, können nicht mit offenen Augen träumen. Sie
sind kein Dichter und werden niemals einer werden.“
Das Gesicht des Kriminalisten spiegelte leichte Verwunde-
rung. „Ich bin kein Dichter? Wollen Sie damit sagen, ich sei
zu einseitig, als daß ich mich für etwas Schönes begeistern
könnte?“
„Aber keineswegs l“ Holberg drückte beschwichtigend Rodins
Ellenbogen. „Es geht nicht um die Begeisterungsfähigkeit,
um das Wahrnehmen der Schönheit, sondern um die Neigung
zur Abstraktion, um die Fähigkeit, in Symbolen zu sehen. Ein
Felsen, der für Sie ein von der Eruption deformiertes Basalt-
massiv ist, ein harter Brocken für die Pickelhacke des Berg-
steigers oder ein Muttermal des Tertiär, das ist für den Ly-
riker, sagen wir, eine badende Nymphe oder der verzerrte
Augenstern eines zornigen Protons. Das hängt vom Jahr-
hundert ab. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Deshalb
behaupte ich, Sie sind kein Dichter. Und das ist gut so.“
„Warum?“
„Wenn Sie Basaltfelsen für Nymphen oder Naiaden hielten,
hätte man Sie kaum in die Regenbogenbucht geschickt. Ein
Dichter käme diesem Geheimnis nicht auf die Spur.“
„Werde ich es enträtseln?“ ,
„Das behaupte ich nicht. Aber Sie lassen sich nicht so leicht
vom Weg abbringen, nicht an der Nase herumführen, und Sie
verzweifeln auch nicht gleich beim ersten Fehlschlag. Detek-
tive haben etwas Spürhundhaftes an sich.“

22
„Verzweifeln? Nein, das werde ich nicht so schnell. Obwohl
man nicht wissen kann, was passiert. Es ist eben doch ein
ziemlich ungewöhnlicher Fall.“
„Ganz recht“, bekräftigte Erza Holberg. „Allerdings sehe ich
die Ungewöhnlichkeit weniger in den topographischen Um-
ständen als viel mehr in den Faktoren, die mit dem Ver-
brechen zusammenhängen. Es ist tatsächlich zum Verrückt-
werdenl Zu der Zeit, als der Mord geschah, waren die rest-
lichen acht Leute so weit von Schmidt entfernt, daß ihn prak-
tisch keiner erschießen konnte. Und doch mufß es einer getan
haben, denn in einem Umkreis von tausend Kilometern gab
es sonst keinerlei Lebewesen. Hier wird die Logik auf den
Kopf gestellt. Ich beneide Sie nicht im geringsten um dieses
Rätsel, Major.“
„Nun, es wird schon eine logische Lösung geben, denke ich,
vielleicht sogar eine sehr einfache. Aber darin besteht ja
gerade die Schwierigkeit. Was ist denn das?“ An der Wand
leuchtete eine gelbe Signallampe auf, und ein leises, aber
durchdringendes Pfeifen schnitt in die Ohren.
„Das heißt vorbereiten! In etwa einer halben Stunde werden
wir in der Regenbogenbucht sein.“
„Noch etwas, solange wir allein sind“, drängte der Major.
„Hat Ihr Chef, der Direktor, nicht irgendein Steckenpferd?
Kegelt er vielleicht? Oder hat er ein ähnliches Hobby?“
„Ein Steckenpferd?“ Doktor Holberg betrachtete den Krimi-
nalisten voller Hochachtung. „Hut ab vor Ihrem Scharfsinn!
Er hat tatsächlich eins: Er züchtet mit Leidenschaft Tulpen.“
Rodin warf dem Arzt einen schmerzlichen Blick zu. „Tulpen?
Ich bitte Sie l“

23
Ein schlecht vorbereitete: Drehbuch

Die Rakete des Bereitschaftsdienstes hinterließ einen orange-


farbenen Streifen am Himmel, dann verschwand sie irgend-
wo über dem Meer des Regens. Hinter dem Panzerglas des
Beobachtungsfensters gähnte nur die stille, unbewegliche
Nacht. Still wie der Gedanke und unbeweglich wie eine
Sphinx. Sinus Iridum — die Regenbogenbucht.
„Ein ergreifender Anblick!“ sagte Rodin. Niemand antwor-
tete. Er drehte sich um und sah, daß er allein war. Wer sollte
sich auch für die Eindrücke eines Laien interessieren, der das
erstemal auf dem Mond war und die Welt der Krater, der
welligen Ebenen und steilen Bergmassive bewunderte, die
zu den unüberschaubaren Mondmeeren abfallen, über denen
sich fast greifbar nahe der dunkle Himmel wölbt.
Der Detektiv hob wieder den Blick. Am schwarzen Firma-
ment standen unbewegliche Lichter, die an Schlangenaugen
erinnerten. Sie leuchteten, aber sie glitzerten nicht. Sie flim—
merten nicht, sie blinzelten einander nicht zu, sie waren ein-
fach da. Überall, auf der ganzen Himmelskugel. Sie fehlten
nur dort, wo sie von der großen silberblauen Sichel, der hell-
und dunkelgefleckten Erde, verdeckt wurden. Aber selbst sie
wirkte wie eine aus Eis modellierte Welt, die für ewige Zei-
ten im unendlichen All verloren ist.
Könnte diese Umwelt einem Menschen so viel Unbehagen
gegen das Leben einflößen, daß er die Hand mit dem tod-
bringenden Werkzeug gegen den eigenen Körper richtet?
Schon möglich. Und trotzdem hat hier niemand Selbstmord
verübt. Auch Schmidt nicht!
Der Major schüttelte den Kopf und drehte dem hermetisch
abgedichteten Fenster der Beobachtungskabine den Rücken
zu. Er durchquerte den Raum und begab sich mit federnden
Schritten nach hinten in die Befehlsstelle.
Die schweren Schuhe, die im Kosmodrom wie Felsblöcke an
seinen Füßen gezerrt hatten, berührten jetzt leise den Fuß-

24
boden. Zu Hause könnte er auf einem Blütenteppich nicht
weicher gehen als hier auf dem erbsgrünen Kunststoffläufer.
Er sprang leicht in die Höhe. Einmal — zweimal. Unwillkür-
lich mußte er lachen. Noch hatte er sich nicht an die geringe
Anziehungskraft gewöhnt. Das Erlebnis wirkte ein bißchen
komisch. Es löste Vorstellungen von jugendlicher Unbe-
schwertheit aus, man fühlte sich um viele Jahre jünger . . .
Und doch war draußen eine Welt, die durch ihre Öde, Starr-
heit und Teilnahmslosigkeit das Alter illustrierte, das Alter
an der Grenze des absoluten Endes.
Rodin betrat einen Raum, in den niemals ein Lichtstrahl von
außen eindrang. Alles hier war künstlich: die Luft, das Licht,
vielleicht sogar die Beziehungen zwischen den Menschen.
Kann man wissen, überlegte er, wie die Umwelt, die zwar
kultiviert, aber dennoch nur eine groteske Entstellung der
Heimat ist, den Charakter des Menschen beeinflußt?
Als Rodin eintrat, erhoben sich Glazow und Holberg und
gingen ihm entgegen.
„Haben Sie sich endlich satt gesehen?“ Ein Lächeln huschte
über Glazows Gesicht. „Am Anfang kommt Ihnen alles son-
derbar vor, später werden Sie sich daran gewöhnen; aller-
dings wage ich nicht vorauszusagen, ob Sie sich jemals restlos
akklimatisieren werden.“
Der Kommandant des Stütunktes wurde ernst und strich
sich nach seiner Gewohnheit über das weiße Haar. „Ich habe
lange Zeit ein seltsames Gefühl verspürt. Ich weiß nicht,
womit ich es vergleichen könnte. Mir war, als führe ich auf
einem Kettenkarussell und würde dabei abwechselnd nach
hinten und vorn gestoßen. Ich bin nicht sicher“, er sah Hol-
berg an, „ob Sie mich wenigstens ein bißchen verstehen?“
„Selbstverständlich. Ich kenne dieses Gefühl auch, und der
Major wird es ebenfalls kennenlernen. Es ist tatsächlich, als
führe man Karussell. Aber das ist ganz natürlich. Wir sind
nicht in der Lage, alles Zu kompensieren, was den biologi-
schen Rhythmus beeinflußt.“

25
Der Major schaute Holberg fragend an. „Sie meinen, es fehlt
das Gefühl, das der Tag— und Nachtwechsel im Menschen
hervorruft?“
„Das auch. Ich würde es Ihnen gern ausführlich erklären,
aber vielleicht gibt es wichtigere Dinge?“
„Da Sie es nun einmal angeschnitten haben . . .“ Rodin zog
unmerklich die Brauen hoch. „Schließlich muß mich ja alles
interessieren, was den Funktechniker beeinflussen konnte. Sei
es physiologisch oder psychisch!“
„Wie Sie meinen. Sind Sie schon einmal sehr weit geflogen?“
„Ja, nach Japan.“
„Und wie fühlten Sie sich in den ersten Tagen?“
„Tagsüber fielen mir die Augen zu, und nachts war ich mun-
ter wie ein Fisch.“
„Und warum?“
„Weil dort sicherlich eine andere Zeit gilt, mein Kopf aber
nach der europäischen Stundeneinteilung funktionierte.“
„Nicht nur nach der europäischen. Ihr Kopf funktionierte
nach seiner eigenen Stundeneinteilung, nach dem biologischen
Rhythmus. Es gibt eine Reihe solcher Rhythmen. Die höchste
Frequenz finden wirßbei den Aktionsströmen, etwa sechzig
bis hundert in der Sekunde. Die Puls- und Atmungsfrequen-
zen sind niedriger. Die Schwankungen der Nierenfunktion
wiederum, des Adrenalinspiegels und so weiter sind Verän-
derungen, die erst nach Stunden gemessen werden. Von den
täglichen Lebensrhythmen ist Ihnen sicher das Schwanken der
Körpertemperatur bekannt. Sie ist um die vie’rte Morgen-
stunde am niedrigsten und gegen Abend am höchsten, mit
einem Unterschied bis zu einem Grad. Ihren eigenen Rhyth-
mus haben auch der Blutkreislauf, der Herzschlag und der
Blutdruck. Und auf einmal fliegt so ein Mensch nicht nur
nach Japan, sondern zum Mond. Der Tag ist verschwunden,
die Nacht ist weg, und mit ihnen fehlt zugleich eine ganze
Reihe äußerer Einflüsse. Die Rhythmen aber bleiben. Ver-
stehen Sie?“

26
„Sie meinen, das ist so, als ob man auf einer langen Eisen-
bahnfahrt stundenlang ununterbrochen durchgeschüttelt wird,
ja? Auch wenn man dann aussteigt und den Bahnsteig wie-
der unter den Füßen hat, spürt man noch immer die Schütte-
le1.
'l‘

Doktor Holberg lachte. „Kein schlechter Vergleich! Wir sind


bestrebt, dieses Rattern des Zuges auch auf den Mond zu
übertragen. Darum verlischt vor dem Abendbrot in allen
Räumen das künstliche Tageslicht, und wir schalten die Lam-
pen an den Wänden und auf den Tischen ein. Deshalb hören
Sie jetzt das Türenschlagen, die Schritte auf dem Gang und
das Geklapper des Fernschreibers in der Zentrale; um drei—
undzwanzig Uhr werden die Luftschleusen in der Geräusch-
isolation geschlossen, und die Wände lassen keinen Pieps
mehr durch. Gleichzeitig sinkt die Temperatur, und erst
gegen Morgen erwärmen sich die Zimmer wieder. Aus die-
sem Grunde gibt es das Abendbrot genau um neunzehn Uhr,
das Frühstück um acht Uhr und so weiter. Wir tun, was wir
können, und dennoch sind wir bei weitem nicht in der Lage,
alle äußeren Einflüsse zu ersetzen, denen der Mensch auf der
Erde ausgesetzt ist. Der menschliche Organismus muß das
selbst ausgleichen. Sie werden zugeben, daß sich solche An-
strengungen im Einzelfall auch auf die Psyche auswirken
können. Übrigens . . .“
Es klopfte leise, die Tür öffnete sich, und herein trat eine
schlanke Brünette, die dem Aussehen nach nicht viel älter als
dreißig Jahre sein konnte. Rodin stand auf und verbeugte
sich, was ein wenig ungelenk ausfiel, weil er sich noch nicht an
den Skaphander gewöhnt hatte.
„Major Rodin“, stellte der Kommandant vor, „ein Krimi-
nalist. Er soll ergründen, was Schmidt zu dieser unüberlegten
Tat veranlaßt haben kann. — Frau Doktor Santos.“
„Ein Kriminalist auf dem Mond?“ Die Ärztin reichte Rodin
die Hand. Es war eine kleine, braune Hand mit den fein-
gliedrigen Fingern des Chirurgen. „Wer hätte das für mög-

27
lich gehalten? Ich nehme an, daß Sie selbst nicht im entfern-
testen damit gerechnet haben.“
„Nicht im Traume, obwohl ich schon fast eine ganze Bücherei
an Utopien zusammengeträumt habe l“
„Auf diese Weise lernen Sie wenigstens etwas kennen. Denn
es werden bestimmt noch ein paar Jahre vergehen, ehe die
Reisebüros 'Mondfahrten in ihr Programm aufnehmen. Sie
werden sehen, daß die Umgebung hier recht interessant ist.
Haben Sie uns auch nicht irgendwelche kleinen Biester mit-
gebracht?“ Mit dem Gegenstand wechselte sie auch den Ton
der Unterhaltung.
„Biester?“ wiederholte Rodin erstaunt.
„Ich meine Bazillen, Bakterien, Viren und ähnliches Unge-
ziefer.“ Die Ärztin lachte, aber sie musterte den Major dabei
mit forschendem Blick.
„Schwerlich. Man hat meinen Körper ordentlich durchge—
walkt. Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschla-
gen.“
„Das mußte sein. Hier ist Vorsicht notwendig. Mit aller Kon-
sequenz!“ Sie trat noch einen Schritt näher auf Rodin zu.
„Sind Ihre Zähne in Ordnung? Manchmal kann sich in einem
winzigen Krankheitsherd allerlei verbergen.“
„In meinen Zähnen“, Rodin grinste, „können sich keinerlei
Herde mehr bilden. In dieser Beziehung gebührt der Technik
ein gewisser Vorzug gegenüber der Biologie.“
„In tausend Jahren werden die Menschen wahrscheinlich
überhaupt keine Zähne mehr bekommen.“ Frau Santos
wandte sich an Doktor Holberg. „Meinen Sie nicht auch,
Herr Kollege?“
„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand“, sagte der Doktor
entsetzt. „In tausend Jahren wird die Medizin hoffentlich ein
bißchen weiter sein als heute.“
„Sie sind ein unverbesserlicher Optimist. Es ist eigentlich
lange her, seit wir uns das letztemal sahen“, fügte Frau San-
tos in leichtem Ton hinzu.

28
„Ungefähr drei Tage.“
„Drei?“
„Natürlich Mondtagel Ich bedaure es sehr“, Holberg blickte
verlegen zur Seite, Galanterie lag ihm nicht besonders, „selbst
wenn es nur drei Erdentage gewesen wären.“
Rodin beobachtete, wie sich Frau Santos eine Locke zurecht-
drückte und die Falten ihres weißen Mantels glattstrich.
Darin sind alle Frauen gleich, dachte er unwillkürlich, ob
auf der Erde oder auf dem Mond. Warum sollte es hier nicht
auch die gleichen Konflikte geben wie auf dem heimatlichen
Planeten?
„Ich störe Sie aber sicher. . .“, fiel Frau Doktor Santos plötz-
lich ein.
„Aber keineswegs.“ Glazows Stimme klang wenig überzeu-
gend. „Der Major will nur Näheres über diese traurige An-
gelegenheit wissen. Sonst haben wir nichts.“
„Auf Wiedersehen einstweilen! Wir sehen uns beim Abend-
brot.“
Die Tür fiel hinter der Ärztin ins Schloß.
Glazow richtete seinen Blick auf den Major. „Ich denke, wir
können zur Sache kommen.“
„Sie haben recht. Ich bin schon in groben Zügen über die Ge-
schehnisse am Sonnabend informiert. Wenn Sie aber noch
einige Fragen gestatten wollen . . .“
„Selbstverständlich. Bitte l“
Rodins Blicke wanderten Zu einem der großen Bildschirme,
die fast die ganze Stirnseite des Raumes einnahmen. „Sind
diese Apparate ständig eingeschaltet?“
Nicht der geringste Schatten einer Überraschung huschte über
Glazows Gesicht.
„Nein. Ich habe sie eingeschaltet, um zu sehen, wie Sie lan-
den. Schauen Sie, der Schirm zeigt noch immer den Lande-
platz.“
Der Major konnte außer einem faden Grau nichts erkennen,
aber er nickte höflich. „Ja. Mir kam es nach der Landung so

7-9
vor, als seien'wir in einen Felsen hineingegangen. Sesam,
Öffne dich!“
„Das Hauptobjekt ist in einen Felshang hineingetrieben. Über
uns befindet sich eine fünfzig Meter starke Felsdecke.“
„Sie sagen: das Hauptobjekt. Das bedeutet . . .“
„. . . daß es hier noch weitere Arbeitsstätten gibt.“ Glazow
deutete mit einer Kopfbewegung zur Decke. „Auf dem
Kamm dieses Massivs ist das astronomische Observatorium
mit dem Zweimeterteleskop, dem Koronographen und ande—
ren Geräten untergebracht. Sie sind auch am Treibhaus für
biologische Versuche, an der seismographischen Station und
am Physiklabor vorbeigekommen. Die Hangars für die Ge-
ländefahrzeuge und die Lagerhallen für die Treibstoffe be-
finden sich auch in der Nähe. Vielleicht haben Sie sogar den
Sendeturm und das Radioteleskop gesehen.“
„Ja, einige Häuschen und irgendwelche Drahtteller. Und wo
ist der Ort, an dem Schmidt starb?“
Glazow drückte anstelle einer Antwort auf eine Taste. Im
gleichen Augenblick wurde es auf einem zweiten Bildschirm
hell. Den jetzt sichtbaren Teil der Mondlandschaft be-
herrschte eine Konstruktion, die an einen flachen Trichter
erinnerte.
„Ist das das große Radioteleskop?“
„Ja-“
„Würden Sie bemerken, wenn jemand dorthin ginge?“ 'In
Rodins Stimme klangen Zweifel mit.
„Dieser Jemand wäre bestimmt zu sehen, sofern er nicht von
der anderen Seite käme. Aber dort klettert niemand herum,
der Hang ist recht unwegsam. Außerdem war das Bild am
Sonnabend klarer.“
„Wieso?“
„Die Erde steht im letzten Viertel. Die Sichel wird von Tag
zu Tag kleiner, und das Licht nimmt ab.“
„Am Sonnabend war die Sicht also besser?“
„Ja, warum fragen Sie?“

30
„Mir fiel ein, daß Schmidt auf diese Weise vielleicht hätte
gesehen werden können. Wenn ihn jemand vor seinem Tode
beobachtet hätte, könnte uns der Betreffende etwas über sein
Verhalten erzählen.“
„Wenn, wenn . . .“ Der Kommandant zuckte unwillig mit den
Schultern. „Niemand hat ihn gesehen. Die drei Bildschirme
waren außer Betrieb.“
„Absichtlich — oder?“
„Wegen einer Beschädigung des Koaxialkabels. Aber ich
weiß nicht genau, worum es sich handelte. Darüber könnte
Ihnen Ingenieur Melchiad Auskunft geben.“
„Vielleicht später. Erzählen Sie uns jetzt erst etwas über die
Besatzung des Stützpunktes, ihre Aufgaben und so weiter.“
„Gut. Es wäre zwar höflicher und bescheidener, wenn ich
von mir erst am Schluß spräche, aber im Interesse eines bes-
seren Überblicks werde ich es umgekehrt machen. Daß ich
hier der Kommandant bin, wissen Sie ja schon.“
Major Rodin nickte.
„Wenn es erforderlich ist, vertritt mich der Kollege Hugo
Neumann“, fuhr Pawel Glazow fort, „ein erfahrener Pilot,
vierzig Jahre, ein ruhiger Mensch, fast ein Phlegmatiker.“
„Eigentlich mehr ein Stoiker“, warf Holberg ein.
„Also gut, Stoiker. Den Betriebsingenieur habe ich schon
erwähnt: Boris Melchiad, vierunddreißig Jahre, der jüngste
Mann in der Regenbogenbucht. Von der Veranlagung her ist
er das genaue Gegenteil von Neumann. Ziemlich explosiv,
alles muß schnell gehen; aber ein erstklassiger Fachmann, ein
Phändmen in seinem Beruf. Dann . . .“
„Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ins Wort falle“, mischte
sich der Doktor wieder ein. Er wandte sich an den Major.
„Diese Reizbarkeit müssen Sie relativ verstehen. Wirkliche
Choleriker werden in den Mondobservatorien nicht einge-
setzt.“
„Richtig“, bestätigte der Kommandant. „Dann ist hier Irina
Dario. Sie feierte kürzlich ihren neunundzwanzigsten Ge-

31
burtstag. Platinblond, schlank, angenehmes Wesen, als Funk-
technikerin eine perfekte Kraft, zuverlässig und pünktlich.
Der Erste Funktechniker, Schmidt, ist tot. Und damit kämen
schon die wissenschaftlichen Mitarbeiter an die Reihe. Ge-
wissermaßen eine kleine Akademie.“ Glazow lächelte. „Frau
Doktor Santos haben Sie vor einer Weile kennengelernt. Sie
kümmert sich um unsere Gesundheit und nimmt das sehr
genau. So genau, daß es mir fast auf die Nerven geht. Neben
ihrer medizinischen Tätigkeit arbeitet sie auch mit dem Bio-
logen Christian MacKent zusammen. Sie experimentieren mit
Blumen, Tomaten, Radieschen und Pelargonien, aber auch
mit Ratten und Meerschweinchen. Allzuviel weiß ich darüber
nicht. Mein ursprünglicher Beruf ist Flugzeugkonstrukteur,
und wenn ich auch in der Zwischenzeit vieles dazugelernt
habe, so ist die Biologie für mich doch ein Buch mit sieben
Siegeln geblieben. MacKent ist übrigens Ende Dreißig.“
„Das wäre der sechste, blieben also noch zwei.“
„Da ist noch der Astronom Felix Lange. Ich glaube, er hat
gerade die Fünfzig überschritten, aber er sieht jünger aus.
Ein großzügiger Mensch, findet für jede Sünde eine Entschul-
digung. Es gibt keine großen Probleme für ihn. Keine von
seinen Auffassungen abweichende Meinung regt ihn auf,
nichts kann ihn provozieren. Nur auf dem Gebiet seiner
Wissenschaft ist er ein bißchen . . .“, Glazow suchte eine
Weile nach einem geeigneten Ausdruck, „überempfindliCh. Er
hat einige recht eigenwillige Ansichten, und die sind tabu.
Die darf niemand antasten. Aber da es nicht zu den Tisch-
gewohnheiten gehört, über die Turbulenz der Sternenmassen
zu philosophieren, kommen alle gut mit ihm aus.“
„Und der letzte?“
„. . . ist der Senior der Expedition, Okede Juramoto. Fünf-
undsechZig Jahre alt. Es grenzt fast an ein Wunder, daß die
Ärztekommission mit seinem Einsatz hier einverstanden war.
Ein bekannter Selenologe, wie Sie sicherlich wissen. Seine
polynesische Herkunft verleugnet er weder im Aussehen noch

32
in der Sprache. Er redet fast nur in Andeutungen und streut
ständig irgendwelche Sprichwörter ein. Manchmal sieht es
aus, als nähme er von den anderen gar keine Notiz. Aber das
kann ein oberflächlicher Eindruck sein. Ich glaube, daß er ein
wertvoller Mensch ist. Alle haben ihn gern.“
„Hier sind ja Leute aus allen Winkeln unserer Erde ver-
sammelt!“
Der Kommandant nickte. „Der größte Teil der turnusmäßi-
gen Besatzungen kommt aus den Mitgliedstaaten des Insti-
tuts. Manchmal werden jedoch, wie gerade diesmal, auch
Gäste eingesetzt.“
„Und Schmidt? Da fällt mir gerade ein, haben Sie vielleicht
ein Foto von ihm?“
„Bestimmt wird etwas hier sein.“ Glazow holte einen Stoß
farbiger Vergrößerungen aus seinem Schreibtisch heraus.
„Wir haben eine ganze Menge Bilder. MacKent macht kei-
nen Schritt ohne Kamera.“
Er reichte Rodin eine Aufnahme.
Der Major betrachtete das Bild aufmerksam. „Ein hübscher
Bursche — und dabei ein richtiger Mann. Er wußte das sidmer,
nicht wahr?“
Der Kommandant streifte die Aufnahme mit einem schrägen
Blick. „Ein selbstbewußter Mensch, angeblich ein bißchen
leichtsinnig, was Frauen anbetraf.“
„Ich würde sagen: Er hatte Erfolg.“
„Das ist der Punkt, der mich am meisten irritiert.“ Glazow
deutete mit dem Kopf auf Schmidts Bild. „Erfolgreich in der
Arbeit und im Privatleben. Der letzte, von dem man an-
nehmen würde, daß er Selbstmord verübt. Und trotzdeml Sie
sehen ja. Ein absurder Falll Gerade er. . .“ Der Komman-
dant schüttelte ungläubig den Kopf. „Gerade er“, wieder-
holte er leise.
„Wie lange sollte Schmidt noch hierbleiben?“
„Am Sonntag ist Wachablösung. Unser Einsatz geht zu Ende.
Die nächste Besatzung. tritt ihren Dienst an. Ich weiß, worauf

3 Vcsely‚ Verbrechen
53
Sie hinauswollen. Ein labiler Charakter kann hier einer De-
pression unterliegen, dem Gefühl, von der Erde abgeschnit-
ten zu sein . . . Aber Schmidt war keine schwache Natur. Und
außerdem stehen wir, wie gesagt, vor der Rückkehr. Nein,
Niedergeschlagenheit würde ich nicht in Erwägung ziehen. In
dieser Richtung dürfen Sie die Ursache nicht suchen. Kosmi-
scher Amok? Und noch dazu bei Schmidt? Nein l“ Der Kom-
mandant schüttelte abermals energisch den Kopf.
„Kannten sich die Menschen, die hier sind, schon auf der
Erde?“
„Die meisten nicht, soviel ich weiß. Ich kenne den Piloten
Neumann von früher. Wir haben gemeinsam auf der Raum-
station A drei gearbeitet. Und Boris, ich meine Melchiad,
unser Betriebsingenieur, ist ein alter Freund von Fräulein
Dario. Mir ist zu Ohren gekommen, daß er sich ihretwegen
in unseren Turnus versetzen ließ. Ursprünglich sollte er erst
im Herbst an der Reihe sein. Die übrigen haben sich wahr-
scheinlich erst kurz vor dem Abflug persönlich kennengelernt.
Dem Namen nach und von der wissenschaftlichen Arbeit her
kannten sie sich natürlich schon.“
„Vielleicht könnten Sie uns jetzt erzählen, was sich am Sonn-
abend abgespielt hat.“
„Da gibt es nicht viel zu sagen. Eigentlich nichts Besonderes.
Der Tag begann wie jeder andere. Am Morgen gingen die
Leute wie gewöhnlich an ihre Arbeit . . .“
„Sie sagen: am Morgen?“
„Ja. Um neun Uhr. Ich blieb mit Neumann hier, wir diktier-
ten Fräulein Dario einen Bericht. Wir geben jeden Sonn-
abend einen zusammenfassenden Rapport durch. Meistens
nimmt das den ganzen Vormittag in Anspruch, aber diesmal
waren wir um zehn Uhr neunundvierzig fertig.“
„Ist das geschätzt?“
„Nein, die genaue Zeit. Sie wird am Ende des Berichtes an-
gegeben. Fräulein Dario ging dann in die Informations-
zentrale zurück. Neumann zog den Skaphander über und

34
machte sich auf den Weg Zum Raketoplan, um ihn Zu kon-
trollieren. Er sollte am Nachmittag die Alpen fotografieren.“
„Die hiesigen?“
Glazow schaute den Major amüsiert an. „Gewiß, die hiesi-
gen. Ich verließ das Zimmer, um mir auf dem Gang ein biß-
chen die Füße zu vertreten. Dabei traf ich zuerst Lange. Der
Astronom ging zum Ausgang. Nach einer Weile tauchte
Melchiad auf und erzählte mir von dem beschädigten Ko-
axialkabel. Wir sprachen zwei bis drei Minuten miteinander,
grüßten von weitem unsere Ärztin und trennten uns dann
wieder. Der Ingenieur begab sich in die mechanische Werk-
statt, und ich kehrte zu meinem Schreibtisch zurück, um ein
bißchen aufzuräumen. Ich wühlte noch in den Papieren, als
der Alarm ausgelöst wurde. Nun, das andere wissen Sie
bereits.“
„Allerdings, aber wenn Sie so liebenswürdig wären . . .“
„Bitte. Ich schaute also auf das Geländeschema.“ Der Kom-
mandant deutete auf eine kreisförmige Karte an der Wand.
„Bei Alarm erscheint dort ein Lichtpfeil, der die Richtung
anzeigt, aus der der Hilferuf gekommen ist. Ich hatte kaum
den Raum verlassen, da holte mich Melchiad ein. Am Aus-
gang schlüpften wir schnell in die Skaphander, durchschritten
die Luftschleuse und traten ins Freie. Etwa eine Minute nach
elf waren wir vor dem Stützpunkt, das heißt also zwei Mi-
nuten nach der Auslösung des Alarms. Das Signal ertönte
nämlich um zehn Uhr neunundfünfzig Minuten und zwei Se—
kunden. Das geht aus der Aufzeichnung auf dem Streifen der
Kontrollanlage hervor.“
„Gut. Und dann?“
„Dann? Nun . . .“ Glazow strich sich nachdenklich über die
Stirn. „Lassen Sie mich bitte einen Augenblick überlegen. -
Ja, draußen war bereits der Biologe MacKent eingetroffen,
Frau Doktor Santos kam gerade angelaufen. Ich schaltete das
Sprechfunkgerät ein und erkundigte mich, was geschehen sei.
MacKent sagte, daß Schmidt um Hilfe gerufen habe. Er habe

35
vom Gewächshaus aus die Leuchtkugel gesehen, habe darauf-
hin Schmidt gerufen, aber keine Antwort mehr erhalten.
Dann kamen der Selenologe Juramoto, der Pilot Neumann
und der Astronom Lange. Inzwischen war eine weitere Mi-
nute vergangen. Um elf Uhr zwei waren wir alle versam-
melt.“
„Dieser Zeitangabe sind Sie sich völlig sicher?“
„Ja, ich habe zur Uhr gesehen, aus Interesse, aber auch, weil
es meine Pflicht war. Es war genau zwei Minuten nach elf.
Das Antreten hat ganze einhundertachtzig Sekunden gedau—
ert. Ich dachte noch: Na ja, schneller geht es eben nicht.“
„Mir ist nicht klar, warum Sie gewartet haben, bis alle ein-
getroffen waren?“
„Der Alarmplan gestattet nicht, daß die einzelnen Besat-
zungsmitglieder auf eigene Faust handeln, solange sie durch
bestimmte Umstände nicht dazu gezwungen werden. Wir lie-
fen also gemeinsam zum Radioteleskop. Mit Ausnahme von
Fräulein Dario allerdings. Sie meldete, daß sie gerade eine
Verbindung mit der Erde habe. Sie hatte auch versucht,
Schmidt zu rufen, aber vergeblich.“
„Das meldete sie persönlich — oder?“
„Über Sprechfunk.“
„Und wann trafen Sie beim Radioteleskop ein?“
„Das weiß ich nicht. Schätzungsweise nach zehn bis zwölf
Minuten. Der Weg führt bergauf und macht viele Windun-
gen. Schmidt fanden wir tot auf, jede Hilfe kam zu spät. Zu-
erst dachten wir an einen Unglücksfall. Wer denkt auch gleich
an einen Selbstmord! Aber wie wir die Sache später auch be-
trachteten, wir kamen immer wieder zum gleichen Schluß:
Von einer zufälligen Verletzung kann nicht die Rede sein.
Schmidt hat sich absichtlich erschossen. Nach der Rückkehr
habe ich das Zimmer des Funktechnikers und die Fächer sei-
nes Schreibtisches in der Informationszentrale versiegelt und
eine Meldung zur Erde gegeben. Sie können sich gewiß vor-
stellen, wie mir zumute war. Ja, das ist alles.“

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„Sie glauben also, daß man die Antwort auf die Frage einzig
und allein bei Schmidt suchen müsse?“
„Allerdings. Wo sonst?“
„Hm. . .“ Rodins Blick irrte ins Ungewisse. „Schmidt war
immerhin ein Mensch, bei dem niemand Selbstmordabsichten
vermuten würde. Der letzte. . . Wie sagten Sie doch? Der
letzte, von dem Sie angenommen hätten, daß er sich das Le-
ben nehmen wolle. Und gerade er ist tot. Ist es logisch,
daß . . . Aber zuerst könnten Sie mir noch etwas über Schmidts
Charakter erzählen, außer seinem Leichtsinn in den Bezie-
hungen zu Frauen.“
„In der Arbeit muß ich ihm das beste Zeugnis ausstellen. Er
war für die gesamte Funktechnik verantwortlich: für die
Funkverbindung mit der Erde, mit den Raumstationen rings
um die Erde und mit den anderen Stützpunkten auf dem
Mond.“
„Tatsächlich? Ich dachte, das müsse immer über die Zentrale
auf der Erde gehen. Sie haben zu allen diesen Stationen Ver-
bindung?“
„Über Funkrelaislinien, die auf Ultrakurzwellen arbeiten.
Von hier senden wir die Signale zum Vorgebirge Laplace.
Dort ist eine automatische Station, die sie zum Pico weiter-
gibt und so fort. Wenn dieses System versagen sollte, dann
suchen wir über die Mondsatelliten oder über die Zentrale
auf der Erde Verbindung.“
„Und das war also Schmidts Aufgabe?“
„Ja. Daneben beschäftigte er sich auch mit Radioastronomie.
Sie war nicht nur sein zweiter Beruf, sondern zugleich sein
Steckenpferd. Es gab praktisch nichts, was er über Radiotele—
skope nicht gewußt hätte. Seine Erfahrungen behielt er kei-
neswegs für sich. Er schrieb für Fachzeitschriften, hielt Vor-
träge, diskutierte mit Studenten. Kurz und gut, er war ein
aufopferungsvoller Mitarbeiter. Ansonsten hat ja jeder seine
Eigenarten, persönlichen Interessen und Neigungen. Bei ihm
waren es die Frauen.“

37
„Hier gibt es allerdings nicht viele“, warf Rodin ein, und der
Kommandant wurde verlegen.
„Nein“, antwortete er unwillig. „Und dennoch, Schmidts In-
teresse — das möchten Sie sicherlich wissen — galt Fräulein
Dario.“
Rodin fing einen schnellen Seitenblick des Doktors auf.
„Gut“, sagte er trocken und tat gänzlich uninteressiert. „Jetzt
hätte ich noch eine ganz besonders wichtige Frage. Haben Sie
in der letzten Zeit an Schmidt vielleicht irgend etwas Auffäl-
liges beobachtet? Eine außergewöhnliche Wandlung in sei-
nem Verhalten?“
Glazow reagierte nur zögernd. „Wenn ich heute zurück-
schaue, dann würde ich Ihre Frage bejahen. Aber wer hätte
dem damals Bedeutung beigemessen? Ich glaube nicht, daß
ich mir da etwas vorzuwerfen habe.“
„Ganz bestimmt nicht! Hatte sich Schmidt irgendwie verän-
dert?“
„Das würde ich nicht sagen, aber es war offensichtlich, daß
ihn irgend etwas beschäftigte, daß er Sorgen hatte. Er sah
nachdenklich, fast zerfahren aus. Manchmal fing ich einen
seiner Blicke auf, die irgendwohin zur Erde oder zu den Ster-
nen irrten. Zeitweilig schien es, als würde er uns gar nicht be-
merken. Aber mir wäre niemals in den Sinn gekommen . . .“
„Sie meinen, daß ihn etwas bedrückte?“
„Ich hatte den Eindruck, als zerbräche er sich über ein Pro-
blem den K0pf. Für mich ist das alles ein Rätsel. Sie haben
vielleicht schon irgendeine Theorie, und daß Ihre Erfahrun-
gen Ihnen zur Lösung verhelfen, wäre schließlich nicht ver-
wunderlich. Für. mich ist das der erste Selbstmord in meiner
unmittelbaren Umgebung.“
„Um die Wahrheit zu sagen, ich habe noch keine Theorie. Ich
kann ja letzten Endes nicht damit beginnen, mir eine Theorie
auszudenken. Zuerst muß ich Steinchen für Steinchen zusam-
mentragen, dann erst kann ich das Bild bauen. Wir werden
bestimmt noch ausführlicher über alles sprechen.“

38
„Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Glazow erhob
sich. „Sie sind gewiß müde. Dreihundertachtzigtausend Kilo-
meter sind keine Kleinigkeit. Obwohl diese Entfernung wie-
derum nicht so schrecklich ist“, ergänzte er lächelnd, „wie
zehn Kilometer auf einer miserablen Straße. Heute gibt es
Gegensätze in der Welt, nicht wahr? Jetzt ruhen Sie sich ein
bißchen aus, die Kabinen sind schon vorbereitet. Ein Appar-
tement ist es zwar nicht, aber Sie werden sehen, Major, daß
es sonst hier gemütlich ist wie in einem Hotel. Sogar ein Bad
ist vorhanden. Man sollte nicht glauben, daß wir jeden Trop-
fen Wasser von der Erde hierher transportieren mußten.
Aber jetzt macht das Wasser einen rationellen Kreislauf.“ Er
klopfte dem Kriminalisten freundschaftlich auf die Schul-
ter.
In Rodins Kabine rückte sich Holberg einen Stuhl zurecht,
setzte sich rittlings darauf und verschränkte die Arme über
der Rückenlehne.
„Wenn wir nicht eine so hohe Jahreszahl schrieben, würde ich
sagen: Schmidt bemühte sich um Irina Dario, bekam aber
einen Korb. Die Eitelkeit des Frauenhelden wurde aufs
schwerste verletzt, und aus Trotz brachte er sich um.“
„Solche Sachen passieren selbst heute noc “, stöhnte Rodin,
der sich mühevoll den Skaphander vom Körper zog. „Zwi-
schen der Jahreszahl und dem Maß an Vernunft besteht nicht
immer ein direktes Verhältnis. Leider l“
„Nur wissen wir eben, daß es kein Selbstmord war.“
„Das wissen wir.“ Endlich gelang es dem Major, den Schutz-
anzug vollends abzustreifen. Aufgebracht warf er ihn über
- einen Sessel. „Verflixtes Zeug!“
„Nehmen wir an, daß Schmidt die Dario gewinnen wollte.
Das würde seiner Veranlagung entsprechen. Unter diesem
Gesichtspunkt erhält ein Umstand besondere Bedeutung.“
Der Doktor schaute den Major abwartend an.
Rodin ließ sich vorsichtig auf der Couch nieder, nachdem er
zuvor besorgt die dünnen Beine der Konstruktion gemustert

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hatte. „Für das Auge ist das alles sehr hübsch und bequem
hier. Die Frage ist nur, ob dieses Gestell auch einen Men-
schen aushält, der niemals auf Diät erpicht war. Übrigens,
welchen Umstand meinen Sie?“
„Nun, diesen Melchiad natürlich! Er kam wegen Irina Dario
hierher. Nach Ansicht des Kommandanten ist dieser Inge-
nieur ein bißchen explosiv. Das kann eine höfliche Umschrei-
bung für den Begriff ,iähzornig‘ sein. Selbstverständlich nur
in bestimmten Grenzen. Sagt Ihnen das nichts?“
„Nein.“ Gelassen knöpfte Rodin sein Hemd auf.
„Ein impulsiver Mensch kann im Zustand der Eifersucht sein
Urteilsvermögen verlieren. Und eventuell sogar morden.“
„Das stimmt. Ich frage mich aber, wie der Ingenieur das wohl
fertiggebracht haben mag. Wenige Sekunden nach dem Ab-
schuß der Leuchtkugel traf er im Gang mit dem Komman-
danten zusammen. Glauben Sie, daß Glazow sein Komplize
ist? Daß er ihm den Rücken deckt?“
„Um Himmels willen!“ Der Doktor hob entsetzt die Hände.
„Was fällt Ihnen ein? Aber irgendeine Lösung . . .“ Er stützte
das Kinn auf die Hände, die auf der Stuhllehne lagen. „Wir
werden ia sehen. Aber mich hat noch ein anderes Moment in
Glazows Erzählung über die Menschen im Stützpunkt stutzig
gemacht.“
„Aha, MacKent.“
„Richtig! Ihnen ist das auch nicht entgangen?“
Rodin gähnte. „Lieber Doktor, ich würde mein Gehalt ja
umsonst beziehen, wenn mir solche Dinge entgingen. Mich
überrascht nur, daß Sie das gemerkt haben.“
Holberg errötete geschmeichelt. „Mich interessiert der Fall.
Und außerdem, das sprang ia direkt ins Auge. Glazow cha-
rakterisierte jeden einzelnen, teilweise zwar nur kurz, aber
über den Biologen verlor er kein Wort. Die Ärztin arbeitet
mit Christian MacKent zusammen, er ist Ende Dreißig — und
Schlußl Ich dachte im stillen: Warum denn so knapp? Etwa
deswegen, damit er MacKent in unseren, ich wollte sagen, in

4o
Ihren Augen nicht belasten muß? Glazow wollte Sie sicher-
lich nicht beeinflussen, und deshalb schwieg er lieber.“
„Auch das ist möglich“, gab Rodin zu und legte sein Hemd
auf den Skaphander.“
„Und was werden Sie jetzt machen?“
Der Major sah den Arzt belustigt an. „Jetzt werde ich ein
bißchen von der kostbaren Flüssigkeit verschwenden, die man
von der Erde hierher holen mußte. Und dann werde ich mich
eine Weile langstrecken und nachdenken.“
„Worüber?“
„Über das, was es hier an Auffälligem gibt.“
„Ich dachte . . .“
„Worüber wir eben sprachen, ist nichts Ungewöhnliches. Auf-
fallend ist etwas anderes. Beispielsweise, daß ein so scharf-
sinniger Mörder ein so schlecht durchdachtes Drehbuch er-
arbeitete. Das heißt, das Drehbuch wäre eigentlich gar nicht
so schlecht, aber diese laienhafte Besetzung! Für die Rolle
eines Selbstmörders eignet sich Schmidt doch ganz und gar
nicht.“

Die überflüssige Serpentine

Rodin drehte sich auf die andere Seite.


Es war wirklich Nacht auf dem Mond, nach örtlicher und
nach irdischer Zeit.
Das weichste und feinste Bett auf der Erde konnte kein so
angenehmes und doch zugleich beunruhigendes Gefühl her-
vorrufen. Es war, als läge er nicht, sondern als schwebte er;
unwillkürlich wartete er darauf, daß er plötzlich mit seinem
vollen Gewicht auf die Couch fallen werde. Wer weiß, dachte
er noch im Einschlafen, vielleicht gewöhnt man sich daran.
Auf der Erde werde ich mich dann bestimmt nach dieser
Leichtigkeit sehnen.
In seine schlaftrunkenen Überlegungen drängte sich eine leise,

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kaum wahrnehmbare Melodie. Er lauschte angestrengt. Das
klang ja wie Mozart. Mozart auf dem Mond! Wann wäre
ihm jemals in den Sinn gekommen, daß sich Menschen auf
dem Mond die Kleine Nachtmusik anhören könnten.
Wer könnte am ehesten vor dem Schlafengehen Mozart spie-
len? Der Major ließ die gesamte Besatzung vor seinem gei-
stigen Auge vorüberziehen, wie er sie beim Abendbrot ken-
nengelernt hatte.
Der Kommandant hatte ihm alle der Reihe nach vorgestellt.
„Frau Doktor Santos ist Ihnen schon bekannt.“ Die junge
Frau nickte ihm kaum merklich zu. „Irina Dario versah ab-
wechselnd mit Schmidt den Dienst in der Informationszen-
trale.“ Eine Spur von Verlegenheit stahl sich in die Augen
unter den platinblonden Locken. „Okede Juramoto, unser Se-
lenologe.“ Aus dem alterszerfurchten Gesicht ließ sich nichts
herauslesen. Die Augen schienen die Weiten des Stillen
Ozeans widerzuspiegeln. Unbeweglich, aber mit sanftem
Blick ruhten sie auf dem Major. „Der Astronom Felix Lange.“
Das waren nicht die ruhigen und schweigsamen Augen Jura-
motos, sondern Blicke, aus denen Wissen um den Wert der
eigenen Persönlichkeit sprach. „Christian MacKent, der Bio-
loge unseres Durchgangs.“ Was drückten seine Gesichtszüge
aus? Vor allem Neugierde. Und außerdem ein bißchen Un-
entschlossenheit, zuwenig Selbstvertrauen; aber wer weiß. ob
das nicht nur eine zur Schau getragene Maske war. „Mein
Stellvertreter, der Pilot Hugo Neumann.“ Ein ruhiges Lä-
cheln lag auf dem Gesicht des Piloten. „Und schließlich der
Mann, der die Seele des Stüt2punktes ist: Betriebsingenieur
Boris Melchiad.“ Ein energischer Händedruck, schnelle ab-
schätzende Blicke. „So, das wären wir alle aus der Regen-
bogenbucht. Acht Leute jetzt.“
Acht Menschen. Und einer von euch ist ein Mörder. Vielleicht
spielt er gerade die Kleine Nachtmusik und versucht, wenig-
stens für eine Weile in der Musik Vergessen zu finden; um
den letzten Blick des Funktechnikers und dessen ohnmächtige

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Gestalt nicht mehr vor sich zu sehen, um nicht mehr an die
Rolle zu denken, die er jetzt spielen muß, an die Maske, die
er Zeit seines Lebens tragen muß. Vielleicht . . .
Die Musik verstummte unvermittelt. Der Major blickte auf
die Uhr. Die akustische Durchlässigkeit der Wände war auf-
gehoben worden, die offizielle Nachtruhe hatte begonnen.
Für ihn bedeutete das allerdings, daß es Zeit zum Aufstehen
war.
Rodin hatte noch nicht die Füße auf dem Boden, da wurde
schon die Klinke niedergedrückt. Holberg, überpünktlich, be-
reits im Skaphander, kam herein, den Helm in der Hand.
Sein Gesichtsausdruck erinnerte an einen Inquisitor aus dem
sechzehnten Jahrhundert.
„Nun?“ fragte er unternehmungslustig.
„Sie sind ja ein richtiger Abenteurer!“
„Wundern Sie sich nicht, Major. Ich habe noch nie in meinem
Leben einen Mörder gejagt. Wann bietet sich einem schon
mal so eine Gelegenheit? Haben wir uns dazu nicht erst auf
den Mond bemühen müssen?“
„Ich habe es doch nicht bös gemeint.“ Rodin kämpfte mit dem
Skaphander.
„Auf den Gängen herrscht absolute Stille. Wir können uns im
Gelände herumtreiben, ohne daß es im geringsten auffällt.“
„Wer weiß? Vielleicht fällt es jemandem auf.“
Der Doktor kniff die Augen zusammen, daß nur noch schmale
Schlitze zu sehen waren. „Aber wem? Wem nur?“
Der Major setzte sich und wollte aus Gewohnheit in die
Tasche greifen. „Zum Teufel l“ schimpfte er.
„Was denn? Ach sol Das ist schlimm für Sie, Major, nicht
wahr? Je früher wir hier oben fertig werden, um so eher kön-
nen Sie sich unten eine anbrennen. Aber womit sollen wir
beginnen? Wie ein Mörder sieht keiner von ihnen aus.“
„Wenn die Menschen ihr schlechtes Gewissen auf der Stirn
trügen, dann könnte man die Verbrecher wie reife Kastanien
auflesen.“

43
„Sie übertreffen ja noch Juramotol Aber Sie wissen schon,
was ich meine. Ich berücksichtige nicht nur die äußere Erschei-
nung, sondern frage mich auch: Wer, warum und wie?“
„Darauf wissen wir vorläufig keine Antwort. Aber ich wollte
Sie auch etwas fragen. Wir werden draußen miteinander
sprechen müssen, Zeichen allein werden zur Verständigung
nicht immer ausreichen, nicht wahr? Eine Unterhaltung ist
aber nur über die Sprechfunkgeräte möglich. Das bedeutet
jedoch, daß jeder, der noch wach ist und Interesse daran hat,
mithören kann. Und eines ist sicher: Mindestens einer hat
allen Grund, sich dafür zu interessieren.“
„Dem ist vorgebeugt, allerdings nicht aus konspirativen Ab-
sichten, sondern um die Leute nicht überflüssigerweise zu
stören. Wenn man diesen Knopf drückt, dann kann man mit
jedem sprechen, der die Welle der Gemeinschaftsverständi-
gung eingeschaltet hat. Drückt man jedoch eine andere Taste,
dann empfängt und sendet man auf einer Welle, die für die
Verständigung über mittlere oder kurze Entfernungen dient.
Und mit diesem Rädchen hier kann man eine beliebige Fre-
quenz einstellen. Nehmen wir . . .“ Holberg sprach nicht zu
Ende, sondern manipulierte eine Weile an den Knöpfen und
Tasten des Sprechfunkgerätes. „Nehmen wir diese. Klar?“
„Vollkommen. Sie sagten, daß die Gänge leer seien. Gibt es
hier denn keine Wachen oder Diensthabende?“
„Nein. Aber dafür eine ganze Menge Kontrollautomaten.
Wollen wir hoffen, daß die Luft rein ist. Verlassen kann man
sich jedoch nicht darauf, denn diese Wissenschaftler sind un-
berechenbar. Wenn einem von ihnen plötzlich eine neue Idee
kommt, dann arbeitet er eventuell die ganze Nacht, und den
folgenden Tag verschläft er eben. Das kennen Sie ja auch.“
„Lassen wir uns überraschen. Aber noch etwas, Doktor, be-
treiben Sie irgendeinen Sport?“
„Ja, ich angle.“
„Das weiß ich. Angeln ist bestimmt eine herrliche und ge-
sunde Erholung. Aber ich meinte einen richtigen Sport.“

44
„Angeln ist ein richtiger Sport. Der beste von allen.“
„Daran zweifle ich nicht. Aber mir geht es um eine Sportart,
die körperliche Anstrengung erfordert.“
„Angeln ist doch . . .“
„Ja, natürlich, einen Wels herauszuziehen kostet große An-
strengungen, aber mich interessiert, ob Sie vielleicht laufen,
boxen, fechten oder Fußball spielen.“
„Warum? Aus diesen Jahren bin ich eigentlich heraus.“
„Man darf also sagen: Sie sind ein normaler Mensch.“
„Sie sind ein bißchen komisch, Major. Normal sein kann bei-
spielsweise eine Straße, eine Waschschüssel, ein Weichsel-
sirup oder ein Gipsverband, kurzum, irgend etwas, was durch
ein Prinzip, eine Anweisung, ein Rezept oder auch nur durch
allgemeine Gewohnheit normalisiert wurde. Aber der-
Mensch? Für die Menschen gibt es keine Normen.“
„Aber Doktor, ich meine natürlich körperliche Normalität.
Daß Sie einerseits keinen Marathonlauf gewonnen haben,
daß aber andererseits nicht eines Ihrer Gliedmaßen kürzer
geraten ist.“
„Nun, das sehen Sie doch selbst. Ja, dann würde ich sagen,
daß ich normal bin. Dem Alter entsprechend natürlich.“
„Sie würden also einen Kilometer wie ein normaler Mensch
in einer durchschnittlichen Zeit zurücklegen, nicht wahr?“
„Ach deshalb! Sie möchten, daß ich laufe. Das hätten Sie
doch geradeheraus sagen können. Ich verstehe. Und Sie?“
„Ich werde Sie kontrollieren.“
„Hm. Sie verstehen sich auf Arbeitsteilungl“
„Um zehn Uhr neunundfünfzig explodierte über Schmidt die
Leuchtkugel.“ Der Major prüfte noch einmal sorgfältig die
Ausstattung des Skaphanders. „Um elf Uhr zwei waren alle
vor dem Observatorium. Das sind die drei kritischen Minu-
ten, die mir viel Kopfzerbrechen bereiten. Konnte der Täter
die Entfernung vom Tatort bis zum Eingang des Stützpunk-
tes innerhalb von drei Minuten zurücklegen? Kommen Sie,
probieren wir das aus l“

45
Rodin war bis zum äußersten gespannt und zugleich erfüllt
von der unendlichen Schönheit der Welt, durch die er jetzt
schritt und nach der sich die Menschen seit Prometheus’ Zei-
ten gesehnt hatten. Damals bewegten sich die assyrischen und
ägyptischen Sterndeuter in ihrer Phantasie auf der Oberfläche
des Mondes und der Planeten. Später waren es die byzanti-
nischen Astrologen, die Sternkundigen zur Zeit der Rudolfi-
nischen Herrschaft, Cyrano de Bergerac und Jules Verne, und
nach den ersten Raumflügen wurden es Millionen von Men-
schen in der ganzen Welt. Jetzt aber schritt Major Rodin
durch die Regenbogenbucht, und zwar nicht nur in der Phan-
tasie, sondern tatsächlich.
Nacht. Stockdunkle Nacht. Am Himmel stand unbeweglich
die große Sichel der Erde. In ihrem aschfahlen Licht zeich-
neten sich die nahen Felsen deutlich ab, aber auch die Um—
risse der entfernteren Hügel, die spinnwebartigen Trichter
der Radargeräte und die seltsamen Antennen.
Der Major sah sich aufmerksam um. Die Regenbogenbucht
stellte einen rüsselförmigen Einschnitt in eine Hügelland-
schaft dar und bildete ein Tal, dessen Grundriß an die Sil-
houette einer dickhalsigen Flasche erinnerte. Rodin stand
auf dem Boden dieser Flasche, den Rücken dem Hang zuge-
kehrt, in dem sich der Haupttrakt des Stütunktes befand.
Zu seiner Linken schimmerte ein vom Erdlicht übergossener
Hang, zu seiner Rechten breitete sich undurchdringlich dichte,
dreidimensional anmutende Dunkelheit aus. Nur mit Hilfe
der grünen Markierungspunkte auf dem Boden und den Ster-
nen in der Höhe konnte er unterscheiden, wo die schwarzen
Felsen endeten und der dunkle Himmel begann. Könnte man
hier einen Menschen wahrnehmen, der im Schatten läuft,
überlegte er unwillkürlich.
Als beantworte er sich diese Frage selbst, schüttelte der Kri-
minalist den Kopf. Eigentlich wollte er ihn nur schütteln,
aber der Skaphander war der Gewohnheit nicht angepaßt,
innere Zweifel durch solche Bewegungen anzudeuten.

46
Der Skaphander! Der Beweis für den Mord. Er schützt mich
vor der Kälte, in der ich augenblicklich erstarren würde, fiel
dem Major plötzlich ein, und er führte diesen Gedanken wei-
ter: Schneller noch würde ich explodieren. Der innere Druck
würde mich umbringen. Wie sagte der Doktor doch? Es käme
zur sofortigen Dekompression und blitzartigen Hypoxie.
„Wo ist denn das Radioteleskop?“ fragte er dann.
Doktor Holberg hob den Arm und deutete auf das Ende
eines schwarzen Schattens.
„Verfolgen Sie den Umriß dieses Abhanges bis zum Ausgang
des Tals. Dort ist es.“
„Was würden Sie von einem kleinen Spaziergang halten?“
Holberg erwiderte nichts, und beide Gestalten schritten still
in die lunare Nacht hinaus. Einige Schritte weit wurden
sie von den scharfen, schwarzen, flachen Schatten der Skaph-
ander begleitet. Schemenhaft hüpften sie neben den Män-
nern her. Mal schrumpften sie zusammen, dann stredrten sie
sich wieder. Und das alles in einem Terrain, das zwanzigtau-
send Generationen der Menschheit am mystischen nächtlichen
Himmel beobachtet hatten, um seine Geheimnisse zu ent-
hüllen.
„Das ist allerdings nicht der Weg, den unser Unbekannter
entlanglief.“ Die Stimme des Doktors zerriß die Stille.
„Ganz meine Meinung.“ Rodin schaute sich forschend um.
„Das Verbrechen sucht die Dunkelheit. Klingt das nicht ein
bißchen dramatisch?“
„Wenn Sie auf den Assoziationseffekt hinauswollen, der sei-
nen Ursprung im komplexen Wesen . . .‘f Holberg sprach nicht
zu Ende. Er verlangsamte seine Schritte.
Beide Gestalten versanken in einer Finsternis, über die das
Licht, das der gegenüberliegende Hang reflektierte, keine Ge-
walt hatte.
„Aber gehen kann man hier. Man kann sogar laufen. Eine
Ebene wie ein Tisch.“
Nun schimmerte das aschfahle Licht bereits satt auf der Kon-

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struktion des R'adioteleskops. Der Weg führte in scharfen
Serpentinen den Hang hinauf. Er wurde vom kaum wahr-
nehmbaren grünlichen Schein ewiger Atomlampen markiert,
die in Zwanzigmeterabständen angebracht waren.
„Glauben Sie, daß wir dort irgendeine Spur finden?“ Die
Stimme des Doktors war voller Zweifel.
„Die Patronenhülsen müßten dort liegen.“
„Aha, Fingerabdrücke l“
„Schwerlich, die verflüchtigen sich im Vakuum. Es sei denn,
sie wurden durch die Oxydation des Messings fixiert. Im
Schweiß befindet sich Milchsäure, und die Pistole ist sicher
in einem Raum geladen worden. Aber ich bezweifle, daß
jemand auf den Hülsen seine Visitenkarte zurückgelassen hat.
Ein Corpus delicti wären sie jedoch in jedem Falle.“
„Ohne Rücksicht auf Abdrücke?“
„Sicher. Wir wissen doch schon, daß. . .“ Rodin blieb am
Rande des Hochplateaus stehen. Er versteinerte wie der Koch
im Märchen. Zugleich erstarrte der andere Skaphander, und
beide Schatten verschmolzen mit dem Boden.
Irgend etwas Unwirkliches kroch hier im kalten fahlen Licht
umher. Ein schwarzer Quader mit vier Spinnenbeinen und
vier Greifarmen. Zwei davon ragten starr in die Höhe, die
beiden anderen waren wie die Hände eines Blinden tastend
nach vorn gestreckt. Sie erinnerten an die Hände eines Ver—
dammten aus der Unterwelt, eines geblendeten, mit fürchter-
lichem Fluch beladenen Unglücklichen, der schon Tausende
von Jahren Tag für Tag vergeblich den Weg zur Sonne, in die
Freiheit und ins Leben suchen mochte.
Der Kriminalist hatte den Eindruck, einer der Greifarme
habe seine Schulter berührt.
„Pfui“, stöhnte der Doktor, „da könnte man ja beinahe er-
schrecken! Das sind künstliche Hände. Sie irren dauernd hier
umher. Entweder helfen sie bei Reparaturarbeiten oder beim
Aufräumen oder Suchen. Sie werden vom Stützpunkt aus
ferngesteuert, oder sie arbeiten nach einem vorher eingestell-

48
ten Programm. Manchmal spazieren sie aber auch im Gelände
herum und erschrecken die Erdenmenschen.“
„Na, ich danke schön l“ brummte Rodin. „Stellen Sie sich vor,
ich hätte ein schwaches Herzl Aber was macht dieses Ding
jetzt hier? Wird es von jemandem gesteuert?“
„In technischen Dingen kenne ich mich nicht besonders aus.
Die heutige Spezialisierung, mein Lieber! Es ist möglich, daß
die künstlichen Hände von jemandem bedient werden. Der
Betreffende würde dann auch mit den Augen des Roboters
sehen. Im oberen Teil des Automaten ist nämlich eine Fern-
sehkamera eingebaut. Da fällt mir aber auf: der Reflektor
leuchtet nicht, er arbeitet also wahrscheinlich nach einem vor-
gegebenen Programm. Schauen Sie nur l“
Die künstlichen Hände blieben stehen, einer der vorderen
Greifarme berührte den Boden, hob irgendeinen dunklen
Gegenstand auf, allem Anschein nach einen Stein, und legte
ihn in einen Behälter an der Vorderseite des Quaders.
„Na klar!“ schrie der Doktor, als hätte er gerade einen neuen
Lehrsatz der Psychologie entdeckt. „Er sammelt Steine.
Wahrscheinlich arbeitet er für Juramoto.“
Rodin verfolgte staunend die wunderliche Erscheinung. Der
Roboter bewegte sich langsam schaukelnd vorwärts, wobei er
einen abgesteckten Bodenstreifen systematisch absuchte. Und
wieder berührte einer der Greifarme die Mondoberfläche.
Ein weiterer winziger Gesteinssplitter fiel lautlos in den Be-
hälter.
Während sich die künstlichen Hände wiegend weiterbeweg-
ten, setzten Rodin und Holberg ihren Weg zum Radiotele-
skop fort.
„Hier war es.“ Der Doktor blieb bei einem Pflock mit einem
orangefarbenen Fähnchen stehen und schaltete die Helm-
lampe ein. In ihrem Schein schimmerten drei Patronenhül-
sen.
Der Kriminalist hob sie auf und suchte die Umgebung sorg-
fältig ab. Der Lichtkegel seines Reflektors zeichnete lange

4 Vesely, Verbrechen
49
Ellipsen auf den Boden, auf dem der blasse Widerschein des
Erdenlichtes lag.
„Nichts,“ sagte er schließlich.
„Was nun?“
„Es tut mir leid, Doktor, aber Sie müssen laufen. Warten Sie
hier. Ich gehe zum Eingang des Stützpunktes zurück, und
wenn ich Ihnen mit der Lampe ein Zeichen gebe, dann star-
ten Sie.“
Der Major kehrte auf dem Serpentinenweg ins Tal zurück.
Mit ungelenken, von den dicken Handschuhen behinderten
Fingern bereitete er die Stoppuhr vor und drückte auf den
Auslöser. Gleichzeitig schickte er ein Blinksignal zum Radio-
teleskop.
Vielleicht sieht uns jemand, überlegte er dabei. Holberg läuft
zwar im Schatten, aber möglicherweise benutzt gerade je-
mand eine Infrarotbrille. Dann denkt er bestimmt: Der Ro-
din und der Holberg, die machen sich ganz schön wichtig!
Wenn uns aber der Mörder beobachtet? Eine eisige Hand
umklammert vielleicht sein Herz, weil er erkennen muß, daß
dieser Kriminalist Rodin nicht an einen Selbstmord glaubt.
Er überprüft die Zeiten. Er ist hierhergekommen, um ein
Verbrechen aufzuklären! Der Plan, dieser scheinbar vollkom-
i
mene Mordplan, hat versagt.
Der Major schaute auf die Uhr. Erst eine Minute. Es wäre
möglich, daß jetzt auch der Mörder ängstlich die Zeiger ver-
folgt. Was dann? Würde er so viel Kraft und Selbstbeherr-
schung aufbringen, um nichts, rein gar nichts zu unternehmen.
Würde er genauso gleichgültig bleiben wie bisher? Würde er
nicht, zumindest im Unterbewußtsein, in Panik verfallen?
Nein, wenn er so veranlagt wäre, dann wäre er niemals auf
einen Mord gekommen. Der Mörder wird sein Beginnen vom
Sonnabend noch einmal überprüfen. Er wird jedes Detail bis
ins kleinste zergliedern und mit neuen Augen betrachten. Da—
bei wird er auf zwei, drei Kleinigkeiten stoßen, die ihn beun-
ruhigen. Plötzlich wird er glauben, etwas herausgefunden zu

50
haben, wo dieser verdammte Detektiv einhaken könnte. Und
dann wird der Mörder bestrebt sein, tatsächliche oder ver-
meintliche Spuren zusätzlich zu verdecken. Aber was passiert,
wenn der Fuchs seine Fußtapfen zweimal mit dem Schwanz
zu Verwischen trachtet? Er hinterläßt eine Straße im Gelände.
Oder mindestens einen Pfad, die Andeutung eines Pfades,
dem das geübte Auge des Jägers zu folgen vermag.
Drei Minuten — und von Holberg keine Spurl
Wenn der Mörder auch eine Stoppuhr in der Hand hält, über-
legte Rodin weiter, dann dürfte er jetzt geringschätzig lä-
cheln. Vielleicht fühlt er sich aber eher wie ein Raubtier, das
in die Ecke des Käfigs gedrängt wurde und das nun überlegt,
wann es sich auf den Eindringling stürzen soll. Solche Fälle
hat es in der Geschichte der Kriminalistik schon häufig ge-
geben.Der Gegenangriff würde ihn aber in doppelter Hinsicht
verraten. Und wenn er es fertigbrächte, sich zu beherrschen
und die Miene eines Hasardeurs aufzusetzen? Selbst das
würde ihn nicht retten, denn er hinterließ mindestens zwei
Spuren, die sich irgendwo kreuzten, und an ihrem Schnitt-
punkt lag der Schlüssel zur Beantwortung aller Fragen. Die
eine Spur führte vom Ermordeten zum Mörder und die
zweite vom Mörder zu seinem Opfer.
Endlichl In den Kopfhörern war des Doktors Keuchen zu
vernehmen. Obwohl er mit Skaphander nur ungefähr fünf-
undzwanzig Kilogramm wog, schnaufte er ziemlich heftig. Er
mußte demnach unter Anspannung aller Kräfte gelaufen sein.
Da tauchte er auch schon aus dem Schatten heraus.
„Nun“, stieß der Arzt noch schnaufend hervor, „wie sieht es
aus?“
„Sechs zwölf.“
„Sechs Minuten und zwölf Sekunden? Und dabei bin ich
wirklich gerannt. Das konnte niemand in drei Minuten schaf—
fen, Major. Aus-ge-schlos-sen l“
„Zum Kuckuck! Rauchen müßte man können l“
„Ich iage mich hier ab“, schimpfte der Doktor schließlich ge-

jI
reizt, „daß ich fast meinen Geist aufgebe, und Sie . . . Heute
kommen schon viele Menschen ohne Zigaretten aus.“
„Sprechen wir lieber von unserem Versuch“, lenkte Rodin ein.
„Theoretisch gibt es drei Möglichkeiten. Erstens: Der Mör-
der war zur Zeit des Mordes nicht auf dem Hügel beim Ra-
dioteleskop. Zweitens: Der Mörder war drei Minuten später
nicht vor dem Eingang des StützPunk'tes. Und drittens: Es
gelang ihm auf irgendeine, uns vorläufig unerklärliche Weise,
diese Entfernung doch in drei Minuten zurückzulegen. Oder
sehen Sie noch eine andere Möglichkeit?“
„Schwerlich. Es sei denn - aber das ist reine Phantasie —, ich
meine, daß jemand den Funktechniker von diesem Hang aus,
von einer Stelle direkt über dem Stützpunkt, erschossen ha—
ben könnte. Mit einem Gewehr oder etwas Ähnlichem. Ich
sagte Ihnen bereits, daß die Beschaffenheit der Wunden kei—
nen sicheren Schluß zuläßt, aus welcher Entfernung die
Schüsse abgegeben wurden. Das kann man nur schätzen. Aber
ich frage Sie: Woher wollte man hier eine solche Waffe neh-
men? Zum Mond können Sie noch nicht einmal einen Strepto-
kokkus durchschmuggeln, geschweige denn eine Stecknadel,
von einer Handfeuerwaffe gar nicht zu reden. Man hat uns
ja sogar das Uhrwerk desinfiziert. Und mit einer Signal-
pistole kann man nicht so genau zielen. Nein, eine vierte
Möglichkeit gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, wäre sie
ebenso unwahrscheinlich wie die drei anderen.“
„Schmidt kann wirklich nicht aus größerer Entfernung er-
schossen worden sein. Beim Radioteleskop lagen drei Patro—
nenhülsen. Und dem ermordeten Funktechniker fehlten ge-
rade diese drei Geschosse in der Pistole. Von weitem wurde
er nicht erschossen i“
„Das stimmt. Aber einer muß es doch getan haben! Übrigens,
was die zweite Möglichkeit betrifft, von der Sie sprachen, um
elf Uhr zwei waren nicht alle vor dem Eingang. Fräulein
Dario fehlte. Sie behauptet, gerade mit der Erde gesprochen
zu haben.“

52
„Ja, Fräulein Dario . . . Aber schauen Sie, Doktor, hier ist es
ziemlich belebt!“
Aus der Richtung des Observatoriums näherte sich eine Ge-
stalt im Skaphander. Der sie begleitende Schatten glitt bi-
zarr über die zerklüfteten Felsen.
„Schalten wir auf die allgemeine Frequenz um“, schlug Hol-
berg vor, und der Major drückte den zweiten Knopf auf der
kleinen Schalttafel, die auf dem Skaphander in Brusthöhe
angebracht war.
„Hallo, ihr beiden! Hört ihr nicht? Hier ist Juramoto.“
„Wir hören. Hier spricht Holberg. Der andere ist Major Ro-
din.“
„Wer sollte es sonst sein! Den Vogel erkennt man am Gefie-
der, den Menschen an seinen Taten. Der neugierige An-
kömmling findet selbst in der Nacht keine Ruhe.“
„Das müssen Sie verstehen“, sagte Rodin lächelnd, „mir
würde es um jede Minute leid tun, die ich hier verschlafe.
Wer weiß, wann ich wieder einmal hierherkommen kann.
Wahrscheinlich niemals mehr. Und Sie, Professor? Ich dachte,
Sie hätten wenigstens schon zwei Runden geschlafen.“
„Lieber Major, der Schlaf flieht mit der Jugend. Die Hähne
und die alten Leute stehen im Morgengrauen auf.“
In Holberg empörte sich der Fachmann. „Aber, Herr Profes-
sorl Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß der Mensch
mit zunehmendem Alter weniger Schlaf braucht l“
„Das Alter träumt im Wachen. Der Schlaf schwindet.“
„Allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Ein Säugling
schläft zwanzig Stunden, ein Vierzigjähriger nur sieben. Wenn
Sie diese Gerade verlängern wollten, dann würde ein Siebzig-
jähriger überhaupt keinen Schlaf mehr brauchen. Nein, mit
der linearen Funktion kommen Sie hier nicht aus, und des-
halb auch nicht mit der Geraden. Sie müssen auf die Parabel
zurückgreifen - in Wirklichkeit benötigt ein erwachsener
Mensch fast immer den gleichen Schlaf. Abgesehen von eini-
gen biopsychischen Ausnahmen. Und wenn alte Menschen

53
früher aufstehen, dann nur deshalb, weil sie entweder früher
schlafen gehen oder schon tagsüber ein bißchen schlum-
mern.“
„Ich würde es nicht wagen, Fachleuten zu widersprechen.“
| sich, soweit es ihm der Skaphander ge-
Juramoto verbeugte
stattete.
„Es ist eine Tatsache“, bemerkte Rodin, „daß anscheinend
komplizierte Dinge häufig einen ganz einfachen Hintergrund
haben. In der Technik ebenso wie im Geistesleben des Men-
schen.“
„Ich wünsche Ihnen, daß sich das auch bei Ihrer Arbeit hier
bestätigen möge.“
„Sie meinen die Sache mit Schmidt? Um die Wahrheit zu
sagen, vorläufig tappe ich im dunkeln. Ich erwäge alles, was
ihn aus dem Gleichgewicht gebracht haben könnte. Dabei
kam mir auch der Gedanke, ob die hiesige Umwelt vielleicht
eine gewisse Rolle spielte. Aber andererseits scheint mir die
Mondlandschaft keine trübsinnigen, selbstmörderischen Ge-
danken hervorzurufen. Sie ist eher eigenartig, märchenhaft,
ein bißchen unwirklich, das Werk eines Architekten, der
keine hellen Farben und althergebrachten Formen mag. Hier
ist alles ungewohnt. Sogar das Licht.“
„Das Auge sieht Märchen, der Verstand die Wahrheit.“
Rodin war sich nicht sicher, ob Okede Juramoto dabei lä-
chelte oder nicht. Ich könnte Ihnen auch mit klugen Redens-
arten dienen, Herr Professor, dachte er unwillkürlich. Sicher-
lich wären viele Verbrechen in der Geschichte ungeklärt ge-
blieben, wenn die Verhöre im Dunkeln stattgefunden hätten
oder in Skaphandern.
„Die Bodenformationen werden hier nicht durch äußere Wit-
terungseinflüsse verändert. Die meteorische Erosion hat aller-
dings ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Und das Licht?
Bei Vollerde ist es auf dem Mond vierzehnmal heller als bei
Vollmond auf der Erde. Das sind bekannte Tatsachen. Sie
ergeben ein Bild, das den Neuling fesselt, das ihn im ersten

54
Augenblick vielleicht mit Erhabenheit und Beklemmung zu-
gleich erfüllt. Aber einen seelisch ausgeglichenen Menschen
wird es wohl niemals zum Äußersten treiben. Ja, und
Schmidt?“ Aus der Stimme des Selenologen waren Zweifel
herauszuhören.
„Ich bin hier wirklich ein Neuling. Darum frage ich vielleicht
naiv. Aber unterscheidet sich diese Landschaft von anderen
Gebieten des Mondes durch irgend etwas Besonderes?“
„Was ist etwas Besonderes, Major? Etwas Außergewöhn-
liches im Verhältnis zum Alltäglichen. Hier ist alles besonders,
wenn man von den Verhältnissen auf der Erde ausgeht. Aber
was die Mondbedingungen anlangt, werden Sie hier nichts
Außergewöhnliches finden. Wir sind im Mare Imbrium, und
ich glaube nicht, daß dieses Meer des Regens irgendeine un-
gewöhnliche Naturenklave ist. Eher etwas Durchschnittliches.
Und Sinus Iridum, unsere nächste Umgebung? Als Mensch,
der sich fast sein ganzes Leben mit dem Mond beschäftigte,
behaupte ich: Die Regenbogenbucht ist eine typische Mond-
landschaft.“
„Meer, Bucht — diese Namen klingen in den Ohren eines
Anglers wie Hohn“, brummte Holberg ärgerlich.
„Es gibt hier auch Sümpfe.“ Die Stimme des Selenologen
klang wie ein Lachen. „Ein und derselbe Begriff, und doch
ein ganz anderer Inhalt! Solche Unterschiede können Sie
überall finden. Kurz und gut, Sie müssen lernen, die Dinge
mit hiesigen Augen zu sehen. Auch beim Laufen.“
„Wie meinen Sie das, Professor?“ Rodin versuchte vergebens,
den Helm des Selenologen mit seinen Blicken zu durchdrin-
gen. Im fahlen Schein der Erde wirkte Juramotos Gesicht
hinter dem Schutzglas flach, verschwommen und ausdrucks-
los.
„Ich meine es so, wie ich es sage. Das Wort ist der Bote des
Gedankens. Der Doktor beschwerte sich über den tatsächli-
chen Inhalt der Begriffe. Daran knüpfe ich an und mache dar-
auf aufmerksam, daß es mehr solche Unterschiede gibt. Wenn

55
man sich das bewußt macht, kann man sich manchen Serpen-
tinenlauf ersparen.“
Stille lag über dem Stützpunkt. Absolute Stille, die nur im
Weltall Heimatrecht hat. Jedoch Rodin vernahm trotzdem
etwas: schnelles Atmen. Wessen Atemzüge waren es, Jura-
motos oder Holbergs? Auf diese Frage gaben die Zentimeter-
wellen keine Auskunft.
„Wozu die Serpentinen?“ fügte der Selenologe hinzu. „Sie
befinden sich auf dem Mond, meine Herren. Gute Nacht.“
Als die Panzertür der Ausgleichkammer hinter Juramoto ins
Schloß gefallen war, wandten sich die beiden Gestalten in
den Skaphandern einander zu, und zwei Hände betätigten
die Tasten auf den kleinen Schalttafeln.
„Er hat unseren Versuch beobachtet“, sagte Holberg. „War-
um? Er sah mich, wie ich lief. Und was. zum Teufel meinte er
mit seiner Bemerkung? Wie denn sonst, wenn nicht in Ser-
pentinen?“
„Sind Sie sicher, daß er uns nicht hört?“ vergewisserte sich
Rodin.
„Er hört uns bestimmt nicht.“
„Er sprach zu blumenreich, als daß man ihn hätte eindeutig
verstehen können. Ich glaube, daß er ein bißchen stolz auf
seine Vorfahren ist. Seine Bibliothek ist wahrscheinlich mit
polynesischer Folklore überladen. Und dabei ist er einer
der führenden Selenologen unserer Zeit. Ist das nicht eigen-
artig?“
„Keineswegs. Ich würde sagen, das ist ganz natürlich. Wenn
Sie möchten, könnte ich Ihnen das vom Standpunkt der mo-
dernen Psychologie . . .“
„Das hat sicher Zeit, Doktor. Kommen wir lieber auf diese
Anspielungen zurück. Was soll das bedeuten: Wir könnten
uns manchen Serpentinenlauf ersparen?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht meint er abkürzen, springen.“
„Sollte das wirklich hinunterspringen heißen?“
„Wie hoch ist der Steilhang eigentlich?“

56
„Jc nachdem. Fünfundzwanzig bis vierzig Meter. Ich werde.
mir doch nicht den Hals brechen! Aber Moment mal, wir
sind auf dem Mond, ich verstehe schon! Hier ist die Anzie-
hungskraft sechsmal kleiner, dementsprechend auch die Ge-
schwindigkeit des freien Falls geringer. Das entspräche vier
bis fünf Metern auf der Erde. Major“, die Stimme des Dok—
tors'überschlug sich fast, „das heißt, daß man von diesem
Hang hinunterspringen könnte! Wirklich! Ich bin vom Radio-
teleskop zuerst geradewegs den Hang heruntergelaufen und
dann die Serpentinen entlang ins Tal. Aber man könnte ia
in das Tal hinunterspringen und sich damit den ganzen Ser-
pentinenlauf sparen. Daß mir das nicht gleich eingefallen
ist!“
„Wie würde der Skaphander darauf reagieren? Es ist mög-
lich, daß er für solche Akrobatik nicht eingerichtet ist.“
„Der muß Schlimmeres aushalten. Ich fürchte eher um die
Beine.“
„Wenn Sie Angst haben . . .“
„Wer sagt denn, daß ich Angst habe!“ Holberg schritt in das
Tal zurück und untersuchte das Terrain am Fuße des Steil—
hangs, über dem das Radioteleskop emporragte. Es war eine
kahle Fläche, ohne tückische Felsblöcke oder Vertiefungen.
Dann stieg er rasch die Serpentinen hinauf, wartete Rodins
Lichtsignal ab und startete von neuem. Ein mächtiger Sprung
trug ihn ins Tal hinunter, der Serpentinenweg zu- seiner Lin-
ken blieb unberührt, und auf der ebenen Fläche rannte er
geradewegs auf den Stützpunkt zu.
„Eine beachtliche Leistung!“ begrüßte ihn Rodin. „Zwei Mi—
nuten und siebenundfünfzig Sekunden. Nicht ganz drei Minu-
ten.“
„Na bitte“, keuchte der Doktor. „Konnte das jemand in der
fraglichen Zeit schaffen? Durchaus!“
„Richtig. Zum mindesten die drei, die am Sonnabend als
letzte beim Stütunkt eintrafen.“
„Und das sind?“ '

57
„Zuletzt kamen der Selenologe Juramoto, der Pilot Neumann
und der Astronom Lange. Inzwischen war eine weitere Mi-
nute verstrichen. Um elf Uhr zwei waren alle versammelt, so
ungefähr hat es Glazow erzählt.“
„So waren der Lauf und dieser Teufelssprung — ich fürchte,
daß ich mir einen Bluterguß zugezogen habe, denn ich bin nur
mit Mühe und Not bis hierher gehinkt — doch nicht ganz um-
sonst.“
„Glauben Sie denn wirklich, ich würde Sie nur aus Spaß her-
umjagen?“
Als der Major in seinem Zimmer den Skaphander abstreifte,
dehnte er sich wohlig und gähnte herzhaft. „Mir scheint, daß
bei mir mit den biologischen Rhythmen alles in Ordnung ist.
Ich kann kaum noch die Augen oflenhalten.“
„Halten Sie sie noch eine Weile offen, Major. Bevor Sie
einschlafen, müssen Sie mir noch erzählen, wie nach Ihrer
Meinung die Dinge jetzt liegen. Das habe ich für diesen
Sprung bestimmt verdient. Ich bin geflogen wie ein Seeadler.
Nun?“
„Ja, wie liegen die Dinge? Um zehn Uhr neunundfünfzig ex-
plodierte über Schmidt die Leuchtkugel. Da war er allem „An-
schein nach noch am Leben. Zwei Minuten nach elf waren die
Leute vor dem Eingang zum Haupttrakt versammelt. Der
Funktechniker war um diese Zeit wahrscheinlich schon tot.“
Der Major gähnte wieder und streckte sich auf dem Bett aus.
„Ich denke, nun kann ich mich langsam hinlegen.“
Holberg überhörte das. „Ich würde mir zutrauen, genauere
Schlüsse daraus abzuleiten. Da ist zuerst einmal Fräulein Da-
rio. Sie konnte die Verbindung zur Erde herstellen, das Ton-
bandgerät einschalten, zu Schmidt gehen und ihn erschießen.
Und während die anderen von hier aus auf kürzestem Weg
zum Radioteleskop liefen, konnte sie auf einem Umweg zum
Stützpunkt zurückkehren. Dann wartete sie, bis das Band ab-
gelaufen war, unterbrach die Verbindung und tat, als wäre
nichts geschehen. Das ist die erste Möglichkeit. Außerdem ist

58
erwiesen, daß einige Besatzungsmitglieder eine Minute vor
elf am Tatort und drei Minuten später vor dem Hauptein-
gang gewesen sein könnenÄZumindest die letzten drei hätten
das schaffen können. Juramoto, Lange und Neumann. Was
sagen Sie dazu, Major?“
Major Rodin sagte nichts. Er schlief fest und atmete in regel-
mäßigen Zügen.
Mittwoch: Acht Wellenlinien

Das Frauenalbum

„Zuerst möchte ich Sie etwas fragen.“ Rodin setzte sich, ohne
dazu aufgefordert worden Zu sein, und schaute Zu Glazow
hinüber.
„Bitte.“
„Ich habe bisher das Zimmer gesehen, das mir zur Verfügung
steht, des weiteren Holbergs Kabine, Ihr Arbeitszimmer und
nun dieses hier, die letzte Behausung Schmidts. Sie gleichen
sich zwar in manchem, aber im einzelnen unterscheiden sie
sich, besonders in den Farbtönen. Ich nehme an, daß sich da-
hinter eine Absicht verbirgt.“
„Selbstverständlich; die Architekten, die für diesen Stütz-
punkt verantwortlich zeichnen,.richteten sich nicht nur nach
der Zweckmäßigkeit, nach den Transportmöglichkeiten und
nach den andersartigen hiesigen Bedingungen, sondern sie
mußten auch weit stärker als auf der Erde die psychologi—
schen Auswirkungen in Betracht ziehen. Und deshalb . . .“
Doktor Holberg räusperte sich bedeutungsvoll. „Wenn Sie
gestatten . . . Die Uniformität der Mondlandschaft ist in ge-
wisser Beziehung so vollkommen, daß sie zu melancholischen
Stimmungen führen könnte. Und das ist ein Faktor, den wir
nicht unterschätzen dürfen.
Von der Melancholie ist es unter bestimmten Voraussetzun-
gen nur ein kleiner Schritt bis zur Erregung und Angst, zur
schlechten Konzentrationsfähigkeit und Unbeständigkeit, zum
Pessimismus, der sich bis zur unwiderstehlichen Abneigung

61
gegen alles Menschliche steigern kann. Verstehen Sie, wohin
das führen könnte?“
„Deshalb soll dieses Milieu dem Aufkommen melancholi-
scher Stimmungen entgegenwirken?“ fragte Rodin.
„Milieu — das ist nicht ganz korrekt ausgedrückt. Aber ich
weiß, was Sie meinen. Es ist ein Milieu, das wir vor allem
visuell aufnehmen. Populär gesagt: Wir sind bestrebt, der
faden Natur eine gewisse Buntheit entgegenzmetzen, den be—
grenzten Raum mittels vielfältiger Eindrücke zu erweitern.
Vielleicht ist Ihnen das noch gar nicht so bewußt geworden,
aber es ist eine Tatsache, daß Sie nur in sehr wenigen irdi-
schen Gebäuden auf so engem Raum so viele farbliche Nuan-
cen und so viele Kontraste der Formen vorfinden.“
„Gut, das ist sicherlich richtig, aber was bedeutet dies?“ Ro-
dins Stimme klang vorwurfsvoll, als er an Schmidts Schreib-
tisch herantrat. „Ein altertümlicher bronzener Briefbeschwe-
rer, unförmig und schwer. Warum, weshalb, wozu? Statt
seiner hätte man lieber zwei Liter Wasser mehr hierher trans-
portieren sollen. Und hier — ein zottiges Äffchen, ein Kinder—
spielzeug. Allein das Sterilisieren dieses Plunders muß ja
schon Schwierigkeiten bereitet haben. Ein Mensch wie
Schmidt kann doch nicht an irgendwelche Maskottchen oder
Amulette glauben! Und hier? Das gerahmte Foto eines Schä-
ferhundesl Eine Gitarre, das verstehe ich. Ein Damespiel,
bitte sehr. Aber das übrige? Einerseits sagen Sie, daß man
hierher nicht einmal eine Bakterie durchschmuggeln könne,
und auf der anderen Seite das! Verfolgen Sie damit auch eine
bestimmte Absicht?“
„Selbstverständlic .“
Glazow wiederholt sich, registrierte der Major bei sich. Der
gleiche Tonfall, die gleiche Andeutung eines Lächelns, die
gleiche Pause. Menschen, die sich in technischen Disziplinen
hervortun, sind in ihrer Ausdrucksweise meist ein bißchen
stereotyp, obwohl sie relativ viel lesen und ab und zu sogar
Gedichte schreiben. Aber schließlich wiederholen sich selbst

62
Schriftsteller und Dichter in gewisser Weise. Deshalb läßt
sich mit einer elektronischen Rechenmaschine ziemlich leicht
feststellen, wer der Autor einer strittigen Arbeit ist bezie-
hungsweise von wem sie nicht stammt. Selbstverständlich nur,
wenn Vergleichsmaterial vorhanden ist. Selbstverständlich!
Nun fange ich auch schon an. Sollten in mir etwa verborgene
technische Talente schlummern?
„Im Prinzip geht es um dasselbe. Wir wollen . . . Wie würden
Sie das sagen?“ wandte sich Glazow hilfesuchend an Hol-
berg.
„. . . die Umgebung so harmonisch auf jeden einzelnen ab-
stimmen, daß sie so genau wie möglich seinen Eigenschaften
und Neigungen entspricht. Deshalb dürfen Sie auch nicht
ausschließen, daß sich jemand, sagen wir, eine Briefmarken—
sammlung zum Mond mitnimmt.“
„Wäre das nicht ein Sonderling? Könnte ein solcher Mensch
hier überhaupt nützlich sein?“
„Warum sollte er nicht? Was ist denn ein Sonderling? Ein
Mensch, über den sich die anderen wundern. Galten nicht
viele hervorragende Persönlichkeiten als Sonderlinge? Zuge-
geben, manche von ihnen waren überspannt, aber nur in den
Augen ihrer Generation, ihrer Zeitgenossen. Ihre Mitwelt
wertete häufig jede Abweichung vom grauen Durchschnitt als
Ungebührlichkeit. Vergessen Sie nicht, daß auch die mensch-
liche Psyche Niederungen aufweist. Eigenbrötelei dürfte, so-
fern sie nicht ausgeprägte pathologische Formen annimmt,
niemanden deklassieren. Auch nicht als wissenschaftlichen
Mitarbeiter.“
„Ihre Worte haben mich wirklich beruhigt, Doktor.“ Glazow
lachte. „Ich habe nämlich ein gepreßtes Edelweiß mitge-
bracht.“
„Und Schmidt? War er ein Sonderling, Doktor?“ fragte Ro-
din.
„Das ist schwer zu sagen.“ Holbergs Blick irrte im Zimmer
umher. „Nach dem, was wir von ihm wissen und was ich hier

63
sehe, möchte ich sagenz-Er war keiner. Sicher, er war anders
als die übrigen. Bestimmt hatte er auch irgendein Hobby,
eine Leidenschaft, vielleicht auch Fehler — aber ein Sonder—
ling? Das glaube ich nicht.“
„Jeder hat seine Besonderheiten und Liebhabereien, die nur
für ihn selbst von Bedeutung sind.“ Rodin griff nach einer
Zigarette und lächelte schuldbewußt. „Das sind zum Teil Ge-
wohnheiten, zum Teil . . .“
„. . . Unsitten.“ Doktor Holberg runzelte vorwurfsvoll die
Stirn.
„Sagen Sie mir noch eins“, der Kriminalist wandte sich er-
neut an Glazow, „wenn Sie irgendwo außerhalb des Stütz-
punktes wären und plötzlich erführen, ein Besatzungsmitglied
habe Selbstmord verübt, auf wen würden Sie dann tippen?“
Der Kommandant kniff die Augen zusammen und starrte
auf den Briefbeschwerer. „Das zu beantworten ist wirklich
schwierig. Wahrscheinlich würde ich auf Lange tippen.“
„Auf Lange?“
„Ja, ich habe das Gefühl, daß der imstande wäre, ein tragi-
sches Problem durch Selbstmord zu lösen. Ich meine tragisch
von seinem Standpunkt aus, verstehen Sie? Lange könnte das
vielleicht. Ich sage, vielleicht. Aber von Schmidt hätte ich das
niemals angenommen. Daraus ersehen Sie am besten, welch
l
geringen Wert solche Vermutungen haben.“
„Glauben Sie nicht, daß Lange ebenso am Leben hängt wie
die übrigen?“
„Sie haben mich mißverstanden, Major. Ich bin über-
zeugt, daß Lange sehr am Leben hängt, weil es ein sehr er-
folgreiches Leben ist. Er hat sich einen festen Platz unter den
Astronomen von Weltrang erobert. Er ist der Begründer
einer ganzen astrobiologischen Schule, die in ihren Grund-
zügen nicht nur naturwissenschaftlichen, sondern auch philo-
sophischen Charakter besitzt. Viele junge Wissenschaftler
verehren ihn fast wie einen Gott. Er hat allen Grund, mit
dem Leben zufrieden zu sein, und deshalb hängt er bestimmt

64
daran. Aber verstehen Sie mich recht: Wenn dies alles plötz-
lich katastrophal erschüttert würde, wenn es auseinander-
bräche, dann könnte das Leben für ihn seinen Sinn verlieren.
Und eine daraus resultierende Krise könnte eventuell mit
einem Selbstmord enden. Er würde ihn nicht im Zustand
einer augenblidilichen Erregung verüben, sondern überlegt,
ruhig, mit wissenschaftlicher Sachlichkeit und mathematischer
Präzision. Das ist allerdings meine persönliche, rein private
Vermutung, und es täte mir leid, wenn Sie sich dadurch be-
einflussen ließen.“
„Ich verstehe, und ich danke Ihnen. Uns interessiert natürlich
in erster Linie Schmidt. Deshalb werden wir uns hier ein biß—
chen umsehen.“
Der Wohnraum des Funktechnikers war schnell untersucht.
Außer der eingebauten Einrichtung, einigen Kleidungsstük-
ken und der Leibwäsche gab es hier herzlich wenig, was ge-
holfen hätte, Schmidts Persönlichkeit zu bestimmen. Eine
Sternkarte, Logarithmentafeln, einige Fachbücher und ver-
schiedene Kleinigkeiten, die in der Behausung eines jeden
Mannes anzutreffen sind. Außerdem der bronzene Brief-
beschwerer, das Äffchen, das Bild des Hundes und ein kleines
Tonbandgerät.
Der Major legte ein Notizbuch mit knappen Vermerken, die
sich hauptsächlich auf Schmidts Arbeit bezogen, zur Seite.
Anders, überlegte er, und dennoch gibt es eine Besonderheit.
Das Fotoalbum. Auf jeder Seite nur ein Bild, aber immer
Porträts junger anmutiger Frauen. Blondinen und Brünette,
Lachende und Ernste, Kokette und Unnahbare, etwa dreißig
bis vierzig Fotos. Nirgends ein Name oder ein Initial. Nur
die Daten — Tag, Monat und Jahr.
„Hm“, Glazow räusperte sich zuerst verlegen, „man könnte
sagen, daß . . .“
„Satyriasis“, unterbrach ihn Doktor Holberg, „eine bestimmte
Variante des Pygmalionismus. Das alles äußert sich in einem
bedingten Symbolismus und einem ausgeprägten Geltungs-

5 Vesely. Verbrechen 65
bedürfnis, gepaart mit einer verborgenen Insolenz. Das hätte
ich von Schmidt nicht erwartet.“
„Ich verstehe Sie nicht ganz. Das heißt, ich verstehe Sie über-
haupt nicht.“ Der Kommandant hatte sich wieder gefaßt.
„Ich würde sagen, daß dies hier“, er klopfte mit dem Finger
auf den Albumdeckel, „lediglich ein Beweis für Schmidts
krankhaften Donjuanismus ist.“
„Genau das habe ich in groben Zügen gesagt. Und Donjua-
nismus, wenn Sie diesen Terminus schon wählen, ist immer
krankhaft. Das ist erotische Kleptomanie.“
„Bedeutet das“, Rodin blätterte mechanisch im Album, „daß
Schmidt geistig nicht normal war?“
„Bestimmt war er geistig völlig gesund. Sie werden doch nicht
annehmen wollen, daß jeder ein Narr ist, der sich die Bilder
seiner Geliebten aufhebt.“
„Das kommt darauf an“, sagte der Major trocken. „Wenn er
verheiratet ist, bestimmt.“
Mit ihrer mageren Beute, die aus einem Notizbuch, einem
Tonbandgerät und einem Fotoalbum bestand, begaben sie
sich in ein neues Revier. In Schmidts Arbeitszimmer, das wie
eine Kombination von Funkstation und technischer Werk-
statt wirkte, fesselten Rodin nur einige Tonbänder, die mit
Daten der vorigen Woche versehen waren. Der Woche, die
mit dem Mord geendet hatte.
„Viel ist das nicht“, konstatierte der Doktor, als sie sich in
Rodins Zimmer niederließen. Der Kommandant war inzwi-
schen in seinen Dienstraum zurückgekehrt.
„Wirklich, viel hat uns Don Juan nicht hinterlassen.“ Der
Major betrachtete nachdenklich die Tonbänder, das Album
und das Notizbuch.
„Meinen Sie, daß wir daraus etwas erfahren?“
„Wir werden sehen.“ Major Rodin blätterte im Notizbuch.
Er fand regelmäßige Vermerke über die Qualität des Emp-
fangs und der Geräte, knappe Gedankenstützen für Verbes-
Serungen und Neuerungen, die Anmerkung, daß ein gewisser

66
Ben Taleb recht habe, wenn er die geringe Genauigkeit der
für Raumflüge bestimmten Interferometer kritisiert, und No-
tizen über Studienmaterialien. An anderer Stelle hieß es:
,Svenborg behauptet, daß ein Funker mit Hilfe der Zeichen-
analyse ganz sicher identifiziert werden könne, wenn Ver-
gleichsmaterial vorhanden sei. Aber welchen praktischen
Wert hat das? Wer gibt denn heute noch mit der Hand? —
Anni den Brief zurückgeben! — Sie rechnen, demzufolge
denken sie auch. Das Wasser absorbiert die hohe Frequenz,
normalerweise empfangen wir überhaupt nichts. — Mit dem
großen Radioteleskop Amateurstationen von der Erde emp-
fangen. Professor Munbudi benachrichtigen. — Das Verzeich-
nis der Signale überprüfen, die in den galaktischen Raum ge-
sendet werdenl — Magda: Urlaub im September. Opatie?
Rimini?‘
Dazwischen tauchten verschiedentlich auch Namen von Ster-
nen auf, aber nirgends fand sich etwas Auffälliges, etwas Be-
sonderes. Oder doch? Eine der letzten beschriebenen Seiten
war mit einer langen Zahlenreihe gefüllt: 23, 29, 31, 37, 41, 43,
47,55‚s9‚61‚67‚71‚73‚79,83‚89‚97‚ 101...
„Was soll denn das bedeuten?“ Die Falten auf Holbergs
hoher Stirn wirkten wie Fragezeichen. „Vielleicht Chiffren?
Wozu? Oder Maße? Irgendwelche Daten? Ausgeschlossen.
Wellen? Unsinn. Und wenn es der Schlüssel für einen Ge-
heimcode wäre? Aber dann hätte er ihn doch nicht so leicht-
fertig in ein Notizbuch geschrieben, das er offen herumliegen
ließ. Schauen Sie, Major, fällt Ihnen daran nicht etwas auf?“
„Daß es sich nur um ungerade Zahlen handelt?“
„Allerdings. Nur ungerade. Haben Sie eine Ahnung, was sie
bedeuten könnten?“
„Nein, nicht die geringste. Im Nachrichtendienst kenne ich
mich nicht aus, und in Mathematik war ich nie eine Leuchte.
Vielleicht kann uns Fräulein Dario etwas darüber sagen. Wir
werden sehen . . . Und was gibt es auf den Tonbändern?“
Sie hörten nichts BeSonderes, hauptsächlich ein unbestimmtes

67
Rauschen, Krächzen, KreiSchen und Pfeifen wie aus einem
defekten Radioapparat. Holberg zuckte ratlos mit den Schul-
tern. „Nichts l“ Er spielte das letzte Band ab. „Und was nun?
Wollen Sie sich nicht wieder schlafen legen wie gestern?“
„Aber Doktor, ich habe Sie doch hoffentlich damit nicht ge-
kränktl Nein, ich werde nicht schlafen gehen, ich mache es
mir nur ein bißchen bequem. Wissen Sie, ich kann nicht ge-
nug bekommen von dem sonderbaren Gefühl, beim Sitzen
oder Liegen so leicht wie Flaum Zu sein.“
„Also was nun?“ drängte Holberg.
„Versuchen Sie, diese Blondine irgendwo zu finden, und
bringen Sie sie hierher. Aber klopfen Sie bitte an“, Rodin
lachte über das ganze Gesicht, „und warten Sie erst zwei Se-
kunden, ehe Sie hereinkommen, damit ich vorher noch auf-
stehen kann.“
Eine Weile später konnte Rodin der Funktechnikerin Irina
Dario einen Sessel anbieten. „Nur einige Fragen, vorausge-
setzt, daß Sie ein bißchen Zeit haben.“
„Wollen Sie etwas über Michael wissen?“
„Richtig. Sie kannten ihn näher?“
„Ich lernte ihn einige Wochen vor dem Abflug kennen, bei
der Zusammenstellung unserer Arbeitsgruppe. Näher bekannt
wurden wir erst hier. Wir hatten die gleiche Arbeit.“
„Sie wechselten sich ab, nicht wahr? Der Kommandant hat
uns das erzählt. Aber sagen Sie uns doch bitte, was das für
l
ein Mensch war, dieser Schmidt.“
Irinas Hände griffen hilflos in die Luft. Schöne schlanke
Hände, dachte Rodin unwillkürlich. Ob sie wohl töten könn-
ten? Oder gar morden? Schnell löste er seinen Blick von
ihnen.
„Was kann ich Ihnen schon sagen?“ Die Funktechnikerin
zögerte. „Daß er ein bißchen flatterhaft und leichtsinnig war,
das wissen Sie sicher schon, denn so kannte ihn jeder. Aber er
war nicht oberflächlich, in der Arbeit bestimmt nicht. Er hatte
eine höhere fachliche Qualifikation und natürlich auch grö-

68
ßere Erfahrungen als ich. Aber nicht nur das, er besaß auch
mehr Scharfblick, ein besseres Kombinationsvermögen und
noch einiges andere. Seine starke Seite war, daß er schnell
und genau zu urteilen vermochte.“
„Wir fanden in seinem Zimmer Tonbänder mit irgendwel-
chem Gekreische und ähnlichen Geräuschen . . .“
„Das ist möglich, Michael beschäftigte sich mit Radioastrono-
mie. Er hat ein Verzeichnis der verschiedensten Radiowellen-
geräusche von der Sonne, aus dem Sternbild des Krebses und
sogar aus fremden Milchstraßen.“
„Und diese Zahlen?“ Rodin reichte der Funktechnikerin das
geöffnete Notizbuch.
„Keine Ahnung! Die habe ich niemals gesehen, und ich
kann mich auch nicht erinnern, daß er darüber gesprochen
hätte.“
„Wie zeigte sich Schmidt Ihnen gegenüber privat?“
„Als witziger Mensch und guter Gesellschafter. Er war lie-
benswürdig, scherzte gern, manchmal heckte er regelrechte
Bubenstreiche aus.“
„Zum Beispiel?“
„Jetzt fällt mir gerade nichts ein. Wer könnte sich das auch
alles merken? Aber warten Sie, etwas weiß ich doch. Vor
kurzem erfuhr er, daß Juramoto den Gipfel eines Berges be-
steigen wollte, der etwa drei Kilometer von hier entfernt ist,
in Richtung des Helicon-Kraters. Stellen Sie sich vor: Mi-
chael war nicht faul und brach vorher nach dort auf, um dem
Professor einen Streich zu spielen. Er kratzte mit Draht ein
Bruchstück aus dem Madrider Kodex der alten Maya in den
Felsen ein. Juramoto war im ersten Augenblick ganz sprach-
los und meldete das schnell der Zentrale. Aber bald darauf
merkte er, daß er einem Witzbold aufgesessen war. Er über-
legte sich, daß die alten Maya und die frische Aufschrift,
noch dazu auf dem Mond, nicht recht harmonierten.“
„Sagen Sie, wann haben Sie Schmidt eigentlich das letztemal
gesehen? Ich meine, lebend.“

69
„Am Morgen jenes Tages. Wann war das? Am Sonnabend.
Wir frühstückten und gingen dann in die Funkzentrale. Mi-
chael füllte noch einige Karten für die Radioamateure
aus . . .“
„Karten?“
„Das ist so üblich. Michael richtete gelegentlich das große
Radioteleskop auf die Erde und empfing damit Amateur-
sender. Den Empfang bestätigte er den Amateurfunkern mit
einer Karte. Sie waren sehr erfreut darüber, daß ihre Sen-
dungen auf dem Mond zu hören sind.“
„Das geschah also nach dem Frühstück?“
„Ja. Kurz vor neun machte er sich auf den Weg zum großen
Radioteleskop, und danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.“
„Und nicht mehr gehört“, ergänzte Rodin.
„Doch, gehört habe ich ihn noch einmal, um zehn Uhr. Wenn
nämlich jemand draußen ist, dann muß er sich jede Stunde
melden.“
„Er meldete sich also um zehn Uhr.“
„Ja, genau um zehn. Er sagte nur: ‚Alles in Ordnung.‘ Sonst
nichts.“
„Waren Sie während dieser Zeit in der Zentrale?“
„Nein, ab neun Uhr schrieb ich den Wochenbericht im Dienst-
raum des Kommandanten. Das Telefon hatte ich natürlich
dorthin umgestellt.“
„Wann waren Sie fertig? Ich meine, mit dem Bericht.“
„Warten Sie, das war um drei Viertel elf, vielleicht eine Mi-
nute früher oder später.“
„Danngingen Sie wieder in die Zentrale zurück?“
„Ja.“
„Haben Sie unterwegs jemanden getroffen?“
„Melchiad. Vor der Tür der mechanischen Werkstatt. Er
wollte gerade zum Kommandanten.“
„Und das Alarmsignal?“
„Das erreichte mich während der Sendung.“
Der Major überlegte einen Augenblick. „Noch etwas: Haben

7o
Sie an Sdlmidt in der letzten Zeit irgendeine Veränderung
bemerkt? Vielleicht eine seelische Depression?“
„Danach hat mich der Kommandant schon gefragt. In der
letzten Zeit kam mir Michael tatsächlich ein bißchen eigen-
artig vor. Irgendwie schweigsam. Aber nicht schwermütig,
von einer seelischen Depression kann keine Rede sein. Er sah
bestimmt nicht aus wie ein Mensch, der mit Selbstmord-
gedanken spielt. Eher irgendwie nachdenklich, in sich ge-
kehrt. Wissen Sie, so hätte sich jemand verhalten können, der
ein schwer lösbares Problem mit sich herumträgt.“
Rodin zögerte, und dann schaute er dem Mädchen direkt in
die Augen. „Betrachten Sie es bitte nicht als Neugierde, aber
ich muß das wissen. Hatte Schmidt Sie gern?“
„Wahrscheinlich ja. Er hatte nämlich alle Frauen gern. . .
Das heißt, alle Frauen in bestimmten Grenzen, altersmäßig
und auch in anderer Hinsicht.“
„Was meinen Sie, könnte sich Schmidt wegen irgendeiner
Frau gequält haben? Vielleicht Ihretwegen?“
Irina Dario lächelte schwach. „Aha, ich verstehe! Schmidt
entbrannte in Liebe, er legte Fräulein Dario sein Herz zu
Füßen, aber sie erhörte ihn nicht, und er nahm sich aus Ver-
zweiflung das Leben. Nein, nein, Major, diese Möglichkeit
kommt überhaupt nicht in Frage. Die können Sie in Ihren
Kalkulationen ruhig streichen.“
„Das würde ich nicht so kategorisch behaupten. Er wäre be-
stimmt nicht der erste und auch nicht der letzte . . .“
„Im allgemeinen mögen Sie recht haben, Männer sind manch-
mal wie Kinder, denen ein ersehntes Spielzeug verweigert
wird. Sie trotzen und rennen mit dem Kopf gegen die Wand.
Aber Michael war kein trotziges Kind, und ich bin kein
Spielzeug.“
„Kein ersehntes oder kein verweigertes?“
„Was nicht ersehnt wird, braucht nicht verweigert zu wer-
den.“ Die Funktechnikerin zuckte ausweichend mit den Schul-
tern.

71
„Ich bitte um Verzeihung“, der Major wurde verlegen, „aber
midi würde noch etwas interessieren, um Klarheit zu schaffen.
Unterhalten Sie hier zu jemandem nähere Beziehungen?“
„Sie haben wahrscheinlich von Boris gehört. Ja, Melchiad und
ich, wir kennen uns schon von der Erde her.“
Doktor Holberg warf Rodin einen entschuldigenden Blick zu
und beugte sich ein wenig nach vorn. „Seien Sie nicht böse,
wenn wir Sie mit so plumpen Fragen belästigen. Aber der
Major muß die Hintergründe dieser Tragödie aufhellen.
Dieser Fall läßt sich nicht mit den üblichen Methoden lösen,
zum Beispiel mit Hilfe eines Abschiedsbriefes. Das Ganze ist
eine psychologische Angelegenheit, und deshalb müssen wir
auch verschlungene Wege benutzen. Das bedeutet, nicht nur
das Seelenleben von Michael Schmidt zu analysieren, sondern
auch seine Beziehungen zu den anderen zu untersuchen. Dem
Major ist es sicher peinlich, nach Dingen zu fragen, die
scheinbar nur Sie und eine zweite Person betreffen. Aber es
ist im Interesse der Sache.“
„Was sollte daran peinlich sein, Doktor? Das ist doch ganz
natürlich. Von meinen Beziehungen zu Boris weiß schließlich
jeder. Wir kennen uns schon längere Zeit, und wir verstehen
uns vorzüglich. Wir hatten die Absicht zu heiraten.“
„Sie hatten?“ Der Major zog unmerklich die Brauen ‚hoch.
„Jetzt nicht mehr?“
„Natürlich haben wir sie noch. Ich wollte sagen, daß wir
schon einen Termin vereinbart hatten, aber dann kam diese
Expedition dazwischen. Daraufhin einigten wir uns, bis nach
der Rückkehr zu warten. Das Meer des Regens ist nicht das
richtige Gestade für eine Hochzeitsreise.“
Der Major nahm Schmidts Album und wog es in den Hän-
den. „Wir haben Schmidts Nachlaß durchgesehen. Kennen
Sie dies?“
„Nein.“
„Schauen Sie sich das ruhig an.“
Irina Dario Öffnete das Album, blätterte darin und betrach-

72
tete die Bilder. Dann richtete sie einen langen Blick auf
Rodin. Schließlich beugte sie sich wieder über das Album, das
nicht recht in diese Umgebung paßte. Sie wendete jedes Blatt
um, verweilte etwas länger beim letzten Bild und schlug
dann die folgende, leere Seite auf.
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte sie endlich, und es lag
nichts Dramatisches in diesen Worten. „Wahrscheinlich war
ich doch nur ein Spielzeug. Ja, so ist es. Auf diese Seite würde
meine Fotografie gehören. Vielleicht glauben Sie mir jetzt,
daß sich Schmidt nicht aus unglücklicher Liebe umgebracht
hat.“
Die Tür war schon längst hinter der Funktechnikerin ins
Schloß gefallen, aber im Zimmer herrschte immer noch Stille.
Sie wurde erst von Doktor Holberg unterbrochen. „Sie wun—
dern sich?“
„Ein bißchen.“
„Aber zu Unrecht. Liebe und Sex liegen auf verschiedenen
Ebenen. Das sagte schon Havelick Ellis. Meistens sind diese
Ebenen identisch, oder sie nähern sich einander, aber nicht
immer und unter allen Umständen. Natürlich kann das ein
eitler Partner manchmal nicht begreifen. Und deshalb läßt
es sich nicht gut vorhersagen, wie er auf eine Enttäuschung
reagieren wird.“
Rodin klappte das Album zu. „Das ewige Dreieck. Ja, aber
es scheint, daß Schmidt die Theorie des Vielecks vertrat. In
der Zeit des Rokoko wäre er sicher ein berühmter galanter
Eroberer geworden. De facto ist er es auch gewesen, bis auf
die Berühmtheit.“
„Er wurde ein bißchen zu spät geboren.“ Der Doktor schüt-
telte bedauernd den mit schütterem Haarwuchs bedeckten
Kopf. „Heute ist es mit solchem Ruhm vorbei, aber das Drei-
eck ist geblieben.“
„Und wurde sogar auf den Mond übertragen.“
„In der Tat. Der Aufenthalt hier oben ändert nicht die Physis
des Menschen, warum sollte er seine Psyche verändern? Auch

73
in der Regenbogenbucht bleiben die Menschen Menschen.
Aber es geht um etwas anderes, Major.“
„Um Fräulein Dario.“
„Nicht nur um sie. Um das Dreieck, um dieses klassische
Dreieck: Er, Sie und noch ein Er. Den Mann A verbinden
mit der Frau B Gefühle dauerhafter Zuneigung und Liebe,
aber da betritt der Mann C die Szene und gewinnt die Frau
vorübergehend. Nehmen wir an, daß durch ihre Beziehungen
keine tieferen Sympathien entstehen. Käme es nun zum Kon-
flikt, wer von ihnen könnte dann wohl einen Mord begehen?
Der Mann C bestimmt nicht, denn damit würde er nichts
gewinnen. Bleibt also das durch Liebe verbundene Paar. Wer
von den beiden käme eher in Frage?“ Der Doktor beobach-
tete den Major aufmerksam.
„In welchem Jahrhundert?“ fragte Rodin nach einer Weile.
„Ahal“ Holberg konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.
„Sie haben es also schon bedacht. Sie haben recht. Noch vor
hundert Jahren hätten wir angenommen, daß -— sofern es
überhaupt dazu gekommen wäre — der Mann A zu einer ge-
waltsamen Lösung des Streitfalles gegriffen hätte. Er hätte
seinen Rivalen umgebracht, ohne das besonders zu verheim—
lichen. Einige Jahrhunderte früher hätte er wahrscheinlich
sogar beide aus der Welt geschafft. Andere Zeiten, andere
Sitten. Aber heute? Was würde der Mann A wohl heute tun?
Entweder er söhnt sich mit der Frau aus, oder er trennt sich
von ihr. Aber nehmen wir an, es käme dennoch zu einem
Mord. Meinen Sie nicht, daß dann eher die Frau der Täter
sein könnte?“
„Daran habe ich schon gedacht. Solche Fälle hat es gegeben.
Täter, die in der Erregung einen Menschen ermordeten, der
Zeuge einer Handlung geworden war, die geheim bleiben
sollte; Menschen, die zum Mörder wurden, damit bestimmte
Dinge, die sie lächerlich machen oder erniedrigen konnten,
nicht an den Tag kamen.“
„Die Frau hätte also ein Motiv für den Mord: die Furcht vor

74
der Preisgabe ihres Geheimnisses, die Furcht vor Erpressung
zu weiteren Vertraulichkeiten, die Furcht, dadurch die Liebe
des Mannes A zu verlieren. Eventuell auch Haß gegen den
Mann C, der vielleicht eine Schwäche von ihr ausgenützt hat.
Dazu ließen sich noch ein Dutzend anderer Beweggründe
finden. Drücke ich mich deutlich genug aus?“
„Wie immer.“
Holberg schaute den Major mißtrauisch an, kapitulierte dann
aber vor Rodins unschuldig blickenden grauen Augen. „Set—
zen wir nun in das Dreieck konkrete Personen ein. Die Frau
B ist natürlich Irina Dario, der Mann A ist Melchiad, und
der Mann C ist Schmidt. Klar? Fräulein Dario hat für die
kritische Zeit kein Alibi l“
„Vorläufig nicht.“ Der Major erhob sich und legte das Album
auf ein winziges, scheinbar gebrechliches Gestell, das ganze
Stöße von Büchern trug.
„Wieso vorläufig? Irina Dario sagt, daß sie Zur Zeit des
Mordes Verbindung mit der Erde gehabt und den Bericht
durchgegeben habe. Ich bin kein Techniker, aber soviel weiß
ich, daß jede längere Meldung mit Hilfe eines besonderen
Gerätes entweder in einen Papierstreifen gelocht oder auf
ein Tonband aufgezeichnet wird. Dann steckt man den An-
fang des Bandes in den Abnehmer des Fernschreibers und
drückt auf den Knopf. Alles andere besorgt die Maschine.
Der Bericht lief also, und dennoch konnte sich die Funkerin
woanders aufhalten. Sie konnte sich zum Beispiel“, der Dok-
tor klopfte dreimal betont auf die Sessellehne, „in der Nähe
dieses verflixten Radioteleskops herumtreiben l“
„Warum verflixten?“ Rodin ließ sich auf der Tischkante
nieder. „Seien Sie nicht ungerecht gegen diesen löchrigen
Trichterl Das ist ein Stück menschlichen Wunderwerkes im
All, ein Lobgesang auf die Technik, die den Mond erobert
hat.“
„Na, schön. Sie konnte sich also in der Nähe dieses Wunder-
werkes herumtreiben. Was meinen Sie?“

75
„Vorläufig nichts. Und was ich meinen werde, das hängt von
ihrem Alibi ab.“
„Sie wollen es überprüfen?“
„Vielleicht sollten wir es wenigstens versuchen. Kann man
von hier aus mit der Erde sprechen?“
„Gewiß. Aus der Sprechzelle. Wählen Sie dreimal die Eins.“
„Können Sie mir auch sagen, ob dieses Gespräch jemand mit-
hören kann?“
„Da verlangen Sie zuviel von mir. Aber ich vermute, das ist
nicht ausgeschlossen. Die Verbindung geht über sehr kurze
Wellen. Der Funkstrahl ist zwar zu einem schmalen Kegel
konzentriert, aber auf der Erde könnte trotzdem . . .“
„Ich meinte hier, in der Regenbogenbucht.“
„Schwerlich. Wer sollte hier wohl Zeit haben, die Gespräche
mit der Erde abzuhören.“
In der Sprechzelle griff der Major mechanisch in die Tasche.
„Ich hatte wieder vergessen . . .“ Er verzog bedauernd das
Gesicht. „Bei Ferngesprächen rauche ich sonst meistens.“
„Hier sprechen Sie nicht nur fern, sondern sogar interplane-
tar. Sie werden sehen, daß . . .“ Holberg stutzte plötzlich.
„Da fällt mir gerade etwas ein.“
„Wegen des Telefonierens?“
„Nicht direkt.“ Der Doktor bemühte sich angestrengt, einen
Faden ab2uspulen, dessen Ende er erfaßt hatte. „Das Rau-
chen — eine Gewohnheit, das heißt eine Unsitte. Das Telefon,
Ferngespräche, die Erde . . . Der Mond. Verstehen Sie, was
eine Gewohnheit ist?“
„Darüber habe ich niemals nachgedacht.“
„Nichts anderes als eine Disposition, die man durch häufige
Wiederholung der gleichen Tätigkeit in derselben Umgebung
annimmt. Und was ist eine Disposition? In der Psychologie
ist das die Beziehung eines Organismus zu irgendeiner Auf-
gabe oder einer Handlung. Und eine solche Disposition ist
die Trägerin des psychischen Geschehens. Verstehen Sie?“
„Vorläufig überhaupt nichts.“

76
Holberg betrachtete den Major kummervoll. „Nun, gut. Fak-
tum ist, daß die Gewohnheit respektive die Ausübung der
Gewohnheit von der Umgebung abhängig ist. Wenn Sie je-
manden unter Bedingungen kennenlernen, wo weder ein
Stuhl noch etwas Ähnliches vorhanden ist, dann können Sie
nicht beurteilen, ob der Betreffende die Gewohnheit hat,
beim Sitzen die Beine übereinanderzuschlagen. Verstehen Sie
jetzt?“
„Jetzt ja.“
„Ausgezeichnet. Und nun passen Sie auf! Hier gibt es eine
völlig andere Umgebung als auf der Erde. Deshalb bleiben
eine ganze Menge Gewohnheiten und Fähigkeiten verborgen.
Das ist schade, weil uns diese Fähigkeiten, Geschicklichkeiten
beziehungsweise Gewohnheiten manchen Hinweis geben
könnten. Um das zu wissen, braucht man noch nicht einmal
Kriminalist zu sein.“
„Oder Psychologe.“ Der Major wurde aufmerksam. Seine
Hand lag auf dem Telefon, aber er nahm den Hörer nicht ab.
„Nun, und konkret?“
„Mir fiel ein . . . Sie wollten doch gerade mit der Erde spre-
chen, wegen Fräulein Dario.“
„Richtig.“
„Sie wollen überprüfen, wie das am Sonnabend mit ihrer
Verbindung war. Gut. Wie wäre es, wenn Sie sich außerdem
noch erkundigten, ob Fräulein Dario einen Sport betreibt,
vielleicht Turmspringen? Ich meine als Leistungssport.“
„Läßt Ihnen der Sprung vom Felshang keine Ruhe?“
„Ich habe ja schließlich am eigenen Leib verspürt, daß es ein
ausgesprochen unangenehmes Gefühl ist, in finstere Tiefen zu
springen. Übrigens, schauen Sie sich mal meinen Knöchel
an!“
„Ich glaube, das ist keine schlechte Idee“, stimmte der Major
zu. Er nahm den Hörer auf und wählte dreimal die Eins.
„Hier ist die Regenbogenbucht. Den Institutsdirektor, bitte. —
Hier spricht Rodin“, meldete er sich nach einer Weile wieder.

77
„Ich brauche eine kleine vertrauliche Information.“ Dann
wandte er sich enttäuscht an den Doktor: „Er antwortet
nicht. - Hallo! Ja, ich bin . . . Wie bitte? Ich rede dazwischen?
-— Jetzt ist es wieder still. — Bitte? Ich habe nicht verstanden.“
Doktor Holberg legte den Handteller auf das Mikrophon.
„So würden "Sie sich nie verständigen. Wenn Sie eine Frage
gestellt haben, müssen Sie eine Weile warten. Sie sprechen
vom Mond. Die Funksignale benötigen für den Weg zur
Erde eine und eine viertel Sekunde, die Antwort kann
frühestens nach drei Sekunden eintreffen.“
Der Major lächelte verlegen. Dabei bekamen seine Züge
etwas sympathisch Jungenhaftes. „Entschuldigen Sie bitte, ich
weiß schon Bescheid. Ich möchte mich nach einigen Kleinig-
keiten erkundigen. Als erstes möchte ich gern wissen, ob
Fräulein Dario einen Sport betreibt. Kunstspringen, Alpi-
nistik, Fallschirmspringen . . . Ja, ich warte. — Aha. — Wirk-
lich? — Ich verstehe... Und nun eine andere Sache. Ich
möchte gern mit dem Kollegen sprechen, der damals Irina
Darios Meldung entgegennahm.. . Ja, ich bin Ihnen sehr
verbunden. Ich warte.“
Rodin bedeckte die Sprechmuschel mit dem Handteller und
wandte sich an Holberg. „Sie hatten eine gute Nase, Doktor,
aber es ist etwas anderes dabei herausgekommen. Fräulein
Dario betreibt Kunstturnen. Das interessiert uns nicht beson-
ders. Aber dafür habe ich erfahren, daß eine Fallschirm-
Springer-Ausbildung. . . Ja, ich verstehe. — Klar, aber ich
muß mit diesem Kronick}? dringend sprechen. — Ja, gleich . . .
Schalten Sie mich in das normale Netz ein. — Bis nach Wien?
Gut, verbinden Sie mich mit Wien. Welche Nummer soll ich
dann verlangen? — Sie machen es selbst? Sehr gutl“
„Wer hat eine Fallschirmspringer-Ausbildung?“
„Neumann, Melchiad und MacKent.“
„Das ist interessant l“
„Man könnte meinen, daß . . . Hallol — Ja, Kronicky'fl Ich
warte. — Nein, das heißt ja, ein Ferngespräch, besser gesagt,

78
ein interplanetares Gespräch, unterbrechen Sie uns bitte
nicht. - Nein. Mir ist alles andere als nach Scherzen Zu-
mute . . .
Hallo! Herr Kronickjr? — Guten Tag. Hier ist Major Rodin.
Ich spreche aus der Regenbogenbucht. Man hat mich hierher-
geschickt, um den Fall Schmidt aufzuklären. Der Direktor
hat mich an Sie verwiesen. Ich benötige von Ihnen einige An-
gaben über die Funkverbindung am Sonnabendvormittag.
Waren Sie am Apparat? — Gut. Fräulein Dario sagt, die
Übertragung sei normal verlaufen. — Ja? Das höre ich gern.
Wieso wissen Sie, daß der Funkspruch vollständig war? Und
wodurch konnten Sie feststellen, daß auf der anderen Seite
des Drahtes, nein, nicht des Drahtes, daß dort tatsächlich
Fräulein Dario war? — Haben Sie keine Angst. Ich verstehe.
Ausschließlich zu meiner Information. — Aha. Das genügt.
Besten Dank, und entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie be-
lästigt habe. Dieser Person in der Zentrale können Sie sagen,
daß . . . Nein, sagen Sie ihr nichts. Vielen Dank nochmals.
Ende.“
Rodin legte auf und drehte sich zu Holberg um. „Lieber
Doktor, ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen. Sie müssen auf
das Schlimmste gefaßt sein! Es steht außer Zweifel, daß die
Dario während der ganzen Sendung persönlich anwesend
war. Zu Beginn, am Ende und auch mittendrin.“
„Wie kann denn das dieser Kronicky'l wissen?“
„Der Funkspruch wird zur Kontrolle zweimal durchgegeben.
Nach der ersten Durchgabe muß das Band umgespult wer-
den, so daß die Geräte etwa eine halbe Minute frei sind.
Nun, und Kronickjr, der die Dario persönlich kennt, hat
diese Zeit benutzt, um ihr einige Komplimente zu machen.
Stellen Sie sich vor, wozu interplanetare Funkverbindungen
so herhalten müssen. Wenn das der Direktor wüßtel Und
sie hat ihm angeblich spöttisch geantwortet.“
Holberg ging aufgeregt hin und her. „Sollte es doch der
Mann A sein? Der eitle Partner?“

79
Der eitle Partner

Rodin beobachtete unruhig Doktor Holberg, der auf seinem


Stuhl hin und her schaukelte. Das können doch die dünnen,
gewissermaßen rachitischen Beinchen nicht aushalten, dachte
er unwillkürlich. Der Stuhl muß doch jeden Augenblick zu-
sammenbrechen! Und doch ertrug er nicht nur des Doktors
Gewicht, sondern auch diese wenig schonende Behandlung,
weil auf dem Mond alles anders ist als auf der Erde. Alles?
Nein, nicht alles. Aber das war gerade das Schlimme. Man
mußte dauernd prüfen, ob in den Berechnungen, die man
anstellte, alle von den irdischen Erfahrungswerten abwei-
chenden Mondbedingungen berücksichtigt worden waren.
Jetzt hörte der Experte für kosmische Medizin auf zu schau-
keln. „Das gefällt mir überhaupt nicht. Ich hatte geglaubt,
der Fall wäre im wesentlichen gelöst, statt dessen können wir
Fräulein Dario faktisch von der Verdächtigenliste streichen.
Oder nicht?“
„Gewiß, wenn es eine solche Liste gäbe. Sie meinen sicher
eine imaginäre Liste.“
„Ja, die Vorstellung eines visuellen Typs. Mir ist, als hätte
ich eine solche Liste direkt vor Augen und müsse jemanden
davon streichen. Glauben Sie nicht, Major...“ Der Arzt
verstummte.
„Ausnahmsweise ja.“
„Glauben Sie nicht, daß es ratsam wäre, eine solche Liste
aufzustellen? Ein Verzeichnis der Verdächtigen? Dürfte ich
das versuchen?“
„Wer sollte Sie daran hindern?“
„So ein Notizbuch, ein Stück Papier könnte immerhin...“
Der Doktor suchte in seinen Taschen. „Sie wissen doch, wie
ich das meine. Wir haben schon eine Menge Material, und es
wird noch mehr werden. Wie leicht könnte in der Fülle der
Fakten ein wichtiges Detail oder ein verborgener Zusammen-
hang untergehen. Verstehen Sie? Deshalb ist es nötig, alles
l

8o
zu Papier zu bringen. Der jeweiligen Situation entsprechend
kann man die Reihenfolge der Verdächtigen auch ändern.
Wir schreiben Zuerst die Namen aller acht Leute aus dem
Stütunkt auf. Und dann streichen wir nacheinander die-
jenigen, die den Verdacht entkräften konnten.“
„Ich verstehe. Wenn wir sieben gestrichen haben, bleibt der
Täter übrig, und wir können Zur Verhaftung schreiten. So
stellen Sie sich das vor, ja?“ g
Doktor Holberg betrachtete den Kriminalisten einige Sekun-
den lang schweigend. „So ungefähr“, sagte er schließlich und
senkte die Augen auf das Notizbuch, dessen abgegriflener
Umschlag darauf schließen ließ, daß es den Arzt schon auf
vielen Exkursionen Zur Ergründung der menschlichen Psyche
begleitet hatte. „Als erste würde ich der Ordnung halber die
Dario aufschreiben und gleich streichen.“ Er tat, was er
angekündigt hatte. „Und nun die ganze Reihe der Verdäch-
tigen.“ Plötzlich hob Holberg wieder den Blick und sah den
Major mißtrauisch an. „Mache ich einen sehr komischen Ein-
druck auf Sie?“
„Aber ganz und gar nicht!“
„Halten Sie mich vielleicht für einen Watson?“
„Ich bitte Sie, Doktor! Da müßte ich mich ja für einen Hol-
mes halten. Nein, ganz bestimmt nicht. Aber ich glaube, daß
wir uns gegenseitig ausgezeichnet ergänzen. Sie reden zwar
genug, aber man kann Ihnen gut zuhören. Ab und zu versteht
Sie sogar ein Mensch, der kein habilitierter Psychologe ist. Es
ist jedoch völlig richtig, daß Sie auf den Gleisen Ihrer Wis-
senschaft voranzukommen versuchen. Vor uns liegt eine totale
Finsternis, die man mit solchen Banalitäten wie einem Fin-
gerabdruck oder einer Blutanalyse nicht aufhellen kann.
Warum sollten wir es nicht mit einer Liste der Verdächtigen
probieren? An erster Stelle steht oder besser stand Fräulein
Dario. Damit bin ich einverstanden. Und weiter?“
„Der nächste wäre verständlicherweise der Mann A aus un-
serem Dreieck. Boris Melchiad“, buchstabierte der Arzt leise

6 Vesely, Verbrechen 81
mit, als er den Namen in sorgfältiger Schönschrift aufschrieb.
„Der Grund ist klar: Sinnesverwirrung im Zustand der
Eifersucht. Nehmen wir an, daß er von den vertraulichen
Beziehungen zwischen Schmidt und Irina Dario erfuhr. Er
könnte gesehen haben, daß sie den Funktechniker in seinem
Zimmer besuchte oder umgekehrt. Kurz, es gibt eine Vielzahl
solcher Möglichkeiten. Das verletzte ihn in seinem Stolz und
seiner Eitelkeit, er wurde von Eifersucht geplagt. Mit an-
deren Worten, er hatte Angst, etwas zu verlieren, was für
ihn nicht sicher war, und in dieser Befürchtung spielten ver—
geblich unterdrückte sexuelle Komplexe mit. Darüber hat
schon der alte Max Markus geschrieben, und seit dieser
Zeit. . . Möchten Sie dazu vielleicht Einzelheiten hören,
Major?“
„Vielleicht ein andermal.“
„Wie Sie wünschen. Also . . . Was wollte ich eigentlich sagen?
Ach ia, Eifersucht. Und dazu noch die Furcht vor Lächerlich-
keit und Prestigeverlust. Wissen Sie, man darf die Selbst-
achtung als Impuls, auch als Antrieb zu einer Straftat nicht
unterschätzen. Kurz und gut, einige Tage lang konnte Mel-
chiad diese Anwandlungen unterdrücken, aber dann drängte
das ganze Konglomerat von inneren Impulsen auf eine Lö-
sung. Er verlor das Urteilsvermögen und entschloß sich,
Schmidt zu beseitigen. Bedauernswertl“ Der Doktor schüt—
telte den Kopf. „Wenn derlei im Mittelalter passierte. . .
Aber hier mordete ein Mensch unserer Generation!“
Es klang jedoch ziemlich defensiv, als er Rodin fragte: „Oder
nicht?“
„Nehmen wir an, Sie haben recht. Dann lautet die Frage
aber: Wie mordete er?“
„Wie? Hm.“ Holberg trommelte mit dem Notizbuch auf den
Knöcheln seiner Hand herum. „Gerade das ist die Schwierig-
keit. Als Mensch, der bisher mit der praktischen Krimina-
listik wenig in Berührung gekommen ist, gerate ich hier in
Verlegenheit. Wenn Sie gestatten, möchte ich zuerst von den

82
Erkenntnissen ausgehen, die wir bisher zusammengetragen
habenf‘
„Selbstverständlich, tun Sie das!“
„Nun, wir wissen, daß Melchiad um zehn Uhr fünfzig im
Gang vor dem Arbeitszimmer des Kommandanten war.
Kurz nach der Auslösung des Alarms, das heißt neun Minu—
ten später, tauchte er dort wieder auf. In beiden Fällen ohne
Skaphander. Das bedeutet, daß das persönliche Alibi des
Ingenieurs unerschütterlich ist. Er konnte nicht gleichzeitig im
Stütunkt und beim Radioteleskop sein. Das heißt physisch
anwesend.“ Der Doktor beobachtete Rodin gespannt. „Nicht
wahr?“
„Ja, physisch. Also ist eine andere Variante nicht ausge-
schlossen.“
Enttäuscht verzog der Arzt das Gesicht. „Das hätte ich mir
denken können, daß Ihnen das nicht entgangen ist. Mir ist
dieser Zusammenhang erst im Bett deutlich geworden, als
ich, anstatt zu schlafen, die Situation noch einmal analysierte.
Aber es ist phantastisch! Unglaublich! So etwas kann nur in
der vierten Dimension existieren. Unvorstellbar l“
Ja, unvorstellbar! Und doch konnte sich Rodin das alles ganz
klar vorstellen: Schmidt arbeitet am Fuße des Radiotele-
skops. Auf das unebene Terrain fällt der Schatten des Netzes,
das von einer riesigen Konstruktion gespannt wird. Im asch-
fahlen Licht wirken die dunklen Konturen der Drähte und
Traversen, der Stützen und Bogen wie ein unheimliches
Spinngewebe. Und plötzlich taucht auch die Spinne selbst auf,
ein gigantisches, unförmiges Geschöpf, das aus dem Reich der
Riesen entsprungen zu sein scheint. Schmidt bemerkt den
Schatten, aber er dreht kaum den Kopf zur Seite. Dieser An-
blick kann ihn nicht erregen. Wie oft hat er die künstlichen
Hände schon bei der Arbeit beobachtet! Aber die marschie-
rende Kiste voller Dioden, Trioden, Widerstände, Verbin-
dungen und Relais bleibt hinter seinem Rücken stehen und
bewegt sich nicht mehr. Warum? Sollte sie plötzlich defekt

85
geworden sein? Dann flammt am Oberteil des Automaten
vielleicht ein Scheinwerfer auf. Schmidt dreht sich ganz um
und erstarrt. In seiner Bestürzung vergißt er sogar, das Funk-
gerät einzuschalten. Eine der künstlichen Hände hebt sich
langsam wie das Beil eines Henkers und zielt. Ein Schuß
geht los, gleich darauf noch ein zweiter, obwohl schon über-
flüssig.
Der nervös gewordene Mörder hatte in der Ferne noch ein—
mal den Abzug der Pistole durchgedrückt. Der Automat
denkt nicht, er überlegt nicht. Er selbst tut niemandem etwas
zuleide, er mordet nicht. Eine Maschine ist nicht habsüchtig,
sie giert weder nach Macht noch nach Ruhm. Sie gehorcht
nur blind, guten wie schlechten Menschen. Deshalb gehorchte
sie auch dem Mörder.
„Wissen Sie, Doktor“, sagte Rodin schließlich mit müder
Stimme, „ich verstehe schon, daß Ihnen das unvorstellbar zu
sein scheint. Ich selbst hatte auch mit einer einfacheren Lö-
sung gerechnet, mit einer weniger raffinierten. Ein Mord mit
Hilfe der künstlichen Hände, das ist doch ziemlich starker
Tabak.“
„Gewiß, aber ist es so ausgeschlossen? Keineswegsl Die
künstlichen Hände können Zwirn einfädeln, eine Mücke se-
zieren und nach Milligramm abwiegen. Warum sollte also
derjenige, der sie fernsteuert, mit ihrer Hilfe nicht auch eine
lebende Zielscheibe relativ genau treffen? Und weiter: Wer
ist für die Pflege der Hände verantwortlich? Der Mann A
aus unserem Dreieck! Ein Fachmann, der Betriebsingenieur
des Stützpunktes. Ein Mensch, der diesen Automaten täglich
bedient. Damit nicht genug“, Holberg legte eine dramatische
Pause ein, „Boris Melchiad war bei Beginn des Alarms, zu
der Zeit, als die Leuchtkugel hochstieg, allein. Niemand
kann nachweisen, was er tat, aber auch nicht bezeugen, daß er
etwas nicht getan habe.“ Der Arzt dämpfte seine Stimme fast
bis zum Flüsterton. „Wir können darüber nur Mutmaßungen
anstellen. Aber könnte es nicht so sein?“

84
„Warum nicht? Allerdings, es gibt da verschiedene eigen-
artige Umstände.“
„Der ganze Fall ist an und für sich mehr als eigenartig.“
„Ich meine Fakten, die irgendwie aus der Reihe tanzen, die
sich einer logischen Erklärung entziehen.“
„Und die wären?“
„Versuchen wir doch einmal die Tat Zu rekonstruieren, Dok-
torl Die künstlichen Hände näherten sich Schmidt und war-
teten dann, bis er ihnen seine Vorderseite zukehrte. Das war
unerläßlich, denn eine Wunde zwischen den Schulterblättern
sieht nicht nach Selbstmord aus. Als sich der Funktechniker
umdrehte, drückten die Hände zweimal ab. Schließlich hoben
sie die Pistole noch in die Höhe und feuerten den Alarm-
schuß ab. So ungefähr stellen wir uns das doch vor, nicht
wahr?“
„Genau so.“
„Dann bleibt aber unklar, w02u überhaupt der Alarm diente?
Warum wurde die Leuchtkugel zum Himmel geschossen?
Das komplizierte doch den ganzen Fall ungeheuer und ver-
wirrte Dinge, die sonst wahrscheinlich eindeutig auf der
Hand gelegen hätten. Jeder fragte sich begreiflicherweise,
warum Schmidt zuerst um Hilfe rief und sich dann erschoß.
Wenn der Mörder diesen Widerspruch zuließ, was wollte er
dann damit erreichen?“
„Ein Alibi.“
„Deswegen brauchte er doch keinen Alarmschuß abzugeben.
Schmidts Tod wäre in wenigen Minuten ohnehin entdeckt
worden. Fräulein Dario sagte doch, daß sich jeder, der sich
außerhalb des Stütunktes aufhält, immer zur vollen Stunde
dienstlich melden muß. Schmidt hätte sich um elf Uhr nicht
gemeldet, man hätte ihn zuerst gerufen und wäre ihn dann
suchen gegangen.“
„Das stimmt.“ Holberg fuchtelte wieder mit dem Notizbuch
herum. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Und doch ein
Alibi! Wenn Schmidts Tod erst durch den Kontrollruf ent-

85
deckt worden wäre, hätte der Mörder ein Alibi für die ge-
samte Zeit zwischen zehn und elf Uhr haben müssen. So ge-
nügte ihm ein kurzer Zeitabschnitt unmittelbar vor elf Uhr.
Daraus folgt: Der Mörder ist jemand, dessen Bewegungen
sehr schwierig zu kontrollieren sind, der aber für die kritische
Zeit um zehn Uhr neunundfünfzig ein anscheinend sehr zu-
verlässiges Alibi besitzt. Und da wären wir wieder bei Mel-
chiadl“
„Da könnte etwas dran sein“, gab Rodin nach kurzem Über-
legen zu.
„Also gehört Melchiad auf der Liste der Verdächtigen an die
zweite Stelle.“
„Gut. Und auf den dritten Platz?“
„Natürlich Lange.“ Der Doktor notierte: Felix Lange. Er
schrieb das zwar nicht mehr so formvollendet, aber doch noch
ziemlich deutlich. „Der Astronom. Möchten Sie wissen, war-
um ich ihm den dritten Platz zuweise?“
„Danach wollte ich gerade fragen.“
„Er ist ein Mensch, der unter bestimmten Bedingungen
Selbstmord verüben könnte. Glazow sagte das zwar mit
Vorbehalt, aber immerhin räumte er eine solche Möglichkeit
ein. Und es ist doch allgemein bekannt, daß eine bestimmte
Art von Selbstmördern auch einen Mord begehen könnte.“
„Allerdings, es ist seit alters bis in die jüngste Zeit hinein
vorgekommen, daß ein Selbstmörder noch jemanden mit in
den Tod nahm. Aber dabei handelt es sich überwiegend um
Selbstmorde, die im Zusammenhang mit einer schweren kör-
perlichen oder geistigen Krankheit standen. Eine solche Mög-
lichkeit kommt hier nicht in Frage.“
„Richtig. Aber Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß
Ihnen kein anderer Zusammenhang einfiele.“
„Zwischen der Neigung zum Mord und zum Selbstmord? Ein
solcher Zusammenhang existiertganz bestimmt. Es gibt Men-
schen, die imstande sind, sich das Leben zu nehmen, weil ihre
Selbstachtung verletzt‘wurde, oder aus Scham, aus Furcht,

86
daß etwas verraten werden könnte, was sie kompromittieren
würde. Ein solcher Mensch könnte auch zum Mörder werden,
um derartiges zu verhüten und um sich seinen guten Ruf zu
erhalten. Das meinen Sie doch?“
„Genau das. Eine Charakteranalyse zeigt, daß Lange
Schmidt auf dem Gewissen haben könnte. Und was besonders
wichtig ist“, der Arzt hielt sein Notizbuch wie zu einem
Schwur in die Höhe, „Lange ist einer von den dreien, die die
reale Möglichkeit hatten, die Entfernung zwischen dem
Radioteleskop und dem Stütunkt zurückzulegen. Er kam
als letzter zum Treffpunkt, drei Minuten nach der Auslösung
des Alarms. Und wir haben am praktischen Versuch nach-
gewiesen, daß man es in dieser Zeit schaffen kann. Schlimmer
ist es mit dem Motiv.“
„Warum schlimmer?“
„Damit weiß ich mir keinen Rat. Höchstens . . . Glazow be-
hauptet, daß Lange ziemlich verwundbar sei, was die Wissen-
schaft anbetrifft. Nehmen wir also an, Lange und Schmidt
hatten irgendwelche wissenschaftlichen Meinungsverschieden-
heiten. Ich verstehe zwar nicht viel von diesen Dingen, aber
setzen wir einmal voraus, es sei irgendwo eine Supernova von
großer wissenschaftlicher Bedeutung aufgetaucht. Und noch
ehe sie Lange mit dem Teleskop entdeckte, hatte Schmidt ihre
Existenz mit Hilfe seiner löchrigen Trichter festgestellt. Um
sich jedoch die Priorität zu sichern, schickte Lange den Funk-
techniker zu seinen Ahnen. Das ist schwach, ich weiß, aber
niemand kann die Möglichkeit eines solchen Konfliktes völlig
ausschließen. Letztlich ist Eifersucht auf dem Gebiet der
Wissenschaft eben auch Eifersucht, und manchmal ist diese
Art noch schlimmerals irgendeine andere. Ich glaube, daß
dem Astronomen dieser dritte Platz durchaus zukommt. Und
weiter?“ Der Doktor kratzte sich den Kopf, runzelte die
Stirn und preßte die Lippen zusammen. Das Notizbuch in
seiner Hand hatte er vergessen.
„Weiter? Noch eine neue Entdeckung?“

87
„Nein. Nur bleiben noch fünf Leute übrig. Zwei von ihnen,
nämlich Neumann und Juramoto, hatten die Möglichkeit, in
drei Minuten vom Radioteleskop zum Stütunkt zu kom-
men. Vorläufig wissen wir zwar nichts von irgendwelchen
Rechnungen, die sie mit Schmidt zu begleichen gehabt hätten,
aber das ist jetzt nicht entscheidend. Deshalb setze ich sie an
die vierte und fünfte Stelle.“ Holberg öffnete wieder sein
Notizbuch. „Zuerst Juramoto“, fügte er hinzu und trug den
Namen des Selenologen sorgfältig ein.
„Warum nehmen Sie Juramoto zuerst?“
„Erinnern Sie sich an den Rat, den er uns gestern abend
gab?“
„Sie meinen . . .“
„Als er uns riet, es nicht über die Serpentinen, sondern ge-
radeaus zu probieren. Ich frage mich, warum er uns diesen
Rat gegeben hat. Was bezweckte er damit? Wollte er sich
vielleicht von einem Verdacht frei machen, indem er uns in
einer Sache beriet, die wir früher oder später ohnehin durch-
schaut hätten?“
„Wo nehmen Sie das bloß her?“ wunderte sich der Major.
„Was denn?“
„Diese Schwarzseherei. Sie stellen Überlegungen an wie ein
unverbesserlicher Misanthrop. Er kann uns doch auch deshalb
geraten haben, weil er uns helfen wollte.“
„Sehen Sie, Major, darauf bin ich gar nicht gekommen.“
Holberg schüttelte überrascht den Kopf. „Das ist diese De-
tektivpsychose. In jedem erblicke ich einen schwarzen Mann.
Aber ich versichere Ihnen, daß ich unter gewöhnlichen Be-
dingungen normal bin. Das heißt fast normal. In Wirklich-
keit ist ja jedes Individuum . . .“
„Ich weiß. Sie haben mir schon erzählt, daß es für Menschen
keine Normen gibt. Und auf den fünften Platz der Pilot
Neumann.“
„Ja.“ Doktor Holberg schrieb leserlich: Hugo Neumann. „Er
ist eines von den drei Besatzungsmitgliedern, die eine Aus-

88
bildung als Fallschirmspringer erhalten haben, und einer
von den dreien, die für den Weg vom Radioteleskop zum
Stütunkt drei Minuten Zeit hatten. Damit ist er der ein-
zige, auf den beide der angeführten Voraussetzungen zu—
treffen. Ob ich ihn nicht doch lieber auf den Platz vor Jura-
moto setze? Lassen wir’s gut sein! Bleiben noch die letzten
drei. Hier würde ich Frau Santos den Vorrang geben.“ Und
mit bereits flüchtiger Hand notierte er: Ria Santos.
„Den Vorrang aus Ritterlichkeit oder aus Kollegialität?“
„Sie verlieren wohl niemals den Humor, Major?“
„Manchmal schon, Doktor. So ist nun mal das Leben und
mein Beruf.“
„Ich meine, die Santos als Frau, verstehen Sie. Eine gewisse
Analogie zu unserem früheren Verdacht gegen Irina Dario,
wenn auch wahrscheinlich mit umgekehrten Vorzeichen. Zum
Beispiel Eifersucht, Verbitterung einer Frau, die übersehen
wurde. Zurückgesetzte Frauen können sehr böse werden. Und
dann bliebe noch der Biologe . . .“i
Schon fast unleserlich setzte der Doktor den Namen Christian
MacKent darunter, und mit irgendwelchen Hieroglyphen
fügte er schließlich noch den letzten hinzu. „Pawel Glazow,
der Kommandant“, erläuterte er. „Somit hätten wir alle acht
beisammen.“
„Ja, das hätten wir.“
„Lachen Sie mich aus?“
„Ganz und gar nicht. Sie haben mir eine lehrreiche Viertel-
stunde verschafft. Bei der Abfassung dieser Liste haben wir
Zusammenhänge beachtet, die uns sonst vielleicht entgangen
wären. Und jetzt nehmen wir uns Punkt zwei unserer Auf-
stellung vor. Er scheint am ergiebigsten Zu sein. Kommen Sie,
Doktor!“
Holberg klopfte an die Tür der mechanischen Werkstatt und
ließ dann dem Kriminalisten höflich den Vortritt. Melchiad
saß vor einem großen Bildschirm und einem langen Schalt-
pult, auf dem eine Fülle von Hebeln, Knöpfen und Schaltern

89
angebracht war. Die blinkenden Signallämpchen erinnerten
Rodin an das Lichtermeer einer abendlichen Großstadt.
Der Betriebsingenieur handhabte zwei Griffe und beobach-
tete dabei konzentriert das Bild vor sich. Die künstlichen
Hände schlossen dort mit ihren Metallfingern irgendeine
Öffnung in einer horizontalen Ebene.
„Augenblick“, brummte Melchiad, und erst als er die Opera-
tion beendet hatte, drehte er sich zu den Gästen herum. Er
hat uns erwartet, dachte der Major und ließ seinen Blick vom
Bildschirm auf den Betriebsingenieur und wieder Zurück
wandern.
„Das sind also die künstlichen Hände?“
„Ja.“ Melchiad setzte die Polarisationsbrille ab „Ich habe
gerade den Kernreaktor kontrolliert“, fügte er gleichgültig
hinzu.
„Eine erstaunliche Sache, diese künstlichen Händel Was
würden Sie ohne sie beginnen? Übrigens, wir sind ihnen ge-
stern abend vor dem Stütunkt begegnet.“
„Nehmen Sie doch Platz! Ich mache gleich noch einen Stuhl
frei. Meinen Sie vielleicht oben auf der Hochebene?“
„Sie haben recht, irgendwo da oben. Im ersten Augenblick
war ich erschrocken, aber dann bewunderte ich sie. Der Dok-
tor erzählte mir, sie könnten sogar Zwirn in eine Nadel
fädeln. Aber da hat er wohl übertrieben, nicht wahr?“
„Warum?“ Endlich räumte der Betriebsingenieur einen Stuhl
ab. „Ich habe es zwar noch nicht probiert — ich bin näm-
lich kein Schneider, müssen Sie wissen —, aber möglich ist
es. Das Bild ist dreidimensional; wenn ich also in die Ka-
mera ein Objektiv mit einer langen Brennweite einsetze,
dann kann ich innerhalb einer Stunde eine Uhr auseinander-
nehmen.“
„Auch wieder zusammensetzen?“
„Gewiß. In hundert Jahren.“ Der Techniker lachte und strei-
chelte unwillkürlich eine Birne auf dem Schaltpult, als
streichle er einen treuen, Zuverlässigen Hund. „Aber Sie sind

90
nicht gekommen, um die künstlichen Hände zu bewundern.
Sie kamen wegen . . .“
„. . . wegen Schmidt, ja. Vielleicht können Sie uns etwas
sagen, was mehr Licht auf sein eigenartiges Ende wirft.“
„Ich — schwerlich. Wir hatten nicht viel Gemeinsames, und
wir waren auch in keiner Weise befreundet.“
„Ich weiß. Aber trotzdem haben Sie hier wochenlang mit-
einander gelebt. Wann haben Sie ihn eigentlich das letztemal
gesehen?“
„Am Sonnabendmorgen natürlich. Beim Frühstück. Danach
nicht mehr. Ich hatte mit den Fernsehgeräten zu tun.“
„Ich erinnere mich. Etwas Ähnliches sagte mir schon der
Kommandant. Irgendeine Reparatur.“
„Ein Schaden am Koaxialkabel. So etwas entsteht nicht so
schnell von allein.“
„Wie ist das denn passiert?“
„Das muß eben jemand gemacht haben.“
„Jemand? Ich verstehe nicht.“
„Irgend jemand hat das Koaxialkabel beschädigt. Sie wissen
doch, was das ist?“
„Ja, so eine Röhre mit Draht im Innern.“
Der Ingenieur verzog schmerzhaft das Gesicht. „Ein Koaxial-
kabel besteht aus einem zylindrischen Hohlleiter, auch Man-
tel genannt, und einem eingeschlossenen Mittelleiter. Deshalb
darf man es nicht allzu stark biegen, weil sich sonst der Mit-
telleiter verspreizen, dabei die Isolation durchstoßen und
mit dem Mantel in Kontakt kommen kann. Sehen Sie, und
gerade das ist passiert.“
„Tatsächlich? Wo denn?“
„Im Abteilungsschrank, der seinen Platz im Korridor hat,
ganz in der Nähe des Eingangs. Irgend jemand hat dort das
Kabel verbogen.“
„Meinen Sie absichtlich?“
„Aber nein! WOZu denn auch? Sicher aus Dummheit. Wahr-
scheinlich hat jemand damit gespielt. Manche Leute sind

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nämlich, was technische Dinge anbetrifft, völlige . . . Hm,
lassen wir das. Es ist passiert, es wurde repariert, wozu also
soviel Aufhebens davon machen?“
„Sie hatten bestimmt allerhand Arbeit damit.“ '
„Nun ja, das beschädigte Kabel mußte herausgeschnitten,
durch ein neues Stück ersetzt und wieder verbunden werden.
Dann mußte ich noch die rechte Sektion der Fernsehanlage
überprüfen . . .“
„Die rechte Sektion?“
„Ja. Das ist die Sektion, an die die Kameras beim Treibhaus,
beim Radioteleskop und bei den Hangars angeschlossen
sind.“
„Und wie lange haben Sie dazu gebraucht?“
„Etwa bis um drei Viertel elf. Ich habe gearbeitet wie ein
Besessener, um diese Flickerei möglichst schnell wieder vom
Halse zu haben. Dann ging ich Zum Kommandanten und
meldete ihm, daß wieder alles in Ordnung sei. Als kurz da-
nach das Alarmsignal ertönte, war ich gerade dabei, einige
Ersatzelemente für die Sonnenbatterie vorZubereiten. Ich ließ
alles liegen, lief auf den Gang hinaus, wobei ich fast mit
Glazow zusammengeprallt wäre, und dann rannten wir mit-
einander zum Ausgang. Dort zogen wir schnell die Skaphan-
der über und verließen durch die Druckschleuse den Stütz-
punkt. Das ist alles. Von Schmidt weiß ich nichts.“
„Als Sie das neue Kabel angeschlossen hatten, mußten Sie da
nicht auch das Bild ausprobieren?“
„Natürlich. Und worauf wollen Sie mit dieser Frage hin-
aus?“
„Haben Sie dabei nicht den Funktechniker gesehen?“
„Nein, das war nicht möglich, weil ich mir von jeder Kamera
nur das Monoskop, das Meßbild, senden ließ.“
Der Major erhob sich und trat ans Schaltpult für die Fern-
steuerung.
„Da fällt mir ein: Wenn Sie diese künstlichen Hände hier
haben, warum benützte sie dann Schmidt nicht für die Repa-

92
ratur am Radioteleskop? Und was hatte er dort eigentlich zu
erledigen?“
„Irgendeine Kleinigkeit am Leitungskabel. Und was die
künstlichen Hände betriflt, Schmidt arbeitete nicht gern da-
mit. Sie werden hier übrigens nur von wenigen benötigt. Des-
halb stehen sie oft ungenutzt herum.“
„Auch am Sonnabend?“
„Ja, sie standen vor dem Eingang.“
„Und während des Alarms?“
„Standen sie auch dort.“
Deutlicher Unmut verdüsterte sekundenlang Doktor Hol-
bergs Gesicht. „Wir sind ein bißchen vom Thema abgekom-
men“, sagte er dann nach kurzem Räuspern. „Diese Hände
sind zweifellos interessant, aber zurück zu Schmidt. Haben
Sie eine Ahnung, womit er sich gequält haben könnte? Hat er
sich Ihnen vielleicht anvertraut?“
„Das hätte ich Ihnen schon gesagt.“ Melchiad warf einen be-
dauernden Blick auf den halbzerlegten Ionisationsdetektor.
„Wer weiß, was ihn quälte. Er hat es nicht einmal Irina
erzählt. Ich habe sie danach gefragt, weil er sie doch um-
schwärmte. Wenn überhaupt jemandem, dann hätte er sich
am ehesten ihr anvertraut.“
„Wir hörten schon, daß er sich als Don Juan aufspielte.“
Boris Melchiad verzog verächtlich das Gesicht. „Das stimmt,
das verstand er. Nur, hier biß er auf Granit. Wissen Sie,
Irina gehört nicht zu dieser Sorte Frauen.“
„Dann danken wir Ihnen also vorläufig“, beendete der Major
das Gespräch.
Auf dem Rückweg von der mechanischen Werkstatt klopfte
Rodin beim Kommandanten an. „Nur eine Kleinigkeit: Wir
sind gestern abend den künstlichen Händen begegnet. Und
nun fiel mir ein, daß sie doch mit einer Kamera ausgestattet
sind. Wenn am Sonnabend jemand mit ihnen gearbeitet hat,
dann kann er doch gesehen haben . . .“
„Niemand konnte etwas sehen damit. Die Hände standen

93
nämlich hier vor dem Eingang. Den ganzen Tag. Ich wäre
beinahe darüber gefallen.“
Doktor Holberg folgte dem Major kleinlaut in sein Zimmer.
Trotz der sechsmal geringeren Anziehungskraft fiel er schwer
in den Sessel. Er nahm sein Notizbuch zur Hand und strich
den zweiten Namen durch. Melchiad verschwand unter einer
dicken Wellenlinie.
„Da kann man nichts machen“, brummte er. „Suchen wir also
Trost in der Mathematik. Es bleiben noch sechs Namen
übrig. Das ist zwar ziemlich wenig, aber . . .“
„Eigentlich bleiben nur fünf übrig.“
„Wieso?“
„Melchiad hat doch das Alibi des Kommandanten bestätigt.
Glazow war in der Zeit vor dem Alarm im Stütunkt, dar-
über besteht kein Zweifel.“
„Sie haben recht.“ Holberg malte eine dritte Wellenlinie und
betrachtete nachdenklich die restlichen fünf Namen.

Die Brücke ins All

Der Astronom Lange legte die Tabelle mit den Planckschen


Spektrallinien beiseite und lehnte sich bequem im Sessel zu-
rück.
Wie ein Fünfziger sieht er eigentlich noch gar nicht aus, kon-
statierte Rodin. Der Mann, der ihm gegenübersaß, war zwei-
fellos im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte.
Sein selbstbewußtes Gesicht strahlt Zufriedenheit über die
Erfolge der Vergangenheit und Vertrauen in die Zukunft aus.
Und dennoch: Nach Meinung des Kommandanten wäre ge-
rade Lange im äußersten Falle fähig, sich das Leben zu neh-
men.
„Meine Ansicht über Schmidt?“ Der Astronom überlegte
einen Augenblick. „Er war ein hervorragender Fachmann

94
auf dem Gebiet der Verbindungstechnik. Aber das ist ja
selbstverständlich. Einen Stümper hätte man nicht hierher-
geschickt.“
„Ich verstehe, mir geht es allerdings mehr um seinen Charak-
ter, um einen Einblick in sein Privatleben. Wir suchen etwas,
was Licht in das tragische Ende des Funktechnikers bringen
könnte.“
„Einen Einblick in sein Privatleben? Was soll ich Ihnen da
erzählen? Das ist schwer. Ich kümmere mich nicht um das
Privatleben anderer Menschen, ich habe dazu weder Lust
noch Gelegenheit.“
„Durchaus verständlich, aber es könnte doch sein, daß Sie zu-
fällig auf etwas gestoßen sind. Vielleicht auf eine besondere
Liebhaberci, auf irgendwelche exzentrischen Interessen oder
auf eine unerklärliche Veränderung im Verhalten Schmidts.“
„Ich weiß wirklich nicht. Eine Veränderung in seinem Ver-
halten? Ich würde sagen, daß er in der letzten Zeit ein biß-
chen anders war. Zerstreut und nachdenklich. Aber das
braucht nur ein nachträglicher Eindruck zu sein, der durch
seine eigenartige Tat hervorgerufen wurde.“
„Haben Sie mit ihm direkt zusammengearbeitet?“
„Aber natürlich. Hier arbeitet jeder mit jedem zusammen.
Anders geht es doch gar nicht.“
„Ich meine, ob es vielleicht irgend etwas gegeben hat, was Sie
besonders verband. Gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Be-
kannte . . .“
„Nein, nichts dergleichen. Schmidts Auftrag war mehr tech-
nischer als wissenschaftlicher Art.“
„Ihre Arbeit ist dagegen . . .“, warf Rodin ein.
„. . . rein wissenschaftlicher Natur. Das astronomische Obser-
vatorium nimmt innerhalb des Stütunktes eine Sonderstel-
lung ein. Aber nicht nur hier, sondern in den Mondstationen
überhaupt. Das ist verständlic .“
„Durchaus, als Brücke ins All . . .“
„Richtig, der Mond ist in dieser Beziehung ein Sprungbrett.

95
Mit dem Vorstoß ins Weltall begann das vierte Zeitalter der
Menschheit. Und über den Mond führt der Weg des Intel-
lekts in den Kosmos.“
„Des irdischen Intellekts“, präzisierte Rodin.
„Natürlich des irdischen, ein anderer existiert doch nicht.“
Langes Stimme klang eisig.
„Tatsächlich?“ Der Detektiv rieb sich verlegen das Kinn.
Doktor Holberg rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und
her. „Ich bin kein Astronom, das ist ein Fach, in dem Sie zu
Hause sind, aber ein so kategorischer Standpunkt überrascht
mich doch ein bißchen.“
„Ich wüßte nicht, was daran überraschend sein sollte.“
„Wenn ich Sie richtig verstehe, behaupten Sie, es existierten
im Weltall keine Lebewesen, die auf der gleichen intellektu-
ellen EntwicklungSstufe stehen wie der Mensch.“
Der Astronom verzog das Gesicht zu einem ironischen Lä-
cheln. „Das würde bedeuten, daß ich die Existenz von min-
derbegabten Wesen zuließe. Aber auch das lehne ich ab. Die
Wahrheit ist vielmehr, daß es im Weltall keine intelligenten
Geschöpfe gibt, die sich hinsichtlich des Verstandes, der Ge-
fühle, des sinnvollen Handelns und der Technik mit dem
Menschen vergleichen könnten. Auch nicht mit dem Menschen
der Bronzezeit.“
Doktor Holberg richtete sich angriffslustig auf. „Sie glauben
also, daß wir im ganzen Weltall nirgends und niemals Lebe-
wesen von ähnlichem geistigem Niveau begegnen werden?
Daß wir uns niemals mit solchen Geschöpfen verständigen
werden?“
„Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Der Mensch ist die
einzige Erscheinung seiner Art im ganzen Weltall, sein höch-
stes Produkt und sein endgültiger Herr. Und heute befindet
er sich bereits auf der Schwelle seiner Herrschaft. Er erobert
und besiedelt ferne Welten, und es wird die Zeit kommen, da
er die Planetensysteme von vielen Hunderten der nächsten
Sterne beherrschen wird.“

96
„Eine interessante Theorie“, gab Holberg höflich zu und
schielte verstohlen zu Rodin hinüber, als suche er bei ihm
Unterstützung und Ermutigung zum Gegenangriff, „wirklich
interessant, aber ich glaube, daß sie dem überwiegend aner-
kannten Standpunkt widerspricht.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Flammarions „Über die Vielzahl
bewohnter Welten“ und so weiter. Aber das sind Fabeln,
Märchen, Fiktionen, Spekulationen mit der menschlichen Un-
wissenheit und mit dem Gefühl der Vereinsamung im Welt-
all. Das alles haben die alten und neuen Utopisten, die Phan-
tasten und astronomischen Halbgelehrten auf dem Gewissen.
Im Altertum sagten sie, irgendein riesiger Gott trüge den
Himmel auf seinen Schultern, aber nüchterne Weltreisende
haben keinen solchen Herkules gefunden. Und schon war es
aus mit dem allgemein anerkannten Standpunkt. Oder ein
anderes Beispiel: Die Erde sei angeblich eine Scheibe. Aber
ein Portugiese umsegelte die Erde und bewies damit anschau-
lich, daß sie eine Kugel ist. Und wieder war es mit dem an-
erkannten Standpunkt zu Ende. Oder ist es denn lange her,
daß man glaubte, hier auf dem Mond gäbe es irgendwelche
Wunderwesen? Als die Astronomie Fortschritte machte und
diese Hirngespinste nicht länger verteidigt werden konnten,
verlegte man die prophezeiten Begegnungen mit intelligenten
Geschöpfen auf die nächsten Planeten. Man erfand braune
Menschen mit gelben Augen auf dem Mars und ähnlichen Un-
sinn. Und als auch das nicht mehr zu halten war, verlagerte
man die Prophetie auf Planeten von anderen Fixsternen und
sogar noch über unsere Galaxis hinaus. Das alles sind aber
Sagen und Märchen! Flammarion und die anderen sind ent-
weder Schwindler oder Phantasten. In Wahrheit sind intelli-
gente Geschöpfe im Weltall ebensolche Fabelwesen wie Rie-
sen und Nymphen auf der Erde. Der kosmische Raum ist
und bleibt allein dem Menschen vorbehalten. Uns, den Men-
schen.“
Lange hatte zuletzt anders als am Anfang gesprochen. Seine

7 Vcscly, Verbrechen
97
Stimme klang metallen, und Fanatismus verhärtete seinen
Blick.
Der Detektiv beobachtete unauffällig den Arzt. Auf Hol-
bergs Wangen glühten rote Flecke, ein wissenschaftlicher
Meinungsstreit schien in der Luft zu hängen. Um so besser,
freute sich der Major insgeheim. Je hitziger die Debatte,
desto weniger kontrolliert sich der Mensch, und desto besser
gewinnt man Einblick in sein Fühlen und Denken. Jetzt
müßte man sich eine Zigarette anstecken dürfen, dann könnte
man diesen Meinungsstreit mit Genuß auskosten.
„Das scheint mir doch ein bißchen zu gewagt zu sein“, ließ
sich Holberg gereizt vernehmen. „Eine so extrem formulierte
anthropozentrische Ansicht habe ich noch nicht gehört. Ihrer
Meinung nach ist der Mensch ein Unikum im Weltall. Und
das gesamte Weltall ist nur dazu da, um uns zu dienen. Nir-
gends in dieser vielgestaltigen Natur, in den unermeßlichen
Weiten existiert etwas, was un's das Wasser reichen könnte.
Ist das so?“
Lange hatte sich wieder beruhigt. „Ja, so ist es!“ stimmte er
befriedigt zu.
„Aber Professor!“ Doktor Holberg schien geradezu körper-
lich zu leiden. „Sie wissen doch besser als ich, daß die Milch-
straße schätzungsweise einhundertfünfzig Milliarden Sterne
und wer weiß wieviel Milliarden Planeten umfaßt. Und da
sollte sich nirgends Leben entwickelt haben, das dem auf der
Erde ähnelt oder eine noch höhere Stufe der Organisation
erreicht hat? Das ist unglaubhaft, unsinnig, unwissenschaft-
lichl Etwas so Ungeheuerliches können Sie doch nicht vertei-
digen!“
„Ich bitte Sie!“ Lange lachte selbstbewußt, wie ein Mensch,
der weiß, daß er seinem Gegner überlegen ist. „Wir werden
uns doch nicht wie dumme Jungen streiten. Mit dem gleichen
Recht kann ich es als unglaubhaft betrachten, daß sich irgend-
woanders Leben entwickelt haben soll, ja, daß diese Entwick-
lung zu solch ausgereiften Formen geführt hat, wie auf der

98
Erde, und intelligente Geschöpfe, vernunftbegabte Wesen,
Menschen hervorgebracht hat.“
„Wenn Sie es mathematisch betrachten . . .“
„Gerade die Mathematik gibt mir recht. Gesetzt den Fall,
daß sich auf der Grundlage analoger Bedingungen tatsäch-
lich auf mehreren Planeten Leben Zu hohen Formen entwik-
kelt hätte. Gut, und nun stellen Sie sich vor, daß die Zeit, in
der unsere Erde als Planet existiert, der Dauer Ihres Lebens
entspräche. Was für ein Zeitintervall entspräche dann der
Ära des intelligenten Menschen? Wie würden Sie das ein-
schätzen? Bildlich gesprochen etwa eine Sekunde, ein Augen-
blinzeln. Und nun überlegen Sie einmal, was das für ein Zu-
fall sein müßte, daß zwei Menschen, die beide in ihrem gan-
zen Leben nur einmal blinzeln, dies gleichzeitig täten. Es
wäre also nachgerade ein Zufall, wenn sich gleichzeitig auf
der Erde und auf dem Planeten X Leben entwickelt hätte.
Mathematisch ausgedrückt ist diese Möglichkeit so gering,
daß sie praktisch gleich Null ist. Ist Ihnen das klar?“
Holberg drehte sich verblüfft zu Rodin um.
„Interessant“, sagte der Detektiv. „Das ist also Ihre Theorie,
Ihre Lehre?“
„In den gröbsten Zügen und mit Vorbehalten hinsichtlich
der Argumentationsform. Auf einem wissenschaftlichen Fo-
rum würde ich verständlicherweise anders sprechen. Nur zwei
Komponenten bilden das Weltall: die Materie und ihre
Blüte, der menschliche Intellekt. Der Mensch entstand auf
der Erde, aber es ist keineswegs seine natürliche Sendung,
sich auf dem Heimatplaneten auszuleben. Das Kücken bleibt
auch nicht in der Schale. Der Mensch soll das ganze Weltall
durchdringen. Deshalb können wir nirgends im Weltall einen
intellektuellen Gegenwert haben, sondern nur entsprechende
Bedingungen zu unserer weiteren Entfaltung.“
„Hat Ihre...“, Rodin suchte nach einem passenden Aus-
druck, fand jedoch keinen, „Hypothese viele Anhänger?“
„Wollen Sie sie vielleicht an der Quantität messen, am Bei-

99
fall, an der Zahl der Assistenten, an den Artikeln in den Zei-
tungen? In der Wissenschaft hat nur die Qualität Bedeutung.
Es gab eine Zeit, da glaubten nur sehr wenige Menschen, daß
die Erde eine Kugel ist und um die Sonne kreist.“
„Das ist zweifellos eine Tatsache“, stimmte Rodin vorsichtig
zu, „aber ich habe den Eindruck, daß wir uns ziemlich weit
vom Thema entfernt haben. Ich möchte noch einmal auf den
Tod des Funktechnikers zurückkommen. Es geht uns selbst-
verständlich hauptsächlich um die Zeit unmittelbar vor sei-
nem Tod. Haben Sie an diesem Tag noch mit Schmidt ge-
sprochen?“
„Am Sonnabend? Ich kann mich nicht erinnern. Möglicher-
weise. Nein, ich glaube nicht. Oder nur etwas Alltägliches.
Ja, ich entsinne mich. Wir sprachen über das Sonnenrauschen.
Aber wir haben nur einige Sätze gewechselt.“
„Hing das mit Ihrer oder mit seiner Arbeit zusammen?“
„Mit seiner. Er war für die Verbindung mit der Erde und mit
den anderen Mondstationen verantwortlich, gegebenenfalls
auch mit Raumschiffen und Satelliten. Die Empfangsqualität
schwankt häufig, je nach der Stärke der Sonnenaktivität.
Schmidt hat allerdings auch radioastronomische Beobachtun—
gen angestellt.“
„Ich verstehe. Er schaute nicht, sondern horchte in das Welt-
all hinaus.“
Lange lachte. Nicht mehr sarkastisch, geringschätzig und
selbstbewußt, sondern diesmal natürlich, fast iungenhaft. „So
kann man es auch ausdrücken.“
„Haben Sie in dem Gespräch mit dem Funktechniker viel-
leicht etwas Besonderes bemerkt?“
„Soweit ich mich erinnere, nicht.“
„Können Sie sich nicht entsinnen, wo und wann Sie mit ihm
sprachen?“
„Warten Sie mal, wie war das eigentlich? Beim Frühstück
nicht. Wir trafen uns bei der Luftschleuse.“
„Danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“

IOO
„Nur von weitem. Auf dem Weg zum astronomischen Obser-
vatorium erblickte ich ihn unten vor dem Stütunkt, aber er
verschwand schnell im Dunkeln. Die Nummer auf dem
Skaphander konnte ich natürlich nicht erkennen, ich habe es
auch gar nicht versucht. Aber er muß es gewesen sein, denn in
dieser Richtung hatte kein anderer etwas zu tun.“
„Und dann?“
„Ich arbeitete in der Kuppel des großen Refraktors. Ich stu-
dierte Castor C.“
„Castor C?“
„Das ist einer der verdeckten veränderlichen Sterne. Aber
das interessiert Sie wahrscheinlich nicht. Dann beendete ich
die Beobachtungen und kehrte wieder in den Stützpunkt zu-
rück. Im Fotolabor entwickelte ich die Aufnahmen.“
„Wissen Sie noch, wann das war?“
„Nein, das weiß ich wirklich nicht. Aber fragen Sie Frau
Doktor Santos. Sie war gerade im Labor, vielleicht erinnert
sie sich. Als die Negative fertig waren, ging ich wieder zum
Observatorium. Unterwegs überraschte mich der Alarm.“
„Sahen Sie die Leuchtkugel?“
„Ja, die sah ich, obwohl ich nicht in diese Richtung schaute.
Aber der rote Schein war so intensiv und lang anhaltend, daß
er mir nicht entgehen konnte. Und da ertönte in den Kopf-
hörern auch schon das Alarmsignal.“
„Hinunter ging es sicher schnell. Kamen Sie rechtzeitig?“
„Wie man es nimmt! Ich war der letzte. Glazow und die an-
deren standen schon dort. Schneller schaffte ich es aber nicht.
Der Hang ist steil, der Weg nur improvisiert, und die Zeiten,
da ich das Matterhorn bezwang, liegen schon ein viertel Jahr-
hundert zurück.“
Der Mai or lachte amüsiert. „Dann liefen Sie zu diesem .. . .“
„. . . zum Radioteleskop. Es war allerdings schon zu spät.
Schmidt war nicht mehr zu helfen. Das ist alles.“
Rodin suchte in Schmidts Notizbuch die Seite mit dem ge-
heimnisvollen Verzeichnis der ungeraden Zahlen und zeigte

IOI
sie dem Astronomen. „Das fanden wir im Notizbuch des
Funktechnikers. Wissen Sie zufällig, was das sein könnte? Als
Astronom sind Sie doch besti);nmt in der Mathematik zu
Hause.“
Lange studierte das Verzeichnis aufmerksam. „Lauter unge-
rade Zahlen“, sagte er schließlich. „Und nicht nur das, es sind
Primzahlen. Aber wozu? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Sollte es vielleicht die Aufzeichnung einer verschlüsselten Mit-
teilung sein? Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein.“
Rodin und Holberg verabschiedeten sich.
„Das ist ein Menschentyp“, erboste sich der Arzt im Zimmer
des Detektivs, „der im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen
verbrannt wurde. Oder noch wahrscheinlicher, der andere
verbrennen ließ. Ich hoffe, Sie glauben ihm nicht.“
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Die Stimme des
Majors klang weder ärgerlich noch müde, nur ein bißchen
farblos. „Ich würde sagen, daß Langes Theorie“ zumindest
etwas einseitig ist.“
„Einseitig?“ empörte sich Holberg. „Das ist ein viel zu
schwacher Ausdruck. Idealistisch, falsch ist sie! Und die Ar-
gumentation ist demagogisch. Dieser Vergleichl Ich weiß,
daß er völlig versimpelt war, aber ich kam nicht dahinter, auf
welche Weise. Er hat mich richtig übertölpelt.“
„Meinen Sie die Sache von den beiden, die nur einmal im
Leben blinzeln?“
„Er hat mich einfach aus dem Konzept gebracht. Ich konnte
nicht so schnell reagieren.“
„Und ich wollte nicht reagieren.“ Rodin lachte. „Ich hatte
großeiLust einzuwenden: Wieso denn zwei Menschen? Mil-
liarden Menschen, soviel Menschen wie Planeten. Und wieso
nur der Augenblick des Blinzelns? Vergeht denn das einmal
entstandene Leben so schnell? Nein, es entwickelt sich stän-
dig weiter! Aber ich habe mich beherrscht. Das Öl, das Sie
auf sein Feuer gossen, genügte vollkommen, um ihm so weit
die Zunge zu lösen, daß er sich in aller Ruhe aussprach.“

102
„Ausgesprochen hat er sich, das stimmt. Aber was nützt uns
das?“
„Vorläufig nichts. Jetzt müssen wir zu Frau Santos gehen, um
uns nach den genauen Zeiten zu erkundigen.“
„Zur Ärztinl Das erinnert mich an etwas.“ Holberg bückte
sich und befühlte vorsichtig seinen Knöchel.
„Schmerzt es?“
„Es läßt nicht nach. Das war Leichtsinn von kosmischen Aus-
maßen. Sehen Sie, auch auf dem Mond kann man nicht ohne
weiteres große Sprünge machen.“ Der Doktor erhob sich und
versuchte energisch aufzutreten. Er gab es jedoch gleich wie-
der auf und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Verflixtes Bein!
Kommen Sie, gehen wir zur Santos, damit sie etwas dagegen
tut.“
„Sind Sie denn nicht selber Arzt?“
„Psychologe und Psychiater, Major.“
„Möchten Sie nicht versuchen, den Knöchel mit Methoden aus
ihrem eigenen Fachgebiet zu kurieren. Ich meine mit Auto-
suggestion“, schlug Rodin mit unschuldiger Miene vor.
„Na, hören Sie mal, selbst der Chefarzt einer Zahnklinik
zieht sich eine Wurzel nicht eigenhändig.“
„Na, dann kommen Sie.“
Frau Doktor Santos legte eine Pinzette beiseite. Rodin kon-
statierte, daß sie nicht zu medizinischen, sondern zu kosme-
tischen Zwecken benutzt worden war. Schon früher hatte er
bemerkt, daß die Ärztin trotz ihrer Gelehrsamkeit in erster
Linie Frau war.
„Ich komme als Patient zu Ihnen.“ Holberg machte ein schuld-
bewußtes Gesicht. „Mir ist etwas mit dem Knöchel passiert.
Ich -bin falsch gesprungen. Wer hätte gedacht, daß man sich
hier . . .“
„Ziehen Sie den Schuh aus, und legen Sie das Bein hoch. Ich
werde es röntgen. Die Gelenkhöhle scheint in Ordnung zu
sein. Es sieht ganz nach einer Verstauchung aus, der Fuß ist
ein bißchen geschwollen. Am besten, Sie machen Umschläge

log,
mit essigsaurer Tonerde und legen eine Elastikbinde um den
Knöchel. Und das nächste Mal gehen oder springen Sie vor-
sichtiger.“
Der Doktor bedankte sich beflissen.
„Ich möchte nur gern wissen, wo ihr Mannsleute hier dauernd
herumspringt und was ihr eigentlich treibt. Das ist in dieser
Woche schon der zweite Fall, allmählich fände hier ein Or-
thopäde sein Auskommen. Erst vor wenigen Tagen mußte ich
einen verstauchten Knöchel röntgen.“
„Wirklich?“
Rodin wußte, daß er jetzt, würde er den Kopf ein bißchen
zur Seite drehen, einen bedeutungsvollen Blick des Doktors
auffangen könnte.
„Im Ernst. Ich glaube, es war am Sonnabend. An dem Tag,
an dem wir Schmidt beim Radioteleskop tot auffanden, habe
ich am frühen Nachmittag einen Knöchel geröntgt.“
„Ich sah aber niemanden hinken.“
„Warum sollte Juramoto hinken? Der Doktor wird morgen
auch wieder ganz normal laufen.“
Rodin betrachtete interessiert die Schränke mit den Instru-
menten. „Sie sind ia bestens ausgestattet. Aber weil Sie ge-
rade diesen Unglückstag erwähnten — was hat sich denn am
Sonnabend hier eigentlich zugetragen? Wir befinden uns mit
der Untersuchung nämlich noch immer an einem toten Punkt.
Wir grübeln und überlegen, was Schmidt wohl zu dieser Tat
veranlaßt haben könnte. Irgendeinen Grund hatte er be—
stimmt. Aber was für einen? Es ist möglich, daß das jemand
aufklären könnte, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß er
den Schlüssel zur Lösung in der Hand hat. Haben Sie Schmidt
an diesem Tag gesehen? Haben Sie mit ihm gesprochen?“
„Ja, beim Frühstück. Dann sah ich ihn erst wieder dort oben.
Aber da konnte man nicht mehr mit ihm sprechen.“
„Was mag ihn nur so erschüttert haben? Können Sie uns dar-
über etwas sagen, oder haben Sie vielleicht eine bestimmte
Vermutung? Am besten wäre, wenn Sie uns alles erzählten,

104
was Sie am Sonnabend gesehen und erlebt haben. Vielleicht
gibt uns irgendein unbedeutendes Detail einen Fingerzeig.“
„Ich bezweifle, daß ich Ihnen helfen kann.“ Frau Santos
dachte nach. „Sonnabend war ein Tag wie jeder andere. Das
Frühstück verlief wie üblich bei einer schläfrigen Unterhal-
tung. Dann ging ich in die Ordination und. arbeitete hier
nebenan. Sie können sich das übrigens einmal ansehen.“ Die
Ärztin lud den Kriminalisten in den Nebenraum ein. „Das
ist das Chemielabor und zugleich die Apotheke. Zum Glück
benötigen wir sie nicht oft. Wissen Sie, daß hier noch nie je-
mand Kopfschmerzen hatte?“
„Als Rentner werde ich hierher übersiedeln.“
„Nach spätestens einem Monat würden Sie sich hier langwei-
len und nach einem Jahr wahnsinnig werden. Hier im Labor
habe ich an den Blutbildern der Besatzungsmitglieder gear-
beitet. Das ist nicht nur eine vorbeugende medizinische, son-
dern gleichzeitig eine wissenschaftliche Aufgabe. Den Be-
fund tragen wir in Tabellen, in graphische Darstellungen ein
und vergleichen ihn mit Befunden der anderen Stationen.
Aber das nur nebenbei. Also am Sonnabend: Zuerst war ich
allein, dann hatte Juramoto kurze Zeit hier zu tun, und
schließlich rief der Astronom Lange an. Er wollte wissen, ob
das Fotolabor frei sei. Das ist dieser Raum.“ Frau Santos öff-
nete eine weitere Tür. „Er telefonierte etwa um zehn, eine
Viertelstunde später kam er und hielt sich dann ungefähr eine
halbe Stunde in der Dunkelkammer auf.“
Der Major sah sich aufmerksam im Fotolabor um. „Da be-
kommt man direkt Lust, sich an die Vergrößerungsapparate
zu setzen. Gibt es denn keinen zweiten Eingang? Stört es Sie
nicht bei der Arbeit, wenn alle durch Ihr Labor gehen müs-
sen?“
„Eigentlich kaum. Das Fotolabor wird nur von wenigen be-
nutzt. Ab und zu kommt Lange, manchmal auch Neumann
mit seinen Luftaufnahmen. Dafür ist MacKent hier wie zu
Hause.“

Ios
„Um wieder auf den Sonnabend zurückzukommen, der Astro-
nom hat also genau eine halbe Stunde in der Dunkelkammer
zugebracht?“
„Ja. Den Augenblick ausgenommen, als ich ihm Kaliumbro-
mid verabreichte.“
„Sie sagten, daß er nach einer halben Stunde wieder weg-
ging.“
„Kurz vor elf. Nur wenig später ertönte das Alarmsignal.“
„Wenig später? Waren es fünf Minuten, zehn Minuten oder
nur eine Minute?“
„Acht bis zehn Minuten. Wer hätte denn gedacht, daß es
Schmidts letzte Minuten sein würden! Es ist unglaublich!“
„Es ist nun mal geschehen. Deshalb sind wir ja hergekom-
men, der Doktor und ich. Was haben Sie anschließend ge-
macht?“
„Ich ging knapp eine Minute nach Lange hinaus. Als er sich
verabschiedete, zog ich mir gerade den Skaphander an. Auf
dem Korridor begegnete ich Glazow und Melchiad. Ich wollte
zum Treibhaus gehen. MacKent hatte mich gebeten, ihm
einige Präparate für mikroskopische Untersuchungen vorzu-
bereiten. Wir arbeiten nämlich gemeinsam an einigen Ver-
suchen.“
Die vorsichtige Art, in der sie das sagte, erweckte den Ein-
druck, als sei die Ärztin auf der Hut. Aber warum? Wollte
sie vermeiden, daß ihr etwas entschlüpfte? Und was konnte
das sein?
„Dann leuchtete die rote Signalkugel auf. Da war ich schon
fast beim Treibhaus. Ich kehrte um und lief zurück.“
„Haben Sie unterwegs niemanden gesehen?“
„Draußen nicht. Nur die künstlichen Hände standen vor dem
Eingang.“
„Sie waren eine der ersten, die nach dem Alarm beim Ein-
gang eintrafen.“
„Ich glaube, die zweite. MacKent war schon da.“
„Und dann?“

106
„Glazow fragte, was geschehen sei. MacKent erzählte ihm,
daß er die Leuchtkugel gesehen habe. Er habe Schmidt geru-
fen, aber der meldete sich nicht. Da eilten auch schon Jura-
moto und Neumann herbei. Als letzter kam Lange. So unge-
fähr muß es gewesen sein. Was Schmidt betrifft, weiß ich
wirklich nicht, was ich Ihnen berichten könnte.“
„Sein Gesundheitszustand? Sie als Ärztin . . .“
„Ich habe nichts hinzuzufügen. Sowohl körperlich als auch
geistig völlig in Ordnung.“
„Wie lange war Juramoto hier?“
„Von zehn bis etwa um halb elf. Er löste etwas im Digestor
auf.“
Rodin erhob sich. „Entschuldigen Sie, daß wir Sie aufgehal-
ten haben.“
Frau Doktor Santos nahm eine Pinzette zur Hand. Es war
nicht dieselbe, die sie zuvor neben das Pinselchen für die
Augenbrauen gelegt hatte.
Im Zimmer des Detektivs schlug Holberg seufzend das No-
tizbuch mit der Liste der Verdächtigen auf.
„Sie wollen sicher jemanden streichen, nicht wahr?“
„Ja. Aber wen?“
„Vielleicht beide. Meinen Sie nicht, Doktor?“
„Lange und die Santos? Augenblick, Major, das ist nicht so
einfach. Die Ärztin sagte, Lange sei etwa zehn Minuten vor
dem Alarmsignal weggegangen, sie selbst eine Minute später.
Das stimmt mit der Aussage Glazows überein. Nehmen wir
an, daß der Astronom um zehn Uhr einundfünfzig oder zwei-
undfünfzig den Korridor entlangging. Eine Minute büßte er
in der Luftschleuse ein. Er gelangte also sechs bis sieben Mi-
nuten vor dem Aufblitzen der Leuchtkugel ins Freie. Das
sind zweimal dreieinhalb Minuten. In dieser Zeit konnte er
die Strecke zum Radioteleskop schaffen. Auch die Ärztin
wäre dazu in der Lage gewesen, obwohl sie das Labor etwas
später verließ.“
„Meinen Sie wirklich?“

107
„Wir haben doch festgestellt, daß der Weg durch den Sprung
ins Tal auf drei Minuten verkürzt wird.“
„Und Sie meinen, daß man auch aus dem Tal auf den Hang
hinaufspringen kann?“
„Jetzt haben Sie mich aber erwischt!“ Holberg konnte seine
Niedergeschlagenheit nicht verbergen. „Nun, da sehen Sie
wenigstens, daß aus mir niemals ein Detektiv werden würde.
Natürlich, vom Stütunkt aus ist das Radioteleskop frühe-
stens in zehn bis zwölf Minuten zu erreichen. Daraus folgt . . .“
Der Doktor verstummte enttäuscht und strich die Namen des
Astronomen und der Ärztin sorgfältig durch.
„Es bleiben uns also . . .“
„. . . MacKent, Neumann, Juramoto. Über MacKent haben
schon zwei Zeugen mit sichtlicher Verlegenheit gesprochen.
Ist Ihnen das aufgefallen?“
„Ja, ich habe es bemerkt.“
„Außerdem gehören MacKent und Neumann zu der Dreier-
gruppe, die im Fallschirmspringen ausgebildet ist.“
„Und Juramoto.“
„Eben, Juramoto mit dem verstauchten Knöchel l“

Eine Oase

Zwei Gestalten, die in den Skaphandern schwerfällig und


plump wirkten, blieben vor dem Stützpunkt stehen.
Zwischen Licht und Schatten fehlten die weichen Übergänge.
Alles erschien scharf und kantig. Der Berg, in dessen Fuß die
Wohnungen und Laboratorien hineingetrieben waren, wuchs
aus zersplitterten, farblosen Kristallen traurig empor. Nur
oben hob, sich wie ein übermütiger, leichtsinniger Eindring-
ling aus einer fremden Welt die wohlgeformte Kuppel des
Refraktors ab.
Vielleicht beobachtet Lange jetzt gerade den schwarzen Him-

108
mel, dachte Rodin, in den Anblick dieser Welt versunken.
Vielleicht umspielt wieder ein überhebliches Lächeln seine
Lippen, während er das Fernrohr von Stern zu Stern gleiten
läßt und denkt: Das alles ist bestimmt, dem Menschen zu
dienen, der der alleinige Beherrscher des Kosmos ist, weil
es im ganzen weiten All nicht seinesgleichen gibt. Dort, in
der Unendlichkeit, baut die Natur jetzt neue Kulissen für den
künftigen großen Auftritt der Menschheit. Die bisher toten
Koordinaten der Himmelskarten werden sich in lebendige
Welten verwandeln. Die Menschen werden die Erde einmal
als ein Naturschutzgebiet betrachten, sie als Geburtsstätte der
Vernunft verehren. Und einmal wird auch sie vergehen, weil
außer dem Weltall und der Zeit alles einen Anfang und ein
Ende hat. Aber dann wird die Menschheit schon Tausende
von Milchstraßen besiedelt haben.
Der Major riß seinen Blick von der silbernen Kuppel los.
„Dieser Bursche geht mir nicht mehr aus dem Sinn“, ver-
traute er über Ultrakurzwelle dem Doktor an.
„Lange?“
„Ja, Lange.“
„Ich habe auch gerade an ihn gedacht. Ich spielte eine Weile
mit dem Gedanken, ob wir uns vielleicht irren und er doch
eine Art neuer Galilei sei. Und Sie und ich, wir wären eigent-
lich nur Dunkelmänner in Skaphandern. Aber dann ver-
scheuchte ich diesen skurrilen Einfall schnell. Denn seine
Theorie oder, besser gesagt, sein Glaube gründet sich auf die
Tatsache, daß wir bisher noch nicht auf Beweise hochorga-
nisierten Lebens, auf Zeichen vernunftbegabter Wesen ge-
stoßen sind. Aber ist es denn möglich, wissenschaftliche Theo-
rien auf etwas aufzubauen, was wir noch nicht wissen, sie auf
die Lücken in unseren Erkenntnissen zu stützen? Ist es
denn . . .“
„Später, Doktor. Wir sind an Ort und Stelle.“
Das Treibhaus erinnerte an eine Handvoll Seifenblasen, die
aus der zerklüfteten Oberfläche des Mondes hervorquollen.

109
„Hier gibt es keine einzige flache und gerade Glasscheibe“,
kommentierte Holberg. „Dadurch soll die Festigkeit des gan-
zen Baues erhöht werden. Die Wände und Decken müssen
nämlich dem inneren Überdruck standhalten. Unter jeder
dieser Kuppeln befindet sich ein Teil des Treibhauses, der
von dem anderen hermetisch abgeschlossen ist.“
„Für den Fall einer Beschädigung?“
„Jawohl, das ist aus Sicherheitsgründen so eingerichtet, und
vor allem auch deshalb, damit unter den einzelnen Kuppeln
jeweils andere klimatische Bedingungen für die Versuche
hergestellt werden können. Verstehen Sie?“
Rodin nickte, und sie begaben sich durch die Luftschleuse in
das Treibhaus.
MacKent begrüßte die Besucher mit unverhohlener Neu-
gierde. „Wollen Sie unser Treibhaus besichtigen? Da haben
Sie recht, denn selbst das beste Farbfoto kann nicht wieder-
geben, was hier zu sehen ist. Interessieren Sie sich für die
'
Botanik?“
„Jeder interessiert sich irgendwie für die Botanik.“ Der Ma-
jor überflog mit einem Blick die Batterien von Fläschchen
und Reagenzgläsern, die Mikroskope, Vergrößerungsgläser,
Tiegel und Schüsselchen auf dem Tisch und den Regalen des
kleinen Arbeitszimmers und die kleinen Beete, die im Licht
der Xenonlampen lagen. „Ich bin allerdings kein Fachmann.
Natürlich kann ich Tomaten von Zuckerrüben unterschei-
den, auch wenn ich solche Paradiesäpfel noch nicht gesehen
habe.“ Der Kriminalist beugte sich zu den roten Früchten
hinunter.
„Das sind ja auch keine Tomaten, sondern Radieschen“, be-
merkte MacKent mit nachsichtigem Lächeln. „Eines unserer
kleinen Wunder! Es ist in der Hauptsache das Werk meiner
Vorgänger, ich habe daran angeknüpft. Natürlich habe ich die
hiesigen Versuche und ihre Ergebnisse schon auf der Erde
studiert. Nach mir kommt wieder ein anderer, jeder von uns
leistet seinen kleinen Beitrag, und allmählich kommen wir

IIO
ans Ziel, zur Umwandlung bestimmter biologischer Werte.
So stellen wir die bisherige Phytotechnik auf den Kopf.“
„Aber nur hier, auf dem Mond.“
„Vorläufig. Mit der Zeit wird man die Ergebnisse aber auch
auf die Erde übertragen. Verstehen Sie?“
„Nicht ganz.“
MacKcnt hob von einem Hocker eine große Gurke auf. Es
sah aus, als hielte er ein grünes Wickelkind im Arm. „Hier in
der Regenbogenbucht ist eigentlich eine kleine Veredelungs-
station. Wir wandeln die Pflanzen um und verändern ihre
Eigenschaften. In erster Linie erforschen wir die Auswirkun-
gen der verringerten Schwerkraft und die Einflüsse der kos-
mischen Strahlung. Ihr Ionisationseflekt führt zu verschiede-
nen Veränderungen der genetischen Prozesse und zur Heraus-
bildung von Mutanten. Das sind Einzelfaktoren bei der
Veränderung der Erbanlagen. Nun, und uns geht es darum,
Mutanten mit den vorteilhaftesten Eigenschaften zu züch-
ten.
„Aber diese Größe!“
„Hier nimmt alles größere Ausmaße an und treibt in die
Höhe. Das sehen Sie ja selbst. Wir züchteten ein Tausend-
schönchen, das jetzt wie eine Sonnenblume aussieht, und eine
Sonnenblume . . ., aber das zeige ich Ihnen lieber in natura.
Es treten allerdings gleichzeitig verschiedene ungünstige
Eigenschaften auf, beispielsweise eine geringere Dichte des
pflanzlichen Zellgewebes. Aber insgesamt überwiegen die po-
sitiven Faktoren. Verstehen Sie?“
„So ungefähr. Sie nutzen die hiesigen Möglichkeiten, um
Pflanzen zu züchten, die größere Erträge bringen.“
„So ist es. Solche Pflanzen haben wir hier schon. Wir nehmen
an, daß sich die neuen Sorten unter irdischen Bedingungen
zwar der ursprünglichen Umgebung wieder anpassen, aber
nicht in jeder Beziehung. Ein gewisser Prozentsatz der neuge-
wonnenen Eigenschaften wird ihnen erhalten bleiben. Sie‘
glauben ja gar nicht, wie beständig Pflanzen sind.“

III
„Und Tiere?“
„Ein Vivarium haben wir nebenan. Auch dort haben wir be-
merkenswerte Experimente durchgeführt. So wurden bei-
spielsweise Ratten von Generation zu Generation größer,
aber — und das würden Sie vielleicht nicht für möglich hal-
ten — ihr Knochenbau und ihre Füße wurden relativ schwä-
cher. Wissen Sie, wie eine normale Ratte aussieht?“
„Ungefähr“, brummte Rodin, den MacKents ständiges Fra-
gen allmählich nervös machte. Es schien angeborene Neu-
gierde zu sein, aber was mochte sonst noch damit zusammen-
hängen? „Besonders kenne ich mich mit Ratten nicht aus.
Ich weiß nur, daß es unangenehme Nagetiere sind, nicht
wahr?“
„So ist es. Unangenehm, und dennoch Helfer der Wissen-
schaft. Sie vermehren sich schnell, deshalb können wir an
ihnen die Entwicklung vieler Generationen verfolgen, um
unter anderem zu erfahren, wie sich die kosmische Strahlung
auf die Nachkommenschaft auswirkt und ähnliches.“
„Die kosmische Strahlung, ist das nicht ein ziemlich gefähr-
liches Spiel?“
„Wir wissen uns zu helfen.“ MacKent zeigte in die Höhe.
„Sehen Sie, das doppelte Glasdach über uns ist mit einer gal-
lertartigen Masse ausgefüllt, deren chemische Eigenschaften
denen des Paraffins ähneln. Das ist ein ziemlich sicherer
Schutz gegen die kosmische Strahlung. In den einzelnen Tei—
len des Treibhauses läßt sich das Maß der biologischen Ab-
schirmung regulieren. Am besten, Sie stellen sich vor, wir
hätten hier Filter, mit deren Hilfe wir sowohl die kosmischen
als auch die Sonnenstrahlen absorbieren, begrenzen und ver-
dünnen können. Sie ermöglichen aber auch, nur bestimmte
Ausschnitte des Spektrums durchzulassen, also beispielsweise
die ultravioletten Strahlen des Sonnenlichts einzuschränken
oder aufzufangen und ähnliches. Das eröffnet uns ein weites
Feld für Versuche. Haben Sie sich schon einmal mit dieser
Problematik beschäftigt?“

112.
„Ach wol Ich weiß nur einiges aus populärwissenschaftlichen
Schriften darüber.“
Der Biologe legte die Riesengurke wieder beiseite, machte
zwei Stühle frei und blies die Erdkrümelchen herunter. „Neh-
men Sie Platzl Sie sind ja sicher nicht zu einer Exkursion hier-
hergekommen. Es geht um diesen Unglücksfall, nicht
wahr?“
„Ja, wir suchen einen Weg, der uns zur Wahrheit führen
könnte. Was mag das für ein Grund gewesen sein, der
Schmidt zu einer so unbegreiflichen Tat veranlaßte? Machte
er auf Sie manchmal den Eindruck eines Menschen, der. . .
Helfen Sie mir doch, Doktorl“ wandte sich der Detektiv an
Holberg.
„Der Major meint, ob Sie an Schmidt gelegentlich Symptome
verschrobener Vorstellungen oder Charakterschwächen be-
merkt haben.“
„Das könnte ich nicht behaupten.“
„Ich dachte eigentlich mehr an Anzeichen von Schwermut“,
korrigierte der Kriminalist.
„Nein, nichts Derartiges. Glauben Sie, daß ihn etwas be-
drückte?“
„Richtig. Ohne triftigen Grund nimmt sich doch niemand das
Leben, besonders heutzutage. Es muß also ein starker inne-
rer Impuls vorhanden gewesen sein.“
„Eine pathologische Reizung“, ergänzte der Doktor.
MacKent zuckte nur ratlos mit den Schultern.
„Sie haben also nichts Besonderes an ihm beobachtet?“
„Nein.“
„Der Major hat recht, irgendein Beweggrund muß existiert
haben“, überlegte der Arzt laut. „Heute ist die Welt doch
anders. Die Menschen werfen ihr Leben nicht wegen einer
Bagatelle weg.“
„Die Welt ist anders?“ MacKent lachte ironisch. „Ich würde
sagen, daß sich nur die äußeren Kulissen verändert haben.
Glas und Beton statt Ziegel, Uran statt Kohle, Kunststoffe

8 Vcscl y, Verbrechen
113
statt Holz. Aber der Mensch ist nicht anders geworden. Sein
Wesen ist beständig, mit all seinen Vorzügen und Fehlern,
mit allen Licht— und Schattenseiten. Und dazu gehören auch
Haß, Neid, Überheblichkeit und krankhafter Egoismus. Die
Trägheitsgesetze, denen eine Rakete unterliegt, könnt ihr be-
rechnen, die Trägheitsgesetze, denen der menschliche Geist
unterliegt, aber nicht.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte der Psychologe angriffs-
lustig.
„Das, was ich sagte. Ihr habt der Technik Siebenmeilenstiefel
angezogen und euch dabei der eitlen Hoffnung hingegeben,
daß ihr den Menschen ebenso leicht ändern könntet, daß es
euch gelänge, die menschliche Natur in das Prokrustesbett der
idealen Gesellschaft zu pressen. Die sozialen Wurzeln nega-
tiver moralischer Tendenzen sind beseitigt. Der Mensch ist
nicht mehr des anderen Wolf, sondern des andern Bruder
und Genosse. Und nun sehen Sie einmal, wer hier vor mir
steht. Ein leibhaftiger Kriminalist! Also kommen wir heute
nicht ohne Kriminalisten aus. Und warum? Nun, weil ent-
gegen allen Theorien die Kriminalität nicht verschwunden
ist. Habe ich nicht recht, Major?“
„Das läßt sich nicht mit einem einzigen Wort beantworten“,
sagte der Major friedfertig. „Denken Sie doch an Ihre eige-
nen Erfahrungen! Wenn Sie Samen stecken, geht da jeder
auf? Und wächst jedes Pflänzchen so heran, wie Sie es er-
warten?“
„Natürlich nicht. Das ist eine Frage der mathematischen
Auswahl. Außerdem hängt es davon ab, ob ich mit einem
Ausgangsmaterial arbeiten muß, das ich vorher nicht beein-
flussen konnte.“
„Na bitte! Und konnten wir es vorher beeinflussen?“
„Aber in der Botanik verringert sich die Zahl der schlecht
aufgegangenen Samen rapide!“
„Richtig. Und bei uns sinkt die Anzahl der Straftaten und
ihre gesellschaftliche Gefährlichkeit. Langsam, wahrschein-

114
lich langsamer als in der Botanik, aber ebenso sicher. Geben
Sie das zu?“
„Na schön. Allerdings . . .“
„. . . die Kriminalität und die Kriminalisten bleiben. Das
wollten Sie doch sagen, nicht wahr? Vielleicht gehen Sie den
Dingen zuwenig auf den Grund. In Ihrer Pflanzenzucht kön-
nen Sie Verluste dadurch verhindern, daß Sie die schädlichen
Einflüsse der Umwelt beseitigen. Um das gleiche bemühen
wir uns, wenn ich auch zugebe, daß es bei den Blumen schnel-
ler und leichter geht als bei den Menschen. Aber um gesunde,
abgehärtete Pflanzen zu züchten, um sie so zu veredeln, daß
sie nicht der erste Windstoß zerbricht, daß sie nicht der
Nachtfrost vernichtet, ein Regenguß wegschwemmt oder die
Trockenheit zermürbt, braucht man Zeit. Nicht nur in der
Botanik, sondern auch in der Gesellschaft.“
„Damit räumen Sie also ein, daß es bei Ihnen Windstöße,
Nachtfröste, Regengüsse und Trockenheit gibt. Und zwar
nicht nur in der Natur!“
„Wir behaupten doch nicht, daß unser Weg mit Rosen be—
streut sei. Übrigens, selbst ein Rosenstrauch hat bekanntlich
Dornen. Als Biologe . . .“
„Wenn es nur darauf ankämel Wir haben schon Rosen ohne
Dornen gezüchtet.“
„Ja, im Garten! Aber auf den Feldrainen brennen die Nes-
seln und stechen die Disteln nach wie vor. Das gilt für die
Pflanzen wie für die Menschen. Und ich habe eben mit Men-
schen zu tun. Meinen Sie, wir sollten sie brennen und stechen
lassen?“ Oder schießen, wenn auch nur aus Signalpistolen?
wollte Rodin hinzufügen. Aber er besann sich noch rechtzei-
tig.
„Natürlich nicht“, erwiderte MacKent. „Ihre Arbeit ist gesell-
schaftlich nützlich, das ist sicher. Und nicht uninteressant. Sie
kreisen um den Schuldigen, und er weiß nichts davon. Viel-
leicht weiß er es auch. Ich möchte nicht in seiner Haut stek-
ken, wenn sich der Kreis schließt.“

IIs
„Das ist wahrscheinlich nicht angenehm.“ Rodins Blick irrte
ins Ungewisse. Ein Gedanke, ein Einfall hatte sein Unter-
bewußtsein berührt, aber er konnte ihn nicht einfangen. Be-
stimmt war es etwas Wichtiges. MacKent hatte es ihm souf—
fliert. Doch so sehr Rodin sich auch bemühte, den Faden zu
erfassen, die Idee verlor sich im dunkeln. „Wir sollten auf
Schmidt zurückkommen l“
„Bitte.“
„Sie haben also an dem Funktechniker nichts Besonderes be-
obachtet?“
„So ist es. Höchstens, daß er in den letzten Tagen zerstreut
und in sich gekehrt war. Wer weiß, womit er sich beschäf-
tigte? Aber das ist hier nichts Besonderes. Mir passiert es
auch, daß ich mich beim Mittagessen in ein Problem vertiefe
und die Speisen dabei kalt werden lasse.“
„Wann sahen Sie Schmidt das letztemal?“
MacKent zog die Stirn nachdenklich in Falten. „Meinen Sie
danach oder vorher?“
„Selbstverständlich, als er noch am Leben war.“
„Genau weiß ich das nicht mehr. Wahrscheinlich beim Früh-
stück im Speisesaal.“
„Haben Sie mit ihm gesprochen?“
„Nein. Warum auch? Worüber hätte ich mit ihm sprechen
sollen?“
„Und was machten Sie danach?“
„Ich habe gearbeitet. Hier im Treibhaus. Zuerst ntrollierte
ich die Erdfeuchtigkeit und die Zusammensetzung der Luft,
dann pfropfte ich Wildlinge. Auch einige chemische Analy-
sen standen auf meinem Programm. Da mir aber die Lösung
für positive Chlorophyllproben ausgegangen war, zog ich den
Skaphander über und wollte mich gerade ins Laboratorium
begeben. Da flog die Leuchtkugel hoch, und in den Kopf-
hörern ertönte das Alarmsignal. Mir war sofort klar, woher
der Wind wehte.“
„Wieso?“

116
„Die rote Leuchtkugel stand über dem Radioteleskop, und
dort arbeitete Schmidt. Aber natürlich lief ich zuerst zum
Stützpunkt.“
„Trafen Sie jemanden?“
„Nein, niemanden.“
„Beim Eingang waren Sie der erste. In welcher Reihenfolge
kamen die anderen an?“
„Einige Sekunden nach mir erschien Frau [Doktor Santos.
Als nächste kamen Glazow und Melchiad aus dem Stütz-
punkt, und danach trafen Neumann und Juramoto ein, als
letzter kam Lange. Aber wozu wollen Sie das eigentlich
wissen?“
„Wir möchten uns ein genaues Bild von der Situation ma-
chen.“
Auf dem Rückweg schwieg Doktor Holberg. Er sprach erst
wieder, als er in Rodins Zimmer den Skaphander ablegte.
„Das ist merkwürdig“, brummte er und schüttelte den Kopf.
„MacKent müssen wir natürlich streichen. Er war ohne Zwei-
fel als erster beim Stütunkt. Kaum zwei Minuten nach dem
Aufblitzen der Leuchtkugel. Selbst wenn er sich überschla-
gen hätte, hätte er in dieser Zeit niemals die Entfernung vom
Radioteleskop bis hierher zurücklegen können. Das ist abso-
lut ausgeschlossen. Man muß sich vielmehr eine andere Frage
vorlegen.“
„Und die lautet?“
„Wie hat er es in diesen zwei Minuten bis zum Eingang ge-
schafft? Der Alarm überraschte ihn im Treibhaus. Eine Mi-
nute verlor er in der Luftschleuse. Es blieb ihm also ledig-
lich eine Minute.“
„Ich möchte das ergänzen“, sagte der Detektiv leise. „Mac-
Kent kam aus dem Treibhaus und war zuerst beim Stütz-
punkt. Frau Doktor Santos überraschte der Alarm noch vor
dem Treibhaus, aber sie traf erst als zweite ein. Interessant,
nicht wahr? Besonders, wenn wir berücksichtigen, daß sie sich
nicht begegneten.“

n7
Doktor Halbergs Mathematik

„Also Neumann oder Juramoto. Wer hätte das gedacht!“


Erza Holberg schaute ungläubig in sein Notizbuch. Von acht
Namen waren bereits sechs durchgestrichen. „Und selbst jetzt
würde ich noch nicht wagen, eine Vermutung auszusprechen,
wer von diesen beiden der Täter ist. Aber raten ist eben sehr
schwer, nicht wahr?“
„In der Kriminalistik ist es mehr als schwer, da ist es vor
allem riskant.“
„Sehr riskant. Mit wem wollen wir, das heißt Sie, jetzt zuerst
sprechen?“
Der Major zögerte offensichtlich eine Weile. „Vielleicht mit
Neumann. Oder nicht?“
„Natürlich. Einiges wissen wir schon über ihn. Ich meine,
was er am Sonnabendvormittag getan hat. Ein Alibi hat er.
Kurz vor dem Mord. . ., ich kann mir nicht helfen, Major,
aber das klingt so fremd, so unwirklich, so mittelalterlich.
Vor dem Mord. Vor dem Mittagessen. Vor dem Sonnenauf-
gang. Vor dem Kuß. Vor dem Abitur. Vor dem Mordl Ver-
stehen Sie, was mich bedrückt?“
„Sie meinen, das erweckt den Eindruck, als würde man sa-
gen: ‚Vor der Hexenverbrennung‘ oder etwas Ähnliches,
nicht wahr? Mord klingt in Ihren Ohren ebenso absurd. Aber
Sie wollten etwas sagen.“
„Neumann verbrachte nach Glazows Aussage den Vormittag
in dessen Arbeitszimmer. Sie bereiteten gemeinsam irgend-
einen Bericht für die Erde vor. Nachdem sie ihn beendet hat-
ten, entfernte sich Neumann etwa um zehn Uhr fünfzig. Was
mag er danach getan haben?“
Und das war auch die erste Frage, die Rodin dem Piloten
stellte.
Neumann blinzelte träge. „Dann ging ich zum Raketoplan.“
„Sollten. Sie fliegen?“
„Ja, am Nachmittag.“

118
„Da wollten Sie sicher die Maschine vorbereiten?“
„Ja.“
„Trafen Sie unterwegs jemanden?“
„Nein.“
„Überraschte es Sie, daß Schmidt Selbstmord begangen
hatte?“
„Nein.“
„Nein?“ Rodin erstarrte. „Wie kommt das, wenn ich fragen
darf? Haben Sie so etwas vielleicht gar erwartet?“
„Erwartet habe ich das nicht. Aber warum sollte es mich
überrascht haben? Es kommt doch noch ab und zu vor, daß
jemand Selbstmord verübt.“
„Das stimmt zwar, aber . . . Vielleicht können Sie uns noch
kurz etwas über Ihren Weg zum Flugzeug erzählen. Was ha-
ben Sie dort erledigt, und was geschah bis zu dem Augen-
blick, als Sie den toten Schmidt erblickten. Es interessieren
uns verschiedene Kleinigkeiten. Wir suchen irgendein Detail,
das ein bißchen Licht in diesen eigentümlichen Fall bringen
könnte.“
„Ich verstehe. Viel ist allerdings nicht zu sagen, und unter
dem wenigen dürfte kaum etwas sein, was Ihnen helfen
könnte. Da ich am Nachmittag die Alpen fotografieren
sollte, ging ich zur Maschine, um sie für den Flug vorzuberei-
ten. Ich setzte mich in die Kabine und begann mit der übli-
chen Überprüfung. Zuerst schaltete ich die Scheinwerfer ein;
sie funktionierten normal. Dann kontrollierte ich den Stand
der Treibstoffe und Oxydationsmittel. Als ich den Lauf der
Motoren überprüfen wollte, ertönte das Alarmsignal. Den
Stütunkt erreichte ich als einer der letzten. Es ist doch ein
ziemliches Stück Weges, und außerdem mußte ich beim Aus-
steigen erst wieder die Luftschleuse passieren. Dafür war ich
dann beim Radioteleskop zweiter oder dritter. Mehr weiß ich
wirklich nicht.“
„Dieser Raketoplan, oder wie Sie ihn nennen, läßt sich auch
fernsteuern? Automatisch?“

119
„Natürlich.“
„Da konnten Sie sich diese Arbeit doch ersparen und die ein-
zelnen Funktionen der Maschine von fern überprüfen.“
„Das schon, nur wäre das keine Erleichterung gewesen.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Die Maschine stand nur wenige Schritte vom Steuerturm ent-
fernt. Wenn ich also erst einmal dort war, dann spielte es
keine Rolle mehr, ob ich die Kontrollen vom Turm aus oder
direkt in der Kabine vornahm.“
„Und was können Sie uns über Schmidt erzählen? Über sei—
nen Charakter, seine Interessen und sein Leben überhaupt?“
„Er hatte zwei Interessen: Radioastronomie und Frauen.“
„Eine etwas heterogene Kombination“, brummte Rodin halb
konstatierend und halb fragend.
„Warum? Jeder von uns trägt solche Kontraste in sich. Der
eine im Kopf, der andere im Herzen.“
„Ich hörte davon, daß Schmidt Signale von der Erde aufge-
fangen haben soll.“
„Von Amateurstationen“, bestätigte der Pilot. „Er schickte
ihnen dann besondere Karten, auf denen er den Empfang be-
scheinigte.“
„Auf welchem Wege?“
„Mit der übrigen Post mittels der Lastraketen. Bei den vielen
Tonnen von Lasten fielen die paar Gramm nicht ins Ge-
vdcht“
„Ein bißchen Großzügigkeit wirkt schließlich auch auf dem
Mond gut, nicht wahr?“
Damit beendete der Detektiv das Gespräch.
Zehn Minuten später zog Frau Doktor Santos die Brauen
fragend in die Höhe.
„Wir möchten Sie gern nach einer Kleinigkeit fragen.“
Die Ärztin nickte schweigend.
„Wenn ich mich nicht täusche, dann kann man von dem Weg
aus, der zum Treibhaus führt, den Raketoplan sehen. Stimmt
das?“

IZO
„Ja, gewiß.“
„Haben Sie am Sonnabend nichts Auffallendes am Flugzeug
bemerkt?“
„Etwas Auffallendes? Nein.“
„Sahen Sie vielleicht den Piloten Neumann?“
„Wie sollte ich das? In der Dunkelheit? Er mußte übrigens
drin gewesen sein.“
„Woraus schließen Sie das?“
„Die Bugscheinwerfer leuchteten mehrmals auf. Das zeugte
davon, daß er darin war.“
„Also doch! Aber ich hatte Sie doch gefragt, ob Ihnen am
Raketoplan etwas aufgefallen war.“
„Halten Sie ein beleuchtetes Flugzeug in der Nacht für etwas
besonders Auffälliges?“
Als sie wieder in Rodins Zimmer waren, stand der Arzt eine
ganze Weile schweigend vor dem Detektiv. Dann fuhr er
sich mit dem Handteller über die Stirn, als wollte er sich den
Schweiß anstrengender Geistesarbeit abwischen. „Wer hätte
das gedacht?“ sagte er schließlich. „Also doch Juramotol War
er es?“ Erza Holberg schüttelte den Kopf. „Die Mathematik
bestätigt, daß nur er übrigbleibt. Alle anderen haben ein un-
erschütterliches Alibi.“
„Haben Sie Neumann schon gestrichen?“
„Natürlich! Wenn er vier oder fünf Minuten vor dem Alarm
die Flugzeugbeleuchtung bediente, dann kann er nicht eine
Minute vor elf beim Radioteleskop gewesen sein. Ebenso-
wenig wie Lange. Worauf wollen Sie hinaus, Major, wenn
ich fragen darf?“
„Ich habe so eine Ahnung oder vielmehr einen Eindruck . . .
Ich weiß aber nicht, ob Sie mich verstehen würden. Wie soll
ich Ihnen das erklären? An meinem Hirn nagt die leise Be-
fürchtung, daß ich etwas Wichtiges vergessen habe, daß wir
etwas falsch machen, daß wir irgend etwas übersehen haben.
Diese Erkenntnis kam mir im Gespräch mit MacKent. Da
wollte ich sie schon aussprechen, sie lag mir sozusagen schon

IZI
auf der Zunge, aber dann entschlüpfte mir der Gedanke wic-
der.“
„Sie können sich nicht erinnern?“
„Eben nicht.“
„Das ist kein Grund zur Verzweiflung, Major. Eine Erinne-
rung wachzurufen ist ein Kabinettstück der psychologischen
Praxis. Es kommt nur darauf an, sich die Vorstellungen zu
vergegenwärtigen, die zu dem vergessenen Gedanken oder
Fakt gehören. Die Assoziation ist auch in diesem Falle die
Mutter der Weisheit. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Ge-
danke damals schon völlig ausgereift war oder nicht. Und
nun geben Sie bitte acht: Sie sagten, die Erkenntnis sei Ihnen
während des Gespräches mit MacKent gekommen. Worüber
sprachen wir? Was hat unser gelehrter Freund gerade ge-
macht?“
Rodin setzte sich und starrte zur Decke, deren leuchtendes
Blau an den Himmel erinnerte, allerdings an den Himmel
über der Erde. „Was er machte? Nichts, er unterhielt sich mit
uns.“
„Hatte er noch die Gurke im Arm? Worüber wurde gespro-
chen?“
„Ein Prachtstück, diese Gurke, nicht wahr? Er hatte sie
schon beiseite gelegt. Wir sprachen über die Botanik und über
die Gesellschaft, über Rosen und Brennesseln.“
„Ja, ich erinnere mich.“
„MacKent meinte, daß er nicht in der Haut des Täters stek-
ken möchte. Dabei muß mir der Einfall gekommen sein. Nur
kann ich mich nicht mehr erinnern.“
„Das macht nichts.“ Holberg sah sehr zufrieden aus. „Es
wird Ihnen bestimmt wieder einfallen, wenn Sie das ganze
Gespräch in Ruhe rekonstruieren, wenn Sie sich auch visuell
alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen.
Stellen Sie sich vor, wo jeder von uns gestanden hat, was für
eine Miene er machte, was er gerade tat und so weiter. Dann
wird plötzlich auch der Gedanke wiederkehren, der Ihnen

122
neulich in den Sinn kam. Aber jetzt lassen Sie uns zu Jura-
moto gehen.“
Die seismographische Station lag direkt am Fuße eines Ab-
hangs. Von weitem sah sie aus wie ein riesiges Ei, das zur
Hälfte aus dem Boden herausragte. In die hellgrauen Wände
waren vier runde Fenster eingelassen, aus denen man das
flache Tal vor dem Hauptgebäude des Stütunktes über-
blicken konnte.
„Hier arbeiten Sie also.“ Rodin schaute sich in dem runden
Raum um. „Ich habe mir das Arbeitszimmer eines Seleno-
logen anders vorgestellt.“
Auf Juramotos Gesicht spielte ein freundliches, warmes und
bescheidenes Lächeln. „Die Vorstellung ist ein Bild in einem
Zauberspiegel.“
„Ihre Station ist ziemlich entlegen“, ließ sich Rodin wieder
vernehmen.
„Das ist nicht meine einzige, aber meine häufigste Arbeits-
stätte. Die Lage ist absichtlich so gewählt, weil hier einer der
Seismographen steht.“
„Hier?“
„Ja, direkt im Schacht unter uns. Wir belauschen den Mond."
„Das muß doch ein sehr empfindliches Gerät sein.“
„Möchten Sie es sehen?“
Der Major bejahte. Professor Juramoto drückte auf einen
Knopf und legte damit den Eingang zum Schacht frei. Eine
Wendeltreppe, die mit einem moosartigen Teppich bedeckt
war, führte sie in einen etwa zwanzig Meter unter der Ober-
fläche gelegenen Raum von der gleichen Größe wie das Ar-
beitszimmer. Im Halbdunkel waren die Umrisse des Seismo-
graphen zu erkennen. Drei dünne grüne Lichtstrahlen durch-
kreuzten das Kellergeschoß.
„Wie Sie sehen, gibt es hier nichts Besonderes. Es ist ein Seis-
mograph wie jeder beliebige auf der Erde“, erklärte der
Professor. „Die Lichtstrahlen vervielfältigen die geringste
Erschütterung. Sie wird auf dem Seismogramm registriert.

123
Eine Nadel zeichnet es auf eine Papierrolle, die sich gleich-
mäßig abspult. Aber das können wir uns oben anschauen.“
„Einige dieser Geräte sind angeblich so empfindlich, daß sie
sogar den Herzschlag eines Menschen vermerken?“ fragte
Rodin.
„Ja, das stimmt. Der Mensch muß jedoch ganz in der Nähe
und auf hartem Grund stehen, denn der Seismograph reagiert
nicht auf den Schall, sondern auf die Schwingungen. Selbst-
verständlich ist ieder Schall eine mechanische Schwingung,
und jede Schwingung wird von einer Erscheinung begleitet,
die wir im allgemeinen als Schall bezeichnen.“
Holberg betrachtete die Aufzeichnungen auf der Walze mit
wachsendem Interesse. „Sie wollen damit sagen, daß alles,
was der Seismograph registriert, notwendigerweise zuerst
Schwingungen der Erdrinde erzeugt haben muß.“
„Das wollte ich zwar nicht sagen“, die Stimme des Seleno-
logen klang ausgesprochen liebenswürdig, „aber auf der Erde
\
ist es tatsächlich so.“
Rodin horchte auf. Juramoto zeigte sich hier in einem ganz
neuen Licht: als Ironiker. Seine Ironie und sein Sarkasmus
waren kaum zu merken, aber vielleicht bereiteten sie ihm
gerade deshalb so großes Vergnügen. Ein solcher Mensch
weiß immer sehr genau, was er sagt, und ist nicht so leicht mit
einer Frage aus der Fassung zu bringen.
„Das würde ia bedeuten“, fuhrvHolberg verwundert fort,
„daß mein Herzschlag die Erdoberfläche zum Schwingen
bringt.“
„Ja, ein Stückchen der Erdoberfläche. Genauer gesagt, jetzt
ein Stückchen der Mondoberfläche. Natürlich rufen die Herz-
töne nur ganz geringe seismische Erschütterungen hervor,
auch wenn es heißt, daß das Herz weiter reiche als das
Auge.“
Schweigend stiegen sie wieder nach oben.
„Hier sind die Aufzeichnungen.“ Der Selenologe beleuchtete
den mit einem Netz winziger Quadrate bedruckten Papier-

124
streifen, in dessen Mitte die Nadel eine dünne Linie gezogen
hatte. Unmittelbar hinter der Nadelspitze ging die Linie in
ein Gewirr von Kurven und Zacken über.
„Was bedeutet denn dieser Wellenschlag?“ Der Arzt be-
rührte die Glasscheibe, die das Seismogramm schützte.
„Das ist die Registrierung unserer Schritte, vielleicht auch
einiger unserer Herzschlägc.“
„Obwohl der Fußboden und die Treppe mit weichen Tep-
pichen ausgelegt sind?“
„Ja, obwohl alles gut isoliert ist.“
„Unglaublichl“ Erza Holberg starrte wie gebannt auf den
Papierstreifen, der langsam von Walze zu Walze kroch.
„Unglaublich ist nur das Lächeln des Wucherers.“ Juramoto
löschte das Licht über dem Seismogramm. „Aber die Grenz-
steine jedes Weges sind Fragezeichen.“
„Sie haben recht, Professor.“ Der Major nahm ohne Auf-
forderung Platz. „Wir sind nicht gekommen, um Ihr ver-
blüfiendes Gerät zu bewundern, sondern möchten Sie gern
etwas fragen.“
„Fragen sind Glieder einer Kette, die von der Vermutung
zur Wahrheit führt. Es geht um Schmidt, nicht wahr?“
„Ich muß zu meinem Leidwesen bekennen, daß wir in der
Untersuchung dieses Falles kaum vorangekommen sind.“
Rodin schwieg eine Weile nachdenklich, aber seinen dunklen
Augen war nicht die geringste Veränderung anzumerken.
„Wir möchten uns gern einige Fakten von Ihnen bestätigen
lassen.“
„Ich verstehe. Sie wollen feststellen, ob ich eventuell Schmidt
ermordet habe.“
Wenn Doktor Holberg später auf diesen dramatischen
Augenblick zu sprechen kam, beteuerte er immer wieder, ihm
sei entsetzlich zumute gewesen, während der Major nicht mit
der Wimper gezuckt habe. Es sei ein ausgesprochener Genuß
gewesen, zusehen zu dürfen, mit welcher Lässigkeit die bei-
den miteinander gekämpft hätten.

125
„Ganz recht.“ Rodin lehnte sich noch bequemer in den Sessel
Zurück. „Würden Sie uns vielleicht erklären, warum Sie es
nicht gewesen sein können?“
„In der Heimat meiner Vorfahren gibt es noch heute viele
Sprichwörter. Eines davon lautet: Der Tiger kann den Adler
nicht erreichen.“
„Damit wollen Sie sagen, daß Sie zu der Zeit, in der Schmidt
vom Tod ereilt wurde, weit von ihm entfernt waren.“
„Es ist wonniglich, im Tau zu baden, aber noch ergötzlicher,
mit einem Menschen zu sprechen, der dich versteht. Ja, das
meinte ich.“
„Als der Alarm gegeben wurde . . .“
„. . . war ich gerade hier. Besser gesagt, ich war gerade wie-
der zurückgekommen.“
„Darf ich fragen, woher?“
„Von unten, aus dem Schacht. Ich muß jeden Vormittag
hinuntergehen, um die Richtung der Lichtstrahlen zu kon-
trollieren und einen Vermerk über das Ergebnis zu machen.“
„Sie stiegen also in der kritischen Zeit ins Kellergewölbe
hinunter, hatten dort eine Weile zu tun und kehrten dann
wieder zurück?“
„Genauso verhält es sich.“
„Heben Sie die Seismogramme auf?“
Juramoto verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. „Sie
verstehen Ihr Handwerk aber gut, Oberst!“
„Major, bitte l“
„Verzeihen Siel Jetzt sprachen meine Vorfahren aus mir. Sie
verstehen es wirklich hervorragend, sich in einer neuen Um-
gebung zurechtzufinden. Es ist in der Tat eine Freude, sich
mit Ihnen zu unterhalten.“ Er erhob sich und ging zu einem
Regal an der Wand. „Hier ist das Seismogramm vom Sonn-
abend.“
Rodin beugte sich über den aufgerollten Papierstreifen und
folgte den Erklärungen des Selenologen.
„Das Seismogramm läuft genau nach der Zeit. Jeden Vor-

126
mittag wird der Streifen ausgewechselt. Die dünnen senk-
rechten Linien zeigen die Minuten an, die stärkeren Striche
die Stunden. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststel-
len, daß jede Minute noch in sechs Teile zu je zehn Sekunden
unterteilt ist. Weil sich jede dieser kleinen Spalten unter der
Lupe und mit einem Spezialmaß nochmals in zwanzig Teil-
chen aufgliedern läßt, sind unsere Zeitangaben bis auf die
halbe Sekunde genau. Das ist notwendig, damit man ge-
gebenenfalls die Aufzeichnungen mehrerer seismographischer
Stationen vergleichen und den Ort und die genaue Zeit einer
Destruktion oder einer anderen Erscheinung feststellen kann.
Sie verstehen das sicherlich.“
„Vollkommen. Aber verraten Sie mir bitte noch, ob Sie aus
dem Seismogramm ersehen können, welches die Ursachen für
die einzelnen Kurven gewesen sind. Wenn ich jetzt hier vom
Tisch herunterspränge, würde das von der Nadel registriert.
Aber wie erkennen Sie, daß es sich dabei nicht um ein Mond-
beben oder um den Aufschlag eines Meteors handelt? Läßt
sich das überhaupt unterscheiden?“
„Der Fachmann kann das, indem er die Aufzeichnungen
mehrerer Seismographen vergleicht. Allein in der Regen-
bogenbucht haben wir drei. Erschütterungen, die, wie der
Sprung vom Tisch, nur örtlicher Natur sind, würden nur hier,
niemals von den beiden anderen Geräten verzeichnet werden,
weil sie einige Kilometer von hier entfernt sind.“
Juramoto suchte aus dem Regal die Seismogramme der an-
deren beiden Stationen vom Sonnabend heraus, und der Ma—
jor verglich vor allem die Aufzeichnungen vom Vormittag
sehr genau. „Würden Sie mir das erklären?“
„Gern. Um zehn Uhr einunddreißig betrat ich das Gebäude.
Das Gerät registrierte das Türschließen. Bis zehn Uhr neun-
undvierzig ist nichts besonderes verzeichnet, weil ich am Tisch
saß und schrieb. Dann ist mein Hinuntersteigen, der Aufent-
halt im Kellergeschoß und die Rückkehr aufgezeichnet. Neh-
men Sie jetzt bitte die Lupe! Das sind meine Schritte hier im

127
Raum. Danach folgt um zehn Uhr neunundfünfzig und einige
Sekunden ein örtlicher Ausschlag, dessen Ursprung ich bisher
nicht zu deuten vermochte. Kurz darauf wurde der Alarm
ausgelöst. Ich zog mich schnell an und warf dabei das
Schränkchen mit der Mineraliensammlung um. Der Aus-
schlag ist ganz deutlich zu erkennen. Das hier ist das Zuschla-
gen der Außentür, und diese Wellenlinien erraten Sie be-
stimmt selbst.“
„Schritte, die sich entfernen.“
„Ja, ich rannte zum Hauptgebäude. Die kleinen unregel-
mäßigen Zacken daneben stammen meiner Ansicht nach von
der Gruppe, die zum Radioteleskop lief, sie rühren von der
Verwirrung her, die der erste Mord auf dem Mond ausgelöst
hat.“
Als der Major von den Papierstreifen aufblickte, bemerkte er
in den Augen des Arztes Entsetzen und Verlegenheit. Er
wandte sich ruhig an Juramoto: „Das sieht aus wie ein
Alibi.“
„Nein“, der Selenologe lächelte freundlich und zugleich ein
wenig mitleidig, „das ist ein Alibi.“
„Glauben Sie?“
„Ich weiß es.“
„Lassen Sie uns offen miteinander reden, Professor! Sie wer-
den gewiß verstehen, daß ich ganz sichergehen möchte. Ich
muß klarsehen, und deshalb sagen Sie mir ganz unumwun-
den: Kann dieser Streifen nicht von einem anderen Tag
stammen? Kann das nicht vorher oder nachher aufgespielt
oder aufgezeichnet worden sein?“
„Nein, Major, da muß ich Sie enttäuschen. Mein Alibi ist
nicht zu erschüttern. Wenn Schmidt während des Alarms
beim Radioteleskop ermordet wurde, dann kann ich nicht der
Täter sein. Diese Streifen bekommen wir von der Erde. Sie
sind numeriert und bereits vorher mit dem Datum versehen.
Das Datum ist doch klar zu erkennen, nicht wahr? Nun
könnten Sie noch vermuten, daß ich mein Alibi schon früher

128
vorbereitet habe und den Streifen am Sonnabend gar nicht
laufen ließ. Aber auch das ist aus zweierlei Gründen nicht
möglich. Ermüde ich Sie nicht?“
Wieder diese Ironie, dachte Rodin. Jetzt schon ziemlich un-
verhüllt. „Keineswegs“, widersprach er.
„Dann schauen Sie sich das bitte an, Major.“ Juramoto rollte
alle drei Streifen auf. „Ich sagte, daß die Papierrollen jeden
Tag ausgewechselt werden. Das dauert zwei bis drei Minu-
ten. Für diese Zeit würden uns die Aufzeichnungen verloren-
gehen. Damit das nicht geschieht, beschreibt die Nadel in der
Zeit von elf Uhr fünfzig bis zwölf Uhr zehn beide Streifen.
Ein kleiner Trick macht das möglich: Der Anfang der neuen
Rolle wird unter das Ende der alten geschoben, so daß die
Nadel zwanzig Minuten lang die Aufzeichnungen auf dem
alten Band direkt und auf dem neuen Band als Kopie vor-
nimmt. Das bedeutet, daß die ersten zwanzig Minuten des
Sonnabend-Streifens mit den letzten zwanzig Minuten des
Freitagstreifens übereinstimmen müssen. In ähnlicher Weise
muß sich der Anfang der Sonntagsaufzeichnungen mit dem
Ende des Seismogramms vom Sonnabend decken. Sie können
das vergleichen.“
Der Major überzeugte sich davon, daß der Selenologe recht
hatte. Es war nicht zu bezweifeln, daß der Sonnabendstreifen
tatsächlich die authentischen Aufzeichnungen enthielt und da-
mit dem Professor ein Alibi verschaffte.
„Sie sprachen von zwei Gründen. Gibt es außer diesem noch
einen Beweis?“
„Ja, es wäre noch ein weiterer möglich. Die anderen Mond-
stationen verfügen auch über Seismographen. Wie Sie sehen,
waren am Sonnabend mehrere größere Destruktionen zu
verzeichnen. Es würde genügen, dieses Seismogramm mit den
Aufzeichnungen aus anderen Stationen zu vergleichen, um
festzustellen, daß es sich im wesentlichen mit den anderen
deckt, daß es also wirklich der Sonnabendstreifen ist.“
Der Major erhob sich unentschlossen, trat an ein Fenster und

9 Vescly. Verbrechen 129


starrte durch das dicke Glas in die aschfahle Mondnacht
hinaus. Holberg rieb sich befremdet und verlegen das Kinn.
„Noch zwei Fragen, wenn Sie gestatten“, ließ sich der Krimi-
nalist schließlich mit müder Stimme vernehmen.
„Wer den Pilger tränkt, leidet selbst keinen Durst. Ob Sie
aber an der richtigen Quelle sind, Major?“
„Daran zweifle ich nicht. Also erstens: Warum ist auf dem
Seismogramm nicht auch der Alarm oder, besser gesagt, die
Explosion der Leuchtkugel registriert?“
„Weil der Seismograph auf Licht nicht reagiert.“
Wieder dieser kaum wahrnehmbare Sarkasmus. Oder ich
werde allmählich nervös, überlegte der Detektiv.
„Die Druckwelle, die die Explosion der Leuchtkugel aus-
löste, wirkte kaum auf die Oberfläche des Mondes ein. Den
Ausschlag, den die Geräte in der kritischen Zeit verzeich-
neten, könnte man dem Rückschlag zuschreiben, der den Ab-
schuß der Leuchtkugel begleitete. Der menschliche Körper
überträgt diese Erschütterung, natürlich abgeschwächt, auf
die Mondoberfläche.“
„Warum sagten Sie: könnte man zuschreiben?“
„Weil der Ausschlag ziemlich stark war, das Radioteleskop
aber verhältnismäßig weit von hier entfernt ist. Vielleicht
handelte es sich um einen Aufprall, einen Fall oder einen
Sprung in der Nähe des Hauptgebäudes. Ich wüßte nicht,
wie ich es anders erklären sollte.“
„Sie denken auch an einen Sprung?“
„Ja, an einen Sprung oder einen Fall aus größerer Höhe.“
„Besten Dank! Und nun noch zweitens: Wann sind Sie dar-
auf gekommen, daß Schmidt ermordet worden ist?“
„Ich schäme mich, Major, aber es war ziemlich spät, erst als
ich Sie zum Radioteleskop laufen sah. Da sagte ich mir, das
sieht ganz nach Rekonstruktion aus, als ginge es um einen
Mord. In diesem Augenblick wurde mir alles klar. Ich wun-
derte mich nur, daß ich nicht früher darauf gekommen war.
Wenn es sich um einen Selbstmord gehandelt hätte, dürfte

150
Schmidts Skaphander nicht zwei Einschüsse aufweisen. Schon
nach dem ersten wäre er sofort tot gewesen. Deshalb machte
ich Sie darauf aufmerksam, daß der Täter nicht unbedingt
den Serpentinenweg benutzen mußte, sondern auch springen
konnte.“
„Haben Sie eine Ahnung, wer hier seine Finger im Spiele
haben könnte?“
„Nicht die geringste, Major. Vom Mörder weiß ichnur eins:
Er muß ausgesprochen starke Nerven haben. Denn er weiß
doch seit Ihrer Ankunft genau . . .“
„Das ist es! Das ist der Gedanke, auf den mich MacKent
gebracht hat!“ rief Rodin dem Arzt zu. „Aber ich vergaß es
gleich wieder und konnte mich später beim besten Willen
nicht darauf besinnen.“ Er lächelte entschuldigend. „Sie krei-
sen um den Schuldigen, und er weiß nichts davon, sagte
MacKent, als wir über unsere Arbeit sprachen. Damals kam
mir der Gedanke . . ., aber das interessiert Sie wahrscheinlich
nicht.“
„Schade um jeden Tautropfen, der die Blüte verfehlt.“
Rodin betrachtete das zerfurchte Gesicht Juramotos, in dem
sich kein Muskel bewegte. Nur die Augen blickten ironisch.
„Gut“, fuhr der Detektiv fort. „Es war so: Ich fragte mich,
ob wir'etwas dabei gewännen, wenn wir vorgaben, einen
Selbstmord zu untersuchen, und mußte diese Frage ver-
neinen. Den Mörder können wir doch nicht täuschen, er muß
ja damit rechnen, daß wir nicht an einen Selbstmord glauben.
Also wen täuschen wir eigentlich? Die unschuldigen Zeugen.
Was hat das aber für einen Sinn? Wenn sie die Wahrheit
wüßten, würden sie sich vielleicht an wichtige Einzelheiten
erinnern, die ein neues Licht auf den ganzen Fall werfen
könnten. Die Geheimniskrämerei nützt also nicht uns, son-
dern dem Täter.“
„Dann schicken Sie doch Herolde aus l“
„Ja, ich werde bekanntgeben, daß es sich um ein Verbrechen
handelt. Aber das hat Zeit bis morgen früh. Warum sollte ich

131
den Leuten die Nachtruhe rauben. Deshalb bitte ich auch Sie,
vorläufig nichts verlauten Zu lassen.“
Juramoto begleitete seinen Besuch bis an die Tür der Luft-
schleuse. „Wenn die Gäste gehen, kriecht Trauer über die
Schwelle.“
Niedergeschlagen tappten Rodin und Holberg durch die eis-
kalte lunare Nacht. Der Gebirgswall, der die Regenbogen-
bucht umschloß, wirkte auf die beiden schweigenden Wande-
rer wie eine drohende feindliche Phalanx, deren grimmige
Angriffslust durch das fahle Licht der Erdsichel noch betont
wurde.
„Es sieht völlig hoffnungslos aus!“ stieß der Arzt verbittert
hervor, als er den Skaphander ablegte und den Helm mit
dem Fuß achtlos in die Ecke beförderte. Dann strich er in
seinem Notizbuch den letzten der acht Namen mit einer
Wellenlinie aus. „So! Dürfte ich jetzt noch einmal alles der
Reihe nach durchgehen?“
„Warum sollten Sie das nicht dürfen?“ Rodin griff in die
Tasche und winkte dann resigniert ab. „Das war vielleicht
eine Idee, hier Rauchverbot zu verhängen! Dadurch entsteht
auf dem Mond niemals eine so vernünftige und gemütliche
Atmosphäre wie auf der Erde.“
„Beginnen wir mit Glazow: Er war von neun Uhr bis zum
Alarm im Kommandoraum bei den Bildschirmen. Das wird
von Neumann und von Fräulein Dario bestätigt. Etwa um
zehn Uhr fünfzig wurde er außerdem noch von Melchiad und
von der Ärztin gesehen, nach dem Alarm noch einmal von
Melchiad. Er muß von der Liste der Verdächtigen gestrichen
werden.“
„Weiterl“
„Dem Ingenieur Melchiad wird sein Alibi für zehn Uhr fünf-
zig von Glazow, von Fräulein Dario und von Frau Santos
bestätigt. Glazow begegnete ihm neun Minuten später noch
einmal im Korridor. Die künstlichen Hände standen in der
kritischen Zeit vor dem Eingang des Hauptgebäudes. Das

132
wurde ebenfalls von zwei Zeugen bestätigt. Melchiad kommt
also auch nicht in Frage.“
„Jetzt Irina Dario.“
„Die Frau, die ihre Gunst zwischen zwei Männern teilte. Sie
war bis zehn Uhr fünfzig bei Glazow, dann kehrte sie in die
Zentrale zurück und stellte eine Verbindung mit der Erde
her. Der Mann aus der Vermittlung des Instituts bestätigt,
daß sie kurz vor elf funktelegrafische Komplimente zurück-
gewiesen hat. Sie konnte also nicht beim Radioteleskop
sein.“
„Und Lange?“
„Der Mann, der den Menschen zu einem Gott erhöht. Sein
Alibi beginnt ungefähr um halb elf, als er im Fotolabor auf-
tauchte. Von Frau Doktor Santos verabschiedete er sich etwa
zehn Minuten vor elf, auf dem Korridor wurde er von Gla-
zow und Melchiad gesehen. Wenn wir noch eine Minute
Aufenthalt in der Luftschleuse hinzurechnen, können wir uns
schnell ausrechnen, daß er zur Tatzeit nicht beim Radio-
teleskop gewesen sein konnte, weil man zwar vom Berg ins
Tal, aber niemals aus dem Tal auf den Berg springen kann.
Zeuge: Sir Isaac Newton. Beweis: das allgemeine Gravi-
tationsgesetz. Dank Newton ist auch Frau Doktor Santos
vom Verdacht freizusprechen, weil sie gegenüber Lange noch
eine Minute Verspätung hatte.“
„MacKent?“
„Der Biologe erschien als erster vor dem Eingang. Er muß
spätestens um elf Uhr eins dort eingetroffen sein. In zwei
Minuten hätte er den Weg vom Radioteleskop zum Haupt-
gebäude nicht geschafft, selbst wenn er ins Tal gesprungen
wäre. Das ist durch die Praxis bewiesen, daran ändern auch
die unklaren Momente in seiner Aussage nichts.“
„Wer bleibt noch übrig?“
„Neumann, der wenige Minuten vor dem Alarm an der Be-
leuchtung des Raketoplans hantierte, was von der Ärztin
bezeugt wird. Der Pilot kann also nur im Raketoplan oder

133
im Steuerturm gewesen sein, aber von da konnte er nicht
auf Schmidt schießen. Und der letzte, Okede Juramoto? Sein
Alibi hat der unbestechliche Seismograph bestätigt. Was folgt
daraus?“
Doktor Holberg legte eine dramatische Pause ein und schaute
den Major fragend an. Aber der antwortete nicht.
„Was folgt daraus?“ wiederholte der Psychologe deshalb
nach einer Weile. „Die absurde Tatsache, daß Schmidt von
keinem der acht erschossen worden sein kann. Es ist rund-
weg ausgeschlossenl Aber außer diesen acht war hier nie-
mand, und dennoch ist Schmidt zweifellos ermordet wor-
den!“
„Wirklich, ein seltsamer Fall“, pflichtete Rodin bei.
Im Zimmer wurde es fast so still wie draußen unter dem
Himmel der lunaren Nacht. Erst ein heiseres Kichern des
Arztes zerriß die spannungsgeladene Ruhe.
Der Detektiv schreckte auf. „Was ist denn los?“
„Eigentlich gar nichts.“ Holberg zögerte. „Mir ist nur etwas
eingefallen. Ich mußte plötzlich daran denken, daß vor dem
Start sogar unsere Uhren einschließlich der Uhrwerke des-
infiziert worden sind.“
„Das kommt Ihnen als Arzt so lächerlich vor?“
„Mehr als Psychologen. Ich habe mir nur vorgestellt, daß wir
zwar unzählige moderne Mittel gegen die Grippe und andere
ansteckende Krankheiten haben, daß wir sogar winzige Uhr—
werke desinfizieren können, aber gegenüber dem Virus, dem
Schmidt zum Opfer fiel, sind wir manchmal doch noch macht-
los.“
Donnerstag:
Morgen beginnt es zu tagen

Nur einige Tatsacben

Rodin und Holberg erschienen als letzte Zum Frühstück und


mußten sich deshalb mit Plätzen am Tischende begnügen.
„Warum denn so feierlich?“ Fräulein Dario lächelte dem
Arzt über den Tisch hinweg zu. „Das sieht ja gerade so aus,
als wollten Sie einen Vortrag . . .“
Bei diesen Worten glitt mancher Blick verlegen über Teller
und Tassen und richtete sich dann verstohlen auf den Doktor.
Der zögerte eine Weile, doch dann sagte er mit fester
Stimme: „Sie besitzenwirklich eine ausgezeichnete Beob-
achtungsgabe. Ich wollte allerdings nur bekanntgeben, daß
Major Rodin Ihnen allen etwas mitteilen möchte.“
MacKent, der sich ebenfalls verspätet hatte und seinen Arm
gerade nach der Konfitüre ausstreckte, hätte fast eine kleine
Vase umgestoßen. Sie enthielt einige Stengel Vergißmein-
nicht, deren Blüten die Größe irdischer Stiefmütterchen hat-
ten. Rodin empfand zwar Blumen auf dem Frühstückstisch
in einem Mondobservatorium als ein bißchen gekünstelt, aber
er begriff, daß sie eines der vielen Mittel waren, mit denen
man die Eintönigkeit der Umgebung bekämpfte.
„Eine Mitteilung?“ Der Biologe konnte seine Neugierde
nicht länger unterdrücken.
Auch die anderen warteten gespannt; fast alle waren sie
bemüht, dennoch gelassen zu erscheinen. Frau Doktor Santos
stützte das Kinn auf die verschränkten Hände. Ihre dunklen
Augen betrachteten offenkundig interessiert ihren männlichen

155
Berufskollegen. Die Funktechnikerin Dario verwendete mehr
Sorgfalt als nötig darauf, sich einen Zwieback mit Butter zu
bestreichen. Der Astronom Lange starrte geistesabwesend an
die Decke. Der Pilot Neumann kaute langsam und vorsich-
tig. Juramotos Gesicht drückte wie immer nichts als Höflich-
keit aus. Melchiad spielte nervös mit einem Löffel. Auch der
Kommandant konnte seine Unruhe nicht verbergen.
Rodin nahm ein Kännchen und bediente sich umständlich.
„Ich glaube, es ist meine Pflicht, Sie über eine nicht gerade
erfreuliche Angelegenheit zu informieren.“
„Handelt es sich um Schmidt?“ Christian MacKent versuchte
seinen Stuhl näher an den Platz des Majors heranzurücken.
„Allerdings. Es ist unwiderlegbar bewiesen, daß sich Michael
Schmidt nicht das Leben genommen hat, sondern daß er
ermordet worden ist!“
Melchiad rutschte der LöPEel aus den Fingern, er fiel auf die
Tischplatte. Frau Santos preßte die Hände ineinander, daß
die Knöchel blau anliefen. Die Funktechnikerin wurde
kreidebleich. Felix Lange schaute den Detektiv erwartungs-
voll an. Okede Juramoto zuckte unmerklich mit den Schul-
tern. MacKent beugte sich vor, als wolle er Rodin noch bes-
ser sehen. Hugo Neumann kaute noch immer. Glazow
streckte angriffslustig sein Kinn vor.
„Das ist doch wohl nicht möglich. . .“ Melchiad war so auf-
gewühlt, daß ihm die Stimme versagte.
„Ist das ganz sicher?“ Entsetzen und Schmerz schnürten Gla-
zow die Kehle zu.
„Vollkommen sicher, Kommandant.“
„Wie können Sie so etwas behaupten? Wir sind doch hier
nicht irgendwelche . . .“ MacKent versuchte in den Gesichtern
der Anwesenden Zustimmung zu finden. Am liebsten hätte er
tausend Fragen zugleich gestellt. „Haben Sie überhaupt Be-
weise?“
„Sogar eindeutige. Schmidt wurde von zwei Geschossen ge-
troffen. Da bereits das erste den Skaphander durchschlug,

136
muß er augenblicklich tot gewesen sein. In wenigen Zehntel-
sekunden traten eine explosive Dekompression und eine
blitzartige Hypoxie ein. Wie konnte er da noch ein zweites
Mal den Abzug drücken?“
In der Stille, die sich nach diesen Worten im Speisesaal aus-
breitete, bewirkte schon das leise Knacken des Zwiebacks,
den sich der Pilot zurechtbrach, daß Fräulein Dario vor
Schreck zusammenzuckte.
„Sie haben eigentlich recht“, ließ sich Neumann schließlich
als erster vernehmen, “mich wundert nur, wieso wir nicht
selber darauf gekommen sind.“
„Wer sollte denn auf eine so absurde Idee kommen?“ Inge-
nieur Melchiad knetete ein Stückchen Brot zu einer Kugel.
„Schon ein Selbstmord war ja mehr als . . . Und ietzt sogar
ein Mord!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn es noch
auf der Erde passiert wäre . . . Aber auf dem Mond?“
Lange schaute den Betriebsingenieur mit liebenswürdigem
Lächeln an. „Wenn Sie bereit sind, einen Mord auf der Erde
zuzulassen, warum dann nicht auf dem Mond? Die Menschen
und die Beziehungen zwischen ihnen bleiben doch überall im
Weltraum die gleichen. Weder auf dem Mond noch auf
einem anderen Planeten ändert sich der Mensch.“
„Aber Professor!“ platzte Frau Doktor Santos ärgerlich da—
zwischen.
„Wir wissen doch alle, daß physiologische Äußerungen . . .“
„Ich glaube nicht, daß die theoretische Lösung dieser Fragen
jetzt besonders dringlich ist“, unterbrach sie der Komman-
dant mit müder Stimme.
Rodin fühlte Mitleid in sich hochsteigen. Der Mord inner-
halb des Mondstützpunktes bedeutete zweifellos für Glazow
das Ende seiner kosmischen Karriere. Selbst wenn alle be-
teuerten, ihn träfe nicht die Spur einer Schuld, würde der
Kommandant sagen: „Ich scheide aus.“ Er würde seine Stel-
lung scheinbar ruhig verlassen. Aber wer wußte, ob in seinem
Inneren nicht Verbitterung zurückblieb? Auch heute noch

137
konnte ein schicksalhafter Zufall einen Menschen aus seiner
Bahn werfen. Wie mochte Glazow zumute sein?
„Wir sollten lieber über die Mitteilung sprechen, die uns der
Major gemacht hat“, erinnerte der Kommandant.
„Wann sind Sie darauf gekommen, daß es sich um einen
Mord handelt?“ MacKent brannte geradezu vor Neugier.
Rodin senkte den Blick, er spürte einen bitteren Geschmack
auf der Zunge. „Das haben wir schon auf der Erde fest-
gestellt.“
„Sie haben uns also die ganze Zeit über getäuscht und be-
trogen!“ Melchiad drückte die Brotkugel zu einem dünnen
Plätzchen zusammen.
„Wie stellen Sie sich die Arbeit eines Kriminalisten eigentlich
vor?“ Doktor Holberg mischte sich aufgebracht ein. „Ein
Detektiv kann doch nicht alles an die große Glocke hän-
gen!“
Der Ingenieur holte tief Luft. Auf seiner Stirn trat eine dicke
Ader hervor.
„Schlangenzähne und scharfe Worte heilen nicht.“ Juramoto
versuchte die Wogen wieder zu glätten.
„Und überflüssige Worte hemmen nur!“ Glazow lehnte sich
auf seinem Stuhl zurück. „Es geht um eine ernste Sache.
Solche Debatten führen zu nichts. Ich kann verstehen, daß
uns der Major nicht sofort alles anvertraut hat. Aber viel-
leicht will er uns jetzt noch etwas sagen.“
„Im Augenblick möchte ich viel lieber etwas von Ihnen hören.
Sie müssen mir helfen, Licht in den Fall Schmidt zu brin-
gen.“
„. „den Fall Schmidt“, wiederholte der Astronom Lange
tonlos.
„Sie haben doch bestimmt eine Theorie, nicht wahr?“ Mac-
Kent wurde wieder aggressiv.
„Ich habe keine Theorie. Uns sind nur einige Tatsachen be-
kannt. Aber das ist besser als umgekehrt.“
„Was sind das für Tatsachen?“

138
„Erstens: Schmidt kann nicht Selbstmord verübt haben. Die
Auswirkungen des hiesigen Klimas auf den ungeschützten
Organismus schließen das aus. Kann er das Opfer eines Un-
falls geworden sein? Auch das ist unreal. Wer sollte zufällig
zweimal auf ihn geschossen und unglücklicherweise beide
Male getroffen haben? Er muß ermordet worden sein! Ich
sehe keine dritte Möglichkeit, und ich nehme an, Sie ebenfalls
nicht. Zweitens . . .“ Rodin machte eine Pause und überlegte.
„Zur Tatzeit gab es hier außer Ihnen weit und breit keinen
Menschen. Es tut mir leid — aber wir sitzen jetzt mit einem
Mörder am Tisch, denn einer von Ihnen muß der Mörder
sein!“
Der Major hatte ruhig gesprochen, ohne die Stimme zu
heben. Aber seine Worte hinterließen eine bedrückende
Stille. Melchiad nahm wieder den Löffel zur Hand und ließ
ihn wie wild zwischen den Fingern tanzen. MacKent starrte
einen nach dem anderen forschend an, als wolle er auf diese
Weise den Mörder herausfinden.
"Der Pilot, der die ganze Zeit über mit seinem Frühstück be-
schäftigt gewesen war, wischte sich die Lippen ab und wandte
sich an Rodin. „Alles, was Sie sagten, Major, ist logisch und
einleuchtend. Einer von uns muß Schmidt vorsätzlich erschos-
sen haben. Aber wie soll er das gemacht haben? Zwei, höch-
stens drei Minuten nach dem Abschuß der Leuchtkugel, bei
dem Schmidt noch am Leben gewesen sein muß, waren wir
alle vor dem Eingang versammelt. Der Weg vom Radiotele-
skop bis zum Hauptgebäude dauert zehn, wahrscheinlich so-
gar fünfzehn Minuten. Es darf Sie also nicht verwundern,
daß wir über die zwei Löcher im Skaphande’r kaum nachge-
dacht haben. Wer sollte denn einen Mord vermuten? Und
wie hat es der Betreffende fertiggebracht, an zwei Orten zu
gleicher Zeit zu sein? Das soll keine Frage sein, das ist nur
eine Überlegung von mir."
„Ich verstehe. Wenn ich auf Ihre Überlegung eine Antwort
wüßte, dann brauchten wir jetzt nicht zu diskutieren. Ich

139
würde eine Rakete mit drei freien Plätzen anfordern, und der
Doktor könnte morgen angeln gehen.“
„Vielleicht ist jemand wahnsinnig schnell gelaufen“, meinte
MacKent erregt. „Möglicherweise kürzte er die Serpentinen
ab und sprang den Hang hinunter. Was meinen Sie, Major,
könnte man es auf diese Weise in drei Minuten schaffen?“
„Warum nicht?“
„Etwas stimmt dabei aber trotzdem nicht!“ Alle Köpfe
wandten sich dem Astronomen Lange zu. „Der Major hat in
den bisherigen Gesprächen festgestellt, wo jeder von uns in
der fraglichen Zeit gewesen ist. Und jeder hat natürlich ein
Alibi.“
„Woher wissen Sie denn das?“ Der Biologe beobachtete
Lange aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen.
„Wenn wir kein Alibi hätten, würde der Major nicht lange
fackeln. Er wüßte, wer der Mörder ist, und ich zweifle nicht
daran, daß er ihn auch überführen würde.“
Acht Augenpaare richteten sich fragend auf Rodin.
„Es ist so. Jeder von Ihnen hat ein solides Alibi.“
„Ein seltsamer Fall!“ Glazow schüttelte kaum merklich den
Kopf. „Schwer zu glauben, daß einer von uns... Gibt es
wirklich keine andere Möglichkeit? Vielleicht war es doch
kein Mord!“
„Was soll es sonst sein?]emand hat vorsätzlich auf den Funk-
techniker geschossen l“ erwiderte Doktor Holberg hart.
Rodin spürte, daß er rot wurde und daß ihm der Schweiß
auf die Stirn trat. „Oder ist das kein Mord?“
„Unter diesen Umständen gewiß.“ Glazow sprach langsam.
Er machte den' Eindruck, als suche er nach dem berühmten
Strohhalm, an dem er sich festhalten könne. „Es klingt viel—
leicht abwegig, aber könnte der Skaphander nicht von Me-
teoriten durchschlagen worden sein?“
„Von Meteoriten?“ fragte Lange ungläubig. „In welcher
Größe?“
„Von der Größe einer Leuchtkugel.“

I40
'
„Ein solcher Meteorit könnte einen Menschen auf dem Mond
einmal in tausend bis zehntausend Jahren treffen. Das wäre
ansich schon ein großer Zufall. Aber zwei Einschläge zu
gleicher Zeit und so unmittelbar nebeneinander? Diese
Wahrscheinlichkeit ist so gering, daß sie sich in normalen
Zahlen gar nicht ausdrücken läßt. Außerdem muß man sich
vor Augen führen, welche Spuren der Einschlag eines grö-
ßeren Meteoriten hinterlassen würde. Wir haben keine Zeit
für lange Rechenexempel, aber die beim Aufschlag frei wer-
dende Energie dürfte etwa der eines Zugzusammenstoßes
entsprechen. Praktisch bedeutet das, daß Schmidt verdampft
wäre und daß wir an jener Stelle einen kleinen Krater vor-
gefunden hätten.“
„Wenn aber. . .“ Neumann wollte eine weitere Möglichkeit
andeuten.
Da griff Rodin ein. „Ich glaube, all diese Spekulationen sind
zwecklos. Am Tatort wurden drei leere Patronenhülsen ge-
funden, deren Herkunft man weder kleinen noch großen
Meteoriten zuschreiben kann. Es war ein Mord, daran be-
steht kein Zweifel.“
„Wer soll ihn denn umgebracht haben, wenn wir alle wo-
anders waren?“ opponierte MacKent.
„Das wird die weitere Untersuchung zeigen.“
„Sind Sie sicher, daß Sie den Täter überführen?“
„Absolut.“
Bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Versteckte Blicke
tasteten sich verlegen und mißtrauisch von einem zum an-
dern. Argwohn stahl sich in die Herzen der Menschen und
begann Barrieren aufzurichten. Immer wieder fragten sie
sich: Wer? Wie? Warum? Wer?
Rodin gab dem Doktor ein Zeichen zum Aufbruch. Holberg
bemerkte es nicht. Er war offensichtlich zufrieden, daß nun
die Offensive begonnen hatte. Und hatte er nicht recht da-
mit? Die geringste Kleinigkeit mußte jetzt in den Augen der
Zeugen neue Bedeutung gewinnen. Einzelheiten, die in Ver-

I41
gessenheit geraten waren, würden in der Erinnerung auf-
tauchen. Vieles davon mochte belanglos sein. Aber vielleicht
fanden sich Anhaltspunkte, die in eine bestimmte Richtung
wiesen.
Neumann erhob sich, nahm sein Tablett und wandte sich an
Glazow: „Ich werde jetzt nach dem defekten Motor sehen.“
Die Spannung verflog.
Felix Lange schaute auf die Uhr. Es war neun Uhr fünfzehn.
„Das hat uns eigentlich gar nicht lange aufgehalten.“
„Dem Ertrinkenden wird sogar der Augenblick zur Ewig-
keit“, fügte Okede Juramoto hinzu.

Ein angesägter Ast bält nicht

„Nun?“ Der Major hob fragend die Brauen.


Holberg schaute verschwörerisch zur verschlossenen Tür.
„Nichts. Und Sie?“
„Ebenfalls nichts.“
„Dabei hatte sich die Situation so schön angelassen. Aber
was hilft’s? Alle reagierten genau so, wie man es unter nor-
malen Umständen erwartet hätte. Mir fiel nur auf. . .“ Der
Doktor verstummte.
„. . . daß Fräulein Dario kein einziges Wort sagte. Sie stand
Schmidt eben näher als alle anderen. Wir dürfen uns nicht
wundern, wenn sein Tod sie stärker berührt.“
„Sie haben recht. Aber wie soll es jetzt weitergehen, Major?
Ich dachte zuerst, Sie würden einen nach den anderen auf-
fordern, hierherzukommen und alles zu erzählen. Aber dann
wurde mir bewußt, daß sie bestimmt schnell von Selbst kom-
men werden, wenn ihnen irgend etwas einfällt.“
Es klopfte. Auf Rodins Aufforderung trat Glazow ein.
„Ich komme wegen Schmidt“, sagte er, kaum daß er im Ses-
sel Platz genommen hatte. „Mir fiel ein, daß Sie wahrschein-

142
lich neue Informationen brauchen. Fragen Sie ohne Um-
schweife!“ Er schien in den wenigen Minuten, die seit dem
Frühstück vergangen waren, um viele Jahre gealtert. Die
Falten auf seiner Stirn waren tiefer geworden, seine Augen
hatten einen unsäglich müden Ausdruck angenommen. „Ich
suche ständig nach einer Erklärung für Schmidts Tod,
ohne. . . ohne. . .“
Er fand kein geeignetes Wort.
„Sie meinen, ohne einen Mörder im Kreise Ihrer Mitarbeiter
vermuten zu können“, half ihm der Major. „Ich verstehe Sie
sehr gut, dennoch können Sie uns vielleicht helfen. Wir wer-
den viele Fragen an Sie richten. Vielleicht ist es aber besser,
wenn ich Ihnen zuerst sage, was wir bisher festgestellt haben.
Möglicherweise finden Sie eine Lücke, die Sie ausfüllen kön-
nen.“
Glazow nickte schweigend.
„Einwandfrei erwiesen ist, daß Schmidt ermordet wurde und
daß der Mörder unter den restlichen acht Besatzungsmitglie-
dern zu suchen ist. Es scheint -— von unserem Standpunkt
aus —, daß der Täter mindestens zwei Fehler begangen hat.“
„Sie denken an die beiden Treffer, von denen jeder tödlich
war?“ riet der Kommandant ohne echte Anteilnahme.
„Das war ein Fehler in der technischen Durchführung des
Verbrechens. Aber es gibt noch einen Fehler psychologischer
Natur. Schmidt war ein denkbar ungeeigneter Selbstmord-
kandidat. Deshalb läßt mir die Frage keine Ruhe, warum ein
intelligenter Mörder auf so naive Weise einen Selbstmord
inszenierte? Dieser Widerspruch sticht ja geradezu ins Auge.
Vielleicht nehmen wir auch nur irrtümlich an, daß ein Selbst-
mord vorgetäuscht werden sollte, weil eine Reihe von Zu-
fallserscheinungen diesen Eindruck erweckte.“
Glazow beugte sich vor. „Sie meinen, der Plan des Mörders
könne durch einen unvorhergesehenen Umstand gestört wor-
den sein?“
„So daß wir ein ganz anderes Bild sehen, als wir sehen soll-

I45
ten“, ergänzte Holberg. „Ein Bild, über das vielleicht der
Urheber selbst gestaunt hat.“
„Versuchen wir mal, ein Ereignis zu finden, mit dem der
Mörder nicht rechnen konnte, welches die Situation ver-
änderte“, schlug Rodin vor. „Nehmen wir an, Schmidt sei zu
einem Zeitpunkt getötet worden, für den einer von Ihnen
kein Alibi gehabt hätte. Konnte der Mörder vorausberech-
nen, wo die einzelnen Besatzungsmitglieder zu einer be-
stimmten Zeit sein würden?“
„Zum Zeitpunkt von Schmidts Tod? Ja, zwar nur annähernd,
aber im Prinzip konnte er das. Nach dem Arbeitsprogramm,
das jeden Tag ausgehängt und im allgemeinen auch einge-
halten wird. Bis auf bestimmte Ausnahmen, natürlich.“
„Kam es am Mordtag zu einer solchen Ausnahme? War
jemand woanders, als er eigentlich sein sollte?“
„Ja, Melchiad“, erwiderte Glazow.
„Melchiad, ganz recht! Wie hätte denn die Situation aus-
gesehen, wenn alles nach dem Arbeitsprogramm verlaufen
wäre? Der Alarm wurde um zehn Uhr neunundfünfzig aus-
gelöst. Alle hätten ein Alibi wie jetzt — nur der Betriebs-
ingenieur nicht. Der wäre zehn oder fünfzehn Minuten später
angerannt gekommen. Gegebenenfalls hätten Sie ihn direkt
bei Schmidts Leichnam angetroffen. Warum? Weil er zu die-
ser Zeit die Sonnenbatterien in nächster Nähe des Radio-
teleskops kontrollieren sollte.“
Der Kommandant befeuchtete die trockenen Lippen mit der
Zunge. „Das ist richtig“, räumte er ein.
„Wenn alles nach dem Arbeitsprogramm verlaufen wäre,
hätten Sie die Wahl gehabt, entweder auf Selbstmord oder
auf Mord zu schließen. Wer hätte einen Grund zum Morden
gehabt? Melchiadl Aus Eifersucht, denn Schmidt hatte sei-
ner Verlobten den Hof gemacht. Wer hätte dabei als einziger
kein Alibi gehabt? Melchiad! Hätten Sie unter solchen Um-
ständen auch so felsenfest auf einen Selbstmord geschlossen?“
„Schwerlic .“

I44
„Und der Mörder hätte sich ins Fäustchen gelacht!“ rief der
Doktor.
„Es sei denn, daß es Melchiad tatsächlich gewesen wäre“,
bemerkte der Kriminalist.
„Das ist doch wohl nicht möglich“, wandte der Kommandant
ein.
Rodin lächelte. „Warum nicht? Es hat schon Fälle gegeben,
daß der wirkliche Täter mit Hilfe künstlicher Indizien, deren
Wert durch die Untersuchung jedoch bald entkräftet wurde,
den Verdacht zuerst auf sich lenkte. Er rechnete damit, daß
er dann vor weiteren Nachforschungen sicher sei. Wenn nun
meine Hypothese stimmt, dann hatte sich der Mörder tat-
sächlich einen raffinierten Plan ausgedacht, aber durch die
Ironie des Schicksals sägte er selbst den Ast ab, auf dem er
saß. Er beschädigte das Fernsehsystem, um vor einer _zufäl-
ligen Beobachtung sicher zu sein, und vergaß dabei, daß aus-
gerechnet Melchiad das Kabel reparieren mußte. Deshalb
hatten wir plötzlich einen Mord ohne Mörder, ja überhaupt
ohne einen Verdächtigen.“
„Ein richtiges Labyrinth.“
„In gewissem Sinne schon“, stimmte der Major zu. „Ein
Mord, den niemand verübt haben kann, weil das Alibi jedes
einzelnen von den anderen bestätigt oder sogar durch Auf—
zeichnungen von Geräten belegt wurde. Deshalb scheint mir,
“daß wir irgend etwas aus falscher Sicht betrachten. Jemand
von Ihnen hat bestimmt den Schlüssel, der uns die richtige
Blickrichtung erschließen könnte.“
Pawel Glazow überlegte einige Minuten lang äußerst an-
gestrengt.
„Ich wüßte wirklich nicht, womit ich . . .“‚ sagte er schließlich
müde.
„Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Sie selbst
sich der Bedeutung einiger Umstände noch nicht bewußt
sind.“ Der Psychologe versuchte, den Kommandanten aus sei-
ner Lethargie Zu reißen und zum Sprechen zu bewegen. „Am

10 Vcsely. Verbrechen I45


besten, Sie erzählen uns einfach alles, was irgendwie aus dem
normalen Rahmen fiel.“
„Ich habe Ihnen wirklich schon alles erzählt. Wenn ich etwas
vergessen habe, dann könnten das nur völlig belanglose
Dinge sein, die mit der Sache nicht das geringste zu tun
habenf‘
„Zum Beispiel?“
„Nun, daß damals alle Augenblicke Melchiad bei uns auf-
tauchte und an der Bildschirmwand etwas zu tun hatte. Er
fragte sogar einmal, ob er nicht störe. Oder daß ich auch mit
Frau Doktor Santos gesprochen habe.“
„Persönlich?“
„Nein, telefonisch. Ich rief sie kurz nach zehn an, weil ich in
ihren Aufzeichnungen etwas nicht lesen konnte. Sie hat näm-
lich eine fürchterliche Schrift. Ansonsten habe ich Ihnen über
diesen Vormittag wirklich jede Kleinigkeit berichtet.“
„Und darüber hinaus?“
„Wie meinen Sie das?“
„Vielleicht möchten Sie die Einschätzung der Besatzungs-
mitglieder noch ergänzen oder uns auf gewisse Vorkomm-
nisse in der Vergangenheit hinweisen.“
„Ja, es gibt eine Sache, allerdings spreche ich darüber nicht
gern“, gestand Glazow verlegen. „Ich verschwieg Ihnen, daß
MacKent krankhaft neugierig ist, daß er nach den unmög-
lichsten Dingen fragt, daß er alles fotografiert und daß er
sogar — spioniert. Es ist mir ausgesprochen peinlich, aber ich
überraschte ihn einmal, als er an der Tür von Schmidts Zim-
mer horchte.“ Der Kommandant war bei dieser Schilderung
verlegen geworden.
„Erinnern Sie sich noch, wann das war?“
„Am Mittwochnachmittag. Wie ich schon sagte, krankhafte
Neugierde.“
„Wenn Sie gestatten...“ Doktor Holberg richtete sich auf,
um damit anzudeuten, daß er etwas Bedeutsames zu sagen
habe. „Krankhafte Neugierde ist eigentlich ein Ausdruck be-

I46
wußter geistiger Aufnahmebereitschaft. Das, was wir ge-
meinhin als Neugierde bezeichnen, kann durch zweierlei Im-
pulse geweckt werden. Entweder erregt etwas Unerwartetes
Ihre Aufmerksamkeit, oder Sie lenken Ihr Augenmerk von
vornherein in eine bestimmte Richtung. Das ist doch klar,
nicht wahr?“
Glazow schüttelte verlegen den Kopf.
„Stellen Sie sich vor, Sie gingen im Mondgelände spazieren
und hörten plötzlich ein eigentümliches Geräusch“, forderte
der Arzt. „Was würden Sie tun? Sie würden natürlich nach-
sehen, woher das kommt.“
„Nein“, sagte der Kommandant entschieden.
„Warum denn nicht?“
„Weil sich auf dem Mond der Schall nicht ausbreitet.“
Holberg biß sich auf die Lippen. „Entschuldigen Sie bitte!
Das war ein dummes Beispiel. Man wird eben alt. Versuchen
wir es einmal anders! Nehmen wir an, Sie würden auf Ihrem
Spaziergang einen violetten Lichtschein entdecken und woll-
ten feststellen, worauf er zurückzuführen ist. Diese Art der
Neugierde wäre durch einen unerwarteten Impuls erregt
worden.
Nun ein anderes Beispiel: Ich sah hier verschiedene Musik-
instrumente. Nehmen wir an, Sie würden plötzlich Lust ver-
spüren, das Capriccio italiano zu spielen. Im Klubzimmer
stellten Sie aber fest, daß sich schon ein anderer die Noten
ausgeliehen hat. Wenn Sie nun im Korridor an jeder Tür
stehenblieben und horchten, wer das Capriccio spielt, dann
wäre Ihre Aufmerksamkeit von vornherein auf etwas ganz
Bestimmtes gerichtet. Wenn jemand Sie in dieser Weise lau-
schend vor einer Tür anträfe, dürfte er behaupten, Sie seien
krankhaft neugierig?“
„Ich bezweifle stark, daß ich an einer Tür lauschen würde",
hielt Glazow mit deutlichem Widerwillen entgegen.
„Der Doktor meint das natürlich nur bildlich“, bemerkte
Rodin mit einem dünnen Lächeln. „Er wollte nur sagen, daß

I47
MacKent wahrscheinlich bestimmte besondere Interessen hat.
Wissen Sie darüber etwas Näheres?“
„Er interessiert sich für alles mögliche. Wenn die Theorie des
Doktors . . .“
„Das ist keine Theorie!“ unterbrach ihn der Arzt gereizt. „Ich
kann Ihnen bis ins kleinste . . .“
„Aber nicht jetzt“, schlug der Major hastig vor, „vielleicht
wollte MacKent etwas auskundschaften, und er wußte nicht,
wie er es anstellen sollte.“
Der Kommandant verzog nur skeptisch die Lippen, aber
Holberg griff diesen Gedanken eifrig auf.
„Vielleicht hat er die vertrauliche Aufgabe beziehungsweise
den geheimen Auftrag, etwas in Erfahrung zu bringen, das
geheim bleiben soll. Hier gibt es doch genügend Einrichtun-
gen, für die sich gewisse Kreise bestimmt interessieren.
Könnte hinter dem Fall Schmidt nicht wissenschaftliche oder
politische Spionage stecken?“
„Das halte ich für ausgeschlossen! An diesem Turnus sind
zwar Gäste beteiligt, aber es wurden nur bekannte und ge-
achtete Wissenschaftler ausgewählt, die über einen solchen
Verdacht erhaben sind.“
„Trotzdem hat einer von ihnen einen Menschen ermordet“,
entgegnete der Arzt hart. Seine Heftigkeit tat ihm sogleich
leid, als er sah, wie Glazow in sich zusammensackte.
„Könnte es nicht sein, daß der richtige Lange irgendwo in
Paris sitzt und der tatsächliche Juramoto in Honolulu? Daß
MacKent gar nicht MacKent ist?“ fragte Rodin leise. „Wäre
es nicht möglich, daß die Personen ausgewechselt wurden,
daß anstelle des Astronomen oder des Biologen jemand ein-
geschmuggelt wurde? Oder ist das ausgeschlossen?“
Die Nervosität und Verbitterung des Kommandanten wuch-
sen zusehends. „Ich bitte Sie! Das ist doch reine Phantasie!
Unsere Leute kennen sich als Wissenschaftler von früher, von
internationalen Konferenzen und Symposien. Das ist ausge-
schlossen!“

148
„Der Mörder muß aber einen Grund gehabt haben.“ Doktor
Holberg sagte das mehr für sich selbst. „Grundlos mordet
doch niemand. Zwangsvorstellungen oder Geisteskrankhei-
ten kommen auch nicht in Frage. Deshalb muß es einen trif-
tigen Grund geben. Wir müssen ihn entdecken! Wem nützte
Schmidts Tod, wen befreite er von Angst oder Sorge? Wollte
sich jemand eines unbequemen Zeugen entledigen? Was
wußte Schmidt, wen hätte er kompromittieren können? Ha-
ben Sie nicht wenigstens einen Anhaltspunkt dafür?“
„Es tut mir leid“, sagte Glazow, „ich habe keine Ahnung.“
„Dieses Verbrechen war zweifellos geplant und berechnet.
Es ist das Ergebnis sorgfältiger Kombination und scharfer
Logik. Natürlich würde die Beantwortung der Frage nach
dem Warum manches klären, aber ich verlasse mich mehr
auf die Klärung des Wie“, stellte Rodin fest.
„Warum?“ fragte Holberg interessiert.
„Weil die menschlichen Beziehungen immer viel komplizier-
ter sind als die Beziehungen zwischen Raum und Zeit. Wenn
wir wissen, welche Beziehung zwischen der Entfernung
Radioteleskop—Hauptgebäude und der Zeit vom Aufsteigen
der Leuchtkugel bis zum Eintreffen aller vor dem Eingang
besteht, dann wissen wir auch, wer diese bedauerliche Tat
begangen hat.“
„Vorläufig können Sie niemanden ausschließen“, brachte
Glazow mühsam hervor, und es klang konstatierend und fra-
gend zugleich.
„Nein, niemanden, dazu ist die Situation zu unübersicht-
lich.“
„Auch mich nicht?“
„Auch Sie nicht.“
„Ich verstehe. Glauben Sie, daß ich Ihnen noch irgendwie
nützlich sein kann?“
„Bestimmt, Sie sollten sich noch einmal alle Einzelheiten der
letzten Tage genau durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht
stoßen Sie dabei auf eine Kleinigkeit, die ein wertvolles

I49
Steinchen für unser großes Mosaik ist. Außerdem habe ich
eine Bitte: Ich brauche leihweise alle Signalpistolen, auch die
Reservepistolen, sofern Sie s'olche haben. Heften Sie bitte an
jede ein kleines Schildchen mit dem Namen des Besitzers.
Wir möchten alle ausprobieren.“
Die Anziehungskraft des Mondes ist sechsmal geringer als
die der Erde. Trotzdem entfernte sich Pawel Glazow mit
schweren Schritten.

Obne Liebt kein Schatten

In der halbgeöffneten Tür erschien das ruhige Gesicht des


Piloten Hugo Neumann. „Ich habe noch zu tun, deshalb
möchte ich dieses Verhör gern hinter mir haben.“ Ein freund-
liches Lächeln sollte diesen Worten die Schwere nehmen.
Der Major bot dem Piloten einen Stuhl an. „Ganz recht.
Acht Verdächtige, acht Kreuzverhöre.“
„Etwas Ähnliches haben Sie doch angedeutet. Es wird be-
stimmt einer nach dem anderen hier aufkreuzen.“
Holberg fuhr sich über das Kinn, als überlege er, ob er ein-
greifen solle oder nicht. „Der Major dachte nicht an Polizei-
verhöre.“
„Nein?“
„Bestimmt nicht. Was wir . . ., was er Zu ermitteln hatte, hat
er schon erfahren. Er weiß, was für Menschen die einzelnen
Besatzungsmitglieder sind, wo jeder in der kritischen Zeit
war und so weiter. Jetzt kommt es darauf an, daß jeder von
Ihnen noch einmal über alles nachdenkt, damit Sie uns Ein-
zelheiten berichten können, die bisher für belanglos gehalten
wurden. Jeder von Ihnen muß versuchen, uns zu helfen.“
„So habe ich es auch verstanden“, pflichtete Neumann bei,
„aber ich dachte, daß‘Sie vielleicht doch noch einige Fragen
hätten, nachdem jetzt die Karten auf dem Tisch liegen.“

Iso
„Im Augenblick nicht. Aber ich bin felsenfest davon über-
zeugt, daß irgendein Detail, eine Beobachtung oder eine
Wahrnehmung existiert, die uns auf den richtigen Weg füh-
ren könnte.“
Während der ganzen Zeit hatte der Detektiv den Arzt nicht
aus den Augen gelassen, weil es ganz so aussah, als wollte er
wieder zu einem längeren Vortrag ansetzen. Deshalb fuhr
Rodin schnell fort: „Das nehme ich nicht nur an, sondern
das weiß ich mit mathematischer Sicherheit. Aber wie soll
man diese Kleinigkeit aus der Fülle der täglichen Beobach-
tungen herausfinden?“
„Ich erinnere mich jetzt an ein Gespräch, das ich am Mitt-
woch oder am Donnerstag in der Zentrale mit Schmidt ge-
führt habe. Er war in irgendwelche Zahlen vertieft, die er
in sein Notizbuch eingetragen hatte. Ich fragte ihn etwas
ironisch, ob er sich aus Langeweile aufs Rätselraten verlegt
habe, aber er antwortete nur, „daß es wirklich zum Kopf-
zerbrechen sei. Dabei lachte er sonderbar und sah mich
geistesabwesend an.“
„Da war offensichtlich seine Fähigkeit gestört, die eigene
Aufmerksamkeit voll zu beherrschen, weil . . .“
„Ganz recht“, unterbrach der Major den Arzt.
Auf Neumanns Gesicht zeigte sich ein unmerkliches Lächeln,
und Rodin gewahrte in diesem Augenblick, daß dieser be-
dächtige, durch nichts zu erschütternde Mann gewiß auch
mancher Frau gefallen könnte, denn er strahlte Verläßlich-
keit und Sicherheit aus.
„Wissen Sie, was das für Zahlen waren?“ Der Detektiv
suchte Schmidts Notizbuch hervor.
„Da fragen Sie mich zuviel. Es tut mir leid, aber ich habe
keine Ahnung. Ich entsinne mich nur dunkel, daß es sich um
eine aufsteigende Zahlenreihe handelte.“
„Könnten es nicht Chiffren gewesen sein?“
„Dieser Gedanke ist mir auch gekommen, aber ich habe mich
nicht weiter damit beschäftigt.“

151
„Eventuell eine chiffrierte Mitteilung für die Erde?“
„Das wäre möglich. Er hörte mit dem Radioteleskop nicht
nur den Himmel ab, sondern fing häufig auch Signale von
Amateurstationen auf der Erde auf. Das machte er nebenbei,
um den Leuten eine Freude zu bereiten. Diese Funkamateure
sind auf Mondverbindungen ganz wild. Aber darüber haben
wir ja schon gesprochen.“
Rodin gab dem Piloten das Heft. Neumann blätterte darin
herum.
„Ja, das sind seine Notizen. Damals hätte ich nicht geglaubt,
daß er einmal so enden würde.“ Bei der Seite mit den Prim-
zahlen hielt Neumann an. „Ich möchte wetten, daß das die
Zahlen sind, die ihn damals so beschäftigt haben.“
„Sind Sie ganz sicher?“
„Beschwören kann ich es nicht. Aber wenn es diese nicht
waren, dann müßte es eine ganz ähnliche Zahlenreihe ge-
wCsen sein.“
„Darf ich nochmals auf den unglückseligen Sonnabend zu-
rückkommen?“ bat Rodin. „Sie gingen also vom Komman-
danten direkt zum Raketoplan?“
„Ja, direkt.“
„Haben Sie unterwegs wirklich niemanden gesehen?“
„Doch, ich habe jemanden gesehen.“
Gespannt beugte sich der Major zu Neumann vor. „Gestern
haben Sie doch behauptet, Sie hätten niemanden getroffen“,
sagte er vorwurfsvoll.
„Getroffen habe ich ja auch niemanden. Ich habe MacKent
im Treibhaus gesehen. Es sah so aus, als wollte er gerade
weggehen, denn er stand vor der Luftschleuse und schloß
den Helm.“
„Wie Spät war es da etwa?“ fragte Holberg.
Der Pilot überlegte einen Augenblick. „Als ich den Kom-
mandanten um zehn Uhr neunundvierzig verließ, hatte ich
schon den Skaphander an. Eine Minute brauchte ich in der
Luftschleuse, drei Minuten für den Weg — es könnte also

152
zehn Uhr dreiundfünfzig, höchstens zehn Uhr vierundfünfzig
gewesen sein.“
„Sonst haben Sie niemanden gesehen?“
„Nein, sonst niemanden. Ich ging am Treibhaus vorbei zum
Raketoplan.“
Kaum war die Tür hinter Neumann ins Schloß gefallen,
sprang der Doktor auf und lief erregt im Zimmer hin und
her. „Was meinen Sie, Major, könnte da nicht wirklich etwas
dran sein?“
„Woran?“
„An der Geschichte mit dem Radioteleskop. Nehmen wir
an, Schmidt hat auf eigene Faust mit der Erde korrespon-
diert. Er bekam vielleicht eine verschlüsselte vertrauliche
Mitteilung. Ich kenne mich da nicht aus, kann man denn
überhaupt unteilbare Zahlen als Kode verwenden?“
„Jede vereinbarte Ziffern- oder Zahlenreihe kann zum Chifl-
rieren einer Nachricht benutzt werden.“
„Das bedeutet, daß sich Schmidt mit Dingen beschäftigte,
von denen hier niemand etwas wußte und auch nichts wissen
sollte. Es kann sich nicht nur um ein harmloses Vergnügen,
um Verbindungen mit romantischen Funkamateuren gehan—
delt haben, denn die Sache machte Schmidt doch offensicht-
lich Sorgen. Er sagte ia zu Neumann, daß sie ihm Kopfzer-
brechen bereite, und er sah dabei geistesabwesend aus.
Könnte sein Tod nicht damit zusammenhängen?“
„Ausschließen können wir das nicht.“
„Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit“, spann
Holberg seinen Gedanken weiter. „Schmidt selbst hatte gar
keine Geheimverbindung, sondern er ist einer solchen Ver—
bindung auf die Spur gekommen. Die Zahlenreihe ist viel-
leicht eine geheime Nachricht, die er auffing und zu entschlüs-
seln versuchte. Deshalb wurde er als unbequemer Zeuge aus
dem Wege geräumt.“
„Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen“, gab Ro-
din zu.

155
„Außerdem sagen uns die Mitteilungen des Piloten noch et-
was anderes. Wenn diese Zahlen wirklich mit Schmidts Tod
zusammenhängen, dann hat Neumann mit dem Mord nichts
zu tun. Hätte er uns sonst auf die Zahlen besonders aufmerk-
sam gemacht?“
„Er kann uns auch absichtlich darauf hingewiesen haben, um
festzustellen, was wir schon darüber wissen.“
„Das ist ein hartes Brot!“ Der Arzt fuhr sich durch die schüt-
teren Haare. „Sowenig Spuren, und die meisten kann man
auch noch unterschiedlich auslegen. Ah, da kommt ein wei-
teres Opfer!“
Juramoto betrat mit entschuldigendem Lächeln das Zimmer.
„Ich werde Sie nicht lange aufhalten“, versprach er, als er
sich setzte. „Der Fluß trägt den Schlamm nur in eine Rich-
tung. Auch der Fluß der Zeit.“
Rodin schaute unwillkürlich auf die Uhr. „Ja, mit der Zeit
ist es tatsächlich schlecht bestellt, sie ist kurz bemessen. Bis
zur Ablösung der Expedition bleiben nur noch Stunden.“
„Bis zur Ablösung wollen Sie den Fall abgeschlossen ha-
ben?“
„Allerdings, denn auf der Erde könnte uns Ihr Fluß wirklich
allerlei Wichtiges wegschwemmen.“
„Da komme ich vielleicht doch noch zu meinen Forellen“,
sagte Holberg verträumt.
„Jede Blüte wendet ihr Gesicht der Sonne zu“, tröstete der
Selenologe den Arzt, der verlegen blinzelte. „Freuen Sie sich
schon auf die Rückkehr?“
„Natürlich! Allerdings unter der Voraussetzung, daß dieser
Fall aufgeklärt wird.“
„Vorläufig ist wohl noch kein Ende abzusehen. Das tut mir
leid. Ich habe über Ihre Worte nachgedacht, Major. Dabei
erinnerte ich mich an eine Kleinigkeit, der ich vorher über-
haupt keine Bedeutung beigemessen hatte. Im Interesse der
Vollständigkeit muß ich Ihnen noch sagen, daß ich am Sonn—
abend mit Schmidt kurz vor seinem Tode telefonisch gespro-

154
chen habe. Wahrscheinlich bin ich der letzte, der seine Stimme
gehört hat.“
„Tatsächlich? Das würde uns interessieren. Sie sagten tele-
fonisch?“
„Er rief mich per Radiophon an und fragte, ob Melchiad zu-
fällig bei mir sei. Der Ingenieur war nicht bei mir. Das ganze
Gespräch war sehr kurz.“
„War das lange vor elf Uhr?“
„Um zehn Uhr neunundvierzig.“
„Woher wissen Sie das so genau?“
„Ich habe es festgestellt. Damals habe ich nicht auf die Uhr
geschaut, aber ich weiß noch, daß ich unmittelbar danach
zum Seismographen hinuntergestiegen bin. Die Aufzeichnun-
gen bestätigen, daß ich ihn um zehn Uhr neunundvierzig kon—
trollierte.“
„War an Schmidts Frage etwas Besonderes?“
„Durchaus nicht.“
„Klang seine Stimme vielleicht anders als sonst?“
„Auch nicht.“
„Traten solche Nachfragen häufig auf?“
„Ab und zu, Major.“
„Hatte sich Schmidt schon mal bei ihnen telefonisch nach je-
mandem erkundigt?“
„Ich glaube nicht.“
„Waren aus Schmidts Frage Erregung, Eile, Sorge oder Angst
herauszuhören?“
„Soweit ich mich erinnere, nicht. Damals habe ich diesem Ge-
spräch allerdings keinerlei Bedeutung beigemessen, und des-
halb habe ich es auch schnell wieder vergessen. Trotzdem
bin ich überzeugt, daß in Schmidts Frage weder Erregung
noch Eile, noch Angst mitschwang.“
Major Rodin schien mit der Antwort zufrieden zu sein.
„Wir dürfen also feststellen, daß Schmidt Sie um zehn Uhr
neunundvierzig anrief und nach Melchiad fragte. Er war
allem Anschein nach keineswegs besonders erregt. Das ist

155
immerhin etwas. Wir freuen uns, daß Ihnen das eingefallen
ist, Professor. Vielleicht hilft es uns, ein besseres Bild von
den Ereignissen am Sonnabend zu bekommen.“
Juramoto erhob sich. „Auch ein einziger Blitz kann den Weg
des Wanderers erhellen. Möge Ihnen mein bescheidener Hin-
weis nützen.“
„Hatten Sie Beschwerden mit Ihrem Fuß?" fragte Rodin
noch, als sich Juramoto bereits zum Gehen anschickte.
„Nur eine Kleinigkeit“, antwortete der Selenologe abweh-
rend. „Es lohnt nicht, daß Sie Ihre geschätzte Aufmerksam-
keit darauf verschwenden, wenn auch Anteilnahme stärker
wärmt als die Frühlingssonne. Als wir am Sonnabend zum
Radioteleskop gelaufen sind, bin ich unglücklich aufgetreten
und habe mir den Knöchel verstaucht. Ich konnte nur noch
mit Mühe zurückhinken. Aber ietzt ist es wieder in Ordnung,
ich habe allen Grund zur Zufriedenheit.“
„Wenn wir das doch auch bald sagen könnten!“ seufzte der
Arzt. „Dieses Tappen und Tasten im dunkeln . . .“
„Wo Schatten ist, muß auch Licht sein“, sagte Juramoto beim
Abschied lachend. „Das sagten schon unsere Vorfahren. Und
je intensiver man sich mit den alten Sprichwörtern beschäf-
tigt, um so mehr Weisheiten entdeckt man.“

Die Unterschrift einer üblen Hand

„Kein Schatten ohne Licht“, wiederholte Holberg nachdenk-


lich. „Vom Standpunkt der Physik oder, genauer gesagt, der
Optik sehe ich darin nichts Entdeckenswertes. Es sei denn,
dahinter verbirgt sich wieder ein Doppelsinn. Aber wie soll
man den herausfinden?“
„Hat Sie das am ganzen Gespräch am meisten beeindruckt?“
„Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber es ist so. Auf
diese Weise hat er uns schon einmal etwas zu verstehen ge-

I56
geben, damals, als es um die Zeit ging, die man für die
Strecke vom Radioteleskop bis zum Hauptgebäude benötigt.
Vielleicht wollte er uns damit wieder auf etwas hinweisen,
was ihm klar zu sein scheint, während wir es nicht sehen oder
in seiner Bedeutung nicht erfassen. Darüber hinaus hat die
Aussage Juramotos über das Telefongespräch mit Schmidt
einen Gedanken von mir zunichte gemacht, der allerdings
ziemlich phantastisch war.“
„Ja, ich weiß.“ Rodin verschränkte die Hände im Nacken und
legte den Kopf zurück. „Ich habe auch überlegt, ob Schmidt
nicht früher getötet worden sei, als wir annahmen, und ob der
Zeitpunkt seines Todes durch einen technischen Trick oder
auf sonstige rätselhafte Weise eventuell so weit hinausgescho-
ben wurde, daß sich der Mörder dafür ein einwandfreies
Alibi besorgen konnte.“
„Genau das“, bestätigte der Doktor. „Aber jetzt ist ja von
dieser schönen Theorie kein Fädchen übriggeblieben.“
„Dieser Juramoto ist ein kluger Bursche“, bemerkte der
Major.
Der Arzt sah seinen Gefährten lange fragend an. „Meinen
Sie“, flüsterte er schließlich, „es müsse sich nicht alles so
verhalten haben, wie er es darstellte?“
„Warum müßte es sich so verhalten haben? Aber lassen wir
das.“ Der Kriminalist winkte entschieden ab. „Vermutungen
bringen uns nicht weiter, zuerst brauchen wir Fakten.“
„Einiges ist ja inzwischen wieder hinzugekommen: Jura-
motos Aussage über das Telefongespräch, Neumanns Hin-
weis auf die Sorgen, die sich Schmidt anscheinend wegen der
Zahlen gemacht hat, und Glazows Mitteilung über MacKents
krankhafte Neugierde. Aber verändern diese drei neuen In-
formationen das bisherige Bild? Vorläufig nicht. Es waren
erst drei von den acht Besatzungsmitgliedern hier, außerdem
haben wir die Untersuchung der Signalpistolen noch vor
uns. Glauben Sie, daß wir das ohne die Hilfe von Fachleuten
schaffen werden?“

157
„Es gibt hier ein gut eingerichtetes Labor für Mikro-Foto-
grafie. Aber ein bißchen Arbeit wird es uns natürlich
machen.“
Wieder unterbrach ein Klopfen das Gespräch. Der Astronom
Lange erschien, der Mann, der den Menschen zur kosmischen
Gottheit erheben wollte.
Es sei ihm nichts Neues eingefallen, sagte er, aber vielleicht
ergäbe sich das im Gespräch.
Rodin überlegte eine Weile. „Sie sind einer der letzten, die
mit Schmidt gesprochen haben. Wie Sie uns erzählten, ging
es in dem kurzen Wortwechsel vor der Luftschleuse um das
Sonnenrauschen. Können Sie sich nicht an Einzelheiten er-
innern?“
Der Astronom betrachtete den Detektiv abschätzend. „Sie
erregen meine Bewunderung, Major. Sie haben hier gewiß
schon Hunderte von Details gehört. Als wir uns unterhielten,
haben Sie sich keinerlei Notizen gemacht, und doch wieder-
holen Sie ietzt genau meine Worte. Darf ich fragen, ob Sie
unser Gespräch mitgeschnitten haben?“
„Nein, ich habe das im Gedächtnis behalten. Das ist aber
nichts Besonderes. Wieviel Teilfakten müssen Sie denn in
Ihrem Fach auswendig wissen?“
Lange zuckte mit den Schultern. „Das ist schwer zu sagen.
Zahlen, Formeln, Namen... Es geht wohl in die Zehn-
tausende.“
„Na, sehen Sie! Sie merken sich das viele Jahre. Ich dagegen
muß schlimmstenfalls einige hundert Angaben behalten und
lediglich für die Dauer der Untersuchung. Dann lösche ich sie
aus meinem Gedächtnis wie ein Schauspieler seine Rolle in
einem Stück, das nicht mehr gespielt wird.“
„Ich verstehe. Es ist überall nur eine Frage der Profession.
Aber Zurück zur Sache! Wir sprachen tatsächlich über das
Sonnenrauschen. Soweit ich mich erinnere, beklagte sich
Schmidt, daß es in den letzten Tagen angewachsen sei. Am
Donnerstag habe er noch die Funksprüche verschiedener

158
Amateurstationen aufgefangen, aber am Freitag sei der Emp-
fang schon erschwert gewesen.“
„Hatten Sie den Eindruck, daß ihn das sehr ärgerte?“
„Er war verständlicherweise nicht gerade begeistert, denn
unser Aufenthalt auf dem Mond neigt sich dem Ende zu.
Deshalb tat es ihm um jede Stunde leid, die er nicht genü-
gend nutzen konnte. Bedenken Sie bitte, die kosmischen
Fernverbindungen waren keine langweilige Beschäftigung für
ihn, sondern ein Abenteuer.“
Rodin nahm Schmidts Notizbuch zur Hand und blätterte
darin. „Mir gehen dauernd diese rätselhaften Zahlen durch
den Kopf.“
„Sie meinen diesen Code, diese Primzahlen?“
„Sind Sie davon überzeugt, daß es sich um einen Code han-
delt?“
„Das wäre zuviel gesagt. Ich halte es für möglich, vielmehr
sogar für wahrscheinlich. Aber ich schließe andere Möglich-
keiten nicht aus. Es könnte auch die Aufzeichnung irgend-
eines Versuches sein.“
Der Major hatte inzwischen die Seite mit den Zahlenreihen
gefunden, betrachtete sie lange und zuckte schließlich mit den
Schultern. „Wahrscheinlich werden wir den Schleier dieses
Geheimnisses nicht lüften können. Dabei wäre durchaus
denkbar, daß Schmidt an der Schwelle einer wichtigen Ent-
deckung stand. Es gibt zwar noch eine Reihe anderer Bemer-
kungen“, er blätterte einige Seiten weiter, „aber sie sagen uns
auch nichts. Hier sind beispielsweise die Namen einiger
Sterne verzeichnet, und einer davon ist unterstrichen: Alpha
Aquilae. Das gehört doch zu Ihrem Fachgebiet. Können Sie
sich vorstellen, warum er ihn unterstrichen hat?“
„Das weiß ich natürlich nicht. Ich kann Ihnen nur eine Ver-
mutung anbieten. Der Stern Alpha im Sternbild des Adlers
— Sie kennen ihn vielleicht unter dem Namen Altair — ist am
Sommerhimmel zu finden. Es ist der Hauptstern des Adlers
und gehört zum Spektraltyp A sieben. Da er in Richtung des

159
Mittelpunktes unserer Galaxis liegt, könnte er Schmidt als
Orientierungspunkt gedient haben, weil sein besonderes In-
teresse den Funkgeräuschen aus dem Zentrum unserer Milch-
straße galt. Aber das ist wirklich nur eine unverbindliche
Vermutung.“
„Ich verstehe.“ Rodin schaute erneut in das Notizbuch. „Hier
ist wieder das Datum vom Mittwoch unterstrichen, und
wenn ich richtig lese, dann heißt dieses Wort, das mit drei
Ausrufezeichen versehen ist, Sonne. Was könnte das be-
deuten?“
„Hier dürfte meine Vermutung der Wahrheit schon näher-
kommen. Am Mittwoch zeigte sich eine Gruppe von Sonnen-
flecken, mit deren Erscheinen bereits vorher gerechnet wor-
den war. Das ist für Funkverbindungen eine wichtige An-
gabe, weil das Sonnenrauschen, von dem wir sprachen, mit
der verstärkten Sonnenaktivität zusammenhängt. Und Son-
nenflecken gehören zu den äußeren Erscheinungen, die das
Auftreten aktiver Zentren begleiten.“
„Da aller guten Dinge drei sind, noch eine letzte Frage. Die
unterstrichene Bemerkung hier habe ich folgendermaßen ent-
ziffert: Sie rechnen, deshalb denken sie; die hohe Frequenz
wird vom Wasser verschlungen, normalerweise empfangen
wir keinen einzigen Ton.“
Unwillig und gereizt erwiderte der Astronom: „Das fällt
nicht mehr in mein Fach. Vielleicht weiß da Ihr Kollege als
Psychologe und Psychiater besser Bescheid.“
Holberg setzte zu einer längeren Erklärung an, aber Rodin
kam ihm im letzten Augenblick zuvor. „Wir werden uns noch
darüber unterhalten. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Er-
läuterungen. Man stößt manchmal auf Dinge, die einem völ-
lig fremd sind. Wenn ich so einen Blick in Ihre wissenschaft-
liche Küche werfe, fürchte ich, daß ich da höchstens Geschirr
spülen könnte.“
„Unsere Zeit ist für Polyhistoren nicht besonders günstig“,
sagte Lange’ nun wieder vergnügt. „Die Wissenschaft ist zu

160
sehr in die Breite und in die Tiefe gewachsen. Aber schließ—
lich ist es ja gerade die Arbeitsteilung, die ausgewogene Spe-
zialisierung, der wir es danken, daß wir den irdischen Kinder-
schuhen entwachsen sind und von der weiteren Eroberung
des Weltalls durch den Menschen sprechen können.“
„Ich habe über Ihre Theorie viel nachgedacht“, mischte sich
Doktor Holberg ein, und seine Worte klangen recht angriffs-
lustig.
„Und?“ fragte Lange kühl, fast feindselig. Er schien noch zu
überlegen, ob er den hingeworfenen Fehdehandschuh auf-
nehmen solle. „Sie haben sicher viele neue Gegenargumente
gefunden“, fügte er ironisch hinzu.
„Ich habe mich nur auf die alten besonnen. Aber wenn Sie
gestatten, möchte ich einiges klarstellen.“
Lange nickte schweigend.
„Ihrer Lehre zufolge ist der Mensch das einzige intelligente
Geschöpf . . .“
„Nein.“
„Verzeihen Sie, ich habe mich falsch ausgedrückt. Natürlich,
es gibt auch intelligente Affen. Der Mensch ist Ihrer Ansicht
nach also das einzige hochentwickelte vernunftbegabte Wesen
im Weltall. Daraus folgt seine Bestimmung, das All zu
durchdringen und schließlich zu beherrschen.“
„Das ist zwar eine mehr als vereinfachte Interpretation, aber
im Prinzip ist es so, wie Sie sagen.“
„Sie setzen offenbar voraus, daß der Mensch die Erde einmal
ganz verlassen wird, daß die Zivilisation dort untergeht.“
„Natürlich. Denn alles entwickelt sich, alles — ausgenommen
die Zeit und die Materie — hat einen Anfang und ein Ende.
Die Sonne hat zwar noch Wasserstoff für Milliarden von
Jahren, aber einmal werden sich auch diese Mengen erschöp-
fen, zum Beispiel besteht die Möglichkeit, daß sich die Kern-
reaktionen in die äußeren Schichten verlagern. Dann ver-
wandelt sich die Sonne in einen sich immer mehr ausdehnen-
den roten Riesen, und die Erde geht unter. Wir müssen sie

11 Vcscly, Verbrechen I6]


aber auch abschreiben, wenn aus der Sonne eine Nova oder
gar eine Supernova wird. Eine solche gigantische Explosion
würde die Erde zu einer interstellaren Staubwolke machen.
Ich könnte Ihnen noch mit anderen Theorien dienen, es gibt
eine ganze Reihe. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit stimmen sie
alle darin überein, daß das Leben im Sonnensystem entweder
durch Kälte oder durch Hitze untergehen wird. Auch die
Sterne sind eben nicht ewig.“
„Und der Mensch?“
„Der wird ewig lebenl Wenn die Erde untergeht, wird die
Menschheit schon unsere gesamte Galaxis besiedelt haben.“
„Ihrer Meinung nach ist das Leben also eine erstaunliche Be-
sonderheit, gewissermaßen eine einmalige, nicht wiederkeh-
rende Krankheit der Materie.“
Der Astronom warf dem Arzt einen tadelnden Blick zu.
„Nicht eine Krankheit der Materie, sondern ihre höchste
Form, wirklich einmalig und nicht wiederholbar.“
„Aber Sie widersprechen sich doch selbst!“ hielt ihm Hol-
berg entgegen. „Nehmen wir entsprechend Ihrer Theorie an,
die Entstehung hochorganisierten Lebens sei tatsächlich ein so
großer Zufall, daß er in unserer Galaxis nur einmal in Mil-
liarden von Jahren vorkommen kann.“
„Das können Sie unbesorgt voraussetzen, weil es durch
mathematische Analysen bestätigt ist.“
„Nehmen wir an, das stimmt. Andererseits prophezeien Sie
der Menschheit eine ewige Existenz . . .“
„Ewig nur in einer Richtung der Zeitachse.“
„Ich verstehe. Die Menschheit ist nicht im vollen Sinn des
Wortes ewig, weil sie erst entstanden ist. Aber sie entwickelt
sich und wird in Zukunft ewig bestehen. So meinen Sie es
doch, nicht wahr?“
„Genau so.“
„Wenn die Menschheit aber ewig lebt, werden unzählige
Male abermals Bedingungen auftreten, die das Entstehen
höherer Lebensformen ermöglichen, weil unendlich, geteilt

162
durch einige Milliarden, wiederum unendlich ergibt. Auch
nach Ihrer Auffassung können also im Verlauf vieler Milliar-
den von Jahren neue hochentwickelte Zivilisationen im Kos-
mos entstehen. Wie können Sie da als Wissenschaftler a
priori in Abrede stellen, daß uns eine dieser Zivilisationen
intellektuell überholen und in die Rolle irgendwelcher ga-
laktischer Menschenaffen verweisen könnte? Vielleicht teilt
sich gerade jetzt, Tausende von Lichtiahren entfernt, ein
Koazervat, dessen Nachkommen uns überholen werden, weil
sich die Teilung durch das zufällige Zusammenwirken vieler
günstiger Umstände so vollzieht, daß die Entwicklung dieser
künftigen intelligenten Geschöpfe millionenfach beschleunigt
wird. Warum glauben Sie, daß nach dem Menschen nicht
höher entwickelte intelligente Wesen kommen können mit
einem Hirn, das die Genialität des Menschen und die Prä-
zision von Elektronen-Rechenmaschinen in sich vereint? Alle
diese Fragen stelle ich, ohne den Rahmen Ihrer Theorie zu
verlassen.“
„Solche Wesen können nicht kommen!“ Lange unterstrich
diese Behauptung mit einem Schlag auf die Stuhllehne. „Nach
der Menschheit kann es, zumindest in unserer Galaxis, keine
höher entwickelten Wesen geben.“
„Warum nicht?“ Der Doktor beugte sich vor, als ob sich der
Schwimmer an seiner Angel bewegt hätte.
„Ausschließlichkeit des Lebens bedeutet auch Ausschließlich-
keit der Lebensbedingungen. Der Lebensbereich der Mensch-
heit wird niemals der Lebensbereich anderer Wesen sein —
mit Ausnahme der dem Menschen nützlichen Geschöpfe.“
„Ist das nicht ein bißchen drastisch?“ wandte Holberg erregt
ein. „Wer gibt uns das moralische Recht dazu? Sie behaupten
oder verkünden doch letztlich, daß der Mensch die Entwick-
lung aller andersgearteten Lebensformen hemmt, daß er
ihnen den Weg zu höheren Organisationsformen versperrt,
und zwar bewußt und vorsätzlich l“
„Warum sollte er das nicht? Sehen wir uns doch auf der Erde

163
um! Wir verfahren mit den Meeren, wie wir es für richtig
halten und wie es unseren Bedürfnissen entspricht. Oder
nicht?“
„Allerdings“, gab Holberg zögernd zu.
„Machen wir uns vielleicht Gedanken, ob das den Delphinen
gefällt?“
„Warum gerade den Delphinen?“ fragte Major Rodin vcr-
wundert.
„Doktor Holberg hat Biologie studiert und wird Ihnen be—
stätigen, daß das Hirn der Delphine bis zu einem gewissen
Grade dem menschlichen ähnelt. Ich frage also: Prüfen wir,
ob unsere Maßnahmen die weitere Entwicklung jener Wale
hemmen? Kümmert es uns, ob unsere Meereswirtschaft die
Delphine hindert, uns intellektuell zu überholen, eine organi-
sierte Gesellschaft denkender und schöpferischer Wesen zu
bilden, die nach und nach den ganzen Planeten beherrschen
könnte?“
Holberg biß sich auf die Lippen, jeder Muskel seines Ge-
sichtes bebte. „Und wenn sich nun Ihre Theorie bewahrhei-
tete, allerdings anders, als Sie sich das vorstellen?“
„Sprechen Sie nicht in Rätseln!“
„Sie behaupten, eine Zivilisation genüge für diese Galaxis.
Neben ihr könne sich keine andere entwickeln. Stellen Sie
sich aber für einen Augenblick vor, wir wären nicht die eine,
sondern die andere, die überflüssige Zivilisation, nicht die
hemmende, sondern die, die gehemmt wird l“
„Das ist ausgeschlossen!“ entgegnete Lange kalt und un-
wirsch.
„Warum? Sie können Ihre Ansichten nicht besser begründen
als ich meine Einwände.“
„Da irren Sie sich aber gewaltig, mein Herr!“ Der Astronom
lachte sarkastisch. „Ich gehe von Tatsachen aus. Die Wissen-
schaft kennt keinerlei Fakten, aus denen auf die Existenz
entwickelter Lebensformen, auf die Existenz denkender We-
sen in anderen Teilen des Weltalls geschlossen werden kann.

164
Aber worauf stützen Sie sich? Sie gehen lediglich von Ver-
mutungen aus!“
„Ich gehe davon aus, daß man auf Unwissenheit keine Theo-
rien aufbauen kann. Schon morgen können wir auf irgend-
einem Planeten auf Spuren stoßen, die nicht von uns .Men-
schen stammen, die aber beweisen, daß unser Sonnensystem
schon von denkenden Geschöpfen besucht worden ist, als wir
noch auf Bäumen herumkletterten und uns mit Tannenzapfen
bewarfen!“
„Sie sind doch Psychiater, nicht wahr?“ Aus den Augen des
Astronomen sprühten Haß und Verachtung. „Sie sollten mal
einen Kollegen bitten, Sie zu untersuchen. Ich glaube, er
fände in Ihnen ein lohnendes Objekt!“
„Das ist kein Argument!“ stammelte der Doktor mit ver-
sagender Stimme.
„Zum Argumentieren gehören zwei: einer, der darlegt, und
ein zweiter, der begreift.“
Dem Arzt verschlug es die Sprache, er ließ sich deprimiert in
den Sessel fallen.
Es klopfte. Die Rivalen wendeten ihre Blicke der Tür zu.
Frau Doktor Santos trat ein.
„Verzeihen Sie, daß ich Ihre wissenschaftliche Debatte störe,
aber...“
„Das war keine wissenschaftliche Debatte“, sagte Lange bis-
sig und ging steif zur Tür. „Wissenschaftlich bestimmt nicht.“
„Ganz meine Meinung!“ rief ihm Holberg nach, noch ehe der
Astronom die Tür zuschlagen konnte.
„Ich hoffe, Ihr Kreislauf ist in Ordnung.“ Mit geübtem Griff
umfaßte die Ärztin Holbergs Handgelenk. Der Doktor hob
den Arm wie ein gehorsamer Patient. „Natürlich“, fügte sie
hinzu, „sonst hätte man Sie ja nicht hierherkommen lassen.“
„Sonst hätte ich die letzte Viertelstunde auch kaum überlebt“,
konstatierte Holberg betrübt. „Ich Dummkopf! Wie konnte
ich mich nur so unnötig aufregen!“
Frau Santos hatte nach Rodins einladender Geste auf dem

165
Stuhl Platz genommen, auf dem vor kurzem noch der Astro-
nom gesessen hatte. „Wieso unnötig?“ fragte sie. „Wenn ich
der Assistent eines Detektivs wäre, dann würde ich solche
Debatten begrüßen. Sie lassen den Partner unbefangener
werden und . . . Aber das wissen Sie besser als ich.“
Holberg wurde wieder ruhig, die Anwesenheit der dunkel-
haarigen Ärztin schien auf ihn eine günstigere Wirkung aus-
zuüben. als Ataraktika. „Leider hatte dieses Gespräch nichts
mit der Sache zu tun, es bewegte sich am Rande der Wissen-
schaft, zwischen Irrationalismus und Mystik.“
Plötzlich wandte sich der Kriminalist an Ria Santos. „Hat
es solche erregten Debatten nicht schon früher gegeben"? Wis—
senschaftliche Streitgespräche zwischen Lange und Schmidt
oder anderen?“
„Schmidt war dafür nicht zu haben, aber zwischen Lange und
MacKent kam es zu solchen Gesprächen.“
„Stritten sie sich dabei?“
„So halb und halb. MacKent wollte Lange bestimmt nicht
reizen, aber seine neugierigen Fragen mußten dem Astrono-
men wie Provokationen vorkommen.“
„Von MacKents Neugierde höre ich heute schon das zweite-
mal.“
„Sie werden noch mehr darüber hören. Deswegen bin ich
nämlich gekommen. Gern erzähle ich es Ihnen nicht, weil ich
glaube, daß jeder genug mit seinen eigenen Fehlern und
Schwächen zu tun hat. Aber in der augenblicklichen Situa-
tion . . . Kurz und gut, MacKent hat in meiner Gegenwart die
Gesundheitsbogen der Besatzungsmitglieder durchgesehen.
Schmidts Karte schien ihn besonders zu interessieren.“
Rodin zog fragend die Brauen hoch.
„Es ist mir peinlich, darüber zu sprechen“, fuhr die Ärztin
fort, „aber ich möchte nicht gern etwas verschweigen. Daß
MacKent sehr neugierig ist, war allgemein bekannt, und
deshalb wurde ihm manches verziehen. In diesem Falle über-
stieg seine Neugierde jedoch das erträgliche Maß. Sie er—

I66
innern sich, daß die Dunkelkammer eine Verbindungstür
zum Laboratorium hat. Ich nahm gerade einen Film aus dem
Trockenschrank, als ich durch die halboffene Tür gewahrte,
daß MacKent den Raum betrat, die Kartei durchwühlte und
eine Karte besonders eingehend studierte. Ich weiß, ich hätte
hinübergehen müssen, aber ich brachte es nicht fertig, ich
habe mich so für ihn geschämt.“
„Das kann ich mir vorstellen. Hat er sich sonst noch für etwas
interessiert? Hat er sich Notizen gemacht?“
„Nein. Er legte die Karte wieder auf ihren Platz zurück und
schlich sich leise davon. Das ist alles.“
„Sind Sie ganz sicher, daß er gerade Schmidts Karte studiert
hat? Kann es nicht auch eine andere gewesen sein?“
„Es war bestimmt die Karte von Schmidt. Sie sind alpha-
betisch geordnet, und seine ist die letzte.“
„Wann ist das passiert?“
„Am Freitagnachmittag. Einen Tag vor Schmidts Tod.“
„Ich möchte Sie noch etwasxanderes fragen. Sahen Sie Mac-
Kent am Sonnabend, als Sie zum Treibhaus gingen?“
„MacKent? Nein.“
„Er war als erster nach dem Alarm hier vor dem Eingang.
Wenn Sie ihn nicht getroffen haben, muß er von anderswoher
gekommen sein.“
„Zweifellos.“
„Erinnern Sie sich zufällig, aus welcher Richtung er auf-
tauchte?“
„Nein. Als ich beim Hauptgebäude anlangte, stand er schon
vor dem Eingang. Ich wäre gar nicht darauf gekommen, mir
darüber Gedanken zu machen.“
Während der letzten Worte der Ärztin hatte Doktor Holberg
die Tür geöffnet, um nachzusehen, wer sich auf dem Korridor
durch laute Schritte bemerkbar machen wollte; „Ah, das ist
ja ein ganzes Arsenal!“
Der Major ging Glazow entgegen, der mit einem Armvoll
Signalpistolen eingetreten war.

167
„Das sind alle zweiundzwanzig, an jeder ist ein Zettelchen
angebracht. Wo wollen Sie sie ausprobieren?“ fragte der
Kommandant.
„Am besten draußen.“
In Anwesenheit der Ärztin, des Kommandanten und des
Doktors feuerte Rodin zweiundzwanzigmal auf die Mond-
oberfläche. Bei jedem Schuß blitzte es kurz auf, der Major
spürte den Rückschlag, aber es war nichts zu hören. Der Arm
und der Skaphander trugen nur einen verschwommenen Laut
ans Ohr. Ja, auf dem Mond waren eben nicht nur die akusti-
schen Bedingungen anders, sondern auch die Bedingungen
für ein Verbrechen.
Nachdem sich der Detektiv im Laboratorium zweiund-
zwanzigmal über das Mikroskop gebeugt hatte, legte er end-
lich eine Pistole zur Seite. Es war die, die bei der Leiche
gefunden worden war. Alle drei Leuchtkugeln waren aus ihr
abgeschossen worden. Das stand fest.
„Raffiniert ausgedacht!“ schimpfte Holberg. „Ein Rädchen
greift ins andere. Es sollte so aussehen, als ob Schmidt Selbst-
mord verübt habe, und tatsächlich sind alle drei Schüsse aus
seiner Pistole abgegeben worden.“
„Aus seiner?“
Der Psychologe überlegte. „Das heißt aus der, die bei seinem
Leichnam gefunden worden ist. Sie haben recht, es muß nicht
gerade seine gewesen sein. Schade, daß die Signalpistolen
nicht numeriert sind. Aber es wird sich trotzdem aufklären.
Wären nicht diese verwirrenden Begleitumstände, würde ich
schon fast wagen, den Namen des Pistolenschützen zu nen-
nen.“
Rodin spielte mit einer Pistole. „Der wäre?“
„MacKent. Dieser Lügner! Warum hat er uns nicht gesagt,
wo er in der kritischen Zeit gewesen, woher er wirklich ge-
kommen ist? Vielleicht, weil die Tarnung mit dem Selbst—
mord nicht geklappt hat. Daß er gelogen hat, ist sicher. An—
geblich wollte er gerade ins Laboratorium gehen, als die

168
Leuchtkugel hochstieg und das Alarmsignal in den Kopf-
hörern ertönte. Er habe gleich gewußt, woher der Wind
weht, sagte er, weil die Leuchtkugel über dem Radioteleskop
gestanden hätte, und dort habe ja Schmidt gearbeitet. Dann
habe er das Treibhaus durch die Luftschleuse verlassen und
sei zum Hauptgebäude gelaufen.“
„Was leiten Sie daraus ab?“
„Wenn sich das alles so zugetragen hätte und er vom Treib-
haus direkt zum Stellplatz gelaufen wäre, hätte er der Ärztin
begegnen oder sie überholen müssen, denn er war ja früher
beim Eingang als sie. Er hat uns also etwas verheimlicht, er
hat uns belogen! Warum? Vielleicht klebt Schmidts Blut an
seinen Händen.“
„Eine dramatische Wendung, an der man sich gewiß schon
im antiken Theater erfreut hätte. Aber sind Sie wirklich
sicher, daß jemand, der lügt, auch mordet? Dann müßte die
Menschheit schon ausgerottet sein. Kann MacKent nicht
einen anderen Grund haben? Wie soll er das außerdem ge-
macht haben? Um zehn Uhr dreiundfünfzig hat ihn Neumann
im Treibhaus gesehen. In sechs Minuten kann er die Strecke
bis zum Radioteleskop niemals geschafft haben, ebensowenig
konnte er den Rückweg in zwei Minuten bewältigen.“
Holberg fuhr sich durch das zerzauste Haar. „Das ist es ja,
was mich verwirrt. Aber warum, zum Teufel, hat er dann an
Schmidts Tür gehorcht, und was hatte er am Tage vor dem
Mord mit seinem Gesundheitsbogen zu schaffen? Das ist
immerhin schon das dritte Indiz!“
„Können Sie mir verraten, was es dem Mörder nützen würde,
wenn er wüßte, wieviel sein Opfer wiegt, wie sein Blutbild
aussieht, wie hoch sein Blutdruck ist und welche Kinder-
krankheiten es gehabt hatte?“
„Das weiß ich nicht. Aber auch so gibt es genügend Fakten
für einen begründeten Verdacht.“
„Ob der Verdacht begründet ist, wird sich erst zeigen. War-
ten wir ab, was MacKent uns zu sagen hat.“

169
„Besonders eilig scheint er es nicht zu haben“, brummte der
Arzt. Er spielte mit den Patronenhülsen, die bei der Leiche
gefunden worden waren. Die Spuren, die der Anschlag dar-
auf hinterlassen hatte, bewiesen eindeutig, daß sie aus der-
selben Pistole abgeschossen worden waren. „Die Unterschrift
des Mörders“, philosophierte der Doktor, „die Unterschrift
einer üblen Hand, würde Okede Juramoto vielleicht sagen.“

Die Abenteuer eines neugierigen Mannes

„Es wird langsam Zeit zum Mittagessen." Holberg schaute


auf die Uhr. „Erinnern Sie sich noch, daß wir über die bio—
logischen Rhythmen gesprochen haben? Bei mir funktioniert
der Mittagsrhythmus des Magens ausgezeichnet.“
„Doktor, sagen Sie mir bitte die Wahrheit. Haben Sie Sinn
für Humor? Ich glaube nämlich, daß Sie einen ganz aus-
geprägten Sinn dafür haben, nur erkennt ihn nicht jeder.
Stimmt das?“
Der Arzt schaute seinen Gefährten anerkennend an. „Wie
haben Sie das festgestellt? Sie sind ja fast ein Phänomen auf
dem Gebiet der Psychognostik! Sie haben recht, ich habe
sozusagen einen superfeinen Sinn für Humor. Ich lache im
Inneren über Dinge und Situationen, die andere bestimmt
nicht belustigen, weil sie ihren komischen Aspekt nicht wahr-
nehmen. Ich kann sogar über bloße Vorstellungen lachen, das
heißt über Situationen, die eintreten könnten, in Wirklich—
keit aber gar nicht eintreten.“
„Sie könnten Humorist von Beruf sein.“
„Einfälle haben Sie! Wenn ich meine Vorstellungen in einem
Buch oder auf der Bühne zeigen sollte, würde ich nur ein
mitleidiges Lächeln ernten. Die Leute würden sagen, ich sei
ein Narr. Deshalb kann ich den Spaß mit niemandem teilen,
doch selbst das bereitet mir inneres Vergnügen. Ich habe

I70
meinen psychischen Zustand studiert, er ist in gewisser Weise
extrem, aber es handelt sich nicht um eine psychische Ab-
weichung, ganz zu schweigen von Abnormität.“
„Ich verstehe. Aber empfinden Sie nicht auch Spaß, wenn Sie
die Erkenntnisse Ihrer Wissenschaft popularisieren?“
„Natürlichl“ Holberg lachte jetzt wirklich herzhaft. „Aller-
dings nicht immer. Nur, solange ich nicht in wissenschaftliche
Raserei verfalle. Dann ist es aus mit dem Humor, dann er—
kenne ich mich nicht wieder. . . Aber jetzt habe ich genug
von mir erzählt. Sie haben die acht Mitglieder der Besatzung
besser klassifiziert als ich und obendrein auch noch mich
durchschaut. Was wird nun aus dem Mittagessen? Ich habe
zwar meine ganze Seele vor Ihnen ausgebreitet, aber davon
werden wir nicht satt.“
„Lassen Sie sich Ihren Humor nicht nehmen, selbst wenn ich
Ihnen jetzt vorschlage, noch ein Weilchen zu hungern.“
Der Arzt machte ein unglückliches Gesicht. „Das ist hart.
Aber ich glaube, ich verstehe Sie. Sie möchten sich bei Tisch
nicht dem Kreuzfeuer der vielen Fragen aussetzen.“
„Ganz recht. Bisher waren Fräulein Dario, Melchiad und
MacKent noch nicht hier, um ihr Herz zu erleichtern, deshalb
ist es besser, wir halten uns ein bißchen abseits.“
„MacKent wird natürlich versuchen, die anderen auszu-
horchen, was sie uns gesagt haben und was es Neues gibt.“
„Er kann aber dem Gespräch mit uns nicht ausweichen. Ich
kann mir vorstellen, daß er ihm mit sehr gemischten Ge-
fühlen entgegensieht. Wenn . . . Ja, bitte!“ Der Major wandte
sich zur Tür.
Melchiad entschuldigte sich schon auf der Schwelle. „Ich
wollte gleich nach dem Frühstück kommen. Aber es ist ohne-
hin zwecklosl Ich weiß nichts.“ Er könne sich wirklich an
nichts Besonderes erinnern. Er müsse zugeben, .daß das Kabel
auch absichtlich beschädigt worden sein könne. Unter den
jetzigen Umständen sei das sogar wahrscheinlich. Nein, aus
der Art der Beschädigung ließe sich nicht auf den Täter

I71
schließen. Der Defekt wurde nicht mit einem Werkzeug,
sondern wahrscheinlich mit der Hand herbeigeführt. Das
Kabel sei scharf geknickt worden, so daß der Mittelleiter
die Isolation zerschnitten habe. Ja, es gehöre ziemlich viel
Kraft dazu, es so zu knicken, denn das Kabel sei recht kom-
pakt, Fingerabdrücke habe er nicht feststellen können, es
wäre ihm gar nicht eingefallen, danach zu suchen.
Am Ende des Gespräches nahm Rodin die Patronenhülsen in
die Hand. „Der Mörder hat zweimal auf Schmidt und einmal
in die Höhe geschossen. Von der Leuchtkugel, die sich über
dem Radioteleskop entzündete, werden wir natürlich keine
Spur finden. Aber müßten die anderen nicht irgendwelche
Rückstände auf dem Boden hinterlassen haben?“
„Selbstverständlich. In der Natur geht nichts verloren, also
auch auf dem Mond nicht. Aber ich weiß nicht, worauf Sie
hinauswollen. Deshalb wäre es das beste, Sie sagten mir
unverblümt, worum es sich handelt.“
„Ich möchte gern feststellen, wo die Patronen in den Boden
eingedrungen sind.“
Der Betriebsingenieur überlegte einen Augenblick. „Die
roten Leuchtkugeln enthalten Strontiumnitrate, die den Pur-
purschein der Flamme bewirken. Wenn wir in der Umgebung
des Fundortes von jedem Quadratmeter sechs bis acht Boden-
proben nehmen und diese analysieren, dann können wir
genau feststellen, wo die Patronen ausgebrannt sind, selbst
wenn sonst nicht die geringste Spur zu sehen wäre.“
„Das haben Sie sich zwar schön ausgedacht“, sagte Rodin
traurig, „aber diese Pusselei mit den Analysen l“
„Wozu haben wir denn die künstlichen Hände? Überlassen
Sie das nur mir. Noch heute nachmittag bekommen Sie einen
genauen Plan.“
Als Melchiad gegangen war, zuckte der Arzt mit den Schul-
tern. „Die Hauptsache, Sie haben den Bock nicht zum Gärt-
ner gemacht. Ich möchte wetten, daß jetzt die Dario kommt.“
Rodin hätte kein Kriminalist und Holberg kein Psychologe

172
sein müssen, um die Spannung zu bemerken, die sich im Ge-
sicht der Funktechnikerin widerspiegelte.
„Man kommt sich ja bei Ihnen wie beim Zahnarzt vor.“ Ihre
Worte klangen ziemlich gekünstelt. „Der nächste, bitte. Neh-
men Sie Platz! Haben Sie keine Angst, es tut nicht weh.“
Was verbirgt sich hinter ihrem Lachen eigentlich, überlegte
der Major. Mitleid, Angst oder noch etwas anderes? Trauer
um ein liebes Spielzeug, das unvorsichtige Finger zerbrochen
haben? Wird man die Scherben kitten können, und werden
keine Sprünge zurückbleiben?
Der Detektiv riß sich von diesen Überlegungen los. Er unter-
brach die peinliche Stille, die nach der seltsamen Begrüßung
eingetreten war. „Dürfen wir Ihnen einen Platz anbieten?“
„Ich kann Ihnen nichts Neues mitteilen“, begann Irina end-
lich. „Obwohl ich über diesen Sonnabend sehr viel nachge-
dacht habe, ist mir nichts eingefallen.“
„Sie haben den Funkfernschreiber bedient, als der Alarm ge-
geben wurde?“
„Ja. Das Band war gerade zu Ende. Ehe ich es zurückgespult
hatte — es wird aus Sicherheitsgründen nämlich zweimal ge-
sendet —, wurde ich von dem Kollegen auf der Erde etwas
gefragt. Ich antwortete ihm, und da ertönte das Alarmsignal.
Meine erste Reaktion war ein Blick auf die Kontrolltafel, um
zu sehen, woher es käme. Dann rief ich Schmidt. Auf seinem
Apparat meldete sich niemand. Daraufhin läutete ich sofort
bei Glazow an. Erst dann legte ich das Band zum zweitenmal
auf. Das ist alles.“
„Sonst erinnern Sie sich an nichts Besonderes?“
„Nein. Ich möchte Sie vielmehr etwas fragen. War Melchiad
hier?“
„Ja.“
„Wissen Sie . . . Wie soll ich Ihnen das nur sagen? Boris ist
manchmal ein bißchen heftig. Als ich erfuhr, daß Schmidt
ermordet worden ist, lief es mir ganz kalt über den Rücken.
Ich fragte mich, ob Melchiad etwas von meinen Beziehungen

I75
Zu Schmidt ahnte oder gar wußte. Sie verstehen sicher, was
ich meine.“
„Vorläufig deutet nichts darauf hin, daß Melchiad der Mör-
der wäre. Darum geht es Ihnen doch, nicht wahr?“ Rodins
kalter Ton erschütterte die Funktechnikerin.
„Verstehen Sie mich doch! Ich könnte es nicht ertragen, daß
er sich meinetwegen unglücklich macht. Wenn ich mir vor-
stelle, daß der eine meinetwegen das Leben und der andere
seine Ehre verloren haben sollte, ist mir ganz fürchterlich zu-
mute. Wenn Boris gereizt wird, kann er schreien und vielleicht
auch zuschlagen, aber er wäre niemals fähig, einen vorsätz-
lichen und kaltblütig durchdachten Mord zu begehen.“
„Woraus schließen Sie, daß er durchdacht war?“
„Es deutet alles darauf hin. Wenigstens scheint es so. Das
absichtlich beschädigte Fernsehkabel, die vollkommenen Ali-
bis und so weiter — es ist undenkbar, daß das alles das Er-
gebnis eines plötzlichen Wutanfalls ist.“
„Sie haben zweifellos recht“, stimmte Rodin mit ernster
Miene zu. „Sind Sie sicher, daß Melchiad von Ihren Bezie-
hungen zu Schmidt nichts erfahren hat, daß er nichts weiß?“
„Er weiß bestimmt nichts!“ erwiderte Irina so schnell, daß
die Antwort fast mit der Frage des Kriminalisten verschmolz.
„Er brächte es nicht fertig, das zu verheimlichen, er kann
nicht Theater spielen. Sie haben ihn ja auch schon ein bißchen
kennengelernt. Ich habe es ihm nicht gesagt und werde es ihm
auch nicht sagen. Nicht, weil ich Angst hätte. Er würde sich
einen Tag oder eine Woche lang ärgern, aber dann würde er
verstehen, daß man manchmal handelt, wie man gar nicht
will, und daß man Dinge tut, die man gar nicht wünscht. Ich
habe es ihm nicht gesagt, um ihm nicht unnötig weh zu tun.“
Zwei Augenpaare blickten noch zur Tür, als sie sich bereits
leise hinter der Funktechnikerin schloß.
„Jetzt wird uns MacKent besuchen“, prophezeite Holberg.
„Dem dürfte seine Neugierde vergehen, wenn Sie ihm einige
heikle Fragen . . .“

I74
Ehe der Arzt all seine Vermutungen laut werden lassen
konnte, klopfte es wieder, und MacKent trat ein. Er schickte
Rodin sogleich einen forschenden Blick zu.
„Sind Sie gekommen, um uns etwas mitzuteilen?“
„So ist es. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie
noch einmal mit jedem von uns sprechen. Neumann sagt, Sie
hätten irgendwelche chiffrierten Nachrichten gefunden.“
Der Major überhörte MacKents versteckte Frage und ging
sofort auf sein Ziel los. „Sie fragen gern andere aus. Wir
würden es aber begrüßen, wenn Sie uns jetzt antworten
wollten. Warum haben Sie am Freitag den Gesundheits-
bogen von Schmidt durchgesehen? Was haben Sie darin ge-
sucht?“
„Ich?“ Der Biologe sprang vom Stuhl ‚auf.
„Ich spreche mit Ihnen. Warum also?“
„Da hat wahrscheinlich die Ärztin . . .“
„Danach habe ich nicht gefragt. Warum haben Sie das Blatt
durchgesehen?“
MacKents Blicke irrten unruhig zwischen Rodin und Holberg
hin und her. „Das hat nichts zu bedeuten. Das hängt in keiner
Weise . . .“
„Sie erlauben, daß wir die Zusammenhänge feststellen. Wie
war das also?“
„Schmidt hatte sich in der letzten Zeit verändert. Er war
nachdenklich und schweigsam, er zerbrach sich über irgend
etwas den Kopf. Als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß
ich eventuell auf seiner Karteikarte einen Hinweis finden
würde. Das ist alles.“
„Sind Sie beauftragt, sich um solche Dinge zu kümmern?“
„Natürlic .“
„Wieso?“
„Meinen Sie, die Menschen seien kein biologisches Objekt?
Glauben Sie, ich kümmere mich nur darum, wie die Pflanzen
auf die hiesigen Bedingungen reagieren, und es wäre mir
einerlei, wie die Menschen den Mondaufenthalt ertragen?

I75
Glauben Sie, daß ich vor lauter Sorge um die Schlüssel-
blumen nicht sehe, daß einer meiner Kollegen dahinwelkt?“
„Also kollegiales und wissenschaftliches Interesse. Warum
haben Sie die Ärztin nicht gebeten, Ihnen die Karte zu zei-
gen?“
„Weil sie nicht da war, die Kartei stand aber dort.“
Der Major fühlte sich für einen Augenblick aus dem Konzept
gebracht.
Aber gleich griff er wieder an. „Und warum haben Sie kürz-
lich an seiner Zimmertür gehorcht?“
„Ich habe meinen Namen gehört, deshalb stutzte ic .“
„Ist es Ihnen nicht peinlich, zu horchen, wenn jemand hinter
Ihrem Rücken über Sie spricht?“
„Ganz und gar nicht. Das kann doch höchstens dem peinlich
sein, der hinter meinem Rücken über mich redet, ohne es mir
ins Gesicht zu sagen. Finden Sie nicht? Ist Ihnen noch nicht
passiert, daß Sie irgendwo Ihren Namen hörten und stutz-
ten?“
„Um mich geht es hier nicht. Ich war am Sonnabend noch
nicht hier. Wie war das übrigens? Wo hielten Sie sich am
Sonnabendvormittag auf? Aber genau, bitte l“
„Deshalb bin ich gekommen.“ Der Biologe befeuchtete sich
mit der Zunge die Lippen. „Ich möchte Ihnen etwas Wunder-
liches erzählen, ich habe eine unglaubliche Geschichte erlebt.
Aber Sie gestatten, daß ich zuerst frage . . .“
„Fragen werde ich l“
Holberg blinzelte überrascht. Das war ein anderer Rodin, als
er ihn bisher kannte. Der Kriminalist beherrschte alle Mittel
seines Berufes, er besaß Beobachtungsgabe, Kombinations-
talent und konnte ebenso ein strenges Verhör führen. Das
hier war nicht mehr der ironische, etwas skeptische Rodin,
der umsichtige Beobachter, sondern ein kühler, unerbittlicher
Gegner. MacKent wurde im Kreuzfeuer seiner Fragen immer
kleiner.
„Ganz recht, ich wußte schon am Sonnabend, daß Schmidt

176
ermordet worden ist. Ich habe ihn gefunden, ich war als
erster bei ihm -— nach dem Mörder.“
„Immer schön der Reihe nach. Daß Sie uns vorher belogen
haben, wußten wir schon.“
„Ich hatte Angst. Sie haben gewiß die Aussage von Frau
Santos . . .“
Der Major sah den Biologen scharf an.
„Ich komme gleich wieder'zur Sache“, versicherte MacKent.
„Mir ließ das sonderbare Benehmen des Funktechnikers
keine Ruhe. Daß sich zwischen ihm und Irina Dario etwas
angesponnen hatte, war mir natürlich nicht entgangen. Er hat
ihr ziemlich unverhohlen den Hof gemacht. Ich wußte auch,
daß Schmidt irgend etwas Interessantes tat oder in Erfahrung
gebracht hatte, das er aber geheimhielt. Das beschäftigte mich
sehr, und ich versuchte, ihn allein zu sprechen. Ich hoffte, daß
er dann mitteilsamer sein würde als im Speisesaal oder im
Klub, wo ständig Leute kamen und gingen. Deshalb machte
ich mich ctwa um Viertel elf auf den Weg zu Schmidt. Be-
achten Sie bitte die Zeit l“
„Geben Sie lieber acht, daß Sie nichts vergessen. Sie gingen
also zum Radioteleskop?“
„So ist es. Ich weiß bestimmt, daß es zehn Uhr fünfund-
zwanzig war, als ich ihn fand.“ MacKent schluckte ein paar-
mal, seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß. „Schmidt lag auf
der Erde. Ich dachte, er sei ohnmächtig geWorden, vielleicht
wegen eines Schadens am Sauerstoffgerät. Ich lief zu ihm hin
und traute meinen Augen nicht. Der Skaphander war zwei-
mal durchschossen. Glauben Sie mir . . .“
„Kümmern Sie sich nicht darum, was ich glaube. Erzählen
Sie weiter!“
„Ich zog zuerst meine Signalpistole, dann wollte ich über den
Sprechfunk um Hilfe rufen, schließlich ließ ich beides. An-
fangs dachte ich, Schmidt sei durch ein unglückliches Versehen
getötet worden, denn er selbst konnte ia nicht zweimal auf
sich geschossen haben. Aber dann wurde mir klar, daß es ein

12 Vcscly, Verbrechen
I77
solches Versehen nicht geben kann. Die beiden Einschüsse
deuteten einwandfrei daraufhin, daß Schmidt umgebracht
worden war. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich sagte
mir, daß man mich wahrscheinlich verdächtigen würde, träfe
man mich bei der Leiche, und deshalb machte ich mich lieber
aus dem Staube.“ Der Biologe wischte sich den Schweiß von
der Stirn. „Das ist wirklich alles.“
Doktor Holberg biß sich auf die Lippen. Zwei, drei, zehn
Fragen brannten ihm auf der Zunge, aber er beherrschte sich
und wartete auf Rodins nächsten Schlag.
„Hören Sie gern Mozart?“
MacKent beugte sich etwas vor. „Wie bitte?“
„Ich möchte wissen, ob Sie die Musik von Mozart lieben?“
„Ja. Woher wissen Sie das?“
„Welche seiner Kompositionen haben Sie hier gespielt?“
„In der Regenbogenbucht? Soweit ich mich erinnern kann,
keine.“
„Warum?“
„Was heißt ,warum‘? Ich verstehe nicht.“
„Ich frage Sie, warum Sie nicht gelegentlich ein Band mit
Mozartmusik laufen ließen, wenn Sie sie gern hören. Sie
haben doch ein Tonbandgerät in Ihrem Zimmer, und eine
große Auswahl an Bändern ist hier auch vorhanden.“
„Darauf ‚bin ich nicht gekommen. Ich hatte keine Zeit da2u,
denn ich habe vielerlei Interessen. Das Forschungsprogramm
ist sehr umfangreich. Kurz, ich habe hier weder Mozart noch
andere Musik gehört.“
„Sie sagten, Sie wären von der Leiche weggelaufen. Haben
Sie sich wieder ins Treibhaus begeben?“ Rodins Stimme
klang zufrieden.
„Ja. Ich kehrte dorthin zurück und ließ mir die ganze Sache
noch einmal durch den Kopf gehen. Nach zehn Minuten fiel
mir ein, daß um elf Uhr die Zentrale alle Besatzungsmit-
glieder kontrollieren würde, die sich draußen aufhalten. Das
hieß, daß spätestens dann mit einem Alarm zu rechnen war.

I78
Es wäre vielleicht verdächtig gewesen, wenn ich erst als letz—
ter eingetroffen wäre. Deshalb ging ich zum Hauptgebäude.“
„Haben Sie unterwegs jemanden getroffen?“
„Ich wollte möglichst niemandem begegnen. Als ich mich
fertigmachte, erblickte ich einen Schatten. Es könnte Neu-
mann gewesen sein, der am Treibhaus vorüberging. Außer-
dem habe ich die Ärztin gesehen.“
„Welchen Weg haben Sie eingeschlagen?“
„Ich hielt mich abseits, im Schatten des Hanges. Zum Schluß
versteckte ich mich im Dunkeln und wartete, was sich ereig-
nen würde.“
„Und?“
„Dann passierte etwas, was mich völlig aus dem Gleich-
gewicht brachte. Über dem toten Schmidt, über der Stelle, wo
keine lebende Seele war, stieg eine Leuchtkugel hoch. Kön-
nen Sie sich das erklären?“
Der Major überhörte MacKents Frage. „Woher wissen Sie,
daß beim Radioteleskop niemand war?“
„Das ist doch klar. Schmidts Leiche habe ich selber gesehen,
und alle anderen waren zwei bis drei Minuten nach dem
Alarm vor dem Eingang. Bis auf Fräulein Dario, die saß in
der Zentrale.“
„Haben Sie die Leuchtkugel beobachtet?“
„Gewiß.“
„Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich meine, ob Sie Ihren
Blick erst dem Hügel zuwandten, als das rote Licht am Him-
mel zu sehen war, oder . . .“
„Nein, ich hatte schon in diese Richtung geschaut. Das Radio-
teleskop, der Berg, auf dem der tote Schmidt lag, zog mich
irgendwie an, ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich war
in einer eigenartigen Gemütsverfassung. Der Doktor würde
das sicher begreifen . . .“
„Eine archaische Anomalie“, brummte der Arzt. „Eine Art
Atavismus. Noch vor hundert Jahren war es keine Seltenheit,
daß die Leute vor einem Haus, in dem ein Mord geschehen

I79
war, Schlange standen oder wenigstens die Umgebung genau
betrachteten, obwohl es dort gar nichts zu sehen gab. Ebenso
zog es den Verbrecher an den Tatort, man behauptete sogar,
ein Mörder müsse dorthin zurückkehren, und sei es nur mit
dem Blick.“
MacKent hörte mit wachsender Befangenheit zu.
„In der Geschichte der Kriminalität gibt es dafür eine ganze
Reihe von Beispielen. Man kann sie jedoch nicht verall-
gemeinern“, fügte Doktor Holberg wohlwollend hinzu.
„Haben Sie an der Leuchtkugel etwas Besonderes entdeckt?“
nahm Rodin wieder das Wort.
„Nein. Bis auf die Farbe unterschied sie sich nicht von den
Kugeln, die wir beim Übungsschießen verwendeten.“
„Wie hoch stand sie ungefähr?“
Der Biologe zuckte mit den Schultern. „Sie hatte normale
Höhe oder stand ein bißchen darunter. Aber das ist nur
meine Schätzung. Es ist schwierig, das genau anzugeben, weil
es in der Dunkelheit keine Vergleichsmöglichkeit gibt. Mei-
nen Sie, daß es sehr darauf ankommt?“
„Vermutlich wären Sie nicht sonderlich erfreut, wenn Sie
wüßten, was ich alles meine. Was geschah weiter?“
„Mir wurde augenblicklich klar, daß die ganze Sache kompli-
zierter war, als es mir zuerst schien. Ich sagte mir, das Alarm-
signal gehöre wahrscheinlich zu einem raffinierten Plan.
Können Sie sich vorstellen, wie gespannt ich war, wer von
dort angerannt kommen würde.“
„Aus welcher Richtung kamen die einzelnen?
„Zuerst kam die Ärztin vom Treibhaus. Dann traten Glazow
und Melchiad aus der Luftschleuse. Als nächster kam Neu-
mann vom Raketoplan angelaufen. Juramoto näherte sich
aus der Richtung seines Eierhäuschens, und Lange spurtete
den Berg vom Observatorium herunter. Er traf als letzter
ein.“
„Sie hatten mit dem Astronomen angeblich einen ziemlich
heftigen Meinungsaustausch.“

I80
„Ja, wir haben uns ein bißchen gestritten.“
„Was war der Gegenstand Ihres Streites?“
MacKent suchte verlegen nach den richtigen Worten. „Was
soll ich Ihnen sagen? Wir diskutierten über Vergangenheit
und Zukunft der Menschheit. Er, verbreitete sich über die
künftige Rolle der Menschheit im Weltall, da entschlüpften
mir unvorsichtigerweise die Worte ‚armes Weltall‘. So ge-
rieten wir aneinander. Ich hielt ihm die biologische Unvoll-
kommenheit des Menschen entgegen, und er widersprach mir.
Das ist alles.“
„Eines ist mir völlig unverständlich . . .“ Rodin schaute dem
Biologen fest in die Augen. „Sie sind kein Jüngling mehr,
sondern ein anerkannter Wissenschaftler, ein Mann mit Ver-
diensten. Zugegeben, jeder von uns hat seine Fehler. Ihnen
könnte man vorwerfen, daß Sie sich für die Dinge in Ihrer
Umgebung mehr interessieren, als es gut ist, also ein bißchen
neugierig sind, aber doch geistig normal.“ Holberg wollte
den Major durch ein Räuspern unterbrechen, aber der fuhr
eilig fort: „Ich möchte sagen, daß Sie in solchen Ausmaßen
geistig normal sind, die einen sehr strengen Maßstab ver-
tragen. Sonst wären Sie ja nicht hier. Ich begreife, daß Sie
erschüttert waren, als Sie Schmidt tot auffanden, ich ver-
stehe, daß Sie nicht aus noch ein wußten und in der Panik
einen Fehler machten. Aber dann kamen wir. Ich frage Sie
nun: Warum haben Sie uns das so lange verheimlicht?“
MacKent senkte verlegen den Blick. „Sehen Sie, ich bin als
Gast hier. Unsere Ansichten gehen in vielen Dingen ausein-
ander. Ich habe verschiedene Einwände und Vorbehalte,
stehe gewissermaßen am anderen Ufer. Andererseits bin ich
eine ziemlich aktive Natur, ich möchte allem auf den Grund
kommen. Interessiere mich für alles. Manchmal verübeln mir
das die Leute sogar.“ Er lachte mit herabgezogenen Mund-
winkeln. „Wenn ausgerechnet ich die Besatzung alarmiert
hätte, wie hätte ich denn meine Anwesenheit bei der Leiche
des Funktechnikers erklären sollen? Ich gebe zu, daß ich

181
einen Fehler gemacht habe, aber ich bemühe mich auch, Ihnen
zu erklären, was mich zu diesem Versteckspiel veranlaßt hat.
Jetzt will ich das wiedergutmachen. Ich bin gekommen, um
Ihnen die volle Wahrheit zu sagen.“
Als die Tür hinter MacKent ins Schloß gefallen war, ließ
sich Doktor Holberg vernehmen. „Hat er uns nun die so-
genannte volle Wahrheit nur gesagt, weil er weiß, daß wir
ihn beim Lügen ertappt haben?“
„Darauf kann man im Augenblick kaum eine Antwort geben.
Aber lassen Sie uns endlich essen gehen.“

Lügen haben kurze Beine

Nach dem Mittagessen nahm Holberg sein Notizbuch zur


Hand, blätterte eineWeile gedankenlos darin herum, bis
sein Blick schließlich auf der Seite mit der Namenreihe haf-
tenblieb. „Die Liste“, sagte er bitter, „jetzt ist sie zwar auf
zwei Namen zusammengeschrumpft, aber sind wir damit
wirklich weiter? Von Beweisen ganz zu schweigen. Was
nützt uns . . ., ich meine, was nützt Ihnen ein Verdacht, wenn
Sie ihn nicht mit konkreten Beweisen belegen können?“
Rodins ausdrucksloses Gesicht ließ vermuten, daß der Major
nicht gerade auf eine Diskussion erpicht war, aber der Psy-
chologe fuhr in seinen Überlegungen fort. „Sie haben also
zwei, drei — eigentlich sogar vier Möglichkeiten. Entweder
sagt der Selenologe oder der Biologe die Wahrheit. Juramoto
behauptet, er habe um zehn Uhr neunundvierzig mit Schmidt
telefoniert. MacKent hingegen beteuert, er habe um zehn Uhr
fünfundzwanzig Schmidts Leiche gesehen. Was stimmt nun
wirklich? Tote können bekanntlich nicht telefonieren, und
Lebende können nicht im durchschossenen Skaphander auf
dem Boden liegen. Beide können nicht recht haben. Die ab-
solute Wahrheit ist allerdings ein seltenes Kräutlein, deshalb

I82
gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Beide sagen die Wahr-
heit,'aber die subjektive Wahrheit, wie sie sich ihnen unter
den gegebenen Umständen dargeboten hat. Die vierte Mög-
lichkeit wäre, daß beide lügen. Kennen Sie noch eine
fünfte?“
Das war schon eine direkte Aufforderung, die nicht mehr nur
in Worten, sondern auch mit einem unmißverständlichen
Blick ausgedrückt wurde.
„Nein, ich sehe keine“, erwiderte der Detektiv lakonisch.
„Schauen wir uns also die erste Möglichkeit an: Juramoto
sagt die Wahrheit, MacKent lügt. Warum sollte der neu-
gierige Biologe wohl lügen? Weil er der Täter ist! Nehmen
wir an, MacKent sei nicht nur Wissenschaftler, sondern habe
hier noch einen anderen Auftrag zu erfüllen, eine Aufgabe,
die das Licht der Öffentlichkeit scheut. Nehmen wir an, er
soll Spezialinformationen über die hiesigen Einrichtungen,
über die Raketentechnik und ähnliches sammeln. Um seine
wirkliche Tätigkeit zu tarnen, gibt er sich den Anschein eines
harmlosen Neugierigen, der zwar widerwärtig ist, aber nie-
mandem etwas zuleide tut. Ich sagte Ihnen wohl schon, daß
krankhafte Neugier als solche nicht existiert . . .“
„Ja“, platzte der Major heraus, „jede Neugierde hat ihre
Ursachen.“
„Richtig. Eine solche allgemeine Neugierde verlangt eine
eingehende psychologische Analyse. Unser Biologe aber
täuscht diese angeborene Neugier nur vor. Sollte man ihn
beim Schnüffeln ertappen, würde man das mit einer Hand-
bewegung abtun und sagen: ‚Das sieht ihm ähnlichl‘ Was
könnte sich nun zugetragen haben? MacKent empfing ver-
trauliche Depeschen von der Erde. Entweder sie kamen als
normale Radiogramme und waren chiffriert, oder er empfing
die Signale direkt aus dem Äther. Vergessen Sie nicht, dal5
jedes selbständige Objekt seine eigene Funkapparatur be-
sitzt, für den Fall, daß der Haupttrakt zerstört würde. Mac-
Kent könnte also geheime Funkverbindungen unterhalten

I85
haben, die mit seiner Spionagetätigkeit zusammenhingen.
Schmidt fing eine solche chiflrierte Mitteilung auf. Aus der
Empfangsstärke schloß er, daß die Signale von der Erde
stammten und auf den Mond gerichtet waren. Er versuchte
die Depesche zu entschlüsseln. Das würde sowohl seine No-
tizen als auch die Veränderung in seinem Verhalten erklären.
Die Chiffren ließen ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Mac-
Kent bemerkte, daß ihm Gefahr drohte, er verfolgte und
beobachtete Schmidt, er horchte an seiner Tür und entschied
schließlich, daß der Funktechniker sterben müsse. Glauben
Sie nicht, daß es so gewesen sein könnte?“
Der Major schaukelte auf seinem Stuhl. „Warum nicht?“
„Wie verübte er nun den Mord? Das ist schon eine härtere
Nuß. Nehmen wir an, er heckte einen Plan aus, der den Ver-
dacht auf Melchiad werfen sollte, weil er über das Liebes-
dreieck informiert war. Das hat er selbst zugegeben. Mel-
chiads Eifersucht war ein auch für unsere Zeit relativ an-
nehmbares Motiv, weil selbst gebildete und intelligente
Leute die Nerven verlieren können, wenn Gefühle über die
Vernunft die Oberhand gewinnen. Er wählte für den Mord
eine Zeit aus, in der sich Melchiad unkontrolliert im Ge-
lände bewegte. Aber diese Absicht scheiterte, weil der Be-
triebsingenieur wegen des Kabels, das MacKent vorsätzlich
beschädigt hatte, plötzlich ein hervorragendes Alibi besaß.
Der sorgfältig ausgearbeitete Plan fiel wie ein Kartenhaus in
sich zusammen. Was machte der neugierige Biologe? Er
dachte sich das Märchen aus, daß er den toten Schmidt schon
um zehn Uhr fünfundzwanzig gefunden habe. Damit will
er die Mordzeit vorverlegen, weil er annehmen kann, daß
Melchiad für diese Zeit kein Alibi hat. Was sagen Sie
dazu?“
„Es klingt interessant, das läßt sich nicht bestreiten. Nur . . .“
Der Major schaute den Arzt mitleidig an.
„Was ‚nur‘P“
„Diese vorzügliche Theorie erklärt uns nicht, wie es MacKent

184
schaffte, um zehn Uhr neunundfünfzig Schmidt zu erschießen
und um elf Uhr eins vor dem Eingang zum Hauptgebäude
zu sein. Außerdem ist da noch eine wichtige Sache.“
„Die wäre?“
„Daß uns MacKent von der Entdeckung der Leiche berich-
tete, hat den Verdacht, in dem er steht, nicht entkräftet, son-
dern verstärkt. Sein bestes Alibi sind ja gerade die zwei Mi-
nutenl Der Täter hat die ganze Sache viel zu schlau ein-
gefädelt, als daß er jetzt freiwillig auf seinen besten Trumpf
verzichten würde.“
„Er mußte doch irgendwie erklären, warum er der Kollegin
Santos nicht begegnete“, hielt der Doktor entgegen.
„Innerhalb von zwei Minuten könnte ich mir ein ganzes
Dutzend von glaubwürdigen Begründungen dafür ausden-
ken.“
Holberg machte eine traurige Miene, als er MacKents Namen
in seinem Notizbuch zum zweitenmal durchstrich. „Gut, ich
gebe mich geschlagen. Bleibt also die zweite Möglichkeit:
Juramoto. Die Gründe wären ähnlich wie bei MacKent.
Schmidt fing eine der chiffrierten Depeschen auf und mußte
sterben. Auf Details des Motivs können wir diesmal verzich-
ten. Juramoto ging also vom Laboratorium zum Radiotele-
skop, erschoß Schmidt und suchte dann seinen Betonbunker
auf. Alle seine weiteren Bewegungen sind vom Seismo-
graphen aufgezeichnet worden.“
„Und die Leuchtkugel?“
Der Arzt schlug ein Bein über das andere, umspannte mit
verschränkten Händen sein Knie und überlegte. „Bei einem
Menschen wie Juramoto kann man die mannigfaltigsten
Kenntnisse voraussetzen. Er verstünde es gewiß einzurichten,
daß sich der Schuß erst nach einer bestimmten Zeit auslöst.
Sicherlich ließe sich irgendein technischer Trick ausknobeln,
das ist doch nichts Unmögliches l“
„Selbstverständlich ließe sich das einrichten, mit einem Uhr-
werk, einer Sprungfeder oder einer Chemikalie, die subli-

I85
miert. Aber all das hinterließe Spuren. Juramoto müßte
jedoch wissen, daß er in seinem Alter nicht als erster beim
Radioteleskop eintreffen könnte, um den Mechanismus recht-
zeitig zu beseitigen. Darum konnte er so etwas nicht riskie-
ren. Aber es gibt noch ein ernsteres Hindernis. Juramoto war
von zehn Uhr an im Laboratorium unter den Augen der
Ärztin. Als er wegging, war der Funktechniker nach Aussage
von MacKent bereits tot.“
„Ich gebe es auf! Aber vielleicht noch eine andere Möglich-
keit. Einer erschoß Schmidt, und ein anderer fand die Leiche
und löste mit dem Abschuß der Leuchtkugel eine Minute vor
elf Uhr den Alarm aus. Dann wurde ihm klar, daß er in
Verdacht geraten könnte, deshalb lief er einfach zum Stell-
platz und will es jetzt nicht eingestehen.“
Rodin lachte. „Sie drehen sich ganz schön im Kreisl Wie
sollte er es denn in zwei Minuten zum Stellplatz geschafft
haben, und wer sollte es überhaupt gewesen sein? Sie haben
ja alle ein Alibi l“
Doktor Holberg stand auf, durchmaß zweimal erregt den
Raum und blieb plötzlich breitbeinig vor dem Detektiv
stehen.
„Jetzt habe ich es!“ Seine Stimme zitterte leicht vor Er-
regung. „Der Mörder muß doch die Leuchtkugel gar nicht
beim Radioteleskop abgeschossen haben! Juramoto kann das
von der seismographischen Station aus getan haben, Lange
vom Observatorium, Neumann vom Raketoplan, Frau San-
tos vom Treibhaus und MacKent vom Eingang des Haupt-
gebäudes aus.“
Der Major teilte nicht die Begeisterung des Arztes. „Sie
haben selbst gesagt, daß die Pistolen ungefähr zweihundert
Meter hoch tragen. Bis zum Radioteleskop dürften es von
hier aus gut achthundert Meter sein. Vom Raketoplan sind
es vielleicht sechshundert Meter, und von der seismographi-
schen Station . . .“
„. . . zweihundert Meter - ja, aber auf der Erde!“ Holberg

I86
drückte bestürzt seine Hände gegen die Schläfen. „Daß mir
das nicht früher eingefallen istl Sie haben sich wirklich einen
tollen Assistenten ausgesucht, alles,l was recht ist . . .“
„Hören Sie auf zu jammern, Doktor! Wie hoch trägt denn
eine solche Pistole hier?“
„Da fragen Sie mich zuviel. Aber bestimmt wesentlich
höher!“
Der Major zog das Telefon zu sich heran und wählte. „Ro-
din. Können Sie mir bitte sagen, wie hoch hier auf dem Mond
eine Signalpistole trägt? — Danke.“
„Nun?“
„Glazow weiß es nicht genau. Aber wenn eine Leuchtkugel
eine Anfangsgeschwindigkeit von hundert Metern in der Se-
kunde hat, wie er annimmt, dann würde sie nach seiner Rech-
nung eine Höhe von etwa drei Kilometern erreichen.“
„Drei Kilometer! Das verändert natürlich die ganze Situa-
tion, Majorl“
Der Detektiv hob resigniert die Hand. „Auf den ersten Blick
ja, aber vergessen Sie nicht, daß alle drei Schüsse aus der
Pistole abgegeben worden sind, die neben der Leiche ge-
funden wurde. Zwei Schüsse auf Schmidt und einer in die
Höhe. Derselbe Schlagbolzen hat alle drei Patronenhülsen
gezeichnet.“
„Das bedeutet. . .“
Ein Klopfen unterbrach den Doktor.
„Fertigl“ meldete Melchiad und überreichte dem Major eine
Skizze.
Holberg schaute dem Detektiv über die Schülter. Die Skizze
erinnerte an eine Zielscheibe, auf der mehrere Treffer ver-
zeichnet sind.
„Der schwarze Punkt in der Mitte bezeichnet die Stelle, auf
der wir Schmidts Leiche gefunden haben. Die Kreislinien
markieren jeweils einen Meter Abstand“, erklärte der Be-
triebsingenieur. „Die Kreuze geben die Punkte an, an denen
durch die automatische Bodenuntersuchung Spuren von

187
Strontiumnitraten festgestellt wurden. An diesen Stellen sind
die Leuchtkugeln im Staub ausgebrannt. Genügt das?“
Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Major seine Blicke von
der Zeichnung losriß. „Haben Sie sich nicht geirrt?“ fragte er
endlich. „Wie ist das möglich? Sollen es wirklich drei Kreuze
sein?“
„Ja, drei“, bestätigte der Ingenieur, der schon wieder an der
Tür war.
Doktor Holberg ließ sich in den Sessel fallen und schüttelte
müde den Kopf. „Jetzt komme ich mir wirklich wie ein Narr
vor, der schnellstens einen Kollegen konsultieren sollte. Drei
Leuchtkugeln in den Boden und eine in die Luft. Gut, man
könnte ia annehmen, daß er das erstemal nicht getroffen
hat. Aber in der Pistole fehlten doch nur drei Patronen!
Rätsel über Rätsel. Und die beiden — MacKent und Jura-
moto? Einer von beiden muß doch gelogen haben. Daß
beide gelogen haben sollten, wäre ebenso absurd wie die Be-
hauptung, beide hätten die Wahrheit gesprochen. Oder glau-
ben Sie, daß so etwas möglich wäre?“
„Ich glaube“, sagte der Major zögernd, „daß es sogar mehr
als möglich ist.“

Rodin: Versprechen

Die Landschaft breitete sich rings um sie aus wie der zu


Stein gewordene Traum eines Psychopathen. Rodin blieb
stehen und schaute unwillkürlich hinüber zur Kuppel des
astronomischen Observatoriums, die sich als Symbol mensch-
lichen Forschungsdranges über der Anhöhe wölbte.
Der schmale Weg näherte sich einer Felswand, die so rissig
und uneben war, als wäre sie gerade erst aus der Werkstatt
der Mutter Natur geliefert worden. Unter einem Felsvor-
sprung standen die künstlichen Hände. Von oben fiel ein

188
dunkler Schatten herab, der den Automaten zur Hälfte be-
deckte. Es wirkte unnatürlich, wie sich die beiden Teile in-
einander verbissen, Licht und Schatten, Sicherheit und Furcht,
Gut und Böse.
Plötzlich regten sich die künstlichen Hände. Von ihren kan-
tigen Bewegungen strömte etwas Furchterregendes, Grauen-
haftes und Unbarmherziges aus. Rodin sprang instinktiv zur
Seite, fühlte jedoch die Wand im Rücken. Der Automat kam
auf ihn zu und streckte seine Greifarme nach ihm aus. Es gab
kein Entrinnen. Schon näherten sich die Stahlfinger seiner
Kehle, sie schnappten nach ihrem ohnmächtigen Opfer.
„Was ist denn mit Ihnen los?“ fragte Holberg ungeduldig,
und diese sechs Wörter vertrieben den ganzen Spuk.
Die künstlichen Hände standen unbeweglich, häßlich und
teilnahmslos an der Wand, weil Transistoren und Wider-
stände weder lieben noch hassen können. Eine Maschine
wird den Menschen in dieser Beziehung nie erreichen, dachte
Rodin, aber laut sagte er: „Ich hatte eine wunderliche Er-
scheinung, eine Phantasmagorie. Die Hände rückten mir zu-
leibe, ich spürte die Greifer schon an meinem Hals. Bin ich
denn um den Verstand gekommen?“
„Warum sollten Sie das?“ Der Major vernahm Holbergs
brummige Stimme in den Kopfhörern. „Wir haben doch
schon über optische oder visuelle Vorstellungen gesprochen.
Es gibt eine Vielzahl davon. Man nennt sie Spuk oder Trug-
bild, wenn ein Mensch sie intensiv als Wirklichkeit empfin-
det. Man kann sie durch Drogen, bis zu einem gewissen Grad
durch Suggestion und natürlich auch durch Autosuggestion
hervorrufen. Meistens geschieht das unbewußt, spontan. Ihr
Fall ist also völlig klar.“
„Glauben Sie?“
„Ich weiß es. Es ist direkt ein Schulbeispiel. Ihre Unter-
suchung nähert sich dem Ende. Sie wissen, wer der Täter ist.
Aber Sie wissen es allein, als einziger auf dem Mond und
auf der Erde. Sie nehmen nun an, dem Täter wäre schon

189
klargeworden, was ihn erwartet. Wie verhält er sich jetzt?
Das hängt von seinem Temperament und von einer ganzen
Kette von Umständen, Voraussetzungen, Beziehungen, Zie-
len und Möglichkeiten ab. Vielleicht bricht er zusammen und
schreibt ein Geständnis, oder er wartet resigniert, bis Sie ihn
holen. Es kann aber auch sein, daß er Widerstand leistet. Die
drohende Gefahr kann er nur beseitigen, wenn er ihre Ur-
sache — also Sie — aus dem Wege schafft. Oder hat es solche
Fälle noch nicht gegeben?“
„Natürlich. Etlichen meiner Vorgänger und Kollegen wurde
dieses Los zuteil.“
„Es besteht aber noch ein anderer Zusammenhang. Damals in
der Nacht hätten uns die künstlichen Hände beinahe er-
schreckt.“
„Was heißt ,beinahe‘?“
„Nun gut, sie haben uns tatsächlich erschreckt. Außerdem
haben wir eine Zeitlang überlegt, ob das Verbrechen even-
tuell mit Hilfe dieser Hände verübt worden sei. Wir erfuh-
ren, daß dieser Automat sogar einen Knopf annähen kann,
und das ist eine technisch weit anspruchsvollere Aufgabe, als
eine Gestalt in einem Skaphander zu erwürgen. Das ist der
eine Erkenntniskomplex, der in Ihrem Unterbewußtsein re-
gistriert ist. Dazu kommt der andere Komplex — die Mög-
lichkeit, daß sich der Täter verzweifelt wehrt. Der Anblick
der künstlichen Hände war der letzte erforderliche Impuls,
um in Ihrem Unterbewußtsein eine Verbindung zwischen
diesen beiden Erkenntniskomplexen herzustellen. Das Er-
gebnis war dieses Trugbild,. diese Phantasmagorie, wie Sie
es nennen.“
„Sie sind wirklich zu beneiden, Doktor! Mit Ihrer Wissen—
schaft läßt sich sehr viel erklären.“
„Ist die Kriminalistik nicht eine Wissenschaft, die noch mehr
zu erklären vermag?“
Rodin lachte. Das Grauen der vergangenen Minuten war
verflogen. „Sie sollte es vermögen! Wissen Sie, ich finde es

190
jetzt schon ausgesprochen komisch, daß wir gerade hier, in-
mitten dieser unwirtlichen Mondlandschaft, solche akademi-
schen Gespräche führen.“
„Das ist ein gutes Zeichen. Der Fall nähert sich seinem Ende,
die Hand der Gerechtigkeit hebt sich bereits — um es ein biß-
chen dramatisch auszudrücken. Ist das die Stelle?“ Holberg
blieb stehen.
„Wahrscheinlich.“ Der Major schaute sich im Gelände um.
„Hier könnte es irgendwo gewesen sein. Eine kleine Ab-
weichung spielt keine Rolle. Auf alle Fälle probieren wir es
mal.“
Er kniete nieder, lud die Signalpistole und suchte auf dem
zackigen Felsen eine geeignete Unterlage für den Lauf.
„Er hatte es nicht eilig, er konnte sich eine günstige Stelle
aussuchen und in Ruhe zielen. — Sagen Sie mir bitte, wenn
die Minute genau voll ist.“
Holberg schaute auf die Uhr. „Achtung — jetzt l“
Aus dem Pistolenlauf blitzte es kurz auf, und wenige Se-
kunden später entzündete sich über dem Radioteleskop ein
blauer Stern. Sie hatten keine rote Leuchtkugel genommen,
weil auf deren Spektrum die Alarmvorrichtung reagiert hätte.
Sie hatten blau gewählt, die Farbe, die für abgesprochene
Vereinbarungen zweier oder mehrerer Partner vorgesehen
war. ‘
„Die wird niemanden in Aufregung versetzen“, sagte Hol-
berg.
„Einen von ihnen gewiß“, widersprach der Major.
Wenige Minuten später betraten Rodin und Holberg die
seismographische Station.
Juramoto setzte die Miene orientalischer Freundlichkeit auf.
„Mit einem teuren Gast kommt das Glück ins Haus.“ Er ver-
beugte sich leicht. „Ich segne Ihre Schwerter auf dem Altar
meiner Vorfahren.“
Der Detektiv schaute den Selenologen prüfend an. „Wir
schätzen Ihre Solidarität. Von den Schwertern ist allerdings

191
nichts übriggeblieben. Unsere Waffe ist der Verstand. Wir
möchten uns gern Ihr heutiges Seismogramm ansehen, uns
interessiert, was die Nadel vor wenigen Minuten aufgezeich-
net hat.“
Juramoto schaltete das Licht ein, und unter der Glasscheibe
wurde das spinnwebartige Diagramm sichtbar. Rodin be-
trachtete den Streifen, beobachtete aber zugleich auch das Ge-
sicht des Selenologen. Außer zuvorkommender Bereitwillig-
keit konnte er nichts herauslesen.
„Wann war das, Doktor Holberg?“
„Um siebzehn Uhr neun.“
Genau Zu dieser Zeit hatte das Gerät eine kleine, aber den-
noch sehr deutliche Abweichung verzeichnet.
„Wodurch kann Ihrer Meinung nach dieser Ausschlag ver-
ursacht worden sein?“ fragte der Major den Professor.
Juramoto betrachtete die Nadelspur aufmerksam. „Das ist
schwer zu sagen“, bemerkte er schließlich. „Aber nicht wissen
bedeutet nicht, nichts zu wissen. Die Wette ist die Würze des
Alltags, das Lachen der Jugend und der Stolz des Alters. Ich
möchte wetten, daß das die gleiche Abweichung ist wie jene,
über die wir uns während Ihres gestrigen Besuches unter-
hielten.“
Der Professor holte aus dem Regal einen alten Streifen und
rollte ihn auf. „Ja, es ist der gleiche Vermerk wie am Sonn-
abend, wenige Sekunden vor dem Aufblitzen der Leucht-
kugeL“
Der Detektiv verglich beide Aufzeichnungen, zuerst mit blo-
ßem Auge, danach unter der Lupe. Es gab keinen Zweifel,
beide Anomalien waren auffallend ähnlich, sie waren prak-
tisch gleich.
„Wir danken Ihnen, Sie haben uns sehr geholfen. Erlauben
Sie mir noch eine Frage?“
„Ihre Fragen sind meine Freuden.“
„Hatten Sie in den letzten Tagen der vergangenen Woche
vielleicht irgendein ungewöhnliches Telefongespräch?“

192
„Ein ungewöhnliches?“
„Ich meine ein besonderes, eventuell ein Mißverständnis,
einen irrtümlichen Anruf oder dergleichen?“
An ein solches Gespräch konnte sich Juramoto nicht er-
innern.
„Lieber Besuch durchsonnt auch einen trüben Tag“, sagte der
Selenologe zum Abschied.
Langsamen Schrittes kehrten die beiden Gefährten zum
Hauptgebäude zurück. Jeder war mit den eigenen Gedanken
beschäftigt, bis schließlich Doktor Holberg das Schweigen
brach.
„Als Sie von dem Telefongespräch sprachen, fiel mir ein, daß
Gläzow Sie angerufen hat, gerade als Sie für einen "Moment
das Zimmer verlassen hatten.“
„Ich weiß“, erwiderte Rodin.
„Was wollte er von Ihnen?“
„Nichts. Er hat nicht angerufen.“
Doktor Holberg blieb stehen. „Aber ich . . .“
„Das wird Ihnen vielleicht überspannt vorkommen. Ich selbst
habe angerufen und Sie gefragt, ob ich zufällig in der Nähe
sei. Können Sie mir das vom Standpunkt der Psychologie aus
erklären?“
„Selbstverständlichl“ Aber anstatt zu sprechen, schritt der
Arzt wieder aus. Nach wenigen Metern blieb er abermals
stehen.
„Ich ahne, worauf Sie hinauswollen“, sagte er nachdenklich.
„Glauben Sie, daß das möglich ist?“
„Wir werden sehen!“
Sie änderten ihre Richtung und machten einen kurzen Besuch
im Treibhaus. Dann kehrten sie ins Hauptgebäude zurück
und suchten nacheinander die Ärztin, den Betriebsingenieur
und den Kommandanten auf.
Überall brachte Rodin das Gespräch mit fast kindlichem
Starrsinn aufs Telefonieren. Erst der Pilot Neumann gab
die erwartete Antwort.

13 Vcscly. Verbrechen 193


„Ich erinnere mich an so etwas. Warten Sie. Am Freitag-
nachmittag rief mich Schmidt an und fragte, ob Melchiad bei
mir sei. Als ich den Ingenieur eine halbe Stunde später Zu-
fällig auf dem Korridor traf, sagte ich ihm, daß er von
Schmidt gesucht würde. Aber das hat gar nicht gestimmt.
Nach dem Abendbrot machte mir Melchiad Vorhaltungen,
daß ich ihn entweder zum Narren halte oder an ‚Halluzina-
tionen leide.“
„Ich nehme an, Sie haben die zweite Möglichkeit einge-
räumt.“
„Natürlich. Ich werde mich doch nicht wegen einer solchen
Kleinigkeit mit ihm streiten.“
„Verzeihen Sie mir eine private Frage“, sagte Rodin mit
entschuldigendem Lächeln. „Haben Sie sich in Ihrem Leben
schon einmal richtig empört?“
Der Pilot lachte breit. „Schon zwei-, dreimal, soweit ich mich
erinnere; aber in allen Fällen war es vollkommen über-
flüssig.“
Während des Abendbrotes wurde eine recht gekünstelte
Unterhaltung geführt. Jeder hütete sich, die Sonnabend-
Tragödie auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Trotzdem
lag eine allgemeine Spannung in der Luft.
Erst beim Kaffee schöpfte MacKent Mut und begab sich auf
das dünne Eis.
„Morgen ist schon Freitag“, sagte er. „Allmählich geht es
hier zu Ende, und wir fliegen wieder nach Hause. Wie sieht
es bei Ihnen aus, Major?“
„Bei uns geht es auch zu Ende, wir reisen ebenfalls ab.“
Rodin rückte die leere Tasse ein Stückchen zur Seite.
Glazow starrte angestrengt auf den Tisch, Lange an die
Decke, Neumann bewegte langsam die Kiefer, Juramoto
lächelte freundlich zu Frau Doktor Santos hinüber, auf deren
Stirn eine Unmutsfalte stand. Melchiad stellte seine Tasse
behutsam zurück, und Fräulein Dario spielte verlegen mit
dem Löffel.

I94
„Morgen geht die Mondnacht zu Ende, der Tag beginnt.“
Wieder unterbrach MacKent die Stille.
Der Major erhob sich. „Ja, morgen beginnt es zu tagen.“
„Ich verstehe. Sind Sie dessen ganz sicher?“
„Völlig sicher! Gute Nacht.“
Im Einschlafen hörte der Major von ferne die einschmeicheln-
den Klänge der Kleinen Nachtmusik.
Freitag: Kleines geistiges Dessert

Ein sehr einfacher Plan

Das Frühstück ging allmählich zu Ende, und MacKent rich-


tete einen vorwurfsvollen Blick auf den Major. „Heute ist
Freitag! Sie hatten uns zum Morgenkaffee ein geistiges Des-
sert versprochen. Haben Sie das vergessen, Major? Bald be-
ginnt es zu tagen.“
„Sie konnten wohl vor Neugier nicht schlafen?“ erwiderte
Rodin lächelnd.
„Mein Schlaf ist gut, aber ich vermute, einer von uns wird
ziemlich schlecht geschlafen und schwer geträumt haben.“
Der Biologe schaute in die Runde, als suche er ein besonders
müdes und nervöses Gesicht. „Ich möchte nicht mit ihm tau-
schen, beim besten Willen nicht!“
„Selbstverständlich werde ich Ihnen sagen, was wir fest-
gestellt haben.“ Der Major schob seine Tasse beiseite. „Das
ist übrigens meine Pflicht. Unsere Arbeit in der Regenbogen-
bucht ist beendet, wir fliegen wieder zurück, wenn irgend
möglich, noch heute.“
Glazow griff zum Telefon, aber ehe er wählte, fragte er: „Um
wieviel Uhr möchten Sie fliegen?“
Rodin zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wie
schnell sich das machen läßt, aber wenn es geht, noch vor-
mittags, Doktor Holberg hat morgen etwas Wichtiges zu
erledigen.“
„Wieviel Plätze benötigen Sie?“
„Drei.“

I97
„Für Sie beide und . . .“
„. . . für den Täter, für den Menschen, der den Funktechniker
Schmidt vorsätzlich erschossen hat, für den ersten Mörder
auf dem Mond.“
Nur das halblaute Telefongespräch, das der Kommandant
mit dem Kosmodrom im Meer der Freude führte, war zu
hören. Im Speisesaal hatte sich bedrückende Stille ausge-
breitet.
Glazow legte den Hörer auf. „Das geht in Ordnung. Um elf
Uhr holt Sie ein Raketoplan des Bereitschaftsdienstes ab.
Wollen wir jetzt nicht in mein Zimmer gehen?“
„Sie wissen also schon, wer den Funktechniker auf dem Ge-
wissen hat?“ bedrängte MacKent den Kriminalisten, kaum
daß alle in den bequemen Sesseln im Arbeitszimmer des
Kommandanten Platz genommen hatten.
„Ich weiß es schon seit gestern.“
„Warum haben Sie es uns dann nicht schon gestern erklärt?“
fragte Frau Doktor Santos verwundert.
Der Detektiv schaute sich nachdenklich im Kreise um und
antwortete mit einer Frage: „Glauben Sie, Sie hätten dann
eine ruhigere Nacht gehabt?“
„Einer von uns.“ Glazow konstatierte mehr, als er fragte.
Sein Gesicht schien noch faltiger geworden zu sein, seine
Lider waren plötzlich so schwer, daß er die einzelnen Be-
satzungsmitglieder kaum noch ansehen konnte.
„Ja, einer von Ihnen.“
„So reden Sie doch endlich!“ fuhr Irina Dario den Major an.
Aus ihrem Ton glaubte Holberg herauszuhören, daß sie in
ihrer Gemütsverfassung nicht mehr weit von einem hyste—
rischen Anfall entfernt war.
Der Kriminalist lehnte sich zurück, als wollte er die Tisch-
gesellschaft aus einer neuen Perspektive betrachten. „Ich bin
ein bißchen in Verlegenheit, weil ich nicht recht weiß, wie
ich beginnen soll. Schmidt wurde auf so gewöhnliche und
einfache Art ermordet, daß es kaum etwäs Zu erzählen gibt.

198
Man ist fast versucht zu sagen, es handele sich um einen ganz
banalen Fall. Der Täter kam zum Radioteleskop, erschoß
den Funktechniker, und etwas später feuerte er die rote
Leuchtkugel ab. Keine komplizierten und raffinierten Tricks,
keine Sprünge von Felswänden, kein Wettlauf mit der Zeit,
kein Kampf um Sekunden, nichts dergleichenl Der ganze
Anschlag war denkbar einfach, wenn auch logisch und mathe-
matisch genau konstruiert.“
„Übertreiben Sie auch nicht, Major?“ MacKent brachte den
ersten Einwand vor. „Warum ist Schmidts Tod dann ein
solches Rätsel gewesen?“
„Warum er ein Rätsel gewesen ist?" wiederholte Rodin nach-
denklich. „Wahrscheinlich vor allem, weil der Mensch auch
hier auf dem Mond unwillkürlich zuerst alles mit den Augen
eines Erdenbürgers betrachtet. Der Verstand sagt mir zwar,
daß die Gravitation hier wesentlich geringer ist, daß ich hier
vielleicht nur fünfzehn Kilo wiege, aber trotzdem betrachte
ich besorgt die dünnen Beine der Sessel, trotzdem setze ich
mich ganz vorsichtig und behutsam hin, weil ich Angst habe,
daß der Stuhl unter mir zusammenbricht und ich auf dem
Fußboden lande. Kurz und gut, der Mensch akklimatisiert
sich geistig langsamer als physisch. Gegen das Beharrungs-
vermögen des irdischen Denkens ist eben noch kein schützen-
der Skaphander erfunden worden.“
„Damit ist auch nicht so bald zu rechnen“, pflichtete der Bio-
loge bei.
Doktor Holberg räusperte sich bedeutungsvoll. „Wenn Sie
gestatten, möchte ich gern bemerken, daß das Beharrungs-
vermögen in der menschlichen Psyche . . .“
„. . . eine wichtige Rolle spielt“, fiel ihm der Major ins Wort.
„Der Doktor wird Ihnen das später fachmännisch erläutern,
ich wiederhole nur als Laie, daß wir auch in der Regenbogen-
bucht irdische Maßstäbe angewandt haben.“
„Mit Ausnahme des Täters“, ergänzte Holberg.
„Ja, der Täter hat es ausgezeichnet verstanden, sich in die

I99
besonderen hiesigen Umweltsbedingungen hineinzuversetzen.
Er hat sie geschickt für adie Verwirklichung seiner Mord-
absichten ausgenutzt. Er verwischte keine Spuren und ge-
brauchte keine gefälschten. Er verließ sich darauf, daß dies
der Mond selbst erledigt. Er setzte auf die geringe An-
passungsfähigkeit der menschlichen Phantasie und des
menschlichen Kombinationstalentes. Und beinahe hätte er
dieses Spiel gewonnen.“
„Das ist ziemlich allgemein . . .“ Glazow zögerte.
„Sie haben recht. Kommen wir also zur Sache. Auf welche
Weise ist Schmidt umgebracht worden? Der Mordplan ent-
stand allem Anschein nach schon am Freitag oder sogar noch
früher. Am Sonnabendmorgen — wahrscheinlich vor dem
Frühstück, als die Korridore noch leer waren -— beschädigte
der Täter das Koaxialkabel und setzte damit den Teil der
Fernsehanlage außer Betrieb, der die Signale der Kameras
beim großen Radioteleskop übertrug. Das war der erste
Punkt seiner Vorbereitungen. Als zweites studierte er den
Arbeitsplan, der jeden Tag ausgehängt wird und der über
den Einsatz aller Besatzungsmitglieder am Sonnabend Auf-
schluß gab.“
„Wozu denn? Das verstehe ich nicht.“ MacKent zog erstaunt
die Brauen hoch.
„Das werden Sie gleich verstehen. Zuerst zum eigentlichen
Anschlag auf Schmidt. Zwischen zehn und halb elf tauchte
der Mörder in der Nähe des Funktechnikers auf, zog die
Signalpistole und erschoß ihn. Der Angriff kam wahrschein-
lich so unerwartet, so schnell und überraschend, daß Schmidt
nicht an eine Verteidigung denken konnte. In diesem Augen-
blick versagten dem Täter jedoch die Nerven, anders läßt
sich sein Fehler nicht erklären.“
„Die beiden Schüsse . . .“, warf Glazow ein.
„Ja. Schon der erste Treffer war tödlich, der zweite war das
sichere Zeichen, daß Schmidt nicht Selbstmord verübt haben
konnte. Dieser. Regiefehler veranlaßte uns zur Reise Zum

200
Mond. Nach diesem Irrtum ging der Täter wieder überlegt
und präzise vor. Er feuerte noch einen dritten Schuß auf die
Erde ab.“
„Auf die Mondoberfläche“, stellte Juramoto richtig.
„Woher wissen Sie, daß er noch ein drittes Mal geschossen
hat?“ fragte Frau Doktor Santos mißtrauisch.
„Das ergibt sich aus der Logik des Mordplanes, außerdem
haben wir das praktisch überprüft, nicht wahr?“ Mit den
letzten Worten hatte sich Rodin an Melchiad gewandt.
Der Betriebsingenieur nickte.
„Ingenieur Melchiad war so freundlich, mit Hilfe der künst-
lichen Hände vom Tatort Bodenproben zu entnehmen und
zu analysieren. So konnten die Stellen lokalisiert werden, an
denen die drei Leuchtkugeln im Staub ausgebrannt sind.
Zwei davon hatten Schmidt getroffen, die dritte war mit
Absicht zusätzlich abgeschossen worden. Dann tauschte der
Mörder die Signalpistolen aus. Seine eigene legte er neben
die rechte Hand der Leiche. Dafür nahm er Schmidts Pistole
an sich. Da die Pistolen nicht numeriert sind, konnte er das
ohne weiteres riskieren. Danach kehrte der Täter an die
Arbeit zurück. Vielleicht haben ihm dabei nicht einmal die
Hände gezittert.“
„Und Wie wollen Sie den Abschuß kurz vor elf erklären?“
MacKent sprach aus, was sich auch alle anderen im stillen
fragten.‚
„Der Urheber des Mordplanes löste den Alarm um zehn Uhr
neunundfünfzig aus. Diese Zeit wählte er nicht zufällig.
Schon am Morgen hatte er aus dem Arbeitsplan entnommen,
daß Ingenieur Melchiad ohne jedes Alibi sein würde, weil er
zu dieser Stunde die Sonnenbatterien in der Nähe des Radio-
teleskops überprüfen sollte. Melchiad kam nicht dazu. Es ist
Ironie des Schicksals, daß der Täter selbstAnlaß dazu gab.
Kalt rechnend hatte er alle Möglichkeiten und Varianten
einkalkuliert, aber nicht bedacht, daß’gerade Melchiad das
besdiädigte Kabel würde reparieren müssen, ohne Rücksicht

ZOI
auf die Festlegungen des Arbeitsplanes. Infolgedessen hatte
der Betriebsingenieur für eine Minute vor elf ein absolut
glaubwürdiges Alibi. Ich nehme an, daß der Mörder sehr
unangenehm überrascht war, als er nach dem Alarm Mel-
chiad vor dem Eingang des Hauptgebäudes erblickte. Aber in
diesem Augenblick konnte er nichts mehr ändern, sondern
mußte sich damit zufriedengeben, daß seine Rechnung nicht
ganz so aufging, wie er es sich vorgestellt hatte. So kam es,
daß wir einen Toten vorfanden, der keinen Selbstmord ver-
übt haben, aber auch von niemandem ermordet worden sein
konnte. Ein wirklich absurder Fall l“
„Kein Licht ohne Schatten“, bemerkte leise Juramoto. „Auch
die Schachgroßmeister begehen Fehler, besonders wenn sie
den Gegner unterschätzen.“
„Eine Minute vor elf zog der Mörder die Signalpistole,
stützte sie irgendwo auf einen Felsen und schoß in Richtung
Radioteleskop ab. Die Leuchtkugel entzündete sich kilo-
meterhoch über der Anhöhe und fiel langsam herunter. Alles
stimmte dem Anschein nach überein: Zwei Geschosse hatten
Schmidts Skaphander durchschlagen, eine dritte Leuchtkugel
war in die Höhe gestiegen, in der Pistole fehlten drei Patro-
nen; jeder sagte sich, daß zwei plus eins drei ergibt. Wer
wäre auf die Idee gekommen, daß diese Rechenaufgabe
etwas komplizierter war: zwei plus eins plus eins minus eins
gibt ebenfalls drei! Wer wäre auf die Idee gekommen, daß
die Leuchtkugel von jeder beliebigen Stelle der näheren Um-
gebung abgeschossen werden konnte: beim Haupttrakt
ebenso wie beim Raketoplan, beim Treibhaus, beim Obser-
vatorium oder auch bei der seismographischen Station.“
In diesem Augenblick mußte Holberg an einen Besuch im
Panoptikum denken, an die Könige und Mörder, an die be-
rühmten Philosophen und Kurtisanen, an die Gelehrten und
Spitzensportler, an all die unbeweglichen und steifen' Wachs-
figuren, die wie Menschen aussahen, aber unnatürlich und
gespensterhaft wirkten. Wie in Wachs gegossen, saßen jetzt

202
die Besatzungsmitglieder in ihren Sesseln. Nur Melchiads
Hände störten dieses fast vollkommene Bild. Der Ingenieur
drehte einen Bleistift wie eine lamaistische Gebetsmühle
zwischen den Fingern. Neumanns Kiefer zerkauten mit
gleichmäßigen Bewegungen die letzten Reste des Frühstücks.
Er hatte sich vorsorglich seinen Teller aus dem Speisesaal
mitgebracht.
„Der Täter schloß sich dann der Gruppe vor dem Eingang an
und lief mit ihr zum Radioteleskop, um den längst erstarrten
Schmidt zu retten. Zur Erde aber flog die Nachricht über ein
perfektes Rätsel. Das Geheimnis schien nur deshalb so voll-
kommen, weil der Fall auf dem Mond passiert war. Auf der
Erde wäre das eine Sache für einen Anfänger gewesen, die er
in einer Stunde gelöst hätte, wobei er noch hätte Kaffee
trinken und die Morgenzeitung lesen können. Hier ist das
anders. Die explosive Dekompression zerfetzte die Wunden,
so daß niemand abzuschätzen vermochte, aus welcher Ent-
fernung die Schüsse abgegeben worden waren. Die luneare
Nacht ließ den Körper augenblicklich erstarren, so daß kein
Experte die Sterbezeit genau bestimmen konnte. Es war also
nicht festzustellen, ob Schmidt tatsächlich eine Minute vor elf
oder schon eine Dreiviertelstunde früher getötet worden
war.
Auch etwaige Spuren auf dem Boden waren völlig wertlos.
Sie konnten ebensogut vom Mörder wie von seinem Opfer
stammen, beide trugen ja die gleichen Skaphander! Sie konn-
ten sogar von den ersten Mondpionieren oder von den Er-
bauern dieses Stütunktes zurückgelassen worden sein, denn
kein Wind und kein Regen verändert sie. Fingerabdrücke
gibt es hier überhaupt nicht, weil die vom Skaphander ge-
schützten Hände für das Daktyloskop nichts hinterlassen.
Selbst wenn ein Milligramm Öl übertragen worden wäre,
würde uns das nicht weiterhelfen, weil es in diesem Vakuum
schon fast ein Wunder ist, daß sich nicht auch Eisen ver-
flüchtigt.“

20;
„Es verflüchtigt sich tatsächlich, Major“, bemerkte der Kom-
mandant. „Zwar langsam, aber immerhin l“
„Na bitte! Um wieviel mehr erst Fette? Oder ein anderes
Problem: Es ist hier ausgeschlossen, die Richtung zu be-
stimmen, aus welcher der Knall des Abschusses zu verneh-
men war, weil die Luftleere keinerlei Geräusche weiterträgt.
Wenn ich hinter Ihrem Rücken eine Leuchtkugel abschösse,
könnten Sie das erst beim Anblick des Lichtscheins am Hori-
zont wahrnehmen. Der Täter hat dennoch manches über-
sehen. Es ist beinahe verwunderlich, daß er diese Dinge nicht
bedacht hat.“
„Was ist es?“ stieß MacKent ungeduldig hervor.
„Er vergaß beispielsweise den Seismographen. Dieses un-
bestechliche Gerät registrierte den Rückschlag der Pistole,
der vom Körper des Mörders auf den Boden übertragen
wurde. Aber das ist schließlich nur ein Detail. Viel entschei-
dender war, daß der Täter folgendes außer acht ließ: Er
mochte tun und lassen, was er wollte, es blieben außer ihm
hier sieben ehrliche Menschen, die, wenn auch nach anfäng-
lichem Zögern, bereit waren, uns zu helfen, das Knäuel irre-
führender oberflächlicher Eindrücke zu entwirren und ein
ziemlich genaues Bild der Situation zu entwerfen. So konnten
wir schließlich acht Gleichungen aufstellen und acht Unbe-
kannte bestimmen, von denen sieben ein positives Vorzeichen
hatten und eine ein negatives. Ich weiß nicht, wann das dem
Täter klargeworden ist, wann er begriff, daß er eigentlich
schon verloren war, noch ehe er begonnen hatte; denn ein
Mörder bleibt allein, und wer allein ist, ist schwach. Immer l“
„Wollen Sie damit sagen, daß es heute keine ungeklärten
Fälle mehr gibt?“
MacKents Frage klang aggressiv.
„Es gibt nur Fälle, die noch ungeklärt sind. Aber ihre Zahl
ist gering und von heute an wieder um einen kleiner: um das
Verbrechen in der Regenbogenbucht.“
„Das Verbrechen in der Regenbogenbucht“, wiederholte

204
Glazow. Es klang wie ein dumpfes Echo. Erschüttert senkte
er den Blick.
„Unser Erscheinen im Stützpunkt löste gewiß ein Chaos im
Kopf des Täters aus. Zwei TreEer schlossen einen Selbstmord
aus, und eine der wichtigsten Verteidigungslinien des Mör-
ders war zusammengebrochen: Die Änderung des Arbeits-
programms hatte Melchiad ein einwandfreies Alibi verschafft.
Als wir begannen, die Bewegungen aller Besatzungsmitglie-
der zu überprüfen und die Lücken in den Aussagen aufzu-
spüren, mußte der Mörder zwangsläufig immer nervöser wer-
den. Selbst Mozarts Kleine Nachtmusik vermochte ihn nicht
zu beruhigen. Er findet keine Ruhe mehr, bis . . .“ ‚
Der Astronom Lange erhob sich. „Seien Sie mir nicht böse,
Major, aber das ist für meinen — zugegeben — vielleicht etwas
altmodischen Geschmack ein bißchen zu sensationell. Ent-
schuldigen Sie mich? Ich muß noch etwas erledigen, ehe die
Sonne aufgeht. Ihren Schluß kann ich mir übrigens selber zu-
sammenreimen. Es ist wirklich nicht so schwierig, wie es
anfänglich schien. Ich beglückwünsche Sie l“
Rodin nickte schweigend.
Als sich die Tür hinter Lange geschlossen hatte, nahm der
Kriminalist erneut das Wort. „Ich glaube kaum, daß es Sie
interessieren wird, wie wir hinter einige dieser seltsamen
Umstände gekommen sind.“
„Selbstverständlich interessiert uns das l“ MacKent schrie bei-
nahe.
Der Detektiv lächelte beklommen. „Nun gut, Sie dürfen aber
keinen Beweis für hellseherische Fähigkeiten oder für ein
überragendes Kombinationstalent erwarten. Gäbe es nicht
das besondere Kolorit, das wir der hiesigen Umwelt ver-
danken, wäre die Untersuchung ganz ohne Sensation und wie
jede beliebige andere verlaufen. Aber lassen Sie uns gemein-
sam überlegen: Der Täter mußte um zehn Uhr neunundfünf-
zig die Leuchtkugel abgeschossen haben. Das war einer der
wenigen feststehenden Punkte, an die wir uns halten konnten,

205
nachdem wir ausschließen mußten, daß Schmidt um Hilfe
gerufen habe. Ist das klar?“
„Klar“, kam es zustimmend aus der Runde.
„Wer konnte den Schuß also abgegeben haben? In erster
Linie MacKent. Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, ich
verdächtige Sie nicht, sondern erkläre nur unsere Schluß-
folgerungen“, beruhigte der Major den aufgebrachten Bio-
logen. „MacKent stand um zehn Uhr neunundfünfzig in der
Nähe des Eingangs. Er hielt sich im Schatten versteckt. Des
weiteren der Astronom Lange, der gerade zum Observato-
rium zurückging. Aber auch Professor Juramoto, der es bei
seinen Erfahrungen bestimmt fertiggebracht hätte, seine Sta—
tion zu verlassen und die Leuchtkugel abzufeuern, ohne daß
es die empfindlichen Geräte vermerkt hätten.“
„Selbst für diese Anerkennung danke ich Ihnen.“ Der Sele-
nologe deutete eine Verbeugung an, aber aus seinen Augen
sprühte Ironie.
„Die gleiche Möglichkeit hatte auch Neumann, der nur den
Raketoplan zu verlassen brauchte, nachdem er mit den
Scheinwerfern geblinkt hatte, und schließlich auch Frau Dok-
tor Santos, die gerade auf dem Weg vom Hauptgebäude zum
Treibhaus war. Dagegen hielten sich der Kommandant, die
Funktechnikerin Dario und Ingenieur Melchiad nachweisbar
im Haupttrakt auf. Das wurde vielfach bestätigt, in einem
Falle sogar durch einen Zeugen aus der Verbindungszentrale
auf der Erde.“
Die Funktechnikerin sah den Major halb verlegen, halb bit-
tend an.
„Diese drei können wir demnach streichen“, fuhr der Detek-
tiv fort.
„Bleiben fünf Verdächtige“, konstatierte MacKent, und sein
Blick irrte von Gesicht zu Gesicht.
„Ja, fünf Leute, die die letzten Minuten vor elf Uhr im
Freien verbrachten und die Möglichkeit hatten, die Leucht-
kugel abzuschießen. Lassen Sie uns überlegen, wer von ihnen

206
Schmidt umbringen konnte. Um zehn Uhr hatte der Funk-
techniker noch gemeldet, daß bei ihm alles in Ordnung sei.
Zu diesem Zeitpunkt muß er also noch gelebt haben, um
zehn Uhr neunundfünfzig beantwortete er den Ruf der Zen-
trale nichtmehr — er war zweifellos schon tot.“
„Eine Stunde ist natürlich ein ziemlich großer Spielraum“,
gab der Biologe zu bedenken.
„Wir können diese Zeitspanne begrenzen. Um elf Uhr zwei
waren sie alle vor dem Eingang versammelt, mit Ausnahme
von Fräulein Dario, die mit der Erde in Verbindung stand.
Für den Weg vom Hauptgebäude zum Radioteleskop be-
nötigt man mindestens zehn Minuten, für den Rückweg we-
nigstens drei Minuten, und auch das nur, wenn man einen
halsbrecherischen Sprung wagt. Unseren Doktor hat es be-
stimmt eine Menge Selbstüberwindung gekostet.“
„Und einen Bluterguß am Knöchel“, fügte der Experte für
kosmische Medizin hinzu.
„Wenn wir eine Minute für die drei Schüsse und für den
Austausch der Pistolen annehmen, sind das insgesamt vier-
zehn Minuten. Der Täter mußte infolgedessen spätestens um
zehn Uhr achtundvierzig aufbrechen. Zu dieser Zeit zogen
sich aber Frau Doktor Santos und der Pilot Neumann erst
die Skaphander an. Weil durch Zeugenaussage bestätigt ist,
daß sie sich auch vorher nicht entfernten, können wir sie
von der schwarzen Liste streichen. Frau Santos war zuerst in
Gesellschaft von Professor Juramoto, danach hatte sie Be-
such von Lange. Das Alibi des Piloten für diese Zeit bestä-
tigten der Kommandant und Fräulein Dario. Ist das ver-
ständlich?“
„Vollkommen“, erwiderte MacKent.
„Es bleiben demnach Juramoto, MacKent und— Lange.“
Melchiad fuhr plötzlich hoch undzeigte mit dem Bleistift auf
Glazow. „Lange ist nach draußen gegangen! Wie lange ist er
schon weg?“
„Ich weiß nicht. Er wollte wohl einige Sterne beobachten, die

207
heute vormittag vom Mars verdeckt werden. Gestern erzählte
er jedenfalls so etwas.“
„Rufen Sie ihn zurück! Im Skaphander ist der Sauerstoff noch
nicht aufgefüllt.“ Der Betriebsingenieur holte eine Aufstel-
lung aus der Tasche und überflog sie mit einem Blidc. „Wie
die Abendkontrolle ergab, reicht Lange mit dem Sauerstoff
höchstens eine halbe Stunde, jetzt nur noch fünfundzwanzig
Minuten.“
Der Kommandant stand schweigend auf und schaltete alle
Bildschirme ein. Zwei Kameras fingen die Gestalt Langes
ein. Er schritt durch das Tal auf die Mündung der Regen-
bOgenbucht zu.
Glazow beugte sich über eines der Mikrophone, schaltete ein
und rief: „Langel“
„Ich höre“, ertönte die ausgeglichene Stimme des Astronomen
im Lautsprecher.
„Wissen Sie, daß der Sauerstoff nicht nachgefüllt worden ist?
Ihr Vorrat reicht höchstens noch für fünfundzwanzig Mi-
nuten.“
„Das habe ich bemerkt. Ich werde es berücksichtigen.“
Vielleicht war es eine Sinnestäuschung, aber es schien Rodin,
als habe Glazow ratlos mit den Schultern gezuckt. Nach kur-
zem Zögern ging der Kommandant zu seinem Sessel zurück,
ließ aber die Bildschirme eingeschaltet. Alle verfolgten die
Gestalt, die sich mit gleichmäßigen Schritten entfernte. Lan-
ges Gang drückte einen festen Willen und ein klares Ziel
aus.
„Es blieben also nur noch drei übrig.“ Rodin nahm den
Faden wieder auf. „Und nun entstand eine geradezu ver-
wirrende Situation. Professor Juramoto teilte uns mit, daß er
um zehn Uhr neunundvierzig mit Schmidt telefoniert habe.
Der Funktechniker hatte sich erkundigt, ob Melchiad in der
seismographischen Station sei. Verstehen Sie, daß wir einiger-
maßen verwundert waren, als . . .“
„Einigermaßen?“ fragte Holberg zweifelnd.

208
„. . . daß wir mehr als verwundert waren, als uns Christian
MacKent kurz darauf eröffnete, er habe die Leiche des
Funktechnikers bereits um zehn Uhr fünfundzwanzig ge-
sehen, seine Entdeckung aber verheimlicht, um nicht selbst in
Verdacht zu geraten.“
Staunen lag auf den Gesichtern. Selbst Hugo Neumann hörte
für eine Weile auf zu kauen.
„Wir standen also vor einem Wirrwarr von Aussagen uno
Ansichten. Entweder sagte Juramoto die Wahrheit oder Mac-
Kent. Einer von beiden mußte lügen, weil ein toter Schmidt
nicht in der seismographischen Station anrufen konnte. Hiel
wären wir beinahe in eine Sackgasse geraten.“
„Selbstverständlich muß einer von beiden gelogen haben.
Warum reden Sie da von einer Sackgasse?“ sagte der Kom-
mandant stirnrunzelnd, ohne die Bildschirme aus den Augen
zu lassen.
„Die Schwierigkeit bestand darin, daß keine der beiden Ver—
mutungen zu einer überzeugenden Lösung führte. Wenn Mac-
Kent die Wahrheit sagte und Juramoto log, dann war
Schmidt schon zu einer Zeit tot, da Professor Juramoto noch
im Laboratorium unter den Augen von Frau Doktor Santos
gearbeitet hatte.“ Rodin wandte sich an den Biologen. „Wann
fanden Sie die Leiche?“
„Um zehn Uhr fünfundzwanzig.“
„Und wann verließ der Professor das Laboratorium?“ fragte
er die Ärztin.
„Etwa um halb elf.“
„Die erste Möglichkeit entfällt also, denn wenn Juramoto
log, dann konnte er den Funktechniker nicht umgebracht
haben. Versuchen wir es also mit de‘r zweiten. Wenn Jura-
moto die Wahrheit sagte und MacKent log, dann hat Schmidt
um zehn Uhr neunundvierzig noch gelebt. Das bedeutet, daß
er zu einer Zeit getötet wurde, da MacKent noch im Treib-
haus war. Wenn MacKent log, dann konnte er Schmidt nicht
auf dem Gewissen haben.“

14 Vcscly, Vcrbrcchcn
209
„Das stimmt“, fügte Neumann hinzu. „Als ich zum Raketo-
plan ging, habe ich MacKent im Treibhaus gesehen. Er dich-
tete gerade den Skaphander ab und ging auf die Luftschleuse
zu.“
Doktor Holberg benützte die kurze Gesprächspause, um
seinerseits einzuwerfen: „Begreifen Sie, wie absurd das alles
war? Wenn einer schon lügt, dann doch nur, um einen Vor-
teil zu erzielen, seine Lage zu verbessern, um Ungelegen-
heiten oder der Strafe auszuweichen. Ich habe noch nie erlebt,
daß ein normaler Mensch die Wahrheit verdreht, mit der
Absicht, seine Situation zu verschlimmern. Und ausgerechnet
hier sollten zwei vernünftige und besonnene Männer lügen,
um ihr eigenes Alibi zu zerschlagen? Das ist doch kaum vor-
stellbar.“
„Es ist das Verdienst des Doktors, daß wir diesen gordischen
Knoten schließlich doch auseinanderhauen konnten. Es geht
eben nichts über wissenschaftliche Systematik und Gründlich-
keit.“ Rodin nickte Holberg anerkennend zu. „Der Doktor
kam darauf, daß es nicht zwei, sondern vier Möglichkeiten
gab. Es konnte ja auch sein, daß beide logen oder beide die
Wahrheit sagten l“
„Beide die Wahrheit?“ Glazow zweifelte.
„Genauer gesagt: die subjektive Wahrheit. Aber der Reihe
nach. Die erste Möglichkeit, daß beide gelogen hätten, konn-
ten wir ausschließen, weil es nur einen Mörder gibt und weil
außer ihm niemand einen Grund gehabt hätte, uns irrezu-
führen. Blieb also die zweite Möglichkeit, daß beide die
Wahrheit sagten. Ich fragte mich, ob Professor Juramoto viel-
leicht das Opfer einer Sinnestäuschung geworden sei. Aber
wie hatte es dazu kommen können? Ich rief aus dem Speise-
saal den Doktor in meinem Zimmer an und fragte, ob Rodin
dort sei. Er versicherte mir höflich, ich hätte für einen Augen-
blick das Zimmer verlassen, ohne auf die Idee zu kommen, er
spräche mit mir. Stimmt’s, Doktor?“
„Genau.“

ZIO
„Damit hatten wir anschaulich bewiesen, daß selbst bei der
gespannten Atmosphäre, die hier in der letzten Zeit herrschte,
einer die Stimme des anderen am Telefon nicht erkannte.“
„Richtig“, pflichtete Melchiad bei. „Die hiesigen Telefone
verwischen die Klangfarbe.“
„Warum sollte also anstelle des toten Schmidt nicht ein an—
derer in der seismographischen Station angerufen haben? Da
fiel mir ein, daß dieser andere vorher einen Versuch gemacht
haben müßte. Wie Herr Neumann bestätigte, hatte eine
solche Probe tatsächlich stattgefunden. Jemand hatte ihn am
Freitag angerufen und sich in Schmidts Namen nach Herrn
Melchiad erkundigt.“
„Wir hatten also beide recht“, sagte Juramoto nachdenklich
und bedachte MacKent mit einem freundlichen Blick. „Auch
wenn meine Wahrheit gebrechlicher war als die Ihre.“
„Als wir nun auch Ihre Namen von der Liste der Verdächti-
gen Strichen, blieb nur ein Besatzungsmitglied übrig: Lange.
Hatte er eine Minute vor elf Uhr die Leuchtkugel abschießen
können? Ohne weiteres, denn zu dieser Zeit war er unter-
wegs Zum Observatorium. Konnte er in der Zeit zwischen
zehn Uhr und zehn Uhr fünfundzwanzig Schmidt erschießen?
Allerdings, denn er tauchte erst um Viertel elf im Fotolabor
auf, und es ließ sich nicht feststellen, was er vorher getan
hatte. Und schließlich die dritte wichtige Frage: Hätte es
Lange genützt, wenn jemand behauptete, Schmidt sei um drei
Viertel elf noch am Leben gewesen? Ohne Zweifel, denn er
hatte für die spätere Zeit ein sicheres Alibi, aber nicht für
die Zeit davor. Ist das klar?“
„Natürlich“, flüsterte jemand mit erstickter Stimme. Unwill-
kürlich richteten sich alle Augen auf den mittleren Bild-
schirm. Die Gestalt des Astronomen war zu einem winzigen
Strich geworden, der sich kaum noch vom eintönigen Hinter-
grund der Regenbogenbucht abhob.
„Wie lange reicht sein Sauerstoff noch?“ Die Stimme der
Ärztin klang fremd und gepreßt.

ZII
Der Betriebsingenieur schaute auf die Uhr und zog eine Ta-
belle zu Rate. „Bei normalem Verbrauch nur noch elf Mi—
nuten.“
„Höchste Zeit, daß er umkehrt.“ Frau Santos blickte den
Kommandanten eindringlich an.
Glazow wandte sich zu Rodin um. Die beiden Männer sahen
sich lange schweigend an.
„Es ist schon zu spät“, sagte der Kommandant endlich.
„Versuchen Sie es doch wenigstens! Rufen Sie ihn zurück!
Wir können ihm doch mit einer Sauerstoffflasche entgegen-
laufen. Finden Sie nicht, daß ein Todesfall auf dem Mond
mehr als genug istl Unternehmen Sie doch etwas, stehen Sie
doch nicht wie festgewurzelt dal“ Der Kommandant rührte
sich nicht, deshalb wandte sich die Ärztin an Rodin. „Ist
Ihnen denn gleichgültig, daß er sich seinem Richter entziehen
will?“
Der Kriminalist senkte den Blick. „Vielleicht hat er sich mit
seinem Richter identifiziert.“
Plötzlich erhob sich Glazow, ging zum Schaltpult hinüber und
verharrte eine Weile unbeweglich davor. Dann kehrte er
wieder zum Tisch zurück; „Die Kleine Nachtmusik habe ich
mir übrigens angehört, falls Sie das noch interessieren sollte.
Aber erzählen Sie weiter.“

Ein komplizierter Hintergrund

Irina Dario konnte ihren Blick nur mit Anstrengung vom


schirm losreißen. „Warum?“ fragte sie fassungslos. „Warum
hat er das getan?“
„Ja, warum?“ wiederholten mehrere Stimmen.
„Sie fragen mit Recht nach dem Motiv.“ Rodin spürte, wie
ihm etwas die Kehle zuschnürte. Er redete, aber seine Stimme
hörte sich unpersönlich an, als spräche ein Fremder. „Die

212
Beweggründe menschlichen Beginnens lassen sich selten so
genau erkennen und beschreiben wie die ausgeführte Tat.
Das ist verständlich, denn bei den Motiven haben wir es mit
Größen zu tun, die wir weder exakt abwägen noch messen
können. Auf diesem Gebiet fehlen uns einheitliche Maße.
Wie soll man also Haß, Angst und Neid messen? Dennoch
hätte uns Langes Motiv von Anfang an klar sein müssen.
Wir haben nur versäumt, bekannte Tatsachen miteinander zu
verbinden, sie richtig einzuordnen und ihren kausalen Zu-
sammenhang aufzudecken.“
Rodin versuchte, nicht an die Tragödie zu denken, die sich
in den nächsten Minuten in der Regenbogenbucht abspielen
mußte; dennoch wanderten seine Augen immer wieder zum
mittleren Bildschirm. Sollte ich einmal meine Memoiren
schreiben, ich würde diesen Fall . . .
„Hier liegt ein Brief“, sagte Frau Doktor Santos plötzlich.
„Er ist an Major Rodin adressiert. Vielleicht hat ihn Lange
hiergelassen?“
MacKent beugte sich über den Tisch. „Ja, das ist seine
Schrift.“
„Ein Brief für mich?“ Rodin zog die Brauen in die Höhe.
„Von einem Menschen seines Schlages war das eigentlich zu
erwarten.“ Der Kriminalist nahm den Umschlag entgegen
und legte ihn vor sich auf den Tisch.
„Wollen Sie den Brief nicht öffnen?“ drängte MacKent.
„Natürlich, aber ein bißchen später, damit Sie beurteilen
können, ob wir mit unseren Schlüssen ins Schwarze getroffen
haben. Dieses Fünkchen Eitelkeit müssen Sie mir verzeihen,
ich mache nicht oft Gebrauch davon.“
„Ein ganzes Feuer davon sei Ihnen gegönnt“, sagte Juramoto
lächelnd.
„Sehr liebenswürdig. Aber nun zu Langes Mordmotiv: In
unserer Zeit, noch dazu auf dem Mond, im Kreise hoch-
gebildeter Menschen, fällt es schwer, ein gewöhnliches, sozu-
sagen irdisches Motiv anzunehmen. Wer in eine ernste wis-

213
senschaftliche Forschungsarbeit vertieft ist, hat sich mit ganz
anderen Konflikten und Problemen auseinanderzusetzen als
jemand, der nicht mit wissenschaftlicher Arbeit vertraut ist.
Deshalb schloß ich von vornherein kleinliche und unwesent-
liche Beweggründe aus und vermutete, daß im Hintergrund
dieses Verbrechens etwas Großes stehen müsse.“
Die Ärztin verzog das Gesicht. „Etwas Großes im Hinter-
grund? Es gibt große und kleine Menschen. Aber Beweg-
gründe? Was für den einen eine Episode ist, kann für den
anderen eine katastrophale Lebensenttäuschung sein.“
„Sie haben recht. Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Ich
ging davon aus, daß hinter diesem Verbrechen ein Beweg-
grund stehen müsse, der einem Menschen von hohem Intel-
lekt angemessen wäre. — Das einzige, worauf wir uns stützen
konnten, waren die Zahlenreihe in Schmidts Notizbuch und
einige Bemerkungen dazu.“ Rodin ließ das aufgeschlagene
Notizbuch des Funktechnikers herumgehen.
„Lauter ungerade Zahlen“, stellte der Kommandant fest.
„Lange selbst sagte uns, daß es sich um Primzahlen“ handelt.
Er nahm wahrscheinlich an, früher oder später kämen wir
ohnehin dahinter oder es würde uns jemand darauf bringen,
der die Elementarkenntnisse in Mathematik nicht so gründ-
lich vergessen hat wie ich.“
„Eine chifirierte Nachricht?“ Glazow gab das Notizbuch
weiter.
„Nein. Und trotzdem sind die Zahlen gewissermaßen ver-
schlüsselt. Allerdings braucht man zur Auflösung keinen
Code, sondern lediglich gesunden Menschenverstand.“
„Sagt mir gar nichts“, brummte Melchiad und reichte das
Notizbuch Juramoto.
„Die Zahlen allein besagen tatsächlich noch nichts“, erklärte
Rodin. „Der Inhalt der Nachricht ergibt sich erst in einem
bestimmten Zusammenhang. Sie alle haben ausgesagt, daß
Schmidt jede freie Minute am Empfänger verbrachte und mit
dem großen Radioteleskop den Sternenhimmel und die Erde

214
abhorchte. Er fand sogar Zeit, Amateurstationen zu empfan-
gen. Wenn man das weiß, gehört kein großer Scharfsinn
dazu, eine Arbeitshypothese aufzustellen: Der Funktechniker
fing eine aus Zahlen bestehende chiffrierte Nachricht auf
und trug sie in sein Notizbuch ein; hätte er sie entschlüsselt,
wäre der Astronom in eine äußerst schwierige Situation
geraten. Schmidt zerbrach sich den Kopf darüber, was für
eine Bewandtnis es mit diesen Zahlen haben könne. Vor-
läufig wissen wir noch nicht, auf welchem Wege Lange davon
erfuhr; wahrscheinlich hat sich Schmidt ihm selbst anvertraut.
Da beschloß der Astronom, den Funker für immer zum
Schweigen zu bringen, noch bevor er seine Entdeckung aus-
plaudcrn konnte.“
„Sie'wollen doch wohl nicht behaupten, Lange wäre ein
Spion!“ Die Ärztin schaute den Major herausfordernd an.
„Solch ein wissenschaftlicher Fanatiker, dem es um jede Mi-
nute leid tut, die er mit Essen und Schlafen vertrödelt, sollte
sich mit Ränkeschmieden beschäftigt haben? Verzeihen Sie,
das ist ein kolossaler Irrtum, eine völlig falsche Spur. Das
glaube ich niemals! Lange ein Agent — das ist ja geradezu
lachhaft!“
Auch Glazow meldete sich zu Wort. Er begann langsam und
zögernd, aber von Satz zu Satz gewann seine Stimme an
Nachdruck und Sicherheit. „Nehmen Sie mir’s nicht übel,
Major, aber ich identifiziere mich mit Frau Doktor Santos.
Lange hat sein ganzes Leben der Astronomie gewidmet. Sie
war seine einzige Leidenschaft. In der Theorie, die er auf-
gestellt hatte, sah er die Erfüllung seines Lebens. Ja, hätte
er in einem Anfall von Zorn einen wissenschaftlichen Wider-
sacher umgebracht. . . Ich kann mir nicht vorstellen, daß er
imstande gewesen wäre, sich in der von Ihnen angedeuteten
Richtung zu engagieren.“
„Auch ich bin der Meinung, daß Kollege Lange keines-
falls . . .“ Juramoto verstummte. In seinem Gesicht zuckte es,
in seinen Augen glomm ein Schimmer von Erkenntnis.

215
„. . . daß Kollege Lange . . .“‚ wiederholte MacKent drän-
gend.
„jetzt begreife ich . . .“ Professor Juramoto schloß nachdenk-
lich die Augen. „Anders kann es nicht gewesen sein. Alles
geht auf, greift wie ein Rädchen eines Uhrwerks in das an-
dere. Wirklich, Lange wollte sich eines unbequemen Zeugen
entledigen, und das war Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, Ma-
jor! Sie sagten, glaube ich, Ihre Untersuchung sei ohne Sen-
sation verlaufen. Mag sein, ich wage es nicht zu beurteilen,
denn ich weiß nicht, was für Situationen Sie schon durch-
gemacht haben. Aber wie Sie aus einem Chaos von Strichen
und Klecksen ein Bild geformt haben — das ist eine Meister-
leistung.“
Irina Dario zog ein mißmutiges Gesicht. „Ich verstehe ge—
nausoviel, als hätten Sie Kisuaheli gesprochen.“
„Entschuldigen Sie“, sagte der Selenologe. „Unser verehrter
Major wird bestimmt gleich erläutern — und das ist der
Kern der Sache —, daß chiffrierte Signale nicht nur von der
Er‘de kommen können.“
„Woher denn sonst?“ stieß MacKent hervor.
Juramoto blätterte in Schmidts Notizbuch eine Seite um.
„Hier ist es angedeutet:_ eventuell auch von anderen Sternen.
Nehmen wir an, vom Planetensystem des Sternes Alpha
Aquila. Der Gruß des fliegenden Adlers erreichte die
Erde.“
Glazow erhob sich erregt und trat wieder an den Bildschirm.
Die Gestalt des Astronomen war im fahlen Grau verschwun-
den. Die Kameras zeigten nur noch die öde Landschaft der
Regenbogenbucht.
Der Kommandant durchmaß einige Male den Raum, dann
setzte er sich wieder und beugte sich gespannt vor. „Mit an—
deren Worten: Schmidt kam durch seine Entdeckung mit
Langes Theorie in Konflikt. Nicht wahr?“
„Das ist so gut wie sicher. Ich bin in diesen Dingen kein
Fachmann, berichtigen Sie mich bitte, wenn ich Unsinn reden

216
sollte.“ Rodin machte eine entschuldigende Geste. „Ich er-
kläre mir den Hintergrund dieses Verbrechens folgender-
maßen: Aus den‘Primzahlen geht hervor, daß es im Gebiet
des Alpha Aquila einen Planeten gibt, auf dem vernunft-
begabte Wesen leben. Wahrscheinlich sind sie in ihrer Ent-
wicklung weiter als die Menschen. Daß sie gerichtete Signale
über eine Entfernung von schätzungsweise . . .“
„. . . fünf Parsek, das sind rund fünfzehneinhalb Lichtjahre“,
sagte Juramoto bereitwillig. „Der Stern selbst entspricht un-
gefähr der Größenklasse eins, er ist mit bloßem Auge als
hellster Stern im Sternbild des Adlers zu sehen. Spektrum
A sieben, Oberflächentemperatur um achttausend Grad.“
„Danke schönl“ Rodin deutete eine Verbeugung an. „Und
nun versetzen Sie sich einmal in die Lage des Astronomen.
Die Signale auf Schmidts Tonband machten einen dicken
Strich durch seine Theorie. Jahrzehnte seiner wissenschaft-
lichen Arbeit waren umsonst gewesen, ein Vierteljahrhundert
seines Lebens war vertan.“
„Ich kann noch immer nicht fassen, Major, daß jemand einen
Menschen nur eines Gedankens wegen umgebracht haben
soll, wegen einer Idee, die keinerlei Auswirkungen auf das
Leben der Menschen hat, die niemandem etwas versagt oder
nimmt.“ Irina Dario vermochte nur zu flüstern. „Es handelt
sich doch im Grunde nur darum, ob Lange mit seiner Theo-
rie recht hatte oder nicht. Ich kann das einfach nicht begrei-
fen . . .
Doktor Holberg richtete sich auf und warf dem Detektiv
einen bittenden Blick zu. „Wenn Sie erlauben, werde ich ver-
suchen, es Ihnen zu erklären. Im Prinzip geht es um eine sub-
jektive Skala von Wertungen, um das Gewicht, das ein
Mensch den einzelnen Kategorien der Außenwelt beimißt,
mit denen er in Berührung kommt. Halten Sie es für mög-
lich“, der Arzt wandte sich direkt an Irina, „daß ein Mann
vorsätzlich seinen Nebenbuhler umbringt, um die geliebte
Frau Zu gewinnen?“

217
„Wenn Sie daran zweifeln, haben Sie niemals wirklich ge-
liebt“, antwortete die Funktechnikerin.
„Etwas eigenartig, Ihre Begründung. Geben Sie auch zu, daß
es Leute gibt, denen ihr spezielles Forschungsgebiet ebenso-
viel bedeutet wie einem anderen die geliebte Frau?“
„Gewiß. Solche Leute gibt es, auch hier.“
„Dann müssen Sie ihnen schon das gleiche Recht auf Eifer-
sucht, Freude und Enttäuschung zubilligen, auf Groll und
sogar auf Haß, selbst wenn Sie solche Gefühle verurteilen.
Es ist nicht verwunderlich, wenn derartige psychische Be-
lastungen zu tiefgreifenden moralischen Abweichungen füh-
ren.“
„Aber Lange . . .“
„Wäre es nicht besser, nachzusehen, was er selbst uns zu
sagen hat?“ mischte sich Neumann in das Gespräch ein.
Der Major schnitt den Umschlag sorgfältig auf und begann
laut Zu lesen. „ ‚Herr Rodinl‘ — Mit Ausrufezeichen. Was
hat er damit wohl ausdrücken wollen?“
Holberg lebte wieder auf. „Die moderne Graphologie legt
großen Wert auf die Interpunktion. Sie wirkt nämlich im
übertragenen Sinne wie eine Geste, aus der . . .“
Rodin las rasch weiter. „ ‚Ich schreibe frühmorgens, vor dem
Tagesanbruch, über den Sie gestern abend so klar (wenigstens
für mich) gesprochen haben. Sie haben gute Arbeit geleistet,
und es ist wohl angebracht, daß ich Ihnen als Gegenleistung
für den Takt, den Sie mir gegenüber bewiesen haben, einige
Einzelheiten über diese traurige Angelegenheit mitteile. Ich
tue es gern, weil ich gegen Sie persönlich nicht den geringsten

Groll hege.‘
Der Kriminalist blickte nachdenklich auf den Bildschirm.
Ingenieur Melchiad schaute auf die Uhr und sagte: „Jetzt
reicht der Sauerstoff nur noch knapp fünf Minuten.“
Niemand antwortete darauf, der Major fuhr fort: „ ‚Am
Donnerstagnachmittag besuchte mich Michael Schmidt und
spielte mir ein Tonband mit Funksignalen vor, die aus dem

218
Gebiet des Sternes Alpha Aquila stammen. Ihnen sagt das
vielleicht nichts, aber für die Fachwelt wäre es ein Ereignis,
daß die Signale auf der Frequenz der Radiostrahlung des
Wasserstoffes empfangen wurden. Aus der Länge der einzel-
nen Signale und den Pausen zwischen ihnen war deutlich zu
entnehmen, daß sie nach einem bestimmten System gesendet
wurden. Es handelte sich um eine Reihe von Primzahlen,
deren Anfang nicht aufgezeichnet werden konnte. Ich habe
Schmidt nachdrücklich gebeten, vorläufig darüber zu schwei-
gen und in den nächsten Tagen zu versuchen, die Signale noch

einmal zu empfangen.‘
„Deshalb also machte Schmidt seitdem den Eindruck, als
wäre er mondsüchtigl“ rief der Kommandant dazwischen.
„ ‚Sie können sich meine Lage gewiß vorstellen, Herr Rodin.
Schmidts Entdeckung vernichtete mein ganzes Lebenswerk.
Fünfundzwanzig Jahre Entsagung, Studium und Arbeit
mußte ich abschreiben. Den ganzen Donnerstagabend habe
ich die neue Situation nach allen Seiten hin geprüft und nach
einem Ausweg gesucht. Ich schlief mit dem Vorsatz ein,
Schmidt, den einzigen Zeugen, für immer zum Schweigen zu
bringen.
Am Freitag probierte ich aus, ob man hier die Stimme am
Telefon erkennen könne . . .‘ “
„Also hatte ich doch keine Halluzinationen!“ Neumann
blickte Melchiad triumphierend an.
„,. . . und am Sonnabendvormittag schritt ich Zur Tat. Ich
glaube nicht, daß Sie die technischen Details interessieren,
Sie haben ohnehin schon alles selbst ergründet. Ich möchte
nur bemerken, daß ich die Waffe mit tiefer Wehmut im Her-
zen erhob. Ich mochte Schmidt, und ich wußte, daß mein
Schuß der Menschheit einen tüchtigen Mann raubte, der über
alle Voraussetzungen verfügte, ein erfolgreicher Wissen-
schaftler zu werden. Wissen Sie, es ist leichter, jemanden in
einem Wutanfall umzubringen als ihn kaltblütig und vor-
sätzlich zu erschießen, noch dazu, wenn es sich um einen

219
sympathischen Menschen handelt, der einem nur durch Zufall
ein Leid zugefügt hat. Trotzdem habe ich ihn ermordet.
Allerdings unterliefen mir dabei Fehler, die Ihrer Aufmerk-
samkeit nicht entgangen sind. Mein gesamtes späteres Ver-
halten einschließlich der Antworten auf Ihre Fragen und der
unauffälligen — so hoffe ich wenigstens - Versuche, Ihre Auf-
merksamkeit auf Signale von der Erde zu lenken, das alles
war nur noch ein Ausdruck meiner Verzweiflung. Auch die
Diskussionen mit Doktor Holberg bedeuteten für mich ledig-
lich eine wehmütige Erinnerung an das Gestern, und ich bitte
ihn, mir zu verzeihen, daß ich dabei mit Fakten argumen-
tierte, die in diesem Augenblick nicht mehr der Wahrheit
entsprachen.‘ “ ‘
Holberg vermochte nur stumm zu nicken.
Rodin nahm das nächste Blatt zur Hand. „ ‚Theoretische
Konstruktionen, die ein Vakuum in unseren Kenntnissen
ausfüllen, sind nur so lange haltbar, bis die ersten praktischen
Erfahrungen vorliegen. Dann kommt die Konfrontation, die
optimistisch, aber auch bitter ausgehen kann. Schmidt hat
mir den bitteren Kelch gereicht. Es war das Tonband, auf
dem Signale aus dem Kosmos aufgezeichnet waren. Von nun
an gab es keinen Zweifel mehr: irgendwo in den Fernen des
Weltalls leben vernunftbegabte Wesen, die vielleicht schon
eine höhere Entwicklungsstufe erreicht haben als die Men-
schen. Meine Theorie von der Ausschließlichkeit des irdi-
schen Lebens im Kosmos brach in sich zusammen.
Was sollte ich nun tun? Ich handelte nach dem Grundsatz:
Die Fakten sind gegen dich. Um so schlimmer für den Mit-
wisser.‘“
„Noch zwei Minuten“, klang eintönig die Stimme des Be-
triebsingenieurs.
„ ‚Als ich mich über den toten Schmidt beugte, um mich zu
vergewissern, ob der Zeuge wirklich schweigen würde, wurde
mir mit Entsetzen klar, daß er zwar für die Menschheit ver-
stummt war, aber niemals für mich. Für mich gab es kein
Entrinnen, ich würde jene Primzahlen niemals aus meinem
Hirn tilgen können. Nacht für Nacht würde ich mit der
Angstvorstellung aufwachen, gerade in diesem Augenblick
untergrabe ein neuer Schmidt meine Theorie. Niemals mehr
könnte ich ohne Scham das Sternbild des Adlers betrachten.
Niemals mehr könnte ich mich als Wissenschaftler fühlen,
sondern nur noch als Scharlatan, der etwas verschwieg in der
naiven Vorstellung, es existiere nicht, was man nicht wisse.
Ich weiß jetzt, daß eine Theorie Fakten nicht vergewaltigen
darf; tut sie es dennoch, verläßt sie den Boden der Wissen-
schaft. Ich scheide als geschlagener Mensch, als Wissenschaft-
ler bin ich zugrunde gerichtet. Ich bereue die überstürzte Tat
und verurteile mich selbst zur höchsten Strafe. Noch nie habe
ich trockene Kathederbelehrungen und pathetische Erklärun-
gen geschätzt. Aber in diesen letzten Worten will ich die
Hoffnung aussprechen, daß mein Schicksal und mein Ende
jedem eine Warnung sein möge, der seine Gedanken und
Ideen selbstsüchtig liebt und Tatsachen nicht sehen möchte.
Ihr Felix Lange.” Der Major schwieg eine Weile, ehe er
weitersprach. „Dann ist hier noch folgende Schlußbemer-
kung: ‚Dennoch glaube ich, daß es nur eine Mensdiheit gibt.
Deshalb scheide ich aus der Welt. Verstehen Sie diese Logik?

Ihr F. L.‘
Die Augen der Funktechnikerin füllten sich mit Tränen.
„Wie lange hat er noch Zeit?“ flüsterte sie.
Melchiad wandte den Blick von ihrem aschfahlen Gesicht
ab.
„Exitus“, sagte Juramoto leise.
An der Wand blinkte plötzlich eine grüne Signallampe auf.
Der zuckende Lichtschein riß Rodin aus seinen Gedanken.
„Was ist denn das nun wieder?“
Diese Frage erlöste den Kommandanten aus seiner Starre.
„Die Sonnenbatterien nahmen eben die ersten Strahlen auf.
Ein neuer Tag beginnt. Schauen Sie!“ Seine Stimme klang
noch farblos und müde.

221
Auf dem äußersten Bildschirm hob sich am fahlen Horizont
immer deutlicher die Konstruktion des großen Radioteleskops
ab. Die Sonnenstrahlen brachten auf den glänzenden Metall-
teilen ganze Kaskaden leuchtender Farben hervor.
„Ein technisches Wunder im Weltall“, flüsterte Doktor Hol-
berg ergriffen.
Alle Rechte für die deuasdae Ausgabe vorbehalten
©Jifl Brabenec - Zdenök Veselj
l. Auflage - 1966
Verlag Das Neue Berlin. Berlin
Lizenz-Nr.: 409-160/16/66 ' ES 8 C
Umschlagzeichnung: Peter Nagengast
Lektor: Roswitha Dietrich
\ Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30

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