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Figurationen.

Schriften zur
Zivilisations- und Prozesstheorie
Band 10
Herausgegeben von
Annette Treibel, Karlsruhe, Deutschland

in Zusammenarbeit mit
Helmut Kuzmics und Reinhard Blomert
Melanie Frerichs

Innovationsprozesse
und organisationaler
Wandel in der
Automobilindustrie
Eine prozesssoziologische Analyse
betrieblicher Machtproben
Melanie Frerichs
Düsseldorf, Deutschland

D6

Dieses Werk ist gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung.

ISBN 978-3-658-05145-7 ISBN 978-3-658-05146-4 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-05146-4

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Danksagung

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine Dissertation, die ich 2012
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht habe. Für die
Veröffentlichung wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet.
Mein erster Dank gilt den Akteuren des Fallbetriebs, ohne die es die vorliegende
Arbeit nicht gäbe: allen voran der Betriebsrat, das Team des KVP-Büros, der IG
Metall-Vertrauenskörper, der Werkleiter und das gesamte Werkmanagement sowie
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Interviews und Gruppendiskussionen.
Auch möchte ich hier ausdrücklich meinen Kolleginnen und Kollegen im Fallbe-
trieb und des Doktorandenkollegs danken, die mit mir in dieser Zeit durch alle
Höhen und Tiefen gegangen sind.
Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Stefanie Ernst, die mir in allen Phasen der
Arbeit als wissenschaftliche Betreuerin zur Seite stand und mit mir ausdauernd den
Eliasschen Gedanken diskutierte. Zudem bedanke ich mich bei dem zweiten Gutach-
ter der vorliegenden Arbeit, Prof. Dr. Rolf von Lüde von der Universität Hamburg.
Prof. Dr. Ulrich Jürgens vom Wissenschaftszentrum Berlin danke ich für die
kritische Begutachtung meiner Arbeit und den stets ergiebigen Austausch wäh-
rend der gesamten Phase der Dissertation. Einen wertvollen Beitrag zur besseren
Lesbarkeit der Arbeit hat mein Schreibberater und Lektor Hergen Hillen aus
Hamburg geleistet.
Ein besonderer Dank geht auch an Dr. Jan Kruse von der Albert-Ludwigs-Uni-
versität Freiburg, der in jeder Empiriephase mein Ansprechpartner und maßgeblich
am Erfolg der Analyse der empirischen Daten beteiligt war.
Mein herzlicher Dank gilt Thorsten Gallus, meiner Familie und meinen Freun-
den, die viel Ausdauer und Geduld bewiesen haben.
Ein besonders tief empfundener Dank gilt auch meinem verstorbenen Kollegen
Ewald D. (Betriebsrat), ihm widme ich diese Arbeit.
Düsseldorf, 7.1.2014
Melanie Frerichs
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ........................... 13

1 Einleitung .................................................... 15

2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . 23


2.1 Das Figurationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.2.1 Verflechtungszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.2.2 Machtbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.3 Der Zivilisationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.4 Veränderungen der Verhaltensstandards
im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne . . . . 39
2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

3 Untersuchungsleitende Konzepte:
Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung . . . . . . . . . . . . . 51
3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.3 Doppelte Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.4 Das Transformationsproblem und seine
Überwindungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen
Produktionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
8 Inhaltsverzeichnis

4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73


4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung . . . . . 74
4.1.1 Fabrikordnungen und Arbeitsdisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.1.2 Die Herausbildung einer Lohnarbeiteridentität . . . . . . . . . . 79
4.1.3 Figuration „Fabrikarbeiterschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.1.4 Die Bildung von Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4.2 Wandelbare Machtgleichgewichte – Die Herausbildung
des Arbeitsethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.2.1 Der disziplinierende Charakter von Zeit
und Zeitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
4.2.1.1 Sich der Zeit bewusst sein – Eine Synthese . . . . . . . 85
4.2.1.2 Das Zeiterleben, physikalische und soziale Zeit,
„zweite Natur“ und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.2.1.3 Zeit als Norm – Die Industrialisierung . . . . . . . . . . 86
4.2.1.4 Beschleunigung oder „Das Tempo unserer Zeit“ . . . 90
4.2.1.5 Verringerung der Distanzen
(„Raumschrumpfung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung
nach Frederick W. Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform . . . . . . 97
4.5 Die Krise des Fordismus und das Programm
zur Humanisierung des Arbeitslebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4.6 Lean Production in der deutschen Automobilindustrie . . . . . . . . 103
4.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109


5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung . . . . . . . . . . 110
5.1.1 Prozesstheoretischer Forschungs-
und Methodenzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.1.2 Sprache als Verflechtungsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.1.3 Erkenntnistheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.1.4 Methodische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
5.1.4.1 Prinzip der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
5.1.4.2 Prinzip der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5.1.4.3 Prinzip der Indexikalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5.1.4.4 Prinzip der Prozessualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5.1.4.5 Prinzip des Fremdverstehens als
Erkenntnisprinzip rekonstruktiver Forschung . . . 120
5.1.5 Validität rekonstruktiver Forschungsergebnisse . . . . . . . . 121
Inhaltsverzeichnis 9

5.2 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122


5.2.1 Die sozialwissenschaftliche Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . 122
5.2.1.1 Zugang zum Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
5.2.1.2 Praktische Durchführung der Beobachtungen . . . 124
5.2.2 Das Gruppendiskussionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
5.2.2.1 Methodologische Grundlagen der
dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
5.2.2.2 Auswahl der Befragungsgruppen
(theoretical sampling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
5.2.2.3 Rekrutierung der Interviewpartner . . . . . . . . . . . . 134
5.2.2.4 Von der Forschungsfrage zum Leitfaden . . . . . . . . 136
5.2.2.5 Praktische Durchführung der
Gruppendiskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
5.2.3 Teilnarrative Einzelinterviews (leitfadengestützt) . . . . . . . 139
5.2.3.1 Der Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
5.2.3.2 Praktische Durchführung der teilnarrativen
Einzelinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
5.2.4 Auswertung des Datenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
5.2.5 Analyseschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

6 Empirische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149


6.1 Machtverhältnisse im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.1.1 Die entgrenzte Situation und der typische Verlauf
des KVP-Workshops . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.1.1.1 Der typische Workshopverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . 150
6.1.1.2 Der Delegierten-Workshop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
6.1.2 Zwei machtvolle Figurationen im Unternehmen
(Etablierte und Außenseiter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
6.1.2.1 Verhandlungsarena KVP-Workshop:
„wir“ und „die“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
6.1.2.2 Die Machtprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
6.1.2.3 Veränderungen der industriellen Beziehungen:
direkte Partizipation oder betriebliche
Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
6.1.3 Der KVP-Workshop als Spielmodell –
Ein Gedankenexperiment nach Norbert Elias oder:
„Vielleicht steht da ein Mann mit auf dem Spiel.“ . . . . . . . . 175
6.1.3.1 Spielregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
10 Inhaltsverzeichnis

6.1.3.2 Rationalisierung auf Raten oder:


den eigenen Spieleinsatz gut aufteilen . . . . . . . . . . 177
6.1.3.3 Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
6.1.4 Organisierte Scheinegalität und rivalisierende
Zusammenarbeit im KVP-Workshop . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
6.1.4.1 Der KVP-Workshop als Zeitfenster für
Partizipation an der Niederlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
6.1.4.2 Die Beharrungstendenz (Vier-Felder-Matrix) . . . . 189
6.1.5 Partizipation im KVP oder: „Das ist dann schon
beschlossenen Sache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
6.1.5.1 An der Grenze zur Entscheidung oder:
„Wer entscheidet das denn? Das is‘ immer
nur die Frage.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
6.1.5.2 Die Wissenden in einer Organisation oder:
„Die wissen ja gar nicht, was wir da für
Arbeit machen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
6.1.5.3 KVP als trojanisches Pferd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
6.1.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6.2 Die KVP-Moderatoren: Eine neue Figuration im Betrieb oder
Schicksalsgemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
6.2.1 Typologisierung der Moderatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
6.2.1.1 Moderator 1: Der Sonderfall im luftleeren
Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
6.2.1.2 Moderator 2: Der Individualist . . . . . . . . . . . . . . . . 211
6.2.1.3 Moderator 3: Der „Antreiber“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
6.2.1.4 Moderator 4: Der Agent des Unternehmens . . . . . 221
6.2.1.5 Zusammenfassung: M1-M4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
6.2.2 Die Neutralität des KVP-Moderators . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
6.2.2.1 Die KVP-Moderatoren für den direkten Bereich
(Produktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
6.2.2.2 Die KVP-Moderatoren aus der Verwaltung
für die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
6.2.3 „Wir sind Moderatoren.“ – Figuration oder
Schicksalsgemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
6.2.4 Die Position des KVP-Moderators im Betrieb . . . . . . . . . . 244
6.2.5 Berufung zum Moderator –
Ein neues Anspruchssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
6.2.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Inhaltsverzeichnis 11

6.3 Vermarktlichung – Das Eindringen der Marktlogik in den


produktiven Kern (Ausbau der Kontingenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
6.3.1 Zeitökonomie – „Stillstand ist Rückschritt“ –
Hauptthese der betrieblichen Reorganisation . . . . . . . . . . . 249
6.3.2 Kontingenz des Rahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
6.3.3 Die Erweiterung der „undankbaren Aufgabe“
des Vertrauensmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
6.3.4 Das Tabuthema Leistungsintensivierung als Folge
des KVP oder: die „gefühlte Leistungsverdichtung“ . . . . . 254
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation . . . . . . . . . . . . . . . 259
6.4.1 Kein Adressat für Verantwortung oder:
Der „Gegendruck“ fehlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
6.4.2 Die „Idee“, Verantwortung zu übernehmen . . . . . . . . . . . . 263
6.5 Der strategische Mix von Fordismus und Postfordismus . . . . . . . 269
6.5.1 Ein Appell an die Selbstverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 269
6.5.2 Die Insel-Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
6.6 Verdichtung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
6.6.1 Die Beharrungstendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
6.6.2 Die Folgen einer Scheinpartizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
6.6.3 Das Potemkin-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
6.6.4 Die Kunst des Verhandelns als Hinweis auf stärkere
Selbstzwänge (Wege aus der Beharrungstendenz) . . . . . . . 278
6.6.5 Betriebliche Reorganisation und kognitive
Dissonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
6.6.6 Das Neutralitätskonzept der KVP-Moderatoren . . . . . . . . 283
6.6.7 Die Auflösung des Fordismus gelingt nur fordistisch . . . . 284
6.6.8 Der Mix von Fordismus und Post-Fordismus . . . . . . . . . . . 286

7 Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Anhang: Beispiel-Leitfaden „GENE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Abbildungen

Abbildung 1 „Eine Figuration interdependenter Individuen –


Familie, Staat, Gruppe, Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Abbildung 2 Forscherperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Abbildung 3 Der Prozess rekonstruktiver Interviewanalyse
im schematischen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Abbildung 4 Stabile Balance (Beharrungstendenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Tabellen

Tabelle 1 Grundprinzipien quantitativer und qualitativer Forschung . . . 121


Tabelle 2 Gruppenprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Einleitung
1 Einleitung
1
1 Einleitung

Neue Arbeitsformen sind seit den 1990er Jahren in der Automobilindustrie die
ausschlaggebenden Wettbewerbsmerkmale auf dem globalisierten Markt. Der
stetig wachsende Konkurrenzdruck zwingt die Unternehmen zu einer Steigerung
der Produktivität, zu erheblichen Kostensenkungen und erhöhter Flexibilität.
Es ist unübersehbar, dass sich der Verkäufer- zu einem Käufermarkt gewandelt
hat. Dabei müssen die Beschäftigten im Rahmen der Einführung beteiligungs-
orientierter Konzepte wie dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP)
die damit verbundenen „Unsicherheitserfahrungen in Permanenz“ (Dörre 2005:
194) selbst bewältigen. Die Rekonstruktion der von ihnen angewandten Bewälti-
gungsstrategien oder auch Abwehrmechanismen im Hinblick auf die Gestaltung
der besonderen Lage zwischen neuen Optionen und Anforderungen ermöglicht
den Blick auf sich wandelnde Fremd- und Selbstkontrollen. Auch wenn zur indi-
viduellen Bewältigung neuer Formen von Arbeitsorganisation vielfältige Studien
vorliegen (Pfeiffer 2007, Lohr/Nickel 2005; Senghaas-Knobloch et al. 1997 etc.),
ist die figurations- und prozesssoziologische Dimension, die die Entwicklung von
Fremd- und Selbstzwängen unter den Bedingungen flexibilisierter Strukturen fo-
kussiert, noch relativ unbestimmt (vgl. Ernst 2007: 138). Die vorliegende Studie ist
ein Beitrag zur näheren Bestimmung dieser figurations- und prozesssoziologischen
Sichtweise und ein Beispiel für die praktische Anwendung prozesstheoretischer
Organisationsforschung.
Das Schlagwort der Automobilindustrie zu Beginn des Jahrzehnts hieß dabei
Lean Production. Damit fassten Womack, Jones und Roos (1991) am Massachusetts
Institute of Technology (MIT) die Ergebnisse ihrer Studie über die Hintergründe
für den Erfolg der japanischen Automobilhersteller zusammen. Nicht die Technik
– so das Resultat – war für den Wettbewerbsvorteil japanischer gegenüber europä-
ischen und amerikanischen Herstellern ausschlaggebend, sondern eine optimierte
Arbeitsorganisation. Das an Toyota orientierte Konzept, das die Schwächen des
Taylorismus (rigide horizontale und vertikale Arbeitsteilung) überwinden sollte,

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
16 1 Einleitung

setzte auf Dezentralisierung, Hierarchieabbau, Selbstorganisation und neue For-


men der Mitarbeiterbeteiligung. Charakteristische Methoden waren Teamarbeit,
optimierte Logistikkonzepte und der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP).
Immer wieder versuchen die Unternehmen, das Toyota-Konzept zu inszenieren,
doch es hat sich bis heute – gegen alle Erwartungen – nicht als „one-best-way“
erwiesen (vgl. Schumann 2007: 8).
Die aktuellen Experimente in Form ganzheitlicher Produktionssysteme (GPS),
die seit einigen Jahren in der Automobilindustrie zu beobachten sind, sind prin-
zipiell keine neuen Managementkonzepte. Sie sind lediglich der Versuch, das
Toyota-Produktionssystem nun möglichst vollständig zu übertragen (vgl. Jürgens
2006: 19). Ganzheitliche Produktionssysteme vereinen bekannte, auf Einzellösun-
gen basierende komplexe und widersprüchliche Reorganisationsprozesse aus den
1990er Jahren, die bisher nur unkoordiniert und unverbunden nebeneinander
standen. Sie sollen übersichtliche Strukturen und eine Abstimmung der Prozesse
gewährleisten (vgl. Pfeiffer 2007: 57). Sie sind aufgrund ihrer propagierten Flexibilität
eine Reaktion auf die Sättigung des Marktes und veränderte Kundenwünsche: Die
Kunden möchten statt eines Autos „von der Stange“ ein individuelles Produkt (vom
Massenprodukt zur Variantenvielfalt mit kundenspezifischen Ausstattungsmerk-
malen). Das fordistische Konzept der Massenproduktion wird von einer „just in
time“-Produktion abgelöst, indem die Beschäftigten mit flexiblem Arbeitshandeln
auf Marktschwankungen reagieren. Das ganzheitliche Produktionssystem ist ein
neuer Ansatz zur Transformation von Arbeitskraft in Arbeitsleistung, indem die
Beschäftigten ihre konkreten Arbeitsaufgaben innerhalb erweiterter Handlungs-
spielräume (im Sinne des Betriebsziels) selbstorganisiert und selbstverantwortlich
bewältigen sollen (Dezentralisierung). Subjektivität als ein „nichtreduzierbarer
persönlicher Anteil“ (Senghaas-Knobloch 1995: 43) an einer vorstrukturierten
Situation wandelt sich auf diese Weise vom Störfaktor – wie sie noch im Taylorismus
galt – zum Leistungspotenzial. Die Theorie der „Subjektivierung von Arbeit“ geht
von neuen Handlungsspielräumen für die Beschäftigten aus, die keine Unsicher-
heitszonen mehr für die Unternehmen darstellen, sondern in dieser Form ein Appell
an die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten sind. Gemeinsam ist der vielfältigen,
inzwischen schwer zu differenzierenden Diskussion über die Subjektivierung von
Arbeit1 die Erkenntnis, dass die Beschäftigten zwar mehr Optionen erhalten, aber
zur gleichen Zeit auch neuen Anforderungen ausgesetzt sind.

1 Vgl. Voß 1998; Holtgrewe 2000; Moldaschl/Voß 2003; Lohr/Nickel 2005; Huchler/
Voß/Weihrich 2007; vgl. zu ausführlichen Literaturangaben, zu den Anfängen der
Subjektivierungsdebatte in der deutschsprachigen Soziologie Kleemann et al. 2003:
70.
1 Einleitung 17

Die Flexibilität selbst wird zum Standard erhoben und stellt widersprüchliche
Anforderungen an die Beschäftigten. Sie halten sich an einen Standard, den sie
gleichzeitig immer wieder infrage stellen sollen („flexible Standardisierung“,
vgl. Pfeiffer 2007: 60). Zudem arbeiten sie durch diese Standards an der eigenen
Disziplinierung. Die veränderte Arbeitsorganisation macht die Beschäftigten zu
Subjekten der Rationalisierung und der Disziplinierung. Flexible Standards haben
auch einen disziplinierenden Charakter und bieten aufgrund ihrer Flexibilität und
ihrer Mitgestaltungsaufforderung neue Handlungsspielräume für die Beschäftigten.
Jürgens spricht von einem „Konfliktfeld“ (Jürgens 2003: 31f.). Fremdkontrolle in
Form starrer Vorgaben wandelt sich zu Selbstkontrolle. Das Transformationspro-
blem, also die Überführung von Arbeitskraft in Arbeitsleistung, wird quasi von
den Beschäftigten selbst gelöst.
In der vorliegenden Studie sind die Subjekte im Arbeitsprozess nicht Opfer
der neuen Verwertungslogik, sondern mit individuellen Handlungsoptionen
ausgestattet. Subjektivierung ist als doppelter Prozess zu verstehen und so geht die
Untersuchung von einer dialektischen „Wechselwirkung zwischen Subjektivierung
als Zwang und Subjektivierung im Interesse der Subjekte“ (Lohr 2003: 525f.) aus.
Die neue Subjektivität im Produktionsprozess ist „in das semantische Gewand
jahrzehntealter Anforderungen gekleidet“ (Sauer 2005: 116) und zugleich eine
Herausforderung an die betriebliche Interessenvertretung.
Die Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias ermöglicht mit ihrem
rekonstruktivem Zugang eine sozio- und psychogenetische Analyse des Einzelnen
in seinen gesellschaftlich-historischen Verflechtungen. Das Verhalten wird im
Zuge der Modernisierung zivilisierter und beinhaltet Freiheitsgrade, aber auch
neue Einschränkungen, die sich in differenzierten Selbstzwängen ausdrücken.
Die Zivilisationstheorie kann auch für die Arbeits- und Organisationssoziologie
nutzbar gemacht werden, indem sie u. a. die Analyse Einzelner und ihre Verortung
in Organisation und Gesellschaft ermöglicht (vgl. Mastenbroek 2002, Ernst 2010).
Organisationen als Funktionssystem und Verflechtungssphäre sind historisch ge-
wachsene, sich weiterentwickelnde dynamische soziale Orte und Begegnungsstätten
mit Konflikten, Kooperationen und Verhandlungen. Ihre von Machtbeziehungen
geprägten interdependenten Gruppen (Management, Facharbeiter, Produktions-
mitarbeiter, Betriebsrat etc.2) sind in unterschiedlicher Form auf den vertikalen und
horizontalen Ebenen (Routine-, Experten- und Facharbeit) tätig (vgl. Ernst 2010:
47). Für die vorliegende Fallstudie ist vor allem die Disziplinierungsgeschichte der

2 In der vorliegenden Studie wurde aufgrund der besseren Lesbarkeit auf die jeweils
weibliche Form verzichtet. Nur in den Fällen, in denen explizit auf Frauen Bezug
genommen wird, wird die weibliche Form verwendet.
18 1 Einleitung

Fabrikarbeit von Bedeutung, da sie einen historischen Einblick in sich verändernde


Fremd- und Selbstzwänge erlaubt. Die schon auf die Antike zurückgehende Dis-
ziplinierungsgeschichte der Arbeit wurde mit dem Industriezeitalter und seinen
Arbeitsordnungen forciert. Sie reicht bis zu den aktuellen Versuchen einer neuen
Verwertung von Arbeitskraft in ganzheitlichen Produktionssystemen. Die Entwick-
lung, die sich in den Machtkämpfen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
der letzten Jahrhunderte spiegelt, zeugt von verstärkter Trieb- und Affektkontrolle.
Die Prozesse müssen deshalb aus drei Blickwinkeln analysiert werden: der Ver-
gangenheit, dem gegenwärtigen Zusammenhang und der Zukunft. Nach Elias ist
dieser Blick „deshalb erforderlich, weil sich das Bild der Gegenwart ohne Bezug zu
Vergangenheit und Zukunft unweigerlich verzerrt“ (Elias 1984, 1939/1997, Bd. 2:
501). Mit der Implementierung eines ganzheitlichen Produktionssystems wird ein
grundlegender Wandel des betrieblichen Sozialgefüges ausgelöst, bei dem mit dem
Vermögen zur Selbstorganisation auch ein intensivierter Selbstzwang einhergeht.
Das Aufweichen strikter Richtlinien und hierarchischer Kontrollen (Fremdzwang)
verlangt die Fähigkeit zur Selbststeuerung (Selbstzwang). Hier lohnt sich ein
konkreter Blick auf die Frage, inwieweit sich die Machtverhältnisse im Betrieb,
also die Beziehung zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten verändert haben.
Der zivilisationstheoretische Zugang dieser Studie, der die langfristige Ent-
wicklung der Psycho- und Soziogenese der Menschen in einer Gesellschaft fokus-
siert, erlaubt die bislang unzureichend beantwortete Frage, wie der „Zwang zum
Selbstzwang“ (Dörre 2005: 201) wird (vgl. Ernst 2007: 132). Die Umwandlung von
Fremd- in Selbstzwänge (z. B. Selbstorganisationsfähigkeiten) steht in Verbindung
mit der Verringerung der Machtdifferenzen (vgl. Wouters 1999: 60) sozialer Gruppen
(z. B. Vorgesetzte und Untergebene) und ist daher „keine neuartige Innovation des
auf Rationalisierung und Subjektivierung setzenden Managements, sondern Teil
einer langfristigen Umformung von Fremd- in umfassendere Selbstzwänge“ (Ernst
2010: 50). Mit der Betonung der Selbstorganisationsfähigkeiten im Unternehmen
erhält die individuelle Begabung und Leistung einen höheren Stellenwert. Die
Beschäftigten sind nun gezwungen, sich selbst zu vermarkten. Dieser Prozess der
Selbstinszenierung kann zu einer Entfremdung des eigenen Selbst (und Wollens)
führen. Phänomene dieser Art sind bereits zu Zeiten der höfischen Gesellschaft
zu entdecken (vgl. Newton 1999: 420f.).
Individuelle Bewältigungsformen und gesellschaftliche Konsequenzen müssen
zusammengedacht werden. Die individuelle Bewältigung im Rahmen partizipati-
ver Konzepte wie dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) bezieht sich
nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf seine sozialen Beziehungen, also
die konkreten interdependenten Verflechtungen im direkten Umfeld und ihren
Machtbalancen. Die Beschäftigten, die am KVP aktiv partizipieren, indem sie
1 Einleitung 19

wie im hier vorgestellten Projekt feste Teilnehmer in moderierten einwöchigen


KVP-Workshops sind, erweitern ihre Handlungsspielräume und verändern damit
die Machtbalancen zwischen sich und den nicht partizipierenden Teamkollegen
sowie zwischen Akteuren anderer Figurationen im Betrieb. Die Analyse der In-
terdependenzgeflechte schafft einen Einblick in und das Verständnis für komplexe
gesellschaftliche und organisationale Zusammenhänge (vgl. Elias 1970/2004: 143).
Das dynamische und relationale Machtkonzept von Norbert Elias ist auch auf
die Arbeits- und Organisationssoziologie anwendbar (Newton 1999: 412ff., 2001:
476f.). Das sich wandelnde hierarchische Machtgefüge und Figurationen stehen
im Zusammenhang mit der Subjektivierung von Arbeit. Die „vielen Spielarten,
in denen Menschen miteinander verbunden sind“ (Goudsblom 1979: 74), können
machttheoretisch und in ihren realen Zusammenhängen untersucht werden.
In einer prozessorientierten Figurationsanalyse kann man von einer ambiva-
lenten Wandlung von Machtbeziehungen statt von einem neuen betrieblichen
Herrschaftsmodus sprechen, bei dem es ausschließlich um die perfide Strategie
kapitalistischer Ausbeutung geht (vgl. Ernst 2009: 8f.). Stefanie Ernst bringt es auf
den Punkt, wenn sie feststellt:

„Elias’ Ansatz eignet sich auch deshalb für die Analyse des Arbeits- und Organi-
sationslebens, weil er den Nexus von Macht, Gefühlen, Subjektivität, Konflikt und
Kontrolle in einen größeren historischen Kontext stellt.“ (Ernst 2007: 135)

Der vormals äußere Zwang, der im Regime von Arbeitszeitregelungen, hierarchi-


schen betrieblichen Strukturen und Produktionsbedingungen lag, ist zu einem
inneren Antreiber geworden, der mit noch größerer Unerbittlichkeit tätig ist und
damit bei weitem funktionaler sein kann als strenge externe Kontrollsysteme (vgl.
Elias 1939/1997, Bd. 2).
Strategisch geplante Veränderungen treffen auf eine eingelebte Arbeitskultur
oder anders formuliert, auf die informelle betriebliche Lebenswelt, die sich aus dem
Wechselspiel normativer Vorgaben und konkreter Handlungspraxis formt. Über
diese Kultur – die in ihr eingebetteten Handlungen und Einstellungen der Akteure
– lässt sich nicht einfach verfügen (vgl. Senghaas-Knobloch 2008, Senghaas-Kno-
bloch et al. 1997). Forschen in Organisationen bedeutet, sich der betrieblichen
Doppelwirklichkeit (vgl. Weltz 2011) bewusst zu sein und die interdependente
Verflechtung zwischen geplanten Handlungen und ungeplanten Folgen zum
Gegenstand zu machen. Die vorliegende Studie zeigt unter anderem wie aus den
geplanten KVP-Workshops ungeplante Verhandlungsarenen werden, die weitere
ungeplante und überraschende Folgen für das Organisationsgeflecht bereithalten.
Des Weiteren erfolgt ein Einblick in faktisch veränderte Handlungsspielräume, die
20 1 Einleitung

im Gegensatz zu propagierten im Rahmen beteiligungsorientierter Konzepte für


die Beschäftigten im Produktionsbereich eines Automobilunternehmens stehen.
In dieser Studie geht es um die Fragestellung, inwieweit die Diagnose wachsender
Selbstkontrolle – bei Beschäftigten der Automobilproduktion sowie der Verwaltung
– im untersuchten Fallbetrieb zutrifft und inwieweit sich die Machtverhältnisse
der betrieblichen Figurationen (Management, Beschäftigte, Interessenvertretung)
wandeln oder gewandelt haben.

Zum Aufbau der Arbeit

Zunächst wird die Prozess- und Figurationssoziologie Norbert Elias’ für die Or-
ganisationsforschung nutzbar gemacht und ein prozesssoziologisches Vokabular
entwickelt, mit dem im weiteren Verlauf der Studie gearbeitet wird. Obwohl Elias’
Konzept besonders geeignet ist, die historische Transformation von Fremd- und
Selbstzwängen und den damit verbundenen Veränderungen der gesellschaftlichen
Machtverhältnisse zu verstehen, wurde sein Beitrag in der Forschung zum Wandel
der Arbeitsgesellschaft bisher in der deutschen Soziologie nur unzureichend oder
missverständlich rezipiert (vgl. Ernst 2007: 134). Sein Figurationsansatz dient als
theoretischer Rahmen, mit dem sich die Wechselwirkung zwischen Individuum
und Gesellschaft durch den Verflechtungsgedanken analysieren lässt. In diesem
Kapitel wird die figurationssoziologische Perspektive ausführlich erläutert und auf
den zu untersuchenden Gegenstand angewandt. Elias hat selbst einige empirische
Untersuchungen durchgeführt. Obwohl seine Studie über „Etablierte und Außen-
seiter“ (Elias/Scotson 1993) eigentlich in einem anderen Kontext durchgeführt
wurde, erlauben die Ergebnisse eine Transformation auf andere soziologische
Felder. Elias nutzte die Etablierten-Außenseiter-Figuration als eine Art „empiri-
sches Paradigma“ (ebd.: 10), das sich als Modell auch auf andere Figurationen wie
etwa Organisationen und Betriebe anwenden lässt.
Im dritten Kapitel folgt eine Einführung in die untersuchungsleitenden Konzepte
der arbeits- und industriesoziologischen Diskurse über die „Subjektivierung und
Entgrenzung von Arbeit“, die in forschungsrelevanter Hinsicht dargestellt werden
und der Analyse der empirischen Daten als „offene Interpretationsleitpfade“ dienen
(Kruse 2004: 118; Hervorhebung im Original, M.F.). Damit ist eine größtmögliche
Offenheit gegenüber dem Untersuchungsfeld gewährleistet.
Das vierte Kapitel verfolgt die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeiter
anhand wesentlicher Entwicklungslinien und Rationalisierungsetappen beginnend
mit den ersten Fabrikordnungen bis hin zu den gegenwärtigen Produktionskon-
zepten der Automobilindustrie. Es geht um Machtkämpfe und gesellschaftliche
1 Einleitung 21

Machtverhältnisse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Außerdem geht


es um die Darstellung des ganzheitlichen Produktionssystems und seine Imple-
mentierung, wie es konkret für das Fallbeispiel vorliegt. Aus prozesstheoretischer
Sicht ist das Wechselspiel strategisch-menschlicher Planungen (Konzept) und
ungeplanter Prozesse (nicht intendierte Folgen) im Rahmen dieser Reorganisati-
onen von grundlegender Bedeutung (vgl. Elias 1986/2006: 210). Es entsteht eine
bestimmte organisationale Ordnung, die so nicht geplant war. Im Fallbetrieb
ergibt sich dadurch als ungeplante Folge ein dynamisches „Spannungsgefüge“
(ebd. 1970/2004: 142), das mal kooperativ und mal konfliktär sein kann. Ana-
log verhält es sich beim gesamten menschlichen Zivilisationsprozess, dem eine
„Verflechtungsordnung“ (ebd. 1939/1997, Bd. 2: 324f.) immanent ist, die sich aus
dem Wechselspiel geplanter und ungeplanter menschlicher Handlungen und den
Interdependenzen zwischen Menschen ergibt.
Das fünfte Kapitel beschreibt das methodische Vorgehen und umfasst die
Dokumentation des gesamten Forschungsprozesses. Damit wird das Prinzip der
Intersubjektivität, also der Nachvollzug des Verstehensprozesses der Forscherin
im Verlauf der Untersuchung berücksichtigt. Mithilfe qualitativer Erhebungs-
methoden (Gruppendiskussionen, Beobachtungen, Einzelinterviews) wird eine
ganzheitliche Perspektive und Analyse des Forschungsfeldes gewährleistet. Die
qualitative Sozialforschung verfolgt den Anspruch, soziale Phänomene verstehend,
interpretativ und theoriebildend zu erschließen und sich dabei den Sinnsystemen
der Akteure des Untersuchungsgegenstandes flexibel und offen anzunähern (Ernst
2004: 52, Lamnek 2010: 244). Grundlage für diese Studie ist ein kommunikatives
Forschungsdesign, das über das Medium Sprache ein „Eintauchen“ in Lebensformen
ermöglicht, die nicht die eigenen sind (Senghaas-Knobloch/Nagler 2000). Fokus-
siert wird in diesem Zusammenhang die Beschäftigtenperspektive im Rahmen der
Implementierung partizipativer Beteiligungskonzepte wie dem KVP. Mithilfe eines
prozesstheoretischen Forschungszugangs sollen Beziehungsgeflechte interdepen-
denter Individuen (Figurationen) nachgezeichnet und informelle Machtbeziehungen
und ihre Veränderungen erfasst werden. Forschungsleitend war dabei die Frage,
inwieweit sich (betriebliche) Machtverhältnisse gewandelt haben oder eher eine
Etablierung der Verhältnisse zu beobachten war.
Im sechsten Kapitel folgt dann die Ergebnispräsentation, die sich in die heraus-
gearbeiteten Motive und Kategorien gliedert, die im Verlauf der Analyse induktiv
sowie deduktiv erschlossen werden. Anschließend folgt eine Zusammenfassung der
Ergebnisse im Hinblick auf die forschungsleitenden Fragen und eine Verdichtung
aller wesentlichen Erkenntnisse.
Norbert Elias’ Figurations-
und Prozesssoziologie 2
2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

In diesem Kapitel wird der figurations- und prozesstheoretische Rahmen für die
Studie beschrieben, für die Organisationsforschung nutzbar gemacht und ein pro-
zesssoziologisches Vokabular entwickelt, mit dem im weiteren Verlauf gearbeitet
wird. Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias dient als Beobachtungs- und
Erklärungsrahmen und soll bei Bedarf erweitert werden. Die Explikation der
Methode und die Entwicklung eines Forschungsdesigns dieser Figurationsanalyse
folgt in Kapitel 5 zum methodischen Vorgehen.

2.1 Das Figurationsmodell


Das Figurationsmodell
Der zentrale Aspekt von Elias’ Figurationsmodell ist die wechselseitige Abhängigkeit
der Menschen voneinander und ihre Verflechtungen. Elias’ beschreibt, weshalb
die Menschen aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Die Ver-
wendung des Begriffs „Figuration“ überwindet die Polarität zwischen Individuum
und Gesellschaft und hebt damit den prozessualen Charakter hervor, der auch in
seiner Terminologie deutlich wird (Goudsblom 1979: 72). Elias weist darauf hin,
dass „man sich Menschen nie als einzelne vorstellen kann, sondern immer nur als
Menschen in Figurationen“ (Elias 1970/2004: 138). Erst die Analyse der Figurati-
onen offenbart die individuellen Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Der
Figurationsbegriff beschreibt aber nicht nur den Beziehungsaspekt, d. h. Figuration
als Modell eines sozialen Prozesses (vgl. Korte 1997: 156f.), sondern auch die Wand-
lungsfähigkeit von Figurationen, die dynamisch sind und sich permanent ändern
können. Gleichzeitig bilden sie ein spezifisches Muster, das selbst bei Zerfall einer
Gesellschaft immanent bleibt. Für Elias „gehört [es] zu den Eigentümlichkeiten der
Menschen, dass sie von Natur aus in besonderer Art und Weise wandelbar sind“
(Elias 1970/2004: 114). Der Begriff Figuration impliziert für Elias „Neutralität“.

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
24 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Beziehungsgeflechte können für ihn konflikt- und spannungsreich, aber genauso


auch harmonisch und friedlich sein (ebd.: 142).
Kleine Gruppen zeichnen sich durch direkte Abhängigkeiten aus. Dabei handelt
es sich um überschaubare Figurationen, die sich als Familien, Schulklassen oder
Peergroups bilden, während sich die Abhängigkeiten in größeren Gesellschafts-
einheiten in komplexer Form und indirekt vollziehen. Für Bewohner einer Stadt
oder eines Staates sind die Figurationen nicht unmittelbar wahrnehmbar, da sie
länger und differenzierter sind. Es müssen Interdependenzgeflechte analysiert
werden, um komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge (Figurationen) begreifen
und erfassen zu können (vgl. Elias 1970/2004: 143). In welcher Figuration sich ein
Individuum dabei momentan befindet, lässt sich durch seinen „sozialen Praxis-
kontext“ (Willems 2012: 120) bestimmen.
Mit der folgenden Abbildung veranschaulicht Elias seine Perspektive:

Abb. 1 „Eine Figuration interdependenter Individuen – Familie, Staat, Gruppe,


Gesellschaft“ (Elias 2004: 11).

Elias regt dazu an, Figurationen mithilfe der Metapher „Menschen spielen Spiele
miteinander“ gedanklich nachzuvollziehen: Der „Spielverlauf“ (Elias 1970/2004:
141), der „aus der Verflechtung der Handlungen einer Gruppe interdependenter
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 25

Individuen hervorgeht“ (ebd.), besitzt gegenüber einzelnen Spielern eine „relative


Autonomie“, wenn unter den Spielern eine „relativ gleichmäßige Spielstärke“ (ebd.)
herrscht. Der Begriff „relative Spielstärke“ ersetzt den Machtbegriff und meint die
„Gewinnchance“ im Verhältnis zu den anderen Mitspielern und wird zu einem
Beziehungsbegriff. Die Position eines Individuums in der Figuration und seine
Kapitalausstattung ist ein maßgeblicher Faktor für den Spielverlauf. Die Prozesse
werden von unterschiedlich motivierten Individuen in Gang gesetzt, deren Be-
ziehungen zueinander von einem Füreinander, Miteinander und Gegeneinander
geprägt sind. In den sich „wandelnden Mustern“, in denen die Menschen mal
„Gegner“ und mal „Verbündete“ sind, entsteht ein dynamisches „Spannungsgefü-
ge“ (ebd.: 142). Das Spiel findet in einem kontingenten Spielraum statt, in dem ein
„fluktuierendes Spannungsgleichgewicht“ (ebd.: 143) im Sinne einer wandelbaren
Machtbalance herrscht. Figurationen schränken die Menschen ein, die aber immer
über einen „Freiheitsspielraum“ (Elias 2010: 75) verfügen, der es ihnen ermöglicht
zu planen, zu gestalten und zu wählen oder auch „sich ganz von einer bestimmten
Figuration abzulösen und sich in eine andere einzufügen“ (ebd.). Charakteristisch
für Figurationen – so lässt sich zusammenfassen – sind Relationalität, Dynamik,
Spannung und Interdependenz. Für Elias sind Menschen keine „Opfer der Ver-
hältnisse“, sie besitzen eine relative Autonomie. Das Figurationsmodell dient als
begriffliches Werkzeug zur Erfassung der Wechselwirkungen zwischen Individuum
und Gesellschaft mithilfe der Verflechtungsidee.

2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept


2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept
Menschen sind nach Elias niemals per se mächtig. Ihre Macht zeigt sich erst in
Relation zu anderen und beschreibt daher einen Prozess. Figurationen können
aufgrund ihres Verflechtungscharakters den Handlungsspielraum der Individuen
einschränken. Im weiteren Verlauf werden die zentralen Aspekte des relationalen
Machtkonzepts in Verbindung mit den Interdependenzen der Menschen analysiert.

2.2.1 Verflechtungszusammenhänge

Nach Elias ist die eigene Befriedigung der Bedürfnisse von anderen Menschen
abhängig und daher immer auch auf andere gerichtet. Menschen lernen von
anderen Menschen und werden von ihnen sozialisiert. Sie sind „erst von Natur,
dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisie-
26 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

rung, durch sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig voneinander mehr oder


weniger abhängig“ (Elias 1939/1997, Bd. 1: 70). Menschen sind folglich sozial
aneinander gebunden. Dabei handelt es sich nicht um eine hierarchische, sondern
um eine mehrdimensionale, wechselseitige Abhängigkeit zwischen Menschen,
um eine „Verflechtung“ (vgl. Treibel 2008: 18). „Interdependenzgeflechte“ von
Menschen, die Elias „Figurationen“ nennt, bilden Gesellschaften. Figurationen
sind Beziehungsgeflechte von Menschen, die wechselseitig voneinander abhängig
(interdependent) sind. Nach Elias ist es nicht möglich, den Menschen isoliert zu
betrachten. Die vier grundlegenden Bindungen zwischen Menschen lassen sich
wie folgt beschreiben:

Affektive Bindungen
Menschen sind von Natur aus trieb- und affektgesteuert. Während ihrer Sozi-
alisation lernen sie, ihre spontanen Triebe und Emotionen zu steuern und zu
regulieren. Nach Elias ist die eigene Befriedigung der Bedürfnisse von anderen
Menschen abhängig und daher immer auch auf andere gerichtet. Die Befriedigung
bezieht sich nicht nur auf sexuelles Verlangen, sondern es gibt „eine ganze Skala
von weiteren Gefühlsbefriedigungen“ (Elias 1970/2004: 147). Emotionen müssen
durch andere Menschen stimuliert werden, auch wenn die sexuelle Befriedigung
bereits in einer gesättigten Valenz3 verankert ist. Menschen befinden sich aufgrund
ihrer emotionalen Bedürfnisse immer auf der Suche nach Gesellschaft mit anderen
Menschen der gleichen Einheit. Elias beschreibt Menschen als

„Wesen mit vielen Valenzen […], die sich auf andere Menschen richten, von denen
einige in anderen Menschen ihre feste Bindung und Verankerung gefunden haben,
andere dagegen, frei und ungesättigt, auf der Suche nach Bindung und Verankerung
in anderen Menschen sind“ (Elias 1970/2004: 147).

Für ihn sind affektive Bindungen „universale Interdependenzen, die Menschen


sozial aneinander binden“ (Elias 1970/2004: 147). In komplexen Einheiten wer-
den emotionale Bindungen zwischen Menschen durch Symbole und emotionale
Begriffe vermittelt und sind grundlegend (z. B. durch sprachliche Begriffe oder
auch das Zeitempfinden) für den Zusammenhalt größerer gesellschaftlicher Ein-
heiten. Affektive Bindungen sind das Bindemittel einer Gesellschaft (ebd.: 149)
und grundlegend für den von Elias beschriebenen Prozess der Zivilisation.

3 Der Begriff Valenz bedeutet ganz allgemein Wertigkeit. Elias geht es in seiner Darstel-
lung der Figurationen in Abbildung 1 darum, dass Individuen nicht bloß verbunden,
sondern ihre Verbindungen emotional aufgeladen sind und einen spezifischen Wert
im Hinblick auf die Befriedigung eines Gefühls besitzen (vgl. Treibel 2008: 72).
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 27

Staatliche Bindungen
Staaten sind „Objekte gemeinsamer Identifizierungen“ (Elias 1970/2004: 151). Die
emotionalen Bindungen an den Staat stehen in der Präferenzliste an erster Stelle
vor allen anderen Figurationen. Das gemeinsame Bedürfnis der Menschen, sich
in einer Einheit zusammenzuschließen, ist die Befriedigung des grundlegenden
Schutzbedürfnisses vor physischer Gewalt durch andere und vor Naturgewalten.
Staaten bilden durch ihr Gewaltmonopol Überlebenseinheiten, indem sie vor
direkter Rache und Gewalt schützen.

Räumliche Bindungen
Elias zeigt in seiner Studie über „Etablierte und Außenseiter“ (Elias/Scotson 1993)
die Wichtigkeit der räumlichen Bindungen. Gemeinden, Stadtteile und Nachbar-
schaften sind bestimmte Figurationstypen, die die Handlungen von Menschen in
einer bestimmten Art ermöglichen oder aber beschränken und unterschiedliche
Zwänge ausüben können.

Ökonomische Sphäre und berufliche Bindungen


Die ökonomische Sphäre hing einerseits mit der Entwicklung der „Ökonomie“
als neue Wissenschaft zusammen, andererseits mit den Forderungen der auf-
steigenden englischen besitzenden Mittelklassen nach einem freien, sich selbst
regulierenden Markt mit Angebot und Nachfrage ohne staatliche Eingriffe. Diese
Faktoren vermitteln den Eindruck, dass es sich um eine autonome Sphäre han-
delt. Elias hat bereits in seiner Abhandlung „Über den Prozess der Zivilisation“
beschrieben, dass „die Entwicklung der staatlichen und beruflichen Strukturen
zwei völlig unabtrennbare Aspekte der Entwicklung eines gesamtgesellschaftlichen
Funktionszusammenhangs sind“ (Elias 1970/2004: 154). Die sogenannten Sphären
repräsentieren im Grunde die unterschiedlich ausgeprägten Differenzierungs- und
Integrationsaspekte in der Entwicklung des gleichen Interdependenzgeflechts.
Während der Industrialisierung schritten die Differenzierungsprozesse schneller
voran, als die Entwicklung der koordinierenden Institutionen folgte4. Dieser Um-
stand führte dazu, dass die ökonomische Sphäre als Motor der gesellschaftlichen
Entwicklung wahrgenommen wurde. Dabei ist die Entwicklung der Wirtschaft
nicht ohne eine Entwicklung der staatlich-politischen Organisation und umgekehrt

4 Nina Degele konstatiert, dass die Integration in der Moderne immer weniger durch
staatliche Organisationen (Versorgungsanstalten) erfolgt, sondern zu einer Anforde-
rung an das Individuum wird. Individualisierung bedeutet heute zunehmend, auch als
Individuum selbst die Integrationsfunktion zu übernehmen. Degele spricht in diesem
Zusammenhang vom Individuum als „Integrationsagentur“ (Degele 1999; Degele/Dries
2005: 89f., 168f.).
28 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

möglich. Ausgehend von einer prozesssoziologischen Sichtweise, handelt es sich


um eine „Periode, in der die funktionale Differenzierung der Interdependenzketten
der entsprechenden Integrierung vorauseilte“ (ebd.: 155; Hervorhebung im Original,
M.F.). Es geht also eher um ein Modell unterschiedlicher Funktionsdifferenzierung
als um ein Modell nebeneinander stehender, autonomer Sphären. Elias spricht sich
gegen eine Trennung von Staat und Wirtschaft aus, denn die Entwicklungen der
staatlichen Institutionen und die Handlungen der Märkte und Unternehmen sind
miteinander verwoben und voneinander abhängig.

2.2.2 Machtbeziehungen

Die Wendung „Macht haben“ verdinglicht das Phänomen. Diese Vorstellung reicht
nicht aus, den Beziehungscharakter von Macht zu fassen. Für Elias ist Macht kein
statischer Begriff. Er nimmt damit eine gegensätzliche Position zur Definition Max
Webers ein, der schrieb: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich-
viel, worauf diese Chance beruht“ (Weber 1922/1976: 28). Elias sieht Macht als
Bindeglied bzw. Relation (zwischen)menschlicher Beziehungen.5 Er verwandelt
den „Substanzbegriff in einen Beziehungsbegriff“ (Elias 1970/2004: 142) und
grenzt sich damit von Webers verengter Sichtweise ab, Macht als „konkreten,
zweckrationalen Vollzug individueller Akteure“ (Ernst 1997: 161) zu definieren.
Elias betont die Interdependenz zwischen den Individuen und beschreibt diese mit
den historischen Veränderungen der Abhängigkeiten der Menschen voneinander
aufgrund der zunehmenden Funktionsdifferenzierung in der Gesellschaft. Der
Zugriff auf den „polymorphen Charakter der Machtquellen“ (Elias 1970/2004: 97;
Hervorhebung im Original, M.F.) (emotional, sozial, ökonomisch etc.) sei nun me-
thodisch möglich. Da menschliche Beziehungen wandelbar sind, ist auch die ihnen

5 Es sei darauf hingewiesen, dass Macht nach der weberschen Definition auch bedeutet,
dass der eigene Wille mit Einverständnis des Gegenübers geschehen kann. Kädtler
spricht in diesem Fall vom „kalkulierten Kooperationswillen“ (Kädtler 2004: 67),
der eine zeitliche Perspektive beinhaltet, also die Ge-nerierung erprobter, auf Dauer
angelegter Vertrauensbeziehungen zwischen interdependenten Men-schen. Die
Machtverhältnisse werden davon nicht berührt, aber beide Seiten wissen, wie die
jeweils andere auf welche Handlungen reagiert (Wann ist man z. B. zu weit gegangen?)
und auf diese Weise entsteht eine Art Verlässlichkeit („Grundvertrauen“, ebd.) in der
Konkurrenzbeziehung.
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 29

implizite Macht nicht statisch, sondern dynamisch, je nachdem, welche Machtquelle6


zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders bedeutungsvoll ist. Nach Elias ist
Macht demnach „eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen – aller
menschlicher Beziehungen“ (Elias 1970/2004: 77; Hervorhebung im Original, M.F.)
und ist daher weder als gut noch als böse zu beschreiben.
Durch die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander haben sie
Macht übereinander. Es geht um das Bedürfnis nach Geld, Status, Karriere sowie
um Liebe und Anerkennung. Der andere Mensch besitzt in der Beziehung also einen
spezifischen Wert. In sozialen Beziehungen kann es sein, dass die Abhängigkeit des
einen von einem anderen größer ist und sich die Machtbalance zwischen beiden
zugunsten des weniger Abhängigen verlagert (Elias 1970/2004: 97). Macht ist für
Elias demnach kein negativer Begriff, sondern ein

„etwas starrer und undifferenzierter Ausdruck für die besondere Reichweite des
individuellen Entscheidungsspielraums, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen
Positionen verbindet, als ein Ausdruck für eine besonders große gesellschaftliche
Chance, die Selbststeuerung anderer Menschen zu beeinflussen und das Schicksal
anderer Menschen mitzuentscheiden“ (Elias 1987/2003: 80).

In einer Beziehung messen die Menschen ihre Kräfte und führen kleinere und
größere „Machtproben“ (Elias 1970/2004: 76) durch, um ihr „Machtpotential“ und
ihre „strategischen Chancen“ (ebd.: 189) zu verbessern. Im Laufe der Zeit stellt
sich möglicherweise ein gewisses Machtgleichgewicht ein. Die Untersuchung von
Macht gelingt Elias ohne emotionales Engagement mithilfe der Sichtweise der
Figurationen, also Menschen, die wechselseitig miteinander in Beziehung stehen.

6 Vgl. ergänzend die vier organisationalen Machtquellen, die von den Organisations-
forschern Michel Crozier und Erhard Friedberg unterschieden werden und in erster
Linie auf Wissen und Information beruhen: 1) Expertenwissen: der für das zufrie-
denstellende Funktionieren einer Organisation erforderliche Sachverstand als Folge
der funktionalen Differenzierung bzw. Spezialisierung und der damit verbundenen
Wissensasymmetrie, 2) Außenkontakte: Beziehungen zur Umwelt durch erforderliche
Kenntnisse, Fähigkeiten und entsprechende Kontaktstellen, 3) Informations- und
Kommunikationskanäle: Wissen über Knotenpunkte zwischen organisatorischen
Einheiten und 4) Formalstruktur: Vorschriften und Verfahren, die eigentlich geschaffen
wurden, um das Verhalten der Organisationsmitglieder vorhersehbar zu machen (z. B.
der „Dienst nach Vorschrift“) (vgl. Crozier/Friedberg 1979: 50ff.).
30 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

2.3 Der Zivilisationsprozess


2.3 Der Zivilisationsprozess
Mit den Begriffen „Psychogenese“ und „Soziogenese“ beschreibt Elias in seiner
Zivilisationstheorie die langfristigen Verhaltensänderungen der Menschen und
gesellschaftlichen Beziehungsgeflechte sowie die wechselseitige Beeinflussung
dieser beiden Seiten der Entwicklung. Die Psychogenese steht für die individuelle
Entwicklung des psychischen Habitus der Menschen. Sie bezieht sich zum Beispiel
auf soziale Handlungen, das Erlernen der Sprache und die sexuelle Orientierung.
Die Soziogenese hingegen beschreibt veränderte gesellschaftliche Hierarchien und
Machtverhältnisse, die einer ständigen Ausbalancierung ausgesetzt sind. Die Folgen
dieser Verflechtungszusammenhänge können nicht auf lange Sicht geplant und
konstruiert werden. Die Zivilisation ist kein Produkt der menschlichen „Ratio“
und kein Resultat einer auf lange Sicht festgelegten Planung. Der „Zivilisationspro-
zess“ ist eine Veränderung des menschlichen Empfindens und Verhaltens in eine
Richtung, die nicht beabsichtigt oder bewusst zweckrational verwirklicht wurde.
Emotionale und rationale Handlungen und Pläne der Menschen greifen beständig
freundlich und feindlich ineinander (Elias 1939/1997, Bd. 2: 324):

„Diese fundamentalen Verflechtungen der einzelnen, menschlichen Pläne und


Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner
Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen,
ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender
und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.“
(Elias 1939/1997, Bd. 2: 324f.)

Trotz der ungeplanten, nicht auf eine rationale Grundlage gestützten Transforma-
tion des Ganzen vollzieht sich die Zivilisation nicht chaotisch oder strukturlos. Ihr
sind Zwänge und Gesetzmäßigkeiten eigener Art immanent. Es verwandeln sich
Fremdzwänge in Selbstzwänge, spezifische menschliche Verhaltensweisen werden
in die zweite Reihe gedrängt und mit Schamgefühl belegt und die Regelung des
gesamtem Trieb- und Affektlebens wird durch eine fortlaufende Selbstkontrolle
immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler. Die „Verflechtungsordnung“ geplanter
und ungeplanter menschlicher Handlungen und die Interdependenz zwischen den
Menschen liegt dem Zivilisationsprozess zugrunde und bestimmt den Ablauf des
historisch-gesellschaftlichen Wandels (Elias 1939/1997, Bd. 2: 324f.). Spannungen,
die den gesellschaftlichen Verflechtungen immanent sind, enthalten ein hohes Maß
an Zwangsläufigkeiten (Konkurrenz) und drängen daher zu anderen Formen der
Verflechtung, wie Elias feststellt:
2.3 Der Zivilisationsprozess 31

„Die Zivilisation ist nichts ‚Vernünftiges‘; sie ist nichts ‚Rationales‘, so wenig sie etwas
‚Irrationales‘ ist. Sie wird blind in Gang gesetzt und in Gang gehalten durch die Ei-
gendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in
der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind.“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 327)

Diese Aussage erklärt die Veränderungen des menschlichen Habitus im Sinne


einer Zivilisation, die trotz Fehlens eines weitsichtigen, rationalen Plans geordnet
und in eine bestimmte Richtung abläuft. Unter dem Konkurrenzdruck zwischen
interdependenten Menschengruppen differenzieren sich gesellschaftliche Funk-
tionen immer weiter und die Abhängigkeit aller von allen nimmt zu (funktionale
Demokratisierung) (ebd.).
Das Mit- und Gegeneinander der Pläne und Absichten der Menschen, die
Bindungen der Menschen untereinander und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten
bilden das „gesellschaftliche Gewebe“ der Menschen. Die Abhängigkeiten setzen
dem Individuum bestimmte Grenzen, die wiederum einen variablen Spielraum
ermöglichen, der mal größer und mal kleiner sein kann. Das gesellschaftliche
Gewebe ist das Medium, in dem sich die Individualität des Einzelnen entfalten
kann (Elias 1939/1997, Bd. 2: 486f.).
Die ausgebildete individuelle Selbststeuerung in Beziehung zu anderen Menschen
prägt wiederum deren Selbststeuerung und setzt ihr Grenzen (Elias 1987/2003: 84).
Mit anderen Worten: Der Mensch ist „Münze und Prägstock zugleich“ (ebd.). Der
Einzelne prägt in seinen Figurationen mit einem spezifischen Handlungsspielraum
die Beziehungen zu anderen Menschen und wird von ihnen, u. a. durch Sozialisation
und Erziehung, geprägt.7 Es handelt sich um „zwei unabtrennbare Funktionen der
Menschen beim Zusammenleben miteinander“ (ebd.: 84). Je differenzierter das gesell-
schaftliche Gewebe ist, desto mehr muss das Verhalten von immer mehr Menschen
aufeinander abgestimmt werden, damit es seine gesellschaftliche Funktion erfüllen
kann. Der Einzelne ist gezwungen, sein Verhalten immer gleichmäßiger, stabiler
und differenzierter zu regulieren. Diese Schritte erfolgen nicht immer bewusst. Die
Ausbildung einer sogenannten „Selbstkontrollapparatur“ vollzieht sich im Zivili-
sationsprozess automatisch über die Erziehung bzw. Sozialisation und wird für die
Menschen mehr und mehr zu einem Automatismus. Die Selbstkontrollapparatur
arbeitet blind und automatisch und führt für den Einzelnen zur Anspannung, sich
richtig zu verhalten. Bestimmt wird die Richtung der Veränderung des Verhaltens
dabei a) durch die Richtung der gesellschaftlichen Differenzierung, b) durch die fort-
schreitende Funktionsteilung und c) durch die Ausweitung der Interdependenzketten
(Elias 1939/1997, Bd. 2: 328). Die Menschen befinden sich in einem komplizierten

7 Willems spricht hier vom Individuum, das als „Niederschlag“ eines sozialen Prozesses
sowie als „Interakteur“ (Willems 2012: 140f.) erscheint.
32 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

„Gewebe der Aktionsketten“ (ebd.: 329f.), sodass die Selbstkontrollapparatur tief


in den Menschen verankert sein muss, um ihren Zweck zu erfüllen.
Modernen Gesellschaften zeichnen sich durch einen hohen Grad der Funkti-
onsteilung, durch stabile Gewalt- und Steuermonopole sowie Interdependenzen
und Konkurrenzen über weite Entfernungen mit einer extrem hohen Zahl von
Menschen aus. Daher wird ein vorausschauendes und abgestimmtes Verhalten
von Menschen über lange Handlungsketten hinweg notwendig (Elias 1939/1997,
Bd. 2: 347). Jede Handlung verwickelt sich dabei automatisch in die vorhandenen
Aktionsketten (ebd.: 339). Die Menschen müssen sich selbst beherrschen, sich fort-
laufend zurückhalten, ihre Affekte dämpfen und die Folgen der Handlung über viele
Kettenglieder hinweg mitdenken (Rück- und Vorausschau), um in diesem dichten
Interdependenzgeflecht bestehen zu können. Ein Beispiel ist die kleinteilige Zer-
legung der Arbeitsschritte in der Automobilproduktion mithilfe des Fließbandes,
sodass es dem Arbeiter quasi unmöglich geworden ist, den gesamten Prozess zu
überblicken. Ihm ist lediglich bewusst, dass sein spezialisiertes Arbeitshandeln Teil
einer langen Kette von Handlungen ist, die wechselseitig voneinander abhängig sind
und er sich selbst regulieren muss, um seinen Zweck in diesem Geflecht zu erfüllen.
Die Menschen verfügen im Gewebe der Interdependenzketten über bestimmte
Funktionen, mit denen sie sich aneinander binden. Jede Funktion ist auf andere
ausgerichtet und abhängig von der Funktion des anderen. In differenzierten Ge-
sellschaften schließen sich die Aktionen einzelner Individuen zu langen Hand-
lungsketten zusammen, sodass jede Handlung ihren Sinn erfüllt. Individuen sind
also aufgrund ihrer funktionellen Abhängigkeit von anderen Menschen gebunden
wie ein Kettenglied (Elias 1987/2003: 33f.):

„Diese Ketten sind nicht in der gleichen Weise sichtbar und greifbar wie Eisenketten.
Sie sind elastischer, variabler und wandelbarer; aber sie sind nicht weniger real, sie
sind ganz gewiß nicht weniger fest.“ (ebd.: 34)

Das Wissen um die Folgen von Handlungen wird als „gleichmäßiger Druck“ (Elias
1939/1997, Bd. 2: 336) spürbar, der vom Gewaltmonopol oder anderen Menschen,
also von der Gesellschaft, ausgeht. Ein unmittelbarer Druck oder Zwang ist nicht
mehr notwendig, da die Menschen mögliche Sanktionen verinnerlicht haben,
die auf das normabweichende Verhalten folgen. Die Menschen üben nun diesen
Zwang durch ihre Selbstkontrollapparatur – bewusst als Selbstbeherrschung und
unbewusst als Gewohnheiten – auf sich selbst aus (Selbstzwang) (ebd.: 337). Der
Selbstzwang ist die ständige Rück- und Vorausschau auf „Aktionen und Absichten
Anderer“ (ebd.: 347). Es handelt sich um friedliche Zwänge, die Beziehungen auf
2.3 Der Zivilisationsprozess 33

Menschen ausüben. Die Selbstkontrollapparatur und das „Triebzentrum“ kämpfen


unentwegt in jedem Einzelnen.
Hier zeigt sich eine Verbindung zum Aspekt „Vertrauen“, denn Individuen
müssen darauf vertrauen, dass andere ihre Funktion als Glied einer Kette erfüllen
und sie erfüllen wiederum ihre Verantwortungsanforderung. Das Gewebe der
Aktionsketten etabliert sich auf diese Weise zu einem relativ stabilen dynamischen
Prozess. Die Einsicht der Individuen, in diese Ketten verflochten zu sein, ist ein
Indiz für ihre Fähigkeit zur Langsicht, die sich zum Beispiel in der Herausbildung
einer Arbeitsdisziplin in den Fabriken zeigt. Folgende Aspekte gehen einher mit
der Ausweitung der Handlungsketten und Interdependenzen: „Dämpfung der
spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums
über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursache-, die zukünftigen Folge-
ketten.“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 333)
Im Folgenden wird auf die Monopolisierung der Gewalt als zentrales Element
der Zivilisationstheorie und ihr Einfluss auf den Wandel von Fremd- und Selbst-
zwängen, der bis heute anhält, eingegangen.

Die Monopolisierung der Gewalt


Wenn die Gesellschaft durch die Gewaltmonopolisierung von direkter Gewalt
und Zwang befreit ist, werden andere Zwänge sichtbar. Wirtschaftliche Gewalt
zum Beispiel wird „durch die ökonomischen Zwänge verkörpert“ (ebd.: 331). Elias
skizziert den Aufstieg kleinerer zu größeren Überlebenseinheiten8 (Dorf zu Stadt;
Stamm zu Staat) zu neuen pazifierten Figurationen (Elias 1986: 384) und neuen
Zivilisationsmustern. Die Menschen mussten keine Angst mehr vor unmittelbarer
Gewalt haben. Das Gewaltmonopol lag nun beim Staat. Die Menschen mussten
ihre Emotionen stärker und gleichmäßiger unter Kontrolle bringen. In engem
Zusammenhang mit der Ausbildung der Selbstzwangapparatur steht die Aus-
bildung von Monopolinstituten der körperlichen Gewalt und der Stabilisierung
der gesellschaftlichen Zentralorgane. Staaten als eine Zentralinstitution besitzen
das Monopol der physischen Gewalt in Form von Spezialistengruppen (Polizei,
Militär, Gerichte). Die Wirkung dieser staatlichen Gesellschaftsstruktur veran-
lasst die Menschen, auf direkte Gewalt zu verzichten und friedlich miteinander
umzugehen (Pazifierung). Sie ist Teil der menschlichen Persönlichkeitsstruktur
geworden. Die Monopolisierung der Gewalt ist eine „sozialtechnische Erfindung
der Menschen“ (Elias 1981/2006a: 75), die sich über Jahrhunderte entwickelt hat.
Der Wandel vollzieht sich seit dem 19. Jahrhundert und ist noch nicht beendet.

8 Dieser Begriff steht für Einheiten wie Stämme, Dörfer, Staaten etc., die sich bilden, um
in gemeinsamen Ausscheidungskämpfen das eigene Überleben zu sichern.
34 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Elias bringt das „Schlüsselproblem jedes Zivilisationsprozesses“ (Elias 1989/2005:


51) auf die „einfachste Formel“ (ebd.), wenn er konstatiert, dass

„es das Problem [ist], wie Menschen für ihre elementaren animalischen Bedürfnisse
im Zusammenleben miteinander Befriedigung finden können, ohne daß sie sich
bei der Suche nach dieser Befriedigung immer von neuem gegenseitig zerstören,
frustrieren, erniedrigen oder in anderer Weise schädigen, also ohne daß die Befrie-
digung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von
Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen
Gruppe geht“ (ebd.).

Mit der Gewaltmonopolisierung wird der Blick für andere Zwänge frei, die Men-
schen aufeinander ausüben. Wie sich unter diesen Bedingungen eine Selbstzwan-
gapparatur ausbildet, zeigen die folgenden Ausführungen.

Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang


Es gibt verschiedene Verläufe von Zivilisationsprozessen und verschiedene Zivilisa-
tionsmuster zwischen Gesellschaften. Diese Muster können als „sozialer Habitus“
bezeichnet werden und schließen spezifische Formen der „Selbstregulierung“
mit ein (z. B. Sprache, Schriftform). Während Elias mit dem Begriff Zivilisation
insbesondere den Prozess der Herausbildung und beständigen Veränderung der
„Selbstkontrollapparatur“ der Menschen innerhalb einer Figuration gemeint hat,
beschreibt der „soziale Habitus“ die zu einem bestimmten Zeitpunkt eines Zivili-
sationsprozesses geltenden Werte und Standards von Verhaltens- und Denkmus-
tern (Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen) einer Figuration.9 „Zivilisation“
hebt den zeitlich-dynamischen Aspekt hervor, der „soziale Habitus“ hingegen
den Querschnitt des Prozesses zu einem bestimmten Zeitpunkt.10 Allerdings ist
diesbezüglich die dynamische Perspektive immer mit zu berücksichtigen (vgl.
Altmayer 1997: 18).
Individuen beeinflussen sich bewusst oder unbewusst gegenseitig und entwi-
ckeln so ihren sozialen Habitus, ihre typischen Verhaltens- und Denkmuster. Die
Menschen einer Einheit vermitteln diese Muster mithilfe der Sprache und geben
die Symbole an ihre Kinder weiter. Sie lernen Empfindungen und Verhalten zu
regulieren und über Symbole zu verständigen:

9 Vgl. auch „Habitusensemble“ (Willems 2010: 257); „das Erlernen eines bestimmte
Schemas der Selbstregulierung“ (Elias 2006: 74).
10 Die Zivilisationstheorie ist auch als Forschungsinstrument geeignet und die analyti-
sche Teilung zwischen Zivilisation und sozialer Habitus aus heuristischen Gründen
sinnvoll.
2.3 Der Zivilisationsprozess 35

„Dieses Gepräge, also der soziale Habitus der Individuen, bildet gewissermaßen den
Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale herauswachsen, durch die
sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet.
So wächst ja etwa auch aus der gemeinsamen Sprache, die der Einzelne mit anderen
teilt und die ganz gewiss einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus bildet,
ein mehr oder weniger individueller Stil heraus oder aus der sozialen Schrift eine
unverkennbar individuelle Handschrift.“ (Elias 1987/2003: 244)

Die Kinder erreichen mithilfe des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses durch


Eltern, Lehrer etc. mehr und mehr Sicherheit in ihrem Verhalten (vgl. Treibel 2008:
59). Je mehr sie sich an die Muster anpassen, desto weniger negative Sanktionen
drohen ihnen von anderen Menschen. Die Natur des Menschen ist relativ gleich-
bleibend, wobei sich die „gesellschaftliche Modellierung seiner Triebe“ (Treibel
2008: 54) wie Aggressivität und Sexualtriebe erheblich wandeln können, d. h. die
Menschen werden zivilisierter:

„Denn im Laufe dieses Prozesses verändert sich die Struktur der einzelnen Menschen;
sie werden ‚zivilisierter‘. Und solange man sich den einzelnen Menschen wie einen
von Natur verschlossenen Behälter mit einer äußeren Schale und einem in seinem
Innern verborgenen Kern vorstellt, muß es unverständlich bleiben, wie ein viele
Menschengenerationen umfassender Prozeß der Zivilisation möglich ist, in dessen
Verlauf sich die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen wandelt, ohne daß
sich die Natur des Menschen wandelt.“ (Elias 1939/1997, Bd. 1: 67f.)

Elias macht klar, dass sich die Natur des Menschen (Triebhaftigkeit) nicht ändert.
Sie rückt lediglich in die zweite Reihe, um dem zivilisierten Verhalten den Vortritt
zu lassen. Den Verlauf dieses Prozesses beschreiben die folgenden Ausführungen.

In welche Richtung verläuft der Zivilisationsprozesses?


Die Balance von Fremd- und Selbstzwängen verändert sich im Laufe des Zivilisa-
tionsprozesses in eine spezifische Richtung. Bei frühen (vorstaatlichen) Entwick-
lungsstufen sind die Selbstzwanginstanzen „triebdurchlässiger, ungleichmäßiger,
gebrechlicher und weniger autonom“ (Elias 1986: 384). Fremdzwänge wie Natur-
gewalten, andere Gruppenmitglieder, aber auch kollektive Geisterphantasien und
Mythen unterstützen und verstärken die Selbstzwanginstanzen. Das individuelle
Gewissen und der Verstand erfüllen später diese Funktion.
Elias beschreibt vier Zwänge, die er als Zugang zum Problem der Zivilisation
genutzt hat: 1. Es gibt die Grundzwänge, animalische Zwänge, die ein Mensch
hat, wie Hunger, Sterben und Geschlechtstrieb oder den Zwang nach Zuneigung
und Liebe sowie die Fähigkeit, Hass zu empfinden. 2. Es gibt die Abhängigkeit von
der Natur, die sich im Zwang zur Nahrungssuche und dem Zwang zur Suche nach
36 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Schutz ausdrückt. 3. Es gibt die Fremdzwänge, d. h. Zwänge, die interdependente


Menschen wechselseitig aufeinander ausüben. 4. Der wichtigste Zwang ist der
Selbstzwang, den wir mit unserem „Verstand“ und unserem „Gewissen“ auf uns
selbst ausüben. Dieser sogenannte Selbstkontrollapparat ist durch Sozialisation
entstanden und bleibt ohne Erfahrung und Aktualisierung lediglich latent. Grad
und Gestaltung seiner Aktivierung hängen von der jeweiligen Gesellschaft ab
und bleiben im Laufe der Menschheitsentwicklung wandelbar. In der Zivilisati-
onstheorie geht es um die Veränderung des Zusammenspiels der vier Zwänge und
besonders um das Verhältnis von Fremd- und Selbstzwängen in einer Gesellschaft
(Elias 1989/2005: 52f.).
Der Begriff Zivilisation bezieht sich auf „unwandelbare Gemeinsamkeiten“ und
„wandelbare Verschiedenheiten der Menschen“ (ebd.: 383). Die Entwicklung von
Selbstzwängen spielt eine Schlüsselrolle11:

„Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen
Selbstregulierung im Sinne wandelbarer Zivilisationsmuster sind soziale Universa-
lien.“ (Elias 1986: 383; Hervorhebungen im Original, M.F.)

Friedliche, gewaltlose Fremdzwänge sind wirkungsvoller als die Androhung und


Ausübung von Gewalt. Elias beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt:

„So ist etwa Fremdzwang in der Form physischer Gewalt weniger zur Ausbildung
von gleichmäßigen Selbstkontroll-Instanzen geeignet als geduldige Überredung;
Fremdzwänge, die häufig zwischen heftiger Drohung und heißer Liebesbezeugung
hin und her schwanken, weniger als gleichmäßige Fremdzwänge auf einer sicher-
heitsgebenden Grundlage affektiver Wärme.“ (ebd.: 383)

Es geht im Zivilisationsprozess nicht allein um die ständige Verstärkung oder


Vermehrung der Selbstkontrolle. Dieses Bild ist nicht differenziert genug, denn

11 Hier sei auf Michel Foucault verwiesen, dessen Arbeiten sich ähnlich und/oder komple-
mentär zur Figurations- und Prozesssoziologie verhalten (vgl. eine Gegenüberstellung
der Arbeiten von Michel Foucault und Norbert Elias bei Willems 2012, Bührmann/Ernst
2010, Degele/Dries 2005). Foucault und Elias beschäftigen sich mit den Themen Macht,
Kontrolle und (Selbst-)Disziplin. Die Deutung einer soziogenetischen Entwicklung der
Zivilisation ist analog zur Sichtweise des „Panopticons“ (Foucault 1977: 256ff.), wobei
Foucaults Deutungen weniger optimistisch gestimmt sind. Er zeichnet ein eher düsteres
Bild der Menschen als Gefangene ihrer selbst, was aus figurationssoziologischer Sicht
dem homo clausus entspräche. Diese Auffassung teilt Elias nicht, denn Menschen sind
nur in ihren Beziehungen zu analysieren und dort besitzen sie immer eine relative
Autonomie (Freiräume). Sie können sich zwar nie ganz von ihren Selbstzwängen lösen,
gewinnen ihnen gegenüber aber eine größere Autonomie (Emanzipation).
2.4 Veränderungen der Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert 37

frühe Stufen des Zivilisationsprozesses zeigen ausgeprägte Selbstzwänge auf, die


allerdings mit starker Affekt- und Triebauslebung einhergehen. Beim „umfassenden
menschheitlichen Zivilisationsprozess“ (ebd.: 383) geht es um die Veränderungen
des sozialen Habitus in Richtung ebenmäßiger, allseitigere und stabilere „Selbst-
kontrollmuster“. Die Menschen werden sich nicht von ihren Selbstzwängen lösen
können, aber ihre Selbstzwänge gewinnen ihnen gegenüber größere Autonomie
im Laufe des Zivilisationsprozesses: „Das Gleichmaß der Selbstregulierung im
Verhältnis zu allen Menschen und in fast allen Lebenslagen nimmt zu.“ (ebd.: 386)
Die „Verselbständigung der individuellen Selbstregelungsinstanzen“ (ebd.)
(Verstand, Gewissen, Ich, Über-Ich) führt zu einer größeren „Reichweite des Ver-
mögens eines Menschen, sich mit anderen Menschen in relativer Unabhängigkeit
zu identifizieren“ (ebd.), die Fähigkeit also „Mitgefühl“ zu empfinden.12

2.4 Veränderungen der Verhaltensstandards


im 20. Jahrhundert
2.4 Veränderungen der Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert
Der gesamtgesellschaftliche Strukturwandel und die Veränderungen von Verhal-
tensstandards in einer Zeitperiode müssen gemeinsam analysiert werden, um ein
realistisches Gesamtbild über den Wandel zu erhalten. Elias nennt fünf Aspekte zu
Verhaltensänderungen (Elias 1989/2005: 37ff.), die im Folgenden skizziert werden:

1. Im 20. Jahrhundert ist das Bruttosozialprodukt pro Kopf erheblich angestiegen.


In der ersten Phase der Industrialisierung wurde dieser Mehrwert vor allem für
Kapitalinvestitionen genutzt, in der späteren Phase dann zur Verbesserung des
Lebensstandards (u. a. Massenkonsum). Es traten neue, bis dahin unbekannte
menschliche Probleme in den Vordergrund, weil andere Widrigkeiten in den
Hintergrund traten: keine existenzielle Bedrohung der Bevölkerung mehr
durch Hunger, keine schweren körperlichen Arbeiten mehr (neue mechanische
Errungenschaften), keine Bedrohung des Lebens infolge des staatlichen Gewalt-
monopols und die kontinuierliche Verringerung der Arbeitszeit.
2. Ein weiterer Aspekt sind die emanzipatorischen Bewegungen und der gleich-
zeitig stattfindende Wandel des „Verhaltenskanons“ (Umgangsformen, Ma-
nieren, Etikette). Es handelt sich um die Verschiebungen der Machtbalance
von Etablierten-Außenseiter-Gruppen zugunsten der Außenseiter, die (das

12 Entzivilisierung bedeutet die Verringerung der Reichweite des Mitgefühls (Elias 1986:
386).
38 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Bürgertum) im Laufe der Entwicklung machtstärker und die Etablierten (der


Adel) machtschwächer wurden. Erst in der Weimarer Republik wurde dem
Bürgertum und ihm folgend den Arbeitern der Zugang zu politischen Spit-
zenpositionen geöffnet:

„Die Masse der Bevölkerung wurde nur als ‚Sie‘ und als Außenseiter wahrge-
nommen. Noch spät im 19., noch im frühen 20. Jahrhundert wurden Teile der
Bevölkerung, zunächst die Bauern, dann vor allem die Industriearbeiterschaft,
durch die herrschenden Klassen, Bürgertum und Adel, von der Wir-Identität der
Staatsbürger ausgeschlossen. Und jene Außenseiter hörten nicht auf, den Staat
als etwas zu erleben, von dem man nur ‚Sie‘ und nicht kaum auch ‚Wir‘ sagte.“
(Elias 1987/2003: 276)

Dieser Vorgang war für die Veränderung des Verhaltenskanons von großer
Bedeutung.
3. Der Aufstieg der Außenseitergruppen führte zu Veränderungen in der Art
des Zusammenlebens und im Verhalten und Empfinden zwischen den Men-
schen. Trotz dieser Aufstiegsbewegungen kam es nicht zu einer Eliminierung
der Etabliertengruppen, sondern zu einer Verringerung der Machtdifferenz
zwischen den beiden Gruppen. Elias nennt dabei exemplarisch das Verhältnis
von Frauen und Männern, Eltern und Kindern bzw. der jüngeren und älteren
Generation, Regierenden und Regierten und europäischen Ländern und ihren
Kolonialstaaten. Die Stärke dieser sozialen Aufstiegsbewegungen ist nach
Elias erstaunlich.
4. Der Wandel der Machtverhältnisse verunsichert die Menschen, da der alte
Verhaltenskanon nicht mehr in der ursprünglichen Form gilt. Erst durch
Ausprobieren und Experimentieren kann sich ein neuer Kanon herausbilden.
Elias fasst zusammen: „Alles in allem ist dies ein Jahrhundert der wachsenden
Statusunsicherheit von Menschen“ (ebd.: 41). Berührt wird auch die soziale
Identität, die mit der Statusunsicherheit infrage gestellt wird. Das zwanghafte
Suchen nach Identität beunruhigt die Menschen.
5. Die teils ungeplante, teils geplante Abnahme der Machtdifferenzen macht die
Probleme einer Gesellschaft erst bewusst. Die Menschen erkennen, dass (gesell-
schaftliche) Probleme nicht selbstverständlich oder gottgegeben sind, sondern
veränderbar. Diese Entwicklung führt zu einer Gewissensbildung und einem
Anwachsen des „Mitverantwortungsgefühls“ beider Gruppen.

Der Strukturwandel im 20. Jahrhundert führt zu Veränderungen im gesellschaft-


lichen Machtgefälle (Annäherung der Etablierten- mit Außenseitergruppen) und
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne 39

wirkt sich auf die Bereiche formellen und informellen Verhaltens aus. Es kommt
zu einem Informalisierungsschub, der im folgenden Abschnitt erläutert wird.

2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-


Spanne
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne
Die im weiteren Verlauf dargestellte Informalisierungsthese erklärt nicht das
Ende der Zivilisationstheorie, sondern sie bedeutet für Cas Wouters (1999) eine
Kursänderung des Zivilisationsprozesses und gleichzeitig seine Fortsetzung, denn
die Selbstkontrollen und Gefühlsregulierungen der Menschen werden stabiler,
gleichmäßiger und umfassender. Elias hat diese Fortführung aufgenommen und
sich in „Über die Deutschen“ (1989/2005) dazu geäußert und damit eine zusätzli-
che Annahme seiner Theorie formuliert: die „Formalitäts-Informalitäts-Spanne“
einer Gesellschaft.
Ein Hauptkriterium des Zivilisationsprozesses, also die Veränderung im Ver-
hältnis von gesellschaftlichen Fremdzwängen und individuellen Selbstzwängen
eröffnet einen Zugang zu den Problemen des heutigen Informalisierungsschubs. Im
Laufe des Zivilisationsprozesses wird die Selbstzwangapparatur im Verhältnis zu
den Fremdzwängen stärker, aber auch gleichmäßiger und allseitiger. Im Gegensatz
zur höfischen Gesellschaft haben sich im Laufe des Demokratisierungsprozesses die
Machtdifferenzen verringert (Egalisierung), sodass die Menschen eine ausgeprägte
Selbstzügelung verinnerlichen müssen. Elias macht den Informalisierungsschub
am Beispiel der Paarbildung bei Studenten vor dem Ersten Weltkrieg im Vergleich
zu heute deutlich (Elias 1989/2005: 59ff.): Damals galt noch ein festgefügter, for-
malisierter Kanon des Verhaltens. Dieser wurde bei Frauen des gleichen Standes
aktiv. Man verneigte sich, küsste die Hand, tanzte in einer vorgegebenen Art und
Weise und küsste nur bei Erlaubnis. Untereinander siezte man sich und stellte sich
den Eltern der Auserwählten vor, denn diese Frauen waren potenzielle Heiratskan-
didatinnen. Frauen der unteren Schichten wurden demgegenüber als „Verhältnis“
angesehen. Für sie galt dieser Verhaltenskanon nicht. Damals orientierten sich die
Studenten an einem festgelegten „Ritual der Werbung“. Auch Menschen mit einer
eher schwach ausgeprägten Selbstzwangapparatur konnten sich den mit diesem
Ritual verbundenen Fremdzwängen nicht entziehen, wenn sie Erfolg auf dem
Heiratsmarkt haben wollten. Mit dem Aufstieg der ehemals machtloseren Gruppe
der Frauen und ihrem Eintritt in die Universitäten nahm die Gleichberechtigung
zwischen den Geschlechtern ihren Anfang. Heutzutage gibt es diese strikte Un-
terscheidung der Klassen und die formale Paarbildung nicht mehr. Die Menschen
40 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

haben sich vom Fremdzwang des Rituals emanzipiert und können sich nicht mehr
auf derart festgelegte Verhaltensweisen beziehen. Sie sind vor allem auf sich selbst
gestellt, was zu einem deutlich höheren Anspruch an die Selbstzwangapparatur
führt. Zwei Menschen erproben sich im Rahmen der Paarbildung und müssen
sich ganz auf ihr Gefühl und Urteilsvermögen verlassen. Die Informalisierung löst
bei den Menschen eine stärkere Beanspruchung der Selbstzwangapparatur, eine
Notwendigkeit zum Experimentieren und eine strukturelle Verunsicherung aus.
Als Folge lässt sich in Ansätzen zudem ein neuer Verhaltenskanon festhalten. Elias
beschreibt ihn als „Gruppenkontrolle“ (Elias 1989/2005: 59) und meint damit, dass
der Freundeskreis das Verhalten der Paare beobachten und sanktionieren kann.
Sobald sich einer nicht an informelle Paarregeln hält, schlagen sich die Freunde
auf die eine oder auf die andere Seite (ebd.). Elias beschreibt,

„wie eng der Zusammenbruch eines herkömmlichen, älteren Kanons des Verhaltens
und Empfindens mit einer Veränderung der Machtbalance zwischen den sozialen
Gruppen zusammenhängt, deren Beziehung durch den betreffenden Kanon gesell-
schaftlich gesteuert wurde“ (ebd.: 60).

Die Informalisierung lockert den Umgang miteinander. „Gute Manieren“ sind


nicht mehr so wichtig. Die Verhaltensvorschriften nehmen ab, Einzelheiten werden
vernachlässigt und bleiben nicht mehr so starr. Einerseits dehnen sich zulässige
Verhaltensalternativen aus und andererseits steigt die Anforderung an die Selbst-
regulierung die richtige Alternative auszuwählen.
Es bestehen zurzeit zwei Ereignisbereiche nebeneinander: in dem einen wird
formales Verhalten, in dem anderen informelles Verhalten erwartet. Die Verhal-
tenssteuerungen befinden sich dabei in synchroner Balance. Bei der Formali-
täts-Informalitäts-Spanne handelt es sich „um die Gleichzeitigkeit formeller und
informeller Verhaltenssteuerung in einer Gesellschaft“ (Elias 1989/2005: 46). Elias
nennt es auch das „synchrone“ Gefälle von Formalität und Informalität, das er vom
linearen, „diachronischen“ Informalisierungsgefälle der Gesellschaftsentwicklung
unterscheidet. Aktuell ist die Formalitäts-Informalitäts-Spanne unserer Gesellschaft
relativ klein, viel kleiner als zuvor (ebd.). Die Mitglieder der jüngeren Generation
versuchen bewusst, die Formalität des Verhaltens weiter abzubauen, treiben dadurch
jedoch parallel eine Verringerung des Spielraums der Informalität in den dafür
vorgesehenen Räumen voran. Teils geplant, teils ungeplant gibt es die Tendenz
des gleichen Verhaltens in allen Ereignisbereichen (ebd.: 47). Der „funktionale
Demokratisierungsprozess“ hat mit den Veränderungen des Verhaltenskanons zu
tun. Er löste einen Schub aus, der die Machtdifferenz zwischen Regierenden und
Regierten verringerte, also „zwischen dem Staatsestablishment und der großen
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne 41

Masse der Außenseiter“ (ebd.: 48) und dazu führte, dass die „Abhängigkeit aller
von allen gleichmäßiger wird“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 351).
Das Kontroll- und Normgefüge, der Code bzw. Kanon des Verhaltens und
Empfindens ist in jeder Gesellschaft spezifisch mit einem bestimmbaren Gefälle
zwischen relativer Formalität und relativer Informalität verbunden. Die Struktur
des Gefälles verändert sich im Laufe der Entwicklung einer Gesellschaft und kann
als Merkmal des Zivilisationsprozesses beschrieben werden.
Elias beschreibt im zweiten Band seines Zivilisationsprozesses, wie sich neue
Verhaltensweisen nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach
oben übertragen können. Dieser Prozess ist abhängig davon, wie die sozialen Ge-
wichte sich verlagern. Nach einem Hin und Her von Auflockerung und Straffung
verschmelzen die beiden Verhaltenscodes schließlich (vgl. Elias 1939/1997, Bd. 2:
452f.). Diese Vermischung findet erst dann statt, wenn sich die Machtdifferenzen
zwischen den beiden Gruppen annähern: „Prozesse der Informalisierung treten in
Übergangsperioden auf, in denen sich Gruppen vormaliger Außenseiter emanzipie-
ren und bis in die gesellschaftlichen Machtzentren vordringen können.“ (Wouters
1999: 49) Diese „Emanzipationsprozesse“ waren vor allem in den 1960er und 1970er
Jahren zu beobachten. Je mehr Menschengruppen in den Machtzentren vertreten
sind, desto mehr werden die Umgangsformen und Selbstkontrollmuster auf die
neuen Mitglieder abgestimmt. Dieser Prozess setzt ein, wenn die Etablierten nicht
den Druck spüren, sich von den Neuen abheben zu müssen und ihre Rolle als Eta-
blierte mit ausgeprägten Selbstkontrollen bei sich und den Neuen zu festigen. Ihre
Verachtung gegenüber der neuen Gruppe zeigen sie dann auch eher unverblümt.
Wenn sich die Machtdifferenzen zwischen diesen Gruppen aber verringern, treibt
der Druck die etablierten Gruppen dazu, eine Barriere von Distinktionsmerkmalen
aufzubauen. Dazu gehört die Betonung und Kultivierung des eigenen Lebensstils,
des besonderen Benehmens und der Affektkontrolle, sodass mögliche Vergehen von
den Etablierten gegen den herrschenden Verhaltenskodex (noch) stärker negativ
bewertet wurden. Elias nennt als Beispiel für die Kultivierung sozialer und psychi-
scher Distanz durch die Etabliertengruppe die Verringerung der Machtdifferenz
zwischen Arbeitern (sowie die sogenannten „kleinen Leute“, also Handwerker und
Kleinbürger), die begannen sich zu organisieren, und den etablierten Bürgern.
Die Etablierten zwangen sich zur Einhaltung ihres Verhaltenscodes, indem sie
begannen, sich stärker gegenseitig zu sanktionieren.
Die bürgerlichen Umgangsformen wurden zum Instrument der Distanzierung
von den aufsteigenden Außenseitergruppen. In der Struktur dieser Entwicklung
zeigt sich nicht nur der Druck des distinktiven Verhaltens, sondern auch der
Druck zur Abschwächung der Differenzen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wurden aufgrund der zunehmenden Funktionsteilung und Differenzierung immer
42 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

mehr Menschen voneinander wechselseitig abhängig und die Machtdifferenzen


verringerten sich. Diese Entwicklung war stärker als die Schutzgrenzen, die die
Etablierten um ihre Gruppe gezogen hatten (vgl. Elias 1939/1997, Bd. 2: 361f.).
Dadurch, dass die Vertreter der Außenseitergruppen mehr und mehr Zugang zu
den Machtzentren der Etablierten bekamen, gerieten sie unter den Druck, mit den
Neuen in Kontakt zu treten und Rücksicht auf sie zu nehmen. Die Folge war eine
Reduzierung des Unterschieds bei den Umgangsformen und Affektkontrollen zwi-
schen beiden Gruppen. In solchen Phasen, betont Elias, beginnen die Menschen den
Sinn von Traditionen und Konventionen zu hinterfragen und zu reflektieren. Mit
dem Kontakt zu Menschen der anderen Gruppe beginnen sie, sich auch selbst zu
reflektieren und sich mit Abstand zu betrachten (vgl. Elias 1939/1997, Bd. 2: 453f.).
Bereits in den 1960er und 1970er Jahren wurden herrschende Verhaltensstan-
dards infrage gestellt. Die Machtdifferenzen und Kontraste in den Umgangsformen
nahmen ab. Aufgrund der wachsenden Bedeutung von Funktionen der Arbeiter
im Arbeitsprozess und dem damit einhergehenden Aufstieg dieser ehemals rela-
tiv machtlosen Gruppe begann die sogenannte „Verbürgerlichung der Arbeiter“,
also die Annäherung der Lebensstile, vor allem der Unter- an die Mittelschicht.
Insbesondere die jüngere Generation des Bürgertums trug dazu bei, dass die einst
als Schutzwall gegen die aufsteigenden unteren sozialen Schichten errichteten Um-
gangsformen mit einem ablehnenden Image behaftet waren. Die jungen Vertreter
des Bürgertums übernahmen die lockereren Umgangsformen, und was vorher als
vornehm und anständig galt, galt nun als steif und geheuchelt („Verarbeiterlichung
der Bürger“, Wouters 1999: 52). Für sie waren nun die Äußerung von Gefühlen und
ein informelleres, ungezwungeneres Verhalten von höherem Wert. Sie begannen,
gegen die alten Verhaltenscodes zu rebellieren. Ihr Wunsch nach Authentizität
entstand aus der Absicht, mehr moralische Befriedigung zu erlangen, entwickelte
sich aber zu einem erneuten Abgrenzungsmerkmal gegenüber den aufsteigenden
Gruppen (obwohl sie aus Solidarität zu den Außenseitergruppen ihre formellen
Verhaltensweisen ablegten). Für die aufsteigenden Gruppen (Arbeiter) behielten
allerdings die alten Distinktionsmittel (Manieren) weiter an Wert. Sie wollten den
Zugang zu den etablierten Gruppen nutzen und orientierten sich an den alten
Vorbildern bzw. daran, was sie dafür hielten.
Der beschriebene Prozess der „Verbürgerlichung der Arbeiter“ und der „Ver-
arbeiterlichung der Bürger“ sind eine Fortsetzung der von Elias beschriebenen
„Verringerung der Kontraste“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 353ff.). Die Kontraste im
Verhalten und den Gefühlen nahmen ab und näherten sich einander an. Die Be-
urteilung der Manieren war nicht mehr so rigide, sondern flexibel und abgestuft.
Auch die soziale Kontrolle wurde abgestuft und nuanciert, und das führt, wie
Elias es nennt, zur „Vergrößerung der Spielarten“ (ebd.). Es war mehr erlaubt.
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne 43

Die Umgangsformen der etablierten Gruppe waren nun weniger von Verboten
gekennzeichnet. Die Menschen hatten allerdings den Eindruck, dass die Diffe-
renzen bei den Verhaltens- und Affektkontrollen zunehmen würden. Dabei war
die Spannweite des Verhaltens vermindert worden. Allerdings wurden in diesem
kleineren Ausschnitt Verhalten und Gefühle stärker und feiner unterschieden.
Gleichzeitig wuchs die Skala der sozial akzeptierten Spielarten. Die „verringerten
Kontraste“ und die „vergrößerten Spielarten“ sind nach Elias komplementäre
Aspekte des gleichen Zivilisationsprozesses (ebd.: 359).

„Informalisierung besteht also größtenteils aus der Abschwächung bzw. dem Ver-
schwinden von strikten Kontrollen, die aus dem Wunsch stammten, soziale Distanz
und Distinktion gegenüber aufsteigenden Gruppierungen zu bewahren, im Zusam-
menhang mit einer weitergehenden Nuancierung von Verhaltens- und Affektkon-
trollen.“ (Wouters 1999: 54)

Das gesellschaftliche Spektrum des sozial akzeptierten Verhaltens war einerseits


stärker nuanciert worden. Andererseits kam es nun aber genau darauf an, wie
man sich benahm. Der soziale Wert eines Menschen und sein Selbstwertgefühl
hingen nun eher mehr als weniger von den Umgangsformen ab. Dabei konnten
sich die Menschen allerdings nicht mehr auf festgeschriebene Verhaltenscodes als
Fremdzwang, sondern allein auf ihre Selbstzwangapparatur verlassen, sodass der
gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang zunahm.
Verhaltensvorschriften aus Prestigegründen (z. B. gaben Vermieter ihre Woh-
nung nur an verheiratete Paare; alles andere galt als unschicklich) galten in den
1960er und 1970er Jahren tendenziell bei den jüngeren Generationen als „Zeichen
von Unterdrückung“ (Wouters 1999: 54) und waren es nicht wert, sich daran zu
halten. Es handelt sich jedoch eher um eine „Scheinablehnung“, denn die Menschen
verlagerten die äußeren Zwänge (Manieren, Regeln) quasi unbewusst nach innen.
Sie waren kaum mehr als Regeln zu erkennen, da sie als Selbstverständlichkeit ins
Gewissen aufgenommen wurden (Über-Ich, Selbstzwangapparatur). Die Einsicht
des „Selbst“ („Selbsterfahrung“, Elias 1987/2003: 177) und die Befähigung zur
Empathie verhalfen zur selbstständigen Verhaltenssteuerung. So ausgeprägt, wie
diese Form als Ideal galt, so extrem fiel der Protest und die Unzufriedenheit gegen
äußere Zwänge aus, die sich zum Beispiel in der Hippie-Bewegung formiert. Die
Begriffe Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung und Persönlichkeitsentfaltung
wurden populär und brachten damit das neue „Ideal“ für das Bewusstwerdens von
„Individualität“ zum Ausdruck. Individualität wurde zu einem „Wert“ (Treibel
2008: 91). Mit einer extrovertierten Lässigkeit zeigte man den Widerstand gegen
die Spießer der Gesellschaft und erweckte damit den Eindruck von Freiheit und
Unabhängigkeit. Die Reaktionen in dieser Phase der Informalisierung fielen sehr
44 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

unterschiedlich aus. Viele Menschen wussten nicht, ob sie sich lieber weiterhin an
die noch immer geltenden Regeln halten sollten oder sich gehen lassen konnten.
Die Frage im Informalisierungsprozess lautet daher: Wie weit kann ich mich öffnen
und wann bin ich zu weit gegangen?
Im Zuge der wachsenden Identifikation der Menschen miteinander verbrei-
tete sich das neue „Umgangsideal“ (ebd.: 56) und ältere Umgangsformen wur-
den mit Scham und Peinlichkeit belegt. Die Machtdifferenzen zwischen der
älteren und jüngeren Generation wurden geringer, sie glichen sich ebenfalls
einander an. In diesem Prozess offenbarten sich „Emanzipationsbestrebun-
gen“. Die neuen Manieren zeugten von einer größeren wechselseitigen „Iden-
tifikation“, denn die Menschen traten nun stärker für sich selbst ein (Indivi-
dualisierung) und nahmen dabei mehr Rücksicht aufeinander (Solidarität)
. Sie offenbarten dabei viel von sich und hatten das neue Umgangsideal als ge-
meinsamen Referenzpunkt. Die persönlichen Qualitäten als Individuum rückten
ins Zentrum der sozialen Beziehungen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass
Individualität und Solidarität schnell in ein Spannungsverhältnis geraten können,
denn „es gibt keine Ich-Identität ohne Wir-Identität“ (Elias 1987/2003: 247) (aus-
führlich zur Wir-Ich-Balance in Kapitel 2.6).
Damals gab die machtgrößere Gruppe das Verhalten und die Balance von
Individualität und Solidarität vor. Seit den 1960er/1970er Jahren jedoch, als die
Machtdifferenzen geringer wurden, der Wohlstand zunahm und keine akute Gefahr
eines Krieges bestand und die Probleme von Gewalt und drohender Angst in den
Hintergrund rückten, trat die „Qualität des menschlichen Zusammenlebens“ (Wou-
ters 1999: 57) in den Vordergrund. Manieren waren fortan Waffen im Wettkampf
um Prestige und sozialer Anerkennung (ebd.: 58). Als Individuen kämpften sie nun
um Anerkennung in sozialen Beziehungen, um als wertvolles Individuum angese-
hen zu werden. Dabei stellen sie eine wechselseitige Rangordnung fest. Erschwert
wird das Ganze durch die Fülle von Lebensstilvarianten und deren Verteidigung.
Der ambivalente Charakter menschlicher Beziehungen zeigt sich in der Balance
von vorteilhaften und nachteiligen Aspekten innerhalb einer Beziehung. In einer
Beziehung mit einer ausgeglichenen Machtbalance tolerieren die Menschen weniger.
Die Ambivalenz in dieser Beziehung offenbart sich als psychisches Problem. Die
Ausbalancierung der Machtverhältnisse wird zum Gegenstand von Verhandlungen.
Auf wie viel muss ich verzichten und inwieweit gebe ich dem anderen in seinen
Wünschen nach? (Wouters 1999: 58f.). In unausgewogenen Beziehungen kann der
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne 45

Mächtige entscheiden und der Schwächere die Folgen nur hinnehmen (vgl. de Swaan
1991). Auch im praktischen Arbeitsvollzug sind diese Wandlungen feststellbar.13

Wandlung der Machtdifferenzen im Arbeitshandeln


Die Spannungen zwischen Individualität und Solidarität in einer Zeit geringerer
Machtdifferenzen und damit verknüpften Spannungen im Affekthaushalt, indem
das Ich gegen das Wir aufbegehrt, führen zu einer gestiegenen Aufmerksamkeit
von Emotionen und deren Regulierung. In den 1950er Jahren mussten Individuen
ihre Emotionen zurückhalten und sich selbst beherrschen (ebd.: 59). Bei einer
Verringerung der Machtdifferenzen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern
können nach Wouters beide mehr Emotionen zum Ausdruck bringen, ohne einen
Gesichtsverlust befürchten zu müssen. Es profitieren vor allem die „Untergebenen“,
die sich nicht mehr alles gefallen lassen müssen und sich auf ihre Gefühle berufen
können. Sollte eine einvernehmliche Lösung nicht möglich sein, haben sie die
Möglichkeit, die Gewerkschaft einzuschalten (ebd.: 60). Wouters spricht davon,
dass die Menschen ihre Gefühle zwar frei von Zwängen zeigen können, schränkt
aber eine völlige Zügellosigkeit der Gefühle mit der Formulierung „kontrolliert
äußern“ (ebd.) ein. Extreme Kontraste in Bezug auf geäußerte Emotionen wie Befehle,
Wutausbrüche etc. sind bei den aktuellen Machtverhältnissen nicht mehr gegeben.
Ein Vorgesetzter bittet freundlich und zeigt seine Gereiztheit beherrscht. Er kann
Emotionen äußern, sie beschreiben, aber nicht ungezügelt darstellen. Emotionen
werden als sprachliche Ausdrücke artikuliert und formuliert und münden in eine
regulierte und indirekte Gefühlsäußerung (Emotionsregulierung, Wouters 1999:
153). Auch erfreuliche Emotionen sind gestattet und schaden nicht mehr der Au-
torität des Individuums, wie es früher der Fall war: „Der Umgang miteinander am
Arbeitsplatz ist weniger durch Rangunterschiede als früher bestimmt und kann
stärker durch Merkmale der Beteiligten als ‚Individuen‘ gefärbt werden, wenigs-
tens durch solche, die dafür gehalten werden.“ (ebd.: 60) Duzen gilt als Merkmal
für die Verringerung der Kontraste der Gesellschaft, besonders am Arbeitsplatz.
Autorität folgte früher einer automatischen Regel, wird aber heute nicht mehr als
selbstverständlich akzeptiert, da sie allein aus einer Position in einem hierarchischen
Gefüge hervorgeht. Diese Position muss nun durch die Qualität der Handlungen
gerechtfertigt werden. Der Ursprung von automatischer Autoritätshinnahme, ihr
Fremdzwang, wurde wieder stärker begriffen.

13 Vgl. dazu auch Simmel, der feststellt, dass Differenzierungs- und Individualisierungs-
prozesse „also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der
eignen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden [bewirkt]“ (Simmel
1888/1989: 22).
46 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Die Verminderung der Intensität, mit der Rollenkonflikte als Gewissenskonflikte


erfahren wurden, deutet auf die größere der Reichweite der Selbstkontrollen hin.
Die Selbstkontrolle erstreckt sich aufgrund einer stärkeren Empathie und der „Ver-
größerung der Spielarten“ auf mehr Situationen und ist gleichmäßiger geworden:

„In dem Maße, in dem die in den ‚guten Manieren‘ gegebenen Ge- und Verbote
weniger umfangreich, weniger detailliert und weniger streng wurden, sind die
selbstverständlichen Erwartungen, die die Menschen im Hinblick auf die eigene
Selbstkontrolle und die der anderen hegen, geradezu umfangreicher, detaillierter
und starrer geworden.“ (Wouters 1999: 62)

Ausdruck für fortgeschrittene Zivilisierung ist das ‚managen‘ von Gefühlen


(Willems 2012: 136). Infolgedessen ist für Eckert et al. eine „flächendeckende
Affektkontrolle […] obsolet geworden. Was heute zählt, ist situationsangepasstes
Emotionsmanagement, man könnte karikieren: das Ausschalten und Anschalten
von Gefühlen (Eckert et al. 1991: 157). Die immer stabilere „Selbstkontrollappa-
ratur“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 328) macht laut Willems „eine eigenmächtige und
flexible emotional-gratifikatorische Selbstregulierung (‚Selbstsorge‘) unter den
Bedingungen dieser (Industrie-, Markt-, Konsum-)Gesellschaft erst möglich“
(Willems 2012: 136, Fußnote 65). Nicht mehr Askese, sondern mehr und mehr
scheint Genuss und Konsum für den Menschen zur Gestaltungsaufgabe zu werden.

2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess


2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess
Individualisierung14 ist ganz allgemein die relative Loslösung des Individuums
aus einem oder mehreren Kollektiven. Tendenziell nimmt die Individualisierung
in modernen Gesellschaften zu (Individualisierungsschub15).
Im Aufsatz „Wandlungen der Wir-Ich-Balance“ in der Abhandlung „Die Gesell-
schaft der Individuen“ (1987/2003) beschäftigt sich Elias ausführlich mit der engen
Verbindung von Psycho- und Soziogenese und der Entwicklung der Individualisie-
rung, die er aus der Perspektive der sich wandelnden Wir-Ich-Balance analysiert.
Für ihn sind Individualisierung und Zivilisierung zwei Seiten einer Medaille, die

14 Vgl. auch die Diskussionen zum Aspekt Individualisierung von Elisabeth Beck-Gerns-
heim und Ulrich Beck seit den 1980er Jahren: Beck 1986, Beck/Beck-Gernsheim 1994,
Beck 2002, Beck/Lau 2004; vgl. eine Gegenüberstellung der Sichtweisen von Ulrich
Beck und Norbert Elias zum Individualisierungsprozess bei Treibel 1996.
15 Beck 1986: 123f., Elias 1987/2003: 43 („Individualisierungsschübe“).
2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess 47

ihre Gemeinsamkeit vor allem in der fortschreitenden Differenzierung und ihrer


Verflechtung hat (zunehmende Bedeutung der Selbstzwangapparatur): „Was sich
auf der einen Seite als Prozeß der zunehmenden Individualisierung darstellt, ist
auf der anderen zugleich auch ein Prozeß der Zivilisation.“ (ebd.: 168)
Die Begleiterscheinungen von Individualisierungsschüben sind für ihn durch
folgende Merkmale gekennzeichnet:

a. ein höheres Maß an Selbstregulierung


b. wachsende Mobilität
c. erweiterte Entscheidungsmöglichkeiten und Spielräume
d. Heraustreten aus Schutzverbänden und ein stärkeres Auf-sich-selbst-gestellt-sein
e. Ich-Identität wird gestärkt, Wir-Identität wird geschwächt
f. viele Wir-Beziehungen sind freiwillig und austauschbar (Elias 1987/2003: 166ff.)

In früheren Verbänden war die Regelung des individuellen Verhaltens besonders


wichtig: Dazu gehörte die permanente Anwesenheit von und das Zusammensein
mit anderen Menschen verbunden mit dem klaren Wissen, dass diese Beziehungen
lebenslänglich und unlösbar sind und direkte Sanktionen auf Verhalten zu befürch-
ten waren. Verhalten und Entscheidungen gab es dort nur aus der Wir-Perspektive
und in Bezug auf die Gruppe. In hochindustrialisierten Gesellschaften hingegen ist
gerade der Wunsch des Alleinseins oder zu zweit seins ausgeprägt. Die Möglichkeit,
aber auch die Fähigkeit allein zu sein, ist in solchen Gesellschaften sehr viel größer.
Menschen in den industrialisierten Ländern müssen zwischen vielen Alternativen
wählen. Aus dem Müssen wird schnell eine Gewohnheit oder sogar ein Ideal. Viele
Verhaltensweisen, die vorher durch andere reguliert wurden (Fremdregulierung),
werden nun durch die Individuen selbst reguliert (Selbstregulierung) (vgl. Elias
1987/2003: 176). Einerseits sind hoch individualisierte Menschen stolz auf ihre
Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre damit verbundene Verantwortung. An-
dererseits können sie aber nicht abschätzen, welche unintendierten Folgen sich
aus der Wahl der Alternativen ergeben.
Bei vielen Transformationen von Gesellschaften (z. B. von der manuellen zur
automatisierten Fertigung) wurde Schritt für Schritt mehr Langsicht erreicht. Immer
mehr Menschen waren notwendig, diese Schritte zu vollziehen. In dieser wachsenden
Kette von „Spezialisten“ und der damit einhergehenden Funktionsteilung wuchs
die Abhängigkeit voneinander und damit die Zahl der Koordinationsfunktionen,
um das Ineinandergreifen der spezialisierten Tätigkeiten weiterzuführen. Für den
Einzelnen bedeutet diese Erkenntnis, keinen Überblick mehr zu haben, wie er mit
seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten in die Kette von Abhängigkeitsgeflechten
eingegliedert ist (ebd.: 181f.).
48 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Nach Elias gehören Wahlmöglichkeiten und Risiko zusammen. „Selbsterfahrung“


(Elias 1987/2003: 177) ist jedoch eine wichtige Seite des Individualisierungsprozesses
und geht mit dem Gefühl einher, sein Selbst von anderen Menschen abzuschotten,
kein eigenes Leben gestalten zu können oder auch einsam zu sein.16 Das Selbst bleibt
gegenüber anderen Menschen, die in dieser Metapher als „Kerkermeister“ agieren,
unzugänglich und verborgen. Individualisierung bezeichnet die Zunahme der
„Getrenntheit und Absonderung der einzelnen Menschen in ihren Beziehungen
zueinander“ (ebd.: 167).17 Beide Seiten sind „Aspekte des gleichen Grundschemas
der Persönlichkeitsgestaltung“ (ebd.: 177). Die Menschen begreifen sie allerdings
als zwei voneinander getrennte Sphären, die in keinem Zusammenhang stehen:

„Die gesellschaftliche Entwicklung zu einer hohen Individualisierung des Individuums


eröffnet, mit anderen Worten, den einzelnen Menschen einen Weg zu spezifischen
Formen der Befriedigung und Erfüllung und zu spezifischen Formen der Unzu-
friedenheit und des Leerlaufs, zu spezifischen Chancen für Freude, Beglückung,
Behagen und Vergnügen und zu Chancen des Leidens, Unglücks, Mißvergnügens und
Unbehagens, die nicht weniger gesellschaftsspezifisch sind.“ (Elias 1987/2003: 177)

Die Menschen sind gezwungen, Beharrlichkeit und Langsicht an den Tag zu legen.
Dazu gehört auch, kurzfristige Chancen zugunsten langfristiger Ziele nicht zu
ergreifen. Mit anderen Worten: „dauerhafte Befriedigung“ gegen „kurzfristige
Impulse“ (ebd.: 177f.).
Im Gegensatz zu Beck (1986) spricht Elias aber nicht von einer Auflösung der
Wir-Beziehungen, sondern – in seiner Perspektive einer Wir-Ich-Balance – von
einer Verschiebung zugunsten des Ich-Ideals, die sich in einer Ich-Wir-Balance
ausdrückt (Treibel 1996: 424ff.). Individuen können sich nicht komplett vom Wir
lösen, da sie sich stets in interdependenten Beziehungen befinden. Selbst bei einer
starken Individualisierung ändert sich nichts an der „natürlichen Abstimmung
eines Menschen auf das Zusammenleben mit anderen“ (Elias 1987/2003: 259).
Das gesellschaftliche Gewebe ist das Medium, in dem sich die Individualität des
Einzelnen überhaupt erst entfalten kann (Elias 1939/1997, Bd. 2: 486f., Anmerkung

16 Herbert Willems (2012: 144, Fußnote) verweist auf die logische Assoziation mit dem
Entfremdungsbegriff und stellt fest, dass Elias mit dieser Sichtweise eine eigene Defi-
nition lieferte.
17 Vgl. diesbezüglich den Begriff „homo clausus“ (Elias 1970/2004, 1987/2003): Unter dem
Begriff ist nicht nur die Kritik Elias’ an anderen Theorien der Individualisierung zu
fassen, die Menschen statt in Beziehungen als „wirlose“ (Elias 1987/2003: 266) Einzelne
betrachten, sondern der „homo clausus“ beschreibt zudem die „Selbsterfahrung“ (ebd.:
177) und „(Selbst-)Wissen-Realität des Individuums“ (Willems 2012: 143).
2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess 49

129). Elias bringt die Ambivalenz der Individualisierung auf den Punkt, wenn er
feststellt:

„Das eigentümliche Kreuzgeflecht von Unabhängigkeit und Abhängigkeit, von der


Notwendigkeit und der Möglichkeit, für sich selbst und allein zu entscheiden, und
der Unmöglichkeit, für sich selbst und allein zu entscheiden, von Selbstverantwort-
lichkeit und Gehorsam kann erhebliche Spannungen hervorrufen, Hand in Hand
mit dem Wunsch, etwas ganz für sich zu sein, dem die Gesellschaft der anderen als
etwas Äußeres und Behinderndes gegenübertritt, geht oft der Wunsch, ganz innerhalb
seiner Gesellschaft zu stehen.“ (Elias 1987/2003: 204)

Annette Treibel stellt fest, dass Verschiedenheit zunehmend „zu einer sozialen
Norm, zu einem Wert an sich“ (Treibel 2008: 91) wird, aber im selben Moment
der „gesellschaftliche Konformitäts-Druck“ kaum bis gar nicht nachgelassen hat.
Diese Ambivalenz – Konformität und Besonderheit stehen nebeneinander und
gelten zur gleichen Zeit – wird der Kontext, in dem sich die Individuen bewegen
und ihre je geltenden Handlungsspielräume begrenzen oder ermöglichen.18
Eine Diagnose der Gegenwart und eine Bestimmung der gegenwärtigen Zivi-
lisation ist nach Willems eine besondere Herausforderung, da sie sich aufgrund
der zeitlichen Nähe „komplizierter, vielschichtiger, widersprüchlicher, vieldeutiger
und unübersichtlicher“ (Willems 2012: 139) darstellt. Gefühle von Einsamkeit
und Alleinsein führt Treibel in Anlehnung an Elias darauf zurück, dass neue
Wir-Identitäten noch nicht gefunden seien (Treibel 2008: 93). Das Wir, also die
Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, ist inoffizieller geworden (vgl. Treibel 1996: 432)
und neue Kollektive sind durch geringere Stabilität gekennzeichnet (ebd. 2008:
94). Die „Integrationsagenturen“ (Individuen) (Degele 1999) schließen sich in der
modernen Gesellschaft zu „frei assoziierten“ (Friebe/Lobo 2006: 277) Kollektiven
(Netzwerken) zusammen, die zeitlich labil, aber in ihrer Verbindlichkeit unter-
einander relativ stabil sind. Zunehmende gesellschaftliche Differenzierung wird
von ihnen mit einer Integration zu freien Netzwerken beantwortet. Auch Willems
spricht von der Herausbildung einer „Art (kollektiver) Identität“ und meint damit
etablierte „kollektive und kollektivierende Gemeinsamkeiten“ (Willems 2012: 146f.),
die sich aufgrund der starken Differenzierung und Verflechtung und damit eines
gemeinsamen Wissens und Bewusstseins ergeben haben.
In diesem Kapitel stand die Beschreibung eines figurations- und prozesssoziolo-
gischen Beobachtungs- und Erklärungsrahmens und die Definition einschlägiger

18 Das schwedische Modeunternehmen H&M ist ein Beispiel für Individualität, das in der
Masse angeboten und verkauft wird. Individueller Kleidungsstil wird zum konformen
Massenlook.
50 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie

Begriffe im Vordergrund. Im Rahmen der empirischen Analyse kommen sie als


„sensitizing concepts“ (Blumer 1954) zum Tragen, um den aktuellen Grad der
Selbstregulierung, die betrieblichen Figurationen und gesellschaftliche Machtba-
lancen zu rekonstruieren. Eine genauere Bestimmung des prozesstheoretischen
Forschungszugangs erfolgt im Kapitel 5 zum methodischen Vorgehen. Im nächsten
Kapitel werden die forschungsleitenden Annahmen um die aktuellen arbeits- und
industriesoziologischen Diskurse zur Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit
in Bezug auf die Figurations- und Prozesssoziologie ergänzt und forschungsprak-
tisch dargestellt.
Der Subjektivierungsdiskurs, der auch eine Diskussion über die Steigerung
von Selbstkontrollen im Zusammenhang mit dem eigenen Arbeitshandeln ist,
kann mit der Sichtweise von Elias geöffnet werden. Gesteigerte Selbstregulierung
im Rahmen vergrößerter Handlungsspielräume ist nicht einfach auf die Idee des
Managements zurückzuführen, sondern muss in einen größeren historischen
Kontext gestellt werden. Diese Zusammenführung erfolgt in Kapitel vier zur
Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit.
Untersuchungsleitende Konzepte:
Subjektivierung und Entgrenzung 3
von Arbeit
3 Untersuchungsleitende Konzepte

Der gestiegene Subjektbedarf in Arbeitsprozessen im Vergleich zur tayloristischen


und fordistischen Arbeitsorganisation ist Gegenstand in den aktuellen Diskursen
der Arbeits- und Industriesoziologie. Die folgenden Ausführungen beschreiben
die Aspekte einer Subjektivierung von Arbeit in forschungsrelevanter Hinsicht
und berücksichtigen die sich historisch wandelnde Relevanz von Subjektivität im
Arbeitsprozess. Bei der Analyse der Subjektivierung von Arbeit aus prozesssozio-
logischer Sicht, wird deutlich, dass sie das Resultat einer Vermengung geplanter
Handlungen und ungeplanter Folgen auf Grundlage einer Trial-and-error-Methode
(vgl. Minssen 2012: 54f.) oder eines Experimentierens (Elias 1986/2006: 192) ist.

3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung


3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung
Der gegenwärtige Wandel von Arbeit ist durch eine vielfältige und uneinheitliche
Dynamik (vgl. Peters/Sauer 2005: 25) gekennzeichnet und führt in der arbeits-
und industriesoziologischen Forschung im Hinblick auf die daraus resultieren-
de Bedeutung für die Arbeitsgesellschaft zu einer äußerst breiten Diskussion
und Interpretation. Übereinstimmung in der Debatte über die Transformation
der Arbeitsgesellschaft herrscht allerdings bei der Diagnose der „Rückkehr des
Subjekts in die Ökonomie“ (Lohr/Nickel 2005: 207) und einer mit ihr ermöglichten
Flexibilisierung der Produktion. Diese Phänomene werden mit den Begriffen
„Subjektivierung“ und „Vermarktlichung“ beschrieben.
Subjektivierung bedeutet nach Böhle die „Rücknahme der Transformation von
Arbeitskräften in ein ‚Objekt‘ betrieblicher Verfügung und ihre Anerkennung als
‚Subjekt‘“ (ebd. 2003: 118f.). Aufgrund des Wandels von Betriebsstrukturen und
der damit verbundenen neuen Produktionslogik werden Subjektqualitäten wie
Entscheidungsfähigkeit, Selbststeuerung, Selbstorganisation, Empathie, Verant-

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
52 3 Untersuchungsleitende Konzepte

wortung, Interpretations- und Distanzierungsleistungen zur Voraussetzung. Fleiß,


Pünktlichkeit und Disziplin werden nicht mehr explizit als Teil der subjektiven
Anforderungsstruktur genannt; sie sind bereits Teil der Selbstzwangapparatur.
Gemeinsam ist der vielfältigen, inzwischen schwer zu differenzierenden Debatte
zur Subjektivierung von Arbeit19 das Fazit, dass die Beschäftigten mehr Optionen
erhalten, aber zur gleichen Zeit auch neuen Anforderungen ausgesetzt sind.
Vermarktlichung20 bedeutet das Eindringen der Marktlogik in den produktiven
Kern. Moldaschl und Sauer charakterisieren diesen Prozess als „Internalisierung
des Marktes“ (Moldaschl/Sauer 2000). Die Beschäftigten reagieren unmittelbarer
auf die Erfordernisse des Marktes (Kundenwünsche, Absatzschwankungen) und
auch innerhalb des Betriebes werden marktförmige Steuerungsmechanismen im-
plementiert (Zielvereinbarungen, interne Kunden-Lieferanten-Beziehungen). Die in
Zeiten des Fordismus möglichst weitgehende Abschottung der Organisation vom
Markt wird zurückgenommen und die Verantwortung für Kundenzufriedenheit
und wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens unmittelbar den Beschäftigten
zugeschrieben. Selbstorganisation erhält im Rahmen flexibilisierter Organisations-
strukturen der Betriebe oder anders formuliert als „betriebliche Entgrenzung“21 ein
neues Gewicht und soll formalisiert werden. Betriebliche Entgrenzung bezeichnet
die flexibilisierten oder sogar aufgehobenen Organisationsstrukturen der Betriebe.
Die Dynamik der Entgrenzung zeigt sich in den Sozialdimensionen Zeit, Raum,
Technik, Qualifikation, Sozialorganisation, (Arbeits-)Recht und Berufsstruktur
(vgl. Huchler/Voß/Weihrich 2007: 36f., Voß 1998: 480).
In der arbeits- und industriesoziologischen Forschung besteht in Bezug auf
Veränderungen in der Arbeitswelt ein Einvernehmen über den Prozess der „Dezen-
tralisierung“22, der sich komplementär zum Prozess der Vermarktlichung verhält.
Dezentralisierung meint die tendenzielle organisatorische Desintegration der bis
dahin hierarchisch strukturierten Aufgaben und Funktionen, also die Verlagerung
von hierarchischen Kompetenzen (indirekte Bereiche) an die ausführenden Stellen
(operative Ebene, direkter Bereich). Faust et al. trennen diesen Prozess in „operative“
und „strategische Dezentralisierung“ (vgl. Faust et al. 1995: 23f.). Operative Dezen-
tralisierung beschreibt die Verlagerung von Gestaltungs- und Entscheidungsmög-

19 Vgl. zur Subjektivierungsdebatte Voß 1998; Holtgrewe 2000; Moldaschl/Voß 2003;


Lohr/Nickel 2005; Huchler/Voß/Weihrich 2007; vgl. zu ausführlichen Literaturan-
gaben, auch zu den Anfängen der Subjektivierungsdebatte in der deutschsprachigen
Soziologie Kleemann et al. 2003: 70.
20 Vgl. Moldasch/Sauer 2000; Dörre/Röttger 2003; Peters/Sauer 2005; Kratzer 2005; Marrs
2008, Sauer 2010.
21 Vgl. exemplarisch zur Entgrenzungsdebatte: Minssen 2000; Kratzer 2003.
22 Vgl. Faust et al. 1995, Sauer/Döhl 1997, Minssen 2006, Sauer 2010.
3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung 53

lichkeiten auf die operative Ebene zum Beispiel in Form beteiligungsorientierter


Sozialtechniken wie dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) und der
Teamarbeit. Strategische Dezentralisierung bezeichnet die Verlagerung von Auf-
gaben und Kompetenzen auf „neu definierte Unternehmenseinheiten“ (Faust et al.
1995: 23f.) wie Business Units oder auch sogenannte Profitcenter und Costcenter.
Zur Hierarchie bilden sich also zusätzliche und teilweise simulierte Marktele-
mente. Trotz Marktsteuerung gibt das Management die Rahmenbedingungen
und Zielwerte weiterhin nach dem Top-down-Prinzip an die Beschäftigten weiter.
Die Verbindung strategischer Zentralisierung mit operativer Dezentralisierung
bildet eine neue Strategie des Managements (vgl. Haipeter/Lehndorff 2004). Dabei
stehen nicht mehr die Verfahren, sondern die vereinbarten Ziele im Mittelpunkt.
Vermarktlichung und Dezentralisierung eliminieren die fordistische Grenze
zwischen Betrieb und Markt und „lösen die Nutzung von Arbeitskraft aus ihren
institutionellen und motivationalen Grenzen (Subjektivierung)“ (Peters/Sauer
2005: 31). Im Zuge des Fordismus und Taylorismus wurde die Belegschaft einer
Fabrik zweigeteilt: zum einen in die große Gruppe der Produktionsmitarbeiter, die
aufgrund der Enteignung ihres Produktivwissens und monotoner Repetitivarbeit
die Missachtung ihrer personalen Qualitäten erfuhr, zum anderen die wesentlich
kleinere Gruppe von Vorgesetzten, die die Gruppe der Produktionsmitarbeiter führte
und kontrollierte (vgl. Senghaas-Knobloch/Nagler 2000: 116). In postfordistisch
organisierten Betrieben wird die Grenze zwischen planenden, kontrollierenden und
ausführenden Funktionen aufgrund beteiligungsorientierter Konzepte durchlässig
und die Subjektivität der Produktionsmitarbeiter aus ihrem Schattendasein befreit.
Sie avanciert von einer Störgröße zum Produktivitätsfaktor. An dieser Stelle muss
erwähnt werden, dass ein „Mitdenken“ im Taylorismus immer Realität war. Die
Beschäftigten kompensierten die Mängel der Konstruktion von Produkten und
mussten zudem in der Lage sein, bei neuen Anweisungen die Differenz zwischen
Soll- und Ist-Zustand erfassen zu können (vgl. Kocyba 2000: 128). Diese informelle
(heimliche) subjektive Leistung der Beschäftigten soll nun formalisiert werden und
gilt als Voraussetzung aktueller Formen der Arbeitsorganisation (neue Subjekti-
vität). Sie verliert in dieser neuen Logik die Eigenschaft des Subversiven, die sich
vorher gegen die Instrumentalisierung der Person als Arbeitskraft richtete (vgl.
Moldaschl/Sauer 2000: 220).
Die „Herausbildung kompatibler Subjektivitäten [muss] sich immer wieder
neu vollziehen“ (Dörre et al. 2011: 25). Das bedeutet, es entsteht keine völlig neue
Subjektivität im Zuge der Anpassung an das neue Leitbild der Vermarktlichung.
Menschen haben verschiedene Subjektivitätsmodi, die sich mit neuen Produk-
tionsweisen und dem Grad der Zivilisation anrufen lassen (Mehrschichtigkeit
individueller Subjektivität, vgl. Dörre et al. 2011: 45; der Modus des Zu-sich-selbst-
54 3 Untersuchungsleitende Konzepte

in-Beziehung-Setzens, vgl. Bröckling 2007). Subjektivierung von Arbeit erfolgt


spannungsreich (Dörre et al. 2011: 45). Nach Dörre et al. wird Subjektivierung und
Entgrenzung von Arbeit in der Industriesoziologie nur eindimensional begründet
und die gouvernementalitätstheoretischen Ansätzen fokussieren zu einseitig die
Leitbilder und Selbstbeherrschung (ebd.: 45).
Subjektivität im Arbeitsprozess bezieht sich auf „persönliche Bewältigungsfor-
men, mit denen die Arbeitenden ihre eigenen Bedürfnisse und Sinnansprüche mit
den vorgesetzten Gegebenheiten in Einklang bringen“ (Senghaas-Knobloch 1995:
43). Es handelt sich um einen „nichtreduzierbaren persönlichen Anteil“ (ebd.)
an eine vorstrukturierte Situation, wie sie im Produktionsprozess vorkommt.
Subjektivität gilt als „arbeitskultureller Faktor“ (ebd.: 60) im Betrieb. Arbeits-
und Technikgestaltung muss diese Faktoren berücksichtigen, wenn es humane
Arbeitsbedingungen schaffen soll. Senghaas-Knobloch fordert von den Betrieben,
die Bedingungen herzustellen, die ein Mensch im Produktionsbereich benötigt,
um die persönliche Bewältigung von Arbeitsaufgaben leisten zu können (ebd.). Die
Anerkennung der Existenz einer von der Unternehmenskultur zu differenzierenden
Arbeitskultur (betriebliche Doppelwirklichkeit, Weltz 2011) lässt erkennen, dass
neue Bedingungen auch immer die (informelle) betriebliche Lebenswelt berühren,
die über eigene, meist nicht sichtbare Regeln verfügt.
Kleemann et al. (2003: 89ff.) unterscheiden vier Formen von Subjektivität:

t Die „kompensatorische Subjektivität“ ist eine Antwort auf die starren, betrieb-
lich-formalisierten Anforderungen. Eine Anpassungsleistung von Mensch und
Arbeit wird allein vom Subjekt in Form eines praktischen Handelns vollzogen
und „im Gebrauch geformt und verändert“ (Moldaschl/Sauer 2000: 220).
t Die zweite Form ist die „strukturierende Subjektivität“, die der Flexibilisierung
und Verflüssigung institutionalisierter Grenzen geschuldet ist. Die Subjekte fin-
den neue Freiräume vor und begegnen den nun bestehenden Bedingungen mit
einer aktiven Auseinandersetzung und individuellen Ausgestaltung. Von ihnen
müssen die neuen Strukturen geschaffen werden. Dieser individuelle Prozess
hat ungeplante Auswirkungen auf andere Bereiche. Dort, wo Strukturen noch
existieren, werden sie reflektiert und auf Funktionalität überprüft.
t Die dritte Form bildet die „reklamierende Subjektivität“ auf der Ebene des
Diskurses hinsichtlich gesellschaftlicher Sinn-Strukturen und speziell der auf
Arbeit bezogenen soziokulturellen Werte und Einstellungen. Reklamierende
Subjektivität fordert die Gesellschaft und ihre Institutionen auf, alternative
Orientierungen zu berücksichtigen. Sinn-Strukturen sind nicht unmittelbar
handlungsrelevant, sondern müssen von den Individuen in Wechselwirkung
mit ihrer Umwelt für die eigene Arbeits- und Lebenswirklichkeit übersetzt
3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung 55

und in alltagspraktisches Handeln umgesetzt werden. Je nach Größe der indi-


viduellen Handlungsspielräume und Art der Ressourcen haben die Individuen
die Chance, gesellschaftliche Sinn-Strukturen zu verändern. Die Folge ist ein
Legitimitätsverlust tradierter Deutungen und Werte, der allerdings keine di-
rekten praktischen Konsequenzen haben muss.

Die beschriebenen Formen verweisen auf die vierte, die „ideologisierte Subjektivität“,
die sich komplementär zur reklamierenden Subjektivität verhält. Im Zuge zuneh-
mender öffentlicher Debatten über Globalisierung, Wettbewerb und Flexibilität
ändert sich die Rahmung des individuellen Deutens und Handelns. In diesem Fall
geht es um die Prägung der vermittelten Sinn-Strukturen. Subjektivierung kann
als „Ideologie“ (vgl. Baethge 1999, Kleemann et al. 2003: 91) handlungsrelevant
und in dieser Form von den Unternehmen strategisch genutzt werden oder rein
appellativ bleiben (Kocyba 2000: 131). Lohr und Nickel sprechen in Anlehnung an
Deutschmann von einem Mythos der Subjektivierung, der als self-fullfilling-pro-
phecy tatsächlich real werden kann (Lohr/Nickel 2005: 214, Deutschmann 2003:
487). Flexibilität und Subjektivität haben dann einen Anforderungscharakter und
können Teil der Selbstzwangapparatur werden.
Mit der von Dörre et al. beschriebenen „rebellischen (oppositionellen) Subjek-
tivität“ (Dörre et al. 2011: 46f.), die sich der totalen Vereinnahmung des Selbst in
den Weg stellt und aktiv die Flexibilisierung begrenzt, kann auf eine fünfte Form
von Subjektivität verwiesen werden. Gleichzeitig artikulierte Sicherheitsansprüche
und Flexibilitätsanforderungen gehören zur betrieblichen Realität. Auch wenn es
in der Ideologie eine abrupte Zäsur geben kann (z. B. vom Kommandosystem zur
Leitidee der Vermarktlichung), werden die Handlungspraxen von einem Neben-
einander alter und neuer Verhältnisse geprägt sein (Dörre et al. 2011: 24f.). Die
Autoren gehen davon aus, „dass die verschiedenen Schichten der Subjektivität
auf unterschiedliche Weise erfasst und in ein Spannungsverhältnis zueinander
gesetzt werden“ (ebd.: 25). Die rebellische (oppositionelle) Subjektivität macht aus
einem eindimensionalen, abstrakten ein realistisches Konzept, mit dem sich die
Bewältigungsmuster und eventuelle Abwehrmechanismen adäquat erfassen lassen.
Subjektivität beschreibt die gesellschaftlich-historische Konstellation, was ein
Subjekt aufgrund seiner individuellen Prägung kann und was es in Bezug auf
geltenden Normen und Werte darf. Infolge kontingenter, nicht eindeutiger Situ-
ationen auf betrieblicher Ebene (technisch, arbeitsorganisatorisch, menschlich)
kann Subjektivität als Reaktion abgerufen werden (vgl. Schimank 1986: 75). Sie
ist auf andere Personen gerichtet und kann nicht allein sozial erzeugt werden.
Subjektivität ist damit ein Relationsbegriff. Erst die aktive und kreative Leistung
des Individuums in wechselseitig interdependenten Beziehungen stellt Subjekti-
56 3 Untersuchungsleitende Konzepte

vität her. Im Konzept der Subjektivierung geht es um die Vermittlung von Subjekt
und Gesellschaft (vgl. Klemann et al. 2003). Diese Auffassung teilen Klemann et
al. mit Norbert Elias, der diese Dichotomie mithilfe seines Figurationsansatzes
überwindet (siehe Abschnitt 2.1).

3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen23


3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen
Ein Individuum verfügt über eine eigene, besondere Lebensgeschichte (vgl. Daniel
1981: 11). Trotz dieser Vielfalt an Eigentümlichkeiten versuchen die Menschen,
das „Gemeinsame“ festzustellen. Gleichzeitig stecken in dieser Aufgabe auch wi-
dersprüchliche Erwartungen der anderen Subjekte an das Individuum (Rollener-
wartungen im sozialen Raum). Identität ist „Identitäts-Bildung“ (Daniel 1981: 12),
also nicht passiv vorgegeben. Das „Ich“ bespiegelt sich selbst (Selbstbewusstsein)
und wird sich als Subjekt bewusst 24 . Die Instanz „das reflektierende Ich“ (ebd.:
13) beschreibt Sachverhalte und Merkmale einer „gegebenen“ (ebd.) Instanz,
die es selbst ist. Damit es zu sozialen Beziehungen kommt, müssen sich Akteure
teilweise an die Handlungserwartungen anderer anpassen. Ein Akteur entwickelt
und behauptet in sozialen Beziehungen seine „Ich–Identität“25 (Persönlichkeits-
entwicklung). Die Fähigkeit zu selbstverantwortlichem Handeln erfordert einen
komplizierten Balanceakt zwischen „Rollenkonformität“ (soziale Identität) und
„Rollendistanz“ (personale Identität) (vgl. Neuberger 1994: 83ff., Küpper/Felsch
2000: 33ff., Krappmann 1969; vgl. auch Giddens zu „sozialer Identität“ 1997: 38 u.
336). Gelingt dieser Balanceakt nicht, kommt es zur totalen „Unterwerfung“ (Ver-
drängung der eigenen Bedürfnisse und Erwartungen) oder zur „sozialen Isolierung“
(ausschließliche Orientierung an den eigenen Bedürfnissen unter Missachtung
der Bedürfnisse der anderen Akteure) und demzufolge zu Identitätskrisen. Die
Voraussetzungen für eine identitätsbehauptende Interaktion sind: „Rollenflexi-
bilität“ – die Fähigkeit, aus einer Rollendistanz flexibel auf Ansprüche anderer

23 Vgl. dazu George H. Meads Me, I, Self in „Mind, Self and Society“ (1968).
24 Analog zum Begriff der „Selbsterfahrung“ bei Elias (1987/2003: 177).
25 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Elias zur Ich- und Wir-Identität (Elias 1987/2003:
245ff.). Für Elias fallen die gegenwärtigen Identitätsdiskurse mehr in die Kategorie des
homo clausus, da es für ihn keine Ich-Identität ohne Wir-Identität gibt. Die Beschreibung
des Balanceakts im Modell von Krappmann beinhaltet jedoch auch die von Dynamik
gekennzeichneten Beziehungen zwischen Menschen und steht nicht im Kontrast zu
Elias Begriff der Ich-Identität. Er bezieht sich jedoch nicht auf diese Autoren (vgl.
Willems 2012: 142, Fußnote 78).
3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen 57

reagieren zu können, „Ambiguitätstoleranz“ – die Fähigkeit, Unvereinbarkeiten


zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen zu ertragen und ein Nachgeben nicht
als gefährliche Bedrohung der eigenen Persönlichkeit aufzufassen und „Empathie“
– die Fähigkeit, sich in die Handlungssituation des Gegenübers einfühlen können
(vgl. Küpper/Felsch 2000: 34).
Menschen sind auf der Suche nach Bindungen und Verankerung in anderen,
um grundlegende Bedürfnisse nach Anerkennung, Status und Liebe zu befriedi-
gen. Soziale Beziehungen sind dynamische Beziehungen, mit denen sich auch die
jeweiligen Spielräume und die Relevanz der Machtressourcen wandeln können.
Der Wert eines Menschen innerhalb einer Beziehung kann sich im Laufe der Zeit
wandeln. Anerkennungsverhältnisse sind daher spannungsreich und dynamisch
(Honneth 1994: 30ff.). Hinzu kommt, dass sich mit der wandelnden Arbeitskultur,
veränderten Verhaltensnormen und Wertzuschreibungen bezüglich guter Arbeit
auch die anerkennungswürdigen Tätigkeiten und Leistungen der Menschen
wandeln können (Voswinkel 2002: 66). Voswinkel stellt fest, dass sich aufgrund
der Veränderungen der Arbeitswelt nicht nur das „Was“ (Welche Arbeit und
welche Leistung erhält eine Anerkennung?), sondern auch das „Wie“ (Auf welche
Weise vollzieht sich die Anerkennung?) ändert. Er spricht davon, dass die Art
der Anerkennung neu bestimmt werden muss (ebd.), und unterscheidet zwei
Modi der Anerkennung: die „Würdigung“ und die „Bewunderung“. Im Zuge der
Subjektivierung von Arbeit, in der sich die Fremdansprüche in Eigenbedürfnisse
wandeln (betriebliche Ziele sind deckungsgleich mit den eigenen Zielen) entsteht
kein sozialer Austausch von Leistung und Anerkennung mehr. Voswinkel bringt
diese Aussage wie folgt auf den Punkt:

„Wo subjektivierendes Arbeitshandeln als Selbstverwirklichung erscheint, gibt es für


Anerkennung in Form von Würdigung keinen legitimen Raum. Selbstorganisation
beinhaltet Selbstverantwortlichkeit. Subjektbezüglichkeit der Arbeit entlässt das
Unternehmen aus der Pflicht zur Dankbarkeit, zur Würdigung.“ (Voswinkel 2002: 79)

Die Beschäftigten geraten bei deckungsgleichen Zielen in ein Dilemma, da sie allein
für ihre Leistung keine Würdigung mehr einfordern können26 . Die erfolgreiche
Herstellung einer Ich-Identität und die Befriedigung der Bedürfnisse, die auf an-
dere Menschen gerichtet ist, erfordert aber weiterhin eine Form der Anerkennung.
Doch wo und wie sollen sie diese Anerkennung einholen und einfordern können?
Voswinkel verweist auf den zweiten Modus der Anerkennung: Bewunderung. Hier-

26 Tayloristische Arbeitsformen und einfache Arbeiten fristen im Rahmen neuer Leitbilder


wie der Subjektivierung von Arbeit ein Schattendasein und erfahren als Leistung kaum
noch Anerkennung (Voswinkel 2002: 76).
58 3 Untersuchungsleitende Konzepte

bei handelt es sich um Anerkennungsverhältnisse, die vor allem durch gewährte


Autonomiespielräume charakterisiert sind, sodass Kompetenz, Leistung und Erfolg
eines Individuums bewundert werden können. Anerkennung in Form von Bewun-
derung ist dabei besonders von einer erfolgreichen Nutzung neuer betrieblicher
Spielräume abhängig. Die Befriedigung, die die Beschäftigten bei der Ausführung
neuer Tätigkeiten empfinden, wird oft mit dem Spaßcharakter deutlich gemacht,
der den besonderen Kick meint, eine anspruchsvolle Herausforderung zu meis-
tern.27 Wobei der „Spaß“ abhängig ist von der erfolgreichen Aufgabenerledigung
und dem Gebrauchswert der Aufgabe im Unternehmen (Voswinkel 2002: 79f.).
Im Taylorismus wurde die Anerkennung der Beschäftigten in „Rituale der
Würdigung gegossen“ (Voswinkel 2002: 73) wie zum Beispiel Jubiläen und Betrieb-
sausflüge sowie andere Regulierungsformen und kollektive Institutionalisierungen
wie das Arbeitsrecht, Gewerkschaften und Betriebsräte. Diese Regulierungsformen
machten die Missachtung der Subjektivität der Beschäftigten im Taylorismus damit
allerdings nicht unwirksam, sondern sicherte sie (Beschäftigte als Opfergemein-
schaft). Das Pflichtethos des Taylorismus spielt in der gegenwärtigen Arbeitswelt
kaum noch eine Rolle und entwickelt sich in eine Selbstverwirklichungsethik. Da
es in der Industrie aber immer noch in erheblichem Umfang einfache Tätigkeiten
für un- und angelernte Arbeiter (Trägerschichten der Pflichtethik, Behrens 1984:
118f.) gibt, geraten diese Beschäftigten in ein Dilemma, denn die Darstellung ihrer
Tätigkeit als Pflichterfüllung erfährt in modernen Organisationen kaum noch
Anerkennung (Voswinkel 2002: 76f.) und eine Darstellung ihrer Tätigkeiten als
Selbstverwirklichung wäre grotesk (Behrens 1984: 118).

3.3 Doppelte Subjektivierung


3.3 Doppelte Subjektivierung
Die doppelte Subjektivierung (vgl. Kleemann et al. 2003: 62), also einerseits die
Angewiesenheit der Betriebe auf die Subjektivität der Beschäftigten aufgrund
flexibilisierter Strukturen und andererseits die von den Beschäftigten selbst for-
mulierten Sinn- und Selbstverwirklichungsansprüche an die Arbeit 28 , beschreibt
zwei Prozesse, die nicht isoliert voneinander verlaufen, sondern miteinander ver-
zahnt sind (Voß 2007: 330). Es handelt sich dabei nicht um einen harmonischen
„push and pull“-Prozess (vgl. Egbringhoff et al. 2003: 11) ohne Ambivalenzen und

27 Vgl. die Ausführungen zum Spaß-Faktor der Moderatorentätigkeit in den empirischen


Ergebnissen in Abschnitt 6.2.3.
28 Baethge nennt diesen Prozess die „normative Subjektivierung“ (Baethge 1991).
3.3 Doppelte Subjektivierung 59

Widersprüche. Er erzeugt nach Schönberger und Springer (2003: 104) vermutlich


eher eine Konfliktlinie zwischen technisch-organisatorischen Anforderungsstruk-
turen und subjektiven Sinnansprüchen. Motivation und Zielsetzung der doppelten
Subjektivierung sind überwiegend als gegenläufig anzusehen und nicht – wie die
Managementliteratur es vermittelt – deckungsgleich. Karin Lohr spricht in diesem
Zusammenhang von der dialektischen „Wechselwirkung zwischen Subjektivierung
als Zwang und Subjektivierung im Interesse der Subjekte“ (Lohr 2003: 525f.).
Subjektivität ist eine betriebliche Anforderung und ein Angebot an die Beschäf-
tigten. Mit diesem Doppelaspekt sind auch eng miteinander verwobene Chancen
und Risiken verbunden (vgl. Lohr/Nickel 2005): Anforderungen (Risiken) können
die kaum zu bewältigenden Flexibilitätsansprüche, Leistungsdruck, (psychischer)
Stress und die Entfremdung eigener Bedürfnisse sein. Optionen (Chancen) hingegen
können Selbstverwirklichung aufgrund erweiterter Handlungs- und Entschei-
dungsspielräume und ebenso neue Herausforderungen an die eigene Subjektivität
sein. Böhle beschreibt das Konzept des subjektivierenden und objektivierenden
Arbeitshandelns und ermöglicht damit einen genaueren Blick auf das Wechsel-
spiel subjektiver Leistungen im Arbeitshandeln mit technisch-organisatorischen
Rahmenbedingungen (vgl. Böhle/Rose 1992):
„Objektivierendes Arbeitshandeln“ meint die zielgerichtete, effiziente (koope-
rierende) Aufgabenerledigung, die auf fachlichen und überfachlichen Qualifikati-
onen basiert. Kennzeichen sind messbare Informationen, theoretische Kenntnisse,
logisch-formales Denken und planmäßiges Vorgehen (Trennung von Planung und
Ausführung) (vgl. Böhle/Rose 1992). Diese Tätigkeiten sind relativ gut formalisierbar,
quantifizierbar und ökonomisierbar (vgl. Pfeiffer 2007: 27, Ernst 2010: 83). Sie sind
aber auch abstrakt und erzeugen ungeplante und unberechenbare Folgen, die vom
Subjekt ad hoc bewältigt werden müssen. Dieses „menschliche Arbeitsvermögen“
(Pfeiffer 2007: 27) (Subjektivität), unberechenbare Ereignisse zu bewältigen, wird
mit dem Konzept „subjektivierendes Arbeitshandeln“ beschrieben und meint, die
Arbeit mit allen Sinnen zu erfassen und auf diese Weise zu bewältigen. Es geht um
die nicht berechenbaren, nicht quantifizierbaren subjektiven und persönlichen
Potenziale des Individuums wie zum Beispiel Motivation, Identifikation oder
Interessen, die sich der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen (vgl. Pfeiffer
2007: 30, Ernst 2010: 83). Kennzeichen sind: komplexe sinnliche Wahrnehmungen,
praktische Kenntnisse (körperliche Wahrnehmung), intuitiv assoziatives Denken,
dialogisch-interaktives Vorgehen (sich herantasten) sowie persönliche Beziehung
(Empathie) (vgl. Böhle/Rose 1992, Pfeiffer 2007: 23 ff.). Beide Arbeitsweisen ver-
halten sich komplementär, da sie unterschiedliche Anforderungen bewältigen (vgl.
Büssing et al. 1999, Pfeiffer 2007: 27).
60 3 Untersuchungsleitende Konzepte

Das Konzept der Subjektivierung von Arbeit bezeichnet den gesellschaftlichen


Übergang von Fremd- zu Selbstkontrollen 29, die in der arbeits- und industrie-
soziologischen Forschung u. a. mit den Begriffen Selbstverantwortung, Selbst-
rationalisierung und Selbstökonomisierung (vgl. exemplarisch Voß/Pongratz
199830) bezeichnet werden. In der Verflechtungssphäre Organisation ist die neue
Subjektivität oder anders ausgedrückt der aktuelle Grad der Zivilisation die Vo-
raussetzung für die Nutzung der betrieblichen Leitidee der „Vermarktlichung“.
Auch Lohr und Nickel vermuten, dass es sich bei den beobachtbaren Wandlungs-
tendenzen um einen „neuen Vergesellschaftungsmodus“ (Lohr/Nickel 2005: 209)
handelt, der mit den traditionellen betrieblicher Strukturen zusammentrifft und
„selbst die Demokratisierung der Wirtschaft und aller sonstigen gesellschaftlichen
Verhältnisse vorantreibt“ (ebd.). In Bezug auf Dörre (2005), der die Entgrenzung
und Subjektivierung von Arbeit in vielfältiger Weise feststellt, diagnostizieren
Lohr und Nickel die Wandlungen in der Verfasstheit von Arbeit (und Leben) in
vielfältigen „Spielart[en]“ (Lohr/Nickel 2005: 210) bei Angestellten wie auch bei
prekär Beschäftigten. Die neue Leitidee der Marktsteuerung ist keine geplante,
sondern ein Resultat des geplanten und ungeplanten menschlichen Handelns.
Marktsteuerung und Dezentralisierung, so die Annahme, könnten die Defizite
einer tayloristischen Arbeitsorganisation und die damit einhergehende Inflexi-
bilität auflösen. Es handelt sich nicht um eine geplante, rationale Entscheidung,
sondern um ein Schritt-für-Schritt-Verfahren nach dem Trial-and-error-Prinzip
(Minssen 2012: 54f.). Elias würde von der Phase des Experimentierens sprechen
(Elias 1986/2006: 192). Vielfältige interdependente geplante und ungeplante Hand-
lungen haben das neue Prinzip der Reorganisation hervorgebracht. Im Verlauf
dieses Übergangs wird die Subjektivität der Arbeiter gelockert, die in einer von
starren Vorgaben und Entfremdung gekennzeichnete Betriebslogik gefangen war.
Die Machtasymmetrie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beginnt sich
zu verändern. Die ehemals machtschwächere Figuration der Beschäftigten nähert
sich der Figuration der Arbeitgeber an. Mit der Lockerung der Verhaltensstan-
dards und Flexibilisierung der Produktion wird individuelles Verhalten, das auf

29 Willems spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Elias von „Subjektivierung


einerseits im Sinne von individueller Selbstermächtigung durch die Steigerung von
Selbstkontrollen und andererseits im Sinne von ‚Psychisierung‘ des Individuums als
‚homo clausus‘, der einsamer und zugleich ‚gefühlvoller‘, reflektierter und selbstbe-
wusster wird“ (Willems 2012: 134, Fußnote 62; vgl. auch Gehlen 1957: 57ff.).
30 Hans J. Pongratz und G. Günter Voß entwickelten das idealtypische Konzept des
„Arbeitskraftunternehmers“, das einen neuen gesellschaftlichen Leittypus von Arbeitskraft
beschreibt und mithilfe der Merkmale „Selbstkontrolle“, „Selbstökonomisierung“ und
„Selbstrationalisierung“ charakterisiert wird.
3.3 Doppelte Subjektivierung 61

Selbstregulation basiert, zum Zwang. Die Potenziale der Individualität können


nach Baethge völlig neue Spielräume enthalten (vgl. Baethge 1999: 29).
Im Gegensatz zum sogenannten alten „Kommandosystem“ (Peters/Sauer 2005:
32ff.), in dem sich die Fremdzwänge (Fabrikordnungen, bürokratische Kontrolle
und Anweisungen durch direkte Vorgesetzte) im Laufe der Zeit in Selbstzwänge
wandeln und Teil der Selbstzwangapparatur werden, erscheint es nun so, als sei
der marktinduzierte gegenwärtige Selbstzwang in Form von Selbstorganisation
und Selbstverantwortung nie ein Fremdzwang gewesen oder anders gesagt: der
gegenwärtige Selbstzwang scheint aus sich selbst heraus entstanden zu sein. Der
eigene Wille ist in dem Maße instrumentalisiert, dass er sich in keiner Form
von dem Willen des Unternehmers unterscheidet; beide beziehen sich auf den
Sachzwang des Marktes („Imperative des Marktes“, Voswinkel 2005), der sich
als gegeben und unerbittlich darstellt („indirekte Steuerung“, Peters/Sauer 2005).
Menschen beziehen sich auf geltende Verhaltensnormen, die sich in der neuen
Logik an Wertschöpfung und Eliminierung von Verschwendung orientieren
und überprüfen dahingehend ihre Handlungen. Sie müssen die Konsequenzen
ihres Handelns selbst tragen, sodass die Nichterfüllung der Anforderungen eine
persönliche Niederlage wird und intrinsische Motivation des eigenen Erfolgs
die Belohnung durch den Vorgesetzten ersetzt (vgl. Peters/Sauer 2005: 39). Hier
liegen Chancen und Anforderung ganz dicht zusammen: Die Nutzung erweiterter
Handlungsspielräume geht einher mit dem Rechtfertigungsdruck, mit dem eigenen
Handeln einen Beitrag zur Wertschöpfung geleistet zu haben. Subjektives Handeln
ist zwar selbstgesteuert, muss aber zweckrationalen Kriterien folgen. Es ist festzu-
stellen, dass Subjektivierung von Arbeit keine bedingungslose Anerkennung der
Arbeitskräfte als Subjekt ist. Die erweiterte Nutzung des elastischen menschlichen
Potenzials zielt auf die „‚Objektivierung‘ des arbeitsorganisatorisch freigesetzten
Arbeitshandelns“ (Böhle 2003: 128). Trotz neuer Freiräume für die Beschäftigten
müssen sie den Arbeitsprozess im Sinne des Betriebsziels aufrechterhalten und
die eigene Arbeit stärker selbst strukturieren und „verwerten“31.
Die Instrumentalisierung des Selbst und des eigenen Willens führt zur Ent-
fremdung mit sich selbst und so wird „die Rücknahme der Fremdbestimmung
in der Arbeit […] quasi zur Voraussetzung einer größeren Fremdbestimmung
über den Sinn der Arbeit“ (Moldaschl/Sauer 2000: 220; Hervorhebung nicht im
Original, M.F.).
Subjektivierung von Arbeit erfolgt reglementiert; jede Freisetzung von Sub-
jektivität im Arbeitsprozess ist daher Regeln unterworfen, die eine Kontingenz

31 Vgl. auch „Instrumentalisierung der Subjektivität“ (Moldaschl/Voß 2003: 17) und


„Objektivierung selbstgesteuerten Arbeitshandelns“ (Böhle 2003: 128).
62 3 Untersuchungsleitende Konzepte

der Verhältnisse verhindern sollen. Im Einklang der betrieblichen Ziele kann


diese Kontingenz in Form gewährter Spielräume gemindert werden, da das
Arbeitshandeln der Beschäftigten zweckrationalen Kriterien folgt und sich auf
diese Weise im Sinne des Unternehmens vollzieht. Arbeitgeber versuchen mit
Sozialtechniken und Ideologien die Beschäftigten dazu zu bringen, dem Produk-
tionsprozess ihre gesamte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Dabei handelt
es sich um ein wesentliches Kriterium der Fabrikentwicklung, das bis heute alle
weiteren Aktivitäten dominiert. Dieses Kriterium wird im folgenden Abschnitt
als „Transformationsproblem“ beschrieben.

3.4 Das Transformationsproblem und seine


Überwindungsversuche
3.4 Das Transformationsproblem und seine Überwindungsversuche
Seit Beginn der Industrialisierung befassen sich Wissenschaftler mit der Frage,
wie Arbeitskraft in faktische Arbeitsleistung transformiert werden kann. Lösungs-
versuche zur Klärung dieser Frage sind bis zum heutigen Tage handlungsleitend
in Bezug auf die Verwertung von Arbeitskräften. Im Folgenden werden drei
idealtypische und historisch aufeinanderfolgende Lösungsversuche der betrieb-
lichen Kontrolle von Arbeit und Arbeitsleistung skizziert. Zunächst können in
Anlehnung an Berger und Offe (1982) zwei wesentliche Merkmale lebendiger
Arbeit hervorgehoben werden:
a) Der Arbeitgeber kauft das Recht zur Nutzung des Arbeitsvermögens eines
Menschen und nicht die „Arbeit“. Die Transformation des Arbeitsvermögens
in konkrete Arbeitsleistung bleibt allerdings ein Problem. Der Arbeitsvertrag
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bleibt in dieser Hinsicht nur vage, da
zum einen nicht jede Arbeitsleistung im Detail festzulegen ist und seine Unbe-
stimmtheit die notwendige Flexibilität sichern kann. Auf diese Weise kann die
Arbeitskraft an die variablen betrieblichen Bedürfnisse angepasst werden. Die
Unbestimmtheitslücken werden durch unterschiedliche Formen betrieblicher
Kontrolle (Kommandosystem) geschlossen (vgl. Berger/Offe 1982: 351f.), dem die
Arbeitnehmer mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, also der damit erfolgten
„Anerkennung eines institutionalisierten Autoritätsverhältnisses, des unterneh-
merischen Direktionsrechts“ (Streeck 1988: 3f.) zustimmen.
b) Die Ware Arbeitskraft kann nicht von ihrem Eigentümer getrennt werden. Es
entsteht eine Subjektgebundenheit der Arbeitskraft, aus der Berger und Offe folgern:
3.4 Das Transformationsproblem und seine Überwindungsversuche 63

„Jeder Käufer von Arbeitskraft muß mit der Mitsprache des Besitzers in dem dop-
pelten Sinne rechnen, daß er einerseits nicht ausschließlich über die gekaufte Ware
verfügen kann und andererseits die Nutzung der Arbeitskraft an die Mitwirkung
von deren Eigentümer unauflöslich gebunden ist. Der Arbeitnehmer muß auch
arbeiten wollen; das Grundproblem jeder betrieblichen Organisation der Arbeit
besteht darin, den Arbeiter als Subjekt der Arbeitskraft zu dieser Mitwirkung zu
veranlassen.“ (Berger/Offe 1982: 352)

Das „Wollen“ der Beschäftigten zeigt sich in ihrer informellen Kooperationsbe-


reitschaft und Kreativität, die sie in den Ungewissheitszonen freiwillig leisten (vgl.
Deutschmann 2002: 98).
Misstrauen prägt die sozialen und politischen Interessen im Betrieb. In diesem
besonderen Vertrag und seiner Konkretisierung und in der Unterscheidung der
Figurationen (Enteignung der Arbeitnehmerfiguration von Produktionsmitteln und
-wissen sowie Entfremdung) ist bereits ein Konflikt angelegt. Die Interessen beider
Gruppen stehen sich in einer Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Figuration gegenüber:
Der Arbeitgeber möchte eine möglichst hohe Arbeitsleistung aus der Arbeitskraft
gewinnen. Der Arbeitnehmer ist demgegenüber am Erhalt seiner Arbeitskraft und
einem fairen Verhältnis von Leistung und Entgelt interessiert.

Lösungsversuch 1: Taylors Scientific Management (1919)32


Die wissenschaftliche Betriebsführung und ihre Anwendung im fordistisch
organisierten Betrieb sollte das Transformationsproblem vollständig lösen (vgl.
Braverman 1977). Das Thema Kontrolle im Produktionsprozess im Zusammenhang
mit der Überwindung des Transformationsproblems geht auf Braverman (1977) als
eine Marx Interpretation zurück. Ihre Rezeption erfolgte in der angelsächsischen
Labour Process Debate33:

„Sie [die Labour Process Debate, M.F.] hatte eine große Variabilität technisch-orga-
nisatorischer und sozialer Kontrollstrukturen aufgedeckt und zugleich die sozialen
Mechanismen fokussiert, durch welche Leistungsbereitschaft, Kooperation und
Konsens im Produktionsprozess hergestellt werden.“ (Marrs 2010: 333)

32 Vgl. ausführlich zum Taylorismus in Kapitel 4 „Disziplinierungsgeschichte der


Fabrikarbeit“.
33 Vgl. ausführlich zur Labour Process Debate Hildebrandt/Seltz 198, Marrs 2010, Bonazzi
2008.
64 3 Untersuchungsleitende Konzepte

„Produktionsspiele“34 wurden zum Beispiel als Indiz für die Akzeptanz der Produk-
tionsbedingungen ausgemacht (vgl. Burawoy 1979, Bonazzi 2008). Taylors Scientific
Management galt lange Zeit als der beste Weg (one-best-way) der Management-
kontrolle und erhielt seine Legitimation vor allem über seine Wissenschaftlichkeit
(vgl. Bonazzi 2008: 41f.).

Lösungsversuch 2: Lean Production in den 1990er Jahren35


Die Experimentierversuche in den 1990er Jahren mit Produktionsmethoden, die
sich am japanischen Modell einer schlanken Produktion orientierten (vgl. Wo-
mack/Jones/Roos 1991), waren ein weiterer Versuch, das Transformationsproblem
zu lösen und die Extraktion der gesamten Arbeitsleistung aus der erworbenen
Arbeitskraft zu bewirken. Die neuen Managementkonzepte, die auf Dezentra-
lisierung, Hierarchieabbau und neue Beteiligungsformen setzten, sollten damit
ungenutzte Subjektpotenziale bergen, die als unverzichtbarer Wettbewerbsvorteil
galten. Das „Objekt der Kontrollbemühungen“ (Marrs 2010: 341) verlagerte sich
von der Arbeitskraftverausgabung zur Leistungsbereitschaft.

Lösungsversuch 3: Die Leitidee der Vermarktlichung


Im fordistisch organisierten Betrieb wurde die Unbestimmtheit des Marktes als
organisationale Bestimmtheit, also in Form bürokratischer Anweisungen, an die
Beschäftigten weitergegeben. In ganzheitlichen Produktionssystemen als Ausdruck
einer postfordistischen Organisationsform des Betriebs werden die Anforderun-
gen und Risiken des Marktes direkt an die Beschäftigten weitergegeben, die diese
dann individuell bewältigen müssen (vgl. Frey 2004: 272). Statt die Kontingenz
des Marktes innerbetrieblich zu minimieren, wird sie gezielt entfaltet und als neue
Machtressource des Unternehmens nutzbar gemacht (vgl. Bröckling 2000: 133).
Die neue Logik der Arbeitskraftnutzung liegt in der Relativierung des Trans-
formationsproblems von Arbeit, indem Selbstorganisationskonzepte nun den
Arbeitenden zugewiesen werden und dem Unternehmen neue Flexibilitäts- und
Innovationspotentiale eröffnen. Dieser neue Modus sozialer Steuerung führt dazu,
dass die Beschäftigten das Transformationsproblem quasi selbst lösen. Doch die

34 Donald Roy (1953) hatte untersucht, wie Arbeit die Form eines Spiels annehmen kann
(making out). Der Akkord war nicht nur ein ökonomischer Anreiz, sondern wurde
auch zu einem Wettbewerb der Geschicklichkeit. Die Erarbeitung von Freiräumen
durch schnelles, geschicktes Arbeiten war ein Anreiz. Zudem stieg das Ansehen bei
den Kollegen und die Arbeiter konnten sich dem Diktat der „Zeitnehmer“ entziehen
und sich eigene, informelle Zeit-Spielräume erarbeiten (vgl. Bonazzi 2008: 123 ff.).
35 Vgl. ausführlich zum Konzept der Lean Production in Kapitel 4 „Disziplinierungsgeschichte
der Fabrikarbeit“.
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem 65

Subjekte sind laut Pfeiffer, Dörre und Minssen eigen genug, sich einer totalen
Vereinnahmung zu widersetzen, ansonsten käme es zur vollständigen (Auf-)
Lösung des Transformationsproblems (vgl. Pfeiffer 2007: 72; Dörre et al. 2011:
46f.; Minssen 2012: 120).

3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen


Produktionssystem
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem
Das elastische Potenzial der Betriebe aus Technik, Organisation und Mensch (vgl.
Altmann/Bechtle 1971) stieß an seine Grenzen. Die Automatisierung war ausgereizt
und so besann sich die Industrie zunächst auf die prozess- und arbeitsorganisa-
torische Dimension, um letztlich beim Faktor Mensch zu landen. Die Elastizität
des menschlichen Potentials wird gegenwärtig sogar noch erweitert (qualitative
Entgrenzung), indem die Arbeitskraft um die Subjektivität eines Menschen ergänzt
wird und so die ganze Person in den Arbeitsprozess tritt (vgl. Bechtle/Sauer 2003:
47). Seit einigen Jahren geht der Trend zu ganzheitlichen Produktionssystemen
(GPS), die verstärkt auf das Prinzip einer erweiterten Elastizität des menschli-
chen Faktors wie Selbstorganisation und Selbstverantwortung setzen. Beim GPS
handelt es sich um ein Konzept, das auf Wertschöpfung, Standardisierung und
(Selbst-)Rationalisierung ausgerichtet ist. Damit sind auch die Visualisierung und
das Controlling von (Kenn-)Zahlen eng verbunden. Durch die Vermeidung von
Verschwendung, also von überflüssigen, zeitraubenden Bewegungen, im gesam-
ten Produktionsprozess und der damit zwangsläufig verbundenen Erhöhung der
Wertschöpfung sollen die Produktionskosten gesenkt werden. Das GPS arbeitet mit
vielfältigen Methoden und stellt dafür ein umfassendes Regelwerk auf. Es vereint
bekannte organisatorische Methoden und Konzepte wie Teamarbeit, kontinuier-
licher Verbesserungsprozess sowie Zielvereinbarungsprozesse.
Lacher nennt dieses Produktionssystem eine „Betriebsanleitung zur Fertigung
von Massenprodukten“ (Lacher 2005: 30). Im untersuchten Fallbetrieb ist die
umfassende Reorganisationsmaßnahme, die die Implementierung des ganzheit-
lichen Produktionssystems miteinschließt, zwischen Vorstand und Betriebsrat
verhandelt und in vier Betriebsvereinbarungen (BV) geregelt worden: 1. eine
Rahmenvereinbarung zur Reorganisationsmaßnahme, 2. eine Betriebsvereinba-
rung zum kontinuierlichen Verbesserungsprozess, 3. zur Teamarbeit und 4. zum
Zielvereinbarungsprozess.
Ein historischer Blick auf die Entwicklung der Produktionssysteme (Jürgens
2006: 20) zeigt, dass sich die Leitlinien des GPS an denen des Toyota Produk-
66 3 Untersuchungsleitende Konzepte

tionssystems bzw. der Lean Production orientieren. Während es in den 1990er


Jahren noch selbstbewusst hieß: „Kapieren, nicht kopieren“ (Jürgens 2006: 17),
übernimmt Toyota als Branchenprimus eine Vorbildfunktion für andere Produk-
tionsbetriebe. Diese Grundprinzipien des Produktionssystems sind mittlerweile
zum obersten Leitprinzip für andere Industriebranchen geworden (vgl. Pfeiffer
2007: 55). Ganzheitliche Produktionssysteme und ihr grundlegender Baustein
einer flexiblen Standardisierung sind die aktuellen Rationalisierungsstrategien
der Automobilindustrie (vgl. Springer 2005: 19). Flexible Standardisierung (früher
„flexible Spezialisierung“, Piore/Sabel 1985: 37ff.) gilt als Lösung für die zunehmende
Produktflexibilität (Variantenvielfalt) und den gesteigerten Kostendruck aufgrund
des globalisierten Wettbewerbs (vgl. Springer/Meyer 2006: 45). Austragungsort ist
die Produktion, Ausführende sind die Beschäftigten. Flexibilität als neue Bedingung
und Herausforderung für die Produktion wird also von den Beschäftigten erbracht.
Sie bilden den Puffer, also das „entscheidende Flexibilitätspotential“ (Dörre 2002:
3). Es ist ihre Aufgabe, Standards fortwährend infrage zu stellen, um sie immer
weiter zu optimieren36 (vgl. Lacher 2006: 84).

Die Gestaltung des GPS im untersuchten Fallbetrieb


GPS bieten keine Lösung „von der Stange“ und so erfolgt die Umsetzung in den
Unternehmen spezifisch. Im vorliegenden Beispiel ist das Produktionssystem ein
Teil eines umfassend geplanten Organisationsentwicklungsprozesses. Die Präambeln
in den entsprechenden Betriebsvereinbarungen benennen konkret die vereinbarten
Unternehmensziele „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ und „Beschäftigungs-
sicherung“ und belegen damit das Eindringen der Marktlogik als Leitidee der Reor-
ganisation. Die Arbeits- und Prozessorganisation ist für die Verhandlungspartner
Vorstand und Gesamtbetriebsrat ein entscheidender Erfolgsfaktor. Infolgedessen
soll das GPS der „zentrale Hebel“ zur Erreichung der Ziele Qualitätserhöhung,
Beseitigung von Verschwendung, Verbesserung der Kundenzufriedenheit und
Produktivität sein. Besonderes Augenmerk gilt der schlanken Prozesskette, die
diesen Prinzipien folgen soll: Bindung an den sogenannten Kundentakt, Reduzie-
rung der Durchlaufzeit und Null-Fehler-Qualität. Standardisierung, Vermeidung
von Verschwendung und eine nivellierte Produktion bilden die Grundlage für eine
an Wertschöpfung und Synchronisation orientierte Produktion.
Das Konzept basiert auf einer „mitarbeiterorientierten“ Arbeitsorganisation, die
die Basis für ein erfolgreiches Produktionssystem sein soll. Nach Durchsicht der

36 Das Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung geht zurück auf die japanische Lebens-
und Arbeitsphilosophie Kaizen und bedeutet: „Verändere das Gute zum Besseren“.
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem 67

Unterlagen37 wird deutlich, dass das Unternehmen davon ausgeht, den kompeten-
ten, qualifizierten, kreativen und hochmotivierten Mitarbeiter quasi automatisch
zu bekommen, sofern das Produktionssystem erst einmal von allen Beschäftigten
verstanden wurde. Als Voraussetzung hat das Unternehmen ein „verständliches“,
„verbindliches“ und „integrierendes“ System geschaffen, das auf direktem Wege zu
Selbstverantwortung, Engagement, Kompetenz und Zufriedenheit der Beschäftig-
ten führen soll. Das Mittel zu mehr Effizienz und damit Wirtschaftlichkeit beruht
auf dem Engagement der Beschäftigten. Ihre Mitarbeit und die Preisgabe ihres
Wissens zur Verbesserung der Effizienz soll den wirtschaftlichen Beitrag für die
Zukunft des Unternehmens und ihrer Standorte (Vermarktlichung) leisten. Die
als Herausforderung an das Unternehmen verwendeten Begriffe „Wachstum“,
„Renditeziel“ und „Kundenzufriedenheit“ verweisen auf die wichtigsten Stakehol-
der des Unternehmens, auf die alle Bemühungen gerichtet sind: die Aktieneigner
(Shareholder) und die Kunden. Das Reorganisationskonzept versucht Einfluss
auf den Willen der Beschäftigten zu nehmen, indem es sie dazu auffordert, ihre
Entscheidungen am „Unternehmenserfolg auszurichten“ und im „Sinne der Un-
ternehmensphilosophie“ zu handeln.
Im Einklang mit den erklärten Zielen spielen subjektive Anforderungen an
die eigene Arbeit, wie z. B. Selbstverwirklichung und Identifikation, eine unter-
geordnete Rolle. Die Ziele der Beschäftigten wie Verbesserungen hinsichtlich
Arbeitssicherheit und Ergonomie sowie verbesserter Gesundheitsschutz erscheinen
in der Betriebsvereinbarung lediglich als Mittel zum Zweck der Kostensenkung
und sind keine eigenen Zielwerte. Bereits Nick Kratzer hat in seiner Untersuchung
festgestellt, wenn der Markt als Verursacher negativer Folgen entgrenzter Arbeit von
allen betrieblichen Akteuren identifiziert wird, sind klassische innerbetriebliche
Interessengegensätze zweitrangig (vgl. Kratzer 2003: 258).
Produktivitätsfortschritte sind vor allem als Reduzierung des Personals zu
verstehen. Ergänzend muss festgehalten werden, dass geltende Tarifverträge die
Beschäftigten vor betriebsbedingten Kündigungen schützen. Die Folge von Team-
reduzierungen ist eine Leistungsintensivierung für die übrigen Teammitglieder
und „lediglich“ eine Versetzung in andere Bereiche. Hier lässt sich schon erahnen,
dass die Mitarbeit an Effizienzkriterien, die sich am Personaleinsatz bemessen,
Leistungszurückhaltung hervorrufen kann. Auch wenn keine Kündigungen folgen,
so ist die drohende Versetzung in andere Bereiche ein Einschnitt in die Teamfi-
guration und berührt bestehende soziale Beziehungen. Die Beschäftigten sehen
sich untereinander nicht als Arbeitskraft an, sondern als Menschen in sozialen
Beziehungen. Es bleibt für die Teammitglieder unsicher, wen es von ihnen trifft

37 Betriebsvereinbarungen sowie ein internes Informationsheft zum Produktionssystem.


68 3 Untersuchungsleitende Konzepte

und ob das Bedürfnis nach Selbstbestimmung möglicherweise verletzt werden


könnte (vgl. Senghaas-Knobloch 2000: 112).
Der KVP soll die Prozesse im Produktionsbereich optimieren, um die Ge-
samtkosten erheblich zu senken, und erweist sich als Zugpferd des gesamten
Organisationsentwicklungsprozesses im Fallbetrieb. Der KVP basiert in zwei-
facher Hinsicht auf Teamarbeit: einerseits sollen die KVP-Methoden Thema der
Teamgespräche sein und eine Anwendung in der alltäglichen Arbeitspraxis finden,
andererseits wird der Teamsprecher in Vertretungsfunktion ein Teilnehmer im
sogenannten KVP-Workshop. Diese, von innerbetrieblichen Moderatoren geleite-
ten Workshops finden unter Beteiligung der Beschäftigten und weiterer Experten
und in mehreren Durchgängen statt, die sich durch unterschiedliche inhaltliche
Schwerpunkte auszeichnen (Standardisierung, Stabilisierung der Prozesse u. a.).
Der gesamte Betrieb wird über mehrere Jahre mithilfe der KVP-Workshops, die
auf der Kaizen-Methode beruhen, auf mögliche Verbesserungspotenziale hin
untersucht. Alle Workshopteilnehmer sollen gleichberechtigt zusammenarbei-
ten als Teamvertreter (Teamsprecher, Vertrauensmann, Produktionsmitarbeiter
ohne Amt), Schichtleiter, Mitarbeiter der Abteilungen Planung und Industrial
Engineering, Meister, Moderatoren und Betriebsratsvertreter. Bei Entscheidun-
gen soll das Konsensprinzip gelten. Der Moderator ist verantwortlich für den
ergebnisorientierten Standardablauf und soll auf das Ergebnis und die damit
verbundene Konsensbildung im Team hinwirken.
Der Workshop ist ein Beispiel für eine betriebliche Entgrenzung (Berührung
planender und ausführender Funktionen). Die üblicherweise hierarchisch und
funktionell voneinander getrennten Beschäftigten arbeiten in einem bestimmten
Zeitrahmen nach vorgegebenen Methoden zusammen (operationale Dezentra-
lisierung). Beteiligungsorientierung kann für die Beschäftigten die Erweiterung
von Spielräumen bedeuten, die sie selbst gestalten müssen und ihnen vielfältige
subjektive Fähigkeiten abverlangt, die sich von den alltäglichen Anforderungen
in der Produktion unterscheiden (Subjektivierung). Selbstorganisation ist bei
erweiterten Partizipationsmöglichkeiten innerhalb beteiligungsorientierter Re-
organisationsprozesse wie dem KVP eine entscheidende Subjektqualität.
In der entgrenzten Situation eines KVP-Workshops soll die horizontale und
vertikale Arbeitsteilung in eine formalisierte Kooperation münden. Das Produkti-
onswissen soll nicht einmal abgeschöpft und enteignet werden wie beim Scientific
Management im Taylorismus (vgl. Marrs 2010: 336), sondern kontinuierlich, um
in flexiblen Standards dokumentiert zu werden. Informalität soll mithilfe der Kai-
zen-Methode offengelegt werden. Der erste Versuch im Workshop, das Informelle
zu organisieren (vgl. Bolte/Porschen 2006), ist die Darstellung des Ist-Standes der
Arbeitsweisen in den Teams, sodass sich im selben Moment die Preisgabe und
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem 69

Verwertung des informellen Wissens und individueller Erfahrung38 vollziehen


kann. Die geforderte Transparenz im Workshop und die damit einhergehende
Zerstörung der informellen Leistungen der Produktionsmitarbeiter entzieht der
faktischen informellen Kooperation im Sinne eines Funktionierens der Abläufe
die Grundlage und bildet ein „Paradoxon“ (Bolte/Porschen 2006: 12).
Die Partizipation der Produktionsmitarbeiter erfolgt durch die aktive Teil-
nahme ihrer Vertreter, dem Teamsprecher und/oder dem gewerkschaftlichen
Vertrauensmann39, und einer „informatorischen“ Teilnahme als Information
des Teams nach Beendigung des Workshops bezüglich Inhalt und Fortschritt.
Die Belegschaft wird folglich in zwei Lager geteilt: Ein kleiner Teil der Beleg-
schaft (ca. 4% der Produktionsmitarbeiter40) wird zur „privilegierten Rationa-
lisierungselite“ (Gerst 1999: 45) und der Mehrzahl der Beschäftigten wird die
Chance auf eine aktive Beteiligung und Erweiterung ihrer Handlungsspielräu-
me (über KVP-Workshops) verwehrt (vgl. ebd.). Diese im Grunde notwendige
Differenzierung (kleine Gruppe aktiver Teilhaber vs. Masse der Beschäftigten
als „informatorisch“ Teilhabende) wird im KVP-Konzept im Fallbetrieb nicht
expliziert, findet aber ihre Berücksichtigung in der vorliegenden Untersuchung,
unter anderem im „theoretical sampling“.
Der qualitative Unterschied zur gängigen Rationalisierungslogik liegt in der
Tendenz zur selbstgesteuerten Rationalisierung. Die Beschäftigten internalisieren
die neue Marktlogik des Prozesses und argumentieren mit bekannten Manage-
mentthemen wie Konkurrenzdruck und Druck durch internationale Märkte.
Sie agieren im Spannungsfeld zwischen Akzeptanz der Marktmechanismen und
Abwehrhaltung bezüglich einer totalen Rationalisierung des Arbeitsumfeldes
(„Totale Mobilmachung“, vgl. Bröckling 2000). Auch wenn sie als „Mitspieler“
der Rationalisierungsmaßnahme einen Pakt mit dem Unternehmen eingehen, ist
ihnen das unausgewogene Machtgleichgewicht zu ihren Ungunsten und damit
verbundenen restringierten Entscheidungsspielräumen bewusst (vgl. Schumann
1999: 63). Springer nennt dieses Konzept „demokratischer Taylorismus“ (Springer
1999), der für ihn eine Kombination aus „Stimulierung von Beteiligungsbereit-
schaft“ und „höchster Disziplinierung durch hochgradig standardisierte und
repetitive Tätigkeiten“ ist (vgl. Pfeiffer 2007: 61). Für ihn war es damals noch eine
„ungewohnte Kombination“ (Springer 1999: 184) und er forderte die Zurücknahme
der Fremdbestimmung bei der Setzung und Optimierung von Standards, um das

38 Vgl. zum „Wesen von Erfahrung“ Pfeiffer 2007: 33f.


39 Manchmal nehmen auch Produktionsmitarbeiter „ohne Funktion“ teil. Gründe für
die Einbeziehung dieser Gruppe werden in den empirischen Ergebnissen dargelegt.
40 Schätzung nach Aussage des KVP-Büros des Fallbetriebs.
70 3 Untersuchungsleitende Konzepte

„Produktivitätswissen der Beschäftigten für die Produktivitätssteigerungen [zu]


aktivieren“ (Springer 1999: 196f.). Der neue Taylorismus („Taylorismus 2.0“41 nach
Pfeiffer 2007) schafft es nicht, sich komplett durchzusetzen, denn die „lebendige
Instanz des Arbeitsvermögens“ (Pfeiffer 2007: 72) entzieht sich ihr weiterhin. Der
Blick auf den neuen Taylorismus ist von Bedeutung, da ganzheitliche Arbeitsauf-
gaben in den neuen Produktionssystemen eher nicht vorgesehen sind. Das belegen
die neuen Taktzeiten von einer bis anderthalb Minuten.

3.6 Zwischenfazit
3.6 Zwischenfazit
In diesem Kapitel stand die forschungspraktische Einführung in die Diskurse
über die Subjektivierung und Entgrenzung (Vermarktlichung) von Arbeit im
Vordergrund.
Die in der Arbeits- und Industriesoziologie diskutierten Konzepte „Subjek-
tivierung und Entgrenzung von Arbeit“ erfüllen für die vorliegende Studie eine
heuristische Funktion und fungieren als „sensitizing concepts“ (Blumer 1954)
bzw. als „offene Interpretationsleitpfade“ (Kruse 2004: 118), um dem Prinzip der
Offenheit Rechnung zu tragen (vgl. Kelle/Kluge 1999: 25ff.). Sauer (2005) sieht
den Prozess der Entgrenzung von Arbeit vor allem als ein analytisches Konzept,
mit dem sich die Merkmale der gegenwärtigen Entwicklung bestimmen und sei-
ne historische Reichweite analysieren lassen. Der Entgrenzungsprozess hat eine
„Indikatorqualität“ (Sauer 2005: 114) für den Umbruch der fordistisch-tayloristi-
schen Produktionsweise und ist daher auf „Veränderungen“ spezialisiert. Mit dem
Entgrenzungskonzept wird ein gemeinsamer analytischer Rahmen zwischen den
Forschungen zu Reorganisation und Rationalisierung, Arbeitszeit, Beschäftigung
und Arbeitsmarkt sowie zu Erwerbsorientierung und Lebensführung etabliert, um
die Arbeitsteilung dieser Disziplinen partiell zu überwinden (vgl. Kratzer/Sauer
2003: 578). Die Autoren betonen dabei die „Offenheit“ (ebd.) des Konzeptes und
die daraus resultierende Möglichkeit, es als „empirisches Suchkonzept“ (ebd.)

41 Taylorismus 2.0 bedeutet nach Sabine Pfeiffer: „Die Prinzipien des Taylorismus erscheinen
hier nicht nur in einem neuen Gewand, sondern in einer neuen Rolle auf der Bühne.
Sie treten in neuer Qualität auf, um den Bedürfnissen eines schnellen, globalen und
flexiblen Marktes begegnen zu können. Da dabei die Logik des Taylorismus sozusagen
in die Verantwortung der Beschäftigten zurückverlagert wird, spreche ich […] von
einem Taylorismus 2.0, also einer qualitativ neuen Version des Taylorismus.“ (Pfeiffer
2007: 48f.); eine weitere Bezeichnung für den neuen Taylorismus lautet: „subjektivierter
Taylorismus“ (Matuschek et al. 2008).
3.6 Zwischenfazit 71

anzuwenden. Anwendung fand der beschriebene Charakter des Entgrenzungs-


konzepts in der Entwicklung des Leitfadens und im Rahmen der Analyse als
Analyseheuristik (vgl. Abschnitt 5.2.5).
Die Disziplinierungsgeschichte
der Fabrikarbeit
4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
4

Elias hat in seiner Abhandlung „Über den Prozess der Zivilisation“ das „Wesen
geschichtlicher Prozesse“ (Elias 1939/1997, Bd. 1: 84) mit „seelischen Prozessen“
(ebd.) und mit den Begriffen Soziogenese und Psychogenese in Beziehung gesetzt.
Auch die Entwicklung der Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit kann nur
mit der Verflechtung der Entwicklung des psychischen Habitus der Menschen
und den gesellschaftlichen Hierarchien und Machtverhältnissen nachvollzogen
werden. Die Disziplinierungsgeschichte ist demnach eine gesamtgesellschaftli-
che Entwicklungsgeschichte. Die Wirtschaftssphäre ist nach Elias keine Sphäre,
die unverbunden neben anderen steht und unabhängig von staatlich-politischen
Entwicklungen analysiert werden kann (Elias 1970/2004: 155). Aus der Perspek-
tive der Prozesssoziologie handelt es sich um „völlig unabtrennbare Aspekte der
Entwicklung eines gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhangs“ (ebd.:
154). Psychogenese und Soziogenese verlaufen zeitlich nicht immer synchron, wie
Elias im folgenden Zitat bemerkt:

Jedoch „gehört [es] zu den Eigentümlichkeiten solcher zivilisatorischer Wandlun-


gen der Persönlichkeitsstruktur, Wandlungen vor allem auch im sozialen Standard
der Selbstregulierung, dass sie anderen Wandlungen der Gesellschaft, also etwa
wirtschaftlichen und technischen, gewöhnlich erst mit einem gewissen Zeitabstand
folgen“ (Elias 1986/2006: 215).

Im Folgenden wird die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit anhand we-


sentlicher Rationalisierungsphasen skizziert und mit Elias’ Zivilisationstheorie als
gesamtgesellschaftliche Entwicklungsgeschichte nachgezeichnet. Disziplinierung
ist ein Anpassungsprozess des Arbeiterverhaltens an die Erfordernisse der indus-
triellen Produktion. Von den ersten Fabrikordnungen42 über den Taylorismus bis

42 Fabrik- bzw. Arbeitsordnungen galten als formalisierte Rechtsgrundlage für


Arbeitsverhältnisse und enthielten schriftlich fixierte Arbeitsbedingungen

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
74 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

hin zu den aktuellen Formen industrieller Arbeitsorganisation zeigt sich ein langer
widerständiger Prozess betrieblicher Kontrolle, der in Verbindung mit einem
(übergeordneten) gesamtgesellschaftlichen Wandel der Fremd- und Selbstkontrol-
len steht. Wichtig für die Rekonstruktion der betrieblichen Disziplinarmethoden
(Fremdkontrollen) ist das, was nicht explizit benannt wird. Regeln der Fabrikord-
nungen zeigen ein gewünschtes Verhalten und geben Aufschluss darüber, welche
Verhaltensnormen zu diesem Zeitpunkt noch nicht als selbstverständlich galten.
Verinnerlichte Verhaltensnormen als Teil einer Selbstzwang-apparatur werden
vorausgesetzt und nicht mehr benannt. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist zum
Beispiel aufgrund steigender Produktivität ein Indiz für die erfolgreiche Anwen-
dung von Selbstkontrollen, die ein Produktionsprozess benötigt. In dieser Zeit
verschwinden detaillierte Verhaltensanforderungen, die u. a. auf den angeordneten
Verbleib am Arbeitsplatz hinweisen. Stefanie Ernst (2006) macht in Anlehnung
an Doerling (2006) und Ketterer (2000) auf weitere Veränderungen in den Ar-
beitsordnungen aufmerksam, die ein Indiz für wachsende Affektkontrollen und
Selbstzurücknahme sind: Während im Jahr 1594 noch darauf hingewiesen wurde,
dass die Tötung eines Kollegen unter Strafe steht, wurde 1920 körperliche Gewalt
nicht mehr erwähnt. Aggression war in den Betrieben nicht mehr das zu lösende
Problem. Stattdessen wurden nun Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Reinlichkeit
und Gesundheitsschutz als Arbeitsanforderungen vermerkt (Ernst 2006: 7).

4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der


Industrialisierung
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung
Die Industrialisierung43 (ca. 1800-1875), also der wirtschaftlich-technische Umbruch,
der sich in Deutschland vollzog, hatte unvorhersehbare Folgen im Hinblick auf
weite Bereiche des menschlichen Zusammenlebens: Veränderungen der sozialen
Beziehungen und Gruppenbildungen (Figurationen), der Verhaltensmuster, Wer-
tordnungen, Leitbilder, der Bildungsleitlinien, Erwartungsansprüche, Bedürfnis-

und Verhaltensansprüche in Form von Ge- und Verboten sowie Sanktionen bei
Nichteinhaltung. Später wurden sie durch individuelle Arbeitsverträge ersetzt (vgl.
Flohr 1981).
43 Vgl. ausführlich zu (sozial-)geschichtlichen und soziologischen Analysen der interde-
pendenten Faktoren Industrialisierung, Zeit, (Arbeits-)Disziplin, Arbeit, Zentralisation
der Produktion und Lohnarbeit: Braverman 1977, Thompson 1980, Flohr 1981, Sauer
1984, Kocka 1990, Ruppert 1993, Kruse 2002.
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 75

strukturen und der sozio-politischen Ordnungsformen. Für Elias sind technischen


Veränderungen und gesellschaftliche Prozesse untrennbar miteinander verbunden:

„Die Technisierung ist ein menschheitlicher Prozeß. Sie setzt langsam ein, weil
Menschen relativ wenig wußten von der Welt in der sie lebten und beschleunigt
sich im Verein mit dem wachsenden Wissen von der unbelebten Natur. Schon die
Erfindung des Pflugs erhöhte den Arbeitsertrag, verringerte die Mühsal und bot so
die Chance zu einem besseren Leben.“ (Elias 1986/2006: 183)

Der Industrialisierungsprozess war von interdependent verlaufenden Verände-


rungen gekennzeichnet. Sie sind zugleich Ursache und Folge innerhalb der Ge-
samtveränderungen in dieser Zeit (vgl. Elias 1970/2004: 105): die demografischen
Entwicklungen wie Bevölkerungsexplosion, Bauernbefreiung und Landflucht,
neue technologische Errungenschaften, die zum Ausbau des Fabrikwesens mit
ihren spezifischen Produktionsweisen führten, sowie veränderte gesellschaftliche
Machtverhältnisse.
Das aufstrebende Bürgertum grenzt sich durch die neue Arbeitsethik gegen den
Adel ab, indem es Arbeit (Arbeitstätigkeit) zur Tugend (Zwang) erhob (vgl. Kruse
2002: 129, 147). Muße – ein typisches Verhaltensmerkmal des Adels – passte nicht
zu der neuen Arbeitsethik. Die aufgrund der Konkurrenz zwischen diesen beiden
Schichten ausgelösten Spannungen brachte das neue Normen- und Wertegefüge
von Arbeit als Unterscheidungsmerkmal hervor. Es handelte sich mehr um ein
theoretisches Normen- und Wertegefüge als um eine praktische Ausführung. Es
galt zudem auch der Abgrenzung zu den unteren Schichten, die durch eine geringere
Trieb- und Affektregulierung charakterisiert waren. Der Drang des Bürgertums,
sich von den unteren Schichten zu unterscheiden, löste unter ihnen noch stärkere
Affektkontrollen aus. Aber mit der steigenden Bedeutung der Funktionen der
unteren Schichten als Arbeitskraft 44 in einer immer weiter ausdifferenzierten
arbeitsteiligen Gesellschaft näherten sich diese mehr und mehr dem Habitus der
mittleren Schichten an (vgl. Elias 1939/1997: 355), sodass sich die Kontraste bzw.
die Machtasymmetrien zwischen den Schichten verringerten:

„Im Zuge jener Gesamttransformation von Gesellschaften, die wir gewöhnlich


durch Teilaspekte wie ‚Industrialisierung‘ bezeichnen, verringern sich langsam die
Machtdifferentiale zwischen allen Gruppen und Schichten.“ (Elias 2004/1970: 72)

44 Un- und angelernte Arbeiter bildeten die Mehrheit der Belegschaft (Bauern, Arme und
Straffällige).
76 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

An anderer Stelle äußert sich Elias zur Verringerung der Machtasymmetrie zwischen
den gesellschaftlichen Schichten in der Industrialisierungsperiode:

„Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der abendländischen Gesellschaft, daß sich im


Laufe ihrer Entwicklung dieser Kontrast zwischen der Lage und dem Verhaltenscode
der oberen und unteren Schichten erheblich verringert. Es breiten sich im Laufe dieser
Entwicklung Unterschichtcharaktere über alle Schichten hin aus. Daß allmählich
die abendländische Gesellschaft als Ganzes eine regulierte arbeitende Gesellschaft
geworden ist, ist ein Symptom dafür; früher war die Arbeit Merkmal der unteren
Schichten. Und zugleich breiten sich Charaktere, die früher zu den Unterscheidungs-
merkmalen von Oberschichten gehörten, ebenfalls über die gesamte Gesellschaft hin
aus. Die Verwandlung der gesellschaftlichen Fremdzwänge in Selbstzwänge, in eine
automatische, zur selbstverständlichen Gewohnheit gewordene Triebregulierung
und Affektzurückhaltung […] vollzieht sich innerhalb des Abendlandes mehr und
mehr auch bei den breiten Massenschichten.“ (Elias 1997/1939: 354)

Zu Beginn waren die Verhaltensanforderungen an die Beschäftigten noch in Form


äußerlicher Zwänge als Fabrikregeln und einem entsprechenden Bußgeldkatalog
dokumentiert. Doch über die Generationen hinweg wurde aus dem Fremdzwang
ein allseitigerer Selbstzwang. Die Arbeitsethik als eine spezifische Form des
Selbstzwangs, etablierte sich in der gesamten Gesellschaft und wurde zur sozialen
Identitätsfigur der Fabrikarbeiter (Subjektivität). Der Tatsache also, dass Arbeit
nun für alle Schichten der Gesellschaft selbstverständlich und mithin die zentrale
Kategorie von Vergesellschaftung wurde, ging ein langer Prozess voraus. Die Ver-
ringerung der gesamtgesellschaftlichen Machtasymmetrie zwischen den Gruppen
und Schichten bezeichnet Elias auch als „funktionale Demokratisierung“ (Elias
1970/2004: 72). Kruse (2002) kommt zum gleichen Ergebnis wie Elias, wenn er
feststellt:

„Mit dieser Sichtweise erscheint es auffällig, dass das Ende der Minderqualifizierung
von ‚Arbeit‘ mit dem Ende der Aristokratie zusammenfällt! Oder anders gesagt: Die
Aufwertung von Arbeit beginnt mit dem Aufstreben des Bürgertums: Sie fällt in
eine gesellschaftliche Epoche, in der eine bisher herrschende Klasse von einer neuen
abgelöst wird. Und da es die Aristokratie eine gewisse Zeit verstand, das aufstrebende
Bürgertum herrschaftspolitisch sich nicht weiter entwickeln zu lassen, brauchte es
schon bestimmter ‚Kampfmittel‘ seitens des Bürgertums, um die Herrschaftsposition
der Aristokratie abzulösen.“ (Kruse 2002: 136)

Kruse hält in Auseinandersetzung mit Hank (1995) eine ideologiekritische Unter-


suchung mit dem Verständnis von Arbeit für notwendig, denn mit ihr kann die
Instrumentalisierung des Normen- und Wertegefüges von Arbeit durch die gesell-
schaftlichen Schichten aufgedeckt werden. Im Folgenden werden wichtige Prozesse
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 77

der Industrialisierung beschrieben, die den Charakter der Industriearbeit bis heute
prägen: der Wandel der Fabrikordnungen im Zusammenhang mit Veränderungen
der Arbeitsdisziplin, die Herausbildung einer Lohnarbeiteridentität, die Bildung
von Gewerkschaften und die Besonderheiten der Figuration „Fabrikarbeiterschaft“.

4.1.1 Fabrikordnungen und Arbeitsdisziplin

Zwischen den geforderten Verhaltensanforderungen, die in den Arbeitsordnungen


dokumentiert waren, und der betrieblichen Realität bestand eine große Lücke, die
besonders an den immer detaillierter werdenden und neu formulierten Arbeits-
ordnungen zu erkennen war. Besonders aufwendig war es für die Vorgesetzten, die
Arbeiter dazu zu bringen, permanent bis zum Schichtende am Arbeitsplatz präsent
zu bleiben und ihre Arbeit zu verrichten. In den Fabriken begannen die Arbeiter
meist damit, das Schichtende bereits vorzeitig einzuleiten. Das Herumlaufen,
Schlägereien und die Zerstörung der Einrichtung waren gemäß Arbeitsordnung
verboten (Kocka 1990: 483).
Der einheitliche Begriff Arbeitsordnung wurde 1891 eingeführt. Vorher gab es
verschiedene Bezeichnungen wie Fabrik-Ordnung, Reglement oder Disziplin-Regle-
ment. Disziplinierung und Arbeitszwang galten als Grundelemente der frühen
Fabrik und sollten dem Vorbild von Militär, Bürokratie sowie den Zucht- und
Arbeitshäusern folgen. Ziel war eine Organisationsform, in der die Planung und
Durchführung des Arbeitsprozesses nicht den Arbeitern überlassen war, sondern
den Fabrikherren. Zudem musste die Organisationsform entsprechende Diszipli-
nierungsmechanismen vorhalten und auch ermöglichen. Diese Anforderung sollte
durch einen für die Arbeiter eng gefassten Arbeitsvollzug ermöglicht werden, bei
dem ein Überblick über den gesamten Arbeitsprozess nicht mehr gewährleistet war
(Ehmer/Meißl 1984: 36f.). Eine strenge, formale Hierarchie war Voraussetzung und
Anspruch für die Funktionstüchtigkeit der Fabriken. Die Vorgesetzten hatten nun
als Anweisungs- und Kontrollinstanz die Aufgabe, die Qualität und Quantität der
von den Arbeitern ausgeführten Tätigkeiten zu überprüfen und damit die Einhaltung
der Betriebsziele zu gewährleisten. Dabei trafen allerdings zwei widersprüchliche
Sichtweisen zum Faktor Arbeitskraft aufeinander: Die Kapitaleigner waren der
Meinung, dass sie nach dem Erwerb der „Ware Arbeitskraft“ frei über sie verfügen
konnten. Die Arbeiter waren in der Realität nicht der reine homo oeconomicus 45,
sondern noch den tradierten ökonomischen Verhaltensweisen verhaftet, bei denen

45 Der homo oeconomicus ist in den Wirtschaftswissenschaften das idealisierte Modell,


das davon ausgeht, dass der Mensch mithilfe vollkommener Informiertheit rationale
78 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

es nicht um eine fast ausschließliche Gewinnmaximierung ging, sondern um die


suboptimale Befriedigung der Interessen (satisfying behavior, Simon 1957) (vgl.
auch Ehmer/Meißl 1984: 38; Pollard 1967: 175 „cash nexus“). Das Resultat war ein
komplexes System mit rationalen Disziplinierungsmaßnahmen, die mit einem
Schwerpunkt auf Strafen und Sanktionen in den Arbeitsordnungen schriftlich
festgehalten wurden, um das Funktionieren der Fabrik zu ermöglichen. Mit der
Einführung der Hierarchie wurde neben der Anweisungs- und Kontrollinstanz
eine zweite Funktion wirksam: die Statusdifferenzierung, die es ermöglichte, die
Bedürfnisse der Aufseher und Meister nach einer Abgrenzung zu den einfachen
Arbeitern zu befriedigen. Damit wurde eine größere Identifizierung dieser Ebene
mit den Unternehmenszielen sichergestellt (vgl. Ehmer/Meißl 1984: 38f.).
Ausgangspunkt für Flohrs (1981) Analyse der Arbeitsordnungen über die
Disziplinierung der Fabrikarbeiter während der Phase der Industrialisierung
Deutschlands war sein „Interesse an der historischen Lösung bzw. Regelung“
(Flohr 1981: 9) eines dieser Arbeitsorganisation innewohnenden Konfliktpoten-
zials: Einerseits musste gleiches und affektgebremstes Verhalten – im Gegensatz
zu spontanem – von allen Arbeitern vorausgesetzt werden, damit die industrielle
Arbeitsorganisation wirtschaftlich funktionieren konnte. Dieses Verhalten war
fortan ein Teil der neuen Arbeitsethik. Diese Disziplinforderung war andererseits
im 19. Jahrhundert der Grund für die faktische „Stigmatisierung von Fabrikarbeit“
(ebd.: 9, vgl. auch Braun et al. 1973: 79). Die Disziplin war vor allem ein Anspruch
der „Fabrikherren“, ihre Realisierung blieb allerdings unsicher, denn die Arbei-
ter konnten sich diesen Regeln in der alltäglichen Ausführung widersetzen (vgl.
Herkner 1916: 19).
Zusammenfassend lässt sich mit Flohr „festhalten, daß eine Arbeitsordnung nicht
etwa ein Disziplinierungspotential schafft, sondern vielmehr dieses schon voraus-
setzt und darauf aufbauend die Ausübung betrieblicher Herrschaft in spezifischer
Weise prägt“ (Flohr 1981: 82). Die in ihnen aufgeführten Strafen und Sanktionen
weisen auf Widerstände bei der Ausführung und ihrer Überwindung hin. Diese
Regeln zeigen die Interessen und Sanktionsinstrumente der „Fabrikherren“, spiegeln
Disziplinarprobleme wider und geben Aufschluss über das tatsächliche Verhalten
(ebd.: 15): „Vielmehr sind die Arbeitsordnungen als Informationsquelle geforder-
ter, aber nicht hinreichend praktizierter Verhaltensmuster zu werten.“ (ebd.: 14)
Arbeitsordnungen haben eine relative Bedeutung im Disziplinierungsprozess
der Fabrikarbeiter und sind ein Spiegel des Zivilisationsgrades. Weitere Aspekte
tragen zur zunehmenden Selbstdisziplinierung bei: die Technisierung der Arbeit,

Entscheidungen mit dem Ziel der Nutzenmaximierung treffen kann (vgl. Hillmann
1994: 340).
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 79

Entgelte und Sozialleistungen, die auf einen langfristigen Verbleib angelegt sind
und auf diese Weise die Fluktuation verhindern sollen. Integrations- und Koor-
dinierungsfunktionen wie zum Beispiel die Gewerkschaften haben zur Diszipli-
nierung der Fabrikarbeiter beigetragen, indem der individuelle Kampf für bessere
Arbeitsbedingungen zugunsten kollektiver Kämpfe durch ihre Repräsentanten
aufgegeben wurde (Flohr 1981: 84).

4.1.2 Die Herausbildung einer Lohnarbeiteridentität

Die Gestaltung des Lohnarbeiterstatus wurde zum einen durch die Teilung und
Aufspaltung der handwerklichen Tätigkeiten aufgrund der Maschinisierung geför-
dert und trug zur Auflösung der traditionsreichen Handwerkeridentität bei. Damit
war der Weg zu einer berufsübergreifenden Lohnarbeiteridentität eröffnet. Zum
anderen half die Maschinisierung, die Zentralisation der Produktion voranzutrei-
ben. Der Wunsch nach Verwendung von Maschinen war ein wichtiger Antrieb.
Charakteristisch für die Lohnarbeit war, dass die Arbeiter die Produktionsmittel
wie Gebäude, Anlagen, Rohstoffe und Geräte nicht selbst besaßen. Ihnen war die
Lohnabhängigkeit ihrer Stellung vom zentralisierten Betrieb daher sicherlich
bewusst (Kocka 1990: 476f.). Die Fabriken waren gleichzeitig ein äußeres Zeichen
dafür, dass die Arbeiter nicht mehr für sich selbst, sondern für den Unternehmer
arbeiteten (Sauer 1984: 56).

4.1.3 Figuration „Fabrikarbeiterschaft“

Die ersten Fabriken beschäftigten Arbeiter mit unterschiedlichen Rechten. Zum


Beispiel gab es Betriebe, in denen zunftgebundene Arbeiter auf freie Arbeiter tra-
fen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verloren diese rechtlichen Unterschiede jedoch
ihre Geltungskraft (vgl. Fischer 1967: 221). Zunächst beschäftigten die Fabriken
oft auch Menschen mit weniger Rechten aus Armen-, Zucht- und Waisenhäusern,
aber auch Frauen, Kinder und Jugendliche. Sie sorgten für ein „fast unbegrenztes
Reservoir an billiger und extensiv ausbeutbarer Arbeitskraft“ (Hirsch/Roth 1986:
48). Sie waren gezwungen, die unliebsame Fabrikarbeit anzunehmen; Fabrikar-
beit galt als soziales Stigma. Die Arbeiter transferierten ihren vorindustriellen
Rechtsstatus in die industrielle Arbeitswelt. Trotz Irrelevanz des Sinns und der
praktischen Wirksamkeit im Produktionsprozess blieb der Status formalrechtlich
gültig (Fischer 1967: 222f.).
80 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

Die Arbeitsfunktion ist für den innerbetrieblichen Status der Fabrikarbeiter


konstituierend. Sie stellt bestimmte Ansprüche an Vorbildung und Können (Aus-
bildungsfunktionen). Metall- und Holzhandwerker (Schmiede, Schlosser, Dreher,
Tischler etc.) haben günstigere Voraussetzungen bei der Ausbildung und Spezi-
alisierung auf Fabriktätigkeiten im Gegensatz zu Arbeitern ohne entsprechende
Ausbildung. Die Prestigeskala von hierarchisch gleichgestellten Arbeitsfunktionen
in den Betrieben war sehr differenziert. Obwohl sie gemeinsam in eine betriebshi-
erarchische Pyramide eingegliedert waren, unterschied sich die große Gruppe der
Arbeiter doch erheblich voneinander. Sie unterschieden sich nicht hierarchisch,
da ihre Arbeiten neben- bzw. nacheinander angeordnet waren, sondern waren vor
allem durch zwei Faktoren bestimmt: der Seltenheitsgrad der Aufgaben und die
notwendige Vorbildung. Je eindimensionaler die Produktion war, desto größer war
der Über- und Unterordnungscharakter der Arbeitsfunktionen. Die Maschinisten
zum Beispiel genossen das größte Ansehen und standen an der Spitze der Lohnskala.
Zudem hatten sie Weisungsbefugnisse gegenüber Arbeitern an den Maschinen.
Doch sogar zwischen ihnen gab es wieder Unterschiede in der Eingliederung. Die
Rang- und Wertordnungen wurden auch außerhalb der Fabrik angewandt und
bestimmten das soziale Verhalten (ebd.: 228). Nach Fischer gab es zweifelsfrei ei-
nen Zusammenhang zwischen innerbetrieblichem und gesamtgesellschaftlichem
Status. Die Arbeiter übertrugen die „innerbetriebliche Funktionsgliederung und
-hierarchie“ auf ihr „soziales Ordnungs- und Wertbild“ und ordneten sich auch au-
ßerhalb des Arbeitszusammenhangs nach diesem Status ein (vgl. Fischer 1967: 250).
Die Arbeiter sahen sich während des 19. Jahrhunderts trotz zunehmender
sozialer Differenzierung und Spezialisierung in den Fabriken als eine einheitliche
soziale Klasse (Arbeiterklasse bzw. Proletariat) (ebd.: 250f.). Das bedeutet, Integ-
ration und Konflikt sind zwei Dimensionen des gleichen Prozesses. Die Arbeiter
der (frühen) Industrialisierung hatten zu einer Klasse vereinende Momente und
gleichzeitig strukturierende soziale Merkmale. Dieser Prozess stand also nicht in
einem Widerspruch. Die soziale Wirklichkeit entfernte sich jedoch mehr und mehr
von den rechtlichen Statusbestimmungen. Indem die funktionale Differenzierung
und die Angewiesenheit der Menschen im Arbeitsprozess aufeinander zunahmen,
begann die Prestigeskala der Spezialisierungen zu verwässern und es entstand eine
neue Figuration als Integrationsfunktion (die Arbeiterklasse). Die Integration,
die sich in Form einer rechtlichen Koordinierung vollzog, indem Unterschiede in
der Herkunft rechtlich nicht mehr fixiert wurden (Fischer 1967: 222), folgte der
funktionalen Differenzierung mit zeitlicher Verzögerung (Elias 1970/2004: 155):

„Denn aus diesen Unterschieden in Arbeitsort, -bewertung und -entlohnung ent-


springen ja Unterschiede in Lebensgefühl, der Selbstachtung, der beruflichen Chance
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 81

und des sozialen Status, die ein Gegengewicht bilden gegen den keineswegs zu un-
terschätzenden Trend, sich als Industriearbeiterschaft in gemeinsamer Klassenlage
zu sehen.“ (Fischer 1967: 250)

Die Veränderungen des Marktes (Massenproduktion46), das Wachstum der Unter-


nehmen, die Ausdifferenzierung der Arbeitsorganisation und die Maschinisierung
waren wechselseitig voneinander abhängig und beschleunigten sich gegenseitig
in ihrer Entwicklung.

4.1.4 Die Bildung von Gewerkschaften

Gewerkschaftliche Organisationen sind eine Folge geplanter und ungeplanter


menschlicher Entscheidungen und Prozesse. Sie bildeten sich eher „spontan aus
dem Widerstand der Arbeiter gegen die von den Unternehmern einseitig festge-
legten Lohn- und Arbeitsbedingungen“ (Müller-Jentsch 2007: 18).
Die erste Phase der Bildung von Gewerkschaften war vom Organisationsprinzip
des (Fach-)Berufsverbandes geprägt. Vorwiegend handelte es sich um Arbeiter aus
dem handwerklichen Bereich. Ab 1890 begann die Zeit der Industriegewerkschaften
und die Organisation von Angestellten und Beamten. Die Machtbasis der alten Be-
rufsverbände war durch die Auflösung traditioneller Berufe infolge der Fabrikarbeit
und dem Entstehen neuer „Spezialberufe“ gegenstandslos geworden. Die große Zahl
der Arbeiter trat in die „vertikal“ organisierten Industriegewerkschaften ein. Hier
waren alle Berufs- und Arbeiterkategorien einer Industrie vertreten. Die Stärke
der Industriegewerkschaften war die hohe Mitgliederzahl und die Förderung der
Klassensolidarität, also die Schaffung eines kollektiven Arbeiterbewusstseins. Es
entstand ein Solidaritätsgefühl, das über den Beruf hinausging.
Die Industriegewerkschaften konzentrierten sich auf die Vertretung kollektiver
Interessen, d. h., sie traten für allgemeine Arbeitsregeln ein: Standardlohn, Nor-
malarbeitstag, generelle Tarif- und Gesetzesnormen. Hinsichtlich ihrer organisa-

46 Nach 1850 gab es erste Tendenzen für eine „Massenproduktion“. Mit einer Intensivierung
der Nachfrage nach Produkten wurde die führende Produktion nach Auftrag mehr
und mehr durch eine Produktion auf Lager ergänzt. Damit ging auch eine langsam
beginnende Standardisierung einher, die die individualisierten Produkte verdrängte.
Es ging vor allem um die Nutzung ökonomischer Vorteile der sich durchsetzenden
spezialisierten Werkzeugmaschinen mithilfe der Verwendung austauschbarer Teile
im Fall eines Verschleißes oder Defekts. Voraussetzung war eine fortgeschrittene
Arbeitsteilung (funktionale Differenzierung) und eine anspruchsvolle Masse von sich
wiederholenden und immer gleichen Produkten und Herstellungsvorgängen (Kocka
1990: 441f.).
82 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

torischen Stärke hatten die Industriegewerkschaften einen größeren Widerstand


der Arbeitgeber und ihrer Verbände zu erwarten. Die Unternehmer erkannten die
Gewerkschaften jedoch als Verhandlungspartner an und auf diese Weise tauchte
eine neue Figuration in der gesellschaftlichen Verflechtung auf. Die Arbeiter
wurden mithilfe ihres Vertretungsorgans auf einer höheren gesellschaftlichen
Ebene integriert, als sie es selbst hätten leisten können (vgl. Elias 2004/1970: 157).
Auf betrieblicher Ebene fungiert der Betriebsrat als Vertretungsorgan für die
gesamte Belegschaft. Im Betriebsverfassungsgesetz und in Betriebsvereinbarungen
sind die Rechte und Pflichten von Arbeitgeber und Betriebsräten geregelt. Auf
dieser Ebene ist der Betriebsrat als Vertreterfiguration und „Sekundärmacht“47
(Jürgens 1984: 64ff.) für die Figuration der Belegschaft tätig („Primärmacht“ 48).
Die Entstehung des Systems industrieller Beziehungen49 und ihre Wirkungs-
weise als Monopolisierung von Macht kann als Integrations- und Koordinie-
rungsfunktion für die fortschreitende Differenzierung verstanden werden, die
mit der Industrialisierung verstärkt wurde und bis heute anhält. Die Integration
der Arbeiter fand auf einer höheren Ebene der Gesellschaft statt als zu Beginn der
Industrialisierung, als „keine der beiden Gruppen [Unternehmer und Arbeiter,
M.F.] effektive zusammenfassende Organisationen auf höherer Integrationsebene
der Gesellschaft besaß“ (Elias 1970/2004: 157). Mit der „Sekundärmacht“ auf der
neuen Integrationsebene wurden die gesellschaftlichen Machtverhältnisse gleich-
mäßiger verteilt und die Kontraste verringerten sich.
Die Arbeitsdisziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung zeigt die
Interdependenz zwischen technischen und sozialen Entwicklungen und macht
deutlich, dass „Technisierung und Zivilisation Teilprozesse der Menschheitsent-
wicklung [sind]“ (Elias 1986/2006: 189). Die folgenden Ausführungen analysieren
die Herausbildung einer Arbeitsethik und den disziplinierenden Charakter von
Zeit und beschreiben ihren Zusammenhang mit wandelbaren gesellschaftlichen
Machtverhältnissen.

47 Sekundärmacht ergibt sich nicht nur aufgrund der Stärke von Belegschaften, also der
Primärmacht, sondern auch „aus den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes“
(Minssen 1999: 149).
48 „Primärmacht ist im historischen Prozess ersetzt, ergänzt, überlagert worden von
kollektiv erkämpften Macht- und Einflusspositionen von Belegschaftsgruppen und
betrieblichen sowie gewerkschaftlichen Interessenvertretungen.“ (Jürgens 1984: 64)
49 Vgl. ausführlich dazu Müller-Jentsch 1997, 2007.
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 83

4.2 Wandelbare Machtgleichgewichte –


Die Herausbildung des Arbeitsethos
4.2 Wandelbare Machtgleichgewichte – Die Herausbildung des Arbeitsethos
Die Entwicklung komplexer sozialer und wirtschaftlicher Strukturen sowie eines
modernen (zeitgemäßen) Arbeitsethos setzen einen Mentalitätswandel voraus, der
vielfältige Formen der Affektregulierung erfordert. Elias beschreibt die Entwick-
lung, indem er zwar Bezug zu den Befunden von Weber nimmt, sie allerdings kaum
stehen lässt. Er nimmt Modifikationen vor und entwickelt auf diese Weise einen
eigenen Ansatz (Treibel 2008: 28). Für ihn gilt der Adel als Motor des Wandels:

„Er untersuchte unter Rückgriff auf Max Weber und Sigmund Freud den Zivilisati-
onsprozess auf der gesellschaftlichen (Soziogenese) wie auf der individuellen Ebene
(Psychogenese). Er nimmt die sozialen Verhaltensmodelle der mittelalterlichen und
der höfischen Gesellschaft zum Ausgangspunkt, um die Verschiebung von Fremd-
zwängen zu Selbstzwängen zu zeigen.“ (Treibel: 2008: 51)

Selbstzwänge stehen immer in einem Zusammenhang mit Fremdzwängen, die durch


die Interdependenz mit anderen Menschen und einem gesellschaftlichen Machtge-
fälle ausgelöst werden (machtstärkere Gruppen). Individuen oder Mitglieder von
Figurationen können einen äußeren Zwang auf andere Individuen ausüben, da ihre
Anerkennung von anderen abhängt (Verankerung in einem anderen Individuum
finden). Elias äußert sich zum Arbeitsethos der Puritaner in folgender Weise (ein
impliziter Hinweis auf Weber): „Eine ganz analoge Struktur zeigt zum Beispiel der
Übergang von der mittelalterlich-katholischen zur protestantischen Über-Ich-Bil-
dung.“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 419f.) Elias beschreibt die zivilisatorische Transfor-
mation und den Rationalisierungsschub (Webers protestantischen Ethik) mit einem
Wandel in der Lage und im Aufbau mittelständiger Schichten. Weber dagegen fragt in
seinen Ausführungen zur Rationalisierung und zur Entstehung der protestantischen
Ethik nicht danach, „welche Fremdzwänge [überhaupt, M.F.] hinter diesem harten
Selbstzwang stehen“ (Goudsblom 1984: 135). Er befasst sich in seinem Aufsatz „Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ mit einer spezifischen Episode
des europäischen Zivilisationsprozesses (vgl. Goudsblom 1984: 134):

„Weber zeichnet hier die innerweltliche Askese der englischen Puritaner der frühen
Zeit […] als einen Lebensstil beherrscht vom Antrieb zur konstanten Selbstkontrolle
und voller Argwohn gegen die unbefangene Vitalität triebmäßigen Handelns und
naiven Gefühlslebens (vgl. Goudsblom 1984: 134f.; Weber 1920/2010: 196, 162).

Gemeinsam waren den Soziologen Weber und Elias die Erforschung der „Genese
der modernen abendländischen Gesellschaft und der damit verbundenen Per-
84 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

sönlichkeitsstruktur“ (Goudsblom 1984: 133). Allerdings fokussiert Weber die


Psychogenese des Zivilisationsprozesses und vernachlässigt die Soziogenese dieser
Entwicklung. Für Elias bildet jedoch gerade die Soziogenese den Grundgedanken:

„wie aus der Verflechtung von unzähligen individuellen Interessen und Absichten
– sei es von gleichgerichteten, sei es von verschieden gerichteten und feindlichen –
schließlich etwas entsteht, das, so wie es ist, von keinem der Einzelnen geplant oder
beabsichtigt worden ist, und das doch zugleich aus Absichten und Aktionen vieler
Einzelner hervorging. Und dies ist eigentlich das ganze Geheimnis der gesellschaft-
lichen Verflechtungen, ihrer Zwangsläufigkeit, ihrer Aufbaugesetzlichkeit, ihrer
Struktur, ihres Prozesscharakters und ihrer Entwicklung; dies ist das Geheimnis
der Soziogenese und der Beziehungsdynamik.“ (Elias 1997/1939, Bd. 2: 229)

Der Rationalisierungsprozess bei Weber bleibt in dieser Hinsicht unerforscht und


mündet in Begriffen „Entzauberung der Welt“ oder „Verhängnis“ (Weber 1920/2010:
176, 201; vgl. Goudsblom 1984: 136f.).
Elias stellt die Umformung der Fremd- in stärkere Selbstzwänge in einen grö-
ßeren (historischen) Kontext (soziogenetische Analyse höfisch-aristokratischer
Rationalität), wohingegen Weber die „innerweltliche Askese“ (Selbstkontrolle)
und ihre Genese ausschließlich aus der religiösen Ethik heraus erklären will
(Einzigartigkeit) (vgl. Bogner 1989: 194). Die protestantisch-bürgerliche Persön-
lichkeitsstruktur ist nur eine Variante innerhalb eines übergreifenden Wandels
des sozialen Habitus (ebd.: 194). Elias und Weber geht es um die Entstehung einer
systematischen Selbstkontrolle der Trieb- und Affektimpulse.
In modernen Organisationen wird deutlich, dass sich die Umformung der
äußeren Zwänge in Form von Verhaltensvorschriften in innere Selbstzwänge
(„individuelle Selbstregulierung“, Elias 1986/2006: 203) erfolgreich vollzogen hat.
Der Zwang erscheint „zugleich effizient und formlos“ (Sennett 2000: 71).

4.2.1 Der disziplinierende Charakter von Zeit


und Zeitbestimmung

Im Folgenden wird mit Rückgriff auf Norbert Elias zunächst allgemein die Frage
untersucht, welchen Zweck Zeit und Zeitbestimmung überhaupt erfüllen soll, um
mit diesen Erkenntnissen den disziplinierenden Charakter von Zeit nachvollziehen
zu können.
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 85

4.2.1.1 Sich der Zeit bewusst sein – Eine Synthese


In Bezug auf ein Verständnis für Zeitbestimmung macht Elias darauf aufmerksam,
dass die „physikalische Zeit“ (naturwissenschaftlich) von der „sozialen Zeit“ (so-
ziologisch) nicht zu trennen ist: „Nicht ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ als zwei gentrennte
Gegebenheiten, sondern ‚Menschen in der Natur‘ ist die Grundvorstellung, deren
man bedarf, um ‚Zeit‘ zu verstehen.“ (Elias 2004/1984: 17)
Elias beschreibt den Eintritt der Menschen in die Welt als den Beginn einer
fünften Dimension, die er den Dimensionen von Raum und Zeit hinzufügt. Es han-
delt sich um die Koordinate der Erfahrungen und des menschlichen Bewusstseins,
die das Erlebte in eigens geschaffenen Symbolen ausdrücken kann. Die Menschen
wurden sich der Zeit bewusst. Der zurzeit existierende Zeitbegriff ist die Synthese
eines langen Prozesses der Menschheitsgeschichte. Elias benennt zwei Arten von
Zeitbegriffen, die er aufteilt in „gewusste Wandlungssequenzen“, die durch die
Begriffe früher und später „sequenzbezogene Synthesen von Positionen eines
Wandlungskontinuums“ repräsentieren (strukturbezogen), und in das „Erleben
solchen Sequenzen“ (erfahrungsbezogen) durch die begrifflichen Symbole Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft: „Gegenwart […] ist das unmittelbar Erlebbare,
Vergangenheit das, was erinnert werden kann, Zukunft das Unbekannte, was
vielleicht einmal geschehen wird.“ (Elias 2004/1984: 104)

4.2.1.2 Das Zeiterleben, physikalische und soziale Zeit,


„zweite Natur“ und Symbol
Elias stellt die allgemeine Frage: Wozu brauchen Menschen überhaupt die Zeitbe-
stimmung (vgl. Elias 2004/1984: 19)? Für Menschen wurde es bedeutsam, wiederkeh-
rende Ablauf- und Wandlungsmuster einer unwiederholbaren Geschehensabfolge
festzulegen. Die Standardisierung dieser Bezugsmuster als Zeiteinheiten auf einer
Uhr diente den Menschen als Orientierung:

a. Zeit als gesellschaftsspezifisches Symbol koordiniert und synchronisiert soziale


Prozesse und erhält die Funktion eines gemeinsamen Bezugsrahmens. Zudem
ist Zeit beziehungsweise die Zeitbestimmung ein Orientierungsmittel für die
Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben (Arbeiten, soziale Kontakte, Natur-
beherrschung etc.) (vgl. Elias 2004/1984: 106).
b. Der Symbolcharakter von Zeit verweist auf die Syntheseleistung der Menschen.
Sie ist eine vereinfachte, abstrakte Darstellung der langen Entwicklung des
Zeitbegriffs, der sich auch in Zukunft weiterentwickeln wird:

„Menschen, die unter anderem die einzigartige Fähigkeit haben, durch den Gebrauch
von Symbolen miteinander zu kommunizieren – von Symbolen, die nicht genetisch
86 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

fixiert, die menschengeschaffen, erlernt und gesellschaftsspezifisch sind und mit


deren Hilfe sich Menschen in der Welt orientieren.“ (Elias 2004/1984: 27f.)

Menschen kommunizieren über Symbole wie Sprache oder auch Zeitempfinden.


Sie werden in eine Gesellschaft hineingeboren, in der es diese Symbole bereits gibt.
Individuen erlernen sie über Sozialisation und internalisieren das Zeitempfinden der
Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden. Die auf diese Weise internalisierten
Zeitnormen einer Gesellschaft lassen den Fremdzwang eines geltenden Zeitregimes
als etwas Eigenes empfinden („Individualisierung sozialer Gegebenheiten“ ebd.:
28) und werden Teil der Persönlichkeitsstruktur im Sinne einer „zweiten Natur“
und eines sozialen Habitus; „‚Zeit‘ [wird] zum Symbol eines unentrinnbaren und
allumfassenden Zwanges“ (Elias 2004/1984: 32):

„Das Zeiterleben von Menschen, die zu streng zeitregulierten Gesellschaften gehören,


ist ein Beispiel von vielen für Persönlichkeitsstrukturen, die nicht weniger zwingend
als biologische Eigentümlichkeiten und doch sozial erworben sind. Hieraus erklärt
sich die scheinbar selbstverständliche Erwartung der Mitglieder hochdifferenzierter
Gesellschaften, daß ihr eigenes Zeiterleben eine universelle Gabe aller Menschen
sei.“ (Elias 2004/1984: 177)

Welche Bedeutung dem Zeiterleben im Prozess der Industrialisierung zukommt,


wird im nächsten Abschnitt analysiert.

4.2.1.3 Zeit als Norm – Die Industrialisierung


Die Zeit als Norm – repräsentiert durch Uhr und Kalender – erhält seit der
Industrialisierung, in der sich der Mensch von den Abhängigkeiten der Natur
(Jahreszeiten) und dem „‚natürlichen‘ Arbeitsrhythmus“ (Thompson 1980: 38)
auf dem Land (aufgabenbezogene Zeiteinteilung) löste, mehr und mehr einen
disziplinierenden Charakter:

„Die Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen Zeitinstitution in ein das ganze
Leben umgreifendes Selbstzwangmuster des einzelnen Individuums ist ein anschau-
liches Beispiel dafür, in welcher Weise ein Zivilisationsprozeß zur Ausprägung des
sozialen Habitus beiträgt, der zum integralen Bestand jeder individuellen Persön-
lichkeitsstruktur gehört.“ (Elias 2004/1984: 21)

In der Agrargesellschaft bezogen sich die Menschen auf die regelmäßig wiederkeh-
renden Naturabläufe der Jahreszeiten, des Sonnenaufgangs und -untergangs. Mit
Beginn der Industrialisierung, dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesell-
schaft, begann eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse. Charakteristischstes
Merkmal war die Trennung der Arbeits- und Lebensbereiche durch Errichtung
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 87

von Fabriken, mit denen die Menschen nun unabhängig von den Naturabläufen
wurden und die eine standardisierte, symbolisch repräsentierte Zeitbestimmung
durch Uhr und Kalender erforderten. „Kalender als eine Institution der Gesell-
schaft haben eine soziale Regulierungsfunktion“ (Elias 2004/1984: 72f.). Nach
Adam Smith war die Trennung dieser Bereiche sogar der bedeutsamste Typus der
Arbeitsteilung (vgl. Sennett 2000: 44).
Die immer längeren und differenzierteren Interdependenzketten der heutigen
Gesellschaft, die durch das Bevölkerungswachstum, eine immer ausgeprägtere
berufliche Spezialisierung und einer erhöhten Integration der Individuen in die
Gesellschaft ausgelöst wurden, erfordern erhöhte Koordinations- und Synchro-
nisationsleistungen aller sozialen Prozesse. Immer mehr menschliche Tätigkeiten
müssen synchronisiert und in einem standardisierten Zeitraster als gemeinsamer
Bezugsrahmen koordiniert werden (vgl. Elias 2004/1984: 72). Das „Zeitbestim-
mungsmonopol“ (ebd.) lag bei den Zentralinstanzen von Staat oder Kirche, die
das festgelegte Zeitraster für die Bestimmung von Steuern und Löhnen benötig-
ten. Zudem konnten Feiertage festgelegt werden, die den Arbeitern zur Erholung
dienten (vgl. ebd.: 71f.).
Die Entwicklung der Wirtschaft ist nicht ohne eine Entwicklung der staat-
lich-politischen Organisation und umgekehrt möglich. Ausgehend von einer
prozesssoziologischen Sichtweise handelt es sich bei der Industrialisierung um
eine „Periode, in der die funktionale Differenzierung der Interdependenzketten der
entsprechenden Integrierung vorauseilte“ (ebd.: 155; Hervorhebung im Original,
M.F.). Es geht um ein Modell unterschiedlicher Funktionsdifferenzierung und
nicht um ein Modell mit nebeneinander stehenden, autonomen Sphären. Die zu-
nehmende Differenzierung, also der immer komplexer werdende Arbeitsprozess
und seine Synchronisation, führten zu einem Bedeutungszuwachs des Zeitaspekts.
Eine Integrations- und Koordinationsfunktion übernahmen zum Zeitpunkt der
Industrialisierung die Schulen (das staatliche Bildungssystem), die den Kindern
u. a. den Umgang mit der Zeit lehrten. So konnten die folgenden Generationen
bereits das gesellschaftliche Zeitempfinden mit der Erziehung und Sozialisation
erlernen und als gleichmäßigen Zwang in ihre Selbstzwangapparatur aufnehmen.
Innerhalb der Fabriken konnte sich ein weitgehend autonomes Verhältnis von
Zeit, Lohn und Leistung entwickeln. Die Fabriken schotteten sich zunehmend
von der Familiensphäre ab und konnten sich mit diesen Bedingungen ganz auf
die Effizienz der Arbeitsverhältnisse konzentrieren. Dazu gehörte ein neuer öko-
nomischer Umgang mit der Zeit („Zeit ist Geld“). Die Zeit, die die Arbeiter dem
Unternehmen zur Verfügung stellten, erhielt erst im Zusammenhang mit ihrer
konkreten Arbeitstätigkeit einen Wert. Eggebrecht et al. stellen dazu fest:
88 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

„Der Unternehmer wußte, daß Zeit Geld ist, die ‚Zeit ist Geld‘-Ethik mußte aber den
Arbeitern erst beigebracht werden. Einhalten der Zeit und Verhalten in der (Arbeits-)
Zeit waren für die Menge und Qualität der Produktion ausschlaggebend, und beides
wurde am strengsten kontrolliert.“ (Eggebrecht et al. 1980: 212)

Edward P. Thompson beschreibt in seinem Aufsatz „Zeit, Arbeitsdisziplin und


Industriekapitalismus“ (1980) die wechselseitige Abhängigkeit dieser drei Faktoren.
Die neue Zeitauffassung wurde zu einem wichtigen Instrument der Arbeitsdiszi-
plinierung. Thompson beschrieb das unterschiedlich wahrgenommene Zeitemp-
finden zu dieser Zeit wie folgt: „Das Messen der Zeit bringt für den Beschäftigten
die Trennung zwischen der Zeit seines Arbeitgebers und seiner ‚eigenen‘ Zeit mit
sich.“ (Thompson 1980: 39)
Zunächst handelte es sich um eine Verhaltensanforderung, einen Fremdzwang,
an den sich die Arbeiter anpassen sollten. Es sollte mehrere Generationen dauern
bis sich dieser Fremdzwang zu einem Teil der Selbstkontrollapparatur wandelte
(vgl. Eggebrecht et al. 1980: 214).
Die Untersuchung der Fragen, wer über wessen Zeit verfügt oder wer andere
warten lassen kann, deckt die Machtverhältnisse der Figurationen auf, die sich in
der Gesellschaft berühren (Fremd- und Selbstdisziplinierung). Diese Erkenntnis
gilt auch für die Figurationen innerhalb einer Organisation: Wer besitzt dort die
Zeitmacht oder das Zeitbestimmungsmonopol? Mit der Beantwortung dieser
Fragen lässt sich eine Figurationsanalyse auf betrieblicher Ebene durchführen,
die Aufschluss über die dortigen Machtverhältnisse gibt.
Die großbetriebliche Fertigung, also die Zerlegung der Aufgaben in viele kleine,
interdependente Arbeitsschritte basiert auf der produktionslogischen zeitlichen
Reglementierung. Wesentliche Grundlagen waren die „Etablierung und Sicherung
von Verfügungsmacht über die Zeit der Fabrikarbeiter“ und „die Erziehung zur
Einhaltung vorbestimmter Arbeitszeit“ (Flohr 1981: 34). Die Industrialisierung, die
eine Periode des Übergangs darstellt, ist durch zwei Arbeitsrhythmen charakteri-
siert: einerseits durch die formelle Betriebszeit, andererseits durch die traditionelle
natürliche Zeit aus der vorindustriellen Periode (Deutschmann 1985: 77).
Arbeit wurde mit der Abspaltung von ihrem Produkt und ihrer Bemessung
durch das Verhältnis von Zeit, Lohn und Leistung zu einem messbaren Wert und
ein „wahrer Maßstab des Tauschwerts aller Produkte“ (Kruse 2002: 130). Seit dieser
Neubewertung durch die Ökonomen Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx
(vgl. Kruse 2002: 130) wurde Arbeit zur nationalen Aufgabe und galt als Urheber
für den „Reichtum der Nationen“ (ebd.: 131).
Es bestand eine Diskrepanz zwischen Betriebszeit und Arbeitsrhythmus. Die
Gleichmäßigkeit der Maschinen stand dem „unmethodischen“ bzw. ungleichmä-
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 89

ßigen Arbeitsverhalten gegenüber (vgl. Deutschmann 1985: 80). Die vielen Verbote
und Strafandrohungen in den Arbeitsordnungen waren ein Indiz dafür, dass diese
Verhaltensvorschriften außerhalb des Fabrikgebäudes nicht selbstverständlich
waren. Die Arbeiter führten einen Kampf gegen die Arbeitsordnung, um ihre
Lebensgewohnheiten zu behaupten: Ausdehnung der Kaffeepausen, lange Toilet-
tengänge, vorzeitiges Putzen und Aufräumen, Blauer Montag (Fernbleiben), häufige
Stellenwechsel. Die Machtbalance fiel zu dieser Zeit allerdings deutlich zugunsten
der Arbeitgeber aus. Ein Arbeiter musste bei Fortbleiben vom Arbeitsplatz mit
einem Stellenverlust rechnen und gefährdete die eigene wirtschaftliche Existenz
und die seiner Familie (Kocka 1990: 481ff.). Kocka stellt Veränderungen in dieser
Zeit fest, die auf einen interdependenten Zusammenhang zwischen Länge eines
Arbeitstages und Grad der Selbstregulierung verweisen:

„Wenn die Überlänge der Arbeitszeit […] bis 1860 mit dem Disziplinierungs-
rückstand in den damaligen Betrieben, der Extensität der Arbeiterausnutzung und
der mangelnden Permanenz der Fabrikarbeit wechselseitig zusammenhing, dann
verweist die Abnahme der Arbeitszeit seit den 60er Jahren darauf, daß nunmehr die
seit Jahrzehnten in Gang befindlichen Disziplinierungs-, Systematisierungs- und
Verstetigungsversuche allmählich Erfolg zeigten.“ (Kocka 1990: 486)

Die täglichen, extrem langen Arbeitszeiten in der Phase der ersten Fabriken konn-
ten die Arbeiter nur durchhalten, weil sie ihre Pausen und ihren Arbeitsrhythmus
entgegen den Anforderungen der Fabrikordnungen selbst bestimmten. Zudem
arbeiteten sie nicht ihr Leben lang in diesen Fabriken oder sie unterbrachen meh-
rere Jahre diese Tätigkeit, um als Handwerker, Heimarbeiter etc. ihr Überleben zu
sichern (hohe Fluktuation von Belegschaften). Die Fabrikarbeit war insgesamt noch
von kurzfristigen Interessen und Zeithorizonten und weniger durch langfristige
Planungen geprägt. Die Unternehmer hatten in ihrem Kalkül nicht die langfristige
Nutzung von Arbeitskraft im Blick und die Arbeiter waren nicht an einer kontinu-
ierlichen Verbesserung der Erwerbschancen interessiert. Es war keine dauerhafte
Reproduktion von Arbeitskraft und langfristigen Humankapitalstrategien geplant.
Es gab ein fast unbegrenztes Reservoir von Arbeitern, die vom Land in die Stadt
zogen und allgemein sehr mobil waren (Binnenwanderungen, Landflucht). Daher
sahen die Fabrikherren keine Notwendigkeit, die extensive Ausnutzung gegen eine
langfristige Strategie auszutauschen. Fehlende Arbeiter wurden einfach ersetzt
(Deutschmann 1985: 120).
Als die Arbeit jedoch aufgrund von Maschinisierung und Standardisierung
intensiviert werden konnte, erkannten selbst die Unternehmer, dass damit auch eine
Arbeitszeitverkürzung notwendig wurde. In dieser Periode des Übergangs musste
der Entgrenzung der fremdbestimmten Zeit wieder eine Begrenzung folgen. Der
90 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

fortschreitenden funktionalen Differenzierung fehlte zunächst die Koordination


und Integration. Über eine lange Phase ergaben sich dann organisationale und
rechtliche Regulierungen (Gewerkschaften, Arbeiterschutz- und Arbeitszeitgesetze
etc., Flohr 1981: 19f.) sowie ein traditionelles industrielles Arbeitszeitregime50. Es
handelt sich bei diesen Regulierungen um Zusammenfassungen von Differenzie-
rungen. Die Arbeitszeit und ihre gerechte Entlohnung wurden zu einem zentralen
Gegenstand des Konflikts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. ihrer
kollektiven Vertreter, der bis heute anhält (Kocka 1990: 486).

4.2.1.4 Beschleunigung oder „Das Tempo unserer Zeit“51


Je stärker die Funktionsteilung einer Gesellschaft oder je größer die Fülle von
Handlungen ist, die voneinander abhängen, desto größer ist das Tempo mit der
Folge, dass die Schwankungen im Verhalten beherrscht werden müssen und der
Selbstzwang zu einem beständigen Arbeitsethos reift. Damit werden spontane,
kurzfristige Absichten und Möglichkeiten zweitrangig zugunsten einer weitrei-
chenden Interdependenz:

„Eine der Erscheinungen, die diesen Zusammenhang zwischen der Größe und dem
inneren Druck des Interdependenzgeflechts auf der einen, der Seelenlage des Indivi-
duums auf der anderen Seite besonders deutlich zeigt, ist das, was wir ‚das Tempo‘
unserer Zeit nennen. Dieses ‚Tempo‘ ist in der Tat nichts anderes, als ein Ausdruck
für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen, gesellschaftlichen
Funktion verknoten, und für den Konkurrenzdruck, der aus diesem weiten und dicht
bevölkerten Netz heraus jede einzelne Handlung antreibt. Es mag sich bei einem
Beamten oder Unternehmer in der Fülle seiner Verabredungen oder Verhandlungen
zeigen, bei einem Arbeiter in der genauen Abstimmung jedes Handgriffs auf eine
bestimmte Minute und Zeitlänge, hier wie dort ist das Tempo ein Ausdruck für
die Fülle der Handlungen, die voneinander abhängen, für die Länge und Dichte der
Ketten, zu denen sich die einzelnen Handlungen zusammenschließen, wie Teile zu
einem Ganzen, und für die Stärke der Wett- und Ausscheidungskämpfe, die dieses
ganze Interdependenzgeflecht in Bewegung halten […] [D]ie Funktion [erfordert] im
Knotenpunkt so vieler Aktionsketten eine ganz genaue Einteilung der Lebenszeit; sie
gewöhnt an eine Unterordnung der augenblicklichen Neigungen unter die Notwen-
digkeiten der weitreichenden Interdependenzen; sie trainiert zu einer Ausschaltung
aller Schwankungen im Verhalten und zu einem beständigen Selbstzwang.“ (Elias
1997/1939, Bd.2: 348f., Hervorhebung nicht im Original, M.F.)

Hartmut Rosa (2005) beschäftigt sich in seiner Abhandlung „Beschleunigung


– Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ ausführlich mit den

50 Vgl. ausführlich zur Entwicklung des Normalarbeitstages: Deutschmann 1985.


51 Elias 1939/1997, Bd. 2: 348.
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 91

Themen Zeitsoziologie sowie soziale Beschleunigung und macht die Ökonomie


als einen ihrer Triebkräfte aus. Für ihn ist Beschleunigung ganz allgemein eine
„Mengenzunahme pro Zeiteinheit“ (ebd.: 115). Dabei kann es sich um die Menge
von Handlungen, Kommunikation und anderen Dingen handeln. Die Steigerung
von zum Beispiel Kommunikationsmengen (E-Mails im Gegensatz zum postali-
schen Briefverkehr) wird „durch Technik [lediglich, M.F.] ermöglicht, aber nicht
erzwungen“ (Rosa 2005: 120, Fußnote). Technische Vor-aussetzungen und eine
Steigerung des Lebenstempos durch Verknappung der Zeitressourcen (Menge)
sind zwei Beschleunigungsformen, die miteinander verknüpft sind.
Die Gewährleistung, die aus technischen Innovationen resultierende Produk-
tivitätssteigerungen auch nutzen zu können, erfolgt durch eine entsprechende
Beschleunigung von Organisations-, Entscheidungs- und Kontrollprozessen.
Technische und soziale Beschleunigung gehen dabei Hand in Hand und drü-
cken sich zum Beispiel in der Rationalisierung der Arbeitsprozesse im Sinne des
„Scientific Managements“ Taylors oder in der Just-in-Time-Produktion des Lean
Managements aus (Rosa 2005: 128f.). Die Beschleunigung des sozialen Wandels
meint unter anderem die Steigerung der Verfallsrate gültiger Verhaltensanfor-
derungen, auf die man sich beziehen kann sowie die Verkürzung des Zeitraums
von Gegenwart. Was eben noch als modern galt, ist im nächsten Moment bereits
veraltet. Als Beispiel sei der immer kürzere Zyklus zwischen Produktinnovationen
oder auch der Arbeitsorganisation genannt. Diese kurzen Zyklen beschreiben den
„auf Dauer gestellten Wandel“. Die Gegenwart als Zeitsequenz, also das unmittel-
bar Erlebbare, schrumpft und wird schneller zur erinnerten Vergangenheit (Rosa
2005: 133). Die Beschleunigung des Lebenstempos wird von Rosa, der analytisch
zwischen technischer und sozialer Beschleunigung trennt, als „Verkürzung und
Verdichtung von Handlungsepisoden“ (ebd.: 135) definiert. Erreichen lässt sich
dieser Zustand durch die „Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit“ (ebd.)
und die Verringerung von Leerzeiten (z. B. Laufwege) und Pausen. Anhand der
Arbeitsgeschwindigkeit lässt sich eine Lebenstempobeschleunigung empirisch
nachweisen. Die Steigerung des Lebenstempos ist eine Folge der Verknappung von
Zeitressourcen: Die Steigerung der Handlungsmenge liegt über der technischen
Steigerung der Bewältigungsgeschwindigkeit (ebd.: 136). Die Menschen empfinden
in solchen Situationen Zeitdruck und Stress.
Hartmut Rosa sagt, die funktionale Differenzierung (Vermehrung von Wahl-
möglichkeiten und Kontingenz) zähle zudem zu den „Hauptursachen für die
Beschleunigung des Lebenstempos“ (Rosa 2005: 123).
„Stillstand bedeutet Rückschritt“ und gilt als moderne Ideologie, an die sich die
Verhaltenssteuerung der Menschen wie an eine Norm orientiert. Degele und Dries
(2005) fassen in Anlehnung an Hartmut Rosa zusammen, dass „Beschleunigung
92 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

[…] als Zeitkonzept und Lebensform sozial vermittelt“ wird (Degele/Dries 2005:
177) und entsprechen der Sichtweise Elias‘, der von sozialer Zeit in Abgrenzung
zur physikalischen Zeit spricht.

4.2.1.5 Verringerung der Distanzen („Raumschrumpfung“52)


Ein weiterer Aspekt, der auf die Größe und Verdichtung der Interdependenzketten
und auf Beschleunigung der Prozesse wirkt, ist die räumliche Verdichtung bzw. die
größere Nähe der Menschen zueinander, die durch fortschreitende Technisierung
(technische Innovationen) ausgelöst wird. Raumerfahrung steht vor allem mit der
Zeit in Zusammenhang, die für eine Durchquerung benötigt wird (Rosa 2005:
125). Elias befasst sich dabei mit den Veränderungen in Form einer temporalen
Vorher-Nachher-Perspektive bzw. einer Periode des Nicht-Wissens gefolgt von
einer Periode des Wissens:

„Das Flugzeug [sowie die Informations- und Kommunikationstechnologie, M.F.]


intensivierte diesen Prozess der Verringerung der Distanzen zwischen Menschen und
über die ganze Erde hin in einem Ausmaß, das man sich schwer vergegenwärtigen
kann, wenn man nicht ein sehr lebendiges Bild von der Zeit des Nicht-Wissens […]
besitzt.“ (Elias 1986/2006: 216)

Die Verringerung der Distanzen führt zu einer schnell zunehmenden Integration


und zu wachsenden Interdependenzen von Menschen in und zwischen Figurationen
(„Netzwerkverdichtung“), die zuvor unabhängig voneinander waren (ebd.: 221).
Der soziale Habitus der Menschen ist allerdings nicht auf internationale Identi-
fizierung der Selbstregulierung ausgerichtet, sondern national. Der Prozess der
Integration verschärft sich aus diesem Grunde sowie aufgrund des „beschleunigten
Wandlungstempos“ (ebd.: 223).

4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung


nach Frederick W. Taylor
4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung nach Frederick W. Taylor
Der Taylorismus ist eng mit den durch die Industrialisierung ausgelösten Verän-
derungen verbunden. Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft
wandelten sich die Produktionsweisen und das Verhältnis zur Zeit. Die Trennung
der Arbeits- von der Lebenssphäre ermöglichte einen besonderen Umgang mit

52 Rosa 2005: 125; oder auch „Zeit-Raum-Kompression“ (ebd.: 164; Hervorhebung im


Original, M.F.).
4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung nach Frederick W. Taylor 93

der Zeit und die Herausbildung neuer Arbeitsverfahren. Rosa (2005) beschreibt
diesen Zusammenhang wie folgt:

„Fordismus und Taylorismus und die Arbeit der REFA und MTM-Ingenieure
optimierten die Zeiteffizienz in einer Weise, wie sie nur […] in einer von allen le-
bensweltlichen, privaten und subjektiven Bezügen gereinigten Arbeitswelt [möglich
ist].“ (Rosa 2005: 273)

Während Max Webers Bürokratiemodell53 in erster Linie staatliche und privatwirt-


schaftliche Verwaltungen fokussiert, befasste sich Fredrick W. Taylor (1856-1915) mit
der industriellen Produktion. Taylors Überlegung war, dass die sozialen Probleme
seiner Zeit ihre Ursache in der unzureichenden Organisation der industriellen
Arbeit haben mussten. Dieser Zustand führte dazu, dass sich die seiner Meinung
nach „vermeintlichen“ Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit durch den
eher niedrigen Produktionsauswurf verschärften. Er war der Meinung, dass sich die
gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme lösen lassen könnten, indem die
Produktion mithilfe rationellerer Organisationsformen intensiviert wird: „Höhere
Produktivität durch Intensivierung der Arbeit wird für Taylor zum Allheilmittel“
(Wachtler 1979: 110). Erreichbar sei eine Steigerung der Effizienz der industriellen
Arbeitsorganisation durch den Abbau von Verhaltensspielräumen, die den Arbeiter
zur Leistungszurückhaltung veranlassen, sodass die Form der Produktionsorgani-
sation nicht mehr von Erfahrungen, Routine, Faustregeln („Das haben wir immer
so gemacht.“ oder „Die anderen machen es auch so.“) und zufällig individuellen
Fähigkeiten des Arbeiters bestimmt, sondern systematisch umgestaltet und nach
wissenschaftlichen Regeln aufgebaut werden sollte (Scientific Management). Jeder
Handgriff sollte durchrationalisiert sein und nichts dem Zufall überlassen bleiben.
Die menschliche Arbeitskraft schien für Taylor die entscheidende Rolle zu spielen,
denn an ihr setzten alle Rationalisierungsversuche an.
Eine Umgestaltung der Arbeit erfolgte in Form von Spezialisierung (Arbeits-
teilung) und Verdichtung (höheres Arbeitstempo, Ausschaltung „unproduktiver“
Zeiten). Er stellte spezielle Methoden auf, die eine Produktivitätssteigerung zur
Folge haben sollten. Sie waren vor allem charakterisiert durch die vertikale und
horizontale Arbeitsteilung, die Trennung von Planung und Ausführung, ein
objektives Lohnsystem, ein standardisiertes Verfahren („one-best-way“) und die
Auswahl der Arbeiter nach ihren Fähigkeiten (vgl. Wachtler 1979: 111).
Taylor analysierte die Arbeitsvorgänge und zerlegte sie in einzelne Ablaufphasen.
Nachdem er alle überflüssigen Bewegungen entfernt hatte, verband er sie wieder-

53 Die Beschreibung des Bürokratiemodells in Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“


(1922/1976).
94 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

um in zweckmäßiger Weise (zeit- und kraftsparend). Anschließend erhielten die


Arbeiter eine Schulung und genaue Anweisung auf spezielle Teilhandlungen: Sie
mussten sich exakt ohne jegliche eigenmächtige Veränderung an die Vorgaben
halten (Standardisierung).
Taylor befasste sich mit der Entwicklung der Arbeitsmethoden, der zweckmä-
ßigsten Arbeitsplatzgestaltung, der Anpassung der Werkzeuge an die zu verricht-
ende Arbeit und mit der Arbeitsorganisation. Seine Grundprinzipien waren die
personelle und räumliche Trennung von geistiger bzw. dispositiver und ausfüh-
render Arbeit sowie die Methode der Arbeitszerlegung mit dem Schwerpunkt auf
ausführende Arbeiten. Er bündelte das Erfahrungswissen der Arbeiter, um daraus
neue Standards zu generieren (vgl. Taylor 1919: 38):

„Den Arbeitern sollen alle Dispositionen und Entscheidungen, von denen der Ausstoß
der Werkstatt abhängt, aus der Hand genommen und auf einige Leute übertragen
werden, welche durch spezialisierte Ausbildung und Anleitung instand gesetzt worden
sind, die nötigen Anweisungen zu geben und ihnen Wirklichkeit zu verschaffen […].
In unserem System wird jedem Arbeiter bis ins Kleinste vorgeschrieben, was er zu
tun hat und wie er es auszuführen hat; und jedwede Verbesserung, die ein Arbeiter
diesen Vorschriften gegenüber vornimmt, ist vom Übel.“ (Taylor 1906: §124 u. §118)

Taylor schöpfte zu einem (historischen) festgelegten Zeitpunkt das subjektive


Wissen der Arbeiter ab, um es in die Hände der Ingenieure zu geben. Er machte
zwar deutlich, dass jeder Arbeiter Verbesserungsvorschläge machen konnte, die
dann sorgfältig geprüft würden, aber das zukünftig generierte Erfahrungswissen
im Hinblick auf ihre Tätigkeit floss nicht mehr in gleichem Umfang in die neu
standardisierten Methoden ein:

„Er [der Arbeiter, M.F.] soll auf jede Weise ermuntert werden, Verbesserungen
vorzuschlagen. Allerdings darf der Arbeiter nicht jedes Gerät oder jede Methode
anwenden, die ihm bei seiner Arbeit gerade richtig erscheint. Er sollte aber auf jede
Weise ermuntert werden, Verbesserungen in Methoden und Werkzeugen vorzu-
schlagen. Die Betriebsleitung sollte es als feste Regel betrachten, jede Verbesserung,
die ein Arbeiter vorschlägt, sorgfältig zu prüfen und genau den relativen Vorteil
des neuen Vorschlags gegenüber der alten Norm zu ermitteln. Wenn sich die neue
Methode tatsächlich als besser erweist als die alte, dann sollte die Norm für den
ganzen Betrieb festgelegt werden und der Arbeiter sollte die volle Anerkennung für
seine Verbesserung finden.“ (Taylor 1919: §135-137)

Taylor zog unter das über Jahrzehnte gesammelte Erfahrungswissen der Arbeiter
aus ihren traditionellen Handwerksfertigkeiten einen Strich und bündelte es in
seine empirisch ermittelten und daraus abgeleiteten Gesetze und Standards:
4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung nach Frederick W. Taylor 95

„Der Scharfsinn jeder Generation hat schnellere und bessere Methoden für jede
Detailarbeit in den verschiedenen Gewerben ersonnen. So stellen denn die heutigen
Methoden die geläuterte Endsumme der geeignetsten und besten Ideen dar, die seit
dem Beginn eines jeden Gewerbes darauf verwendet wurden.“ (Taylor 1919: 32f.)

Taylor sah im Erfahrungswissen der Arbeiter nicht den Schlüssel zu einer rei-
bungslosen Produktion, sodass ihm auch die neuen Erfahrungen der Arbeiter
mit ihren Tätigkeiten während des Prozesses nicht so wichtig erschienen, dass
er sie in einer umfassenden Weiterentwicklung der Standards und seiner wis-
senschaftlichen Methoden hätte nutzen wollen. Indem er die Fertigkeiten der
Arbeiter zu einem bestimmten Zeitpunkt bündelte und abschöpfte, machte er den
Prozess, Erfahrungswissen zu sammeln, zudem relativ statisch im Vergleich zur
bisher freien Gestaltung der Arbeitshandlungen. Taylor war der Überzeugung,
den Arbeiter von einer Last befreit zu haben, indem die Verantwortung für den
Produktionsprozess nun ausschließlich bei den Ingenieuren in den Planungsbüros
lag. Die Arbeiter konnten sich nun voll und ganz dem Vollzug der Arbeitsschritte
widmen. Damit wurden die Handlungsspielräume der Ingenieure erweitert und im
Gegenzug erhielten die Arbeiter höhere Löhne als Entschädigung für den Verlust
ihrer Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Die Art der Arbeitsorganisation
und der Einsatz von Maschinen erwiesen sich für die Arbeiter als Fremdkontrolle
ihres Arbeitshandelns.
Bei Taylors „Scientific Management“ wurde der Fremdzwang, also die Anwen-
dung intensiver Kontrollen noch verschärft, die ausgelöst durch die monotonen und
damit wenig motivierenden Arbeitsinhalte (fehlendende Motivation im Hinblick
auf Bestleistungen sollte durch äußere Kontrolle kompensiert werden) und anderer-
seits durch das Misstrauen Fabrikleitung gegenüber den Fähigkeiten der Arbeiter
ausgelöst wurden. Im Sinne einer Self-Fulfilling-Prophecy54 handelten die Arbeiter
dann genauso, wie die Fabrikherren es erwarteten, und bestätigten die negativen
Erwartungen. Drei typische Kontrollsysteme und Fremdzwänge zur Erhaltung der
höchsten Arbeitsleistung können in einem Betrieb identifiziert werden:

t eine direkte persönliche Kontrolle durch Vorgesetzte (Meister und Vorarbeiter),


t eine (indirekte) mechanische, technische Kontrolle durch Maschinen und
t eine (indirekte) administrative, bürokratische Kontrolle durch Regeln und ein
spezifisches Anreizsystem (vgl. Edwards 1981).

54 Die Wahrscheinlichkeit des Verhaltens eines Menschen nimmt zu, wenn dieses Ver-
halten erwartet wird; dieser Begriff wurde von Robert K. Merton geprägt (vgl. Merton
1995: 399ff.).
96 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

Der Arbeiter wird zu einem Teil der Maschinerie, die er nicht mehr überblicken
kann. Er ist als Person austauschbar und wenn möglich sogar durch Maschinen
ersetzbar. Die Maschinisierung ist nach Taylor eine unausweichliche Folge der
Arbeitsteilung. Manche Kritiker folgerten, dass Taylor von einem Menschenbild
ausging, das den Arbeiter als dumm, faul und unbeweglich erscheinen ließe. Dieser
Arbeiter sei nicht in der Lage, eigene Interessen zu erkennen und zu verwirklichen.
Taylor ging vom homo oeconomicus aus, also von einem Menschen, der nur an
der Maximierung seines Nutzens und Gewinns orientiert sei. Er glaubte, dass der
Mensch nur zu Leistung bereit sei, wenn er dafür gerecht entlohnt werde. Daher
war eine seiner Anreizmethoden die Einführung eines „objektiven“ Lohnsystems
(Akkordlohn).
Taylor suchte immer den besten Mann für eine Aufgabe. Dabei ging es ihm in
erster Linie um die bestmögliche Besetzung einer Tätigkeit und erst im zweiten
Schritt um den Arbeiter, der seine Qualifikationen optimal einsetzen sollte:

„Bisher stand die ‚Persönlichkeit‘ an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation
und das System an erste Stelle treten. Daraus ist aber nicht etwa der Schluß zu ziehen,
dass man keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr braucht. Im Gegenteil, die Aufgabe
eines jeden guten Systems muß es sein, sich erstklassige Leute heranzuziehen, und
bei systematischem Betrieb wird der beste Mann sicherer und schneller in führende
Stellung gelangen als je zuvor.“ (Taylor 1919: 4)

Die Behauptungen Taylors, sein Ansatz könne die Interessengegensätze von Kapital
und Arbeit versöhnen sowie die Nutzung der Ingenieursleistungen und der damit
einhergehenden Steigerung des Berufsstandes fördern, verbesserten das Image des
Taylorismus. Selbst die politische Linke und die Gewerkschaften waren für dieses
Konzept offen.55 Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise erhielt der Taylorismus viel
Kritik hinsichtlich seiner negativen Auswirkungen auf die Menschen und das
Etikett einer unsozialen und inhumanen Arbeitsweise (vgl. Mayo 1933).
Infolge der Krise der Arbeit und der damit verbundenen Produktivitätskrise
wuchs in den 1970er Jahren die Kritik am Taylorismus (vgl. Abschnitt 4.5). Man
begriff, aufgrund von Experimenten mit neuen soziotechnischen Innovationen
der Arbeitsorganisation und des Toyotismus (Lean Production), dass es auch
Alternativen zum Taylorismus gab. Soziologen befassten sich vor allem mit dem
Aspekt der Arbeitsteilung, der bereits ein Jahrhundert vorher von Marx analysiert
wurde. Ihnen war der Prozess der Trennung von Kopf- und Handarbeit zu einem

55 Sogar Lenin forderte die Einführung des Taylorismus, um die Arbeiter schnell für
die industrielle Produktion qualifizieren zu können und ihnen damit die notwendige
Arbeitsdisziplin anzutrainieren (Linhart 1976).
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform 97

bestimmten historischen Zeitpunkt wichtig. Manager sahen darin die Ursache für
das schwindende Interesse der Arbeiter für die Arbeitsprozesse und die daraus
resultierenden Schwierigkeiten, eine flexible Produktion für die zunehmende
Nachfrage nach individuellen Produkten zu etablieren. Massenkonsum, indivi-
dualisierte Fertigung, die industrielle Produktion und die Selbstverwirklichung
der Arbeiter sollten im Einklang stehen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Taylorismus-Begriff im Laufe
der Jahrzehnte verwässerte und zum Synonym für die Trennung von Kopf- und
Handarbeit sowie die extreme Zerlegung der Arbeitsprozesse wurde, obwohl die
Trennung von Planung und Ausführung bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit
den ersten Manufakturen und Fabriken begann.

4.4 Der Fordismus –


Produktionsweise und Gesellschaftsform
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform
Die folgenden Ausführungen beschreiben die nächste Rationalisierungsphase der
industriellen Produktion, die ihren Ausgangspunkt in der Automobilfertigung
hatte: das Fließbandprinzip nach Henry Ford (Fordismus).
Der Fordismus bezeichnet die Gesamtheit der Grundsätze Henry Fords mit den
Folgen auf die Integrations- und Koordinationsfunktionen des Arbeitsprozesses
und der Arbeitsorganisation. Typisch für den Fordismus war zum einen die Um-
verteilung der Produktivitätsgewinne auf Basis der Massenproduktion und zum
anderen verbesserte Kaufkraft durch höhere Löhne und Gehälter (Boyer/Fressenet
2003: 73f.). Die Attraktivität der Tätigkeiten an den Fließbändern der Ford-Werke
und die Akzeptanz der fordistischen Arbeitsweise beruhte auf der Einführung des
Acht-Stunden-Tages und eines festen Tageslohns von fünf US-Dollar, der damit
doppelt so hoch war wie der durchschnittliche Verdienst zu dieser Zeit in anderen
Fabriken (ebd.: 78).
Die Rationalisierung der Arbeit war unerlässlich für die gewünschten Pro-
duktivitätssteigerungen und meint die Standardisierung von Maschinen und
Produkten sowie die Standardisierung der Tätigkeiten selbst. Voraussetzung war
der störungsfreie und vorhersehbare Arbeitsvorgang, der seine technische und
organisatorische Ausgestaltung durch den Taylorismus und die fordistische Pro-
duktionsweise erfuhr. Die funktionale Differenzierung von Tätigkeiten (Arbeits-
teilung in Planung und Ausführung) begann bereits mit den ersten Manufakturen.
Infolgedessen stieg mit fortschreitender Differenzierung auch die Notwendigkeit
einer Koordination in der „Verflechtungssphäre“ Organisation an. Taylors Stu-
98 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

dien boten diese Funktion und so lässt sich festhalten, dass der Taylorismus als
Integrations- und Koordinationsfunktion für die fortschreitende funktionale
Differenzierung fungierte. Die mit der wissenschaftlichen Betriebsführung
verbundene Zerlegung der Arbeit setzte sich jedoch erst mit der Einführung des
Fließbandes von Henry Ford durch (vgl. Freyssenet 1984). Immer mehr Arbeits-
gänge mussten aufeinander abgestimmt werden, um Rationalisierungsfortschritte
zur Erzielung der höheren Stückzahlen zu erreichen. Die Fabriken sollten als eine
große arbeitsteilige Maschine geplant werden. Die Herausforderung bestand
darin, den Menschen in diese technische Welt einzubetten, sodass mit Mensch
und Maschine der höchste Nutzen erreicht wird.
Die Produktion konnte nun mit dem Fließband kalkulierbarer und unabhän-
giger von der Leistung Einzelner gestaltet werden. Die Tätigkeiten wurden auf
schlichte Mechanismen reduziert, sodass sich die Arbeitsweise für die Arbeiter
weiter verdichtete. Aufgrund der ausgeprägten Differenzierung der Tätigkeiten
ergab sich für die Beschäftigten ein Verlust des Überblicks über den gesamten
Produktionsablauf und eine zunehmende Entfremdung zum eigenen Arbeitshan-
deln. Die Arbeitsweise wurde standardisiert und normiert. Die Überführung der
Arbeitskraft in Arbeitsleistung und die stetige Anpassung des Arbeitshandelns
an neue technische und arbeitsorganisatorische Anforderungen sind bis heute
die wesentliche Herausforderung für Unternehmen. Gezielte Anweisungen und
Überwachungen der Vorgesetzten in den Fabriken sollten die Leistungsanforde-
rungen garantieren. Ford hob den Grad der Disziplinierung und Ausbeutung der
Arbeiter auf ein neues Niveau. Endgültig setzt sich der Fordismus jedoch erst mit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch (Hirsch/Roth 1986: 51f.).
Ausschlaggebend für eine rationelle Massenproduktion waren die Verbesse-
rung der Produktionsmethoden und -techniken. Ford war der Meinung, dass
man beim Start der Produktion ein fertig entwickeltes Produkt haben sollte und
die Verbesserungen allein bei den Produktionsmethoden ansetzen sollten (vgl.
Ford 1935: 18ff.). Ford erkannte, dass Herstellung und Vertrieb eines Autos eher
ein wirtschaftliches, denn ein technisches Problem waren (vgl. Eckermann 1984:
69). Die Minimierung der Herstellungskosten und die gleichzeitige Erhöhung
der Löhne garantierten Ford einen ausreichenden Gewinn. Er verließ sich bei der
Gewinnerhöhung auf die Absatzmenge (Volumenstrategie). Wichtige Folge dieser
Leitlinien war die Erhöhung der Kaufkraft. Der prä-fordistische Kapitalismus ließ
die noch immer agrarisch geprägte Reproduktionssphäre (Sozialbeziehungen, Kon-
sumgewohnheiten, Lebensformen) der Arbeiter relativ unberührt. Im Fordismus
hingegen wurden die Arbeiter in den Fabriken zu Konsumenten der von ihnen
selbst hergestellten Produkte: „Die von Ford praktizierte Form des Kapitalismus
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform 99

integrierte den bisher besitzlosen Fließbandarbeiter gewaltlos in eine Gesellschaft


des Massenkonsums, später des Wohlstands, ja des Überflusses.“ (ebd.)
Die Veränderungen der Konsumgewohnheiten war grundlegend für den For-
dismus: Massenproduktion gab es nicht ohne Massenkonsum. Ein erheblicher
Teil der Arbeiterschaft war in die Lage versetzt worden, die industriell erzeugten
Massenprodukte zu konsumieren. Mit dem Taylorismus und dem Fordismus war
die arbeitsorganisatorische und technologische Basis für die Massenproduktion
von Konsumgütern und die Erschließung der Reproduktionssphäre für die Arbeiter
geschaffen. In der Reproduktionssphäre wird die Ware Arbeitskraft rekrutiert und
gleichzeitig ein Markt von Konsumenten erschlossen. Die Arbeiter verloren mit der
neuen Produktionsweise nicht nur ihre Qualifikationen und Kompetenzen, sondern
erfuhren auch eine „Durchkapitalisierung ihres Reproduktionszusammenhangs“
(Hirsch/Roth 1986: 51). Ford erscheint als der „paradigmatische Organisator des
neuen kapitalistischen Produktions-Reproduktions-zusammenhangs“ (ebd.).
Mit dem Wettbewerbsvorteil der Fließbandfertigung zwang er die Konkurrenz,
diese Produktionsweise zu übernehmen, und zerstörte damit – zumindest im
industriellen Sektor – alle alternativen Arbeitsorganisationen und mit ihnen die
Optionen der Arbeiter, sich dem Fließband zu entziehen (vgl. Braverman 1977:
117f.). Zudem zahlte er höhere Löhne, als in der Branche üblich waren (Fünf-Dol-
lar-Tag) und förderte damit die Bindung des Arbeiters an seine Fabrik. Besonders
nach dem Zweiten Weltkrieg wurden höhere Löhne an einen schrumpfenden
Anteil der Arbeiter und die Sicherstellung einer ununterbrochenen Produktion
zu einem typischen Merkmal der Arbeitsmarktpolitik der Unternehmen. Die
Gewerkschaften unterstützen diese Strategie (vgl. Braverman 1977: 118). Trotz der
„Motivation“ durch höhere Löhne praktizierten die Arbeitgeber immer noch – und
sogar ausgefeiltere – Überwachungen und Kontrollen ihrer Arbeiter.
Nach Braverman steht die Manipulation der Arbeiter durch die Arbeitgeber
an erster Stelle für das Funktionieren des Systems, gefolgt vom Zwang, der als
Reserve gehalten wird (vgl. Braverman 1977: 118f.). Manipulationen können als
ökonomische Kräfte in Erscheinung treten, wie der Hinweis auf „die Kräfte des
Marktes“ als Drohkulisse.
Die Selbstdisziplinierung und Affektregulierung der Arbeiter in den Fabriken
ist das Resultat eines langen historischen Prozesses. Braverman konstatiert, dass es
sich bei der Anpassung der Arbeiter an die Produktionsweise um eine „scheinbare
Akklimatisierung des Arbeiters an die neuen Produktionsformen“ (Braverman 1977:
119) handelt und vor allem mit einer Unterdrückung der Gefühle verbunden ist,
die unter bestimmten Voraussetzungen wieder zum Ausdruck kommen können.
Elias beschreibt diesen Aspekt als unentwegten Kampf von Selbstkontrollapparatur
100 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

und Triebzentrum in jedem Einzelnen (Elias 1939/1997, Bd.2: 344f.). Braverman


formuliert diesen Kampf mit folgenden Worten:

„Unter dieser scheinbaren Gewöhnung jedoch fließt die Feindseligkeit der Arbeiter
gegenüber den degenerierten Arbeitsformen, die ihnen aufgezwungen werden, als
ein unterirdischer Strom weiter, der sich seinen Weg zur Oberfläche erkämpft, wenn
die Beschäftigungsbedingungen es erlauben oder wenn der kapitalistische Drang
nach einer größeren Arbeitsintensität die Grenzen der körperlichen und geistigen
Belastbarkeit überschreitet. Sie erneuert sich in neuen Generationen, drückt sich in
dem grenzenlosen Zynismus und Widerwillen aus, den zahllose Arbeiter gegen ihre
Arbeit empfinden und kommt immer wieder als ein gesellschaftliches Problem zum
Vorschein, das eine Lösung verlangt.“ (Braverman 1977: 119)

Er stellt fest, dass die Gewöhnung in Form einer ausgebildeten Selbstkontrollappa-


ratur Schwächen aufweist und die Feinseligkeit gegenüber den industriellen Arbeits-
formen wie ein unterirdischer Strom weiterfließt und an die Oberfläche gelangt,
wenn die äußeren Bedingungen es notwendig machen. Die Affektregulierung hat
sich nach Braverman ein Ventil gesucht. Zynismus und Widerwillen übernehmen
unter diesen Bedingungen eine Art Unterstützung der Selbstzwangapparatur.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass zwei wesentliche Voraussetzungen für
die Automatisierung in der Automobilindustrie vorliegen: einerseits die Zerle-
gung der oft bereits mechanisierten Arbeitsschritte in extrem spezialisierte und
formalisierte Teilhandlungen, die arbeitsorganisatorisch durch das Fließband
verbunden werden; andererseits die Qualifizierung einer Minderheit (Ingenieure
und wissenschaftliche Mitarbeiter in den Dispositionsbüros) und gleichzeitige
Dequalifizierung der übrigen Belegschaft (Arbeiter mit manuellen Tätigkeiten).
Die Automatisierung der Produktion hat daher nicht für alle Prozessbeteiligten
die gleichen Folgen. Es ist das Resultat gesellschaftlicher Entscheidung, welche
Bedeutung der technologische Fortschritt für eine bestimmte Gruppe hat (vgl.
Spirig-Lausecker 1984: 91).
Elias verbindet in seinem Beitrag „Technisierung und Zivilisation“ für den
Deutschen Soziologentag im Jahr 1986 die technischen Entwicklungen (Dampf-
maschine, motorgetriebene Automobile, Flugzeug etc.) mit den Entwicklungen
des menschlichen Wissens. Für ihn ist die Rekonstruktion des Nicht-Wissens eine
Forschungsmethode, Veränderungen nachzuvollziehen. So gab es zum Beispiel eine
Zeit, in der sich die Menschen noch auf die eigene Muskelkraft oder die von Tieren
und auf die Kraft des Wassers und des Windes verlassen mussten, bevor sie sich
mithilfe neuer Antriebsmittel (z. B. der Einsatz eines motorbetriebenen Fließbandes)
von diesen Arbeitsformen lösten. Der Prozess der Technisierung vollzieht sich für
Elias in den Perioden des Experimentierens, des Noch-Nicht-Wissens, des Risikos
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform 101

und der Reifezeit (ebd.: 191f.). Elias stellt fest, dass der „Übergang zur Reifezeit“
mit der „Reifung der zugehörigen sozialen Organisation zusammenhängt“ (Elias
1986/2006: 192). Technische Entwicklungen und ihre Institutionen der Integra-
tion entsprechen einem langen Lernprozess (ebd.: 194), der von Fortschritt und
Rückschlag begleitet wird. Die Etappen der Fabrikentwicklung entsprechen einem
ähnlichen Verlauf und dem von Elias beschriebenen langen Lernprozess. Technische,
arbeitsorganisatorische und zivilisatorische Entwicklungen gehören zusammen
und sind Teilprozesse der Menschheitsentwicklung (Elias 1986/2006: 189).
Elias befasste sich auch mit dem Fordismus und der damit beginnenden
Massenproduktion und -konsumtion: Für ihn war die Idee, die Produzenten der
Ware auch zu den Käufern der Ware zu machen, keine punktuelle Erfindung,
sondern entsprach den damaligen Wandlungsprozessen, die in Form von erhöhter
Produktivität, steigenden Gewinnen und mehr Wohlstand für eine Vielzahl von
Menschen gekennzeichnet waren. Ford erkannte lediglich die Zusammenhänge
und nutzte die sich daraus ergebende Chance:

„Das Entstehen eines Massenmarktes und daher von Unternehmern, die für diesen
Markt Güter produzieren, war ein Symptom eines charakteristischen Wandels in der
Struktur der Industriegesellschaften selbst. In dieser Zeit wurde durch die maschinelle
Produktion allmählich genügend Wohlstand in diesen sich industrialisierenden
Gesellschaften geschaffen, so daß Unternehmer ihren Beschäftigten und dem ganzen
Netzwerk des mit ihnen verbundenen Handwerks und Gewerbes ein ausreichend
hohes Einkommen bezahlen konnten, das es diesen wiederum ermöglichte, für sie
vordem unerreichbare Luxusgüter zu kaufen. Die Unternehmer konnten das jetzt
tun, ohne ihren Gewinn zu senken […] Mit anderen Worten: der Lebensstandard der
Massen stieg an. Der Massenmarkt wurde nicht geschaffen: er war von Menschen
wie Henry Ford gewittert und genutzt worden. So begann die Massenproduktion
von Automobilen.“ (Elias 1986/2006: 197)

Das Bildungssystem (Schulen, das deutsche Modell der dualen Ausbildung), das
Gesundheitssystem und die Gewerkschaften haben die Integrations- und Ko-
ordinationsfunktion der funktionalen Differenzierung als Folge des Fordismus
übernommen und auf diese Weise das Produktionsmodell als Gesellschaftsmodell
etabliert.
102 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

4.5 Die Krise des Fordismus und das Programm


zur Humanisierung des Arbeitslebens
4.5 Krise des Fordismus und Humanisierung des Arbeitslebens
Der Fordismus geriet in den 1970er Jahren in eine Krise: Produktivitätssteigerungs-
raten und Rentabilitätsentwicklungen waren rückläufig und die in der tayloris-
tischen Arbeitsorganisation liegenden Produktivitätsreserven waren weitgehend
ausgeschöpft (Hirsch/Roth 1986: 79). Verantwortlich für die Krise des Produk-
tionsmodells waren vor allem zwei Faktoren: Einerseits konnte das fordistische
Produktionsmodell mit seinen starren und standardisierten Verfahren nicht auf
die neuen Ansprüche einer flexibilisierten Produktion auf globalisierten Märkten
reagieren und andererseits lehnten sich die Arbeiter gegen die monotone, repetitive
Industriearbeit auf (Haipeter 2000: 92).
Ausgelöst wurde der Ruf nach einer neuen Qualität des Lebens aufgrund wider-
sprüchlicher Entwicklungen. Der Verringerung der gesellschaftlichen Machtasym-
metrien zwischen Etablierten- und Außenseitergruppen (ältere und jüngere Gene-
ration, Männer und Frauen) und dem damit verbundenen Individualisierungsschub
standen die Restriktionen und Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten
und das noch immer starke Machtgefälle zugunsten der Arbeitgeber im Indust-
riebetrieb gegenüber. Die Außenseitergruppe der Arbeitnehmer begann in dieser
Übergangsphase Traditionen infrage zu stellen, sich selbst zu reflektieren und mit
Abstand zu betrachten (vgl.: Elias 1939/1997, Bd. 2: 453f.). Daraus resultierte die
gemeinsame Forderung der Arbeitnehmer nach einer humaneren, gerechteren Ar-
beitsgestaltung, die mehr individuelle Freiräume vorsah. Bei der „Verbürgerlichung
der Arbeiter“ und „Verarbeitlichung der Bürger“ (Wouters 1999: 52) wurde eine
„pragmatische Jobmentalität durch eine selbstregulierte, subjektivierte Identifi-
kation mit der Arbeit abgelöst“ (Ernst 2006: 7). Diese Phase des Übergangs führte
auch zu Veränderungen innerhalb der Betriebe. Die Anpassung der betrieblichen
Verhältnisse an die gesellschaftlichen Veränderungen der Machtverhältnisse folgte
jedoch mit zeitlicher Verzögerung.
Ein weiterer Grund für die Veränderungsforderungen war das allmähliche
Erreichen einer Schmerzgrenze, die es nicht zuließ, die schwierigen Arbeitsbe-
dingungen auch nicht durch weitere Lohnanreize zu ertragen. Die Kritik am
Taylorismus wurde immer lauter: Dequalifizierung der Beschäftigten, Belastungen
durch Arbeitsverdichtung und Leistungsdruck, gesundheitlicher Verschleiß der
Arbeitskraft. Die Folgen dieser schwierigen Arbeitsbedingungen waren hoher
Absentismus der Arbeiter und eine hohe Fluktuation an bestimmten Arbeits-
plätzen. Gewerkschaften und Arbeitgeber, Wissenschaft und Politik wollten diese
4.6 Lean Production in der deutschen Automobilindustrie 103

Situation gemeinsam mit dem Programm zur „Humanisierung des Arbeitslebens“56


(HdA-Programm) ändern. Es ging dabei um den Abbau von Schwerbelastungen
und um Alternativen zum tayloristischen Arbeitsprinzip, d. h. im konkreten Fall
um die Verminderung repetitiver Arbeit.
Die Initiatoren waren letztlich mit den Ergebnissen des Programms nicht
zufrieden, da die angestrebten Ziele bei weitem nicht erreicht wurden. Einige
Projekte scheiterten, andere erfüllten nicht die Erwartungen. Ein wesentlicher
Kritikpunkt war die mangelnde wirtschaftliche Rationalität. Die Arbeit wurde
zwar menschengerechter, aber finanziell untragbar für die Unternehmen. Die
Aufgaben aus dem Humanisierungsprogramm sind dennoch nicht ganz aus den
Regierungsprogrammen und den Verlautbarungen der Verbände verabschiedet
worden. Anfang der 1980er Jahre wurden dann aber vorrangig andere Themen
behandelt: Arbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen, neue Technologien, die
Energieprobleme und das Ökologiebewusstsein. Die Humanisierung der Arbeit
schuf Grundlagen, diese Idee unter veränderten ökonomischen und politischen
Bedingungen, diese Idee auch in Zukunft in anderer Form weiter zu führen (vgl.
Sauer 2011: 18ff.).
Erst Ende der 1980er Jahre wurde nach dem Eintritt einer allgemeinen Markt-
sättigung zunehmend die Notwendigkeit einer vollkommenen Neuorientierung der
Organisationsstruktur von Unternehmen erkannt. Die Umwelt und die Märkte, die
sich von Verkäufer- zu Käufermärkten wandelten, hatten sich gravierend geändert,
sodass eine Reaktion entscheidend für den Erhalt von Marktpositionen wurde.

4.6 Lean Production in der deutschen


Automobilindustrie
4.6 Lean Production in der deutschen Automobilindustrie
Das Lean Production-Konzept gilt als ein weiterer Lösungsversuch zur Überwindung
des Transformationsproblems und als Antwort auf veränderte Marktbedingungen,
die mehr Flexibilität verlangten. Dieser Flexibilitätsanspruch wurde vor allem an die
Beschäftigten gestellt und zwar in Form eines Appells an ihre Leistungsbereitschaft
(Marrs 2010: 341). Das HdA-Programm galt als ein Kontrastprogramm zur reinen
Effizienzpolitik der Unternehmen (Schumann 1992: 170). Mit dem Lean-Producti-
on-Konzept sollte die Annäherung beider Pole erfolgen. Infolge dieser neuen Ideen
entstand z. B. die Gruppenarbeit, die zu Zeiten des HdA-Programms zur „Ikone
einer anti-tayloristischen Arbeitsgestaltung“ (Moldaschl 2010: 280) aufstieg, als
Managementkonzept. Nachdem es den 1970er Jahren also in erster Linie um den

56 Vgl. ausführlich Schmidt 1982; Pöhler/Peter 1982.


104 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

Menschen und ideologische Vorstellungen ging, waren die Experimente mit neuen
Arbeitsformen durch die verschärfte Konkurrenzsituation in der Automobilindus-
trie ausgelöst worden. Es war eine veränderte Organisationsgestaltung notwendig,
um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.
Es war unübersehbar geworden, dass sich der Verkäufer- zu einem Käufermarkt
wandelte und japanische Automobilhersteller die größeren Wettbewerbsvorteile
besaßen. Während der Automobilhersteller Ford noch die Volumenstrategie ver-
folgte, zielt die Lean Production auf eine kontinuierliche Kostensenkungsstrategie
(Boyer/Fressenet 2003: 112). Die Diskussion um das neue Konzept wurde vor
allem durch die von Womack, Jones und Roos (1991) am MIT erarbeitete Studie
ausgelöst, die zu dem Ergebnis gelangt, dass der Wettbewerbsvorteil japanischer
Automobilhersteller vor allem auf eine gelungene Arbeitsorganisation und nicht
auf eine bessere Technik zurückzuführen war. Die Hauptmerkmale einer schlanken
Produktion lassen sich wie folgt zusammenfassen:

„Die Betriebe sollen die Blindleistungen, die Verschwendung von Arbeit, Material
und Zeit, abbauen durch flache Hierarchien, kurze Entscheidungswege, Verlagerung
von Aufgaben und Kompetenzen an die Gruppen, die das höchste Informationsniveau
und den größten Durchblick haben, also auch an die Basis; durch faire Kooperation
mit Zulieferern, Vertriebsorganisationen und Kunden. In der Massenfertigung
werden Denken, Entscheiden und Handeln gespalten; Lean Production soll Kopf-
und Handarbeit wieder zusammenführen.“ (manager magazin 4/1992, Infokasten)

Wesentliche Unterscheidungsmerkmale zum Fordismus und Taylorismus waren


Dezentralisierung, Hierarchieabbau, Selbstorganisation, Partizipationskonzepte
und die größere Kundennähe sowie der Versuch, die Interessengegensätze zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Ansatz zu überwinden, indem die Arbeitsver-
besserung in Form von qualifizierter und selbstverantwortlicher Arbeit das Mittel
zum Zweck der Effizienzsteigerung wurde.
Die in den 1970er Jahren beginnenden „Individualisierungsschübe“ (Elias
1987/2003: 43) und die damit verbundenen Forderungen der Menschen nach
selbstbestimmter Arbeit mit größeren Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen
waren nicht verstummt. Auch wenn die meisten HdA-Bemühungen eingestellt
worden waren und in großen Teilen als wirtschaftlich gescheitert galten, blieb der
Anspruch an qualifizierte Arbeit bestehen. Die Betriebe mussten diesen Forderun-
gen nachkommen, wenn sie der steigenden Absentismus- und Fluktuationsrate
entgegenwirken wollten.
In einigen Betrieben der Automobilindustrie wurde mit neuen Sozialtechniken
experimentiert und so kam es im Produktionsbereich zur flächendeckenden Ein-
führung von Teamarbeit und des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP),
4.6 Lean Production in der deutschen Automobilindustrie 105

dessen Gestaltung auf das Vorbild des japanischen Kaizen zurückgeht (Haipeter
2000: 285). Der Mensch schien im Hinblick auf die Ernüchterung der Industrie
hinsichtlich einer ausnahmslos technisierten Montage (die menschenleere Fabrik) als
einziger Ausweg. Vorrangiges Konzept war die Mobilisierung der Motivations- und
Qualifikationsaspekte im Arbeitshandeln. Das Schwergewicht lag auf Innovation
und Problemlösung, permanente Verbesserung und damit Ablaufoptimierung des
Produktionsprozesses. Das im Taylorismus verbannte Selbst, d. h., die Subjektivität
der Arbeiter sollte in den Produktionsprozess zurückkehren.
Ende der 1990er Jahre wurde ein allgemeiner Rückgang partizipativer Konzepte
verzeichnet, die auf einen neuen betriebswirtschaftlichen Rechtfertigungsdruck
zurückzuführen sind. Die Orientierung auf Shareholder-Value-Interessen (Dörre
2002: 2) fördert eine kurzfristige Orientierung auf Renditeziele und steht Verbes-
serungen der Arbeitsbedingungen im Weg (Schumann 2008: 380f.).57
Eine „zweite Lean Production Welle“ (Jürgens 2006: 15) in Gestalt ganzheitlicher
Produktionssysteme (GPS) integriert aktuell die bisher unverbundenen Manage-
mentkonzepte Teamarbeit, KVP und Zielvereinbarungsprozesse aus den 1990er
Jahren und soll ihre einzelnen Elemente miteinander abstimmen.58 Gestaltung-
saspekte sind in diesem Produktionssystem eher restriktiv. Die Selbstorganisation
folgt klaren Regeln und ist in einen standardisierten Verlauf eingebunden. Eigen-
mächtige und situative Änderungen der Standards sind nicht vorgesehen, sondern
erfolgen in Abstimmung mit Teamkollegen und planenden Stellen im Rahmen
der Teamgespräche („flexible Standardisierung“, vgl. Springer/Meyer 2006: 45).
Ganzheitliche Arbeitsaufgaben, wie sie noch als Forderung in den 1970er Jahren
gestellt wurden, sind im GPS nicht vorgesehen. Im Gegenteil, Selbstorganisation
und „Mitdenken“ findet ihren Platz in den Teamgesprächen und fungiert als
Kompensation (und Komplementär) für die kurzen Arbeitszyklen von 1-1,5 Mi-
nuten. Detlef Gerst stellte mit Bezug auf Ulrich Jürgens (1997) bereits 1999 fest,
dass aufgrund der zunehmenden Variantenvielfalt „längere Bearbeitungszyklen in
der stehenden Montage, die gewisse zeitliche und arbeitsmethodische Spielräume
eröffnen, deshalb in der deutschen Automobilindustrie bald ganz der Vergangenheit
an[gehören]“ (Gerst 1999: 49). Der Widerspruch, der zwischen der Ausführung
stark repetitiver Arbeit und dem zur selben Zeit an die Produktionsmitarbeiter
gestellten Anspruch, gestalterisch, kreativ und engagiert zu sein, entsteht, müssen
die Beschäftigten selbst bewältigen. Gemäß des Konzepts im Fallbetrieb sind die

57 Dass sich Marktorientierung und Partizipation auch miteinander vereinbaren lassen,


ist die Sichtweise der Autoren Thomas Haipeter (2002), Klaus Dörre (2002) und Nick
Kratzer (2003). Im Kapitel 6 wird auf diesen Aspekt noch einmal eingegangen.
58 Ausführlich dazu und zum fallspezifischen GPS im Kapitel 3.
106 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

Produktionsmitarbeiter sogar selbst dafür verantwortlich, dass ihre Arbeit inte-


ressanter wird und ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt („Beschäftigungssicherung“,
Informationsheft zum Produktionssystem: 19).
„Was nicht der Wertsteigerung dient, ist Verschwendung.“59 Dieses Zitat aus
einem Informationsheft zum Produktionssystem im untersuchten Fallbetrieb
zeigt, dass sich seit der Industrialisierung die Logik des Produktionsprozesses
kaum verändert hat. Der bürgerliche Arbeitsbegriff im Sinne der Arbeitsethik, der
sich in der Phase der Industrialisierung entwickelte, wird von Bahrdt als „reine
‚unvermischte‘ Arbeit“ beschrieben, die „keine unnützen Unterbrechungen oder
Ablenkungen […] duldet“ (Bahrdt 1983: 125). Die aktuelle Anforderung aus dem
Jahr 2010 (zum Zeitpunkt der Untersuchung) liest sich analog, indem Arbeit von
Verschwendung befreit und zum Zwecke der Wertschöpfung geleistet wird.60
Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die verschiedenen Produktionskonzepte
seit den 1970er Jahren bis Ende der 1990er Jahre und die von ihnen genutzten
Sozialtechniken (KVP, Teamarbeit) als Periode des Experimentierens und des
Noch-Nicht-Wissens einordnen lassen. Ein Übergang zur Reifezeit und damit zum
vom Management gesuchten „one-best-way“ konnte bisher noch nicht gefunden
werden. Die verschiedenen Konzepte, Arbeit und Technik in einer Form zu orga-
nisieren und Menschen im Produktionsprozess auf eine Weise zu kontrollieren,
dass damit Wettbewerbsvorteile erzielt werden können, zeigen in diesem Zeitraum
lediglich Varianten von Lösungsversuchen, aber sie beschreiben keinen Einschnitt
oder eine „Periode des Übergangs“. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Konzepte
Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit eine besondere Übergangspha-
se darstellen. Hier sei auf das bereits formulierte Zitat von Willems verwiesen,
der feststellt, dass eine Gegenwartsdiagnose eine besondere Herausforderung
sei, da sich die Gegenwart unübersichtlich präsentiert (Willems 2012: 139). Die
Ergebnisse dieser Studie lassen eher auf den Erhalt von alten Verfahren und die
gleichzeitige Einführung neuer, z. T. widersprüchlicher Verfahren schließen, die
dann unverbunden nebeneinander stehen (z. B. gelten Hierarchie und Selbstorga-
nisation als Anspruch zur selben Zeit am selben Ort). Ihre Geltung wird je nach

59 Internes Informationsheft zum Produktionssystem aus dem untersuchten Fallbetrieb


(2008): 25 (Nicht gekennzeichnet, aber es handelt sich ursprünglich um ein Zitat von
Henry Ford, M.F.).
60 In der Gruppendiskussion MODIB wird sogar von „sinnvoller“ Arbeit gesprochen und
meint „wertschöpfend“. Verschwendung (sinnlose Arbeit) wird durch „sinnvolle“ Ar-
beit ersetzt und auf diese Weise in einem rhetorischen Sinne ideologisch genutzt: Wer
will denn schon unnütze und sinnlose Arbeit ausführen? Der Arbeitgeber bestimmt,
was sinnvoll und sinnlos ist. Ausführlich dazu in den empirischen Ergebnissen im
Abschnitt 6.3.4.
4.7. Zwischenfazit 107

Bedarf bestimmt und auf diese Weise strategisch nutzbar. Sie verbinden sich im
Sinne der Emergenz zu etwas Neuem, das nicht verschmilzt, sondern durch ein
Sowohl-als-auch charakterisiert ist. Welche Folgen dieser Prozess hat, wird in den
empirischen Ergebnissen unter Abschnitt 6.5 erläutert.

4.7 Zwischenfazit
4.7. Zwischenfazit
Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit ist durch verschiedene „Perioden
des Übergangs“ gekennzeichnet, die sich u. a. durch Indizien wie wandelbare
Werteskalen auszeichnen. Muße wird z. B. als erstrebenswerte Tugend von einer
Arbeit als Pflichterfüllung abgelöst und diese wiederum von einer Arbeit als
Selbstverwirklichung. Die Übergangsphasen werden im Folgenden noch einmal
verdichtet zusammengefasst.
Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft (Industrialisierung)
bildet eine Phase, in der die funktionale Differenzierung so schnell voranschritt,
dass die Koordinierung und Integration zeitlich zurückblieb. Die Herausbildung
eines Arbeitsethos war das Zeichen für die Verringerung der Kontraste in der
Gesellschaft; Arbeit wurde zur Tugend erklärt und damit zum Charakteristikum
für die Mehrheit der Gesellschaft. Die Trennung von Arbeit und Leben aufgrund
der Zentralisierung der Produktion (funktionale Differenzierung) hatte einen
nachhaltigen Einfluss auf das Leben der Menschen und führte zu einer neuen Ver-
wendung von Zeit. Der natürliche Arbeitsrhythmus aus der Landwirtschaft verlor
an Bedeutung und wurde durch eine soziale Zeit ersetzt, die der Synchronisation
der verschiedenen Handlungen vieler Menschen diente. Maschinisierung und
Standardisierung der Produkte und Arbeitsverfahren in den Fabriken bewirkten
enorme Produktivitätsfortschritte. Infolgedessen konnte der Entgrenzung der Zeit
wieder eine Be-Grenzung der Zeit folgen, indem der Normalarbeitstag von acht
Stunden eingeführt wurde.
Der Taylorismus hat für die fortschreitende gesellschaftliche funktionale Dif-
ferenzierung und komplexe Arbeitsteilung in den Fabriken eine Integrations- und
Koordinierungsfunktion übernommen. Der Fordismus als endgültige Durchsetzung
des Taylorismus hatte nicht nur Einfluss auf die konkreten Arbeitszusammenhänge
in der Fabrik, sondern auch auf den privaten Bereich, indem er die Produzenten
der Ware zu ihren Konsumenten machte. Der Fordismus ist nicht nur eine be-
triebliche Produktionsweise, er ist auch eine Gesellschaftsform. Integrations- und
Koordinierungsfunktionen haben Bildungsinstitutionen, Gewerkschaften u. a.
übernommen und diese neue Form gesellschaftlich etabliert.
108 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit

Die Informalisierung und der damit verbundene Individualisierungsschub


seit Ende der 1960er Jahre waren u. a. für die Krise des Fordismus verantwortlich
und markierten eine weitere Periode des Übergangs. Die Forderungen nach einer
menschgerechteren Arbeitsgestaltung führten zum Regierungsprogramm „Hu-
manisierung des Arbeitslebens“, das aufgrund fehlender ökonomischer Effizienz
in weiten Teilen eingestellt wurde.
Gegenwärtig befindet sich die Gesellschaft im Informalisierungsprozess. Kon-
zepte und Diskurse wie die „Subjektivierung von Arbeit“ oder auch die Einfüh-
rung von Sozialtechniken, wie sie im Fallbetrieb durchführt werden, 61 sind nur
aufgrund des aktuellen Zivilisierungsgrades möglich. Der Grad der Selbstzwänge
und die Ich-Wir-Balance (Individualität) sind Voraussetzungen für Konzepte, die
auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung zielen. Bei ihnen handelt es sich
wie beim Fordismus nicht um punktuelle Erfindungen, sondern um die korrekte
Analyse der aktuellen Verhältnisse und ein feines Gespür für die Nutzung die-
ser Bedingungen. Sie sind eine Fortführung der Experimentierphase mit neuen
Arbeitsformen und ein Teil der Entwicklungsgeschichte der Figuration oder des
(Macht-)Geflechts „Fabrik“.

61 Zusammenarbeit aller zuständigen Hierarchiepositionen und spezialisierter Funktionen


in den KVP-Workshops.
Forschungsdesign und
methodisches Vorgehen
5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
5

Grundlage für diese Studie ist ein qualitatives Forschungsdesign, das über das Me-
dium Sprache ein „Eintauchen“ in Lebensformen ermöglicht, die nicht die eigenen
sind (vgl. Senghaas-Knobloch/Dohms 1997: 33; Senghaas-Knobloch/Nagler 2000).
Bei Befragungen steht nicht immer die Beantwortung der Fragen im Vordergrund,
sondern die Schwerpunkte, die die Befragten in die Antworten legen. Der Fokus
der Analyse liegt auf der Herausarbeitung, wie etwas in der Alltagssprache the-
matisiert oder verdeckt wird (ebd.: 33). In Zeiten betrieblicher Restrukturierungen
„werden für die Betroffenen Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und damit
grundlegende Bedürfnisse, berufliche Selbstbilder und Ich-Ideale wieder bewusster
Selbstreflexion zugänglich“ (ebd.: 34). Der kommunikative Charakter des quali-
tativen Forschungsprozesses entspricht den Alltagsinteraktionen, die ebenfalls
kommunikativ sind. Die „Gruppe“ wird als zentrale Untersuchungseinheit gewählt.
Die systematische Einnahme der Innenperspektive erfolgte als kommunikative
und kontextsensitive Leistung. Die hierfür notwendigen Daten konnten in Grup-
pendiskussionen und teilnarrativen Interviews sowie innerhalb der teilnehmenden
Beobachtung erhoben werden (vgl. Ernst 2010: 85). In der prozessorientierten
Analyse der Implementierung eines GPS ging es um die objektiven Strukturen
hinter den subjektiven Geschichten Einzelner. Anhand der Beschreibungen,
Re-Inszenierungen und Diskurse der Gruppendiskussions-Teilnehmer konnten
soziale Prozesse und kollektive Orientierungsmuster (Bohnsack 2010) rekonstruiert
und beschrieben werden. Diese Orientierungen bleiben „Organisationsfremden“
verschlossen und den Mitgliedern der Organisation sind sie nicht bewusst. Quali-
tative Forschung macht Unsichtbares sichtbar, indem sie „das Fremde oder von der
Norm Abweichende und das Unerwartete als Erkenntnisquelle“ (Flick et al. 2010:
14) nutzt und kontrastierend – bekannt versus unbekannt – wahrnehmbar macht.
Die Studie basiert auf der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2010)
und ergänzt diese in der Analyse mit dem integrativen Basisverfahren (Helffe-
rich/Kruse 2007; Kruse/Biesel/Schmieder 2011; Kruse/Schmieder 2012). Diese

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
110 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Herangehensweise wurde aufgrund des spezifischen Forschungsinteresses für


diese Studie gewählt. Mithilfe eines prozesstheoretischen Forschungszugangs
war es möglich, Beziehungsgeflechte interdependenter Individuen (Figurationen)
nachzuzeichnen und informelle Machtbeziehungen (Handlungsspielräume, poly-
morphe Machtressourcen) und ihre Veränderungen zu erfassen (vgl. Ernst 2010).
Tiefer liegende Sinnstrukturen werden in der Diskussion – unabhängig von den
Intentionen einzelner Teilnehmer und Einzelmeinungen – repräsentiert. Diese gilt
es herauszuarbeiten. Kruse fasst den Anspruch rekonstruktiver Sozialforschung
noch einmal pointiert zusammen:

„Die Problematik besteht […] darin, wie neue, das heißt nicht tautologische Er-
kenntnisse ermöglicht werden (Fremdverstehen) und wie über sprachliche Mittel
(Erhebungsinstrumente) in kommunikativen Settings (Erhebungssituationen)
sprachlich konstruierte Wirklichkeit (Forschungsgegenstand) rekonstruiert werden
kann.“ (Kruse 2011: 40)

Die fallinterne und fallexterne (fallvergleichende) komparative Analyse spielt eine


zentrale Rolle beim Herausarbeiten kollektiver Orientierungsmuster und latenter
Sinnstrukturen. Sie ist das Leitprinzip oder auch, wie Nohl es formuliert, der
„durchwirkende Stil“ (Nohl 2007: 256) der gesamten Forschung.

5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung


5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung
Die vorliegende qualitativ-prozesstheoretische Studie basiert auf bestimmten
methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen sowie methodischen
Kriterien, die als kleinster gemeinsamer Nenner in der qualitativen Forschung
gelten. Ergänzt werden diese Grundannahmen um einen prozesstheoretischen
Forschungszugang (nach Norbert Elias), der die Rekonstruktion von Geschehnissen
nie ohne den Einbezug einer Diachronie des Entwicklungsprozesses bestimmt.

5.1.1 Prozesstheoretischer Forschungs-


und Methodenzugang

Die Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias ermöglicht mit ihrem
rekonstruktiven Zugang eine sozio- und psychogenetische Analyse des Einzelnen
in seinen gesellschaftlich-historischen Verflechtungen. Es ist empirisch möglich,
Figurationen (Beziehungsgeflechte interdependenter Individuen) nachzuzeichnen
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 111

und informelle Machtbeziehungen (Handlungsspielräume, polymorphe Macht-


ressourcen) und ihre Veränderungen zu erfassen. Die Prozesse müssen dabei aus
drei Blickwinkeln betrachtet werden: der Vergangenheit, dem gegenwärtigen
Zusammenhang und der Zukunft. Nach Elias ist dieser Blick „deshalb erforder-
lich, weil sich das Bild der Gegenwart ohne Bezug zu Vergangenheit und Zukunft
unweigerlich verzerrt“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 501). Das ‚Gewordensein‘ unserer
Gegenwart bildet demnach das Kernstück dieser Vorgehensweise. Methodisch
wird die prozessorientierte Analyse mittels der drei Dimensionen (1) Makroni-
veau (Figuration), (2) Mikroniveau (Akteur) und (3) soziologischer Genese der
Figurationen als Ganzes realisiert (vgl. Baur/Ernst 2011). Diese prozessorientierte
Forscherperspektive wird in der folgenden Abbildung dargestellt:

Researcher‘s Perspective

Figuration
Socio-Genesis

Individual

Abb. 2 Forscherperspektive (Bauer/Ernst 2011)

Dabei ist zu betonen, dass eine figurations- und prozesssoziologische Betrachtung


nicht von „idealisierenden Abstraktionen“ (Elias 1986: 89) ausgeht, sondern von
realen Verflechtungszusammenhängen. Elias’ Forderung an den soziologischen
Forscher ist daher die Rekonstruktion der interdependenten Verflechtungen. Er sagt
in Anlehnung an sein Spielmodell bzw. an seine Spiel-Metapher (Elias 1970/2004:
141ff.): „Aber Soziologen haben oft zugleich auch die Aufgabe, zu bestimmen,
wie die beteiligten Spieler ihre Züge und den Spielverlauf selbst erleben.“ (Elias
1970/2004: 138)
Die vorliegende Studie nutzt einen Methodenmix aus teilnehmender Beobach-
tung, Gruppendiskussionen, Einzelinterviews und eine langfristige Einordnung
der Disziplinierungsgeschichte [der sich wandelnden Fremd- und Selbstzwänge]
112 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

der Fabrikarbeit in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung62 und erfüllt damit


den Anspruch der rekonstruktiven Prozessanalayse, einerseits reale Verflechtungs-
zusammenhänge zum Gegenstand zu machen und andererseits diachronisch-dy-
namisch vorzugehen:

„Langfristsynthesen, selbst wenn sie nur kurz skizziert werden, rücken, wie man
sieht, durchaus nicht nur Probleme vergangender Gesellschaften schärfer umrissen
ins Licht. Auch Gegenwartsprobleme treten mit ihrer Hilfe deutlicher ins Bewusstsein
als zuvor und vor allem auch mögliche Zukünfte.“ (Elias 1983/2006a: 407)

Übereinstimmung zwischen Elias’ Forschungszugang und der Programmatik


der qualitativen Sozialforschung, speziell der Grounded Theory gibt es auch im
Hinblick auf die bevorzugte Vorgehensweise, Hypothesen nicht zu prüfen, sondern
sie im Verlauf der Studie zu generieren (vgl. Ernst 2010: 71).
Elias’ Ausführungen zur Spannung zwischen Engagement und Distanzierung
(Elias 1987/2003a) sind vor allem im Rahmen der Sozialforschung wegweisend. Der
Forscher muss sich bewusst werden, dass eine Forschung nicht ohne Engagement
möglich ist. Einerseits führt ihn seine Motivation erst zum Forschungsgegenstand,
andererseits ist er selbst in die Verflechtungszusammenhänge verwoben:

„Die Forscher selbst sind mit in diese Muster einverwoben. Sie können nicht um-
hin, sie – direkt oder durch Identifizierung – als unmittelbar Beteiligte von innen
zu erleben; und je größer die Spannungen und Belastungen, denen sie oder ihre
Gruppe ausgesetzt sind, desto schwerer ist es für sie, den Akt der Detachierung
[Loslösung, M.F.] von ihrer Rolle als unmittelbar Beteiligte zu vollziehen, der allem
wissenschaftlichen Bemühen zugrundeliegt.“ (Elias 1987/2003a: 122f.)

Wenn sich der Forscher der „spannungsreiche[n] Balance zwischen Engagement


für den Untersuchungsgegenstand und distanzierter Analyse“ (Ernst 2010: 78)
bewusst wird und er sie reflektierend in seine Forschung mit einbezieht, kann diese
Balance konstruktiv genutzt werden und einen wertvollen Beitrag für empirische
Studien leisten63.
Zusammenfassen lässt sich die Methodik und Forschungsstrategie einer kom-
plexen Prozess- und Figurationsanalyse nach Ernst (2010) wie folgt:

62 Zudem wurde noch eine Analyse der Dokumente vorgenommen, die im Kontext des
Forschungszusammenhangs standen. Für die Forscherin war in diesem Zusammenhang
die Reflexion des Konzepts der Reorganisationsmaßnahmen und ihre Ansprüche in
Abgrenzung zur betrieblichen Wirklichkeit wichtig.
63 Siehe im Folgenden auch das Gütekriterium der „reflektierten Subjektivität“, bei der
sich die Forscherin quasi selbst beobachtet.
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 113

t „Die Figuration als Ganze [wird] mit ihren Positionen, Regeln und Normen
sowie Werten identifiziert,
t zwischenmenschliche Spannungen und Konflikte [werden] begreifbar,
t das spezifische Interdependenzgeflecht [wird] als Handlungsrahmen der Ein-
zelnen einbezogen,
t die soziogenetische Entwicklung der Figuration [wird] analysiert […],
t die Formalisierungs- und Informalisierungsspanne sowie der Formwandel der
Selbstregulierung [wird] in Bezug zu den Mitteln der Befriedigung elementarer
physischer und sozialer Bedürfnisse aufgezeigt,
t die jeweils zentralen Orientierungs-, Steuerungs- und Kommunikationsmittel
der Gesellschaft [werden] untersucht,
t eine systematische Beobachtung der Einzelnen [erfolgt] in ihren sich wandelnden
Verflechtungen und damit
t [werden] Machtbalancen und funktionale Äquivalente in ihren Veränderungen
aufgezeigt […].“ (Ernst 2010: 77)

Der verdichtet dargestellte prozesstheoretische Forschungs- und Methodenzugang


ist für die vorliegende Studie anleitend.

5.1.2 Sprache als Verflechtungsfigur

Das kommunikative Setting dieser Studie erlaubt die Rekonstruktion der Verflech-
tungen innerhalb des untersuchten Fallbetriebes, denn sprachliche Äußerungen sind
ein Zeichen für Menschen in sozialen Beziehungen64 . Zum Aspekt des Gesprächs
als Verflechtungsfigur bzw. zur Sprache als „soziales Gebilde“ (Elias 1987/2003:
279) in Verbindung mit Erziehung bzw. Sozialisation meint Elias:

„So entwickelt auch das Sprechen anderer in dem Heranwachsenden etwas, das
ganz sein eigen, ganz seine Sprache ist und zugleich Produkt seiner Beziehungen zu
anderen, Ausdruck des Menschengeflechts sind, in dem er lebt.“ (Elias 1987/2003: 55)

Sprache und Zeit sind Symbole, über die Menschen miteinander kommunizieren.
Sprache ist eine „soziale Tatsache […], die die Existenz anderer Menschen vor-
aussetzt und der Existenz besonderer Individuen schon vorausgeht“ (Elias 2001:
37). Beide Symbole werden ihnen durch Erziehung und Sozialisation zur „zweiten
Natur“ (sozialer Habitus):

64 Vgl. die Ausführungen zur Fürwörterserie als Verflechtungsmodell (Elias 1970/2004:


132ff.), die den Menschen als sprachliches Mittel zur Verfügung steht und das Selbst
in Beziehung zu anderen setzt (ausführlich in Abschnitt 6.1.2.1).
114 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

„Was vom Netz der Symbole einer spezifischen menschlichen Gruppe nicht reprä-
sentiert werden kann, bleibt ihren Mitgliedern unbekannt. Menschen können sich
nicht nur von Natur aus mit Hilfe sprachlicher Symbole in der Welt orientieren, sie
brauchen auch Symbole; sie müssen die Symbole einer Gruppe erwerben, ganz gleich,
welches sinnliche Muster diese Symbole haben mögen. Sie können ihr Verhalten
nicht regulieren, kurz, sie können nicht menschlich werden, ohne eine Sprache zu
erlernen.“ (Elias 2001: 91f.)

Das Datenmaterial umfasst Phänomene, die für die Befragten bereits sinnhaft kon-
stituiert sind. Der Forscher verschafft sich einen Eintritt in den Bedeutungsrahmen
der Interviewten und erstellt ein bereits sinnhaft konstituiertes Konzept. Dieses
Konzept benötigt dann wieder eine Interpretation, um verstanden zu werden. Es
findet also ein doppelter Prozess der Übersetzung statt65.

5.1.3 Erkenntnistheoretische Grundlagen

Die erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Forschungsprogramme münden in


folgende methodologische Prämissen. Basis sind die Annahmen der Ethnometho-
dologie, des symbolischen Interaktionismus und des Sozialkonstruktivismus, die
die Grundannahme über Wirklichkeit liefern66. Grundlegend problematisieren die
Forschungsprogramme, ob sich Interviewer und Interviewte überhaupt verstehen
können, da sie unterschiedlichen Milieus oder sozialen Welten angehören. Trotz
gleicher Syntax (Grammatik und Wortschatz) kann die Semantik (Sinngehalt der
sprachlichen Äußerung) ein völlig anderer sein. Es ist die gleiche Sprache und doch
unterscheidet sie sich im Sinngehalt (indexikal67). Kommunikation ist uneindeutig
und vage und verlangt methodisch kontrolliertes Fremdverstehen (Schütz 1971).
Diese Grundannahmen führen zu wichtigen methodologischen Prämissen.
Sie formulieren Anforderungen an die Art und Weise, wie in der rekonstruktiven
Forschung mit Wirklichkeit umgegangen werden muss. Nach Watzlawick (1978) gibt
es nicht nur eine, sondern unzählige Wirklichkeiten, die sich sogar widersprechen
können. Zudem ist Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation und nicht
umgekehrt. Wenn Wirklichkeit also in Interaktionen sozial konstruiert ist, dann

65 Vgl. dazu auch der Begriff „doppelte Hermeneutik“ von Giddens 1984: 12ff.; sowie
Willems 2010a: 48f. (in Anlehung an Goffman): „‚doppelt‘, weil es sich um eine Kunst
der Interpretation von jedermanns ‚Interpretationskunst‘ handelt.“.
66 Vgl. zu Konstruktivismus, Ethnomethodologie und symbolischem Interaktionismus
ausführlich in den Übersichtskapiteln in Flick et al. 2010.
67 „Indexikalität“ (Garfinkel/Sacks 1976).
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 115

gilt diese Bedingung auch für die Interviewsituation. Eine qualitative Befragung
generiert keine objektive Wirklichkeit, sondern eine bestimmte Version von Wirk-
lichkeit (ebd.; vgl. auch Helfferich 2011: 23; Breuer 2009: 22). Das bedeutet für die
Befragungssituation, dass sie in verschiedene Kontexte wie soziale Eingebundenheit
der Beteiligten, ihre je individuellen Lebensgeschichten und Erfahrungen sowie die
konkrete Interaktion in der Erhebungssituation selbst eingebunden ist, die selbst
rekonstruiert werden müssen (vgl. Kruse 2011: 10). Nach Watzlawicks Auffassung
gibt es keine absolute Wirklichkeit, sondern nur subjektive, teils widersprüchliche
Wirklichkeitsauffassungen, von denen „naiv“ angenommen wird, dass sie der
„wirklichen“ Wirklichkeit angehören (Watzlawick: 1978: 142).
Die Frage nach der „wahren“ bzw. „wirklichen“ Wirklichkeit verbietet sich dem-
nach in der rekonstruktiven Sozialforschung. Diese Einsicht entspricht in gewisser
Weise der von Elias formulierten Anforderung an qualitative Forschung, sich statt
an „absoluten Dichotomien“ wie wahr-unwahr oder richtig-falsch besser an Relati-
onen wie an ein „Weniger und Mehr an ‚Wahrheit‘ oder, besser: Adäquatheit“ (Elias
1987/2003a: 162) zu orientieren. Rekonstruktive Sozialforschung bzw. Prozessanalyse
muss der Frage nachgehen, welchen Sinn die in der Erhebungssituation dargestellte
Wirklichkeit für die Befragten hat. Dabei sind die Wirklichkeitsdarstellungen
nicht zufällig oder beliebig, da sie als „Indikator“ in Beziehung zu einem dahinter
liegenden, verborgenen Muster oder Konzept stehen. Außerdem kann das Muster
durch die vielfältigen Einzeläußerungen erfasst werden, was darauf schließen lässt,
dass es sich um einen prozesshaften, dynamischen Verlauf und keine statische
Struktur handelt. Da Äußerungen immer kontextgebunden sind, ist es für die
Forscherin notwendig zu verstehen, in welchem Kontext sie entstanden sind und
wie der Sinn generiert wurde. Die Wahrnehmung einer sprachlichen Äußerung in
Verbindung mit ihrem Kontext (frühere lebensweltliche Erfahrungen der Befragten
sowie aktuelle Interaktion innerhalb der Befragungssituation) wird erst dann zu
einem sinnhaften Ganzen. Die Analyse dieser Äußerungen bildet den primären
Zugang zum Forschungsgegenstand (vgl. Helfferich 2010: 22). Die Betonung des Wie
im Gegensatz zum Was charakterisiert den Paradigmen- und Perspektivwechsel
innerhalb der qualitativen Sozialforschung (vgl. Kruse 2011: 11; Kurt 1995; 11ff.):
Innerhalb menschlicher Kommunikation gibt es einen Inhalts- und einen Bezie-
hungsaspekt (Sprache als menschliches Gebilde). Diese Unterscheidung machen
auch Watzlawick et al. (2007: 53ff.) in ihrer Kommunikationstheorie. Vom Was
zum Wie, also vom gegenstandsbezogenen zum beziehungsgestalterischen Aspekt.
Nicht die faktische Wirklichkeit (das Was) steht im Fokus des Erkenntnisinteresses,
sondern der Prozess ihrer Entstehung und die Funktion (das Wie und Wozu). Diese
Auffassung entspricht auch der Methodik eines prozessorientierten Zugangs, der
das Gewordensein der Gegenwart in den Mittelpunkt stellt.
116 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Es geht in der Sozialforschung darum, rekonstruierend die alltägliche Entstehung


und den Fortbestand von Deutungen zu verstehen. Sie muss der Frage nachgehen,
wie und warum Menschen aus „objektiven“ Bedeutungen ihren subjektiven Sinn
generieren und damit wieder die „objektive“ Wirklichkeit mit gestalten (Hitzler/
Eberle 2010: 114; auch Berger/Luckmann 1969) Die menschliche Handlungs-
praxis ist eine interpretative, symboldeutende und kommunikative Praxis (vgl.
Luckmann 1986).
Wirklichkeit liegt bereits als eine „Konstruktion von Wirklichkeit“ gedeutet
und interpretiert vor. Diese Annahme bedeutet für die Forscherin, dass auch sie
eine von mehreren Wirklichkeiten in ihrer Erhebung konstruiert. Die Version der
Wirklichkeit, die sich in der vorligenden Studie präsentiert und von der Forscherin
formuliert wird, muss nicht der entsprechen, die der Befragte zu einem anderen
Zeitpunkt oder einem anderen Forscher erzählt (vgl. Flick 1996: 19f.). Umso wichtiger
ist daher die intersubjektive Nachvollziehbarkeit ihrer Erhebungsschritte, also die
Einhaltung der gültigen Verfahrenstechniken der qualitativen Sozialforschung (vgl.
Helfferich 2011: 23, Fußnote) auf dem bisher erreichten Niveau der Methodik (vgl.
Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2010: 18). Diese erkenntnistheoretischen Grundlagen
bilden den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ (vgl. Kardoff 1995: 4) innerhalb der
mittlerweile sehr ausdifferenzierten qualitativen Methoden und leiten auch die
vorliegende Studie an.

5.1.4 Methodische Prinzipien

Auch im Hinblick auf die nun folgenden methodischen Verfahrensprinzipien für


eine konkrete Arbeitspraxis rekonstruktiver Sozialforschung besteht Konsens in
der Sozialforschung.

5.1.4.1 Prinzip der Offenheit


Die Offenheit als Prinzip qualitativer Forschung bezieht sich auf eine offene
Grundhaltung des Forschers im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand,
den Kreis der Untersuchungspersonen sowie die anzuwendenden Methoden. Der
Forschungsprozess, also die Auswahl der zu untersuchenden Personen, die For-
schungsmethode und ihre Forschungsinstrumente, passt sich an die Bedingungen
sozialer Realität an und nicht umgekehrt. Die sich daraus ergebenen Konsequenzen
sind die Betonung einer Explorationsfunktion, nicht herabsetzend gemeint als
Vorstudie einer quantitativen Forschung, die Generierung von Hypothesen und
die Entwicklung von Theorien am Ende und nicht am Anfang der Studie. Die
Einstellung des qualitativen Forschers ist, nicht genug über das Untersuchungsfeld
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 117

zu wissen und somit offen für jede Wissenserweiterung zu sein. „Offenheit“ meint
also die verzögerte theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstands und
den Verzicht auf die Hypothesenbildung ex ante:

„Das Prinzip der Offenheit besagt, dass die theoretische Strukturierung des For-
schungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungs-
gegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat.“ (Hoffmann-Riem
1980: 343, 345)

Das Prinzip der Offenheit sichert zudem die methodische Kontrolle, denn in-
nerhalb der qualitativen Forschung gilt das Paradoxon: Je weniger Eingriffe der
Forscher in die Kommunikation zwischen den Teilnehmern vornimmt, desto mehr
methodische Kontrolle ist notwendig (Bohnsack 2010: 21ff.). Die Fragestellung sollte
insoweit offen sein, dass die Interviewten die Antwort selbst strukturieren und einen
Antwortfokus bestimmen können. Damit besteht die Möglichkeit darzustellen,
ob sie Interesse am Thema haben und es ihnen relevant erscheint. Unklar ist, ob
das Relevanzsystem der Interviewten überhaupt mit der Fragestellung berührt
wird und wenn ja, welcher Aspekt bedeutend ist. Die Interviewten sollen bei der
Fragestellung ihrer ersten Assoziation folgen und auf ihre Art interpretieren, wie
die Frage gemeint ist. Sie bestimmen die zu untersuchenden Aspekte. Damit ist die
Gefahr gebannt, dass der Interviewer das eigene Relevanzsystem in das Interview
einbringt und die Antwort missverstehen könnte sowie eigene Bedeutungen hin-
einzuinterpretieren, die nicht „wahr“ sind. Den Interviewten muss die Gelegenheit
gegeben werden, das eigene Relevanzsystem in die eigene Sprache und im eigenen
Symbolsystem entfalten zu können (vgl. Bohnsack 2010: 20f.) (Prinzip des Fremd-
verstehens). Erst im Kontext kann der Forscher den Sinn der Antworten verstehen
und vermeidet es, das eigene Relevanzsystem anzuwenden.
In einer Gruppendiskussion werden angesprochene Aspekte deutlicher, wenn
die Teilnehmer in ihrer alltäglichen Sprache kommunizieren. Die Teilnehmer
befinden sich in ihrem „gewohnten sozialen Kontext“ (vgl. ebd.: 21), in dem sie
täglich kommunizieren. Bei der wechselseitigen Bezugnahme der Teilnehmer
aufeinander generieren sie einen „kommunikativen Kontext“ und die Ein-
zelmeinungen bekommen einen Sinn. Im vorliegenden Beispiel sind es u. a.
Produktionsmitarbeiter/innen des gleichen Betriebes, die mit dem KVP zu tun
haben bzw. indirekt involviert sind. Als Gruppe kommunizieren sie täglich in
den Pausen und in 14-tägigen Abständen unter Anleitung von Teamsprechern
in Teamsitzungen.
Es handelt sich nicht um eine absolute Offenheit der Befragung, denn bereits
die Interaktionssituation ist eine Art Begrenzung. Offenheit kann angestrebt
werden, indem die Methode dem Gegenstandsbereich angemessen bleibt. Die
118 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Vorstrukturierung bleibt vor der Erhebung so gering wie möglich, sodass das Vor-
wissen prozesshaft reflektiert und angepasst werden kann (vgl. Steinke 1999: 36).
Prozesshaftigkeit und Reflexivität sind methodologische Prämissen des gesamten
Forschungsprozesses, die eine weitgehende Flexibilität erforderlich machen, um
auf veränderte Umstände (Kontextänderungen, Erkenntnisgewinn) angemessen
reagieren zu können.68 Dieses Vorgehen macht wiederum die Beschreibung einzel-
ner Untersuchungsschritte notwendig, um die Nachvollziehbarkeit gewährleisten
zu können.

5.1.4.2 Prinzip der Kommunikation


Kommunikation zwischen Forscher und Erforschten ist im Gegensatz zu standar-
disierter Forschung, die Kommunikation und Reaktivität als Störgröße einordnet
konstitutiver Bestandteil des qualitativen Forschungsprozesses. Hoffmann-Riem
stellt fest, dass der Forscher „Daten im allgemeinen nur gewinnt, wenn er eine
Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das
kommunikative Regelsystem der Forschungssubjekte in Geltung lässt“ (ebd.:
346). Das Ziel ist also, „die forschungsspezifische Kommunikationssituation […]
möglichst weit an die kommunikativen Regeln des alltagsweltlichen Handelns an-
zunähern“ (Lamnek 2010: 21, vgl. Hoffmann-Riem 1980). Die Gruppendiskussion
bietet die notwendige Kommunikation und wechselseitige Beeinflussung zwischen
den Teilnehmern als auch zwischen Teilnehmern und Moderator und simuliert
quasi die benötigte alltägliche Kommunikationssituation. Eine Meinung wird vor
allem in der Auseinandersetzung mit anderen artikuliert, denn, so stellt Lamnek
fest, „ohne eine argumentative Front, gegen die der einzelne Stellung beziehen
kann, ist er nicht in der Lage, seine eigene Meinung oder Einstellung zu äußern“
(Lamnek 1995, Bd. 2: 138).
Das Prinzip Kommunikation besagt, dass der Forschungsprozess ein vielfältiger
und komplexer interaktiver Prozess ist, der kontinuierlich reflektiert werden muss.
Die Komplexität der Kommunikationssituation muss methodisch kontrolliert er-
folgen, denn „kommunikativ konstruierte Wirklichkeit wird mit kommunikativen
Instrumenten kommunikativ rekonstruiert“ (Kruse 2011: 12).

68 Diese Prämisse ist analog zu Elias’ Forderung an eine praxisorientierte Wissenschaft,


die sich von der statischen Subjekt-Objekt-Sichtweise lösen soll: „Die statische Sub-
jekt-Objekt Beziehung ist also völlig unbrauchbar. Im Prozeß des Wissens ändert sich
die Erkenntnis, ändert sich das Subjekt selber, auch der Mensch ändert sich.“ (Elias
1983/2006a: 383)
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 119

5.1.4.3 Prinzip der Indexikalität


Die Aufgabe der Forscherin, nachdem sie die Kommunikationssituation „er-öffnet“
(vgl. Kruse 2011: 34) hat, ist die Entschlüsselung der indexikalischen Bedeutung der
Äußerungen (Steinke 1999: 28ff.). Garfinkel (1967) hat in der Ethnomethodologie
das Konzept der Indexikalität aufgegriffen: Äußerungen und Handlungen sind nur
dann verstehbar, wenn auf den Kontext ein Rückgriff möglich ist (vgl. Schütz 1971).
Menschliche Handlungen (auch Kommunikation) entwickeln sich nicht auto-
nom, sondern sind in einem historischen und sozialen Kontext eingebettet, der
nicht statisch, sondern prozesshaft ist. Diese Einsicht bedeutet für die qualitative
Forschung, dass der soziale, historische, kulturelle, situative und biografische
Kontext in den Äußerungen und Handlungen mit einbezogen werden muss, um
die Bedeutung der Antworten verstehen zu können. Eine Sichtweise muss konkret
dort, wo sie auftritt, untersucht werden, da sie Ausdruck der jeweiligen Bedingung
und des Kontextes ist.69
Vermieden werden muss allerdings die vollständige Rollenübernahme.
Vor-Ort-Aufenthalte, teilnehmende Beobachtungen sowie allgemeine Beobach-
tungen sind ein geeigneter Weg, um Kontextualität herzustellen. Für die Forscherin
gilt dabei die paradoxe Bewegung, sich dem Untersuchungsgeschehen so weit wie
möglich zu nähern und sich gleichzeitig von ihm zu entfernen (Bergmann 2010:
59). Ihre Aufgabe ist es also, eine geeignete Balance zwischen Engagement und
Distanzierung zu finden (vgl. Elias 1987/2003a). Forschungspraktisch lässt sich
diese Anforderung mithilfe einer transkribierten Audioaufzeichnung realisieren, die
eine genaue und sprachwissenschaftliche Analyse zulässt, ohne dabei vorschnelle
Motivzuschreibungen zu provozieren. Auf diese Weise kann die Befragung „ihrer
Flüchtigkeit“ (Bergmann 2010: 59) entrissen werden.

5.1.4.4 Prinzip der Prozessualität


Im Verlauf des Forschungsprozesses können die Erhebungsinstrumente nachge-
steuert sowie der Erkenntnisprozess und die Forschungsfrage präzisiert werden.
Die Möglichkeit der Nachjustierung der Erhebungsmethode ist eine Stärke der
qualitativen Forschung. Sie beweist, dass die Forscherin mit der Forschungssi-
tuation reflexiv und kontextsensitiv umgeht und neue Erkenntnisse mit einbe-
zieht, die sich in der Auseinandersetzung mit den Daten entwickeln. Eine starre
Vorgehensweise würde verdecken, ob die untersuchten Faktoren auch tatsächlich
vorhanden sind. Diese Forschung kann auch als ein spiralförmig-hermeneutischer

69 Die „Notwendigkeit des Vertrautwerdens“ betont auch Birgit Volmerg: „Der Kontext
kann nur ermittelt werden, wenn die Forschenden selbst Mitglieder der Regeln werden,
die in der Situation des Handelns gelten.“ (Volmerg 1988: 131)
120 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Erkenntnisprozess beschrieben werden, der die Grundlage der Grounded Theory


bildet (vgl. Kurt 2002, 2004; Kruse 2011: 14f.). Steinke (1999) spricht in diesem
Zusammenhang in Anlehnung an Strauss (1991) von der „Zirkularität der For-
schung“ (Steinke 1999: 40ff.): Eine feste Abfolge der Forschungsschritte ist in der
qualitativen Forschung nicht vorgesehen. Erhebungs- und Auswertungsschritte
wechseln sich – wenn nötig – immer wieder ab (vgl. Strauss 1991: 46). Zudem wird
die Fallauswahl nicht vollständig vor dem Forschungsprozess getroffen. Neue
Erkenntnisse bestimmen die neuen Fälle. Diese Vorgehensweise wird „theoreti-
cal sampling“ genannt (Strauss 1991: 70). Die zirkuläre Vorgehensweise bedeutet
auch, dass die Zahl der zu untersuchenden Fälle erst im Verlauf der Forschung
bestimmt wird. Das Sampling ist beendet, wenn eine theoretische Sättigung im
pragmatischen Sinne erreicht ist. Voraussetzung für Zirkularität ist Reflexivität.
Die Forscherin arbeitet mit einer reflektierten methodischen Einstellung und
kann so Gegenstand und Analyse immer wieder neu aufeinanderbeziehen. Aber
auch das Wechselspiel zwischen Forscherin, Erforschten und Gegenstand befindet
sich in einer ständigen Reflexion.

5.1.4.5 Prinzip des Fremdverstehens als Erkenntnisprinzip


rekonstruktiver Forschung
In der rekonstruktiven Sozialforschung ist das entscheidende Erkenntnisprinzip
das Verstehen. Über das Verstehen gelangt man zum Sinn der Äußerungen, die
in den Texten (Transkripte) zu finden sind. Hitzler (1993) definiert in Anlehnung
an Schütz Verstehen als „jenen Vorgang […], der einer Erfahrung Sinn verleiht“
(ebd.: 223f.). Dabei ist Verstehen eigentlich eine alltägliche Welterschließung und
Sinndeutung (vgl. Soeffner 2004). Der Unterscheid zwischen alltäglichem und
wissenschaftlichem Verstehen ist der Umgang mit „Selbstverständlichem“: Im
Alltag wird Irrationalität pragmatisch rational behandelt („Was nicht passt, wird
passend gemacht.“) (vgl. Kruse 2011: 39). In der Wissenschaft hingegen sollen
selbstverständliche Sinnstrukturen angezweifelt, wieder befremdet und „ent-selbst-
verständlicht“ (Breuer 2010: 28) werden. Schütz (1974) hat darauf hingewiesen, dass
Verstehen auch immer „Fremdverstehen“ bedeutet, denn der Sinn wurde bereits
durch andere verliehen. Jede Kommunikation, also auch die zwischen Interviewer
und Interviewtem, wirft deshalb Probleme des Fremdverstehens auf und fordert eine
spezifische Erkenntnishaltung, die Breuer als „reflektierte Offenheit“ bezeichnet
(vgl. Breuer 2010: 28). Für den Forscher bedeutet es zum einen das Verstehen von
bereits Verstandenem, also einem Verstehensprozess zweiter Ordnung. Aber in
der rekonstruktiven Sozialforschung reicht diese Sichtweise nicht aus und wird
zum anderen in einen Verstehensprozess dritter Ordnung erweitert, also dem
Fremdverstehen des fremdverstandenen Fremdverstehens (vgl. Kruse 2011: 19ff.).
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 121

Forscher stellen das eigene Relevanzsystem zurück, um dem Prinzip der Offenheit
Rechnung zu tragen. Sie wollen den Sinn der Äußerungen rekonstruieren und nicht
ihren Sinn hineinlegen. Im Forschungsprozess wird auch die eigene Forschung
erforscht wird und der Forscher erfährt dabei immer auch viel über sich selbst.
Diese Metaebene ermöglicht dann Erkenntnisfortschritte im Forschungsprozess.

5.1.5 Validität rekonstruktiver Forschungsergebnisse

Die vorausgegangenen Ausführungen können in zentrale Grundprinzipien zu-


sammengefasst werden:

Tabelle 1 Grundprinzipien quantitativer und qualitativer Forschung


(Kruse 2011: 268)
Quantitative Forschung Qualitative Forschung

Objektivität x Intersubjektivität (Interpretations-Intersubjektivität)


x Reflektierte Subjektivität (Intersubjektive
Nachvollzieh- und Überprüfbarkeit)
x Transparenz und Dokumentation

Interne Validität (Gültig keit der x Konsistenzregel


Datengewinnung und -analyse) x Interpretations-Intersubjektivität
x Analysegruppe, kollegiale Validierung
x Kommunikative Validierung (Besprechung der
Ergebnisse mit den Befragten)

Externe Validität (statistische x theoretisches Sample


Repräsentativität) x Repräsentation
x Qualitatives Sample

Reliabilität x Konsistenzregel

Diese Grundprinzipien sind gerade auch im Zusammenhang der Diskussion um


Gütekriterien in der qualitativen Forschung zusehen. Diese Gütekriterien reflek-
tieren und validieren den Forschungsprozess. Kruse (2011) unterscheidet zwischen
angemessenen und unangemessenen Rekonstruktionen von „Wirklichkeit“. Hier
sei wieder auf das Kriterium der „Adäquatheit“ (Elias 1987/2003a: 162) qualitativer
Forschung von Elias hingewiesen, das für den gesamten Forschungsprozess gilt,
aber eben auch ganz konkret für den Prozess der Rekonstruktion, also der Da-
tenanalyse wie Kruse feststellt: „Gütekriterien messen in diesem Sinne den Grad
der angemessenen Annäherung an das zu Rekonstruierende.“ (Kruse 2011: 266)
In Abgrenzung zu den Gütekriterien der quantitativen Sozialforschung (Objekti-
122 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

vität, Reliabilität, interne und externe Validität), haben sich Gütekriterien für die
qualitative Sozialforschung entwickelt, die die erkenntnistheoretischen Grundla-
gen als auch die methodischen Verfahrensprinzipien der qualitativen Forschung
berücksichtigen (vgl. Steinke 1999: 43ff., Steinke 2010: 319ff.).

5.2 Methodisches Vorgehen


5.2 Methodisches Vorgehen
Im Folgenden wird das methodische Vorgehen dieser Studie auf Grundlage der
bereits beschriebenen methodischen Prinzipien und im Sinne intersubjektiver
Nachvollziehbarkeit dokumentiert. Dazu zählen unter anderem die Wahl der
Methoden, die Darstellung neuer Erkenntnisse im Forschungsprozess und das
praktische Vorgehen.

5.2.1 Die sozialwissenschaftliche Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung als eine wissenschaftliche Methode der Sozialfor-


schung, in der die Forscherin selbst eine Rolle einnimmt, ist der erste Zugang zum
Feld und eine „unmittelbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit“ (König
1973: 50). Die Aufgabe der Forscherin ist das Verstehen eines für sie fremden Mi-
lieus in einem interaktiven Prozess zwischen ihr und den zu Beobachtenden. Das
Fremdverstehen wird zur Grundlage und Methode der Beobachtung (vgl. Lamnek
2005: 552). Verstehen ist Fremdverstehen (Schütze et al. 1973).

5.2.1.1 Zugang zum Forschungsfeld


Zu Beginn der Studie war die Forscherin Mitglied im sogenannten „KVP-Büro“.
Diese Zugehörigkeit eröffnete den Zugang zu den mit der Reorganisationsmaß-
nahme beauftragten Verantwortlichen und erlaubte einen ersten Einblick über
dessen „innere“ Realität. In dieser Abteilung liefen alle Fäden des GPS zusam-
men. Die Forscherin hatte die Möglichkeit, an strategischen Sitzungen teilzu-
nehmen. Wichtig war es, unermüdlich auf die Position als Doktorandin bzw.
Sozialforscherin hinzuweisen, um der Forscherin selbst und anderen die Rolle
als teilnehmende Beobachterin in der Organisation bewusst zu machen und die
notwendige Distanz zu wahren („Grenzerhaltung“, Wolff 2010: 340). Aufgrund
der ständigen Präsenz, kann leicht die Situation eintreten, derart intensiv in die
Organisation hineinzuwachsen, dass der objektive Blick für Handlungen und
5.2 Methodisches Vorgehen 123

Interaktionen der Akteure verloren geht. Nach Wolff handelt es sich beim Zu-
gang zum Feld um ein „eigenständiges soziales Phänomen“ (Wolff 2010: 339), das
bewusst gestaltet werden muss. Daher waren die zu Beginn der Forschungsarbeit
geführten Gespräche mit Vertretern des Werkmanagements und des Betriebsrats
eine vertrauensfördernde Maßnahme. Der Umgang mit solchen Akteuren, den
„Gatekeeper“ (Türöffner, Schlüsselpositionen) der Organisation, ist von strategi-
scher Bedeutung. Erst die Zustimmung dieser Mitglieder ermöglicht den Zugang
zum Feld (vgl. Wolff 2010: 342).
Der Kontakt zum Betriebsrat erfolgte mit einer Vorstellung der Forscherin und
ihrem Forschungsvorhaben in den zuständigen Gremien und Ausschüssen. Im
Anschluss entwickelte sich dann ein persönlicher Dialog zwischen der Forscherin
und einzelnen Betriebsräten, der sich während der gesamten Studie regelmäßig
fortsetzte. Der einvernehmliche Verlauf der Vorgespräche eröffnete den unein-
geschränkten Zugang in das Innere der Organisation und die Zustimmung zur
Kontaktaufnahme zu allen für die Forschung notwendigen Organisationsmitglie-
dern. Mit dem Datenschutzbeauftragten des Betriebsrates wurden das generelle
Design, die Kriterien der Forschungsethik, des Datenschutzes, die Richtlinien
für die Aufzeichnung von Gruppendiskussionen und die Anonymisierung der
personenbezogenen Daten besprochen. Die Kriterien wurden schriftlich fixiert,
sodass das Verfahren die Zustimmung erhielt.
Anschließend folgte das „Eintauchen“ in die soziale und betriebliche Realität.
Es war wichtig, in direktem Kontakt mit den Akteuren im Forschungsfeld zu
sein, um die Realität in ihrer Komplexität adäquat zu deuten und ein umfassen-
des Verständnis zu entwickeln. In den folgenden Gesprächen ging es darum, das
Forschungsvorhaben und seinen Nutzen zu beschreiben. Die Studie sollte die
Einführung des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) im Rahmen eines
Ganzheitlichen Produktionssystems (GPS) untersuchen und den Schwerpunkt
auf die Beschäftigtenperspektive legen. In Zeiten betrieblicher Reorganisationen
„werden für die Betroffenen Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und damit
grundlegende Bedürfnisse, berufliche Selbstbilder und Ich-Ideale wieder bewusster
zugänglich“ (Senghaas-Knobloch et al. 1997: 34). Die Einführung des KVP war
zum Zeitpunkt der Studie ein „brennendes Thema“, das auf allen Ebenen der
Organisation diskutiert wurde. Damit war ein gemeinsames Interesse zwischen
Forscherin und Akteuren der Organisation formuliert worden.
124 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

5.2.1.2 Praktische Durchführung der Beobachtungen


Der Kontakt zu den Produktionsmitarbeitern erfolgte in fünf KVP-Workshops,
bei denen die Forscherin die Rolle der teilnehmenden Beobachterin einnahm.
Damit erhielt sie einen direkten Zugang zum Feld und den Akteuren. Für eine
Ausarbeitung der Sicht „von Innen“ (Flick 2010: 14), war es notwendig, die Welt
mit den Augen der Akteure im Betrieb zu sehen, ohne dabei die Distanz als
Forscherin zu verlieren. Die Forscherin machte sich also mit der KVP-Praxis
vertraut, um später während der Erhebungssituation die benannten Themen und
Zusammenhänge verstehen zu können. Zudem konnten interessante Einblicke in
den Arbeitsalltag und in den Umgang mit betrieblichen und sozialen Konflikten
erlangt werden. Diese tiefen Einblicke sind nicht mit der Durchsicht der vorhan-
denen Textquellen (Betriebsvereinbarungen, Broschüren, Präsentationen etc.)
zu erreichen. Selbstverständlich erfolgt zusätzlich die Analyse der Dokumente,
die im Kontext des Forschungszusammenhangs stehen. Ausschlaggebend für
die Erforschung der sozialen Realität ist die „Betrachtung der Erlebnisseite“
(Senghaas-Knobloch et al. 1997: 40), dessen Gegenhorizont das theoretische
Konzept bildet und in Wechselwirkung zueinandersteht. Der reale Kontext,
in dem sich die Organisationsmitglieder befinden (Implementierungsphase
des GPS), grenzt sich vom theoretisch Geplanten und Intendierten ab und hält
für sie im Gegensatz zum Konzept des GPS Widersprüche und Ambivalenzen
bereit (vgl. Kühl 2000).
Die Studie nimmt die Erkenntnisse der teilnehmenden Beobachtung als Grund-
lage für anschließende Forschungsschritte. Gleichzeitig erleichtert es den Kontakt
zu Mitarbeitern und ihre Rekrutierung für spätere Befragungen.
Die Teilnahme der Forscherin innerhalb der Organisation ermöglichte zwang-
lose Erhebungssituationen in denen generelle Beobachtungen, viele informelle
Gespräche und Reflexionen über die eigene Forschersituation stattfinden konnten.
Beobachtungseinheiten grenzten konkrete Situationen räumlich-zeitlich ein und
erleichterten die Materialaufnahme und ihre Überprüfbarkeit. Die Konzentration
auf die Beobachtungseinheit „KVP-Workshop“ reduzierte die Komplexität des Beob-
achtungsfeldes und erleichterte die Überprüfbarkeit von realen Zusammenhängen
und wiederkehrenden Mustern. Die KVP-Praxis konnte in der Weise erfahren
werden, wie sie sich für die Untersuchten tatsächlich darstellt und nicht wie die
Forscherin sie sich vorstellte (vgl. Girtler 2001: 30). Die Beobachtungssituation
KVP-Workshop verlief stets nach einem ähnlichen, standardisierten Verlauf (eine
Art Stundenplan inklusive Lernzielen). Der Moderator hatte die Aufgabe, innerhalb
einer Arbeitswoche bestimmte inhaltliche Meilensteine zu definierten Zeitpunkten
zu erreichen und die Gruppendynamik auf diese Weise zu strukturieren. Zudem
wurde der Teilnehmerkreis mit den immer gleichen Positionen besetzt (geregelt
5.2 Methodisches Vorgehen 125

in einer Betriebsvereinbarung zum KVP): Moderator, je zwei Mitarbeiter/innen


aus zwei Schichten, Vertreter des Betriebsrates, Meister, Schichtleiter, Mitarbeiter
des Industrial Engineering sowie optionale Teilnehmer aus Logistik, Planung und
Personalwesen.
In den KVP-Workshops nahm die Forscherin mehrere Beobachterrollen ein.
Innerhalb der beiden letzten KVP-Workshops veränderte sich die Rolle und die
Teilnahmeintensität in der Workshopsituation wurde zurückgenommen (tendenziell
passive Beobachtung). Dieser Wechsel bot sich an, da bereits viele Informationen
gesammelt werden konnten und die Beobachtungen nur noch der Überprüfung
dienten. Die Themen, Konflikte und Interaktionsmuster wiederholten sich.
Die unstrukturierte (Grad der Standardisierung), offene (Grad der Trans-
parenz), direkte (Grad des Realitätsbezugs) und tendenziell aktiv teilnehmende
(Grad des Partizipationsgrades) Beobachtung erwies sich als ideale Form, sich
dem Feld zu nähern und erste wichtige, zunächst provisorische Informationen
zu erhalten, die im weiteren Verlauf der Untersuchung ihren Wert entfalteten. Im
Folgenden werden die gewählten Beobachtungsformen und ihre Differenzierungs-
dimensionen skizziert (vgl. Lamnek 2010: 513):

Grad der Standardisierung:


unstrukturierte vs. strukturierte Beobachtung
Die wissenschaftliche Beobachtung wird in strukturierte und unstrukturierte
Formen gegliedert. Je offener die Kategorien sind, mit denen eine Beobachtung
durchgeführt wird, desto mehr erfährt der Forscher etwas über das, was für die
Beobachteten relevant ist (methodische Kontrolle). Da es sich um eine qualitative
Studie handelt, werden Kategorien und Hypothesen nicht zu Beginn, sondern
am Ende formuliert. Somit erweist sich eine strukturierte Beobachtung nicht
als sinnvoll.

Grad der Transparenz:


offene vs. verdeckte Beobachtung
Bei der offenen Beobachtung gibt sich der Beobachter als Forscher zu erkennen,
hält sich aber bei der Beschreibung des Forschungsziels insoweit zurück, dass es
nicht zur Verfälschung der Beobachtungssituation kommt. In der vorliegenden
Studie wurde der Workshopgruppe mitgeteilt, dass die Forscherin die Einführung
des KVP aus der Beschäftigtenperspektive (Produktionsmitarbeiter) untersucht.
Die beschriebene Forschungsabsicht schaffte Vertrauen und Offenheit, da diese
Perspektive offenbar einer Wertschätzung der Mitarbeiter gleichkam. Selbst die
Workshop-Teilnehmer mit Vorgesetztenfunktionen schienen interessiert und
schätzten die Aufwertung und systematische Aufarbeitung dieser Sichtweise
126 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

im KVP, die – so schien es – im Verlauf des Prozesses zu kurz gekommen war.


Die Forscherin erhielt den Eindruck, eine sinnvolle Entscheidung in Bezug auf
die Wahl für die Beschäftigtenperspektive getroffen zu haben. Entscheidend
war in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass die Forschungsabsicht
extern und objektiv entstanden war und es sich nicht um einen Auftrag von der
Unternehmensführung selbst handelte. Sobald die Teilnehmer des Workshops
diese Information von der Forscherin bekamen, lockerten sich die folgenden
Gesprächssituationen deutlich.

Grad des Realitätsbezugs:


direkte vs. indirekte Beobachtung
Diese Dimension betrifft die „Stellung des Beobachtungsmaterials zur Wirklichkeit“
(Lamnek 2010: 512). Ihre Unterscheidung in direkte versus indirekte Beobachtung
wird in der Literatur nur von König (1967) getroffen: Die Feststellung des sozialen
Verhaltens wird just in dem Moment getroffen, in dem sie sattfindet.
In der Forschungspraxis ist die indirekte Beobachtung vor allem in Laborsitu-
ationen vorzufinden. Indirekt bedeutet in diesem Fall, dass der Forscher räumlich
und/oder zeitlich nicht zum Zeitpunkt der Beobachtungssituation anwesend und
um eine Dimension weiter von der Wirklichkeit getrennt ist.

Grad des Partizipationsgrades:


tendenziell aktiv teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung
Im Verlauf der Beobachtungseinheit wird die Forscherin zwischen den Polen der
aktiv teilnehmenden und nicht teilnehmenden Beobachtung hin und her schwan-
ken. Im vorliegenden Fall handelt es sich tendenziell um eine aktiv teilnehmende
Beobachterrolle, die zum Ende der gesamten Beobachtungsphase in eine eher
passive Rolle übergeht. In der Praxis sind eher Mischformen der Beobachtung mit
mehr oder weniger Teilnahme typisch.
Offen gestaltete Beobachtungsfragen (z. B. Wer sind die Teilnehmer? Wer steht
mit wem wie in Beziehung?), die die Forscherin an die Kommunikationssituation
stellte, dienten als Richtschnur für den ersten Zugang zum Feld (vgl. Ernst 2010: 90f.;
Lamnek 2010: 562f., ausführlich Jahoda et al. 1966: 84f.). Notiert wurden generell:
Teilnehmer, Themen, Zitate, Beziehungen, Widersprüche, Kommunikationsmittel
(sprechen, spielen, arbeiten).
In den Pausen und im Anschluss an die KVP-Workshops wurden in einem
Gedächtnisprotokoll gemäß der oben dargestellten Leitfragen Auffälligkeiten
und Regelmäßigkeiten, die auf allgemeine Handlungsmuster schließen ließen, im
„Forschungstagebuch“ (Altrichter/Posch 2007: 30ff.) protokolliert und bereits mit
einer unstrukturierten Fragensammlung für die Leitfadenerstellung begonnen.
5.2 Methodisches Vorgehen 127

Das auffällige Mitschreiben während der Beobachtungssituation wurde bewusst


vermieden und auf unbeobachtete Momente verschoben. Im Protokoll wurde
darauf geachtet, zwischen beobachtbarem Verhalten und eigenen Interpretati-
onen zu unterscheiden. Angesprochene Themen sowie das Verhalten der Work-
shop-Teilnehmer ergaben im Verlauf der Beobachtungsphase erste vorläufige Ideen
für Verhaltensmuster und -normen, die einer späteren Überprüfung unterzogen
werden konnten. Das Forschungstagebuch war ein ständiger Begleiter während
der gesamten Erhebungs- und Analysephase. Im Verlauf der Beobachtungen prä-
zisierten sich auch die Forschungsfrage sowie die damit verbundene Entwicklung
des Leitfadens für die geplanten Gruppendiskussionen.

5.2.2 Das Gruppendiskussionsverfahren

Gruppendiskussionen (Bohnsack 2007) sind besonders geeignet, einen Zugang zu


„kollektiven Orientierungsmustern“ zu erhalten. Latente Meinungen und Deu-
tungsmuster werden im Gruppenprozess deutlich. Dabei werden diese Gruppen-
meinungen nicht erst in der Diskussion produziert, sondern aktualisiert. Bei den
Mitgliedern dieses „Kollektivs“ handelt es sich um soziale Milieus, um Menschen,
die z. B. durch eine gemeinsame soziale Lage miteinander verbunden sind (berufliche
Sozialisation im gleichen Unternehmen, sozialräumliche Gemeinsamkeit), aber
nicht zwingend in einer Kommunikationsbeziehung stehen (vgl. Bohnsack 2007:
377). Die Gruppendiskussion ist nicht der soziale Ort, an dem Meinungen und
Deutungen entstehen, sondern kollektive Erfahrungen artikuliert und repräsentiert
werden (ebd.: 377f.). Sie können als „Dokument für repräsentante Prozessstruktu-
ren“ (Loos/Schäffer 2001: 101) aufgefasst werden und werden „insofern […] sowohl
in ihrer Prozesshaftigkeit und Emergenz, als auch hinsichtlich der Repräsentanz
kollektiver Tiefenstrukturen analysiert“ (ebd.: 101).
In Gruppendiskussionen pendeln sich die Teilnehmer auf die Zentren gemein-
samer Erfahrungen ein, die den gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraum
repräsentieren und dokumentieren (Bohnsack 2007: 379). Die Methode der Grup-
pendiskussion ist ein valider empirischer Zugang zu kollektiven Sinnzusammen-
hängen, die sich jenseits des wörtlichen Sinns und der kommunikativen Absicht
bilden (vgl. ebd.: 378).70

70 In Gruppendiskussionen werden aber auch Sichtweisen vorgetragen, die vom gemein-


samen Konsens abweichen (Senghaas-Knobloch/Nagler 2000). Eine andere Intention
von Gruppendiskussionen ist die empirische Erfassung ganzer „gesellschaftlicher
Teilbereiche“ (Krüger 1983: 106) (z. B. in der Industriesoziologie bei der Untersuchung
von Strukturen in Großunternehmen) (Lamnek 2010: 377).
128 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Die dokumentarische Methode ist besonders für die Arbeits- und Organisations-
forschung (Implementierung von neuen Arbeitsorganisationsformen) geeignet, da
gerade auf diesem Feld zwischen den normativen Vorgaben der Organisation und
der handlungspraktischen, meist implizit bleibenden Alltags- und Erlebniswelt der
Organisationsmitglieder zu unterscheiden ist, wobei die Erlebnisseite den Fokus
der empirischen Analyse bildet.

5.2.2.1 Methodologische Grundlagen der dokumentarischen


Methode
Im Folgenden wird die theoretisch-methodologische Ebene der dokumentarischen
Ebene skizziert. Die Entstehung dieser Methode geht zurück auf Karl Mannheim
(1964), der eine alternative Erkenntnislogik zur naturwissenschaftlichen Methodolo-
gie formulierte und diese in Auseinandersetzung mit eigenen empirischen Arbeiten
entwickelte. Seine Arbeiten fanden allerdings kaum Beachtung und wurden kaum
rezipiert. Mannheims Schriften zur Wissenssoziologie wurden erst durch Ralf
Bohnsack (1983) für eine breite Anwendung in der empirischen Sozialforschung,
insbesondere im Hinblick auf Gruppendiskussionen (1989), anwendbar gemacht
(vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2010: 271).
Die vorliegende Studie orientiert sich an den forschungspraktischen und
theoretischen Arbeiten von Ralf Bohnsack. Die „dokumentarische Methode der
Interpretation“ ist ein zentraler Begriff der Wissenssoziologie Karl Mannheims.
Er geht davon aus, dass „das Fremde nur in seiner jeweiligen Milieu- und Seinsge-
bundenheit zu begreifen ist“ (Liebig/Nentwig-Gesemann 2009: 107). Mit der Grun-
dannahme, dass die Weltanschauung etwas Gewordenes ist, muss versucht werden,
den Entstehungsprozess anhand der Gestalt der Äußerungen zu rekonstruieren.
Der Forscher, der milieufremd ist, muss dabei, um die Angehörigen des Milieus
verstehen zu können, in ihren „konjunktiven“ Erfahrungsraum eintauchen. Damit
vermeidet der Forscher eine Interpretation, der von einer Gruppe dargestellten
Erlebnisse, auf Grundlage des eigenen Erfahrungsraums. Das virtuelle Eintauchen
in den konjunktiven Erfahrungsraum erlaubt die Rekonstruktion der Genese ihrer
handlungsleitenden Orientierungen aus diesem Kontext heraus. Es geht nicht um
die Frage nach den gesellschaftlichen Tatsachen, sondern wie Lebensverhältnisse,
soziale Lagen und auch Fremdzuschreibungen individuell erlebt, interpretiert und
verarbeitet werden, denn die Sozialwissenschaften haben den sozialen Menschen
als Voraussetzung (vgl. Mannheim 1980: 84). Mithilfe der Analyse habitualisierter
Handlungspraxis und handlungspraktischen Erfahrungswissens (atheoretisches
Wissen) kann zudem rekonstruiert werden, wie gesellschaftliche Tatsachen von
den Akteuren selbst interaktiv bzw. diskursiv hergestellt werden (vgl. Liebig/
Nentwig-Gesemann 2009: 107f.).
5.2 Methodisches Vorgehen 129

Ziel der dokumentarischen Methode ist die Rekonstruktion des handlungslei-


tenden Erfahrungswissens. Diese zeigt die Verknüpfung von gesellschaftlichen
Strukturen und menschlichen Handlungen. Mit der Erfassung des Orientierungs-
rahmens in der dokumentarischen Methode ist dem Fremdverstehen ein methodisch
kontrollierter Zugang zu kollektiven Orientierungsmustern ermöglicht worden.

Zusammenhang von Erhebungs- und Auswertungsmethode


(analog zur Grounded Theory)
Bohnsack fokussiert mit seiner Methode auf die sogenannten konjunktiven Erfah-
rungsräume (kollektives Wissen), die gelebtes und handlungsrelevantes Wissen
(atheoretisches Wissen) beinhalten. Um den Zugang zu diesen in der Gruppen-
diskussion aktualisierten Sinnstrukturen zu erhalten, ist eine prozessorientierte
Perspektive notwendig, d. h., wie verläuft die Diskussion: Wie nehmen die Akteure
aufeinander Bezug und wie werden Themen gestaltet. Notwendige Voraussetzung
ist das Prinzip der Offenheit, das die freie Entfaltung der Relevanzsysteme der
Befragten gewährleistet. Konkret bedeutet dieses Vorgehen gering strukturierte
Diskussionsverläufe und so wenig Eingriff des Moderators wie möglich.

Das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraumes


Karl Mannheim (1980) unterscheidet zwei Wissensbestände: Das „kommuni-
kativ-generalisierende“ (immanente) Wissen umfasst die in einer Gesellschaft
öffentlichen, allgemeingültigen und anerkannten Wissensbestände, die für eine
alltägliche Verständigung unter den Subjekten grundsätzlich notwendig sind.
Das „konjunktive“ Wissen ist jenes Wissen, das sich Subjekte in den konkreten
familiären, gruppen- und milieuspezifischen, d. h. konjunktiven Erfahrungsräu-
men aneignen (vgl. Kruse 2011: 190) (über Sozialisation und Erziehung). Dabei
handelt es sich um implizites Wissen (z. B. Zeit- und Sprachsymbole), also um
„sozial geteilte Sinnstiftungsmuster, die intuitives Verstehen ermöglichen, es also
nicht erforderlich machen, Sinn kommunikativ auszuhandeln“ (ebd.: 280). Das
handlungspraktische Wissen „als nicht expliziertes, von der Erfahrung geprägtes
und sie zugleich orientierendes Wissen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 277) ist
den Akteuren zwar nicht bekannt, befähigt sie aber in einem Kollektiv zu handeln.
Sie müssen dabei nicht zwingend wissen, was sie machen, nur beherrschen, wie sie
es machen (dem eine Gestalt geben) (ebd.: 280). Das konjunktive Wissen emergiert
in gemeinsamen (konjunktiven) Erfahrungsräumen und wird von Mannheim
als „Fond, der unser Weltbild ausmacht“ erfasst (vgl. Mannheim 1980: 207). Die
konjunktive Ebene erfasst auch den zeitlichen und räumlichen Standort. Der
Forscher ist mit einzubeziehen, denn er ist Teil des Untersuchungsgegenstands
(vgl. Ernst 2010: 63).
130 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Die dokumentarische Methode unterscheidet zwei Sinnebenen, die den Aus-


wertungsschritten eine Struktur geben: den „immanenten“ und den „dokumen-
tarischen“ Sinn. Der immanente Sinn einer Äußerung lässt sich unabhängig vom
Entstehungszusammenhang überprüfen. Die Interpretationen bleiben dabei dem
Kontext immanent. Der dokumentarische Sinn (Dokumentsinn) fragt hingegen nach
der Genese und dem historischen Entstehungszusammenhang von Äußerungen
(analog zur rekonstruktiven Prozessanalyse nach Elias). Dabei wird nicht nach
wahr oder richtig gefragt, sondern nach dem „Sein“ dieser Handlung in ihrem je
individuellen Entstehungszusammenhang.
Die Basis des Dokumentsinns sind konjunktive (verbindende) Erfahrungen.
Der konjunktive Erfahrungsraum ist gefüllt mit atheoretischem Wissen, das
den Individuen innerlich ist und sie befähigt zu handeln bzw. sie im Handeln
einschränkt (Dualität von Struktur; Giddens 1997). Da dieser Zustand den Ak-
teuren nicht bewusst ist, können sie es nicht anzweifeln (vgl. Matthiesen 1985: 86;
in Bohnsack 2010: 112). Es ist verkörpertes, handlungspraktisches Wissen, das
erst im Miteinander (diskursive Praxis) vervollständigt wird (vgl. Przyborski/
Wohlrab-Sahr 2010: 280):

„Der konjunktive Erfahrungsraum „erfasst vielmehr eine von der konkreten Gruppe
gelöste Kollektivität, indem er diejenigen miteinander verbindet, die an Handlungs-
praxen und damit an Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben, die in einem
bestimmten Erfahrungsraum gegeben sind.“ (ebd.: 282)

Menschen nehmen an verschiedenen Erfahrungsräumen teil. Unterschieden


werden können geschlechts-, bildungsmilieu-, generations- und entwicklungss-
spezifische Erfahrungsräume, die sich über eine Kombination der handlungs- bzw.
interaktionspraktischen Sozialisation und das Erfahren von Fremdzuschreibungen
konstituieren (vgl. ebd.). Mit dem Begriff konjunktiver Erfahrungsraum beschreibt
Mannheim eine Kollektivität, die vom Begriff Gruppe analytisch zu trennen ist.
Eine Gruppe ist durch persönlichen Kontakt gekennzeichnet, Mitglieder eines
konjunktiven Erfahrungsraumes hingegen durch gemeinsame Erfahrungen, die
sie verbinden, ohne in persönlichen Beziehungen stehen zu müssen (vgl. Bohnsack
2007: 377). Die kollektiven Orientierungsrahmen beruhen auf den konjunktiven
Erfahrungsräumen der Befragten.
Die sozial geteilten Erfahrungen der Menschen innerhalb der gleichen Orga-
nisation (implizite/explizite Normen, Regeln und Rollenerwartungen) können in
Gruppendiskussionen artikuliert und damit aktualisiert werden.
5.2 Methodisches Vorgehen 131

Sprache
Auch Sprache ist nach Mannheim (1980: 217ff.) nicht unabhängig von den kon-
junktiven Erfahrungsräumen zu deuten und muss immer im Kontext verstanden
werden. Sprache und ihre Bedeutung ist dynamisch und kann lediglich eine Fi-
xierung von Bedeutung in einem spezifischen Handlungskontext darstellen. Auf
der Sprachebene lassen sich beide Sinnebenen ausfindig machen: zum einen als
allgemeine Bedeutung eines Begriffs und zum anderen als konjunktive Bedeutung in
der konkreten Handlungspraxis. „Als in Handlungsvollzüge und in Körperlichkeit
eingeschriebenes Wissen kommt man in der Interpretation dem Dokumentsinn
insbesondere über die Performanz, die Gestaltung und über (sprachliche) Bilder
auf die Spur“ (ebd.: 281).

5.2.2.2 Auswahl der Befragungsgruppen (theoretical sampling)


Das Gütekriterium für Stichproben ist das Kriterium der inneren Repräsentati-
vität: „[E]ine angemessene Repräsentation […] [ist] immer dann erreicht, wenn
einerseits der Kern des Feldes in der Stichprobe gut vertreten ist und andererseits
auch die abweichenden Vertreter hinreichend in die Stichprobe aufgenommen
worden sind“ (Merkens 1997: 100).
Die Stichprobe muss eine Vielfalt von Varianten sowie das Typische des unter-
suchten Feldes aufweisen. In Anlehnung an das im Rahmen der Grounded Theory
entwickelte „theoretical sampling“ von Glaser und Strauss (2005: 51) wurden die
Fälle nach dem Prinzip der minimalen und/oder maximalen strukturellen Vari-
ation spezifischer sozialer Merkmale ausgewählt.
Die Auswahl der Gruppendiskussionsteilnehmer orientierte sich an den Er-
kenntnissen der forschungsleitenden Konzepte und den Ergebnissen der teilneh-
menden Beobachtungen innerhalb der Untersuchungseinheit „KVP-Workshop“,
die zum Zeitpunkt der Untersuchung im Fallbetrieb stattfanden. Dem Konzept
des konjunktiven Erfahrungsraums folgend wurden möglichst homogene Grup-
pen gebildet, die allerdings nicht den natürlichen Charakter eines Teams oder
einer Arbeitsgruppe hatten, sondern grundsätzlich homogen hinsichtlich der
„Betroffenheit“ gegenüber dem Untersuchungsgegenstand KVP waren. Eine
externe Homogenität war zudem dadurch gegeben, dass sie alle Beschäftigte des
gleichen Werks im Produktionsbereich (direkter Bereich) innerhalb der gleichen
Hierarchiestufe mit ähnlichen Aufgaben waren. Einem Autoritätsgefälle, das zur
Verzerrung der Daten hätte führen können, wurde damit entgegengewirkt. In
solchen Gruppendiskussionen wird die Offenheit der Beiträge eher verhindert, da
sich interdependente Menschen verschiedener Figurationen gegenübersitzen, was
dazu führt, dass Redebeiträge aus Angst vor Sanktionierung (soziale Kontrolle)
ausbleiben oder sich Meinungen an antizipierte Auffassungen der machtstärkeren
132 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Gruppe anpassen. Heterogen waren die Gruppen lediglich in ihrer Zugehörigkeit


zu Gewerken (Karosseriebau, Lackiererei, Montage und Logistik). Diese Varianz
sollte die Lebhaftigkeit und Dynamik der Diskussion erhöhen, da die Gewerke
Suborganisationen innerhalb des Fallbetriebes sind und sich eigene Kulturen
und Gesetzmäßigkeiten aufgrund unterschiedlicher technisch-organisatorischer
Voraussetzungen ausgebildet haben. Diese Gruppenzusammensetzung regte die
Teilnehmer dazu an, den anwesenden Kollegen und dem Moderator Erzählungen,
Argumente und Selbstverständlichkeiten ausführlicher zu erläutern. Zwischen
den Gruppen herrschte Heterogenität, die sich in KVP-Workshopteilnehmer und
Nichtteilnehmer ausdrückte.
Des Weiteren wurde noch eine Mischgruppe gewählt, um die Kontrastierung
zwischen KVP-Teilnahme und Nichtteilnahme den Diskussionsteilnehmern
zu überlassen. Damit wurde eine erweiterte methodische Kontrolle der von der
Forscherin durchgeführten komparativen Analyse zwischen den beiden anderen
Gruppendiskussionen gewährleistet. Diese Gruppe entsprach dabei sogar noch
mehr der alltäglichen Arbeitspraxis, da die Arbeitsteams aus eben diesen beiden
Gruppen bestehen und zusammenarbeiten. Aber auch die Annahme, dass die
wechselseitige Bezugnahme der KVP-Teilnehmer und Nichtteilnehmer in einer
Gruppendiskussion zu klärenden Diskursen und weiteren (offensichtlicheren)
Horizonten sowie kollektiven Orientierungen führen würde, führte zur Bildung
einer gemischten Gruppe.
Die Auswahl der Gruppendiskussionsteilnehmer folgte dem Kriterium der
Repräsentativität: Das Sample war relevant für den Untersuchungsgegenstand
(Aussagen zum Untersuchungsgegenstand machen können: Bewältigung der Im-
plementierung des KVP aus Beschäftigtensicht), entsprach im weitesten Sinn der
Forschungsfrage und repräsentierte typische Merkmale des Untersuchungsfelds.
5.2 Methodisches Vorgehen 133

x
Beschäftigte Kürzel
aus der Produktion Gruppendiskussion
GENE (n=8) Zielgruppe 1 (Teilnahme in mind. einem KVP-Workshop);
"Geben und Nehmen" acht Männer, keine Frauen
STEWE (n=5) Zielgruppe 2 (ohne KVP-Workshop-Erfahrung);
"Stehen im Weg" drei Männer, zwei Frauen
BESA (n=4) Mischgruppe (Zielgruppe 1 und 2);
"Beschlossene Sache" drei Männer, eine Frau
Beschäftigte Kürzel
aus der Verwaltung Gruppendiskussion
GEMA (n=5) Zielgruppe 1 (Beschäftigte aus der Verwaltung mit KVP-
"Gemeinsam aufräumen" Workshoperfahrung);
vier Männer, eine Frau
MODIB (n=5) Zielgruppe KVP-Moderator (aus der Verwaltung für die
"Moderatoren Indirekter Verwaltung);
Bereich" vier Männer, eine Frau

Im Verlauf der Untersuchung fiel die Aufmerksamkeit auf eine weitere Befragungs-
gruppe: die innerbetrieblich gewählten KVP-Moderatoren. In Anlehnung an die
Grounded Theory und dem Prinzip der Offenheit wurde der Erkenntnisgewinn
genutzt und das Sample um die Gruppe der Moderatoren erweitert („schrittweise
Auswahl“ nach Flick 2010: 163). Die Auswahl erfolgte aufgrund der Besonderheit
ihrer Biografie im Unternehmen und des Rekrutierungsprozesses zum Moderator.
Die selbstverständliche Anwesenheit der Moderatoren in den KVP-Workshops
brachte die Forscherin dazu, genau dieses zu hinterfragen: Wie wurden die Mo-
deratoren ausgesucht? Warum wurden gerade SIE gewählt? Warum stimmten sie
zu? Oder haben sie sich proaktiv für die Aufgabe beworben? Gab es interne Stel-
lenausschreibungen? Auch im Hinblick darauf, dass diese Aufgabe ohne die groß
angelegte Reorganisationsmaßnahme im Fallbetrieb nicht existieren würde, war
der innerbetrieblich gewählte Moderator von besonderem Interesse. Nach vielen
Gesprächen wurde der Forscherin klar, dass die ursprünglichen Aufgaben und
Positionen der Moderatoren nicht darauf schließen ließen, dass die Moderatorentä-
tigkeit innerhalb der beruflichen Laufbahn ein logischer Schritt gewesen wäre. Sie
alle waren keine ausgebildeten Moderatoren oder Seminarleiter, noch zeichneten sie
sich durch besondere Kenntnisse im Themengebiet KVP oder Reorganisation aus.
Im Gegenteil, sie durchliefen im Rahmen der neuen Tätigkeit mehr oder minder
eine Art Training-on-the-Job (in Theorie und Praxis) und in einigen Fällen verlie-
fen Training und Ausführung sogar zur selben Zeit (just-in-time-Qualifikation,
Entgrenzung). Ihre berufliche Identität und Position im Fallbetrieb und der neue
(zeitlich befristete) Moderatoren-Job führten dabei oft zu Diffusität und Unsicherheit
134 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

bezüglich der emotionalen und formalen Abteilungszugehörigkeit. Die Forscherin


nahm an, dass diese Anzeichen im Hinblick auf die untersuchungsleitenden Aspekte
Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit zu aufschlussreichen Ergebnissen
führen könnte und einen entscheidenden Hinweis für das Erkenntnisinteresse
gewandelter Fremd- und Selbstzwänge liefern könnte.
Im Hinblick auf die je individuellen Rekrutierungsgeschichten der Modera-
toren für den Produktionsbereich war die Annahme (als Resultat informeller
Gespräche der Forscherin mit den KVP-Moderatoren), dass im Kollektiv keine
offene Gesprächssituation zu erwarten wäre und so fiel die Wahl auf (teilnarrative)
Einzelinterviews, um einer Verzerrung der Ergebnisse zu entgegenzuwirken. Die
Explikation der Methode erfolgt in Abschnitt 5.2.3. Die Auswahl und Rekrutie-
rung der Teilnehmer für die Einzelinterviews sowie für die Gruppendiskussionen
entsprach demselben Prozess.
Mit den Moderatoren im indirekten Bereich (Verwaltung) wurde hingegen eine
Gruppendiskussion vorbereitet, da sie die neue Tätigkeit „nebenbei“ absolvierten
und aus Gesprächen klar wurde, dass keine Tabuthemen hinsichtlich ihrer Rekru-
tierung zu erwarten waren. Hier war eher der Diskurs der Teilnehmer zu ihrem
je individuellen Rekrutierungsprozess von besonderem Forschungsinteresse. Die
Ergebnisse der Einzelinterviews und Gruppendiskussionen wurden komparativ
aufeinander bezogen und es war zudem möglich, die im Diskurs herausgearbei-
teten Motive und kollektiven Orientierungen mithilfe der Einzelinterviews zu
kontrollieren. Im folgenden Abschnitt wird der bereits angesprochene Prozess
der Rekrutierung dokumentiert.

5.2.2.3 Rekrutierung der Interviewpartner


Die Rekrutierung der Interviewpartner erfolgte in vielfältiger Weise. Einige Pro-
duktionsmitarbeiter wurden bereits während der Beobachtungssituation oder kurz
danach bezüglich einer generellen Bereitschaft persönlich angesprochen. Auch
das Schneeballsystem wurde genutzt, indem bereits rekrutierte Teilnehmer die
Bereitschaft von Kollegen erfragten. Schnell wurde klar, dass es sich in den meisten
Fällen um gewerkschaftlich organisierte Vertrauensleute handelte, die als Vertreter
der Belegschaft in den Workshops waren71. Die Akzeptanz der Forscherin durch

71 Hierbei handelt es sich um eine Besonderheit des Fallbetriebes. In der Betriebsverein-


barung (BV) zum KVP ist die Teilnahme von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten
nicht explizit bestimmt (oder untersagt) worden. Die Beschreibung der Vertreter der
Beschäftigtengruppe als Workshopteilnehmer lautet: „Ein Teamsprecher bzw. ein
Mitarbeiter je Schicht“. Die Spezifik des Fallbetriebes, das sich der Forscherin zum
Zeitpunkt der Untersuchung auf diese Weise präsentierte, hatte möglicherweise Aus-
wirkungen auf den Verlauf des KVP und auf die Machtverhältnisse der betrieblichen
5.2 Methodisches Vorgehen 135

diese Gruppe eröffnete einen besonderen Zugang zu potenziellen Teilnehmern.


Die Forscherin hatte die Akzeptanz und das Vertrauen des Vertrauenskörpers
(Gatekeeper) gewonnen und so die Möglichkeit bekommen, auch Interviewpartner
ohne politisches Amt (sog. „Mitarbeiter ohne Funktion“) für die Gruppendiskus-
sionen zu rekrutieren.72
Ein dritter Zugang erfolgte über einen „Gatekeeper“ (Schlüsselperson, Türöffner)
aus dem Werkmanagement. Hierbei handelte es sich um den Fertigungsleiter, den
die Forscherin darüber aufklärte, dass sie verschiedene Produktionsmitarbeiter zum
Zweck der Befragung aus der laufenden Produktion nehmen müsse. Nachdem der
geplante Verlauf der Befragungen das Einverständnis der Fertigungsleiters erhielt
und das Interesse für die Studie geweckt war, erhielt die Forscherin eine Einladung
zur obligatorischen Costcenter-Leiterrunde, die über die Studie informiert wurde
mit der Bitte um Mithilfe, weitere Teilnehmer zu finden und zu benennen. Diese
Vorgehensweise wurde mithilfe einer Kriterienliste unterstützt, die sich einerseits
an den von der Forscherin bestimmten Zielgruppenmerkmalen orientierte und
andererseits auch einen Frauenanteil berücksichtigen sollte. Kurze Zeit später
erhielt die Forscherin eine Liste potenzieller Teilnehmer, die von ihren Meistern
vorgeschlagen wurden. Diese Mitarbeiter wurden von der Forscherin persönlich
am Arbeitsplatz besucht und es wurde geklärt, ob es sich definitiv um eine frei-
willige und keine angeordnete Teilnahme handelt. Die Mitarbeiter erhielten einen
Einblick über den Sinn und Zweck der Studie. Nach einer Zusage bekamen alle
Teilnehmer eine standardisierte Einladung mit den wichtigsten Fakten: Kontext
der Studie, Hintergrund der Forscherin, Ort und Zeit der Gruppendiskussion,
Zusammensetzung der Gruppe (Homogenität), Hinweis über die Freiwilligkeit,
Erklärung zur Audio-Aufnahme und zum Datenschutz sowie die erfolgte Infor-
mation an den Betriebsrat. Diese Einladung galt auch als offizielle Unterlage für
den Meister, der die Teilnehmer zur angegebenen Zeit freistellen musste. Um die
Wichtigkeit der Teilnahme für jeden Mitarbeiter zu klären und die Akzeptanz der
Studie zu erreichen, besprach die Forscherin in einem persönlichen Gespräch mit
den zuständigen Meistern der betroffenen Bereiche den Hintergrund der Studie.

Gruppen (Figurationen) und wurde als Kontext mit berücksichtigt. Welche genau das
sind, wird in den Ergebnissen dargestellt.
72 Das ist aus dem Grunde erwähnenswert, da die Vertrauensleute ihre Kollegen schützen
wollen und sie in einer Interviewsituation dem Verhalten der Forscherin und ihrem
Umgang mit Daten ausgeliefert sind.
136 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

5.2.2.4 Von der Forschungsfrage zum Leitfaden


Die Entscheidung für leitfadenstrukturierte Befragungen (teilnarrativ) geht zurück
auf das Forschungsinteresse, das sich auf einen bestimmten Bereich der Arbeits-
organisation (der KVP als Aspekt des GPS) richtet und den Vergleich zwischen
den Fällen („dokumentarische Analyse“ nach Bohnsack) ermöglichen soll. Der
Erzählstimulus sollte genügend Material zur Rekonstruktion subjektiver Deutungen
und kollektiver Orientierungsmustern generieren.
Im ersten Schritt folgten theoretischen Vorüberlegungen, die Sichtung der
vorhandenen empirischen Forschung, der zur Verfügung gestellten Dokumente
zur Reorganisationsmaßnahme und eigene Beobachtungen. Folgende Schritte
waren notwendig, um das gesamte Vorwissen so zu strukturieren, dass es eine
Forschung anleiten kann.

Die forschungsleitenden Annahmen:


Operationalisierung der Forschungsfrage
Als Orientierung für die Untersuchung ist es zunächst sinnvoll, die forschungslei-
tenden Annahmen zu formulieren und sich durch „sensitizing concepts“ (Blumer)
zu spezifizieren, die die Aufmerksamkeit auf empirische Sachverhalte lenken soll.
Die der Studie zugrunde liegenden untersuchungsleitenden Konzepte Entgren-
zung und Subjektivierung von Arbeit (Der Aspekt der Subjektivierung beinhaltet
figurations- und prozesssoziologische Indikatoren.73) sind abstrakt genug, um den
vielfältigen empirischen Phänomenen gerecht zu werden (Prinzip der Offenheit)
und konkret genug für das theoriegeleitete Vorgehen. Ihre Ausformulierung ist
von zentraler Bedeutung, denn damit wird festgelegt, welches Phänomen in der
betrieblichen Realität überhaupt beschrieben werden soll.74

Leitfragen
Die Formulierung des Erkenntnisinteresses mithilfe von Vorannahmen reicht nicht
aus, das Erkenntnisinteresse direkt in einen Leitfaden zu übersetzen. Auf dem Weg

73 Subjektivierung als ein Ausdruck „individueller Selbstermächtigung durch die Stei-


gerung von Selbstkontrollen und […] [als ein Ausdruck, M.F.] von ‚Psychisierung‘ des
Individuums als ‚homo clausus‘, der einsamer und zugleich ‚gefühlvoller‘, reflektierter
und selbstbewusster wird“ (Willems 2012: 134, Fußnote 62; vgl. auch Gehlen 1957:
57ff.).
74 Analog dazu auch die Analyseheuristiken und Interpretationsleitpfade, die in der
Phase der Analyse als „konzeptionelle Scanner“ dienen und die Aufmerksamkeit auf
spezifische sprachliche Phänome richten sollen (Kruse 2011: 198ff. in Anlehnung an
Lucius-Höhne/Deppermann 2002: 55ff.).
5.2 Methodisches Vorgehen 137

dorthin folgt als Zwischenschritt die Formulierung von Leitfragen. Dazu bieten
Gläser und Laudel (2009) eine unterstützende Checkliste an:

ō ņWelche Prozesse und Situationen müssen rekonstruiert werden?


ō Welche Akteure sind an diesen Prozessen beteiligt/befinden sich in diesen Situ-
ationen?
ō Welche Ziele und Interessen hatten diese Akteure bezogen auf die jeweiligen
Prozesse und Situationen?
ō Welche Handlungen, Handlungsbedingungen und Handlungsresultate beein-
flussen den Verlauf der Prozesse/die Situationen?
ō Welche Konflikte sind aufgetreten? Wodurch wurden diese Konflikte verursacht?
ō Wie wurden sie ausgelöst?“ (Gläser/Laudel 2009: 93)

Leitfragen übersetzen die Forschungsfrage in Fragen an die Empirie: „Sie be-


nennen die zu rekonstruierenden Situationen oder Prozesse und beschreiben
die Informationen, die über diese Situationen und Prozesse beschafft werden
müssen.“ (Gläser/Laudel 2009: 91) Wie das Arbeitsblatt „Leitfragen-Entwicklung“
zeigt, konnten dort bereits viele Fragen den Konzepten und ihren Dimensionen
zugeordnet werden.

Der Leitfaden
Den Rahmen der Erhebungssituation bildet die Offenheit in den Gruppendis-
kussionen im Hinblick auf die Teilnehmer. Der Leitfaden darf daher nicht als ein
starres Instrument verstanden werden. Die Reihenfolge der Fragen mit den Themen
Subjektivierung, Entgrenzung sowie Figurations- und Prozesssoziologie wurde
bereits vor den tatsächlich stattfindenden Gruppendiskussion umgestellt und
einer antizipierten Gesprächslogik, dem Anspruch einer authentischen, lockeren
Gesprächssituation folgend, angepasst.
Der Leitfaden wurde in einem Seminar an der Universität Hamburg über die
praktische Anwendung empirischer Methoden getestet, um die Generierungskraft
der Fragen zu testen. Der Verlauf der Simulation und das Feedback sollten wichtige
Hinweise zur endgültigen Erstellung des Leitfadens (Leitfaden für eine ausgewählte
Zielgruppe im Anhang) liefern.
Während der Gruppendiskussion wurden die Fragen dann an die tatsächliche
Gesprächssituation ausgerichtet und ihre Formulierung frei gewählt. Inwieweit
die Moderation der Gruppendiskussion direktiv verlief, hing von der Bereitschaft
und dem Vermögen der Teilnehmer ab, den Diskussionsverlauf eigenständig zu
gestalten. Bei den untersuchten Gruppen handelt es sich um weniger erfahrene
Redner, die eine Diskussionssituation nicht aus dem Arbeitsalltag kennen. Er-
schöpften sich die Antworten zu einer Leitfrage, dann richteten die Teilnehmer
138 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

den Blick auf die Moderatorin bzw. den Moderator in Erwartung einer Reaktion
oder einer neuen Frage. Zwischen diesen Leitfragen überließ die Interviewerin den
Gruppendiskussionsteilnehmern die Gestaltung des Verlaufs und reagierte nur in
besonderen Fällen (Pausen) mit Nachfrage und Verständnisfragen.
Die Prägnanz und Übersichtlichkeit des Interviewleitfadens half der Intervie-
werin den Überblick zu behalten, sodass die Teilnehmer das Gespräch gestalten
konnten und es ermöglichte, eine schnelle direkte Kontrolle über offen gebliebene
forschungsrelevante Fragen und eröffnete den Teilnehmern den Freiraum, ein
eigenes Relevanzkonzept im Gespräch zu entwickeln.
Die situative Anpassung der Fragen, indem bestimmte Themen bewusst aus-
gelassen wurden oder Themen von Befragten aufgegriffen wurden, erfüllt das
Prinzip der Offenheit und Flexibilität. Der Leitfaden war also ein Hilfsmittel,
das den Forschungsgegenstand repräsentierte, in zähen und kargen Gesprächen
genügend Anregung bot und in schnellen Gesprächsverläufen zur Orientierung
diente. Jedes Interview ist eine komplexe soziale Interaktion und die Güte wird
vom Handeln und Verhalten des Interviewers bestimmt.
Die Leitfäden der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews folgten dem
gleichen Muster und enthielten die Felder: Subjektivierung, Entgrenzung, Figu-
rations- und Prozesssoziologie.

5.2.2.5 Praktische Durchführung der Gruppendiskussionen


Die insgesamt fünf Gruppendiskussionen von 1- bis 1,5-stündiger Dauer fanden
im Verwaltungsgebäude statt. Drei von ihnen an einem Standort, der bewusst nicht
im direkten Produktionsbereich lag und bei den wenigsten Mitarbeitern bekannt
war. Der Besprechungsraum hat keine erkennbare Bindung an eine bestimmte Ab-
teilung, sodass die Gruppendiskussionen in einer neutralen Umgebung stattfinden
konnten. Die Forscherin hatte den Anspruch, die Gruppendiskussionen an einem
objektiven, unbelasteten und produktionsfernen Raum stattfinden zu lassen. Die
Befragungen fanden während der Arbeitszeit statt. Da es sich um Produktions-
mitarbeiter handelte, wurde die zeitliche Lage der Gruppendiskussionen an die
Schichtzeiten angepasst. Sie fanden nicht mittendrin statt, sondern wurden zwei
Stunden vor Ende der Schicht angesetzt, sodass das Ende der Gruppendiskussion
auch an das Ende des Arbeitstages anknüpfte. Das bedeutete nicht nur eine Mo-
tivation für die Teilnehmer, da der Arbeitstag in der Produktion damit bereits
um 11 Uhr endete, zudem hatten die Meister die Möglichkeit, eine zeitgerechte
Ablösung zu organisieren.
Zu Beginn wurde den Teilnehmern das Hintergrundwissen zur Studie vermittelt
und ein Bogen zur Aufnahme von statistischen Daten verteilt, die im Rahmen der
Gesamtauswertung ergänzend verwendet wurden und einen genaueren Einblick in
5.2 Methodisches Vorgehen 139

die Gruppenzusammensetzung zuließen. Die Teilnehmer wurden zudem erneut


auf die digitale Audio-Aufzeichnung der Diskussion hingewiesen. Dieser Hinweis
wurde bereits in der schriftlichen Einladung vermerkt.
Alle Gruppendiskussionen wurden mit der gleichen Eingangsfrage eröffnet, die
zudem den Kontext herstellte: „Was ist KVP für euch, mit euren eigenen Worten?!“75.
Die Frage zeigte den Teilnehmern deutlich, dass es in der Diskussion nicht um
offizielle Definitionen ging, sondern um persönliche Meinungen und Erfahrungen,
Definitionen mit subjektiven Sichtweisen. Diese Perspektive bewirkte eine hohe
Offenheit bei den Teilnehmern. In dem Moment, als klar war, dass es nur um sie und
ihre subjektive Deutungen ging, begannen lebhafte und emotionale Diskussionen,
die nicht von oppositionellem Diskurs und Uneinigkeit, sondern von Zustimmung
und gleichen Erfahrungen geprägt waren. Das Thema KVP war generell emotional
besetzt und generierte viele Erzählungen und Re-Inszenierungen.
Im Anschluss wurde ein Gedächtnisprotokoll (Postskript) angefertigt, das
Aussagen zur Atmosphäre und Auffälligkeiten während der Diskussion enthielt.
Die Gedächtnisprotokolle wurden im Rahmen der Analyse als Kontextinforma-
tionen hinzugezogen.

5.2.3 Teilnarrative Einzelinterviews (leitfadengestützt)

Qualitative Forschung ist charakterisiert durch eine bewusst getroffene „Abfolge


von Entscheidungen“ (Flick 1995: 148) und muss daher, um das Gütekriterium der
Intersubjektivität zu erfüllen, ausgewiesen und ihre Angemessenheit begründet
werden (vgl. Helfferich 2011: 167). Wie bereits im Abschnitt „theoretical sampling“
beschrieben, wurde die Gruppe der Befragten um die KVP-Moderatoren ergänzt.
Aufgrund der je individuellen Rekrutierungsgeschichten (z. B. ein Scheitern im
Assessmentcenter als Ursache für die Wahl zum KVP-Moderator) der Moderatoren
speziell für den Produktionsbereich war die Annahme der Forscherin, dass im
Kollektiv keine offene Gesprächssituation zu erwarten wäre und so die Gefahr einer
Verzerrung der Ergebnisse bestand. Aus diesem Grund fiel die Wahl auf teilnar-
rative, leitfadenstrukturierte Einzelinterviews; einerseits geht es in der Studie um
einen spezeifischen Bereich der Arbeitsorganisation (KVP) und andererseits soll
die Vergleichbarkeit zwischen den Fällen ermöglicht werden. Der Erzählstimulus
sollte genügend Material zur Rekonstruktion subjektiver Deutungen generieren.

75 In den Gruppendiskussionen und Einzelinterviews einigten sich Interviewer und


Interviewte zu Beginn auf die informelle Anrede „du“.
140 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

5.2.3.1 Der Leitfaden


Die Leitfäden der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews folgten dem gleichen
Muster und enthielten die Felder: Subjektivierung, Entgrenzung, Fremd- und
Selbstzwänge.

5.2.3.2 Praktische Durchführung der teilnarrativen


Einzelinterviews
Die insgesamt vier Einzelinterviews von 1- bis 1,75 stündiger Dauer fanden in
verschiedenen Büros und Besprechungsräumen statt. Die Eröffnung erfolgte mit
der Frage nach der schulischen und beruflichen Biografie außerhalb und innerhalb
des untersuchten Fallbetriebs („Erzähl doch zunächst etwas über dich: Schule,
Ausbildung…“). Die Beschreibung der eigenen Biografie regte den Redefluss an,
sodass thematisch-logisch (entwicklungslogisch) eine Hinführung zur nächsten
Frage möglich war: „Wie bist Du eigentlich KVP-Moderator geworden?“. Diese
Einstiegsfragen bildeten auch den Übergang zum eigentlichen Thema KVP. Eine
Charakterisierung der vier KVP-Moderatoren folgt in der Darstellung der Er-
gebnisse.

5.2.4 Auswertung des Datenmaterials

Die Auswertung, Analyse und Interpretation von qualitativ ermittelten Daten


ist eine besondere Herausforderung. Im Folgenden wird dem Kriterium der In-
terpretations-Intersubjektivität entsprochen und die einzelnen Analyseschritte
nachvollziehbar dargestellt. .

5.2.5 Analyseschritte

Die dokumentarische Methode orientiert sich an den theoretischen Grundannah-


men der Wissenssoziologie nach Karl Mannheim. Die dokumentarische Methode
wendet ein rekonstruktives Verfahren an, das die kollektiv geteilten Orientie-
rungsmuster innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums in einem spezifischen
Interpretationsmodell herausarbeitet. Die vierstufige Interpretation plus Vorstufe
nach Bohnsack (2010: 134ff.) lautet:

t Vorstufe: Überblick über den thematischen Verlauf der Gruppendiskussion


(Inventarisierung)
t formulierende Interpretation
5.2 Methodisches Vorgehen 141

t reflektierende Interpretation (erfasst den dokumentarischen Sinngehalt)


t Diskurs- oder Fallbeschreibung
t Typenbildung

Die vorliegende Studie basiert auf der dokumentarischen Interpretation nach


Bohnsack (2010) und ergänzt die Phase der formulierenden Interpretation mit
dem integrativen Basisverfahren (Helfferich/Kruse 2007; Kruse/Biesel/Schmieder
2011; Kruse/Schmieder 2012). Die daraus resultierenden Analyseschritte werden
im Folgenden erläutert76:

Vorstufe: Inventarisierung
Die digital aufgezeichneten Gruppendiskussionen und Einzelinterviews wurden in
Anlehnung an das Basistranskriptionssystems von GAT (vgl. Deppermann 2008:
39ff., 119f.) vollständig transkribiert. Im Weiteren wurde der thematische Verlauf
der Diskussion festgehalten (Inventarisierung). Die Reihenfolge der Themen blieb
unverändert. Ein besonderes Augenmerk lag auf den thematischen Wendungen,
die das Ende einer „Passage“ kennzeichneten. Die thematischen Einheiten bilden
die kleinsten Schritte für die Interpretation, orientierten sich aber weitgehend an
den Leitfragen.

Auswahlkriterien für Textpassagen


Zwei der fünf Gruppendiskussionen wurden im Ganzen analysiert, um Sicher-
heit und Routine als Forscherin bei den Analyseschritten zu erlangen. Bei den
übrigen drei Gruppendiskussionen wurde für die Analyse aus zeitökonomischen
Gründen Passagen aus dem Gesamtkontext herausgelöst, die nach folgenden
Kriterien ausgewählt wurden (vgl. Bohnsack 2010: 135, Przyborski/Wohlrab-Saar
2010: 286f.):

1. Bei der Textpassage handelt es sich um die Eröffnungspassage. Häufig sind


hier bereits in verdichteter Form die relevantesten Motive der Diskussion do-
kumentiert (Eröffnungspassage).
2. Die Textpassage ist hinsichtlich der Forschungsfrage relevant, aber auch hin-
sichtlich der Fragen, die sich im Verlauf der Auswertung ergeben (thematische
Relevanz).

76 Die Analyse der Einzelinterviews folgt analog zu den im Folgenden dargestellten


Analyseschritten und lässt lediglich die Diskursorganisation aus. Am Ende erfolgt
auch hier die Verdichtung in Form eines Fallexzerpts.
142 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

3. Diese Textpassage unterscheidet sich formal von den anderen durch ihren „ho-
hen Detaillierungsgrad und eine ausgeprägte Bildhaftigkeit der Darstellung“
(Bohnsack 2010: 123). Die Redebeiträge zeichnen sich durch eine „interakti-
ve“ und „metaphorische Dichte“ aus und legen den Blick auf die kollektiven
Orientierungen, die im Fokus der Gruppe (des Milieus) stehen, frei. Bohnsack
spricht in dem Fall von einer „Fokussierungsmetapher“ (ebd.: 123). Die Einzel-
meinungen treten zurück und der Einzelne geht euphorisch im Diskurs auf,
„wenn sie also gemeinsame Zentren der Erfahrung aktualisieren“ (Loos/Schäffer
2001: 28; Hervorhebung im Original, M.F.) können.
4. Es besteht eine thematische Vergleichbarkeit der Passagen, die in die kompa-
rative Analyse mit einbezogen werden.

Erster Analyseschritt: Deskription


Die Auswertung der Transkripte erfolgte nach dem integrativen Basisverfahren
(vgl. Hellferich/Klindworth/Kruse 2006; Helfferich/Kruse 2007). Dabei wurde
sequenzanalytisch vorgegangen, indem eine chronologische Bearbeitung der
Sequenzen ohne Vorgriff auf spätere Textstellen zur Beachtung des emergenten
Charakters von Sinnbildung in der Kommunikation erfolgte (vgl. Lucius-Hoene/
Deppermann 2002: 100f.). Kruse beschreibt dieses Prinzip wie folgt: „Früheres
darf also nicht mit Späterem geklärt werden, umgekehrt muss jedoch Späteres mit
Früherem in eine kohärente bzw. konsistente Deckung gebracht werden (Konsis-
tenzregel).“ (Kruse 2011: 155)
Dieser Analyseschritt entspricht der formulierenden Interpretation („Was“)
nach Bohnsack (2010). An dieser Stelle wird der immanente, kommunikativ-ge-
neralisierte Sinngehalt aufgedeckt und paraphrasiert. Da es um die Ebene der
wörtlichen Bedeutung geht, wird an den Text folgende Frage gestellt: Was wird
gesagt? Bevor die Texte nun interpretiert werden können, müssen sie mikrosprach-
lich beschrieben werden, da sie Aufschluss über den Sinn geben können. Sprache
ist nie willkürlich oder zufällig, sondern stets sinnhaft konstruiert. Jedes Wort
ist ein Dokument für einen Sinn, der dahinter liegt (vgl. Mannheim 1980). Für
den Forscher bedeutet diese Erkenntnis, er muss lernen, Sprache zu sehen. Der
Forscher erweitert damit quasi sein Fachgebiet der Sozialwissenschaften um das
der Sprachwissenschaften. Bei Bohnsack bleibt die formulierende Interpretation
auf der Ebene des Was, Mannheim jedoch spricht in der Phase der Deskription
bereits vom Wie, als was wurde wie gesagt (vgl. Kruse/Schmieder 2012: 25, in
Anlehnung an Mannheim 2004: 137). In diesem Sinne wird der erste Analyse-
schritt um das integrative Basisverfahren ergänzt und die deskriptive Analyse
erfolgt entlang der vier sprachlich-kommunikativen Aufmerksamkeitsebe-
nen: Interaktion (interaktive Erzeugung des kommunikativen Sinns, szenische
5.2 Methodisches Vorgehen 143

Merkmale), Syntaktik (Muster der sprachlichen Vertaktung, z. B. Redepausen,


Passivkonstruktionen; Ausdruck kognitiver Strukturen), Semantik (besondere
Wortwahl, Metaphorik) und Erzählfiguren (in sich geschlossene, wiederkehrende
Figuren des Aufbaus und Diskursorganisation, Performanz). Mit Protokollen,
in denen die Daten systematisch (tabellarisch) festgehalten wurden, erfolgte der
erste Schritt der Auswertung und der Verlauf kann auf diese Weise nachvollzogen
werden (Intersubjektivität). Im Anschluss an die mikrosprachliche Deskription
konnten erste Interpretationen (Lesarten) der Textpassagen generiert und wie
„lose Fäden“ (Kruse 2011: 226) festgehalten oder fallengelassen werden, falls sich
die Interpretationen nicht fortsetzten. Durch das Einbeziehen des Bezugssystems
der Forscherin (Sichtweisen und Deutungsmuster) und die diskursive Verwendung
der forschungsleitenden Theorien und anderen Forschungsergebnisse verlässt
man die immanente Ebene der Analyse.

Analyse der Diskursorganisation


Zentral ist auch die Analyse der Diskursorganisation77, also das Herausarbeiten,
wie Redebeiträge aufeinander bezogen sind. Auf dieser Ebene erfährt die Forsche-
rin, ob sie die bis hierher herausgearbeiteten Orientierungen vollständig erfasst
hat und ob sie von allen Teilnehmern der Gruppendiskussion geteilt werden oder
nicht (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 296).
Ein Zugang zum Orientierungswissen erfolgt mit der Suche nach sich begren-
zenden Horizonten (negativer und positiver Gegenhorizont) und ihrer Umset-
zungsmöglichkeit, ihrem „Enaktierungspotenzial“ (Bohnsack 2010: 136). Innerhalb
dieses Rahmens entfaltet sich die von diesem Erfahrungsraum getragene Orientie-
rungsfigur. In einem Diskurs überlagern sich die spezifischen Erfahrungsräume,
es bildet sich aber trotzdem meist ein übergreifender Orientierungsrahmen (vgl.
ebd.). Der fallinterne Vergleich (Komparation) erfolgt über die Herausarbeitung
der Horizonte. In einigen Fällen wird ein möglicher Vergleichshorizont gedanklich
gebildet, falls dieser im Diskurs nicht explizit abgegrenzt wird. Die Suche nach
„Kontrasten in Gemeinsamkeiten“ (Bohnsack 2010: 38) ist das zentrale Prinzip
der Analyse wie auch bereits bei der Auswahl des Samples.
Unterstützt wurde die Strukturierung mit einer Kombination aus handschrift-
lichen Tabellen, Microsoft Word-Tabellen und dem Analyse-Software-Programm
MAXQDA, mit der alle bisherigen Ergebnisse festgehalten werden konnten.

77 Die Rekonstruktion der Diskursorganisation entspricht auch einer Segmentierung des


Textes und ist Teil der Deskription auf struktureller Ebene.
144 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

Die Analyse der Diskursorganisation ist in dieser Phase der Interpretation


zentral. Sie beschreibt „die Art und Weise […], wie die Redebeiträge in formaler
Hinsicht aufeinander bezogen“ werden (Bohnsack 2010: 124). Dabei richtet die
Analyse den Blick auf einen „Dreischritt“ (ebd.: 125) in der Diskursorganisation,
der sog. „Produktionsregel“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 291). Erst wenn drei
unterschiedliche Interaktionszüge erkannt werden, ist ein Orientierungsmuster
zu erkennen. Es handelt sich häufig um „eine Proposition, also das erste Aufwer-
fen eines Sinnzusammenhangs, dessen Ausarbeitung bzw. Elaboration und der
Abschluss des Sinnzusammenhangs im Sinne einer Konklusion“ (Przyborski/
Wohlrab-Saar 2010: 291).
Bei Propositionen handelt es sich fast immer um das Einbringen einer Ori-
entierung in die Diskussion. Die an eine Proposition folgenden Beiträge und
Elaborationen können unterschieden werden in

„a) Validierungen („ja“), in denen sich eine Übereinstimmung ausdrückt, b) Differen-


zierungen („ja, aber“), mit denen der propositionale Gehalt von Äußerungen ergänzt
oder in seiner Reichweite eingeschränkt wird, und c) Oppositionen („nein“), in denen
die Nichtvereinbarkeit mit vorangegangenen Propositionen bzw. Orientierungen
zum Ausdruck kommt“ (Liebig/Nentwig-Gesemann 2009: 109; Hervorhebung im
Original, M.F.).

Die Diskursorganisation lässt Rückschlüsse zu, welche milieuspezifischen Erfah-


rungsräume eine verbindende Funktion für die Gruppe haben. Drei Modi der
Diskursorganisation können idealtypisch beschrieben werden (vgl. Bohnsack 1989,
Przyborski 2004): die parallele Diskursorganisation, bei der immer wieder das
Gleiche in vielfältigen Variationen diskutiert wird, der oben beschriebene Verlauf
des Dreischritts, also die antithetische Diskursorganisation (These – Antithese –
Synthese) sowie die oppositionelle Diskursorganisation, die darauf schließen lässt,
dass keine geteilten Orientierungsmuster vorliegen.
Neben der Rekonstruktion der Diskursbewegung ist auch die Bestimmung
der Textsorte (Kommunikationstyp) wichtig. Erzählung und Argumentation un-
terscheiden sich in der Nähe zur individuellen Erfahrung. Erzählungen sind den
eigenen Erfahrungen näher als Argumentationen, die der Rechtfertigung und
öffentlichen Präsentation dienen und unter Umständen widersprüchlich sein
können. Bei der Analyse des Dokumentsinns muss die Bewertung der Textsorten
hinsichtlich ihres Orientierungsgehalts berücksichtigt werden (vgl. Przyborski/
Wohlrab-Sahr 2010: 292).
5.2 Methodisches Vorgehen 145

Zweiter Analyseschritt: Strukturierung und Bündelung der Ergebnisse


Im zweiten Analyseschritt werden Motive und Interpretationen strukturiert, die
auf Basis der sprachlich-kommunikativen Deskriptionen vorläufig herausgearbeitet
wurden (Sinnstruktur des Textes entschlüsseln). Diese Phase entspricht i. w. S.
der reflektierenden Interpretation nach Bohnsack (2010: 135ff.) und zielt auf den
dokumentarischen Sinngehalt ab, also wie sich Sinn prozesshaft in Sprechakten
und Darstellungen reproduziert (Rekonstruktion des Diskursverlaufs)78 . In der
dokumentarischen Methode geht es darum, Muster und Motive in sozialen Struk-
turen zu verfolgen. Orientierungen können anhand von zentralen Motiven und
Thematisierungsregeln rekonstruiert werden (vgl. Kruse 2011: 175ff.). Bei Motiven
handelt es sich um wiederkehrende Figuren, Bilder, Argumentationsstrukturen,
thematische Äußerungen und Positionierungen (vgl. Kruse 2011: 177f.). Gültigkeit
erhalten die Motive, wenn sie konsistent im Text zu finden sind und in der Analy-
segruppe einen Konsens finden. Die Thematisierungsregeln beziehen sich auf die
Frage, wie die Befragten das Thema in die Diskussion einbringen (Performanz,
Ausführlichkeit, Auslassen, Grenzen).
Beim integrativen Basisverfahren sind induktive sowie deduktive Vorgehen
miteinander verschränkt. Das induktive Vorgehen (bottom-up) bei der Textanalyse
entspricht dem Prinzip der Offenheit. Die Forscherin bleibt dicht am Text, den
sie sprechen lässt. Eine kritische Kontrolle der Interpretationen erfolgt über die
Rückführung zum Text, indem die Forscherin die Frage stellt: Wo steht das im Text?
Die verwendeten Analyseheuristiken bzw. sensibilisierenden Konzepte (vgl.
Kruse 2011: 195ff.) können als eine dynamische bzw. prozesshafte Kombination
aus deduktivem (top-down) und induktivem Vorgehen (bottom-up) beschrieben
werden. Die vorab überlegten begrifflichen Kategorien dienen als heuristisches
Auswertungsschema und können im Lauf des Erkenntnisprozesses verändert
und/oder erweitert werden. Die vorliegende Studie orientiert sich an den von
Lucius-Höhe und Deppermann (2002: 55ff.) dargestellten Analyseheuristiken
sowie an den forschungsleitenden Konzepten der Entgrenzung und Subjektivierung
von Arbeit und an den Überlegungen zur historischen Umformung von Selbst-
und Fremdzwängen der Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias.
Im Laufe der Auswertung entstehen Kategorien, die zum einen Ergebnisse aus

78 Bereits im ersten Analyseschritt wurden erste Interpretationen vorgenommen und in


einem Wechselspiel zwischen Was und Wie herausgearbeitet. Die Interpretationen
entsprechen bereits der Phase der reflektierenden Interpretation nach Bohnsack. Eine
scharfe Trennlinie zwischen formulierender und reflektierender Interpretation wird
mit der Ergänzung durch das integrative Basisverfahren nicht mehr gezogen. Der zweite
Analyseschritt ist daher bereits durch die Strukturierung der ersten Interpretationen
gekennzeichnet: was wird weiterverfolgt, was kann fallengelassen werden?
146 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen

der induktiven Vorgehensweise sind und zum anderen den Analyseheuristiken


entsprechen.

Dritter Analyseschritt:
Strukturierung, Verdichtung und Sicherung der Ergebnisse
Nachdem in einem ersten Durchgang auf Basis der sprachlich-kommunikativen
Deskriptionen erste Interpretationen herausgearbeitet und in einem weiteren
Durchgang strukturiert festgehalten werden, folgt ein dritter Analyseschritt: die
Verdichtung und Sicherung der Ergebnisse. Die bisher herausgearbeiteten Motive
und Interpretationen, die als lose Fäden in der Hand gehalten werden, können nun
endgültig gebündelt werden. Die Darstellung der gebündelten Interpretationen
erfolgt mithilfe eines „Fallexzerpts“, das die zentralen Ergebnisse übersichtlich
wiedergibt, die mit direkten Zitatbeispielen aus dem Text belegt werden. Die
Fallexzerpte dienen zudem als Basis für die Querauswertung, also die fallüber-
greifende Komparation.
Das Herausarbeiten der kollektiv geteilten Orientierungsmuster in den kon-
junktiven Erfahrungsräumen ist das Ziel der dokumentarischen Methode:

„Im Zuge der Typenbildung werden auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten der
Fälle (z. B. milieutypische gemeinsame Erfahrung der Auseinandersetzung mit
Reorganisationen) spezifische milieutypische Kontraste der Bewältigung dieser
Erfahrung herausgearbeitet (z. B. zwischen Workshop-Teilnehmer und Nicht-Teil-
nehmer).“ (Bohnsack 2007: 383; Die Beispiele entstammen aus dem hier zugrunde
gelegten Fallbeispiel)

Das folgende Schema fasst noch einmal den gesamten Verlauf der Analyse zu-
sammen:
5.2 Methodisches Vorgehen 147

Abb. 3 Der Prozess rekonstruktiver Interviewanalyse im schematischen Überblick


(nach Kruse 2011: 311).

Vierter Analyseschritt: Theoretisierung


Die Analyseergebnisse werden in einen theoretischen Zusammenhang mit vor-
liegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen gesetzt.
Empirische Ergebnisse
6 Empirische Ergebnisse 6

Die Analyse hat sich von den untersuchungsleitenden Konzepten, der Forschungs-
frage und vom emergenten Charakter des offenen und rekonstruktiven Verfahrens
leiten lassen. Das Ergebnis dieser induktiv und deduktiv verschränkten Verfahrens-
weise sind Kategorien und Motive. Das Kapitel fokussiert die im Forschungsprozess
herausgearbeiteten zentralen Motive (Kernkategorien), die im weiteren Verlauf
die Kapitelüberschriften bilden (Submotive bilden Unterkapitel). Die dargestellten
Zitate dienen als Ankerbeispiele und der Illustration der herausgearbeiteten Motive.

6.1 Machtverhältnisse im Betrieb


6.1 Machtverhältnisse im Betrieb
Die Rekonstruktion der interdependenten Beziehungen im untersuchten Fallbe-
trieb mithilfe der Diskurse in den Gruppendiskussionen sowie der Fallanalysen
der Moderatoren im Produktionsbereich ermöglichte die Zeichnung eines realen
Verflechtungsnetzes und die Bestimmung der gültigen Machtverhältnisse in dieser
Verflechtungssphäre. Im Folgenden werden die herausgearbeiteten Interdepen-
denzgeflechte, Machtverhältnisse und damit verbunden die Veränderungen in
der Selbstregulierung skizziert.

6.1.1 Die entgrenzte Situation und der typische Verlauf


des KVP-Workshops

Der Teilnehmerkreis der KVP-Workshops setzt sich in Abhängigkeit der Funktio-


nen zusammen und ist als Standard in der Betriebsvereinbarung des Fallbetriebs
zum KVP festgehalten. Die Teilnehmer und ihre Funktionen repräsentieren die

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
150 6 Empirische Ergebnisse

„Fabrik“. Die gewöhnlich hierarchisch und funktionell voneinander getrennten


Positionen sitzen nun an einem Tisch und ihre Kommunikation findet nicht so
wie im Rahmen der Linienorganisation und Agentschaftshierarchie asynchron
über Anordnungen, sondern direkt statt. Die Rekonstruktion der Workshop-Pro-
zesse ergab ein reales Bild der betrieblichen Verflechtungen, einen Einblick in die
betriebliche Reorganisation und die damit verbundenen Bewältigungsmuster
der Menschen. Es erfolgt zunächst die Beschreibung des Workshop-Verlaufs, so
wie er sich für die Teilnehmer darstellte. Wie zu erkennen sein wird, decken sich
die Erzählungen und Re-Inszenierungen der Befragten (Produktionsmitarbeiter
und KVP-Moderatoren) hinsichtlich des Ablaufs, sodass ein typischer Verlauf
rekonstruiert werden konnte.

6.1.1.1 Der typische Workshopverlauf


Ein KVP-Workshop findet von Montag bis Freitag statt und endet am Freitag-
nachmittag mit einer Abschlusspräsentation. Die Arbeitstage sind nach einem
standardisierten Stundenplan strukturiert. In den Darstellungen aller Befragten
kristallisierte sich ein typischer Workshopverlauf heraus, der sich zwar am vorgege-
benen Ablauf orientiert, aber völlig ungeplante und unvorhergesehene Wendungen
nimmt. Im Folgenden wird dieser Verlauf dargestellt.
Alle Teilnehmer der in dieser Woche stattfindenden KVP-Workshops (bis zu
fünf Workshops pro Woche) treffen sich am Montagmorgen in einem Seminarraum.
Der Tag beginnt mit einer Präsentation, in der die Organisationsentwicklungsmaß-
nahme von einem Mitarbeiter des KVP-Büros oder einem Werkmanager vorgestellt
wird. Sie dient der Orientierung und enthält unter anderem Präsentationsfolien
mit betriebswirtschaftlichen Daten und Fakten, die die Notwendigkeit dieser
Maßnahme darstellen sollen und das Unternehmen als Globalplayer vorstellt, der
auf einem Weltmarkt konkurriert. Als Vorbild und gleichzeitig größter Konkur-
rent erscheint ein japanischer Automobilhersteller, an dessen Renditezahlen sich
alle Bemühungen des Fallbetriebes orientieren. „Diese Montagsveranstaltung“
(MOD02/36) wird von einem Frühstück begleitet und bildet den Auftakt für die
Workshop-Woche. Im Anschluss gehen alle Teilnehmer in die zugewiesenen Work-
shopräume, die sich meistens inmitten der Produktionshallen im Obergeschoss
befinden. Der KVP-Moderator begrüßt nun die Teilnehmer seines Workshops
und startet mit der obligatorischen Vorstellungsrunde. M2 betont vor allem den
hierarchiefreien Charakter dieser Vorstellung, wie seine Ausführungen belegen,
der auch als Anspruch für die künftige Zusammenarbeit gelten soll:
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 151

„Dann ging’s einfach reihum, ganz ohne irgendwelche Hierar-


chien, wo irgendwo, wo wer herkommt oder welche Funktion er
hat, wurde durchgefragt, wer nun wo hingehört.“ (MOD02/37)

Die ersten beiden Tage sind Schulungstage, in denen die Teilnehmer typische, am
Kaizen (vgl. Imai 1994) orientierte KVP-Methoden erlernen und sofort anwenden.
Dabei handelt es sich unter anderem um die 5S-Bewegung, die neun Arten der
Verschwendung (Muda), den Eintakter und die Griffweitenoptimierung. Gleich-
zeitig erfolgt die Erarbeitung eines Ist-Standes des Arbeitsplatzes:
„Tja, bei uns ist das so abgelaufen, wir haben zwei Workshops bei uns gehabt,
in einem kurzen Zeitabstand. Der erste Tage war bei beiden gleich, wir liefen
erst mal rum und: Wo haben wir noch Potenzial?“ (GENEF/32)
Der Mittwoch erweist sich in der Workshopwoche unbeabsichtigt als ein Ent-
scheidungstag, dem eine Wende folgt. GENEE weist in der folgenden Passage auf
eine Spannung hin, die am Mittwoch sichtbar wird und sich entlädt:

„Darauf [wird, M.F.] am Anfang auch noch eingegangen, da


wird auf uns gehört, was wir uns vorstellen, wir sollen
uns das angucken und erst spätestens ab dem Mittwoch war
es bei uns generell so, dann kommen auf einmal die Vor-
schläge von den Vorgesetzten, wo man genau weiß, das ist
im Vorfeld geplant.“ (GENEE33)

In der „Mitte der Woche“ (MOD01/39) kommt es zu „Eskalationen im Workshop“


(ebd.), die zu einem Bruch in der oder Abbruch der Zusammenarbeit führen, wie
die Aussage von GENED bestätigt:

„Deshalb sind sie meistens alle Mittwoch abgebrochen wor-


den.“ (GENED123)

Warum es zur Eskalation am Mittwoch kommt, soll an anderer Stelle noch dar-
gestellt werden.
Den Abschluss bildet die Ergebnispräsentation, die alle Verbesserungsideen
und Aktivitäten dokumentiert. Diese Veranstaltung findet vor einem großen
Publikum statt, das aus allen Workshop-Teilnehmern der betreffenden Woche,
dem Werkmanagement, dem Betriebsrat und anderen Interessierten besteht
(50-70 Personen). Trotz der schwierigen und angespannten Situation soll kein
Workshop ohne Ergebnis beendet werden. Daher wurden Präsentationen ange-
fertigt, die scheinbare und auf den ersten Blick positive Ergebnisse auswiesen.
GENEH kritisiert zum Beispiel massiv, dass bei den Präsentationen „beschissen“
152 6 Empirische Ergebnisse

(GENEH/29) werde „ohne Ende“ (ebd.). Beispielhaft ist auch die folgende Passage
von GENEA (BVKLer):

„Dann gab es auch Workshops, wo überhaupt nichts raus kam,


die dann mehrfach abgebrochen oder mehrfach auch gezwungen
wurden dann doch noch zu präsentieren.“ (GENEA/282)

Die Präsentation zeigt sich als standardisiertes Ergebnisdokument (Folien) einer


gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, indem Konflikte und Verhandlungen gänz-
lich ausblendet werden. Die Fassade einer harmonischen Zusammenarbeit wird
im Dokument aufrechterhalten. Einen Eindruck des in der Regel konflikthaften
Ablaufs erhält das Publikum nur, wenn die Vortragenden sich vom Standard der
Präsentation lösen und „frei“ sprechen. Der gesamte Prozess ist folglich weniger
verständigungsorientiert, als ergebnisorientiert zu beschreiben (vgl. auch Minssen
1999: 133)79.
Nach dem tayloristischen Prinzip der Trennung von Kopf- und Handarbeit,
Planung und Ausführung, nach der die Montagebereiche noch immer organisiert
sind, bildet die organisierte Zusammenarbeit „KVP-Workshop“ eine Ausnahme.
GENEF re-inszeniert eine Situation mit einem Mitarbeiter des Industrial Enginee-
rings während eines KVP-Workshops:

„Ja, man muss ja auch zusehen, dass man die Jungs oder die
IE [Industrial Engineering, M.F.] oder so was, auch mal
Sachen, mit ran holen. Ich habe den Kerl geschnappt, habe
ihm Handschuhe an, habe ihn gedrückt und hab gesagt: Rüs-
te mal mit. Ja, dann kam er mit Schlips und Kragen da an
und meinte, so ein Seil da rüber zu wuchten über so ein
Werkzeug. Dat ist nicht viel Arbeit, ich: Dann mach mal
mit, werf doch mal einen >WHFKQ%HJULҬ@ da rauf. Du musst
sie ja mal mit anpacken lassen und der hat drei Werkzeuge
mitgemacht und ist dann weggelaufen. Dann hat er es auf-
gegeben.“ (GENEF/109)

In dieser Woche berühren sich planende (Ingenieure, Manager) und ausführende


(Produktionsmitarbeiter) Tätigkeiten, die bisher hierarchisch und funktionell
voneinander getrennt waren. Im Beispiel von GENEF hat der Planende die Chan-
ce, sich in die Rolle des Ausführenden zu begeben. Dieser Rollentausch endet mit

79 Minssen meint vor allem das Spannungsverhältnis zwischen zum einen einer relativen
Verbreitung von Kommunikation in Entscheidungsprozessen und zum anderen vorge-
gebener Ziele. Der Diskurs auf betrieblicher Ebene ist für ihn nicht verständnisorientiert
(organisationales Machtgleichgewicht), sondern ergebnisorientiert.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 153

einer Niederlage des IE- Mitarbeiters, wie GENEF feststellt, denn er sei bereits
nach drei Rüstvorgängen „weggelaufen“ (GENEF/109) und habe „aufgeben“ (ebd.).
Trotz der heterogenen Zusammensetzung der vielfältigen Funktionen und
Hierarchiestufen in diesen Workshops identifizieren die Gruppendiskussions-
teilnehmer gleich zu Beginn zwei gegensätzliche Lager und Positionen. Diese
Begrenzung erfolgt mit einer Linie, die die Gruppe in eine Arbeitgeber- und eine
Arbeitnehmerseite teilt. Zur Arbeitgeberseite zählen alle, die nicht unmittelbar in
den Produktionsprozess eingebunden sind (Werkmanager, Schichtleiter, Meister,
Mitarbeiter der Planung und des IE und m. E. der Moderator):

„Weil es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall, da brauchen wir uns nichts vormachen, das ist
eben so.“ (GENEC/184)

Die Produktionsmitarbeiter (Teamsprecher, Vertrauensleute, Mitarbeiter ohne


Funktion) besitzen die (semantische) Fähigkeit, die Verhältnisse und Probleme auf
den Punkt zu bringen. Wie im Verlauf zu sehen sein wird, fällt es den KVP-Mode-
ratoren hingegen nicht so leicht, die realen Verhältnisse sprachlich auszudrücken.
Beim Diskurs zum Thema Arbeitsintensivierung werden die Hintergründe deutlich.

6.1.1.2 Der Delegierten-Workshop


In Anlehnung an die Grundidee der Prinzipal-Agent-Theorie80 (vgl. Picot/Dietl/
Franck 2008: 72ff.) werden die Effekte eines Delegierten-Workshops, den der
KVP-Workshop darstellt, beschrieben. Die Teilnehmer des KVP-Workshops als
Delegierte (Agenten) ihrer Figurationen (Abteilung, Team etc.) haben verschiedene
Intentionen, die im Folgenden beschrieben werden.

80 „Ein Auftraggeber (‚Prinzipal‘) [überträgt] zur Realisierung seiner Interessen be-


stimmte Aufgaben und Entscheidungskompetenzen auf Basis einer Vereinbarung an
einen beauftragten Partner (‚Agenten‘), der für seine Dienste eine Vergütung erhält.
Die Übertragung von Aufgaben bietet für den Prinzipal den Vorteil, dass er sich die
spezialisierte Arbeitskraft und den Informationsvorsprung des Agenten zunutze machen
kann. Allerdings wirft die Aufgabendelegation für den Prinzipal auch ein Problem auf.
Je weniger Informationen der Prinzipal über die Motive, die Handlungsmöglichkeiten
und das faktische Leistungsverhalten des Agenten hat, desto größer ist für ihn das
Risiko, dass der Agent nicht gemäß des vereinbarten Auftrags handelt, sondern die
eigenen Interessen zum Nachteil des Prinzipals verfolgt.“ (Kieser 2001: 209)
154 6 Empirische Ergebnisse

KVP-Moderatoren als Agenten des Unternehmens


Die Teilnehmer des Workshops wurden geschickt, um eine Aufgabe zu erfüllen.
Die Dynamik, als Gruppe im Workshop zusammenzuarbeiten, kam demnach
nicht von den Teilnehmern selbst, sondern von denen, die sie schickten. Die
Workshop-Teilnehmer haben den Auftrag, ihre Aufgabe zu erledigen. Sie alle sind
zu Agenten geworden, die eine Unsicherheitszone beherrschen. Die Prinzipale
wissen nicht, ob es sich um alle Informationen und die bestmögliche Arbeit ihrer
Agenten handelt. M4 bringt die Prinzipal-Agenten-Beziehung auf den Punkt:

„Jeder (.) jeder, JEDES Mitglied des Workshop hat seine


Aufgabe, ja? Also, ich bin als Moderator da hingeschickt
worden.“ (MOD04/72)

Die KVP-Moderatoren sind Agenten zwischen Workshop-Theorie und Work-


shop-Praxis. Diese Aufgabe macht sie zugleich zum „Übersetzer“ einer Theorie
in praktische Anwendung. Der Moderator als Agent besitzt das Insiderwissen,
an dem der Prinzipal interessiert ist: „Davon leben die [vom KVP-Büro, M.F.]
ja auch hier, die wissen ja nicht, was im Workshop passiert.“ (MOD01/103) Die
KVP-Praxis steht im Sinne einer betrieblichen Doppelwirklichkeit im Kontrast zur
KVP-Theorie. Das KVP-Büro erhält von M1 das Feedback bezüglich der von ihm
erfahrenen Workshop-Realität, denn ohne Informationen aus den Workshops stirbt
die Abteilung, denn sie „leben“ ja davon. Im Workshop findet gelebte KVP-Praxis
statt. Die Moderatoren fungieren als Agenten, indem sie das Geschehen auf ihre
Art widerspiegeln und einen Blick in die KVP-Praxis eröffnen:

„Ja, doch, dass denk’ ich ja, auf jeden Fall. Aber das
[spiegeln von Feedback und Kritik ins KVP-Büro, M.F.] kön-
nen die anderen Moderatoren auch, also das ist nun nicht
ähm, dass (.) davon leben die ja auch hier, die wissen ja
nicht, was im Workshop passiert.“ (MOD01/103)

Die Abschlusspräsentation bildet den großen Auftritt und die Darstellung der Leis-
tung der Gruppe, aber auch die des Moderators. Dort zeigt sich seine erfolgreiche
oder auch erfolglose Moderation. Alles ist größer und lauter als im KVP-Workshop:
Das Publikum ist größer (und wichtiger) und mit dem Mikrofon ist das Präsentierte
lauter und besser zu hören. Das Ganze hat den Charakter eines großen Auftritts,
der auf einer Bühne vor großem Publikum stattfindet. Sogar besondere (externe)
Gäste sind eingeladen. Obwohl die Moderatoren in den meisten Fällen nicht selbst
präsentieren, handelt es sich dennoch um die Früchte ihrer Arbeit. Sie können stolz
auf ihre Arbeit blicken und sie zur Aufwertung des eigenen guten Rufs nutzen, denn
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 155

das gesamte Werkmanagement und der Betriebsrat sind bei dieser Veranstaltung
anwesend. M2 stellt die Situation anschaulich im folgenden Zitat vor:

„Das ganze Management kam dazu. Die waren meist auch äh


ohne, mit, mit voller Besetzung anwesend, vom Werkleiter bis
über Fertigungsleiter und Planungsleitung, alle waren da.
Und vom Betriebsrat waren natürlich ebenso viele Leute da
und die ganzen Gruppenmitglieder […] Und ähm, dann wurden,
wie in der, wie im Workshop in der Übung wurden dann vor
großer Runde diese Workshops von den beiden Vortragenden
dann vorgestellt. Mit dem Beamer an eine große Leinwand,
Mikrofon, im üblichen Rahmen.“ (MOD02/51)

Die Eigenschaft „Auftragserfüllung“ und den damit verbundenen Unsicher-


heitszonen für die Prinzipale, führen unbeabsichtigt zu den sogenannten „Ir-
gendwie“-Ergebnissen (MOD04/25) oder auch den „vernünftigen“ Ergebnissen
(MOD01/115). Die Ergebnisse, also erarbeitete Verbesserungsmaßnahmen, werden
am Ende des Workshops in einem großen Rahmen vorgestellt und einem offiziellen
Publikum zugänglich gemacht. Diese Rahmenbedingungen erhöhen den Druck
auf die Moderatoren, aber auch auf die Mitarbeiter des Industrial Engineering,
den Auftrag ihrer Prinzipals angemessen zu erfüllen. Da es sich allerdings um
eine Aufgabe handelt, die sich im Gegensatz zum Konzept als komplexer erwiesen
hat, greifen die Moderatoren zu einer Bewältigungsstrategie. Der Fokus auf die
Ergebnisse und ihre öffentliche Präsentation führt dazu, dass, auch wenn es keine
repräsentativen Ergebnisse gibt, der Moderator sowie der IE-Mitarbeiter alles
daran setzen, noch „irgendwie“ Ergebnisse zu präsentieren oder sie zumindest gut
aussehen zu lassen. Indem es die Moderatoren, aber auch die anderen Teilnehmer,
die dort im Auftrag handeln, also dem Prinzipal Recht machen wollen, ergibt
sich eine Doppelwirklichkeit: Das visuell gute Ergebnis muss nicht zwangsläufig
ein inhaltlich gutes Ergebnis sein. GENEA beschreibt die Zwänge, ein Ergebnis
präsentieren zu müssen:

„Dann gab es auch Workshops, wo überhaupt nichts raus kam,


die dann mehrfach abgebrochen oder mehrfach auch gezwungen
wurden, dann doch noch zu präsentieren.“ (GENEA/282)

Das Irgendwie-Ergebnis löst alle im Workshop erlebten Machtproben, Auseinan-


dersetzung und Interessengegensätze auf, indem es sich als gemeinsame Lösung
darstellt (vgl. auch die externen Moderatoren).
Der Druck auf die Agenten im Workshop, kurzfristige Ergebnisse auszuweisen,
führt zu einer verkürzten Sichtweise und Umsetzung des KVP. M1 weist darauf
156 6 Empirische Ergebnisse

hin, was passiert, wenn nur schnelle, kurzfristige Ergebnisse ausgewiesen werden
sollen, statt die Organisationsentwicklungsmaßnahme als langfristigen Wandel
zu betrachten:

"Ja, ich find' es schade, dass das nicht konsequent weiter,


nicht konsequent gelebt wird, der [Name Organisationsent-
wicklung]. Ähm, das wird immer wieder abgeschwächt, weil
meiner Ansicht nach viele in ihrer Position das nicht
durchhalten können, das nennt sich ja [Jahreszahl] das
ist 'n langer Prozess und Erfolge stellen sich nicht so
schnell und kurzfristig ein und damit können viele nicht
leben. Aufqrund ihrer Position, weil sie dann irgendwelche
Zahlenergebnisse vorweisen müssen. Und das finde ich (.) äh
und wenn dann (.) der Chef desjenigen, den [Name Orqa-
nisationsentwicklung] auch 6n bisschen kritisch gegenüber
steht und sagt: Es ist mir egal was sie da im KVP machen.
Ich will, dass du nächstes Jahr mit fünf Prozent weniger
Personal die Autos baust äh, dann ist derjenige unter
Druck und ich finde dadurch entsteht dann wieder (.) dieser
Touch: Ja, KVP ist eigentlich nur dazu da, Produktivität
zu bringen. Das finde ich eigentlich schade, weil das viel
mehr ist, das ist etwas was (.) äh in die Köpfe gebracht
werden muss erst mal, was der [Name Organisationsentwick-
lungsmaßnahme] bedeutet und erst wenn das wirklich, wenn
wirklich alle an einem Strang ziehen da in Richtung [Name
Organisationsentwicklungsmaßnahme], dann kann man wirklich
6was bewirken, mein' ich. Vieles andere ist dann nur Kos-
metik, sonst." (MODOl/149)

Die besondere Herausforderung für die Teilnehmer eines KVP-Workshops ist


die spontane Bildung als Arbeitsgruppe. die sich am Montag zum ersten Mal in
dieser Konstellation mit dieser spezifischen AufgabensteIlung trifft und bereits
am Freitagmittag eine Präsentation mit einem Ergebnis auf erwünschtem Niveau
abliefern soll. Doch, sie liefern im Grunde keine Ergebnisse, sondern erfüllen
lediglich einen Auftrag. Die damit verbundene Ergebnis-Manipulation wurde in
Abschnitt 6.1.1.2 ausführlich beschrieben.
Das Ziel der Workshop-Teilnehmer ist demzufolge vorrangig die Auftrags-
erfüllung. sodass die Agenten die Darstellung der Auftragserfüllung bei Bedarf
falschen. Diese Vorgehensweise wird dann gemeinsam innerhalb der gesamten
Gruppe beschlossen oder hingenommen. Niemand von ihnen möchte als Verlierer
(als Workshop-Gruppe mit dem schlechtesten Ergebnis) gelten. Die Ergebnisori-
entierung des KVP vernachlässigt die Sicht auf das Subjekt der Handlungen. also
auf die Prozesse der Zusammenarbeit und der Verhandlungen. Die Prozesse, die
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 157

(neuen) sozialen Beziehungen, aber auch die Ereignisse im Verlauf des Workshops
werden gar ausgeblendet. Das führt zur Vertuschung von schlechten oder gar
keinen Ergebnissen (im Sinne des Betriebsziels), die zu einer Doppelwirklichkeit
führt und nach außen Erfolge suggeriert, die es nach innen nicht gibt. KVP ist
dann eine schöne Fassade und nur "Kosmetik" (MODOl/49), die die wahren
Problernfelder und Spannungen innerhalb des Betriebs im Sinne eines blinden
Flecks verdeckt. Statt kontinuierlicher Verbesserung und Zunahme gleichberech-
tigter Zusammenarbeit interdependenter Figurationen wird vielmehr der Erhalt
des Status quo des Machtgleichgewichts erreicht, der zur Beharrungstendenz
innerhalb der Verflechtungssphäre "Organisation" führt (siehe Abschnitt 6.1.4.2
zur Beharrungstendenz).

Das Problem mit den .Planern u oder: Der .Konfliktpunkt'"


Die Planer (Mitarbeiter der Abteilung Planung) befinden sich in ihrer Rolle als
Workshop-Mitglied in einern "Abwägungsprozess' (MOD03/91), denn ihr Fach-
wissens befördert sie in eine besondere Situation: Die Arbeit des Planers beginnt
oft erst, wenn alle anderen Workshop-Mitglieder bereits Feierabend haben. M3
beschreibt diese besondere Rolle sehr anschaulich:

"ABER die Rolle des PLANERS und DAS ist ja DAS SPANNENDE
in dem Prozess. Man muss sich ja FOLGENDES überlegen: ICH
setz mich da jetzt hin und hab zwei OPTIONEN. DAS HEISST:
ICH bleib sitzen und schweige. Dann kann ich Glück haben,
wenn mich keiner auf das richtige Thema schubst, dass ich
'ne recht entspannte woche, gegebenenfalls recht entspann-
te fünf Wochen habe. WENN ich natürlich jetzt SAGE: ICH
mach FASS A, Bund C von alleine auf, die Arbeit bleibt
ja auch an mir hängen, ne? Aber das ist ja so 'n bisschen
so 'n Abwicklungsprozess im menschlichen Bereich. WAS mo-
tiviert mich, DAS zu machen? Und am Ende weiß der Planer
GANZ genau, das MEISTE bleibt bei ihm KLEBEN. Also, ist
er eigentlich GANZ FROH und sagt in der Regel NICHTS von
alleine. IMMER nur auf Ansprache, weil er weiß ja ganz
genau, wenn ich jetzt sage: Man könnte, man könnte, man
könnte (.) WEIL er ja 'n ganz ANDERES FABRIKBILD vor Augen
hat, wie so 'n WERKER, der das ERSTE MAL da sitzt oder 'n
Teamsprecher. DER kennt ja Dinge aus PLANUNGSrunden und,
und, und (.) DER kann ja auch Themen losschieben. Bloß er
weiß auf der ANDEREN Seite auch GANZ genau (.) DAS bleibt
ja bei mir hängen, ne? Das heißt, ich nehm mir die Arbeit
heut Nachmittag mit ins Büro. Die gehen um 15 Uhr noch

81 MOD021123.
158 6 Empirische Ergebnisse

was (.) nach Hause und ich kann mich dann noch 'ne Stunde
ins Büro setzen und mit [Werk M] telefonieren und da n
Bild beschafren oder 'ne KONSTRUKTION zeichnen und, und,
und (.) Und ähm (.) das ist immer so 'n Abwäqunqsprozess,
ne?" (MOD03/91)

Die Planer beherrschen aufgrund ihres Fachwissens einen Unsicherheitsraum


für andere Menschen. Drei der vier befragten Moderatoren (außer MI) gehen auf
diese besondere Situation mit den Planern im Workshop ein. M4 vermutet zum
Beispiel. dass sie ihr Fach- und Expertenwissen nutzen, um die Umsetzung einiger
Maßnahmen hinauszuzögern oder sie .aussitzen" (MOD04/116). M4 sagt dazu:

"Dass einige MASSNAHMEN von irqendwelchen LEUTEN AUSGE-


SESSEN werden, ja? Und wenn's dann heißt: da (.) das ist
nur in 120 Tagen zu realisieren. Ich bin kein Planer und
ich bin auch keiner von der IE. Ja und wenn der sagt: da
brauch' ich 120 Tage für, dann sag' ich schon manchmal: Ja,
vielleicht ist es n' Aussitzen. Ich kann seine Arbeit aber
auch nicht beurteilen. M (MOD04/116)

Den Auftrag, den die Planer zu erledigen haben sowie ihre ganz individuelle
Absicht, die sie im Workshop verfolgen, kann im Gegensatz zu denen der ande-
ren Teilnehmer stehen. M2 stellt fest, dass unterschiedliche ..Intentionen" aller
Teilnehmer Auswirkungen auf den Gruppenprozess haben. Im Fall der Planer ist
es so, dass sie das befürchtete hohe Arbeit&pensum als Folge der Workshop-Maß-
nahmen mit .. Barrieren" stoppen können und auf diese Weise die Herausforderung
bewältigen. Ihre Bewältigungsstrategie bleibt individuell und wird ohne Wissen
des Prinzipals angewandt. Solange es keine offizielle Beschwerde über mangelnde
Unterstützung des Planers gibt, wird der Prinzipal nie erfahren, dass es sein Agent
ist, der die Unterstützung begrenzt. M2 beschreibt die Situation mit den Planern
bzw. den Mitarbeitern des IE als besondere Herausforderung für den Moderator,
den .Faktor Mensch" als .Unwägbarkeit" (MOD02/119) im Workshop immer
berücksichtigen zu müssen.
Die relative Spielstärke der Planer ergibt sich aus ihrer Machtressource .Fach-
wissen" sowie aus dem daraus abgeleiteten Aufbau von Unsicherheitszonen bzw.
• Barrieren" bei neuen Vorschlägen. M2 hatim Laufe der Zeit gelernt, die besonde-
ren Intentionen der Workshop-Teilnehmer zu durchschauen und kontrastiert die
Sichtweise eines nüchternen, logischen Prozesses ohne Subjekt (also ohne Macht-
beziehungen) im Gegensatz zur Sichtweise, die den Menschen, seine Absichten
und seine Interdependenzen in den Vordergrund stellt. Der von M2 dargestellte
Kontrast ist die anschauliche Darstellung seiner Lernerfahrung im Verlauf seiner
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 159

Moderatorenaufgabe und zugleich seine individuelle Erfahrung mit den Pers-


pektiven, die, wie in Abschnitt 6.1.5.2 erläutert wird, im Betrieb konkurrieren:
die mathematische Wirklichkeit (ohne Akteur) und die betriebliche Wirklichkeit
des Machbaren (mit Akteur).
An anderer Stelle macht M2 den .Konfliktpunkt" (MOD02/123) und die .Kon-
fliktsituationen" (MOD02/121) deutlich, die als übliches Problem in den Workshops
sichtbar werden: die Begrenzung des Handlungsspielraums im Workshop durch
die .Barrieren" der Planer. M2 appelliert an die Einsicht und Empatbie der Planer,
dass ihre Unterstützung und in diesem Fall auch ihre .Belastung" die Optimierung
und damit Entlastung der Produktionsmitarbeiter (PMA) bewirkt. Diese Verant-
wortung haben die Planer und die IE-Mitarbeiter zu übernehmen. Die kurzfristige
Belastung der Planer ist die langfristige Entlastung der Produktionsmitarbeiter.
Die meisten Moderatoren sind nicht in der Lage, die Arbeit des Planers vollstän-
dig zu beurteilen. Sie können die Handlungen dieser Menschen zwar beobachten,
aber die Qualität nicht einschätzen (bidden information). Die Moderatoren müssen
darauf vertrauen, dass Menschen sich selbst regulieren und ihr Verhalten an die
Notwendigkeiten der Situation anpassen (Vertrauen nach Elias 1939/1997, Bd. 2:
329). Im konkreten Fall ist davon auszugehen, dass die Planer ihr Bestes geben, um
die Arbeit im Workshop zu unterstützen. Menschen müssen Vertrauen gegenüber
Personen haben, die ihnen nicht persönlich bekannt sind. Vertrauen wird zur
Grundkategorie für das Verständnis von gesellschaflIichem Zusammenbalt und
Modernisierung.

Der Auftrag des BVKLers


Für M3 hat auch der Vertreter des betrieblichen Vertrauenskörpers (BVKLer) in
erster Linie einen Auftrag im Workshop zu erfüllen:

"Also, wenn da jetzt 'n BVKLer in so 'nen Workshop qeht. Der


hat ja erst mal PRIMÄR 'n Auftraq, ne? Und er möchte erst
mal die INTERESSEN der Mitarbeiter vertreten und natürlich
den BETRIEBSRAT entsprechend vertreten. Und entsprechend
ARGWÖHNISCH ist er ja natürlich auch darüber: WAS mach ich
[als Moderator, H.F.] jetzt FALSCH und RICHTIG hier in dem
PROZESS, ne? [._1 Aber IMMER zielführend ist ihr AUFTRAG,
den sie haben. (MOD03/27)
1I

In einem zweiten Schritt erst kann sich der BVKLer mit der Erarbeitung von Ver-
besserungen in der Gruppe beschäftigen. Den Wechsel zwischen Mitarbeit und
Auftragserfüllung lässt den BVKJ:er zwischen den Rollen Workshop-Mitglied und
160 6 Empirische Ergebnisse

Interessenvertreter hin und her springen. Wo die Grenze seiner Mitarbeit endet,
beschreibt die folgende Passage von M3:

wUnd sie machen auch GANZ gut MIT, aber es gibt auch ganz
KLAR definierte Grenzen. Wo sie dann sagen: JA, HALT, STOPP,
jetzt bin ich INTERESSENvertreter. Und das ist immer DA,
wo man dann sagt: da har. jemand Potenzial ausgebuddelt,
was in Richtung POTENZIAL geht, ne?M (MOD03/27)

Und so lässt sich zusammenfassend feststellen, dass das Ziel für den BVKLer
demnach .Auftragserfüllung" heißt.

Der Vertrauensmann als Vertreter des Teams im KVP-Workshop:


ein .undankbarer Job-
Die Aufgabe des Vertrauensmanns im Workshop lässt sich als die eines Agenten
für seine Prinzipals Betriebsrat und das eigene oder ein fremdes Team beschreiben.
Für den bereits von GENEA beschriebenen .Knieschuss" (GENEA/65) kommt
ein doppelter Sinn zum Tragen: Zum einen betreffen die .E1iminierungen jeglicher
Verschwendung" (BESAB/150), also eine Arbeitsintensivierung, eventuell auch ihn
selbst, zum anderen muss er als Vertrauensmann seinen Teamkollegen die schlechten
Nachrichten überbringen und eine ihm möglicherweise vorgeworfene unbefriedi-
gend durchgeführte Aufgabe verteidigen. Die interdependenten Beziehungen zu
anderen Menschen innerhalb seiner Figuration lassen kein autonomes Handeln
zu. Seine Handlungen im KVP-Workshop haben auch immer Auswirkungen auf
sein Team oder andere Teams:

wWenn ich meinen Job als Vertrauensmann dann nicht ernst


nehmen würde, dann könnte mir das alles auch egal sein,
aber da habe ich gegenüber der Gruppe doch schon auch Ver-
antwortung, weil theoretisch, wenn es danach gehen würde,
dann könnte ich auch Ratio bringen ohne Ende. Also, weil
ich arbeite da ja täglich und ich weiß, was man verändern
kann. Nur das ist gegenüber der Gruppe auch nicht fair,
weil die Leute müssen auch arbeiten. M (GENEE/199)

Die Herausforderung an den Vertrauensmann ist die Anwendung von Langsicbt:


Bei jedem Vorschlag im Workshop muss er mögliche Folgen mitdenken und wei-
tere Schritte abwägen. Als Vertrauensmann im KVP-Workshop werden folgende
Ansprüche an ihn formuliert: Arbeitserleichterungen erzielen und im besten Fall

82 BESAB/ISO.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 161

den vom Unternehmen bereits geplanten Abbau von Arbeitsplätzen verhindern.


Der Teilnehmer überprüft jede Regung im Workshop anhand dieser Prämissen.
Gleichzeitig überlegt er, welche Argumente er dem eigenen oder fremden Team
für jede getroffene Entscheidung vorbringt:

,..Stehst nachher noch als Buhmann da, ja (0) von wegen: Du


hast dich nicht für uns eingesetztoM (BESAA/153)

Die "Arschkarte", ein nicht identifizierter Zwischenruf in der Gruppendiskussion


GENE zur Sitoation der Vertrauensleute im Workshop, beschreibt sehr gut ihre
Position in diesem Spiel. Ihr .undankbarer Job" (BESABI150) entpuppt sich bei
genauerer Betrachtung als harte Verhandlung mit der Arbeitgeberseite über qua-
litative und quantitative Arbeitsbedingungen. Auch wenn BESAC beschreibt, wie
in den Vorbereitungen auf den Workshop Argumente gegen die Teamreduzierung
genannt wurden, zeigt seine Aussage: "Ja, und dann sitzt du da oben", dass er sich
dann nur noch auf sich selbst verlassen kann. Wie sich die Handlungsspielräume
tatsächlich darstellen und im weiteren Verlauf entwickeln, wer welche Machtres-
soureen besitzt, zu welchen Zeitpunkt sie aktiviert werden und welche Dynamik
sich innerhalb der interdependenten Beziehungen aufbaut, ist zu Beginn des
Workshops völlig offen und erweist sich als Unsicherheitszone:

,..Und danach ist dann eben gesagt worden (.) oder vor diesem
(0) Workshop ist immer gesagt worden: Ihr müsst euch da
anstrengen, dass wir den Mann halten und ähh (.) und das
und das könnt ihr da mit einbringen und hier und da. Ja,
und dann sitzt du da oben und dann wird gesagt: Ja (.) und
so. Dann mal 10s!U (BESAC/131)

Die Vertrauensleute haben sich in eine Situation begeben, die einem relativ chan-
cenlosen Kampf gleicht. Trotz guter Argumente ist es ihnen kaum möglich, die
Teamreduzierung zu verhindern. Vor allem die Pseudopartizipation, also die
verbale, aber nicht praktische Ausweitung ihres Handlungsspielraums, lässt die
Vertrauensleute fast chancenlos in eine Verhandlung gehen, deren Ziele bereits
bestimmt sind.
Der KVP kann Auswirkungen auf die Stellung der Figurationen Betriebsrat und
Vertrauenskörper in der Organisation haben und sie schwächen, so formuliert es M2:

... Für einige Menschen mag es äh oftmals nachteilig wirken,


denn wenn ich jetzt nicht von meiner Position oder von einer
Position des Managements oder so ausgehe, dann muss ich
sagen, dass an einigen Stellen vielleicht äh die(.) ja die
162 6 Empirische Ergebnisse

(.) Stellung äh einiger Personen oder, oder Institution wird


natürlich auch 'n bissehen geschwächt. Der kontinuierliche
Verbesserungsprozess verlangt natürlich, eine Verbesserung
der (.) der Effizienz und, und der der Strukturen und das
geht oftmals einher mit äh der (.) der ja mit, mit Arbeits-,
F-Zeitkürzunq, Fertiqungszeitverkürzungen, was natürlich
zu Lasten, erst mal grob gesehen, äh der der Belegschaft
geht. Das ist Fertiqungszeit geht raus und ähm das schwächt
natürlich irgendwo auch die Stellung des Betriebsrates und
der, der ähm (2) Vertrauenskörperschaft, denn ein Verlust
an F-Zeit wird erst mal dort, wenn auch fälschlich als
Niederlage gesehen. u (MOD02/129)

M2 beschreibt die Verluste in der Verhandlung um den Erhalt der Bedingungen


(Fertigungszeit) als Schwächung der Interessenvertretung. Die .Niederlage" in den
Verhandlungen auf Workshop-Ebene schwächt die Vertreterfiguration, da sie den
Hauptaspekt ihrer Bemühungen angreifen: Verhinderung von Arbeitsintensivie-
rung und Arbeitsplatzabbau.

Wieso ist es für den Vertrauensmann wichtig, einen Mitarbeiter .ohne


Funktion-" mit in den Workshop zu nehmen?
Die Hauptaufgabe für den normalen Mitarbeiter ohne Funktion ist seine Rolle
als Experte auf seinem oder dem zu untersuchenden Teilabschnitt sowie seine
Aufgabe als Entlastungszeuge für den Vertrauensmann. Die Mitarbeiter ohne
Funktion bekommen einen Einblick in den komplizierten Aushandlungsprozess
im KVP-Workshop, der die Teilnehmer nicht autonom handeln lässt. Sie beginnen
zu verstehen, dass man seine Forderungen "nicht übers Knie brechen kann" (GE-
NEBI70). Folglich erfahrt der Vertrauensmann eine Entlastung und wird im besten
Fall nicht mehr die .Arschkarte" bekommen und als .Sündenbock" (GENEH/67)
und .Schuldiger" (ebd.) für Verschlechterungen im Arbeitsprozess (allg.: negative
Veränderungen) geiten. Die folgenden Passagen von GENEB und GENEE machen
den Vorteil deutlich, einige Mitarbeiter ohne Funktion einzubeziehen:

,..50 hat der Mann auch einen Einblick bekommen, wie das
in einem Workshop läuft, das man nicht alles nur über das
Knie brechen kann, sondern man muss auch Geben und Neh-
men." (GENEB/70)
,..Es ist für mich sehr wichtig, weil das Problem was wir
hatten, ähh beim KVP war am Anfang nur der Vertrauensmann

83 "Leute [...], so normal, ohne Funktion"' (GENEA/93) beschreibt Produktionsmitarbeiter,


die keine zusätzliche Funktion wie Teamsprecher oder Vertrauensmann bekleiden.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 163

mit dabei und äh laut den Vereinbarungen sollte auch der


Teamsprecher oder ein Mitarbeiter der Gruppe dabei sein.
Bei mir immer dafür gesorgt, dass da zusätzlich einer ein-
geladen wird. was, bei unserer Schicht lief das, aber von
den Gegenpart von einer Schicht, der Meister, der wollte
das nie. Und da lief das nachher alles über den Betriebs-
rat, dass wir einen Mitarbeiter dazu hatten. Das hieß also,
wir hatten zwei aus einer Schicht immer bei so einem KVP
dabei. Und das ist für mich sehr wichtig. weil ich als
Vertrauensmann möchte nicht immer nachher (... ) [Zwischenruf:
Die Arschkarte1(_) ja, ja die ganze Schuld für diesen KVP
bekommen, weil die Mitarbeiter gar nicht mitkriegen, wie
so ein KVP wirklich abläuft. Und dadurch haben die Mitar-
beiter auch einmal den Einblick, wie so ein KVP abläuft.
Und das ist für mich sehr wichtig. u (GENEE/56/58)

Der Einblick in den Workshop öffnet den Teilnehmern ein bisher .verschlossenes"
Auge, sodass sie befahigt werden, mit .zweierlei Augen" (BESAC/201) zu sehen.
Das zurückgelassene Team und sein Entsandter für den Workshop kennen keinen
gemeinsamen Erlrenntnisweg (blinder Fleck). Die eigene Erfahrung der Niebtteil-
nehmer hätte gezeigt, dass autonomes Handeln im Workshop niebt möglich ist.
Zwänge, die Menschen aufgrund ihrer wechselseitigen Abhängigkeit aufeinander
ausüben und Formalitäten (standardisierter AblauO, an die sieb die Teilnehmer
halten, begrenzen den eigenen Handlungsspielraum. Auf diesem Auge ist das
restliebe Team (Nichtteilnehmer) blind. BESAC stellt fest, dass man als Teil einer
Gruppe nicht unvernünftig und asozial agieren kann, sondern ..teamfähig sein" muss
(BESAC/188) (Balance der leb-Identität). Im Workshop wird man sehend, da sieb
das zweite Auge öffnet. Die Teilnehmer sehen nicht nur die eigenen Forderungen,
die umgesetzt werden sollen, sondern auch die Situation, die aus interdependenten
(niebt autonomen) Menschen besteht. Jedes Teammitglied wäre in die gleiebe ver-
flochtene Situation geraten und .hätte genau das Gleiebe aufdiktiert bekommen",
wie BESAC in der folgenden Passage ausführlieb beschreibt:

wMan muss das immer mit zweierlei Augen sehen: Wenn du in


diesem Workshop mitmachst (.) und dir wird dann genau auf-
gelegt, was du überhaupt für Arbeiten hast (.) und, dass du
das in der und der zeit schaffen kannst, dann kann man das
ja selber so sehen und dann sacht man auch ja: Verdammt
nochmal, ja, da ham wir auch ,ne gute Zeit gehabt, dass wir
das so lange mit (.) so und so viele Leuten machen konnten.
Aber jetzt sind sie uns eben (.) ham sie und gekriegt. Ja
(.) aber das muss man den Leuten unten erst mal weiß ma-
chen (.) Da ist das. Das ist das Problem an der Sache, ne?
164 6 Empirische Ergebnisse

Dass die selber nicht dabei sind, weil jeder andere, der
da oben mit sitzen würde oder gesessen hätte, hätte qenau
das Gleiche aufdiktiert bekommen bzw. hätte gesehen: So und
so viel zeit hat man und (.) ne? Dann wir' es denen auch
,n bissehen näher gebracht worden. M (BESAC/201)

Der Doppelcharakter und die Schnittmengen der Verbesserungen sind nicht nur
motivierend für die Beschäftigten. sich weiter beim KVP zu beteiligen. sondern
auch eine Argnmentationshilfe für die Vertrauensleute:

nWeil wir wirklich das umgesetzt haben, was wir haben woll-
ten und äh, klar haben wir da F-Zeiten eingespart durch
Laufwege, aber dafür ist der ganze Arbeitsablauf weitaus
besser als vorher, ne? Und das ist was Schönes und das kann
man dann auch vermitteln und dann sind die Mitarbeiter
auch zufrieden. M (GBNEE/97)

Die an den KVP-Workshops beteiligten Beschäftigten sind also bemüht ihren


Erkenntnisweg mit Kollegen »ohne Funktion", um ihnen die Verflechtung mit
anderen Menschen betrieblicher interdependenten Gruppen vor Augen zu führen.
Im nächsten Abschnitt werden die Figurationen im Fallbetrieb analysiert.

6.1.2 Zwei machtvolle Figurationen Im Unternehmen


(Etablierte und Außenseiter)

Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits gesehen, lassen sich im Unternehmen


zwei mächtige Figurationen identifizieren, die sich in einem Verflechtungsprozess
befinden: Arbeitgeber (Vorgesetzte) und Arbeitnehmer. Die Interessenvertretung
der Arbeitnehmer in Gestalt des Betriebsrates und des Vertrauenskörpers bildet
eine dritte Figuration, die im Sinne der Deckungsgleichheit der Interessen eine
Einheit mit den Arbeitnehmern bildet. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerfiguration
unterscheiden sich aufgrund ihrer Interessensschwerpunkte: einerseits das Inter-
esse, die Effizienz und die Gewinne zu erhöhen (Unternehmen), andererseits das
Interesse, die Arbeit humaner zu gestalten {Arbeitnehmer und ihre Interessenver-
treter)1I4. Die Beschäftigten versuchen, die Spannung der Interessensgegensätze im
Gleichgewicht (Machtkonstellation im Betrieb) zu halten und der ungehinderten

84 Die Arbeitsplatzsicherheit und der Standorterhalt werden vom Unternehmen oft als
gemeinsames Ziel proklamiert und sollen im Sinne eines Selbstzwangs instrumenta-
lisiert werden.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 165

Rationalisierung (Entgrenzung) im Rahmen des KVP etwas entgegenzusetzen


(Be-Grenzung). GENEC (Vertrauensmann) beschreibt die Notwendigkeit eines
kontinuierlichen Widerstands gegen die rein ökonomischen und damit inhumanen
Interessen des Unternehmens:

,..Aber das wird passieren und alles andere, wenn wir da


nicht gegenhalten, dann wird gar nichts mehr passieren.
Und darum muss es immer wieder von uns kommen, weil es
kommt von den anderen nicht, jedenfalls nicht freiwillig. u
(GENEC/209)

Die Einteilung in zwei betriebliche Lager ist ein zentrales Motiv der Gruppendis-
kussionen und wird von den Befragten anschaulich erläutert wie die folgenden
Ausführungen zeigen.

6.1.2.1 Verhandlungsarena KVP-Workshop: "wir" und "dieu


Die .Fürwörterserie als Figurationsmodell" (Elias 1970/2004: 132tf.) steht den Men-
schen als SprachmiUel zur Verfügung, das Selbst (.ich" und .wir") in Beziehung
zu anderen ("er", "sie", "es" oder "sie" im Plural) zu setzen, die "momentan oder
dauerhaft außerhalb der hier und jetzt miteinander kommunizierenden Personen
stehen" (ebd.: 133). Die PMA nutzen dieses Sprachmittel in den Gruppendiskussionen
und ergänzen das "sie" um die deiktische Bezugnahme zu den anderen mit einem
.die" (.die wollen", .die gehen schon wieder rum"; BESAB/22, ZG2) und verweisen
damit auf die "anderen", mit denen sie in einer interdependenten Beziehung stehen:

,..Genau, es ist das. Die KVP's, die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen DIE auch dafür sorgen, dass das, was wir erarbei-
tet haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da [auf
dem Haßnahmenblatt, H.F.] drauf steht. Das ist nicht der
Fall." (GEBEE/205)

Der Gebrauch personaler oder auch sozialer Deixis in sprachlichen Äußerungen


verweist auf die .fundamentale Bezogenheit jedes Menschen auf andere" (ebd.:
134) und liefert ein .präzises Beziehungsgerüst" (ebd.: 138), das .dem vielpers-
pektivischem Charakter der gesellschaftlichen Zusammenhänge" (ebd.) gerecht
wird: "Das Bild einer solchen Figuration ist eine Bedingung fur das Bild, das er
[der Mensch, M.F.] von sich selbst als einzelnen hat, für das Bewußtsein seiner
persönlichen Identität." (ebd.: 139)
Zusätzlich werden von den Teilnehmern der Gruppendiskussionen örtliche
Deiktika eingesetzt (.da oben"), die einerseits auf die außerhalb ihrer Figuration
166 6 Empirische Ergebnisse

stattfindenden Handlungen und Geschehnisse und andererseits auf die hierarchi-


sche Trennung der Figurationen innerhalb der Organisation verweisen, die einen
Einfluss auf die eigene Figuration haben: .da" werden Entscheidungen getroffen
und ..hier" haben sie Einfluss auf die PMA. 3S
Die Spannung zwischen beiden Figurationen (wir und die) innerhalb der
Organisation,offenbart sich im KVP-Workshop und mündet in eine direkte Ver-
handlungssituation. Mastenbroek beschreibt die Lage zwischen interdependenten
Individuen, die sich in einem Interessenkonflikt befinden, wie folgt:

..Verhandeln ist die richtige Strategie, wenn Interessen unterschiedlich oder entge-
gengesetzt sind, wenn die wechselseitige Abhängigkeit so groß ist, dass eine über-
einkunft Vorteile für heide Parteien bietet. In diesem Fall sind sich die Parteien nicht
einig. aber bereit. zu einer Übereinkunft zu gelangen. da es für sie nachteilig wäre.
wenn sie einerseits die Dinge treiben ließen oder andererseits kämpfen würden,-
(Mastenbroek 1992: 234)
Ein Produktionsmitarbeiter briogt die Situation, die sich eher ungeplant in den
KVP-Workshops ergeben hat auf den Punkt, indem er ganz selbstverständlich
feststellt:

nK1ar, die haben eine Strategie und du musst gucken, dass du


da eine Geqenstrateqie entwickelst. So ist das. u (GENEA/140)

Die wechselseitige Funktion beider beruht darauf, dass sie einen Zwang aufeinander
ausüben können, der mit der Machtbalance in der Organisation zusammenhängt.
Die Funktionen, die Unternehmer und Beschäftigte füreinander haben, sind
Machtproben unterworfen, die auf folgenden Fragen beruhen:

",Wer braucht wen mehr? Wessen Funktion für den anderen, wessen Angewiesenheit
auf den anderen ist größer oder kleiner? Wessen Abhängigkeit von dem anderen ist
dementsprechend kleiner oder größer? Wer hat größere Machtchancen und kann
dementsprechend den andern in höherem Maß steuern. die Funktionen des anderen
herabmindern oder ihn gar seiner Funktionen berauben?" (Elias 1970/2004; 82)

Im Folgenden werden die Machtproben beschrieben, die sich im Verlauf der


Analyse zeigten.

85 Auf wen sich die Fürwörter ..wir" und ",sie" (hier auch ..die") konkret beziehen. kann
sich im Laufe der Zeit verändern. Die Trennung in Produktionsmitarbeiter und die
anderen, die hier in Untersuchung von den Befragten vollzogen wird. ist nicht zwangs-
läufig für immer in Stein gemeißelt.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 167

6.1.2.2 Die Machtprobe


Die Verbesserungsmaßnahmen des KVP werden von den Befragten nach zwei
Aspekten aufgeteilt und priorisiert. Einerseits gibt es die [betriebswirtschaftlich
wertneutrale, M.F.] Verbesserung der Arbeitsorganisation ("die Verbesserung
selbst", GENED/18), die zu gesünderen, ergonomischeren Arbeitsabläufen und
Bewegungen führt und eine Erleichterung für die PMA bedeutet. Diese schließen
nicht zwangsläufig eine betriebswirtschaftliehe Effizienz aus. Alle Maßnahmen
sollten im besten Fall Verbesserungen für die Situation der PMA darstellen (Er-
gonomie, Arbeitssicherheit, z. T. auch Qualität):

wGenau das ist, was ich mir zum Beispiel unter einem KVP
vorstelle. Die Verbesserung des Arbeitsablaufes für uns, egal
ob es Ergonomie ist, ob's Arbeitssicherheit ist. M (GENEE/33)

Andererseits sind es die Veränderungen der Arbeitsorganisation, die sich in Zahlen


ausdrücken lassen und zu Verbesserungen in der "verbrauchten Zeit'" [Fertigungszeit,
M.F.] (MODIBE/35) führen, bilden den zweiten Aspekt: "Leute oder F-Zeiten einsparen"
(GENEE/19) [F-Zeit = Fertigungszeit, M.F.]. Diese Verbesserungen schließen wiederum
nicht zwangsläufig humanere Arbeitsbedingungen aus. Von den Teilnehmern wird
der Zahlenaspekt in den Begriffen "Ratio· (z. B. GENED/14, GENEE/19, GENEA/20,
BESAC/320, STEWED/767) und "Ratio-Potenziale" (GENEA/20; GENEE/106) zu-
sammengefasst. Trotz anderer Präferenz der Beschäftigten sind die Verbesserungs-
maßnahmen in erster Linie Rationalisierungen, wie GENEH feststellt:

wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bisschen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld, ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?M (GENEH/29)

Die Teilnehmer der Gruppendiskussionen haben im Diskurs eine Präferenzordnung


der Verbesserungstypen erarbeitet, indem sie die Orientierung des Unternehmens
als Fremdposition in Kontrast zur eigenen Position darstellen. Die Sichtweise
des Unternehmens, was KVP ist, hat einen stärkeren Einfluss auf die tatsächlich
durchgeführten Verbesserungen als die Definition der Beschäftigten. GENED
stellt fest, dass die Präferenzen des Unternehmens ganz klar auf der Seite der
Rationalisierung sind, also der KVP in erster Linie ökonomischen motiviert ist
und dahingehend realisiert wird:

wJa, als Erstes ist es auf alle Fälle Ratio, ganz klar. Das
ist bei mir, ganz, steht als erstes bei. Und das zweite
168 6 Empirische Ergebnisse

natürlich die Verbesserungen selbst, vom Ablauf her, er-


gonomisch, so sieht es aus. u (GENEO/18)

Die Befragten sind sich dem präferierten Ziel des Unternehmens hinsichtlich des
KVP bewusst, genauso wissen sie, dass Verbesserungen einen Doppelcharakter
(.auch vernünftige Sachen". BESACI70) aufweisen können. also nicht nur wert-
neutrale, ergonomische, sondern zur gleichen Zeit auch ökonomische Effizienz
zur Folge haben können. Minssen spricht von einem "nicht unliebsamen Ne-
beneffekt" (Minssen 1999: 133). wenn sich im Rahmen partizipativer Verfahren
die Perspektiven von Management und Beschäftigten decken. Die gemeinsamen
Schnittmengen sind der Motivationsschub für die Beschäftigten. sich weiterhin
zu engagieren. Die Beschäftigten arbeiten an der eigenen Leistungsintensivierung
mit (Subjekte der Rationalisierung). Die Ambivalenz des KVP-Konzepts ist ihnen
bewusst. STWEBfbringt es auf den Punkt, wenn sie feststellt:

wWei1, wenn man jetzt Wege einspart, dass, Wege sind Zeit,
auch wenn'g bequemer für uns ist, Wege sind Zeit und dann
kann's passieren, dass ein Mann rauskommt. So, dann über-
legt man sich schon, lauf' ich lieber ein paar Meter mehr
oder sag ich das jetzt?1I (STEWEBf" /494)

GENEE verdeutlicht in der folgenden Passage den Zwiespalt. in dem sich die
PMA im Ralunen des KVP befinden. Früher ging es definitiv um Ratio. An dieser
Orientierung hat sich bis heute eigentlich nichts geändert. Das Konzept des un-
tersuchten Fallbetriebs beschreibt die Maßnahmen als Leistungsaustausch oder
auch .Leistungsvertrag". bei dem keine Arbeitsplätze abgebaut. niemand finanziell
schlechter gestellt und die Standorte modernisiert werden. wenn die Beschäftigten
im Gegenzug die Effizienz ihrer Arbeitsleistung erhöhen und produktiver arbeiten.
Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen wird nicht explizit als Teil des Leis-
tungsaustauschs aufgeführt. Die Leistung der PMA erfolgt .zum ermäßigten Preis
des bloßen Arbeitsplatzerhalts" (Dörre 2002: 3) und ist ein Hinweis auf den vom
Unternehmen als geroeinsames Ziel formulierten Standort- und Arbeitsplatzerhalt.
Mit Anwendung der Kaizen-Methoden - so die Logik des Konzepts - erfolgt die
Verbesserung der Arbeitsbedingungen quasi automatischll7•

86 Das kleingeschriebene ..f" kennzeichnet die weibliche Form und weist daraufhin, dass
es sich um das Zitat einer Gruppendiskussionsteilnehm.erin handelt.
87 Hinweis auf Kaizen ,anders herum<: tendenziell fokussiert der untersuchte KVP
zunächst die Produktivität, um dann automatisch bessere Arbeitsbedingungen zu
erhalten. Das Konzept geht von einer Synergie aus, in der beides zusammenfallt. Die
ursprüngliche Idee des Kaizen ist. wenn die Voraussetzungen für eine höhere Qualität
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 169

Die neuen Ziele, die im Grunde nicht neu sind, werden mithilfe von Kai-
zen-Werkzeugen erreicht, die den Interessengegensatz von Unternehmer und
Beschäftigtem aufheben sollen (vgl. Imai 1994). Diese Sichtweise vernachlässigt die
Machtasymmetrie in Unternehmen bzw. bezieht sie nicht mit ein. Das Gewicht, das
bei der Durchführung des KVP nun auf die allgemeinen Verbesserungen gelegt
wird, soll die ökonomischen Ziele verdecken. Allerdings haben die PMA diese
Vorgehensweise längst durchschaut, denn sie wissen, "die ham sich 'n Ziel gesetzt"
(BESAB71). Das im Fallbetrieb vorgefundene Partizipationsverfahren entspricht
eher einer "verordneten. funktionalisierten. mit vorgegebenen Unternehmens-
zielen konformen Beteiligung" (vgl. Wolf 1999: 152), die GENEE im Folgenden
aoschaulich mit dem »Endeffekt" beschreibt:

".Ich habe die alten Workshops gemacht und ich habe die
neuen Workshops mitgemacht, also die alten, die waren de-
finitiv nur auf Ratio aus. Da wurde schon im von vornherein
bestimmt, was Sache ist. Und jetzt die neuen Mitarbeiter,
da wird auch ein bisschen auf uns eingegangen, dass man
bei uns was verbessern kann. Im Endefiekt geht es eigent-
lich auch nur darauf hinaus, dass wir dadurch Leute oder
F-zeiten einsparen. M (GENEE/19)

Die PMA haben im Workshop eine eher eingeschränkte Wirkungsmacht, Ar-


beitsprozesse und Handlungen zu verändern oder mitzugestalten. Der Grund
sind Workshops, die mit einer »Auflage" (BESACI9) und einer vorab definierten
»Aufgabe" (ebd.) (Mann einsparen) starten, die dann zum Muss-Ziel erklärt wird.
Das Unternehmen will sich im Workshop nicht mit der Gegenseite verständigen,
sondern die Ergebnisse erzielen, die es sich unter Ausschluss der Prodnktions-
mitarbeiter selbst gegeben hat. BESAB (Zielgruppe 2) kritisiert den Beschluss,
der ohne die Mitarbeiter fallt und liefert damit einen Hinweis auf eine mögliche
Scheinpartizipation der Produktionsmitarbeiter im Workshop:

".Das ist dann schon beschlossene Sache. M (BESAB63)

BESAC erkennt die Gesetzmäßigkeit, die hinter der Optimierung der Arbeitsabläufe
steckt, nämlich die Einsparung von Arbeitsplätzen (Langsicht):

gegeben sind. dass sich Produktivität quasi automatisch einstellt: .Japanische Manager
haben erkannt. dass Verbesserung um der Verbesserung willen der sicherste Weg zur
Verbesserung der gesamten Wettbewerbsfahigkeit eines Unternehmens ist. Wenn man
auf Qualität bedacht ist. stellen sich die Gewinne von selbst ein." (Imai 1994: 74)
170 6 Empirische Ergebnisse

wTja, bei uns ist da einfach nur Optimierung von Arbeits-


abläufen gewesen, weil von vornherein, die, die (.) die
Aufgabe war, einen Mann einzusparen. Fertig ausl Mehr
war das nicht [... ] die Auflage von unserer Va (.) Führung,
weswegen wir das gemacht haben, diesen workshop (.) ist
einfach passiert. Der Mann ist rausgekommen und damit war
die Sache qutl M (BESAC19)

Andere Teilnehmer in BESA bringen es auch auf den Punkt:

wUnd BO kann man selber noch ,n bissehen mit-steuern, ob-


wohl (.) ich sach ja immer, diese workshop-Geschichte ia l

ja einfach nur BO: du wirst eingeladen, kannst zusehen,


dass du ,n paar Sachen da ausarbeitest, was ja natürlich
auch gut ist. Es kommen ja auch ,n paar vernünftige Sa-
chen da zustande. Es ist aber (.) einfach (.) es geht da
drum, vielleicht (.) nicht in jedem workshop, aber (.) es
ist so (.) ein Mann kommt da raus, oder zwei Mann, ich
weiß nicht, da gibt's ja irgendwie ,ne Vorgabe, was, was
am Anfang keiner sacht, aber [etwas lauter] darauf wird
hingearbeitet U (BESAC70)

Der Handlungsspielraum wird von den PMA als begrenzt wahrgenommen. Den
Durchmarsch des Unternehmens können sie nicht stoppen, nur verlangsamen. In
den Ausführungen der PMA gebt es darum, Schadensbegrenzung zu betreiben (vgl.
GENEC22). Das vorab definierte Ziel, das meistens unausgesprochen und latent
bleibt, soll im KVP-Worksbop angesteuert werden. Der Handlungsspielraum der
PMA besteht, darin mit- oder gegen-zusteuern. Das Unternehmen ist in diesem
Vergleich der Kapitän, der das Ziel bestimmt:

".Bisschen gegensteuern versuchen vielleicht, dass man [... ]


dass man dann sagen kann: So, statt drei Mann kommen da
jetzt nur zwei Mann raus, weil, das geht nicht anders. U
(BESAA330/332)

Die PMA versuchen nun zumindest ,.mit-zusteuern" oder wie GENEe es ausdrückt:

".Da kann man versuchen noch ein bissehen gegen zu drücken,


aber in den meisten Fällen ist leider nichts mehr zu ma-
chen." (GENEC/22)

Obwohl bei den Gruppendiskussionen GENE, STEWE und BESA deutlich wird,
dass der Handlungsspielraum als äußerst klein wahrgenommen wird (.die [das
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 171

Unternehmen, M.F.] wollen den vierten Mann und die kriegen den vierten
Mann auch." BESAC/23), resignieren die Produktionsmitarbeiter nicht, denn sie
wissen, das Machtgleichgewicht im Unternehmen darf nicht gefahrdet werden,
indem sie das Pendel ungehindert Richtung Unternehmen schlagen lassen. In
seiner Funktion als Vertrauensmann formuliert BESAC die Herausforderung
beispielsweise so:

"Aber das ist genauso, das ist genauso wie mit den wahlen,
sag ich mal, wenn man nicht hingeht und nicht wählt, dann
l

wählt man immer die Verkehrten. Also, sollte man auch,


so seh' ich das, ich seh' das persönlich so für mich, ich
hab l auch gleich gesagt: Wenn hier sich keiner bereit er-
klärt als Vertrauensmann - wir haben drei Stück bei uns im
Bereich - wenn sich hier keiner bereit erklärt, dann geh'
ich da hin. Weil, wenn da GAR keiner von uns sitzt und,
und nichts einbringt, dann, dann können wir genauso gut
gleich sagen, hier: Da [tippt auf den Tisch] unterschreibt
eben, der Mann kommt weg und alles andere bleibt so, wie
es ist." (BESAC/155)

Das Kräftemessen (Machtprobe) beider Figurationen führt die Verflechtungssphäre


.Unternehmen" in eine Beharrungstendenz, die in Abschnitt 6.1.4.2 ausführlich
dargestellt wird.

6.1.2.3 Veränderungen der industriellen Beziehungen:


direkte Partizipation oder betriebliche Mitbestimmung
Aushandlungen, die zuvor auf der höheren Integrationsebene stattfanden (kol-
lektiven Interessenvertretung), finden nun zwischen betrieblichen Figurationen
statt (individuellen Ebene im KVP-Workshop), d. h. zuvor zwischen Betriebsräten
und Management und nun zwischen Produktionsmitarbeitern (in doppelter
Funktion auch als Vertrauensmann oder als Teamsprecher) und einem nicht
näher zu bestimmenden Gegenüber, das sich in Form von KVP-Methoden und
anderen vertikalen Funktionen wie den IE-Vertretern zeigt. Im Produktionssystem
verschwinden quasi die Aushandlungspartner für die Beschäftigten, aber auch
für die Betriebsräte.
Die traditionelle Teilung beginnt löchrig zu werden (Entgrenzungserscheinung),
die Dörre in einem Kontrast deutlich macht: einerseits die qualitativen Arbeitsin-
teressen als Aufgabe der betrieblichen Interessenvertretung und andererseits die
quantifizierbaren Forderungen in der Arena der Tarifautonomie (vgl. Dörre 2010:
886). Wenn die Erhöhung der Wertschöpfung und die daraus resultierende Leis-
tungsintensivierung in den Workshops verhandelt werden, geht es erstmals um die
172 6 Empirische Ergebnisse

Aushandlung quantifizierbarer Forderungen aufbetrieblicher Ebene. Die Themen


der kollektiven Interessenvertretung wandern in den individuellen Bereich, der
ohne institutionalisierte Interessenvertretung agiert. Die qualitative Nutzung der
Arbeitszeit" bedeutet für die Beschäftigten, dass sie bei gleichem Lohn produktiver
arbeiten. Statt das Zeitvolumen auszudehnen89 und mehr Stunden zu arbeiten, was
zu steigenden Lohnkosten für die Unternehmen führen würde, beschließen die
Unternehmen eine Verdichtung des Volumens, die als "reine ,unvermischte' Arbeit
keine unnützen Unterbrechungen oder Ablenkungen [... ] duldet" (Bahrdt 1983: 125)
und zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität führt. Die Beschäftigten können
in der gleichen Zeit produktiver arbeiten und so die Gewinnspanne der Produkte
erhöhen. Bei der Aushandlung in den KVP-Workshops geht es auf Shop-Floor-
Ebene nicht mehr nur um Arbeitsplatzgestaltung, sondern um quantilizierbare
Größen (Entlohnung, Personaleinsatz, Leistung). Eine klare Grenzziehung, so wie
Dörre sie formuliert, ist auf diese Weise nicht mehr möglich.
Indirekte Partizipation, die über das Stellvertretergremium Betriebsrat erfolgt,
wird um eine direkte Partizipation der Beschäftigten ergänzt. Subjektivierung
heißt auch, sich selbst zu vertreten (individuell) und nicht von einern Stellvertreter
(kollektiv). Das duale System der Interessenvertretung90 wird zu einem .triple
system" (Müller-Jentsch 1995). Auf der betrieblichen Ebene verdoppelt sich die
Interessenvertretung in eine institutionalisierte kollektive sowie eine individuali-
sierte (vgl. Minssen 2012: 168). Im vorliegenden Fallbeispiel werden die Interessen
des Teams im Workshop häufig von den Vertrauensleuten und Teamsprechern
stellvertretend wahrgenommen und nur in wenigen Fällen von den Produktions-
mitarbeitern .ohne Funktion" (GENEA93) selbst. Die .gelenkte Subjektivierung"
erfolgt durch die zusätzliche .Hierarchieebene" Teamsprecher und hemmt im
Grunde die rein individuelle, subjektive Interessenvertretung.
Betriebsräte sind nun nicht mehr die einzigen Interessenvertreter im Betrieb
und müssen den Verlust dieses .Monopols" (vgl. Minssen 1999: 130) fürchten.
Die Beschäftigten waren zwar als machtvolle Figuration schon immer ein ernst
zu nehmender kollektiver Akteur der Organisation, aber aufgrund der direkten
Partizipation bekommen sie ein neues Gewicht (die Erweiterung der Entschei-
dungs- und Handlungsspielräume) und tauchen auf der Landkarte der betrieblichen
Interessenvertretung auf. Ihre bisher latent vorhandene .Primärmacht" (Jürgens
1984: 161ff.) wird nun aktiviert.

88 Vgl. qualitative zeitliche Entgrenzung (Jürgens 2007: 170).


89 Vgl. quantitative zeitliche Entgrenzung (ebd.).
90 Gemeint ist die vom Betriebsverfassungsgesetz bestimmte formale Trennung der
Aktivitäten der Gewerkschaften und Betriebsräte (vgl. Birke 2007: 48).
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 173

Direkte Partizipation ist für die Menschen in einer Organisation neu und
unterscheidet sich grundlegend von der tayloristischen Logik, die Planung und
Ausführung trennt. Neu sind auch die in Bewegung geratenen hierarchisch-bü-
rokratischen Strukturen. Die Beschäftigten werden aufgrund der Teilnahme an
den KVP-Workshops zwar ein Teil dieser neuen Partizipationslogik, beziehen sich
aber dennoch auf die tradierte symbolische Vermittlung eines .oben" und .unten"
sowie aufihre Rolle als Anweisungsempfanger (Einbahnstraße). Das folgende Zitat
eines PMA zeigt beispielhaft die noch immer geltende Oben-unten-Symbolik:

wGenau es ist das. Die KVP's die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen die auch dafür sorgen, dass das, was wir erarbeitet
haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da drauf
steht. Das ist nicht der Fal1. u (GENEE/205)

Es handelt sich bei den KVP-Workshops nicht nur um direkte Partizipation (Mit-
wirken an betrieblichen Entscheidungen), sondern auch um direkte (synchrone)
Kommunikation und damit Konfrontation zwischen planenden und ausführenden
Positionen. Minssen spricht in diesem Zusammenhang von »einem neuen Modus
betrieblicher Kommunikation" (Minssen 1999: 132). GENEE stellt fest, dass man
»lernta, mit Menschen anderer Figurationen zu sprechen, in denen möglicherweise
andere Kommunikations- und Verhaltensstandards gelten:

wOb's Planer sind, ob's IEs oder so, man kommt auch weiter
und das finde ich auch gar nicht so schlecht, weil man lernt
dann auch den Umgang, mit diesen Leuten zu reden. Das ist
schon ganz toll." (GENEE/167)

Neue soziale Beziehungen als Folge der Zusammenarbeit im KVP-Workshop


führen zur direkten Konfrontation und Kommunikation mit Menschen anderer
Figurationen. Die Teilnehmer sind also aufgefordert, wenn sie nicht den Verlust
der Anerkennung oder ihrer sozialen Identität fürchten wollen, sich den neuen
Herausforderungen zu stellen91 • Neue informelle Kooperationsbeziehungen sind

91 Vgl. auch die Ergebnisse der Studie zur Implementierungvon Teamarbeit im gleichen
Fallbetrieb im Jahr 2001. Mit der Einführung der Teamarbeit in 2001 mussten sich die
Beschäftigten mit neuen sozialen Beziehungen auseinandersetzen. die im Rahmen der
Teamgespräche wichtig wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits festgestellt. dass
.die Akteure nun mit den allgemeinen Werteordnungen der Organisation und der
anderen Akteure konfrontiert [sind]. Das bedeutet. dass das eigene Verhalten bewertet
und gegebenenfalls negativ sanktioniert werden kann. Demnach birgt ein Handeln,
für das man selbst die Verantwortung trägt. ein erhöhtes Risiko."' (Frerichs 2002: 54)
174 6 Empirische Ergebnisse

nicht programmatisch oder hierarchisch abgesichert und nicht in der Lage, sich
auf formelle Regeln zu beziehen (Unsicherheitszone). Zudem konnte sie noch
keine Vertrauensbeziehung aufbauen, die sich im Laufe der Zeit einstellen könnte
(.kalkulierter Kooperationswille", vgl. Kädtler 2004: 67).
Die Teamsprecher sind ein neuer betrieblicher Akteur (neue Hierarchiestufe),
der seine Legitimation zum einen fachlich aus seiner Verantwortung für den Ar-
beitsablauf und zum anderen aus seiner Wahl durch das Team erhält. Die ca. 400
Teamsprecher im Fallbetrieb bilden eine neue innerbetriebliche Interessenvertre-
tung (vgl. BraczykJSchienstock 1996: 321), die genauso wie die Vertrauensleute und
Betriebsräte per Wahl legitimiert sind. Zudem wurden sie in Qualifizierungsmo-
dulen fachlich sehr gut geschult. Diese Konstellation macht die Teamsprecher zu
Konkurrenten der Betriebsräte und Vertrauensleute92 • Im eigenen Team müssen
Interessen abgestimmt werden, um zu gewährleisten. dass der Teamsprecher das
Team adäquat nach außen vertreten kann. Diese Anforderung verlangt eine neue
Kommunikationsleistung des gesamten Teams wie auch der direkten Vorgesetz-
ten wie den Meistern. Innerhalb "diskursiver Koordinierung"93 (Minssen 2006:
129f.) erfolgt die Steuerung durch Abstimmung im Team, die Kommunikations-
beziehungen im Unternehmen aber werden nicht gänzlich diskursiv gestaltet. Die
festgelegten Unternehmensziele entziehen sich dem betrieblichen Diskurs und
werden nur in eine Richtung - top down - an den shop floor kommuniziert (vgl.
ebd.; Braczyk 2001: 49).

92 Im Fallbetrieb gab es eine intensive Debatte innerhalb des Vertrauenskörpers. ob die


Rolle des Teamsprechers und des Vertrauensmannes in Personalunion zu leisten sei.
Schlussendlich wurde festgestellt, dass die Interessen und Anforderungen an heide
Funktionen eher nicht kompatibel seien. Vertrauensleute erhalten gewerkschaftliche
Schulungen mit dem Fokus aufOberwachung der Einhaltung tariflicher und betrieb-
licher Regelungen. Teamsprecher hingegen erhalten eine vom Unternehmen initiierte
Qualifikation, die schwerpunktmäßig die Prozesssteuerung und Gewährleistung der
reibungslosen Produktion im Blick hat.
93 ..Mit diskursiver Koordinierung wird der Sachverhalt benannt. dass die veränderten
Organisationsstrukturen eine engere Kommunikation zwischen Vorgesetzten und
Mitarbeitern wie auch zwischen den Beschäftigten selbst nahe legen."' (Minssen 2006:
130)
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 175

6.1.3 Der KVP-Workshop als Spielmodell-


Ein Gedankenexperiment nach Norbert Elias oder:
.Vielleicht steht da ein Mann mit auf dem Spiel.-

In den Gruppendiskussionen GENE, STEWE und BESA werden vielfaltige Spielme-


taphern genutzt, um die Vorgänge rund um den KVP im Fallbetrieb zu beschreiben.
Norbert Elias arbeitet begrifflich auch mit dieser Metapher und beschreibt auf
diese Weise die Verflechtungen zwischen Menschen und das damit verbundene
Kräftemessen anschaulich (vgl. Abschnitt 2.1):

wUnd das ist schon eine Sache und da finde ich, so sollten
wir auch als Vertrauensleute, Teamsprecher uns vielleicht
auch mal Gedanken machen, man weiß, man hat irgendwo ei-
nen KVP, so, man bereitet sich vor, man guckt, was kann
passieren, ne? Sind die Leute alle vorbereitet, wissen die
äh, wie sie zu arbeiten haben, was der Arbeitsplan aussagt,
äh, haben wir Arbeiten verschachtelt, die eigentlich nicht
verschachtelt werden dürfen und solche Sachen. Also, da
müssen wir uns auch irgendwo gut aufstellen. M (GENEA/107)
wHaben wir etwas ausgearbeitet, was für uns auch Ergonomie
sehr gut ist, aber da haben sie im Vorhinein gesagt: Den
Mann müssen wir raus haben, egal wie, wir kegeln den raus.
Dann haben wir es auch hin gekriegt, aber wir haben einige
Sachen gemacht, die für uns auch gut sind, aber wodurch
wir auch gesagt haben, wenn [die, H.F.] das soweit haben,
den Umbau, dann können sie den auch kriegen. M (GENEF/32)

Rationalisierung wurde von den Befragten als Ziel der KVP Maßnahme erkannt und
m. E. akzeptiert. Die Vertrauensleute fordern nun eine Gegenleistung und stellen
die Bedingungen für das Spiel mit unterschiedlichem Erfolg auf. Die Beschäftigten
in den Workshops spielen nun das Spiel, entwickeln Strategien (Lerneffekt) und
verhalten sich taktisch. Sie begreifen die Spielregeln und beginnen sie sogar zu
gestalten, indem sie zum Beispiel die Bedingung formulieren: .Dann können sie
den auch kriegen.". Die Teilnehmer nutzen den vorhandenen Spielraum und stellen
im Verlauf des Prozesses eine Bedingung als neue Spielregel auf, die sich ungeplant
herausgebildet hat und die dem öknnomischen Verhalten des Unternehmens
etwas entgegensetzt: eine Mischung aus vorgefundener Formalität in Form von
Maßnahmenblättern und ihrer subjektiven Interpretation und Gestaltung. Aus
ungerichtetem wird gerichtetes Verhalten. Die Zitate von GENEF und GENEA

94 STEWEBf/38.
176 6 Empirische Ergebnisse

stehen exemplarisch für den Lernprozess und die Aufstellung von Bedingungen zur
Messung der Größe des Handlungsspielraums (ausloten, wie weit sie gehen können).

6.1.3.1 Spielregeln
Die Spielregel lautet demnach: Wenn alle Maßnahmen umgesetzt sind, dann kann
der Mann weg. Jedoch lässt sich diese "Bedingung" nicht so einfach erfüllen wie
die mathematische Formel des Unternehmens, die BESAC formuliert hat: ,Mann
raus' gleich ,Auftrag erfüllt' (BESAC/19). Der komplexe Teil, also die Umsetzung
der vielfaltigen Maßnahmen folgt erst noch, sodass sich die Teamreduzierung
möglicherweise zeitlich verzögert. Kurzfristigkeit bei der Zielerreichung (im
Sinne des Unternehmens) steht einer langfristigen Sichtweise entgegen (s. auch
Theorie-Praxis-Dilemma, "quälen sich damit ja auch mit rum"). BESAC akzep-
tiert und reproduziert diese Spielregel und damit die gegebene, formale Struktur
(Maßnahmenkatalog), indern er sich an diese Bedingung hält. Sie ist für ihn eine
akzeptierte Regel und Verhaltensnorm, an die die Akteure der Organisation ihre
Handlungen orientieren sollen:

... Es gibt ja diesen Katalog [Maßnahmenkatalog, H.F.], den


man da machen muss und dann gibt's ja diese (.) hier sach'
ehm' (.) die unbedingt umgesetzt werden müssen, gibt ja auch
Sachen, die gar nicht BO umsetzbar sind, aber (.) ja, die
sind umgesetzt worden und dann war der Mann WEG. u (BESAC/21)

Das Unternehmen hält sich jedoch nicht immer an die Spielregeln und verändert
sie bei Bedarf oder setzt sie ganz aus. Oft geschieht die Tearnreduzierung, ohne
dass die erforderlichen Maßnahmen, die im Grunde die Voraussetzung wären,
abgearbeitet und damit umgesetzt werden. In anderen Fällen wird das Maßnah-
menblatt nur teilweise abgearbeitet, was eine Verschlechterung der Bedingungen
zur Folge haben kann. Die im Workshop erarbeiteten Maßnahmen bestehen
nämlich meistens aus einem Katalog von Einzelveränderungen dar, die als Ein-
zelmaßnahme keinen Sinn ergeben und nur in der gesamten Abarbeitung ihre
Wirkung entfalten. So verhält es sich auch mit der formulierten Bedingung: Erst
wenn alles abgearbeitet ist, können sie den Mann haben. Dabei handelt es sich
weniger um eine Machtprobe der Arbeitnehmerfiguration (aber auch) als um den
Versuch, die Logik dieses Maßnahmenblatts nicht ad absurdum zu führen, denn
alle Maßnahmen im Bündel würden die Verbesserung der Arbeitsbedingungen
und eine Teamreduzierung zulassen.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 177

6.1.3.2 Rationalisierung auf Raten oder:


den eigenen Spieleinsatz gut aufteilen
Der Spieleinsatz in einem Spiel folgt taktischen Überlegungen, die voraussetzen,
dass die Menschen das Verhalten der anderen Spieler antizipieren können (Langs-
icht). Die Abgesandten der Arbeitgeberfiguration müssen sich ihre Einsätze gut
überlegen. Dieser Grundsatz gilt auch, vielleicht sogar in noch höherem Maße, für
die machtschwächere Gruppe der Arbeitnehmer. Diesen strategischen Tipp gibt
auch Mastenbroek in seiner Abhandlung über die .Verhandlung", indem er der
weniger mächtigen Partei rät, ihren Kampfwohl zu kalkulieren (vgl. Mastenbroek
1992: 129). Es folgen zwei Beispiele aus je einem der beiden Lager.
Im ersten Beispiel werden die Produktionsmitarbeiter mit dem Kauf neuer
Werkzeuge auf das nächste Produktmodell vertröstet. Sie erhalten ein Versprechen
rur die Zukunft, das das Unternehmen als Spielelnsatz in die Verhandlungen
gibt. Die PMA stimmen dem unsicheren Deal zu, obwohl es keine Sicherheiten
und Garantien gibt. Sie bauen auf Hoffnung und Vertrauen. Damit wird deutlich,
dass ihr Entscheidungsspielraum beim Kauf und Einsatz neuer Werkzeuge (s .•Die
Entscheider") mehr als gering ist:

...Und all solche Sachen. Uns wird gesagt: Pass auf, beim
nächsten Werkzeug müssen die kleiner werden. Ja (.) wenn
das nächste werkzeug kommt, nächste [produktmodell], sag l

ich mal (.) davon die Werkzeuge (. ) aber, ob da jetzt was


passiert? Das mach der Himmel wissen. Weiß keine Sau"
l

(BESAC/76)

Umgekehrt - und nun zum zweiten Beispiel- nutzen auch die Produktionsmitar-
beiter ihren Einsatz strategisch. Der Spieleinsatz wird auflange Sicht abgewogen.
Zunächst stimmen sie dem Abbau eines Arbeitsplatzes zu und beim folgenden
Durchgang dem Abbau des nächsten Arbeitsplatzes (fortlaufende Arbeitsin-
tensivierung''). So verhält es sich zum Beispiel mit dem folgenden von GENEC
dargestellten "Kompromiss". statt zwei nur ein Teammitglied abzubauen. Die
Verhandlung bezüglich des zweiten Teammitglieds wird vertagt. Dieser zunächst
verschonte Arbeitsplatz wird dann der Einsatz des nächsten Spiels in weiteren
KVP-Verhandlungen. Die exemplarisch durch GENEC und BESAA dargestellte
Langsicht führt zu einer rationalen Verhandiungsführung, die durch die Ein-
teilung der Spieleinsätze chatakterisiert ist:

95 Vgl. zum Aspekt der Leistungsintensivierung als Tabuthema in Abschnitt 6.3.4.


178 6 Empirische Ergebnisse

wOa könnte ein Mann verschwinden. Ich aus meiner Sicht sage
dann, eigentlich könnte schon, aber wenn wir hier schon1n
Workshop haben, es werden noch viele Workshops folgen, ich
sag': Dann lass' uns erst mal, das ist dann, mit Betriebsrat
zusammen 90 einen Kompromiss, wo ich dann sAge: Okay, dann
bauen wir jetzt erst mal den Einen ab, und den Anderen
lassen wir schön weiterarbeiten. Ergebnis haben wir da,
Ratio ist da, was wir gerne haben wollen und ein Ergebnis
haben wir vor allen Dingen, dat was wichtig ist. Und ja,
den nächsten Workshop, das, ich weiß ja jetzt schon, was
da passieren wird, also ganz klarer Fall, aber wie gesagt,
erst mal haben wir das Übel noch mal abgewendet. Beim
Nächsten kämpfen wir weiter.- (GENEC/I02)

Die PMA steIlen fest, dass die Arbeitsplätze auch ohne Spieleinsätze abgebaut
werden würden und so nutzen sie den KVP-Workshop als Ort, um Interessen zu
formulieren. Die Teilnahme an den KVP-Workshops ermöglicht den Beschäftigten
Verhandlungen mit der Gegenseite an einem Tisch und die Formulierung von
Gegenleistungen. Für BESAC kommt es nicht infrage, kampflos aufzugeben. Er
nimmt in seiner Position als Produktionsmitarbeiter und Vertrauensmann das
Mandat an und stellt sich der Herausforderung des Spiels:

"Aber das ist genauso, das ist genauso wie mit den wahlen
sag ich mal, wenn man nicht hingeht und nicht wählt, dann
l

wählt man immer die Verkehrten. Also, sollte man auch,


so seh ich das, ich seh das persönlich so für mich, ich
l l

hab l auch gleich gesagt: Wenn hier sich keiner bereit er-
klärt als vertrauensmann - wir haben drei Stück bei uns im
Bereich - wenn sich hier keiner bereit erklärt, dann gehl
ich da hin. Weil, wenn da GAR keiner von uns sitzt und,
und nichts einbringt, dann, dann können wir genauso gut
gleich sagen, hier: Da [tippt auf den Tisch] unterschreibt
eben, der Mann kommt weg und alles andere bleibt so, wie
es ist." (BESAC/155)

Der im Folgenden dargestellte Diskurs zwischen GENEC und GENEB zeigt die
kollektive Orientierung, indem der Vertrauenskörper sich endlos und .immer
wieder" gegen die Interessen des Unternehmens stellen muss, ohne dabei das
ultimative Ziel der ,Machtübernahme' zu erreichen:

GERBe: "Nur wenn, ich sag mal, wenn du jetzt als Vertrau-
ensmann jetzt auch noch resignierst, dann macht keiner
mehr was.- (207)
QBKBB: Hlch werde einen Teufel tun.- (208)
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 179

GBRBe: .Nein, aber es, es, ich, ich weiß von Leuten, die
sagen, genau dieses irgendwann: Es passiert ja sowieso
nichts. Aus. Wenn das auch noch passiert, dann passiert
gar nichts mehr, dann passiert wirklich nur noch das, was
Ratio angeht. Das wird passieren, immer wieder, weil wenn
ich irgendwo einen Mann abbauen kann für das Unternehmen.
Es ist für mich auch nachvollziehbar, durchaus, aber das
wird passieren und alles andere wenn wir da nicht gegen-
halten, dann wird gar nichts mehr passieren. Und darum
muss es immer wieder von uns kommen, weil es kommt von den
anderen nicht, jedenfalls nicht freiwillig." (209)

In den betrieblichen Spielen wird die Waage der gegensätzlichen Interessen (be-
triebswirtschaftliche Interessen vs. Arbeitnehmerinteressen) und Machtverhältnisse
balanciert. Wenn der Vertrauensmann sich nicht mehr für die Abarbeitung der
Probleme einsetzt, kippt die Waage und das Unternehmen kann ungehindert Ra-
tio-Potenziale (Abbau von Arbeitsplätzen) umsetzen. Solange der Vertrauenskörper
also nicht .resigniert" und ein Gegengewicht darstellt kann, die Machtkonstellation
erhalten bleiben. Das Unternehmen wird "freiwillig", so GENEC, keine humanen,
ergonomischen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen umsetzen. So beschreibt
er die Figuration des Vertrauenskörpers als ein Gegengewicht zur Figuration des
Unternehmens, um die organisationale Machtwaage zu erhalten.
Was ist das Gegenteil von Resignation! Die eigene Aktivität und das Nutzen
der zur Verfügung stehenden Spielräume befahigen die Beschäftigten, vollwertige
Spieler des Spiels zu werden und das Umfeld mitzugestalten. GENEA bringt in
der folgenden Passage den Einfluss der individuellen Machtressourcen, die nicht
formell institutionalisiert sind. auf den Punkt:

.Alles, was du selber machst, kannst du irqendwo auch steu-


ern und beeinfiussen. Wenn du nichts machst, dann veränderst
du auch nichts." (GENEA/210)

Für ihn besitzt jeder Akteur den nötigen Spielraum, andere Mitglieder der Orga-
nisation im eigenen Sinne zu "steuern" und zu "beeinflussen". Diese Spielräume
müssen aktiv genutzt werden, um die Verläufe selbst zu gestalten. Der Appell von
GENEA lautet, Beschäftigte sollten Eigeninitiative zeigen und Spielräume nicht
ungenutzt lassen.
180 6 Empirische Ergebnisse

6.1.3.3 Strategien
Die Strategie des KVP-Moderators als Teil der Unternehmensfiguration, also u. a.
der Einsatz von Rhetorik, die verschleiern kann, ist von erfahrenen Workshop-Teil-
nehmern bereits durchschaut worden. Schwierig wird es, wenn .normale" Mitar-
beiter oder neue Vertrauensleute am Workshop teilnehmen. Sie kennen Strategie
und Gegenstrategie nicht:

wDas Problem ist, dass da vorne sind immer geschulte Leu-


te, die wissen, wie sie was umschreiben müssen, das wissen
viele halt nicht. Und das ist schon 'n Problem wenn, das
muss man wissen. u (GENEE/139)
wK1ar, die haben eine Strategie und du musst gucken dass du
da eine Geqenstrateqie entwickelst. So ist das. U (GENEA/140)

Die Spielregeln des KVP Konzepts (z. B. startet der erste Workshop-Tag mit der
Ist-Stand-Analyse) werden von den Unternehmensvertretern nicht eingehalten,
da sie nicht unvoreingenommen in den Workshop gehen. Sie haben bereits etwas
.im Vorfeld geplant" (GENEE!33) und missachten damit die Spielregeln. Diese
unterschiedlichen Vor-aussetzungen gleichen die Teilnehmer wieder aus, indem
sie lernen und sich dem Spiel anpassen. GENEE macht die Anpassung deutlich:

".Das sind zum Beispiel Sachen, die hatte ich früher bei
meinem ersten workshop, da bin ich einfach so reingegangen.
Ich war gerade Vertrauensmann, so in den Workshop rein und
dann, wenn du nicht vorbereitet bist, ist das überhaupt
nicht so gut. Mittlerweile, ich bin jetzt über [Zahl] Jahre
Vertrauensmann und ich weiß, wie man redet und was man
machen kann und so. Und ich bereite mich gewaltig darauf
vor. Ich schreibe mir alles auf, was man machen kann und
dann geht man da hin. (GENEE/IOB)
N

Der Kontrast zeigt sich im zunächst richtungslosen Herangehen der Vertrau-


ensmänner mit Bezug auf die formale Vorgehensweise der Workshops und im
gerichteten Herangehen der Unternehmensseite unter Missachtung der Regeln.
Das Spiel entspricht weniger einer Zusammenarbeit egalitärer Teilnehmer und
wird als organisierte Scheinegalität im nächsten Abschnitt analysiert.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 181

6.1.4 Organisierte Scheinegalität und rivalisierende


Zusammenarbeit" im KVP-Workshop

Für die Zusammenarbeit im Workshop soll die bürokratische Hierarchie ausgesetzt


werden, sodass alle Teilnehmer gemeinsam ohne Statusunterschiede zusammen-
arbeiten. Unterstützt wird diese Arbeitsweise durch die zu Beginn vereinbarte
informelle Anrede .du· (Beobachtungergebnis). Die Informalisierung im Zuge
der funktionalen Demokratisierung löst bei den Menschen eine stärkere Bean-
spruchung der Selbstzwangapparatur, eine Notwendigkeit zum Experimentieren
und strukturelle Verunsicherung aus (vgl. EHas 2005/1989, Wouters 1999). Die
Workshop-Teilnehmer fragen sich, welche Umgangsformen herrschen. Unklar ist,
ob sich die Produktionsmitarbeiter an die Umgangsformen der machtstärkeren
Gruppe anpassen oder umgekehrt. GENEE (VL) sagt dazu:

"Ob's Planer sind, ob's lEs oder so, man kommt auch weiter
und das finde ich auch gar nicht so schlecht, weil man lernt
dann auch den Umgang mit diesen Leuten zu reden, das ist
schon ganz toll. M (GENBB/167)

Ein anderer Befragter der gleichen Gruppendiskussion spricht von der Verunsi-
cherung, die aufgrund der Durchmischung der Funktionen in der besonderen
Workshop-Situation sowie von beruflichen und privaten Kontakten ausgelöst
wird. Die Teilnehmer befinden sich in einer neuen Situation, die keine bekannten
Verhaltensstandards bietet. Das informelle Du trägt dazu be~ dass die Teilnehmer
während des Workshops, aber auch im Anschluss verunsichert sind:

"Also, bei mir ist aufgefallen, ih, bei dem workshop, da


waren auf einmal alles Pfundskerle, und die ganzen, äh, ob
das Schichtleiter war und ne, die haben über Sachen mit dir
geredet, obwohl die kennst du seit fünfundzwanzig, dreißig
Jahren teilweise, auch privat und dann war der Workshop
auch schon wieder vorbei, alte Leier, kriegen vielleicht
mal ein Moin raus oder so ne, dann ist aber auch Schluss,
ne? Und das waren hier, ich sag' mal fünfzig, sechzig Pro-
zent von den Leuten, ne? Also wir hatten nun sehr viele
ih, ich sag mal Kitteltriger, ist nicht abwertend gemeint,
ne?" (GENEH/159)

96 Vgl. Riesman et al. 1967: 113 (.. antagonistic cooperation").


182 6 Empirische Ergebnisse

Die funktionale Demokratisierung und soziale Durchmischung der Gesellschaft,


die im Privatleben der Menschen stattfindet, indem sie Nachbarn, Freunde oder
Vereinskollegen (vgl. auch GENEH/163) sind, müsste auch im Unternehmen
sichtbar werden. Dort sind sie allerdings formal-hierarchisch voneinander ge-
trennt. Thesenartig formuliert könnte es heißen: Die betrieblichen entsprechen
nicht den gesellschaftlichen Machtgleichgewichten. Vermischung und Gleichheit
in der Gesellschaft und zur selben Zeit Statusunterschiede im Betrieb führen bei
den Beschäftigten zu Verunsicherungen. Vor und nach dem Workshop herrscht
ein formal-hierarchischer Unterschied zwischen den Menschen und in einem
flüchtigen Moment gilt (angeordnete) Egalität, die der Gesellschaft gleicht. Die
funktionale Demokratisierung stellt die moderne Organisation demnach vor
paradoxe Probleme (Ernst 2010: 44).
Es gibt auch gegenteilige Erfahrungen, die von Verbindungen berichten, die
nach der Auflösung der Workshopsituation erhalten bleiben. Eine Bedingung ist
allerdings eine beständige Zusammenarbeit in mehreren KVP-Workshops:

".Also, das kann ich nicht bestätigen. Ich sag' mal, da,
also die Kontakte, die man da auch aufgebaut hat, äh, die
funktionieren nach dem KVP auch noch. Liegt vielleicht auch
daran, dass ich nicht nur in einem gesessen habe, ich war
ja in ein paar mehr. Kann sein, dass das der Grund ist,
ne?" (GENEA/164)

In unausgewogenen Beziehungen. so Wouters. kann der Mächtige entscheiden


und der Schwächere dies nur hinnehmen (vgl. Wouters 1999). Die PMA können
es im untersuchten Fall nur hinnehmen. dass die Mächtigeren entscheiden. Die
Annäherung beider Figurationen zeigt sich in der Verhandlungssituation im Work-
shop (direkte Zusammenarbeit), die häufig von Kompromissen lebt im Sinne von
.Geben und Nehmen" (GENEB206). Der KVP soll eine Egalität beider (oder aller
organisationalen) Figurationen und eine Konzentration auf die Sache erreichen
(aus Feinden werden Verbündete; vgl. Imai 1994), die sich als Gemeinsamkeit
beider darstellt (z. B. Arbeitsplatzsicherung).
Im Workshop wird die Verhandlungssituation existent und die mächtigere
Figuration kann nicht entscheiden, ohne wenigstens vorzutäuschen, sich auf die
KVP-Methode und Situation einzulassen und diese Anforderung einzulösen. Ihr
Durchmarsch der Entscheidungen wird aufgrund der Verhandlungssituation und
der dort geltenden Partizipation der Beschäftigten und angewandten KVP-Metho-
den (Machtquelle) gebremst. Ein Umweg, aber das Ziel ist anvisiert. Moderator 3
beschreibt diesen Zustand wie folgt:
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 183

".Also ICH würde (0) als KERN seh ich IMMER das (.) das ICH
hab immer so n Bild vor Augen, dass man eigentlich sagt:
WIR haben die EXPERTEN im UNTERNEHMEN für DIE ist es ei-
gentlich 'n LEICHTES zu sagen: WIR strukturieren HIER und
DA 'n bisschen um, WIR bauen SUPER produkte, WIR haben
'n gutes STANDING in der Welt, WIR sind GLOBALPLAYERo Wir
haben auch sicher, mit Sicherheit DIE FACHleute, die auch
sagen können: Und DA können wir noch was tun, DA können wir
was tun. DIE könnten sich an den grünen Tisch setzen und
sagen (0) WIR strukturieren jetzt die Fabrik UM, WIR können
mit DEUTLICH WENIGER Leuten oder mit schlankeren Prozessen
DIES oder JENES machen. GENAU DAS macht [Fallbetrieb] NICBT
und das ist der Charme (0) des [Organisationsentwicklungs-
prozesses] . Ich DENKE mal aufgrund der stark, natürlich
sicherlich auch geschuldet der STARKEN MITbestimmung, die
wir hier haben ähm (.) gehen wir den Weg, dass wir sagen
(0) WIR machen das MIT den Menschen von INNEN nach AUSSEN. M
(MOD3/101)

Es entsteht hier eine Doppelwirklichkeit: Das Unternehmen lässt sich offiziell auf
die Verhandlungssituation ein, verpflichtet sich auf Methoden und Verhaltens-
standards, die es selbst mit dem Top-down-Prinzip eingeführt hat, hält sich am
Ende dann aber selbst nicht mehr an die neuen Spielregeln. sondern geht zurück
zum Befehlsprinzip. Mit anderen Worten: Auf der Bühne gilt Verhandlung, hinter
den Kulissen gilt Befehl.

".Genau es ist das. Die KVPs, die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen die auch dafür sorgen, dass das was wir erarbeitet
haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da [Auf dem
Maßnahmenblatt, M.F.] drauf steht. Das ist nicht der Fall. M

(GENEE/20S)

Im Verhandlungsprinzip .müssen [Menschen] dabei mehr Rücksicht aufeinander


nehmen, mehr Aspekte von mehr Menschen bei mehr Gelegenheiten in Betracht
ziehen, und sie müssen auch illre Neigung zu Zwang und überheblichkeit stärker
im Zaum halten" (de Swaan 1991: 184). Die etablierte Gruppe hat demnach ihre
Gefühle gegenüber der Außenseitergruppe nicht in ausreichendem Maße unter
Kontrolle und folgte dem herkömmlichen Befehlsprinzip. Hier entsteht eine Zone,
die als Mischung aus oder einem Nebeneinander von Altem (Befehl) und Neuem
(Verhandlung) beschrieben werden kann und Unsicherheit bei den beteiligten
Produktionsmitarbeitern auslöst. Gewonnene Handlungsspielräume werden -
184 6 Empirische Ergebnisse

zum Teil unbemerkt - wieder eingeschränkt oder zugespitzt gefragt: Waren diese
nenen Handlungsspielräume je real?

wViele Sachen, die im Workshop auch besprochen worden sind


und auch so abgearbeitet worden sind, sind so nicht umgesetzt
worden zu hundert Prozent. Dann kamen sie zu uns und haben
die Tische wieder geändert, wo die [technischer Begriff]
drauf kamen. Das haben sie alles ohne Absprache gemacht,
das war schon ziemlich blöd, muss ich sagen. Jetzt müssen
die ganzen Leute wieder anlernen und umdenken. u (GENED/45)

Das Spiel ist mit dauerhaft unsicheren Kontextbedingungen. also beliebigveränder-


baren Spielregeln unbeherrschbar. Mit dem gewährten Einblick in die informellen
Arbeitshandlungen spielen die PMA ein riskantes Spiel. das sie nicht begonnen
haben und dessen Spieregeln sie nicht kontrollieren. Die PMA könnten anfangen.
sich zu fragen, warum sie weiterhin mitmachen sollten und wo ihr Mehrwert liegt.
Verhandlungen erfolgen auf zwei Niveaus, die miteinander verwoben sind: die
offene Verhandlung der Arbeitsbedingungen und gleichzeitig. aber indirekt. die
verdeckte Verhandlung des Machtgleichgewichts (Machtprobe). Wenn die Ar-
beitsbedingungen ausgehandelt werden und ein Streit darüber entbrennt. wer das
Wissen oder die gültige Werteskala in der Organisation besitzt, wird auch immer
darüber verhandelt, wer die machtstärkere Figuration im Unternehmen ist. Das
Ziel, Verbesserungen im Workshop zu erarbeiten, wird beinahe zweitrangig; im
Vordergrund stehen die Beziehungen zu den anderen (vgl. Riesman et al. 1967:
113). Das Konzept erwartet von den Workshop-Teilnehmern im Grunde keine
Konkurrenz, sondern Zusammenarbeit in der Erarbeitung gemeinsamer Lösun-
gen. Doch die angeordnete Egalität zwischen den Teilnehmern maskiert nur die
noch immer gültige Hierarchie (vgl. Dörre 2006: 4) und je mehr die Teilnehmer
die Rangunterschiede leugnen, desto mehr verraten sie letztlich die Differenzen
zwischen ihnen (vgl. Slater 1970: 3). In gewissermaßen unechten Gruppen wie
den KVP-Workshops (keine Realgruppe) kommt es solange zu anstrengenden
menschlich-harmonischen Beziehungen (vgl. Riesman et al. 1967). bis sich der bisher
verleugnete Unterschied in einer Eskalation entlädt und zur bereits beschriebenen
Wende im Workshop fUhrt (Eskalations-Mittwoch):

wUnd dann weiß man genau, ab Mittwochmorgen geht es los.


Es kann nichts umgesetzt werden, deren Vorschläge und dann
versuchen sie das durchzusetzen, was die gerne wollen. Das
ist dann immer eine harte Sache. weil dann geht es haupt-
sächlich um Ratio. Das ist dann ein Problem, wo man dann
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 185

nach einer Zeit keine Lust hat, überhaupt zu diskutieren. u


(GENEE/33)

Die Emotionen führen zur Auflösung der künstlich-harmonischen Situation und


offenbaren die Gegensätze und Rangunterschiede der Menschen im Workshop. Der
neue Kontext, nachdem sich die Spannung entlädt, lässt eine Verhandlungssituation
zu, die beiden Figurationen ermöglicht zu sagen, dass es nicht um die Erarbeitung
gemeinsamer Lösungen geht, sondern um einen Prozess der Kompromissbildung
(.Es ist ein Geben und Nehmen", GENEB/206), der die Interessengegensätze be-
rücksichtigt. Die Produktionsmitarbeiter bringen die gegensätzlichen Positionen
sprachlich auf den Punkt:

wWeil, es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall, da brauchen wir uns nichts vormachen, das ist
eben so." (GENEC/184)

Obwohl beiden Seiten klar ist, dass es sich um gegensätzliche Positionen und Inter-
essen im Workshop handelt, wird die Illusion der harmonischen Zusammenarbeit
mithilfe .neutraler" KVP-Methoden zunächst aufrechterhalten. In dem Moment,
in dem einer der beiden Seiten das Ziel nicht in Zusammenarbeit, sondern nur
mit Konfrontation erreichen kann, wird die Situation aufgelöst. Die Spielregeln
werden von der Arbeitgeberseite außer Kraft gesetzt, um ungehindert eigene Ideen
umzusetzen. Dass die Arbeitgeberseite am Ende der Verhandlungen in einigen
Fällen doch - gegen alle Argumente - ihre Forderung durchsetzt oder ihre Seite
des Kompromisses nicht einlöst, da nicht alle Maßnahmen abgearbeitet werden,
aber die Teamreduzierung bereits stattgefunden hat, deutet unweigerlich darauf
hin, dass die Machtasymmetrie deutlich zugunsten der Arbeitgeber ausfallt. Von
einer ausgewogenen Beziehung oder auch einer gerechten Teilhabe zwischen beiden
Gruppen kann daher keine Rede sein.
Trotz allem erscheint die KVP-Situation als eine Annäherung, die nicht nur
körperlich, sondern auch geistig stattfinden kann. Die "rivalisierende Zusammen-
arbeit" beeinflusst die Teilnehmer aller beteiligten Figurationen. Die Kontraste
haben sich verringert und im KVP-Workshop sind bereits größere Spielarten
im Verhalten beider Figurationen festzustellen, die sich in neuen informelleren
Umgangsregeln äußern. Abram de Swaan weist daraufhin, dass die Verschiebung
von der Befehls- zur Verhandlungsökonomie nicht zwingend bedeutet, .daß damit
auch im allgemeinen die Gleichheit unter den Menschen zugenommen hätte" und
stellt weiter fest, dass .dort, wo sich eine derartige ,Verhaltensökonomie' heraus-
bildet, [... ] zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern innerhalb einer Organisation
186 6 Empirische Ergebnisse

[...l, das Abhängigkeitsverhältnis weniger asymmetrisch [wird]" (de Swaan 1991:


187f.). Elias spricht in diesem Zusammenhang von der Verringerung der Forma-
Iität-Informalitäts-Spanne (Elias 1989: 41), die auf die Differenzen im Verhalten
zwischen Menschen unterschiedlichen Rangs oder innerhalb des Rangs verweisen.
Der in informellen Gesprächen sehr häufig gefallene Satz: .Aber jetzt wissen
die Arbeiter ja, worum es geht.", sollte die Forscherin darauf aufmerksam machen,
dass die Zahl der Eskalalionen und Abbruche im Verlauf der Implementierung
rückläufig war. Aber was wussten die PMA nun besser als vorher? Worum ging
es? Die PMA konnten sich davon überzeugen, dass das Unternehmen den KVP
nutzte, ökonomische Ziele - auch gegen den Widerstand der PMA - umzusetzen
und die Verbesserung der Arbeitsbedingnngen (gesundheitliche Aspekte) in
den Hintergrund rückte. Im Gegenzug, so formuliert es das Unternehmen als
gemeinsames Ziel, erhalten die PMA sichere Arbeitsplätze (.Standortsicherung").
Den PMA wurde klar, dass sie im Workshop auf einen Gegenspieler gestoßen
waren, der sich - im Gegensatz zu ihnen - vorbereitet hatte. Mit steigender Zahl
der Workshops, wuchs die Erfahrung aller Teilnehmer, so auch die der PMA
(Professionalisierung: .Sondern es sind Leute, die auch 'ne gewisse (.) na, Pro-
fessionalität mit der Zeit auch erwerben im Umgang mit den, den Workshops
und dies sind, in den meisten Fällen Vertrauensleute." MOD02/139). Das bedeu-
tete nicht zwangsläufig, dass die Karten komplett auf den Tisch gelegt und die
Interessengegensätze offengelegt wurden. Sie blieben weiterhin latent, aber die
Verhandlungssituation war von wachsender Routine gekennzeichnet. Die Zeit,
die damit verbracht wurde, die Illusion der Gemeinsamkeiten aufrechtzuerhalten,
wurde nun dazu genutzt, die Verhandlung gleich zu Beginn zu eröffnen. Der
Forscherin sollte mit diesem prominenten Satz vermittelt werden, dass sich die
Zusammenarbeit heider Figurationen deutlich verbessert hatte. Es war eigentlich
so, dass die PMA sich aufgrund ihrer fortschreitenden Professionalisierung und
verbesserter Vorbereitung in der Verhandlungssituation gegenüber der Arbeitge-
berseite emanzipiert hatten. Also nicht die verbesserte Zusammenarbeit, sondern
die verbesserte und professionellere Verhandlung führte zu weniger Eskalation
im Workshop. Ergänzt wurden die Verhandlungen um die situative Bildung von
Allianzen zwischen Unternehmensvertretern, Betriebsrat und Produktionsmitar-
beitern bzw. Vertrauensleuten, die zu neuen informellen Zonen, Kooperationen
und Vereinbarungen führten. Sie bildeten im Fallbetrieb ein .Gegengewicht"
zur starken Reglementierung des KVP (Böhle/Bolte 2002: 76). Auf diesen As-
pekt wurde die Forscherin im Verlauf der Studie aufmerksam und ausdrücklich
hingewiesen (s. dazu exemplarisch GENEC/102). Den PMA wurde klar, dass
erfolgreiche Verhandlungen zu größeren Vorteilen führten, als der Abbruch und
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 187

Rückzug aus der Workshopsituation. Diese Erkenntnis wird mit dem folgenden
Zitat von GENEE illustriert:

,..Das sind zum Beispiel Sachen, die hatte ich früher bei
meinem ersten Workshop, da bin ich einfach so reingegangen.
Ich war gerade Vertrauensmann, so in den Workshop rein und
dann, wenn du nicht vorbereitet bist, ist das überhaupt
nicht so gut. Mittlerweile, ich bin jetzt über [Zahl] Jahre
Vertrauensmann und ich weiß, wie man redet und was man
machen kann und so. Und ich bereite mich gewaltig darauf
vor. Ich schreibe mir alles auf, was man machen kann und
dann geht man da hin. M (GENEE/l08)

Zur Professionalisierung und damit einhergehender Emanzipation in der Ver-


handlungssituation ist das folgende Zitat GENEB exemplarisch:

,..Und wenn die dann erst merken: halt, wenn wir jetzt über-
treiben, dann macht er das und das. Also, dann wirkt das
doch schon ein bisschen. Es wird teilweise, meinen sie,
dass die einen überfahren können und wenn sie damit merken
bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter, dann sollte
es auch [Rest unverständlich, M.F.]." (GENEB/136)

Die Arbeitgeberseite sieht sich einem ernst zu nehmenden Gegenspieler gegenüber.


Da das Unternehmen aber die Spielregeln in einigen Fällen ändert und eigene In-
teressen auch gegen die Abmachungen durchsetzt, kann von einem Gleichgewicht
der Figurationen keine Rede sein. Wer in der Verflechtungssphäre "Unternehmen"
die Spielregeln und damit den Kontext verändern kann, besitzt den größeren Hand-
lungsspielraum und ist der Mächtigere in diesem Verflechtungsgewebe. Dennoch
haben die KVP-Workshops dazu geführt, Bewegong in die Machtasymmetrie zu
bringen. Die flüchtigen Partizipationschancen (erweiterte Handlungsspielräume)
haben die PMA genutzt und sich dort, solange es dauerte, in Stellung gebracht.
Das Spannungsfeld zwischen den Figorationen zeigt sich vor allem im Rahmen
des KVP und führt zu einer Beharrungstendenz des Geflechts .Organisation" (siehe
Matrix .Beharrungstendenz" in Abschnitt 6.1.4.2).

6.1.4.1 Der KVP-Workshop als Zeitfensterfür Partizipation


an der Niederlage
Der KVP-Workshop erweist sich als ein flüchtiges Zeitfenster für Partizipatinn.
Im standardisierten Ablauf des Workshops ergeben sich für die PMA (formale)
Machtressourcen bzw. Handlungsspielräume, Verbesserungen mitzugestalten, die
188 6 Empirische Ergebnisse

sich aber im Anschluss an den Workshop direkt wieder schließen. Die Teilnehmer
müssen sich im Workshop beeilen (.Kannst zusehen, dass du ,n paar Sachen da
ausarbeitest.", BESAC/70), ihre Argumente darzustellen und Verbesserungen
direkt umzusetzen. Danach haben sie keinen (formalisierten) Einfluss mehr auf
die Verbesserungen und die Teilnehmer verschwinden wieder in der Masse der
Belegschaft; sie werden als Individuen unsichtbar. GENEB beschreibt diese Situ-
ation mit einem .Verlustgefühl":

wUnd irqendwie ist das so für mich gewesen, es war irgend-


wie ein verlustgefühl. weil die woche ist abgelaufen, es
wurden sämtliche Argumente dargestellt, dass das auch mit
einem Mann weniger geht. Man hat alles, aber auch alles
versucht, das so zu retten, aber es ist dann letztendlich
nicht gelungen und irgendwie habe ich da so ein kleines
Mattqefühl qehabt_" (GENEB/249)

Die Situation, die GENEB im Workshop erlebt hat, wird sich nicht wiederholen.
Die Niederlage in der Verhandlung ist endgültig. Was jetzt nicht geschafft wurde,
kann auch später nicht mehr erreicht werden. Der Fall ist abgeschlossen und wird
»abgehakt" (BESAC/76). Der Workshop eröffnet keine langfristige Partizipati-
onschance für die Teilnehmer oder einen dauerhaften Teilhabeprozess und auf
diese Weise verlieren (Verlustgefühl) sie an Einfluss. BESAC betont in diesem
Zusammenhang den Zeitaspekt, also das Sich-beeilen-müssen (.zusehen") im
Workshop, bevor sich das Fenster wieder schließt:

".[Als] Mensch, der wirklich an dieser Arbeit mit teilnimmt,


kann man eben zusehen, dass man da noch das Beste rausboxt
(.) was noch geht, bevor das abgehakt wird." (BESAC/76)

Im Anschluss, so lässt sich feststellen, besteht der Handlungsspielraum nur noch


in Form einer .Mahnung", sodass der Einfluss auf die vollständige Abarbeitung
der Maßnahmen im Grunde kaum noch vorhanden ist:

,..Du kriegst auch keinen, der sich ein bissehen dahinter


klemmt und wir aus dem Linienbetrieb können das immer nur
anmahnen, können immer sagen: Hör' mal zu, geh' da hin-
terher. Aber wenn sich dann die darüber geordneten Leute
nicht bewegen, ja dann..... (GENEA/47)

Mit der Reorganisation der Reorganisation nach dem Workshop, die ohne die
Beschäftigten und »ohne Absprache" (GENED/45) erfolgt, hat sich ihr Einfluss
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 189

regelrecht aufgelöst. GENEA macht darauf aufmerksam, dass .nach wie vor die
Truppe [fehltl, die nachbereitet" (GENEA/44) und GENEF fordert eine .Kont-
rolle" (GENEF/35) der Abarbeitung, die sicherstellt, dass die Maßnahmenblätter
abgearbeitet werden. Die Abarbeitung benötigt eine Fremdkontrolle und lässt
darauf schließen, dass sich in diesem Zusammenhang bisher keine Selbstkont-
rollen entwickelt haben. In der Forderung nach einer äußerlichen Kontrolle der
Abarbeitung zeigt sich der noch immer gültige traditionell fordistische Habitus.
Die abarbeitenden Funktionen (Sachbearbeiter und Fachreferenten) zeigen kei-
nen Tendenz zur Selbstverantwortlichkeit im Hinblick auf die Bearbeitung der
KVP-Maßnahmen (siehe auch Abschnitt 6.4.1).
Die Rückkehr an den Linienarbeitsplatz beschreibt GENEA als einen .Kultur-
schock" (GENEA/237). Der Ausflug in die entgrenzte Welt eines KVP-Workshops
zeigt die Unterschiede zwischen beiden Arbeitskulturen. Im Workshop ist die
Hierarchie auf den ersten Blick kurzfristig ausgesetzt und alle Teilnehmer gelten
dem Anschein nach als gleichberechtigte Partner.

6.1.4.2 Die Beharrungstendenz (Vier-Felder-Matrix)


Aus den Verflechtungen der Spielzüge beider Figurationen mit den relativen
Spielstärken ihrer Mitglieder resultiert ein Spielverlauf, den keiner der beiden
Figurationen geplant hat (vgl. Elias: 1970/2004: 85). Nach Elias ist es möglich,
dass .Menschengruppen, die sich ihrer bewussten Ausrichtung nach auf Wandel
einstellen, gerade die Beharrungstendenzen ihrer Figoration stärken" (ebd.: 161).
In diesem Beispiel führt das Optimum beider Seiten zu einer stabilen Balance und
einem relativ festen Kern (Bebarrungstendenz"l, der die Organisation auf einem
Entwicklungsniveau festhält und im Kontrast zur Lernenden Organisation steht,
wie die folgende Abbildung zeigt:

97 Vgl. auch Giddens' Konzept der ..Dualität von Struktur" (Giddens 1997: 34), in der
(neben Wandel) Trägheit und Stabilität das Ergebnis unaufhörlicher Bewegung sein
können.
190 6 Empirische Ergebnisse

Verbesserungsvorschlige Verbesserungsvorschläge
der PMA: des UNo wirtschaftliche
Arbeitserleichterung Effizienzsteigerung (Ratio)

Stabile
BALANCE

BelUrchtung der PMA:


BelUrchtung des UNo Arbeitsintensivierung,
Verteuerung Verschlechterung der
A-Bedingungen

Abb.4 Stabile Balance (Beharrungstendenz)"

Befürchtungen und Verbesserungsvorschläge auf beiden Seiten halten sich die


Waage. Auf der Seite der Beschäftigten ist es so, dass sie insoweit den Wissensschatz
ihrer Erfahrung öffnen, bis sie befürchten, ihre Vorschläge verlagern sich aufgrund
des immanenten Doppelcharakters von Verbesserungen von einem Vorteil in einen
Nachteil (Intensivierung). Die Verflechtungen aufgrund der starken Arbeitsteilung
in der Produktion verlangen ein Höchstmaß an Langsicht, die von dem PMA
kaum zu bewältigen ist. Sie versuchen die Unsicherheit zu bewältigen. indern jeder
Vorschlag auf negative Folgen hin überprüft wird und sie im Workshop tendenziell
mehr abwarten, als proaktiv zu sein. Die PMA sehen sich untereinander nicht als
Arbeitskraft an. sondern als Menschen in sozialen Beziehungen. Exemplarisch für
die Perspektive der PMA sind die folgenden Belege aufgeführt:

"weil wenn man jetzt wege einspart, das, wege sind zeit,
auch wenn's bequemer für uns ist, Wege sind Zeit und dann
kannls passieren, dass ein Mann rauskommt. So, dann über-
legt man sich schon: lauf ich lieber ein paar Meter mehr
oder sag ich das jetzt M (STEWEBf/494)
wUnd dann halt hier äh mit den zeiten einsparen diese weg-
verkürzungen, darum geht's ja auch meistens und Rationali-
sierung. Das ist uns bekannt, das sind dann immer so die
Befürchtungen, die man damit verbindet und hat. w (STEWEC/754)

98 Abkürzungen: UN =Unternehmen; A-Bedingungen =Arbeitsbedingungen; Ratio =


Rationalisierung.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 191

"Obermotivierte": Der Begriff Motivation wird in eine ..Über-Motivation" ge-


steigert. Dieser in diesem Zusammenhang negativ besetzte Begriffbedeutet, dass
Übermotivierte ihre Handlungen und Redebeiträge nicht nach strategischen
Gesichtspunkten abwägen, die in diesem Kontext notwendig wären. Aus diesem
Grund gelten sie für eine Workshop-Teilnahme nicht geeignet sind. Die Vertrau-
ensmänner müssen diesen Mitarbeitern vor oder während des Workshops diesen
Sachverhalt näher bringen und ihnen die Dimensionen des Workshops aufzeigen
(Folgewirkungen von Verbesserungen, Fremdposition des Unternehmens, Absich-
ten, politische Verhältnisse). Sie müssen sich selbst bremsen (Selbstzwang) und
dürfen ihren Emotionen keinen freien Lauf lassen ("war also richtig in seinem
Element", .der Mann blühte richtig auf", GENEC132). Diese Mitarbeiter handeln
wie Vorgesetzte (.also der Eine, ich dachte auf einmal, ich hab direkt den meinen
Chef [Name] hier sitzen, weil der Mann blühte richtig auf", ebd.). Die ,alten Hasen'
unter den Vertrauensleuten machen den Mitarbeitern ohne Funktion und den frisch
gewählten Vertrauensmännern diesen alten Zwang klar (Tradition und Moderne
treffen aufeinander). Das zeigt auch der Diskurs in GENE zwischen GENED und
GENEC zum Thema .Übermotivierte":

GJUIBD: "Übermotivierte Leute" (127).


GERBC: "Richtig, und darum kann man auch nicht alle Mit-
arbeiter reinnehmen." (128)
GBIlED: "Das hatten wir schon oft genug." (129)
GERBC: "Das wollte ich gerade noch sagen, im Vorfeld was
eigentlich ganz wichtig ist. Du hast es angesprochen, dass
du dich vorbereitest. Wichtig ist für mich zum Beispiel auch,
dass ich auch über beide Schichten mit den Vertrauensleu-
ten, mit dem Teamsprecher spreche, im vorfeld schon." (130)

Wirtschaftliche Effizienzverbesserung bzw. Rationalisierung steht im Gegensatz


zur Kostensteigerung. Das Unternehmen (UN) wägt die Zustimmung zu Verbes-
serungsideen dahingehend ab, ob sich die Investition im Gegensatz zum Ertrag
lohnt. Ist es zu teuer, wird die Verbesserungsidee nicht umgesetzt. Die ökonomisch
schwer oder gar nicht bewertbare Verbesserung der Arbeitssituation einzelner
Arbeitsplätze wird nicht mit in die Beurteilung eingezogen. Exemplarisch sind
die beiden folgenden Zitate:

"Ist ja noch nicht passiert, aber davon hat keiner was und
dann die Sachen, wo wir wirklich mehr Arbeit durch haben.
Wo die uns wirklich erleichtern könnten, das ist zu teu-
er, das umzusetzen, jedenfalls bei uns [M: Zustimmung]."
(STEIiEBf/339)
192 6 Empirische Ergebnisse

wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bissehen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?U (GENEH/29)

Die konkrete Aushandlung beider Verbesserungsarten, also Arbeitserleichterung


versus Rationalisierung, findet im Workshop zwischen beiden Figurationen statt:

HUnd wenn ich auf einen workshop gehe, es ist ein Geben und
Nehmen. Ich bin ja bereit, dass man Kompromisse eingehen
muss, das ist ja auch schon gesagt worden, aber man möchte
dann auch gerne was einfordern. H (GENEB/206)

Die beiden (drei: inklusive Vertreter) betrieblichen Figurationen haben sich


aufgrund einer .permanent fixierten Aufmerksamkeit" (Sennett 2000: 121) auf
Kompromisslösungen in der Verhandlungssituation in eine ungeplante Lage ma-
növriert. Trotz unaufhörlicher Bewegung in den Verhandlungen entwickelt sich
die Verflechtungssphäre Organisation nicht weiter und steckt in einer relativen
Beharrung fest. Das gegenseitige Belauern der Gruppen fixiert den Status quo
der gegenwärtigen Machtverhältnisse weitgehend. Erst wenn die Figurationen
sich aus ihren Sicherheitszonen entfernen, würde die Vertlechtungssphäre sich
weiterentwickeln. Zurzeit spricht allerdings das fehlende Vertrauen aufgrund
der unechten Partizipation gegen eine Weiterentwicldung, Die unechte Teilha-
bechance wird vom Unternehmen weiterhin als echte Teilhabe deklariert. Es ist
anzunehmen, wenn das Unternehmen den Beschäftigten das Recht einräumt, als
gleichberechtigte Partner an Entscheidungen mitzuwirken (Partizipation), dass
sich die Organisation grundlegend weiterentwickeln und sich aus der Beharrung
lösen würde.

6.1.5 Partizipation im KVP oder: nDas ist dann schon


beschlossenen Sache'"''

Partizipation bedeute! ganz allgemein .eine auf unterschiedlichenNiveaus mögliche


Teilnahme der Mitglieder einer Organisation an organisatorischen Entscheidun-
gen" (Dörre 1996: 7). Diese Entscheidungen beziehen sich im Fall des KVP auf das
unmittelbare Arbeitsumfeld (vgl. von Lüde 1996).

99 BESAB/63.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 193

Die .veränderte Stoßrichtung von Partizipation" (Minssen 1999: 132) meint die
.verbesserte Nutzung des Erfahrungswissens der Beschäftigten zu Produktivitäts-
zwecken" (ebd.: 132f.) und ist eine Abkehr von den Zielen des HdA-Programms,
Gleichberechtigung der machtvollen Figurationen auf betrieblicher Ebene. Der
KVP-Workshop erweist sich zunächst als eine Situation, in der hierarchische
Begrenzungen aufweichen (operationale Dezentralisierung) und das Prinzip der
Anweisung dem Prinzip der Verhandlung zwischen gleichberechtigten Partnern
weicht. Aus dem Verhandlungsprinzip kann tendenziell wieder ein Befehlsprinzip
werden. Auch die Überlappungvon Interessen kann zunächst täuschen, denn trotz
Schnittmengen ("Es kommen ja auch ,n paar vernünftige Sachen da zustande."
BESAC70) sind die Interessen im Grunde gegenläufig.
Beim KVP haben die Beschäftigten vor allem Einfluss auf die Arbeitsgestaltung
und weniger auf die Arbeitsausführung. Das führt zur Frage: Wer in der Organi-
sation entscheidet, was im Modus der flexiblen Standardisierung am Ende zum
neuen Standard erhoben wird? Der Handlungsspielraum der Beschäfligten wird
unterschieden zwischen dem Tätigkeitsspielraum sowie dem Entscheidungs- und
Kontrollspielraum. Job rotation (Aufgabenwechsel) und job enIargernent (Aufga-
benvergrößerung) können der Erweiterung des Tätigkeitsspielraums zugeschrieben
werden, wohingegen die qnalitative Anreicherung der Arbeit (job enrichrnent),
also Entscheidungsbefugnisse, die bisher auf hierarchisch höheren Ebenen lagen,
eine Vergrößerung des Entscheidungs- und Kontrollspielraums bedeutet (vgl.
Minssen 2006: 120).
Partizipation wird nach dem Top-down-Prinzip eingeführt, ohne die Beschäf-
tigten überhaupt einzubeziehen, eingeführt und so zur .gemanagten Partizipa-
tion" (Greifenstein et al. 1993: 31Sf.). Stefan Kühl (2002: 70tf.) hat die sich daraus
entwickelnden Paradoxien in drei Gruppen eingeteilt:

a. das Sei-Selbstständig-Paradox: Zentrale Einheiten ordnen dezentralen Ein-


heiten Selbstständigkeit an,
b. das Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbehalt-Paradox: Eigene Entschei-
dungen werden zwar verlangt, stoßen aber an die Genehmigungsgrenze be-
trieblicher Entscheidungsträger (Vorgesetzte). Würden die Beschäftigten zu
viel entscheiden, würde sich diese Ebene überflüssig machen, und
c. das Organisier-dich-selbst-aber-nicht-so-Paradox: Informelle Selbstorgani-
sation soll formalisiert werden und bedroht damit informelle Kooperationen,
also die faktisch bereits existierende Selbstorganisation (.Bewältigung des
Unplanbaren", vgl. Bolte/Porschen 2006).
194 6 Empirische Ergebnisse

wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bissehen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld, ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?U (GENEH/29)

GENEH macht die im Unternehmen geltende Präferenzordnung der Verbesserun-


gen deutlich. Dörre weist diesbezüglich darauf hin, dass Partizipation nur dann
zu einem demokratischen Prinzip in einer Organisation wird und in ökonomische
Effizienz münden kann, wenn der KVP eben nicht ökonomisch verkürzt wird. Wenn
also jede Verbesserung immer nur über einen Konkurrenzmarkt legitimiert wird,
ist Teilhabe "immer dann verzichtbar, wenn sie den Nachweis wirtschaftlichen
Nutzens nicht erbringen kann" (Dörre 2006: 5; vgl. auch Baethge-Kinsky/Hardwig
1999: 18f.). Der Handlungsspielraum der PMA hinsichtlich .ihrer" Verbesserungen
ist sehr klein. Vorwiegend werden ihre Ideen als Kompromiss oder als zufallige
Überlappung beider Interessen (Doppelcharakter der Verbesserungen) relevant
und umgesetzt. GENEA stellt zum Aspekt der Teilhabe fest:

"Also, klar wird der Mitarbeiter irgendwo mit eingeladen,


mit eingebunden auch in KVP, aber wie weit ist die Ernst-
haftigkeit da?" (GENEA/65)

Die Frage nach der »Ernsthaftigkeit" beschreibt die Größe des Handlungsspiel-
raums, die das Unternehmen den PMA zugesteht. Die geltende Präferenzordnung
der Verbesserungen ist ein Hinweis auf die angesprochene Ernsthaftigkeit. Ver-
besserungen, die in erster Linie mit Kosten verbunden sind und keine direkte,
messbare Verbesserung der Fertigungszeit darstellen, sind argumentativ nicht
durchzusetzen, da sie den kurzfristigen ökonomischen Erfolg nicht ausweisen
können. Qualität, gesündere Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit sind Werte,
die sich nur anhand indirekter Parameter messen lassen: Qualität als Kosten der
Nacharbeit, bessere Arbeitsbedingungen als Veränderungen im Krankheitsstand
und Arbeitssicherheit als geroeldete Fälle von Unf_lIen und daran anschließende
Krankschreibungen. Solange diese Unterscheidung von Verbesserungen im Rah-
men partizipativer Sozialtechniken gilt, kann nicht von einem Machtgleichgewicht
oder einer demokratischen und gerechten Teilhabe der Beschäftigten gesprochen
werden. Der partizipationsorientierte Veränderungsprozess. der nach dem Top-
down-Prinzip angestnßen wurde und nach dem Bottnm-up-Prinzip realisiert
werden soll, verdrängt die mitwirkenden Beschäftigten jedoch aus dem Prozess. Sie
werden nicht zu Akteuren mit erweiterter Entscheidungs- und Definitionsmacht,
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 195

sondern dienen lediglich zur .Herstellung einer Legitimationsfassade" (Ernst 2010:


44) eines vermeintlich partizipativen Verfahrens.
Damit ist die .. Achillesferse" der neuen Managementsysteme angesprochen:
Die Partizipation am Arbeitsprozess ist nur begrenzt selbstbestimmt. Trotz der
Sozialtechniken KVP und Teamarbeit erweitern sich die Handlungsspielräume
nicht genuin. Im Moment der Entscheidung muss der Produktionsmitarbeiter
zurücktreten und einer anderen hierarchischen Funktion den Vortritt lassen. Seine
Selbstbestimmung endet an der Scheidelinie zur Entscheidung.
Die Beschäftigten werden mithilfe inszenierter Partizipationsmöglichkeiten
(KVP-Workshops) aufgefordert (oder sogar herausgefordertl) an der Gestaltungvon
Verbesserungen teilzunehmen. Die Beschäftigten machen bei einer organisierten
Partizipation mit, die sie nicht selbst bestimmt haben und sollen ihr informelles
Wissen im Sinne betrieblicher Ziele nutzen und damit preisgeben. Es handelt sich
nicht um eine echte Erweiterung von Handlungsspielräumen, also keine selbst-
bestimmte Bestimmung über Menge, Zeit und Leistung der eigenen Arbeit. Die
Partizipation erweist sich als unecht und erfolgt nur im Sinne der betrieblichen
Ziele. Mit der Teilhabe an Entscheidungen über die Art der eigenen Arbeitsver-
ausgabung und Arbeitsgänge hat das KVP-Konzept nichts zu tun.
Die Teilhabe der Beschäftigten erweist sich als Selbstverleugnung der eigenen
Ansprüche an Arbeit. Die Partizipationsmöglichkeiten der Beschäftigten innerhalb
neuer betrieblicher Produktionssysteme bleiben damit im Grunde inauthentisch
und bilden zugleich ihre Achillesferse (vgl. auch Bischoff/Detje 2003: 64f. mit Be-
zug auf Dörre 2002; Senghaas-Knobloch 2008: 113f.). Die Beschäftigten befinden
sich in einem Mis fordistischer und postfordistischer Arbeitsweisen: (scheinbare)
Teilhabechancen treffen auf konservative Formen der Arbeitsabläufe.
Wenn sich die Beschäftigten immer wieder fragen, ob ihre Handlungen und
Arbeitsweisen auch wertschöpfend sind (.Welche Wertschöpfung leistet diese
Tätigkeit wirklichl", Glißmann 2001: 64), ist diese Frage ein Indiz für die Verpflich-
tung gegenüber den Unternehmenszielen und nicht gegenüber sich selbst und den
eigenen subjektiven Ansprüchen an die Arbeit. Die Gefahr des Scheiterns einer
Unternehmenseinheit ist die Angst der Beschäftigten. Mit der Wertschöpfungs-
frage im Hinterkopf (.Und das ist ja einfach nur ne Arbeitserleichterung, aber auf
wertschöpfender Basis aufgebaut", MODIBD/483) ist ein Störgefühl (kognitive
Dissonanz100) verbunden, dass die Beschäftigten zu Getriebenen des Marktes

100 Kognitive Dissonanz (Festinger 1957, Sennett 1992) beschreibt die widersprüchliche
Beziehung zwischen kognitiven Elementen (Meinungen, Einstellungen, Werte etc.):
..Eine Dissonanz wird als unangenehme psychische Spannung empfunden und moti-
viert die Person, ihre Kognition so umzustrukturieren, dass die Dissonanz reduziert
wird, oder solche Situationen zu vermeiden, die aller Wahrscheinlichkeit nach die
196 6 Empirische Ergebnisse

macht, obwohl sie abhängig Beschäftigte eines Unternehmens sind. Es besteht die
Gefahr der Inauthentizität auf individueller Ebene, einer Entfremdung des eigenen
Wollens (vgl. Sengbaas-Knobloch 2008: 114): nicht ernst gemeinte Partizipation
auf organisatorischer Ebene und unechte Partizipation auf Individualebene
(Unternehmensinteressen werden eigene Interessen und eigene Interessen werden
verdeckt). Auch Minssen stellt fest, dass

.. Partizipation ohne Gestaltungskompetenz reine Sozialtechnologie [wärel, die sich


zudem über kurz oder lang totläuft. weil sie keinen Motivationsschub hat. Partizipa-
tion kann auf Dauer nicht erzwungen werden, sondern setzt unter den Beschäftigten
Bereitschaft zur Beteiligung voraus, und diese Partizipationsbereitschaft ist nur
zu stabilisieren. wenn sie sich auszahlt. d.h. wenn der Partizipationsprozess auch
zu Resultaten führt. die die Beschäftigten auf der Haben-Seite verbuchen können.
Partizipation beruht auf Austausch; das Management zielt auf die Nutzung der in
den Arbeitsbereichen verfügbaren Produktionsintelligenz, kommt aber ohne Ge-
genleistung an die Partizipanten nicht aus." (Minssen 1999: 131)

Die Teilhabe ist so groß, wie die tatsächliche .Ernsthaftigkeit" des gesamten Un-
terfangens und wo die neuen Handlungs- und Entscheidungsspielräume anfangen
und enden, zeigt der folgende Abschnitt.

6.1.5.1 An der Grenze zur Entscheidung oder: "Wer entscheidet


das denn1 Das is' immer nur die Frage."1O'
Die Menschen in einer Fabrik, die Dinge entscheiden, sind nicht die PMA und sie
sind auch .nicht in der Produktion drin" (STEWEC1731), so nennt es Produkti-
onsmitarbeiter STEWEC. Wer nicht drin ist, ist draußen, damit wird die Distanz
deutlich. Es sind die .Zeitnehmer" (ebd.) (Mitarbeiter des Industrial Engineering),
also .Leute, die das festlegen" (ebd.), denn .irgendwer muss das ja entscheiden"
(ebd.). Eine konkrete Person kann STEWEC nicht benennen, die über die .Zeit"
entscheidet, also diese koordinierende Funktion in der Organisation besitzt. Er weiß
jedoch, dass er diesen Entscheidungsspielraum nicht beherrscht. Wer im Unterneh-
men entscheidet, definiert, ob ein Prozess sinnvoll und gut ist. Die PMA fühlen
sich machtlos gegenüber diesen Strukturen und stoßen dort an (organisationale)
Grenzen. Die Aussage .da ist dann wieder der Punkt" (STEWC/731) lässt auf ein

Dissonanz erhöhen" (Schäfers 1986: 53). In diesem Fall akzeptieren die Beschäftigten
die Betriebsziele und machen sie zu ihren eigenen (Erzwungene Einwilligung: die
Person hat die Illusion, dieses Verhalten freiwillig auszuführen). Das Störgefühl, als
abhängig Beschäftigter wie ein Unternehmer zu handeln, bleibt in gewissem Maße
allerdings erhalten.
101 STEWEC/735.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 197

übliches Problem schließen. Die PMA kommen häufig nicht weiter am Übergang
zur Entscheidung. STEWEBf macht deutlich, dass sich der Handlungsspielraum der
PMA (ohne KVP Partizipation) einzig und allein auf den.Vorschlag" beschränkt:

".Nur, es ist immer jemand anders, der das entscheidet.


Also, man selbst gibt nur Vorschläge und das war's eigent-
lich auch." (STEWEBf/763)

Formal haben sie nicht die Position, Entscheidungen zu treffen, denn sie besitzen
nicht den Zugang zu den .koordinierenden Kommandopositionen" auf betrieb·
Iicher Ebene (Organisation als Funktionssystem und Verflechtungssphäre) (vgi.
Elias 1970/2004: 156).
Selbstorganisation in Form flexibler Anpassungen und Veränderungen ist
demnach im Fallbetrieb nicht gemeint. Die Verantwortung .für die kontinu-
ierliche Verbesserung ihrer Arbeitsprozesse auf Basis von Standards"l02 ist mit
einem bürokratischen Prozess verbunden. Sie werden nicht in die Selbstorgani-
sation entlassen, die zu viel Kontingenz bedeuten würde und die Berechtigung
fur Vorgesetztenpositionen infrage stellen könnte, die dann wiederum einem
Legitimationsproblem ausgesetzt sind. Der Standard kann verändert werden,
muss aber in einen neuen und für alle verbindlichen Standard münden (flexible
Standardisierung). Situative und selbstorganisierte Anpassung und Veränderung
an sich wandelnde Bedingungen ist damit also nicht gemeint und so bleibt der
Arbeitsprozess fremdbestimmt. Stefan Kühl (2002) beschreibt diesen Zustand als
das .Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbebalt-Paradox", das von den Beschäf-
tigten bewältigt werden muss. Selbstorganisation trifft aufFremdorganisation und
verbindet sich zu einem Mb:. Es entspricht der von Pongratz und Voß beschrie-
benen .fremdorganisierten Selbstorganisation" (Pongratz/Voß 2000: 227), die die
Paradoxie von Altem und Neuem beschreibt. Der Begriff flexible Standardisierung
trifft die Verbindung sebr gut und ist ein Versuch das Gegensatzpaar .Prozess und
Statik" zu verbinden. STEWEC macht es in einer längeren Ausführung deutlich:

".Ja, ähm, die Arbeiter sehen das jetzt zum Beispiel so


wie mit dem Beispiel, dass der Dübel am Anfang gesetzt
wird und die Schraube am Ende, dass das vielleicht Quatsch
ist, aber so die das entscheiden mmh, die sind ja nicht
in der Produktion drin, sag ich mal. Ich weiß nicht, ich
bin ja nun auch keiner von von den Zeitnehmern oder oder
von den Leuten, die das festlegen ähm, irgendwer muss das
ja entscheiden, der hat dann zeit über: Denen müssen wir

102 Aus einem internen Informationsheft des Fallbetriebs: .. Das Produktionssystem".


198 6 Empirische Ergebnisse

noch was reindrücken, gut dann macht er den Dübel jetzt


mit, so, ne? Sonst äh hat der wieder zu viel Zeit oder oder
umgekehrt und äh irqendwer denkt sich das ja aus und das
muss ja auch irgend nen Sinn haben, obwohl das vielleicht
auch unsinnig ist für uns, sag ich mal. [E stimmt zu: Ja!]
Aber ähm ja, da ist dann wieder der Punkt, wo wir dann
so als Werker dann nicht weiterkommen, sag ich mal, das
wird dann einfach so entschieden und festgelegt. Dann wird
das abgesegnet oder gesagt: So das ist ja gut, obwohl das
vielleicht unsinnig ist, so in der Produktion. Aber damit
dann irgendwelche, weiß ich nicht, Richtlinien oder so
erfüllt werden oder Zeiten eingehalten werden, damit die
jeweilige Stückzahl dann, weiß ich nicht, so und so viel
zeit haben oder auch nicht ih, ja jetzt hab ich bisschen
den Faden verloren [lacht] ihm, ja Faden verloren. Aber
ihr versteht ungefähr, was ich meine? [M: Ja!]. Also, wir
können da nicht viel ausrichten, mein ich. M (STEWEC/731)

Er weist nicht nur daraufhin, dass der Übergang zur Entscheidung die Grenzlinie
seines Handlungsspielraums darstellt, sondern macht auch deutlich, dass zwei
Sinnsysteme aufeinanderprallen. Obwohl die PMA ihre Idee für richtig halten und
sie in ihrer betrieblichen Lebenswelt auch sinnhaft ist. können sie die Veränderun-
gen nicht autonom entscheiden und umsetzen. Sie sind auf andere Akteure in der
Fabrik angewiesen, die unter Umständen nach einer anderen Logik entscheiden.
Beschrieben wird eine Unternehmenskultur, die den Entscheidern in der Organi-
sation auch die Definitionsmacht einräumt. Die Organisation ist charakterisiert
durch eine differenzierte Funktionsteilung und eine lange Kette von Spezialisten
(Menschen mit Sonderaufgaben), die miteinander verwoben sind (vgl. der Begriff
•Wissensasymmetrie", Willems 2012: 397). Eine autonome Entscheidung der PMA
in diesem dichten Gewebe von Funktionen und Abhängigkeiten ist kaum möglich.
Der KVP-Workshop ermöglicht zwar die räumlich-körperliche Annäherung der
verschiedenen Figurationen, (vielleicht auch sozial) aber nicht die gedankliche
Annäherung der gegensätzlichen Interessen oder sogar die Verschmelzung ihrer
Wertesysteme. Im Folgenden werden beide Kulturen der Organisation beschrieben.

6.1.5.2 Die Wissenden in einer Organisation oder: .Die wissen ja


gar nicht, was wir da für Arbeit machen.·' ••
Die PMA haben das (Erfahrungs-) Wissen, um .denen" zu erklären, was möglich
ist und was nicht. Es zeigt sich eine selbstverständliche und selbstbewusste Hal-
tung zum eigenen Wissen. "Wir-erklären-euch" ist eine Aufgabe im Workshop,

103 STEWEC/705.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 199

die allerdings nicht immer leicht zu lösen ist (.beipulen"). BESAC legt Wert auf
eine "vernünftige" Erklärung und verweist auf eine sachliche und argumentative
Begründung, die sich von Irrationalität und Unvernunft abgrenzt. Sein Spielraum
ergibt sich durch sein Erfahrungswissen:

"Meine Meinung hab' ich ja vorhin schon mal gesagt, also,


ich nehm' an so ,nem Ding teil, um da was zu verbessern
beziehungsweise um vielleicht auch den Leuten darzustellen
oder darzulegen, die das Ding da anleiern, es ist möglich
oder es ist nicht möglich. Für mich ist es ja immer noch
so, wenn's dann wirklich nicht möglich ist, dann muss man
denen das auch beipulen, dann muss man denen das auch ver-
nünftig erklären. U (BESAC/329)

BESAA spricht in diesem Zusammenhang von der eigenen überzeugung. Auch


er ist ein Verfechter des .Machbaren" (der Praxis) und macht diese Ansicht mit
dem Theorie-Praxis-Dilemma deutlich:

"Dass man dann sagen kann: So, statt drei Mann kommen da
jetzt nur zwei Mann raus, weil, das geht nicht anders [... ]
Wenn man dann wirklich selber davon überzeugt ist, dass
das mit zwei Mann grad noch zu schaRen ist, aber nicht mit
drei Mann. Dass man eben drum kämpfen kann, einen Mann da
drin zu halten. u (BESAA332/334)

"Weil auf'm Papier sind Zahlen geduldig, sach ich mal und
(.) die Arbeit sieht teilweise auch ,n bisschen anders aus.
Wenn dann da steht 0,5 Minuten oder Sekunden für die und
die Tätigkeit, laut MTM. Dann is' das nicht unbedingt auch
immer dann wirklich so realitätsnah. u (BESAA/336)

BESAC unterscheidet zwischen Menschen .direkt vom Band" und .die hier oben".
Die Entscheidung für oder gegen eine Vetänderung kann nur ein Mensch vom Band
(Produktionsmitarbeiter) treffen, da er mit den Konsequenzen direkt umgehen
muss. Demgemäß verweist STEWEC auf die notwendige Langsicht der PMA bei
dem KVP im Hinblick auf die zukünftige Arbeitssituation:

"weil die äh die werker, die haben da ja auch ständig mit


zu tun und äh die machen ja auch meistens dasselbe und
sehen die Fehler dann ja auch o~ensichtlich und quälen sich
da ja auch mit rum und dann ähm ist es ja nicht verkehrt,
wenn man sich dann vielleicht kurzschließt und auf einen
Nenner kommt." (STEWEC/231)
200 6 Empirische Ergebnisse

Bezugnehmend auf GENEC formuliert auch GENEA die erforderliche Langsicht:

"Wie GENEC das ganz klar gesagt hat, wir sägen nicht an
unserem eigenen Ast. wir nennen denen ja keine Ratio-Po-
tenziale. Montag muss ich da wieder in die Gruppe und hab'
dann ein, zwei Mann weniger, muss dann zusehen, wie ich
die Arbeit Bcha~e und das ist natürlich ein Knieschuss. M
(GENEA/65)

Die "anderen", also Menschen anderer Figurationen, entscheiden nach der eige-
nen einfachen "Formel" (Richtlinien, Zeit- und Stückzahlvorgaben). Für sie ist es
übersichtlicher, da die Konsequenz keine Veränderung des eigenen Arbeitshan-
delns zur Folge hat; wohl aber eine positive Konsequenz in den Berechnungen
der Wirtschaftlichkeit (Kurzfrist). Die Abgesandten der Figuration werden nach
ihrer Wirtschaftlichkeit bewertet bzw. die Wirtschaftlichkeit drückt den dort
entscheidenden Wert in zweifacher Hinsicht als mathematisch und im Sinne
von Wertvorstellungen aus. Humane Arbeitsbedingungen gehören nicht zu den
(vorrangigen) Zielen.
In einer UntemehmensknItur, in der Zahlen die oberste Präferenz bilden,
wird Messbarem der bestimmende Wert zugesprochen und in Aushandlungen
zu einem .politischen Datum" (Weltz 2011: 70). Was messbar und schwarz auf
weiß sichtbar ist, ist wahr. In einem betriebswirtschaftlichen Kontext, wie es die
Unternehmung darstellt, hat Messbares einen Wert, der verhandelbar ist. Sobald
Arbeit messbar ist, gehört sie nicht mehr den Beschäftigten. Sie ist äußerlich und
kann ohne subjektives (individuelles) Zutun verändert werden. Die folgende Passage
eines Mitarbeiters aus dem indirekten Bereich belegt die kollektive Orientierung
der Unterscheidung zwischen den Bereichen:

.Also der direkte Bereich, ähh gut die arbeiten nach MTM,
dat is so, wenn wir da irgendetwas umstellen, wenn wir ir-
gendwelche Arbeitsweisen ändern, was auch immer, da sparen
wir F-Zeit ein, das können wir ausweisen, das sieht man,
schwarz auf weiß. So. Sogar vielleicht irgendwo haben die
irgendwelche Stückzahlen, wo wir, mit, ich sag mal, wo wir
eine gewisse Stückzahl mit einem Mitarbeiter weniger fahren
können, so das ist eigentlich das, was man, ja das kann
man auch greifen. So und im indirekten Bereich ist es so,
jeder Sachbearbeiter oder jeder Job, ich sag mal, ist ja
individuell, SO.M (GEMAC/27)

In der Gruppendiskussion GEMA mit Teilnehmern aus der Verwaltung sind sich die
Teilnehmer einig. dass sich die PMA über die sichtbaren Prozesse steuern lassen und
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 201

sie keine Möglichkeit haben, individuelle (informelle) Arbeitsweisen zu erarbeiten


und zu besitzen, die dem öffentlichen Blick verborgen bleiben. Nach dieser Logik
gehört die Arbeit nicht den PMA oder anders ausgedrückt: die Ausführung der
Handgriffe ist in den Standards und in den MTM-Tabellen beschrieben und vom
Akteur und seiner Individualität befreit. Indem sich die PMA aber Raum für eine
.eigene" Arbeitsweise durch die faktische Selbstorganisation und die individuelle
Anpassung an veränderte Rabmenbedingungen (Subjektivität) schaffen, entsteht
ein Kontinuum (Arbeitskultur), das sich dem Zugriff der MTM-Methoden entzieht
und sich verteidigen lässt.
MTM als .Wissenschaft" legitimiert äußere Veränderungen der Arbeitsweise
(.Überhöhung der Wissenschaft", Bonazzi 2008:4If.). In dem von GEMA beschrie-
benen Kontrast zwischen den Bereichen wird deutlich, dass die Logik des direkten
Bereichs nicht vom individuellen Akteur ausgeht (.die arbeiten nach MTM"; .Ar-
beitsweisen ändern", GEMAC/27), sondern vom Produkt und den Prozessen. Der
Akteur kann in dieser Methode vernachlässigt werden, denn solange eine Messung
möglich ist, sind auch Einsparungen möglich. Die Subjektivität der Beschäftigten
ist hierfür nicht notwendig. Die Logik des indirekten Bereichs geht hingegen vom
Subjekt aus (.jeder Sachbearbeiter oder jeder Job [... ] ist ja individuell", ebd.)
und beobachtet im zweiten Schritt die Prozesse. Die Arbeitsweisen entziehen
sich einem direkten Zugriff und können nicht gemessen werden. Im besten Fall
lässt sich eine grobe Einschätzung vornehmen. Die Ansicht der Beschäftigten im
indirekten Bereich ist noch immer geprägt von der Einteilung der Belegschaft in
die große Gruppe der Produktionsmitarbeiter als Anweisungsempfanger und
vom eigenen Produktivwissen enteignet und die wesentlich kleinere Gruppe der
Vorgesetzten als Anweisungsgeber und Kontrolleure (vgl. Senghaas-Knoblochl
Nagler 2000: 116). Eine exemplarische Aussage von GEMAB macht diesen Kontrast
noch einmal deutlich:

"Das sehe ich genauso. Also, wenn ich jetzt bei meinen Sta-
tistiken bin, kann man schlecht ermessen wie lang braucht
man jetzt für eine Auswertung oder ähh, auf ähh. Wenn meine
Arbeitskollegen, wenn die jetzt ein Personalgespräch füh-
ren, dann kann das von fünf Minuten bis anderthalb Stunden
dauern oder so, das ist nicht so stark messbar, wie so was
dann." (GEMAB/30)

In der ArbeitsknItur hingegen oder in der informellen betrieblichen Lebenswelt


(Senghaas-Knobloch 1997), die sich aus dem Wechselspiel normativer Vorgaben und
konkreter Handlungspraxis formt, ist das wahr, was machbar ist. Das Machbare,
also die Transformation in konkrete Handlungen und Arbeitsweisen, können die
202 6 Empirische Ergebnisse

Produktionsmitarbeiter mit ihrem Produktions- bzw. Erfahrungswissen beurteilen.


Machbarkeit erhält in einem praktischen Kontext den zu verhandelnden Wert.
Beide Seiten wissen vom jeweils geltenden Sinnsystem des anderen Wld können
sich trotzdem nicht verständigen; sie bleiben weitegehend unvereinbar und in den
KVP-Workshops münden sie ungeplant in ein Spannungsfeld der Verhandlungs-
situation. Die machtvollere Figuration im Unternehmen bestimmt den gültigen
Wert, nach dem sich alles zu richten hat. Im Kontrast steht: Etwas bewerten können,
weil das Wissen vorhanden ist (Beschäftigte), versus es einfach umsetzen, weil der
Handlungsspielraum vorhanden ist (Unternehmen).
BESAC erklärt die einfache (mathematische) Formel des Unternehmens, nach
der die Mitarbeiters des Industrial Engineerings handeln; sie lautet: ,Mann raus'
gleich ,Aufgabe erfüllt' (BESAC/19) oder auch ,minus zwei Mann' gleich ,gut' (BE-
SAC/68). Den Spielraum, Veränderungen in der Arbeitsorganisation zu bewerten,
hat demnach das Unternehmen. Das Entscheiden-Können bzw. die Bewertung des
Machbaren ist hingegen die Eigenschaft der PMA. Das Unternehmen entscheidet
nun aber einfach. Es ist die machtvollere Figuration. die aber nicht zwingend die-
jenige mit dem meisten Wissen über die betriebliche Realität ausgestattet ist. Die
Ambivalenz und kognitive Dissonanz, die diese Doppelwirklichkeit bei den PMA
auslöst, tritt vor allem im Rahmen ihrer Partizipation an den KVP-Worksbops
in Erscheinung. Sie müssen eine Aufgabe bewältigen, die im Grunde so unlösbar
scheint, wie die generelle Auflösung der betrieblichen Doppelwirklichkeit (vgl.
Weltz 2011):

w'N anderer Mensch kann das ja gar nicht entscheiden. Wenn


man nicht einen direkt vom, vom Band da nimmt, sach ich
mal, wer soll das denn entscheiden? Die hier oben würden
sowieso sagen: Pass auf, komm', zwei Mann weg und dann is'
gut" (BESAC/68)

Die »Entscheider" bezüglich der Machbarkeit von Veränderungen arbeiten an der


Linie, denn sie können Verbesserungsvorschläge beurteilen und bewerten. Mach-
bar bedeutet in fast allen Fälle, ob die Arbeitsgänge auch mit weniger Personal zu
bestreiten sind. Dafür nutzen sie ihr Erfahrungswissen. Das Erfahrungswissen
kann zusätzlich mit Strategie und Zurückhaltung versehen werden, sodass das
Transformationsproblem bestehen bleibt.
Das Störgefühl, eine quasi unlösbare Aufgabe bewältigen zu müssen, führt
zur Aufhebung des langfristigen Denkens - denn Langsicht löst das Störgefühl
aus - und einer tendenziellen Beharrung im momentanen Zustand. Die Akteure
sind quasi paralysiert und fixieren ihre Aufmerksamkeit auf das unmittelbarste
Problem und blenden den großen Zusammenhang aus (vgl. Sennett 2000: 120f.).
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 203

Dieses Phänomen zeigt sich an den unermüdlichen Verhandlungen der Beschäf-


tigten mit der Arbeitgeberseite in den Workshops. Sie konzentrieren sich auf die
Bearbeitung von Verbesserungsmaßnahmen im direkten Umfeld (mit .scheinbar
bedeutungslosem Erfolg" und Handeln ohne Erfolg auf Anerkennung, ebd.: 121)
- hier ist Langsicht wieder nützlich - und blenden die generelle Unvereinbarkeit
beider Sinnsysteme aus. Es müsste zwar etwas gegen diesen Widerspruch getan
werden, was aber unrealistisch erscheint. Sennett spricht von ..permanent fixier-
ter Aufmerksamkeit (ebd.: 121), die dazu führt, nie irgendwo anzukommen oder
immer wieder von vorne anzufangen und sich damit wie ein ..Gefangener der
Gegenwart" (ebd.) zu fühlen. Es ist zwar eine Entwicklung, die sich aber letztlich
in einer Beharrung ausdrückt.
Der funktionalen Differenzierung (Spezialisierung) sind Wissensasymmetrien
und Verstehensgrenzen implizit. Dieser Umstand führt zu einem erhöhten Bedarf
an Glaubwürdigkeit (Zuschreibung von Kompetenz und Vertrauen), denn bei
der wachsenden Kette von Handlungen ist die Beurteilung, wie andere handeln,
beinahe unmöglich geworden (Willems 2012: 397). Weltz warnt:

.. Die Machbarkeit der Scheinwelt versperrt nicht nur den Blick auf die .reale' Welt.
sondern führt auch zu einer Fehleinschätzung des tatsächlich Machbaren [.. ,] Die
Opfer, die Machtlosen sind letztlich die einzigen, die noch den Durchblick, den Blick
durch die offizielle Scheinwirklichkeit auf die reale Welt haben,- (Weltz 2011: 78)

Das folgende Zitat von GENEE beschreibt diese Situation exemplarisch:

wDas Problem ist, dass da vorne sind immer geschulte Leu-


te, die wissen, wie sie was umschreiben müssen, das wissen
viele halt nicht. Und das ist schon 'n Problem wenn, das
muss man wissen. u (GENEE/139)

Die KVP-Moderatoren (.die da vorne") können folglich besser .umschreiben" als


be-schreiben; die PMA (.viele") hingegen besser be-schreiben als um-schreiben.
Diese Fähigkeit haben sie vor allem in den durchgeführten Gruppendiskussionen
bewiesen und konnten mit dieser semantischen Fähigkeit die Verhältnisse der
betrieblichen Realität auf den Punkt bringen. Dies war den Moderatoren nicht
möglich, da sie sich an die offiziellen Begriffe halten und so ließen sie den KVP
zu einern Vokabelprogramm ohne konkreten Inhalt werden. Das folgende Zitat
von M2 veranschaulicht diesen Aspekt sehr gut:

wDen kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Es liegt na-


türlich viel schon in den, in den Worten des Begriffes.
Äh, wichtig finde ich an dieser Stelle, es lassen sich in
204 6 Empirische Ergebnisse

kleinen Schritten viele Probleme und Schwierigkeiten im


GesamtprozeSB ausmerzen, wohingegen mit großen, einmaligen
Planunqs- und Entwicklunqsschritten gewisse Fehler mit ein-
kalkuliert werden müssen und eingearbeitet werden äh, die
man nachher nur wieder schwer beseitigen kann. M (MOD02/127)

6.1.5.3 KVP als trojanisches Pferd


Beim KVP. so wie er sich im Fallbetrieb präsentiert, handelt es sich um eine
durchdachte, methodische Vorgehensweise, bei der nichts dem Zufall überlassen
bleiben soll. Mit der erlernbaren, handlungspraktischen Kaizen-Methode scheint
eine wissenschaftliche Lösung zur Problembehebung gefunden worden zu sein.
Der Wissenschaftlichkeit dieser Methoden kommt ein "intrinsische Autorität zu,
die sie als neutrale Lösungen jenseits persönlicher Interessen erscheinen lassen"
(Bonazzi 2008: 41) und so erscheint das Managementwerkzeug KVP im Ganzen
neutral.
Auch M2 bedient sich dem Motiv der neutralen Methode oder genauer: dem
neutralen Blick auf Verbesserungen. Er versucht die Machtstrukturen, Inter-
essengegensätze und Widersprüche zu neutralisieren, indem er sich und den
gesamten KVP als neutral darstellt. So entgeht er dem vorprogrammierten Zwist
der ,Fronten' (Management vs. Betriebsrat). Die Logik, die für M2 im System
steckt, lautet: wer positiv eingestellt ist, kann gar nichts Negatives produzieren.
Auf diese Weise befreit er die Situation von einer ideologischen Haltung und von
Machtbeziehungen:

"Dass ich also weder mich besonders stark Management äh


(.) gelenkten Ideen von, von diesen Ideen leiten lasse noch
von Ideen des Betriebsrates oder sonstigen Institutionen,
sondern dass ich eigentlich im Sinne des kontinuierlichen
verbesserungsprozesses eine Gesamtverbesserung suche so-
wohl für die Mitarbeiter, was Ergonomie und äh (.) Arbeits-
platzgestaltung und ähnliche Dinge angeht als auch für die
Abläufe. Und ich konnte auch vermitteln, dass diese Dinge
eben oftmals einhergehen, und dass wenn man insgesamt mit
offenen Augen positive veränderungen am Arbeitsplatz her-
beiführen möchte, dass das fast in jedem Fall auch äh (.)
zum Guten aller Mitarbeiter passiert. u (MOD02/J9)

M2 könnte mit dem Neutralitätsmotiv der Arbeitnehmervertretung den Wind aus


den Segeln nehmen, die ihre Legitimation gerade im Hinblick auf den betriebli-
chen Interessenkonflikt erhält. Der Moderator kann im Allgemeinen eine Position
hineinbringen (Unsicherheitsfaktor: Neutralität ist .nicht selbstverständlich"
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 205

MOD02/38), da M2 allerdings im Sinne des KVP handelt, ist er neutral. Dieser


.Grundgedanke" (MOD02/39) soll die PMA von einer Bewertung in positiv oder
negativ befreien und sie auf etwas vertrauen lassen, das virtuell bleibt und nicht
greifbar wird. Es ist eine Perspektive, die ihnen keinen Anhaltspunkt für Kritik
liefert, da sie neutral und frei von jeglicher Haltung ist. Auf diese Weise entpuppt
sich der KVP als Trojanisches Pferd, das vermeintlich harmlos hinein rollt und
dann unerwartet seine ökonomische Wirkung im Innem entfaltet.

6.1.6 Zwischenfazit

Die Machtverhältnisse im Betrieb werden durch Machtproben betrieblicher


Figurationen immer wieder getestet und wenn möglich verändert. Die Gruppen-
diskussionsteilnehmer zeichnen diese Verhältnisse in der Verflechtungssphäre
Organisation mit den Fürwörtern "die" und "wir" semantisch nach. Die beschrie-
benen Figurationen beziehen sich auf ihre je geltenden und in Kontrast stehenden
Sinnsysteme. Diese Machtproben sind charakterisiert durch Spiele und Strategien der
Akteure, die bestimmten Spielregeln folgen und von Lernprozessen begleitet sind.
Im Verlauf der Analyse wird deutlich, dass es sich iunerhalb der KVP-Workshops
um angeordnete Egalität zwischen den Teilnehmern handelt und ihre funktionale
und hierarchische Differenz eher in eine "rivalisierenden Zusammenarbeit" denn
in Kooperation mündet. Mit Konkurrenz und Misstrauen fUhren die Figurationen
die Verflechtungssphäre in eine relative "Beharrung" ohne Entwicklungschance
auf das nächsthöhere Niveau.
Der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Beschäftigten bezüglich
Verbesserungen der eigenen Arbeitssituation und -bedingungen hat sich wider
Erwarten nicht vergrößert, da sich die Partizipation der Beschäftigten am Pro-
duktionsprozess in Form der Sozialtechnik KVP-Workshop lediglich als Fassade
erwiesen hat. Selbstverantwortung und Selbstorganisation stoßen an die Grenze
zur .Entscheidung" und scheitern an zu hohen hierarchischen Hürden. Das
Nachzeichen der interdependenten Beziehungen und Machtproben zeigt, dass
das Machtgleichgewicht tendenziell zugunsten der Arbeitgeberfiguration ausfallt.
206 6 Empirische Ergebnisse

6.2 Die KVP-Moderatoren: Eine neue Figuration im


Betrieb oder Schicksalsgemeinschaft?

Im folgenden Kapitel liegt der Schwerpunkt auf den KVP-Moderatoren im unter-


suchten Fallbetrieb. Dabei sind die Moderatoren aus dem indirekten und direkten
Bereich zu unterscheiden. In der Verwaltung sind die Moderatoren nicht freigestellt
und üben die neue Aufgabe zusätzlich zur üblichen Funktion aus. Im direkten
Produktionsbereich hiogegen sind die Moderatoren ein halbes Jahr freigestellt.
Die Darstellung der KVP-Moderatoren im direkten Produktionsbereiche erfolgt
individuell.
Zunächst erfolgt eine Typologisierung der in Einzelinterviews befragten
KVP-Moderatoren für den Produktionsbereich (MI-M4). Die Strukturierung
der einzelnen Fälle erfolgt mithilfe der in der Analyse herausgearbeiteten Motive,
die sich in der Queranalyse in allen vier Interviews, jedoch mit unterschiedlichen
Ausprägungen und Ableitungen zeigen.
Im weiteren Verlauf erfolgt die Darstellung der Motive und kollektiven Ori-
entierungen der Gruppendiskussion MODIB mit den KVP-Moderatoren aus der
Verwaltung für die Verwaltung vorwiegend in gebündelter Form. Im Verlauf
der Queranalyse haben sich auch fallübergreifende Motive von Einzelinterviews
und Gruppendiskussion ergeben, die ebenfalls gebündelt dargestellt werden. Die
Motive bilden, wie in der gesamten Darstellung der empirischen Ergebnisse, die
Überschriften und Zwischenüberschriften der Abschnitte.

6.2.1 Typologisierung der Moderatoren

Die in Einzelinterviews befragten KVP-Moderatoren für den Produktionsbereich


zeichnen sich durch verschiedene Rekrutierungsgeschichten auf dem Weg zum
innerbetrieblichen Moderator für KVP-Workshops aus und lassen sich aufgrund
weiterer Aspekte, die io der Analyse herausgearbeitet wurden, in Typen einordnen.
Gemeinsame Motive auf der einen Seite und ihre je individuelle Ausformung auf
der anderen Seite beschreiben die typischen Unterscheidungsmerkmale zwischen
den Moderatoren. Diese Motive strukturieren im folgenden Verlauf als Unter-
überschriften die Fälle: ihr AlleinsteIlungsmerkmal in Abgrenzung zu anderen
KVP-Moderatoren, die benötigte Langsicht in Bezug auf die anschließende Po-
sition, ein Lernprozess und die Arbeit an ihrem ,guten Ruf' im Fallbetrieb. Die
Untersuchung der KVP-Moderatoren folgt dem Ziel, die während der Beobach-
tungseinheiten entstandenen Fragen zu beantworten: Wie wurden die Moderatoren
ausgesucht! Warum wurden gerade SIE gewählt! Warum stimmten sie dieser
6.2 Die KVP-Moderatoren 207

Aufgabe zu! Oder haben sie sich proaktiv für die Tätigkeit beworben! Gab es interne
Stellenausschreibungen! Auch im Hinblick darauf, dass diese Aufgabe ohne die
groß angelegte Reorganisationsmaßnahme im Fallbetrieb nicht existieren würde
und ihre Biografie keinen Hinweis darauf gab, dass sie prädestiniert für diese
Aufgabe waren, war die Gruppe innerbetrieblicher KVP-Moderatoren und ihre
Bewältigungsstrategien der neuen Herausforderungvon besonderem Interesse. Die
Analyse liefert wichtige Antworten und Anhaltspunkte für das Erkenntnisinteresse
gewandelter Fremd- und Selbstzwänge.

6.2.1.1 Moderator 1: Der Sonderfall im luftleeren Raum'04


Zum Interviewzeitpunkt ist MI 44 Jahre alt. In der 12. Klasse hat er das Gymnasium
mit dem Sekundarabschluss II verlassen und danach noch zwei Mal das Gymna-
sium gewechselt. Zwischenzeitlich hat MI eine Ausbildung zum Maler begonnen.
aber nicht beendet. eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann
abgeschlossen. Anschließend war er kurz im Ausbildungsbetrieb beschäftigt. Nach
einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit folgte eine Beschäftigung beim Arbeits-
amt und im Anschluss eine Umschulung zum Kommunikationselektroniker. In
diesem Beruf war er bei Zeitarbeitsfirmen in Hamburg tätig. Darauf folgte dann
eine Festanstellung. Aus privaten Gründen ging MI zurück nach [Stadtl. wo er
1991 beim Fallbetrieb Werk F als Montagewerker anfing. In dieser Position hat
er ein paar Jahre gearbeitet und nebenbei eine REFA- und Meisterausbildung
absolviert. Im Anschluss wurde er als Meister eingesetzt. Insgesamt arbeitete MI
17 Jahre in Schichtarbeit. Zum Interviewzeitpunkt war er ein dreiviertel Jahr als
KVP-Moderator im KVP-Büro tätig. Im Gegensatz zu M2 und M4 strebt MI eine
dauerhafte Anstellung im KVP-Büro an.

Das Alleinstellungsmerkmale in Abgrenzung zu den anderen


KVP-Moder.toren
MI beschreibt sich selbst in Abgrenzung zu den anderen Moderatoren als en-
gagierter und begründet diese Einschätzung mit seiner Zukunftsperspektive in
der Abteilung (Langsicht). MI hofft auf einen dauerhaften Job im KVP-Büro und
artikuliert diese Absicht auch. Sein Engagement (Subjektqualität) ist demnach
verstärkt, um die Chancen zum Bleiben zu erhöhen (unsicher). MI vermutet, dass
die Verantwortlichen des KVP-Büros ihm mehr zutrauen und ihm Kompetenzen
einräumen, weil sie in ihm einen beständigen Mitarbeiter sehen, bei dem es sich
lohnt zu investieren (Win-win-Situation). Durch diese Investition in die Zukunft

104 Vgl. MOD01l61.


208 6 Empirische Ergebnisse

(Langsicht) bilden sich Unsicherheitszonen für beide Seiten. Das KVP-Büro weiß
nicht, ob es wirklich in einen fahigen Mitarbeiter investiert, der Moderator hingegen
weiß nicht, ob sein Engagement auch sicher in eine dauerhafte Beschäftigung im
KVP-Büro mündet. Die Situation ist charakterisiert durch die abhängige Variable
Zeit in Form eioer Zukunftsoption. Die Handlungen (Engagement bei MI und
gewährte Spielräume durch das Unternehmen) beider Seiten beziehen sich auf eioe
Langfristperspektive als Kontextbedingung:

".Ich hab' das Gefühl jaa, (.) weil ich mich (.) meiner An-
sicht nach auch, bisschen mehr engagiert hab', als vielleicht
andere Moderatoren aufgrund der Tatsache, dass viele von
den Moderatoren, die nur zeitlich hier sind, auch wirklich
nur ihren MOderatorjOb machen wollen und nichts drum her-
UM. Bei mir sieht das ein bisschen anders (.) ähm ich hab'
eigentlich schon das Ziel, hier weiterzuarbeiten und von
daher ähm (.) hat man mir 'n bissehen mehr (.) zugetraut,
vielleicht Kompetenzen eingeräumt und so weiter. Ich denke
schon." (MOD01/97)

Als Folge dieser Unsicherheitssituation, die MI als »luftleeren Raum" (MODI/59)


bezeichnet, sitzt er im Hinblick auf die Abteilungszugehörigkeit »zwischen den
Stühlen", wie er seine Situation selbst beschreibt:

,..Und so und das find' ich so'n bisschen (.) mmh bei mir war
es ja nun 'n Sonderfall. viele Moderatoren, die kommen,
die sind ja zeitlich begrenzt hier, die wissen genau, wann
sie wieder gehen. Bei mir ist es ja nicht der Fall, von
daher stehe ich immer so'n bisschen zwischen den Stühlen. u
(MOD01/61)

Für MI wurde die Struktur geöffnet (Entgrenzung), aber aufgrund der Situation
eines »Sonderfalls" nicht wieder verschlossen, da er zeitlich zunächst unbegrenzt
in der Moderatorenposition arbeiten möchte.

Aufschub der Bedürfnisbefriedigung mithilfe von Langsicht (Vertrauen)


MI zeigt Langsicht und bewältigt auf diese Weise die im Fallbetrieb zu beobachtende
Double-bind-Struktur'" der Implementierung des KVP (Sprache und Handlung
des Unternehmens zum KVP stimmen nicht überein). Eio Moderator erfahrt im
Unternehmen keine Anerkennung seiner Tätigkeit, da es sich um eine unbeliebte

105 Ein Begriff aus der Psychologie, der die Bindung eines Menschen an paradoxe kom-
munikative Botschaften und Signale und deren Auswirkungen beschreibt.
6.2 Die KVP-Moderatoren 209

Position handelt. Auf die Frage, wo im Organigramm er sich als Moderator posi-
tionieren würde, antwortet Mi:

... Ähm (.) ich würde sagen, ziemlich weit unten (lacht). Der
KVP-Moderator ist, glaub' ich, nicht besonders angesehen
und der Job ist, glaub' ich, auch nicht besonders beliebt.
Das sagen aber viele, die äh (.) vom KVP sowieso nichts
halten und das sind auch etliche, die wirklich was zu sa-
gen hier im Unternehmen, die wirklich was zu sagen haben
im Unternehmen, die von KVP nichts halten, weiß ich nicht
(2) Also, ich glaub', das ist nicht so besonders angesehen
und auch nicht besonders beliebt. M (MOD1/49)

Die Frage stellt sich also. wieso MI an einer unbefristeten Tätigkeit im KVP-Büro
interessiert ist. Aufgrund seiner Beschreibung wird die Einteilung in zwei Gruppen
deutlich: Organisationsmitglieder. die für (Etablierte) oder gegen (Außenseiter)
KVP sind. MI ist der Ansicht. dass er durch den praktischen Wissensvorsprung
(Erfahrungswissen) zur Etablierten-Gruppe des Unternehmens gehören wird.
also zu denen, die praktisches Insiderwissen zu den KVP Vorgängen besitzen.
Die Außenseiter charakterisiert MI hingegen als Nichtwissende (im besten Fall
Theorie-Kenntnisse) bezüglich des KVP:

"Vorteil ist, dass man viele Bereiche kennenlernt [_.] Vorteil


ist für mich auch einfach äh (.) dass man sehr mit dieser
Thematik vertraut ist, [Name Organisationsentwicklungs-
maßnahme], weil es meiner Ansicht nach auch die Zukunft
ist von [Pirmenname]. Das wird weiter gehen, und wenn man
sich damit auskennt, ist es doch schon 'mal für mich 'n
Vorteil. Viele (.) äh hören zwar was davon, vielleicht auch
'mal was davon gelesen, aber in Wirklichkeit wissen sie
nicht richtig Bescheid. u (MODOl/75)

MI lernt folglich nicht nur viele Bereiche kennen (Vergrößerung der Spielräume.
Verdichung des Gewebes). Sein (Erfahrungs-)Wissensvorsprung grenzt ihn von
anderen Beschäftigten der Organisation ab, die von der Thematik nur gehört
oder gelesen haben. aber .in Wirklichkeit [...] nicht richtig Bescheid [wissen]"
(MODI/75). Diese Außenseiter sind die Passiven. außerhalb des Prozesses. Eta-
blierte hingegen die Aktiven im Prozess. Mi investiert bereits in die Zukunft, da
er hofft. zur Etablierten-Gruppe zu gehören. Diese Aussicht motiviert ihn den im
Fallbetrieb zurzeit unbeliebten Job durchzuführen und vernachlässigt dabei sogar
die negative Haltung des Managements gegenüber dem KVP. da er auf die Wich-
210 6 Empirische Ergebnisse

tigkeit der Organisationsentwicklung als Vorstandsthema baut. Es handelt sich um


einen hohen Einsatz von MI im Hinblick auf eine unsichere Zukunftsentwicklung.

w1n der Regel kann man ja davon ausgehen, dass die, die
Unternehmensvertreter oder sagen wir mal Leute, wie Planer
oder IE doch I nen andern Wissenshintergrund haben, was die
ganze Problematik angeht, als, als äh (.) der Mitarbeiter,
der an der Linie steht, der kennt nur meist seinen Bereich
und auch nicht viel darüber hinaus. Es gibt natürlich auch
ganz andere Fälle, aber in der Regel ist es so, da muss man
dann doch schon, manchmal ein bissehen weiter ausholen, um
die dann auch (2) ja, auf den weg da mitzunehmen." (MODOl/89)

Wenn nur alle Mitarbeiter informiert sind, wird die Organisationsentwicklungs-


maßnahme erfolgreich umgesetzt, so lautet die subjektive Einschätzung von MI.
Informiert sein bedeutet jedoch noch nicht per se einverstanden zu sein! Diese
Einschätzung beschreibt vermutlich das Missverständnis zwischen den beiden
machtvollen Figurationen im Fallbetrieb. Das vom Unternehmen verbreitete
.Musswissen" haben die Produktionsmitarbeiter längst. In dem Augenblick, in
dem die PMA zeigen, dass sie mit der Entwicklung nicht einverstanden sind und sie
wehren, glaubt das Unternehmen, dass der Grund für ihr Handeln ausschließlich
aufgrund fehlender Informationen hervorgehen kann. Dabei handelt es sich um
ein Missverständnis, das die Produktionsmitarbeiter nicht auflösen, weil ihnen
dieser Irrtum nicht auffallt oder sie ihn nicht in Worte fassen können oder weil es
sich möglicherweise um eine self-fulfilling-prophecy handelt. Die PMA konnten
in den letzten Jahrzehnten kein Selbstbewusstsein aufbauen, das sich im Unterneh-
men hätte artikulieren können. Ihre Primärmacht wurde kollektivvertreten, dass
ihnen die Eigenschaft einer Opfergemeinschaft gab. Wie sich Selbstbewusstsein
artikulieren lässt und mit der zunehmenden betrieblichen Demokratie (Verrin-
gerung der Machtasymmetrie) in Einklang zu bringen ist, müssen die PMA erst
erlernen und erproben.
Das Arbeiterbild, das MI beschreibt, ist gekennzeichnet von .be-grenzten"
Menschen, die nur ihren Arbeitsplatz kennen und sich nicht um andere Themen
und Zusammenhänge kümmern. Es handelt sich um das traditionelle Bild eines
Produktionsmitarbeiters im fordistischen Regime, das in Kontrast zum aktuellen
Bild eines selbstverantwortlichen Beschäftigten steht, so wie es als Anforderung
in den neuen flexiblen Produktionssystemen beschrieben ist.
MI grenzt sich von den anderen KVP-Moderatoren aufgrund seiner Langfrist-
perspektive ab, also in seinem Bestreben, dauerhaft im KVP-Büro beschäftigt zu
bleiben. Aus dieser besonderen Zukunftsperspektive ergibt sich die Verschränkung
6.2 Die KVP-Moderatoren 211

erweiterten Engagements und der Vergrößerung seiner Handlungsspielräume,


die ihm durch die Abteilung gewährt werden. Die Bewältigung der ambivalenten
Aufgabe als Moderator meistert MI mit einem zukünftigen Szenario: er erwartet
mit seinem praktischen KVP-Erfahrungswissen zur Etablierten-Gruppe des
Unternehmens zu gehören und setzt in diesem Spiel alles auf das Thema KVP als
langfristige Strategie des Vorstandes.

6.2.1.2 Moderator 2: Der Individualist


Zum Zeitpunkt des Interviews ist M2 42 Jahre alt. Er ist Diplom-Ingenieur und
arbeitet seit 10 Jahren im Fallbetrieb. Zunächst war er im Hauptsitz des Unter-
nehmens (Werk M). anschließend im Fallbetrieb (Werk F). Seine Tätigkeit als
Moderator liegt bereits einige Wochen zuräck.
Im Interviewverlauf wurden zwei zentrale Themen besonders deutlich: einer-
seits seine berufliche Laufbahn innerhalb des Unternehmens (und die Bedeutung
des KVP in diesem Zusammenhang) und andererseits die Bewältigung seiner
Moderatorenaufgabe. Sprachlich auffallig ist der von M2 oft verwendete Binär-
code: hier die fachliche. dort die hierarchische Laufbahn. M2 gibt der fachlichen
Laufbahn allerdings den Vorrang. Dazu passt seine subjektive Theorie: .Man ist
das. was man gelernt hat." (MOD2/88) Diese Aussage lässt den Schluss zu. dass es
im Fallbetrieb keine Deckung beider Wege gibt und die Beschäftigten sich für oder
gegen eine der beiden Möglichkeiten entscheiden müssen. Dem entspricht auch die
von M2 oft genutzte Schienenmetapher (siehe dazu auch MOD3/47). Wer sich in
einer Schiene befindet, schlägt einen vorgezeichneten Weg im Unternehmen ein.
Wie die folgenden Ausführungen zeigen. erweist sich die Moderatorentätigkeit im
KVP als plötzliche Weiche. die der Laufbahn eine andere Richtung geben kann:

...Und so hab' ich das auch bei anderen äh (.) Moderator-


kollegen dann auch erfahren, dass äh auch wenn aus der
Meisterschiene sich Leute für diesen weg entschieden ha-
ben, dass denen natürlich auch äh (.) in ihrer beruflichen
Karriereentwicklung an dieser Stelle positive Wege dann
aufgezeigt wurden. M (MOD02/26)

M2 bewältigt die neue Herausforderung als KVP-Moderator durch mehrere AI-


leinsteIlungsmerkmale in Abgrenzung zu den anderen Moderatoren.

Das Alleinstellungsmerkmal in Abgrenzung zu den anderen


KVP-Mnderatnren
Zusätzlich zu seinem individuellen Neutralitätskonzept nutzt M2 seine technische
Ingenieursausbildung als sein Alleinstellungsmerkmal. Indem er sein technisches
212 6 Empirische Ergebnisse

Wissen anwendet und im Workshop fokussiert, lässt sich auch von einer Bewälti-
gungsstrategie dieser für ihn ungewohnten Moderatorenrolle sprechen:

wUnd wollte auch die Dinge, die ich im Vorfeld gelernt habe,
die die meine Ausbildung ausmachen und so weiter, die wollte
ich auch mit unterbringen, zum Beispiel konstruktive Dinge
mit ändern." (MOD02/8S)

Technische Themen geben ihm ein Sicherheitsgefühl, da es sich um sein Milieu


handelt und so nutzt M2 diese Sicherheit in einer für ihn ungewohnten und kon-
tingenten Umgebung.
M2 grenzt sich von den anderen Moderatoren ab, indem er sich für talentierter
im Hinblick auf die Umsetzung und Bewältigung der neuen Herausforderung hält.
Er ist besser, weil er die Spielräume ausnutzt, die ihm zur Verfügung stehen und
er die ungewohnte Situation besser meistert als die anderen, indem er z. B. die
Gruppen selbstorganislert arbeiten lässt und innerhalb der Gruppe.Teamführer"
(MOD02/39) einsetzt. M2 gestaltet seine Rolle in starker Abgrenzung zu anderen
Moderatorenl06 • Er sei im Gegensatz zu ihnen nicht von Zwängen begrenzt. nutze
die Gegebenheiten und strukturiere die Woche effizienter. Dieses Alleinstellungs-
merkmal gebe ihm Zeit, sich dem Endprodukt .Präsentation" zu widmen:

wUnd im Geqensatz zu anderen Moderatoren habe ich relativ


früh dann anqefanqen die Präsentation aufzubereiten. In
vielen Fällen habe ich, als ich noch als Beisitzer äh (.),
also, zum Traininq, als Co-Moderator an hier, an Modera-
tionen teilgenommen hatte, hatte ich beobachtet, dass die
meisten sich, ja (.) mal mehr, mal weniqer strukturiert mit
dem Workshop beschäftiqten [ON] Das war etwas, diese Proble-
matik und diese zeiteinenqunq wollte ich qrundsätzlich im
Vorfeld aus 'm Weg gehen. Und deswegen hatte ich schon am
zweiten Tag damit angefangen äh (.) mehr oder weniger kleine
Gruppen, ein bis äh(.) zwei bis drei Gruppen äh bilden,
sich bilden zu lassen. Mit mehr oder weniqer Teamführern,
die also schriftlich die Auffälliqkeiten fixierten. Ein Zu-
ständiger mit Fotografiererlaubnis bekam auch die Kamera
von mir ausqehändiqt. Und ich hab' in der Zwischenzeit,
wenn ich (.) wieder zu 'ner Vorortbeqehunq äh(.) einqeladen
hatte, hatte ich mich äh(.) im workshopraum an den Rechner
qesetzt und schon an einer qrob vormontierten Präsentation
gearbeitet und einfach mal die größten Au~älligkeiten, die
so aus der Gruppe sich herauskristallisierten, einfach als

106 Die Abgrenzung zu den anderen Moderatoren ist ausgeprägter als bei den anderen.
6.2 Die KVP-Moderatoren 213

Bilder in die Präsentation eingefügt und die Gruppe hat an


dieser Stelle eben schon, entweder Equipments umgesetzt,
vor Ort oder an weiterer, weiterem Zusammenholen von Pro-
blematiken, von problemen, Auffälligkeiten gearbeitet und
so weiter. u (MOD02/39)

Es besser als die anderen zu machen ist die Devise von M2 und die Strukturen
kreativ und individuell zu nutzen. Er erarbeitet sich Freiräume, ist nicht angewiesen
auf das Intranet, lässt die Workshop-Gruppe in Untergruppen selbstorganisiert
arbeiten und bewältigt damit die eher starre Struktur der KVP-Organisation.
• Problemthemen" (MOD02/41) verwandelt er in .unterstützende Themen" (ebd.):

wUnd ich hatte mir also im Vorfeld, als ich noch als Co-Mo-
derator zu tun hatte, hatte ich mir sO'n Grundkonzept zu-
rechtgestellt und äh und eine Dateienstruktur auf meinem
Rechner zusammengestellt, so dass ich auch auf 'ne Anbindung
im Intranet nicht angewiesen war. Ich konnte da frei ar-
beiten und diese Grundstruktur habe ich dann nachher immer
weiter verfeinert mit den laufenden Workshops und konnte
die dann immer wieder eben als Grundlage äh, anwenden und
hatte sehr wenige Probleme bei der, das beschränkte sich
oftmals auf Bilder einfügen. Einfache Grafiken und Skizzen
in powerpoint machen und so weiter. Und so war die Thema-
tik, die immer als Problemthematik auch diskutiert wurde:
das Erstellen, das sehr, sehr schnelle äh erstellen der
Endpräsentation mit Zeitdruck, das äh war nachher äh kein
Problemthema mehr für mich, sondern ein unterstützendes
Thema." (MOD02/41)

Insgesamt wird eine starke Individualisierung (stärkere Ich-Wir-Balance) und


Selbstorganisation (Subjektivierung) von M2 deutlich.

De ••gute Ruf" in einem dichten Gewebe


Neue soziale Beziehungen sind eine Möglichkeit, Spielräume zu erweitern, Res-
sourcen aufzubauen und damit an Spielstärke zu gewinnen. M2 kontrastiert die
Folgen einer KVP-Moderation hinsichtlich sozialer Beziehungen, indem man
entweder .. Scherben hinterlässt" oder .Freunde gewinnt" (.Menschen, die gerne
mit einem arbeiten", MOD02/97). Ausschlaggebend ist die Qualität der eigenen
Arbeit, also, ob man das Thema .richtig angeht" (ebd.). Das .richtige" ist für M2
das erfolgreich vermittelte und angewandte Neutralitätskonzept. Das Gewebe wird
durch die neue Aufgabe dichter und das eigene Handeln von mehr Menschen ab-
hängig und beurteilt. Eine sorgfaltige Langsicht wird för diese Herausforderung
214 6 Empirische Ergebnisse

notwendig, denn ein KVP-Moderator ist auch noch nach der Moderatorentätigkeit
Teil der Unternehmensfiguration. Ein Scheitern, also der Verlust von Anerkennung
durch andere Menschen verschiedener Figurationen. hätte auch Nachwirkungen
zur Folge. M2 bescheinigt sich selbst allerdings die erfolgreiche Umsetzung dieser
Herausforderung:

wMir sind nur, am Ende sind mir nur Vorteile äh dadurch


geblieben. Erstmal über den steigenden Bekanntheitsgrad.
Man hat sehr viele Leute kennengelernt, wenn man seinen
Job gut gemacht hat in alle RiChtungen, dann hat man an
der Stelle auch nicht Scherben hinterlassen, sondern mehr
Freunde gewonnen und äh Menschen, die gerne mit einem
arbeiten, wenn man dieses Thema richtig angeht und äh
ich muss sagen, dass meine Arbeit an diesen Stellen auch
honoriert wurde, dass sie anerkannt war und dass ich per-
sönlich äh keine negativen, keine negative Rückkoppelung
daraus hatte. U (MOD02/97)

Im KVP-Workshop kommt es zu neuen wechselseitig interdependenten Beziehun-


gen. Auf die immanente Nachfrage der Interviewerin, von wem denn die Arbeit
.honoriert" bzw.• anerkannt" würde, exemplifiziert M2, dass die Teilnehmern
der Gruppe Anerkennung zeigten. Er empfand die Beziehungen zu den Work-
shop-Teilnehmern als Sättigung noch offener Valenzen:

wAus der Gruppe selber. Die Gruppe selber war mit den Er-
gebnissen am Ende sehr zufrieden. Ich äh, habe das später
äh kennengelernt, wenn ich Workshop-Mitglieder auf der
Straße im werk wieder getroffen hatte. Das habe ich aus den
Reaktionen erfahren. u (MOD02/99)

Die Verdichtung des Beziehungsgewebes und die Arbeit an der eigenen Anerken-
nung durch die Workshopteilnehmer war eine Herausforderung für M2, die er
erfolgreich gemeistert hat.

Aufschub der Bedürfnl.befrledlgung mithilfe von Lang.icht (Vertrauen)


Nach M2 eröffnet der KVP neue Einblicke und stellt die Weichen in der Laufbahn
von Mitarbeitern neu. KVP ist Mittel zum Zweck (KVP spielt Nebenrolle) und
im Fall von M2 ist es der Exkurs zum Fachreferent (Hauptrolle: das Ziel Fach-
referent) und die Freilassung aus der für ihn vorbestimmten Hierarchielaufbahn.
Man kann in diesem Fall auch von einer ungeplanten Folge der KVP-Modera-
toren-Tätigkeit sprechen. Der KVP eröffnet neue "Arbeitswege" (MOD02/111)
und ist ein "Meilenstein" (MOD02/26) der beruflichen Laufbahn {"Moderatoren-
6.2 Die KVP-Moderatoren 215

schiene", MOD02/30) sowie eine Chance, aus der eigenen Schiene auszubrechen.
M2 spricht über den KVP als seine Möglichkeit des Lernens und neue Bereiche
und Menschen kennenzulernen. Für ihn handelt es sich um einen Schritt auf
dem Weg zu etwas Neuem. Der Verbesserungsprozess als solcher steht nicht im
Vordergrund seiner Aussagen:

"Man sollte über die Moderatorenschiene erst mal große


wie, wie ich's im Vorfeld auch schon beschrieben hatte,
größere Einblicke in die Produktion, in die Gesamtabläufe
bekommen. Man sollte auch einen größeren Bekanntheits-
grad erlangen im Werk. Mehr Menschen kennenlernen, die
Funktionen der einzelnen Menschen kennenlernen und äh (.)
ja insgesamt also, wie es so schön im Management genannt
wird, den Hubschrauberblick an dieser Stelle auch trai-
nieren." (MOD02/30)
"Ja, ich brauch' diese Dinge. Ich habe (.) einen sehr
engen begrenzten Bereich innerhalb der [Abteilungsname]
als Aufgabengebiet vorher gehabt und der hat sich grade
nach diesem KVP-Prozess für mich sehr weit, sehr groß
erweitert. [_1 und äh so haben sich für mich äh ganz
neue äh ganz neue Arbeitswege und, und Möglichkeiten äh
'grade aus diesen, aus dieser KVP-Moderation dann erge-
ben." (MOD02/111)

Die Entscheidung gegen eine hierarchische Laufbahn muss gut begründet sein und
im Sinne der Unternehmenskultur des Fallbetriebs erfolgen (z. B. sich ein soziales
Netzwerk im Unternehmen aufbauen, eigene Softskills erweitern):

"Nach vorhergehenden Projekten hatte man mir gesagt, äh es


wäre 'ne gute Idee, wenn ich mich zum Unterabteilungsleiter
weiter entwickeln würde und die Idee mit Personalverant-
wortung weiterzuarbeiten, die war interessant, aber die
wollte ich auch nicht unbedingt einschlagen. Als Alterna-
tive sah ich für mich im weiteren Lebenslauf äh das sich
hin entwickeln in Richtung Fachreferent. Und äh (.) gerade
aus diesem Gespräch ist eben auch (.) der KVP-Prozess für
mich eben vorgeschlagen worden, dass das für die weitere
Entwicklung 'n großer Meilenstein (.) und, und positiver
E~ekt sein würde. u (MOD02/26)

Der KVP-Exkurs bedeutet, eine sofortige Befriedigung zurückzustellen und auf die
Belohnung »Fachreferent" zu warten. Bis dahin muss eine Moderatorentätigkeit
qualitativ gut erledigt werden. M2 stellt seine Bedürfnisse zurück (Affektkontrolle)
in der Hoffnung, dass etwas von ihm Erwünschtes folgt (HandiungskeUen). Der
216 6 Empirische Ergebnisse

Ausgang dieses Abstechers, beschrieben als .positiver Effekt" (ebd.), bleibt aber
eher vage.

Den KVP als Personalentwicklungsmaßnahme nutzen


Der Fallbetrieb nutzt den KVP mittlerweile als Personaientwickiungsmaßnahme
(nicht intendierte Nebenfoige), indem angehende Führungskräfte vor Beginn der
nächsten Karrierestufe ein Jahr moderieren sollen. Das Unternehmen verschafft
sich mit diesem Exkurs auch einen zeitlichen Aufschub. Zeit, die es nutzen kann,
den Anwärter genauer auf seine Fähigkeiten zu überprüfen und um geeignete
Positionen zu ermitteln. Die "harte Schule" der KVP-Moderation, die Steigerung
des Bekanntheitsgrads (Verdichtung des Gewebes) sowie der Einblick in das die
Organisation beherrschende Vorstandsthema macht die Moderation als Meilenstein
auf dem Weg zum nächsten Karriereschritt so attraktiv.
Der KVP bietet einen weiteren nicht intendierten Vorteil. Seinen größten Nutzen
zieht er hauptsächlich aus seiner quer und teilweise parallel zur Linienorganisation
verlaufenden Struktur (vgl. Weltz 2011). Der KVP im Fallbetrieb berücksichtigt
nicht bestehende Hierarchien und Positionen. Er kann eine Auszeit (mit schwä-
cher ausgebildeten Zwängen) für die Moderatoren im Rahmen ihrer beruflichen
Laufbahn zur Folge haben.

Persönliche Weiterentwicklung
M2 beurteilt die Moderatorenaufgabe rückblickend als persönlichen .Lernprozess"
und .Lerneffekt". Er reflektiert indirekt die Frage: Warum mache ich diese Mode-
ratorentätigkeit? War das .sinnvoll", hat die Tätigkeit ihn .nach vorn" gebracht?
M2's Antwort fallt positiv aus:

wUnd äh, das ist eben auch dieser gesamte Lernprozess, den
ich für mich, für die weitere Laufbahn äh bei [Fallbetrieb]
insgesamt auch für, für sehr sinnvoll hielt und das äh hat,
war In großer Lerneffekt für mich und hat mich wirklich äh
insgesamt nach vorne gebracht.- (MOD02/73)

Die Untemehmenskultur unterstützt vor allem das Motiv des ,sich weiterentwi-
ckeln' und ,nicht stehen bleiben' und so handelt M2 im Sinne des Unternehmens,
indem er immer .nach vorne" strebt (MOD02/26).
Das Grundmotivvon M2 ist Freiheit (Autonomie), Individualität und Überle-
genheit in Abgrenzung zur üblichen Struktur und zu den anderen Moderatoren.
M2 ist der Individualist, der sich seine Autonomie und Spielräume geschickt
unter Zuhilfenahme der Strukturen erarbeitet. Er wandelt auf dem schmalen Grat
zwischen vorgegebenen organisationalen Regeln und Normen und ihrer kreativen
6.2 Die KVP-Moderatoren 217

Übersetzung in praktisches Handeln. M2 ist rückblickend zufrieden mit seiner


Arbeit als Moderator. Er nutzte und erweiterte den vorhandenen Spielraum und
bewegte sich darin mit großer Souveränität (Subjektivierung). Er scheint mit dieser
Bewältigungsstrategie allen anderen Moderatoren voraus zu sein.

6.2.1.3 Moderator 3: Der nAntreiber u


M3 war Meister im Karosseriebau und begann im April 2009 die Tätigkeit als
KVP-Moderator, die er wie MI dauerhaft anstrebt. Zum Zeitpunkt des Interviews
ist er 45 Jahre alt, hat das Fachabitur und ein nicht beendetes Studium.
Für M3 ergeben sich die Vorteile dieser Position unter anderem aus der Tatsa-
che, dass er mit .vielen Menschen zusammenkommt" (MOD3/53). Als Moderator
ist es möglich, die Abteilungs- und Funktionsgrenzen zu durchbrechen und die
Struktur zu öffnen. Das Gewebe von M3 wird dabei dichter, neue soziale Kontakte
entstehen und Valenzen werden gesättigt. Neue Figurationen ergeben sich und
bestehende Figurationen werden aufgebrochen. Neue Menschen bedeuten, neue
Geschichten und neue Informationen (Spielraumerweiterung). In Abgrenzung
zu anderen Menschen bedeutet es, neue Infos zu bekommen, "die andere nicht
haben" (MOD3/53). In einer längeren Passage nennt M3 die Vorteile, die er der
Moderatorentätigkeit zuschreibt:

wVorteil ist NATÜRLICH, dass DU mit unheimlich VIELEN Men-


schen zusammen kommst, ne? Du BRICHST natürlich AUF mit
dem (.) mit dieser EINEN STRUKTUR, ne? Du hast sonst immer
die GLEICHEN Leute um dich, mit den GLEICHEN Geschichten
und jetzt erlebst du PLÖTZLICH GANZ NEUE Geschichten. LEU-
TE, die Probleme mit ihren KINDERN haben, LEUTE, die was
über die WIRTSCHAFT wissen, LEUTE die INFORMATIONEN aus
der Fabrik haben, die andere NICHT haben. Du erlebst also
STÄNDIG neue LEUTE in dem Prozess, ne? (.) Und dadurch bist
natürlich auch PERSÖNLICH bei viel MEHR Menschen bekannt,
ne? Also, das merkst du allein schon, wenn du mal so 'n
workshop präsentierst, ne? Alleine in der [Name Präsentati-
onsraum], DEN gesehen, DEN gesehen. Dann hast du LEUTE in
den MONTAGEN kennengelernt. Und der zweite GROSSE Vorteil
in dem Prozess ist (.) wenn du ÜBER die Bereiche hinaus
moderierst, lernst du die Fabrik RICHTIG GUT KENNEN. Weil
du gehst ja als MODERATOR MIT in den Prozess hinein und
auf einmal verstehst du, wie 'n MONTAGEWERKER an der LINIE
in den MONTAGEN TICKT. Du verstehst aber auch warum DER
im LACK 'ne WELLE macht über (.) über 'n drei Jl-meter MIL-
LIMETER (.) PARTIKEL. Wo du sagst, im Karosseriebau sagst:
BAB~ ich ÜBERHAUPT kein Verständnis für. Und ähm (.) das
218 6 Empirische Ergebnisse

ist natürlich SCHÖN ähm (.) wenn du über ALLE BEREICHE


rüber gehst t ne?U (MODOl/53)

Neue persönliche Beziehungen führen zu gesättigten Valenzen. M3 lernt die


Produktionsmitarbeiter kennen und erfährt. wie sie .ticken" (ebd.• Verständnis).
Das versetzt ihn in die Lage. Mitgefühl und Verständnis aufzubringen. Er lernt
die Fabrik kennen. gewinnt neue Erkenntnisse und .versteht" (ebd.) plötzlich. M3
lernt auch die Zwänge der anderen kennen mit der Folge. dass seine Gedanken
und sein Wissen nicht mehr begrenzt sind. Der Gewinn des Deuen Wissens ist
auch der Gewinn neuer Machtressourcen. Der Moderator agiert »ent-grenzt" und
eignet sich .Verständnis" (ebd.) an.

Die .DienstleisterrolleM107 als Bewältigungsstrategie und


die scheinbare Auflösung der Machtverhiltnisse
Das Motiv der Dienstleistung ist spezifisch für M3. Indem er den Fokus auf
den Dienstleistungscharakter der Moderatorenaufgabe legt. bewältigt er diese
konfliktbeladene Aufgabe. Das Angebot einer Dienstleistung erfolgt sachlich.
unverbindlich und ist befreit von emotionaler Eingebundenheit. Im Rahmen seiner
Bewältigungsstrategie bedient M3 sich einer Marktrhetorik, die suggeriert. dass
Teilhabechancen in Form der Sozialtechnik KVP am internen Markt angeboten
würden. Wenn die Produktionsmitarbeiter den Dienst nicht wollen, ist es die ei-
gene Schuld. Das Dienstleistungsangebot liegt wie ein .Federhandschuh" auf dem
Boden. sodass der PMA nur zugreifen müsste. Da es sich jedoch nicht wirklich um
ein Dienstleistungsangebot handelt. sondern um den Eintritt in Verhandlungen
über Arbeitsbedingungen (wie bereits an anderen Stellen verdeutlicht). geraten die
Beschäftigten unter Druck und unterliegen dem Zwang auf das .Angebot' einzu-
gehen. Die Machtverhältnisse werden im Dienstleistungskonzept anfgelöst bzw.
verkehrt. Der PMA hat zwar keinen Bedarf an dieser Art von Dienstleistung und
kann auch nicht zwischen verschiedenen Dienstleistungen wählen, ist aber trotz-
dem gezwungen. das Angebot der Moderatoren anzunehmen. Indirekt appelliert
M3 mit diesem Konzept an die Selbstverantwortung der PMA. den Prozess zu
verbessern und damit den Standort zu retten. Mit der scheinbaren Auflösung der
ungleichen Machtbeziehungen will er die Workshop-Teilnehmer zur Mitarbeit
animieren. Im folgenden Zitat beschreibt M3 sein Dienstleistungskonzept:

wAlso, wenn ich jetzt sage, erst mal, denk' ich mal, ist
das ne"ne (.) STABSTELLE auf jeden Fall. Also, gehört NICBT
in den Kernbereich hinein. Also, der KERN der Fabrik, ist

107 MOD03/43.
6.2 Die KVP-Moderatoren 219

die FERTIGUNG als solches. Und ICH würd' MICH da auch als
DIENSTLEISTER einordnen. Ich würd sagen: Hört ZU LEUTE.
Wir sind hier das [KVP, H.F.] Büro. WIR können euch 'ne
Dienstleistung anbieten, WIR können über eure PROZESSE rü-
ber gucken. Im Rahmen des [Name Organisationsentwicklungs-
maßnahme ] und äh (.) WIR können METHODISCH n paar Dinge
zugrunde legen und sagen: Holt uns die RiCHTIGEN Leute an
den Tisch und wir setzen uns mit denen zusammen und lösen
'n paar Probleme. Und ich würd' dann auch IMMER wieder in
dieser FUNKTION wieder kommen. Also, ich würde sagen, das
ist die KLASSISCHE DIENSTLEISTERROLLE in so 'nem Unter-
nehmen. Wo man einfach sagt: ICH komm' WIEDER und wenn's
beim ERSTEN mal NICBT geklappt hat, dann muss ich halt
auch so offen sein und sagen: Okay, das war noch nicht so
ganz rund, ich komm~ noch mal wieder, ne? Muss man noch
mal wieder kommen und ähm (.) ich denke, da würd' ich den
KVP l-.] auch positionieren. Also, als REINE STABSTELLEN-
funktion." (MOD03/43).

Das KVP-Büro bietet den Beschäftigten eine Dienstleistung an, ohne dass eine
explizite Nachfrage der Beschäftigten vorliegt. Es handelt sich um ein Angebot
mit indirektem Annahmezwang. M3 formuliert seine Dienstleistung nicht als
einmaliges, sondern als kontinuierliches Angebot, falls die Dienstleistung einmal
nicht .geklappt" (ebd.) hat. Da die PMA allerdings diese Nachfrage nicht formuliert
hatten, bekommt das Angebot .noch mal wieder zu kommen" (ebd.) eher einen
Drohcharakter, wie das folgende Zitat belegt:

"Also, ich würde sagen, das ist die KLASSISCHE DIENSTLEIS-


TERROLLE in so 'nem Unternehmen. Wo man einfach sagt: ICH
komm~ WIEDER und wenn's beim ERSTEN Mal NICHT geklappt hat,
dann muss ich halt auch so offen sein und sagen: Okay, das
war noch nicht so ganz rund, ich komm'" noch mal wieder, ne?
Muss man noch mal wieder kommen." (MOD03/43)

Die von M3 angesprochene Verortung des KVP im Unternehmen als .Stabsstelle"


entlarvt den von ihm dargestellten von Machtbeziehungen befreiten Dienstleis-
tungscharakter als Maskerade. Stabsstellen sind Machtstellen, die bei ihrer Arbeit
keine Partizipation von Beschäftigten unterstellen oder demokratisch orientiert sind.
Sie sind ein Merkmal für eine ausgeprägt hierarchisch gegliederte Organisation,
die zentral entscheidet und Anordnungen nach dem Top-down-Prinzip weitergibt.
220 6 Empirische Ergebnisse

Das AlleinsteIlungsmerkmale In Abgrenzung zu den anderen


KVP-Moderatoren
M3 wird klar, dass es sich um seine persönliche Art handelt, so forsch und treibend
aufzutreten:

,..ES kann natürlich sein, dass es Moderatoren gibt, die


das ANDERS machen. Kann ich jetzt NICHT sagen, aber ich
hab' das eigentlich IMMER SO, dass ich recht ZIELführend
unterwegs bin." (MOD03/33)

M3 reflektiert die .zielführende" Art und Weise seiner Moderation und ist sich
dem besonderen Merkmal bewusst, auch wenn er sagt, dass er nicht weiß, ob die
anderen Moderatoren es auf eine andere Weise machen.

Der .gute Ruf· in einem dichten Gewebe


M3 befürchtet, .verbrannte Erde" zu hinterlassen und diese Auswirkungen zu
spüren, wenn er eines Tages wieder als Meister in seinem Bereich arbeitet. Diese
Befürchtung beschreibt M3 als Re-Inszenierung eines real slatlgefundenen Dialogs
mit einem Meisterk.ollegen:

"Ja, BEFÜRCHTUNGEN ist natürlich BO das, das Thema VER-


BRANNTE Erde, ne? Du gehst natürlich durch und bist dann
irgendwie. Ich hab' das vor 'n paar Wochen, als ich (.) am
1.3. habe ich hier rüber gewechselt und dann war das bei uns
im BEREICH ja auch GESPRÄCH. Und dann treff ich den ERSTEN
MEISTERKOLLEGEN und ähm (.) auf einmal warst du RAUS aus
dieser SCHIENE und sagt: Hey, du wechselst ins [KVP-Büro,
M.F.]? Aber ähm (.) aber RATIONALISIER hier nicht alle Köp-
fe WEG. Und da hab' ich gedacht so (.) DA GIBTS einfach 'n
PROBLEM beim VERSTÄNDNIS des GANZEN, ne? Also, die Leute
in der Fertigung empfinden das einfach als LÄSTIG, dass es
so was gibt. Sie WISSEN, dass das unterschrieben ist von
BEIDEN Seiten. Das Problem ist halt nur (.) Du hast natürlich
'n STANDING jetzt in dem Bereich, ne? Also mich kennt im
[Bereichsname] JEDER. Und es darf einfach (.) die BEFÜRCH-
TUNG ist einfach, dass du in drei Jahren wieder kommst und
sagst hier: Ne, damals hat du Köpfe WEG RATIONALISIERT und
jetzt willst dich hier wieder hinsetzenJ Das geht einfach
NICHT, ne? (.) Und DAS ist einfach meine Befürchtung. Also
es muss SCHON so laufen, dass man am Ende IMMER AUFRECHTEN
HAUPTES DA wieder durchlaufen kann. Und das ist mir auch
WICHTIG an der STELLE." (MOD03/47)
6.2 Die KVP-Moderatoren 221

Seine Befürchtungen liegen in der Zukunft (Langsicht). Da M3 interdependent ist,


ist es ihm wichtig, seinen guten Ruf und sein .Standing" (ebd.), das er sich erarbei-
tet hat, nicht zu verlieren. Der schlechte Ruf des Moderators als .Köpfe-Rasierer"
konterkariert diese Bemühungen allerdings. M3 überlegt, wie sich die im Grunde
widersprüchliche Situation lösen lässt. Zum einen ist er mitverantwortlich für die
Reduzierung der Teams durch den KVP, zum anderen möchte er weiter .aufrechten
Hauptes" (ebd.) durch seinen Bereich gehen können. Wie soll das gehenl Entweder
M3 ignoriert diese Aussageo oder das "Verständnis" (ebd.) der Beschäftigten in der
Produktion ändert sich und die Rationalisierung wird als gemeinsame Anstrengung
anerkannt oder aber eine Auflösung dieses Dilemmas bleibt unerreicht und M3
muss diesen Zwiespalt und negative Sanktioneo allein bewältigen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ein Vorteil dieser Tätigkeit besteht für
M3 darin, dass ein Moderator viele Menschen kennen lernen und sein Netzwerk
ausbauen kann (Gewebe verdichten). Das Kennenlernen der Bereiche erweist sich
dann als zweiter Vorteil und führt zu einem .Verständnis" für andere und ihre
Zwänge (sich ent-grenzen). Getrübt werden die positiven Seiten der Moderato-
rentätigkeit durch die Befürchtung sein .Standing", seinen guten Ruf; zu verlieren
und zukünftig als .Rationalisierer" zu gelten.

6.2.1.4 Moderator 4: Der Agent des Unternehmens


M4 ist zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt. Er hat eine abgeschlossene Aus-
bildung und die Meisterschule erfolgreich absolviert. Er ist sechs Monate zuvor
kurzfristig in das KVP-Büro versetzt worden (eine Woche übergangszeit). Sein
Vorgesetzter hat ihm die Aufgabe als KVP-Moderator als gute Vorbereitung für
das Meister-Assessment empfohlen.
In deo Ausführungen von M4 ist besonders seine ausgeprägte Bewegungs- und
Dynamik-Metaphorik zu erkennen, die anschaulich seinen gesamten Habitus
beschreibt. Die von ihm verwandte Insel-Metapher dient den PMA gegenüber als
Drohgebärde, um auf eine gefährliche Umwelt (steigeoder Meeresspiegel) auf-
merksam zu machen, die den Fallbetrieb beeinflusst. Er erweist sich anband seiner
Ausführungen als Abgesandter und Agent der Arbeitgeberfiguration und macht
aus diesem Zugehörigkeitsmerkmal auch kein Geheimnis. M4 ist der ungemütliche
Typ, der aneckt, weil er eine abweichende Meinung artikuliert.
222 6 Empirische Ergebnisse

Alleln.tellung.merkmale In Abgrenzung zu den anderen


KVP-Moderatoren
M4 grenzt sich nicht wie die anderen zu den innerbetrieblichen KVP-Moderato-
ren ab, sondern zu den externen Moderatoren einer BeraterfirmalOlI • Nachdem er
seine .Schlüsse" (MOD04/33) daraus gewgen hat, entwickelt er io Abgrenzung zu
ihnen einen eigenen Moderatorenstil. M4 ist mit der Umsetzung seiner gezogenen
Schlüsse zufrieden, wie er mit der folgenden Aussage verdeutlicht:

"Dass ieh's nicht SO gemacht hab' wie SIE es gemacht haben.


Ja sie waren (.) die waren zu, ZU EXTERN. Ja (.) die sind
nicht auf die BELANGE der Mitarbeiter reingegangen. Die sind
da reingegangen haben gesagt: WIR sehen da DAS und das und
DAS und sind in einigen workshops gleich mit der Tür ins
Baus gefallen. Und haben NUR IHRE SICBTWEISE gehabt, ne?
Ich hab' das bei drei [Moderatoren der Beraterfirma, H.F.]
gesehen, WIE sie's gemacht haben. Hab' meine Schlüsse da
raus gezogen und mein' das eigentlich ganz gut gemacht zu
haben. Also, wir haben IMMER irgendwie ein Ergebnis dabei
rausgebracht, wo ALLE Seiten mit leben konnten. Wo auch
VIEL Geld mit eingespart worden ist, bei einem der letzten
Workshops, den wir gemacht hatten, da hatten wir HUNDERT-
TAUSEND EURO eingespart und hatten dann 'ne Fertigungszeit
von 0,4 gebracht und ALLE BETEILIGTEN konnten damit leben,
sagen: Das ist KVP. Ja, und das war ganz gut. M (MOD04/33)

In Abgrenzung zu den Moderatoren der Beraterfirma, hat M4 immer »irgend-


wieK-Ergebnisse erzielt (im Sinne einer Auftragserfüllung: .das ist KVP" (ebd.);
auch in MODOl/119 »dass das Ergebnis nachher vernünftig aussieht"; MODOl/149
"Kosmetik") und vorweisen können.
Sie sind eio Indiz für die Anforderung des unbedingten Erreichens eines Er-
gebnisses, das visualisiert und akzeptiert werden kann ("wo alle Seiten mit leben
konnten"). Die Betonung der "irgendwie"-Ergebnisse lässt darauf schließen, dass
die Externen keinerlei Ergebnisse vorweisen konnten und sie die komplizierten

108 Diese Berater wurden vom Fallbetrieb eingesetzt, als sich die erhoffte Produktivität
nicht einstellte. Sie sollten die ungeplante Verhandlungssituation, die sich in den KVP-
Workshops zwischen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite einstellte, auflösen. Zudem
sollten sie den internen Moderatoren als Vorbild dienen und praktisch vorführen, wie
sich die Workshops adäquat ohne menschliche Verstrickungen und ergebnisorientiert
durchführen lassen. An dieser Stelle kann bereits erwähnt werden, dass auch die exter-
nen Moderatoren nicht in der Lage waren, betriebliche Machtbeziehungen aufzulösen.
Nach ein paar Monaten wurden die externen Moderatoren wieder abgewgen, als klar
wurde, dass auch ihre Vorgehensweise nicht den gewünschten Erfolg lieferte.
6.2 Die KVP-Moderatoren 223

Verflechtungen und Machtspiele im Workshop ignorierten, sodass sie scheiterten.


• Alle Beteiligten" (MOD04/33) (beide Seiten) sind nach Meinung von M4 zufrie-
dengesteIlt worden, indem das Verhandlungsergebnis einen Kompromiss bildete.
Der gesamte Prozess bleibt allerdings auf dem Niveau der - wie MI es ausdrückt
- .Kosmetik" und verschleiert damit die verfehlte Partizipation der Beschäftigten,
die ausgebremsten Verbesserungsprozesse und damit den Erhalt des Status quo
des Machtgleichgewichts (Belauern) in der Organisation. Damit wäre ein weiteres
Beispiel für den Weg in die Beharrungstendenz (Vier-Felder-Matrix) beschrieben.

Der .gute Ruf· in einem dichten Gewebe


M4 wurde erst in der praktischen Ausführung seiner neuen Tätigkeit als KVP-Mo-
derator bewusst, dass das Gewebe dichter und das eigene Handeln von mehr
Menschen abhängig ist und damit beurteilt wird. Die folgende Aussage beschreibt
seine Erfahrungen mit dem speziellen Beziehungsgeflecht KVP-Workshop als
.Haibecken" (MOD04/68):

"WELCHE Aufgabe da auf mich zukommt, WIE KOMPLIZIERT DAS


ist, mit wie viel Leuten man sich da AUSEINANDER SETZEN
muss. Mit wie viel Leuten man REDEN muss und wie viel Leute
man ABholen muss, ja? DAS hatte ich dann ERST mitgekriegt,
als ich da schon MITTENDRIN saß.u (MOD04/17)

M4 beschreibt die Zufriedenstellung aller Workshopteilnehmer als seine Verant-


wortung, indem .beide Seiten mit dem Ergebnis leben können" (MOD041102).
Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hat (.wenn wir freitags auseinander laufen",
ebd.), möchte M4 noch jedem .in die Augen gucken" (ebd.) können: jeden fair
behandelt haben, im Dialog alle Tatsachen abgefragt ("müssen wir da noch mal
drüber reden?"), ein Kompromissergebnis erzielt haben (.mit dem Ergebnis leben
können") und dabei niemanden überrumpelt haben (.überfordert"). Da es sich um
eine sehrvernetzte Organisation mit einem dichten Gewebe der Aktionsketten
handelt, sieht man sich aus diesem Grund vielleicht wieder. Der gute Ruf kann
also eine Investition in zukünftige Begegnungen sein und eine aktive Gestsltung
des eigenen Handlungsspielraums (Langfrist):

"Ich hatte versucht, die Verantwortung zu finden, dass WENN


wir FREITAGS AUSEINANDER laufen, ja? NACH dem Workshop,
dass wir uns DANACH IMMER noch in die Augen gucken können.
Dass man sagt, dass wenn wir auseinander laufen, dass BEI-
DE Seiten mit dem Ergebnis leben können. Das war mir auch
SEHR, SEHR wichtig (.) und wenn IRGENDWELCHE Mitarbeiter
mal sagten: wir MÖCHTEN das tatsächlich NICHT rein' haben.
224 6 Empirische Ergebnisse

Dann muss man sich EINFACH SO mitein-ander verständigen und


sagen: Okay, ist das SO oder ist das NICHT so oder müssen
wir da noch mal drüber reden? Nicht, dass es dann heißt
so (.) DIE wollen nur IRGENDWELCHE ZAHLEN, DATEN, FAKTEN
rauBbringen und KOSTEN rausbringen. Man sollte da EHRLICH
miteinander umgehen und auch keinen UEBERFORDERN, aber auch
nicht UNTERPORDERN, ja? DAS war mir wichtiq.u (MOD04/102)

Aufschub der Bedürfnisbefriedigung mithilfe von Langsicht (Vertrauen)


M4 hat die spontane Bedürfnisbefriedigung aufgeschoben und den Abstecher
»KVP-Moderation" gemeistert. Für ihn war es insgesamt ein beschwerlicher Weg.
aber er hat Langsicht bezüglich einer beruflichen Laufbahn gezeigt, wie seine
folgenden Ausführungen zeigen:

wJAHRELANG darauf hingearbeitet, DAS hinzukriegen. Jetzt


haben wir's GESCHAFFT (.) aber ich sag' mal, NICBT ein-
fach." (HOD04/S1)

Der KVP ist für M4 ein Exkurs zur Meistertätigkeit. Für ihn ist es neu, sich in
interdependenten Beziehungen zu befinden und diese aktiv zu gestalten. Es ist
für ihn eine neue Situation, eine Meinung zu vertreten und sie mit Argumenten
zu füllen. Er konnte sich als Moderator persönlich weiterentwickeln, denn die
Moderation galt als .übung" für das Meister-Assessment:

"Ja (.) so (.) was vielleicht für mich NORMAL ist, ist
vielleicht für ANDERE NICBT normal. Ja und (.) DA muss ich
sagen auch in der MEK [Meisterentwicklunqsklausur, HoF.]
ja (.) da sind auch ANDERE Leute, die ne' Meinung zu was
haben und müssen mit ARGUMENTEN überzeugen. Ja (.) da muss
ich sagen: Das ist so und so und SO und muss sagen, das
ist SO, weil ich seh' das so und so und SO. Kannst du da
mitgehen? Kannst du da nicht mitgehen? Und das war auch
eigentlich 'ne gute Übung für MICH. U (MOD02/19)

Für M4 haben sich mit der Arbeit als KVP-Moderator neue Perspektiven ergeben,
die er berücksichtigen muss. Zum einen sind ..Argumente" hinzugekommen und
zum anderen die Frage nach sozialen Beziehungen (..Kannst du da mitgehen?
Kannst du da nicht mitgehen?"). Beides ist mit eingeschränkten Entscheidungs·
spielräumen durch Kompromisse verbunden (Zwang von anderen interdependenten
Menschen dieser Figuration), aber auch mit einem Gewinn an sozialer Identität
und die Eröffnung weiterer Spielräume.
6.2 Die KVP-Moderatoren 225

Anhand der exemplarischen Ausführungen von M4 lässt sich zusammenfas-


send feststellen, dass ein harmonischer (de-eskalierter) und ergebnisausweisender
Workshop (Zufriedenheit und Effizienz), die Hauptziele eines Moderators darstellen.

6.2.1.5 Zusammenfassung: M1-M4


In der Gesamtsicht der Fallanalysen zeigen sich die gleichen Motive bei fast allen
befragten Moderatoren, die sich allein in der individuellen Gestaltung unterschei-
den. Das von ihnen beschriebene Alleinstellungsmerkmal beschreibt in Abgrenzung
zu den anderen Moderatoren individuelle Bewältigungsstrategien für die beson-
dere Herausforderung der neuen Tätigkeit. Die individuellen Varianten reichen
vom besonderen technischen Know-how über das Dienstleistungskonzept bis zur
Herstellung der .irgendwie"-Ergebnisse und sind ein Kennzeichen für neue und
unbestimmte Anforderungen an die Beschäftigten (hier: die Moderatoren), die sie
selbstorganisiert gestalten müssen. Sie experimentieren mit beweglichen Struk-
turen und variablen institutionellen Vorgaben. M2, M3 und M4 befürchten, trotz
erfolgreicher Bewältigung neuer Anforderungen, ihrem .guten Ruf" zu schaden.
Ihnen wird vor allem klar, dass die Erweiterung und Verdichtung ihres sozialen
Netzwerks nicht nur Vorteile bringt, sondern auch neue Herausforderungen. Sie
bemühen sich, .keine Scherben zu hinterlassen" (M2) oder .verbrannte Erde" (M3),
um sich danach noch .in die Augen gucken zu können" (M4). Wie sich zudem
gezeigt hat, sind die Wege, KVP-Moderator zu werden, genauso unterschiedlich
wie ihr Resultat. Da gibt es die beiden Meister, die aus Gründen der Abwechslung
etwas anderes machen wollten und sich sogar um eine dauerhafte Beschäftigung
im KVP-Büro bemühen, dann gibt es den Ingenieur, der die hierarchische gegen
die fachliche Laufbahn tauschen möchte und den KVP als.Weiche" aus der vor-
bestimmen .Schiene" nutzt und zuletzt den Meisteranwärter, der das halbe Jahr
Moderation als Vorbereitung für die Wiederholung des Assessmentcenter nutzt.
Die individuellen und kreativen Strategien für die Bewältigung einer ambi-
valenten Aufgabe und der Aufschub der Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer
unsicheren in der Zukunft liegenden Anerkennung, sind - gerade im Hinblick
auf fehlende Fremdzwänge - ein Zeichen für verstärkte Selbstregulierung im
Arbeitshandeln.
226 6 Empirische Ergebnisse

6.2.2 Die Neutralität des KVP-Moderators

Das Motiv der Neutralitätsleistung in den Einzelinterviews und der Gruppendis-


kussion ist zentral. Zum Aspekt der Neutralität eines KVP-Moderators äußern
sich die innerbetrieblichen Schulungsunterlagen sowie die Management-Literatur
zum KVP. Witt und Witt machen zu den idealerweise vorhandenen persönlichen
Kompetenzen und Verhaltensmerkmalen eines KVP-Moderators folgende Aus-
führungen:

..Auch derjenige kann also eine Gruppensitzung moderieren. der vom zu behandelnden
Thema wenigversteht, sofern er nur Kommunikationsprozesse richtig lenken kann.
Fachliches Detailwissen beim Moderator kann sogar insofern gef;ihrlich sein. als er
dadurch in die Versuchung gerät, nicht mehr zu moderieren, sondern mitzudiskutieren
und vielleicht sogar Partei zu ergreifen. In dieselbe Situation gerät auch sehr leicht
ein Moderator. den das Thema sehr stark interessiert. In beiden Fällen verliert der
Moderator die Distanz zum Geschehen. Er wird zu einem Diskussionsteilnehmer.
vielleicht sogar zu einem Störfaktor für den konfliktfreien Ablauf der Diskussion.
Nur sehr erfahrene Moderatoren vennögen im Rahmen der Moderation gelegentlich
auch die Rolle eines Diskussionsteilnehmer einzunehmen." (Witt/Witt 2008: 76)

Alle KVP-Moderatoren des Fallbetriebs werden innerbetrieblich rekrutiert. Sie


zeichnen sich durch unterschiedliche Bildungsgrade. betriebliche Funktionen
und Karriereverläufe bzw. berufliche Laufbahnen aus. Übereinstimmend ver-
weisen alle befragten Moderatoren auf die Neutralität ihrer Rolle im Rahmen der
KVP-Workshops und beschreiben damit analog ihre Strategie zur Bewältigung der
neuen Aufgabe in Abgrenzung zur üblicherweise auszuführenden betrieblichen
Tätigkeit. Der Neutralitätsgedanke ist für sie eine grundlegende Voraussetzung. mit
der sie die neue Anforderung bewältigen können. Dieser Anspruch wird vor allem
von der Arbeitnehmerfiguration formuliert. die eine unabhängige. autonome und
parteilose Moderation fordert. Die Machtasymmetrie im Betrieb ist charakterisiert
durch ein starkes Gef!ille zugunsten der Arbeitgeberseite. Die Moderation durch
einen arbeitgeberaffinen Moderator würde die Stellung der machtschwächeren
Figuration der Arbeitnehmer möglicherweise negativ beeinflussen und eine Kul-
tur des Misstrauens schaffen. Der KVP-Workshop erweist sich schnell als eine
Verhandlungssituation und weniger als gleichberechtigte Zusammenarbeit und so
wird der Moderator eher zum Verhandlungsführer beider Figurationen und muss
das Spannungsverhältnis zwischen ihnen bewältigen. Seine Unabhängigkeit (Au-
tonomie) wäre die Grundvoraussetzung für diese Herausforderung. Die Rolle des
Moderators schwankt zwischen Verhandlungsvorsitz. Moderation und Vermittlung
(.Unterhändler". Mastenbroek 1992: 149) und vermischt sich zu etwas. das eher zur
6.2 Die KVP-Moderatoren 227

Verunsicherung beiträgt, als unterstützend wirkt. Die folgenden Ausführungen


zeigen, dass das Neutralitätskonzept nur eine Illusion und Fassade ist.
Das ausgeprägte Motiv der Neutralitätsieistung in den Gruppendiskussionen
sowie in den Einzelinterviews wird von allen Moderatoren in Form einer individu-
ellen Bewältigungsstrategie benannt. Ein innerbetrieblich rekrutierter Moderator
ist Mitglied verschiedener Figurationen. Die wechselseitig interdependenten Be-
ziehungen mit anderen sollen in der Zeit als Moderator allerdings pausieren und
in einen Stand-by-Modus gebracht werden. Die folgenden Ausführungen zeigen
diese Versuche zur Neutralitätsherstellung und ihre Bewältigungsstrategien.

6.2.2.1 Die KVP-Moderatoren für den direkten Bereich


(Produktion)
Alle Moderatoren bewältigen die Anforderungen an die neue Position auf eine
je individuelle Weise. Die Anfangsphase wird mit dem Motiv einer anf!inglichen
Ungeduld ("treiben") und einer anschließend einsetzenden Entspannung be-
schrieben, den Prozess sich selbst zu überlassen (Entschleunigung: MODOl/25,
MODIBB/Ill+113). Zudem müssen sie die Verdrängung des eigenen Ichs, ein
ambivalentes Reorganisationskonzept und die Herausforderung bewältigen, der
Workshopgruppe einen überzeugenden Moderator trotz innerer Zerrissenheit zu
präsentieren. Mit den Fallanalysen sollen die je individuellen Neutralitätskonzepte
veranschaulicht werden.

Moderator 1 - Der Sonderfan


MI beginnt, die Meisterrolle abzulegen und die neue Position anzunehmen. Er
bewältigt die neue Position im Zeitverlaufbesser, indem er Abstand gewinnt und
sich von der .treibenden" Rolle entfernt. Durch mehr Abstand von der eingeübten
Rolle des Meisters und mehr Erfahrung mit der neuen Rolle des Moderators (Zeita-
spelct), wird er besser. MI reflektiert sein Verhalten zu Beginn der neuen Position
als zu ungeduldig, er bringe sich zu sehr ein, sei zu sehr am Ergebnis interessiert
und drängend. Mittlerweile beschreibt MI sich als neutral und unterstützend.
Er ist nun in der Lage, der Gruppe das Tempo zu überlassen. Professionalisierung
zeichnet sich vor allem durch Erfahrungswissen und Distanz zum Feld aus. Die
Distanz zum Feld kann ein innerbetrieblicher Moderator jedoch nie erreichen.
Seine Verwobenbeit innerhalb der Verflechtungssphäre Betrieb ist so lange unauf-
lösbar, wie er Teil der betrieblichen Figuration bleibt. Das folgende Zitat beschreibt
exemplarisch den Entwicklungsprozess von MI:

,..Ähm (.) ich denke, ja, bloß es kann natürlich passieren,


dass man da irgendwie da von abdriftet, das ist mir auch
228 6 Empirische Ergebnisse

passiert. Am Anfang vor allen Dingen, als ich sagen wir


mal: frisch als Meister hier angefangen bin, hab' ich
mich zu sehr eingebracht, selber, war zu sehr am Ergebnis
interessiert meiner Ansicht nach und hab' so 'n bissehen
immer auf die Rolle des, des Treibenden übernommen, was
der Moderator eigentlich nicht sein soll. Der Moderator
soll ja eigentlich (.) 'ne neutrale Position einnehmen und
eben nur unterstützen, dass dieser Prozess weitergeht. Und
das habe ich am Anfang festgestellt, dass ich mir das zu
sehr reingezogen habe, das Thema und äh (.) selber dann,
ja denn ungeduldig wurde oder äh, eben auch ja, darauf
gedrängt habe, dass gewisse Dinge umgesetzt werden, obwohl
das vielleicht vorn Workshopteam nicht gewollt war. Das wäre
eigentlich ja eher die Aufgabe des unternehmensvertreters.
Das habe ich so festgestellt, aber so mittlerweile denke
ich, habe ich mehr Abstand, mehr Erfahrung und äh krieg'
das besser hin. u (MOD01/25)

MI stellt zudem fest, dass es ihm leichter fallt, Gruppen zu moderieren, dessen
Teilnehmer keine Mitglieder seiner aktuellen Figurationen sind. Leute aus »vor-
herigen" (MOD01l79) Zeiten kennen, macht die Situation schwerer; sie nicht zu
kennen, macht die Situation .leichter" (ebd.). Für MI ist es schwierig, eine neue
Rolle einzunehmen, die seiner alten Rolle so gar nicht entspricht (Neutralitätsas-
pekt), wenn er auf Akteure trifft, die Teil der alten Figuration waren. MI fUhlt sich
unwohl, da er ein Anderer ist und neue Regeln und Vorgehensweisen befolgen muss:

"Ja (.) war für mich am Anfang auch neu. Man ist unsicher,
wenn man neu ist und das (.) .ähm (.) kommt immer drauf an,
wenn man die Leute kennt, aus(.) aus (.) vorherigen Zeiten
ist es etwas anderes, als wenn man die gar nicht kennt.
Wenn man die gar nicht kennt, ist es glaub' ich, leichter,
sich dahin zu stellen und ähm (.) erst mal sein Ding da
durchzuziehen. u (MOD01/79)

Fremde Akteure sind nicht Teil seiner üblichen Figuration und geben ihm als eine
Art Vorschuss womöglich mehr Handiungsspielraum'''. Diese Workshopteilneh-
mer haben keine speZifischen Erwartungen an ihn und seine Handlungen (soziale
Identität) und warten die weitere Entwicklung ab (weniger Zwang):

109 Witt und Witt sprechen in diesem Zusammenhang von einem ..Vertrauensvorschuss·
(Witt/Witt 2008: 79), den der KVP-Moderator als wichtiges .Eignungsmerkmal" (ebd.)
besitzen sollte.
6.2 Die KVP-Moderatoren 229

".Ich glaube, weil die Leute (.) mein' ich dann jedenfalls,
dass die Workshopteilnehmer, wenn die dich kennen, 'ne
andere Erwartungshaltung haben und wenn sie dich nicht
kennen, dann gucken sie erst mal: Was ist das für einer,
mal gucken, was der so erzählt. Die haben, glaub' ich,
nicht so 'ne Erwartungshaltung. M (MOD01/Sl)

In den Äußerungen von MI zeigt sich deutlich ein Distanzmotiv. Das Verhalten
in der eigenen Figuration ist sanktionierbar und hat Folgen für die sozialen
Beziehungen. MI bevorzugt eine Moderation in einer fremden Gruppe. um den
Folgen zu entgehen.

Moderator 2 - Der Individualist


KVP-Moderatoren können nicht autonom handeln, denn auch sie befinden sich in
interdependenten Beziehungen, die Zwang auf sie ausüben. M2 beschreibt diese als
Erwartungen (Zwang), die an den Moderator gestellt werden, z. B. eine Richtung
einzuhalten. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang auch die Position, die
der Moderator üblicherweise im Unternehmen hat: Aus welchen wechselseitigen
Abhängigkeiten kommt er und inwiefern könnten diese auch jetzt noch einen
Zwang auf ihn ausüben?

".Das heißt, ich habe glaubhaft auch 'rüberbringen können,


dass ich an dieser Stelle eine neutrale Position einbrin-
ge, was nicht unbedingt immer selbstverständlich ist. Je
nachdem, was auch von den Moderatoren erwartet wird und
welche Position sie haben ähm (.) ist natürlich auch die
(5) ist natürlich auch die äh (2) ist auch der Moderator
so'n bisschen, oftmals so'n bisschen äh (.) gefordert, 'ne
gewisse Richtung einzuhalten. M (MOD02/JS)

M2 befindet sich laut seiner Ausführungen nicht in dieser Zwangsbeziehung,


indem er versucht, die betrieblichen Machtverhältnisse, Interessengegensätze und
Widersprüche zu neutralisieren und sich sowie den gesamten KYP. als neutral
darstellt. Mit dieser Strategie versucht M2 dem im Grunde vorprogrammierten
Zwist der Fronten zu entgehen:

".Und um besonders äh {.} uneingeschränkt und stressfrei


mit der Gruppe arbeiten zu können, habe ich nun der Grup-
pe jeweils äh vermittelt, dass ich an dieser Stelle eine
rein neutrale Position einnehme (MOD02/3S). Dass ich also
weder mich besonders stark Management äh (.) gelenkten
Ideen von, von diesen Ideen leiten lasse, noch von Ideen
230 6 Empirische Ergebnisse

des Betriebsrats oder sonstigen Institutionen, sondern dass


ich eigentlich im Sinne des kontinuierlichen Verbesserunqs-
prozesses eine Gesamtverbesserunq suche, sowohl für die
Mitarbeiter, was Ergonomie und äh (.) Arbeitsplatzqestaltunq
und ähnliche Dinge angeht, als auch für die Abläufe. Und
ich konnte auch vermitteln, dass diese Dinge eben oftmals
einhergehen und dass wenn man insgesamt mit o~enen Augen
positive Veränderungen am Arbeitsplatz herbeiführen möchte,
dass das fast in jedem Fall auch äh (.) zum Guten aller
Mitarbeiter passiert. u (MOD02/39)

Die besondere Mission des M2, der Gruppe seine Neutralität .glaubhaft rüberzu-
bringen" (MOD02/38) (zu .vermitteln", MOD02J39) ist ein Alleinstellungsmerkmal
in Bezug auf seine Bewältigungsstrategie. Er präsentiert sich der Gruppe autonom
(befreit von jeglichem Zwang der machtvollen Figurationen im Betrieb). M2 ist frei
von Zwängen und wird weder .geleitet von" Ideen des Betriebsrats noch des Ma-
nagements. Er distanziert sich von den machtvollen Figurationen im Betrieb und
stellt diesen Umstand als sein Alleinstellungsmerkmal im Gegensatz zu den anderen
KVP-Moderatnren heraus. Seine Vorstellung ist, wenn die Gruppe merkt, dass man
mit M2 "uneingeschränkt" arbeiten kann, wird es eine "stressfreie" Workshop-Woche.
Die Sichtweise von M2 zusammengefasst: Wenn ich eine neutrale Position
einnehme, kann ich verschiedene Sichtweisen und Fronten neutral bewerten und
erziele damit ein gutes Ergebnis für alle.
• Eine Funktion in diesem Gesamtkonzept" (MOD02/75) verlieren und eine
neutrale Position außerhalb des Organigramms einnehmen (freie Spielerposition)
ist die Beschreibung für die Position des KVP-Moderators. Er ist für ein halbes Jahr
nicht Teil des Organigramms und fern von einem rollenkonformen erwarteten
Verhalten, sodass er sich entfalten kann. Die Vorstellung von der Einnahme einer
neutralen Position bleibt illusorisch. M2 möchte sich vor allem von den Fronten
lösen und zunächst alle Sichtweisen ungefiltert hören, um sie dann zu bewerten.
Doch damit bewegt er sich aus der Neutralitätszone: wer bewertet, hält sich nicht
raus und erhält einen großen Handlnngsspielraum:

wDen KVP-Moderator, den würde ich ja am liebsten, wie im


Vorfeld ja so oft beschrieben, parallel zu dem Organigramm
positionieren. Äh (.) da im Organigramm des, des äh Unter-
nehmens ja jeder seine, seine Position und seine Funktion
hat und diese Funktion soll ja der Moderator Bo'n bissehen
verlieren, eine Funktion in diesem Gesamtkonzept, sondern
äh er soll ja eine, eine neutrale Position an die, in
diesem Prozess einnehmen und die Dinge der verschiedenen
Sichtweisen und Fronten, die sich teilweise auch auftun,
6.2 Die KVP-Moderatoren 231

bewerten können, neutral bewerten können und äh und um


ein möglichst gutes Ergebnis für alle Beteiligten heraus-
zuholen." (MOD02/75)

M2 möchte mit seiner Sichtweise von einer Logik, die für ihn bereits im System
steckt, die Workshop-Situation von ideologischer Haltung und Machtbeziehungen
befreien. Wer nach M2 also .insgesamt mit offenen Augen" (MOD02/39) positiv
verändert, tut dies quasi automatisch zum Wohl der gesamten Belegschaft (.zum
Guten aller Mitarbeiter", ebd.).
Für M2 ist es wichtig, dass er keine fremde Hilfe (De-Eskalationsteam) für die
Durchföhrung seiner Workshops benötigte. Für ihn ist es nicht .das Nutzen dieser
Möglichkeiten", sondern persönliches Versagen:

wUnd dass ich im Gegensatz zu vielen Dingen, die ich auch


teilweise so gehört hatte, dass es nicht einmal zu Eska-
lationen kam, wo wir fremde Hilfe gebraucht hätten und
unterstützung durchs Management oder klärende Worte und
so weiter." (MOD02/53)

M2 hat Unstimmigkeiten mit der gesamten Gruppe, also im Kollektiv, "eigenver-


antwortlich" gelöst. Die Verantwortung blieb in der Gruppe:

wDiese Dinge konnten wir eigenverantwortlich immer sauber


bis zum Ende durchziehen. M (MOD02/55)

M2 exemplifiziert die These, die die Moderatoren in zwei Kategorien teilt: a) Fremde
Hilfe im Fall einer Eskalation im Workshop gilt als Versagen des Moderators und
als Versagen, seine neutrale Rolle glaubhaft zu vermitteln. b) Der andere Teil der
Moderatoren nutzt das De-Eskalationsteam zur Aufrechterhaltung ihrer Neutra-
lität, wenn sie die Parteien nicht zu einer Einigung bringen können. Sie sehen es
als betriebliches Angebot und Unterstützung ihrer Moderation an und nutzen es
bei Bedarf. Sie sehen darin kein Versagen ihrer Neutralitätsbemühungen, sondern
die Aufrechterhaltung ihrer Autonomie.

Moder.tor 3 - Der Antreiber


Auch für M3 gilt, wer das De-Eskalationsteam ruft, beweist das Scheitern des
Neutralitätskonzepts und enthüllt das Misstrauen der Gruppe gegenüber der
Neutralität des Moderators:

wALSO, erst mal musst du ja in jeden Prozess dann erst mal


RUHE reinbringen: So, nun lass uns man erst mal gucken: WAS
232 6 Empirische Ergebnisse

ist denn DA passiert? Und dann tritt man so 'n bisBchen als
MEDIATOR auf in der ganzen Geschichte, ne? Dann heißt es
häufig, also das haben wir AUCH. Dann gabs n Gewitter und
dann sagt einer: HIER Mensch, hier in Gruppenraum drei, wir
haben das aufgeteilt in drei Gruppenräume (.) die Gruppe
hat Zoll. DA PASST irgendwas nicht, ne (.) dann gehst da rein
und dann wird schon mal gesagt: Hier [Name Moderator, H.F.]
hör dir das mal an, was wir da haben. WAS sagst du dazu?
Und dann merkt man eigentlich AUCH, dass man es GESCHAFFT
hat, in dem Prozess NEUTRAL zu bleiben und dann tragen
BEIDE Seiten ihr Problem vor (.) und meistens besitzt man
ja a) Kenntnisse zu dem Thema und b) die Fähigkeit, die
Leute wieder zusammen an einem Tisch zu holen. Und dann
kriegt man das in der Regel auch wieder hin. Also, ich
brauchte bisher noch NIE jemanden von AUSSEN. Den gibtls
ja auch bei uns. Wir können uns ja In Mediator holen und
sagen KONFLIKTLÖSER, die sind ja auch namentlich BENANNT,
aber bisher haben wirls nicht gebraucht. M (MOD03/81)

Wer laut M3 seine Neutralität als Moderator im Prozess behält, kann als .Media-
tor" (ebd.) bei .Zoff" (ebd.) in den Gruppen helfen. Wenn beide Seiten ihr Problem
vortragen, kann M3 zum einen inhaltlich-fachlich verstehen und zum anderen
mithilfe seiner Neutralität die Parteien an den Tisch zurückholen. Würde die
Workshopgruppe oder ein Teil von ihr die Neutralität des Moderators nicht aner-
kennen, müsste es einen neutralen Dritten geben. Daher ist für M3 die Anrufung
des De-Eskalationsteams im selben Moment eine Bestätigung seines gescheiterten
Neutralitätskonzepts.
M3 entlarvt sich semantisch selbst, keine neutrale Funktion im KVP-Work-
shop zu besitzen und auszuüben, indem ein KVP-Moderator nicht nur die Neu-
tralitätsfunktion (Mediator, Schlichter, Verhandlungsführer), sondern auch die
.Antreiberfunktion" (MOD3/29) im Prozess ausfüllen sollte:

"Und sicherlich ist der Moderator AUCH, ANTREIBER im Prozess.


Also, OHNE diese, diese ANTREIBERfunktion GEHTlS einfach
NICHT. Also es würde (.) ich habls bisher noch NICHT erlebt,
dass da morgens n UA [Unterabteilungsleiter, M.F.] aufsteht
und sagt: So Leute, WIR sitzen jetzt seit Iner halben Stunde
Kallee trinken. Wir müssen losl Also, wenn das nicht der
MODERATOR macht, macht es KEINER. (MOD03/29)M

M3 erlebt die PMA sowie die Vorgesetzten in ihrer Funktion als Workshopteilneh-
mer antriebslos. Nur ein Moderator kann .solche Prozesse am Leben [... ] erhalten"
(M0D3/45). M3 bewältigt die Moderatarenaufgabe mit einer militärisch geprägten
6.2 Die KVP-Moderatoren 233

Antreiberattitüde. Seine treibenden Handlungen, die an einen Feldmarschall erin-


nern, der seine Truppen für die Schlacht vorbereitet oder sie mit einer ordentlichen
Standpauke (.Ansprache", MOD03/87) motivieren will und auf das gemeinsame
Ziel einschwört. Im folgenden Zitat beschreibt er seine Vorgehensweise:

"Auch DA qibt's natürlich die FACETTEN im menschlichen


Leben, ne? Es qibt den EINEN [Typ von Vorqesetzten, M.F.],
dem brauchst du NICHTS sagen, DER springt schon von ALLEINE
an und es qibt natürlich auch DIE, die alles aussitzen, ne?
Und die KONFLIKTE SCHEUEN und DIE muss man dann natürlich
hin und wieder mal darauf hinweisen, welche Rolle sie zu
BEKLEIDEN haben, aber nach DER Ansprache klappt das in der
Reqel eigentlich auch. M (MODOJ/87)

Der insgesamt konftikthafte Prozess wird von M3 bewältigt, indem er Moderation


als Führung ausübt. M3 zieht eine Verbindungslinie von seinem Moderationsstil
zu seinem Führungsstil als ehemaliger .betrieblicher Vorgesetzter" (MOD03/31).
Im Kontrast dazu stehen der partizipative und autoritäre Führungsstil. Da M3 ein
fordernder Typ ist. der immer Präsenz zeigt. entspricht seine Vorgehensweise dem
autoritären Führungsstil (offensiv ansprechen, fragen, strukturieren, in Bewegung
halten, um Feedback bitten, .Meldungen" bekommen). M3 hat die Zügel fest in
der Hand und lässt die Teilnehmer allenfalls für eine .halbe Stunde so laufen"
(MOD03/33), um dann eine .Meldung" (MOD03/31) von ihnen zu fordern. Sein
Stil ist stark .zielführend" (MOD03/33) und lässt kaum Handlungsspielraum
für die Teilnehmer zu. Eine halbe Stunde .laufen lassen" (ebd.) entspricht keiner
echten Partizipation:

"JA (.) kommt einem natürlich entqegen, das man mal BETRIEB-
LICHER VORGESETZTER war. Am Ende ist es SO, dass man dann
den Leuten (.) den Leuten sagt: So Leu~e, wer geht jetzt WO
hin? Sagt mir mal 'n Namen, ne7 Man muss ja Leute GEZIELT
ansprechen. Sonst wird das am Ende auch NICHTS und ähm (.)
WER ist welche Gruppe? Und es gibt ja auch Meldungen. Es
läuft ja auch 'ne Menqe von ALLEINE. Aber wenns dann halt
nicht weitergeht, MUSS man Leute GEZIELT ansprechen und
saqen: Kollege Heiko, Paul, Wal~er, Die~rich und wie auch
immer? Ähm (.) MACHT ihr das je~z~ mi~ dem Thema X und
MACHT ihr das je~z~ mit dem Thema Y. JA, wir gehen je~z~
los (.) und dann bit~e schijn auf'm Rückweg noch mal kurz
sagen, wie weit seid ihr im Prozess, ne7 Und das qehört da
halt IMMER WIEDER dazu." (MOD03/3l)
234 6 Empirische Ergebnisse

Seine Kontrollbemühungen stehen einer Teilhabe der PMA am Prozess entgegen.


Eine freie Entfaltung der Gruppe und die Nutzung neuer Handlungsspielräume,
die sich aus der besonderen Situation des Workshops ergeben könnten, werden
von M3 stark beeinträchtigt. M3 besitzt keine Geduld, den PMA diesen neuen
Freiraum zu gewähren und übernimmt aus seiner Ungeduld heraus die Führung
der Gruppe. Seine Antreiber-Art grenzt ihn von anderen Moderatoren ab (AI-
leinstellungsmerkmal) und scheint auch nicht kritiklos (.Grundsatzdiskussion",
MOD03/33) von allen Workshop-Gruppen akzeptiert zu werden, wie folgende
Ausführungen belegen:

"Ja. Ist aber auch ne~ ERWARTUNGSHALTUNG aus der Gruppe


herauB. Es kann natürlich sein, dass es Moderatoren gibt,
die das ANDERS machen. Kann ich jetzt NICHT sagen, aber
ich hab das eigentlich IMMER SO, dass ich recht ZIEL-
führend unterwegs bin und äh (.) ja. Ich kann dann auch
im richtigen Moment das (.) den Fuß wieder vom Gaspedal
nehmen. Wenn man MERKT, das läuft einfach, dann muss man
auch mal (.) muss man auch mal ne" halbe Stunde SO laufen
lassen können, ne? Man muss am Ende auch mal ne" Grund-
satzdiskussion bei so nem Thema aushalten aber ihm (.) vom
GRUNDsatz her ist es halt so, dass du SCHON der ANtreiber
bist, ne?" (MOD03/33)

Die defensive .Erwartungshaltung" (ebd.), die M3 den PMA sowie den Vorgesetz-
ten bescheinigt, nutzt er als Rechtfertigung für seinen autoritären Führungsstil.

Moderator 4 - Der Agent


Die Neutralitätsperspek.tive beschreibt M4 in Form einer Sandwich-Position
(.dazwischen hab ich mich gesehen", MOD04/49). Er befindet sich zwischen den
.. Sichtweisen" (ebd.) des Meisters und der PMA. Diese Lage bezeichnet er als
.neutral", da er beide Sichtweisen als Moderator gelten lässt und sie indirekt als
ungleich erklärt. Er reproduziert damit die hierarchische Organisationsform des
Unternehmens und den Kontrast zwischen »oben" und »unten":

,..Ja ich hab' mich so (.) so als MITTELDING zwischen MEISTER


und MITARBEITER gesehen, ja? NICHT ganz OBEN, NICHT ganz
UNTEN. Irgendwie genau dazwischen, ja? So (.) ja NEUTRAL.
Ich wollte den (.) Ich sag' mal, es gibt nicht nur die
SICHTWEISE des Meisters. Es gibt AUCH NICHT NUR die Sicht-
weise des Mitarbeiters. Also, DAzwischen hab' ich mich so
gesehen." (MOD04/49)
6.2 Die KVP-Moderatoren 235

Für M4 gilt das De-Eskalationsteam als Hilfe zur Wahrung der Neutralität des
Moderators: Damit seine Neutralität im Workshop bewahrt werden kann. hat er bei
.schwierigen Workshops" (MOD04/25) das De-Eskalationsteam gerufen. das hat
dann die Entscheidung übernommen und seine Neutralität wurde geschützt. Die
Neutralitätsdefinition nach M4lautet, es ist legitim, als Moderator eine Meinung
zu haben und sie zu äußern. die aber keiner der beiden Seiten (Arbeitgeber und
Arbeitnehmer) aufgedrängt werden soll:

,..Ich hatte einige recht SCHWIERIGE Workshops (.) und ich


hab' versucht, da auch immer ZIEMLICH neutral zu bleiben.
Ich wollt' da eigentlich auch keinem groß irgendwelche
Meinungen AUFDIKTIEREN. Das war eine ARBEITGEBER- und eine
ARBEITNEBMERseite, und wenn wir (.) wenn ICH da KEINEN
Kompromiss hinbekommen habe und wir uns im Kreis gedreht
haben. Hab' ich den BETRIEBSRAT eingeladen und hab' das
DEESKALIERUNGSTEAM eingeladen." (MOD04/25)

Der Kontrast .Neutralität" versus .seine Meinung und Sichtweise vertreten dür-
fen" wird von M4 als subjektive Theorie formuliert: :N Moderator darf auch ne
Meinung haben" (MOD04/43). M4 versteht sich als Seil des Teams" (ebd.) und legt
damit die Rolle des Moderators ab. Das Aussprechen der Meinung gefahrdet für
ihn nicht zwangsläufig die Neutralität. Lediglich das Beharren auf seiner Meinung
würde sie nach der Definition von M4 gefahrden. Wobei eine geäußerte Meinung
die Gruppe bereits beeinflussen und lenken kann und die Neutralität damit auf-
gehoben wäre. Seine Sichtweise steht den von Will und Will (2008) genannten
persönlichen Kompetenzen und Verhaltensmerkmalen eines KVP-Moderators
entgegen, die Distanz zu wahren und sich nicht an der Diskussion zu beteiligen.
M4 formuliert seine subjektive Perspektive wie folgt:

,..Also, ich hab' den Leuten in den Workshops gesagt, dass


ich auch MEINE IDEE dafür hab', dass ich auch ein TEIL des
Teams bin, ja? Und ich auch NICHT mit meiner Meinung hin-
term Berg halte, ja? Ich sag': Ich bin zwa.r NEUTRAL, a.ber
wenn ich 'ne Sichtweise hab', dann sag' ich die auch. Ja
und wenn einer da ANDERER Meinung ist, dann MUSS man da
halt drüber reden, ne? Aber ich seh' mich AUCH als Teil
des TEAMS aus diesem workshop und auch n' MODERATOR darf
'ne Meinung haben. Und die hab' ich dann auch vertreten.-
(MOD04/43)

Neutralität erreicht M4 durch das .Zusammenfassen" (MOD04/53) und die Regel.


dass .man selber nicht Experte [ist]" (MOD04/21). Er bewältigt seine Aufgabe.
236 6 Empirische Ergebnisse

indem er die Expertenfunktion der PMA betont und sich nur als der neutrale
.. Zusammenfassende" darstellt:

wMan ist selber NICHT EXPERTE. MUSS man auch NICHT sein.
Man muss aber VERSUCHEN, für die Probleme, die die MITAR-
BEITER haben, 'ne Idee zu finden, ja?M (MOD04/21)
"Ja, irqendwie (.) die Leute, die in einem workshop REIN-
kommen, DENKEN, DA sitzt der SPEZIALIST, ne? Dass ICH der
SPEZIALIST wäre (.) Ich sag': Ich hab' überhaupt keine Ahnung
davon. Ich sag': IHR arbeitet da TAG täglich. Ich sag': die
SPEZIALISTEN sitzen vor mir. Ich sag': ich muss nur versu-
chen, das wissen von EUCH irgendwie zusammenzufassen, ja?
(.) Und dann versuchen anhand ETLICHER METBODENbausteine,
ja? Über Laufweqdiaqramme, was eigentlich SEHR gut ist,
diese LAUFWEGOIAGRAMME." (M0004/53)

M4 fordert den hierarchischen .Entscheider· heraus. zu handeln und zu entschei-


den, um die eigene Neutralität zu bewahren:

,..Und gesagt hab': SO, DU bist hier CHEP. Die und DIE Proble-
matik haben wir die? Kannst du die entscheiden? DARFST du
die entscheiden? Und wenn DU sie entscheiden DARFST, dann
MACH' es und wenn du es noch mit irgendjemand absprechen
musst, dann MACH es AUCH. Und dann setz' auf die TRUPPE
KOMPLETT oder klär' die Truppe auf, WAS die SACHlage dann
ist. Aber ich hab' versucht, immer DA diese Neutralität
auch zu behalten, aber dann auch dann so FORDERND zu sein
und sagen: SO da muss jetzt was entschieden werden und das
kann NICHT ICH, DAS kannst NUR DU. M (MOD04/l06)

Neutralität wird durch das wiederholte Zusammenfassen der bisher bearbeiteten


Aspekte erreicht. M4 besteht darauf. eine eigene Meinung zu haben und sie auch
auszusprechen. aber indem er sie keinem. aufzwingt - so seine Perspektive - ist seine
Neutralität nicht in Gefahr. Während des Workshops balanciert er also zwischen
den gegensätzlichen Interessen beider Figurationen. Die Verhandlungsstrategie
bespricht er dann .nach den Workshops· (MOD04/82) mit den Vorgesetzten und
wird zu einem Teil der Arbeitgeberfiguration. Besprochen werden strategische
Schritte. um im Verlauf der Woche Verhandlungsvorteile zu erreichen. Die ziel-
gerichteten Handlungen des Unternehmens werden vom Moderator unterstützt.
Diese Vorgehensweise unternimmt M4 allerdings nicht mit der Arbeitnehmerfi-
guration. Es gibt demnach ein Gefälle in der Unterstützungsleistung des M4 in der
Verhandlungssituation. M4 re-inszeniert den Ablauf der Strategieberatung wie folgt:
6.2 Die KVP-Moderatoren 237

wWeil nach den Workshops hat man sich meistens noch mit den
Meistern oder dem UA nochmal zusammengesetzt und gesagt:
DAS war GUT das war SCHLECHT, ja? Wie kriegen wir das und
das und DAS hin? weil meistens werden MONTAGS und DIENSTAGS
die Ideen GESAMMELT. Und dann werden die Mittwoch, don-
nerstags, freitags weiter AUFgearbeitet und AUSgearbeitet.
Und sagen wir mal SO: DA sehen wir vielleicht POTENZIAL.
Können wir das (.) WIE gehen wir das an? WIE holen wir die
Mitarbeiter MIT ins Boot? WAS müssen wir probieren? Müssen
wir den Betriebsrat noch mal informieren, dass wir da viel-
leicht irgendwie 'n Arbeitsversuch starten, ne? Brauchen wir
da irgendwelche WERKZEUGE für? Irgendwelche BETRIEBSMITTEL
für das Modell (.) haben wir alles (?meint?) (.) Das klappt
auch ganz gut." (MOD04/82)

Die permanente semantische Markierung seiner Zugehörigkeit zur Arbeitge-


berfiguration bzw. Vorgesetztenfiguration mit einern "wir" (Elias' Modell der
Fürwörterserie). grenzt ihn von der Arbeitnehmerfiguration ab und entlarvt seine
Neutralität als Schein.

Exkurs: Der Moderator Ist ein Gradmesser für die Stimmung Im


Workshop (Affektkontrolle)
Emotionale Höhen und Tiefen im Workshop sowie persönliche Motivation und
Demotivation bewältigt der Moderator, indem er gleichbleibend motiviert erscheint,
um die Gruppendynamik nicht zu stoppen:

wUnd das ist dann am Ende so (.) dass diese VIELEN AUFs
und ABs dich natürlich MOTIVIEREN, aber natürlich auch DE-
MOTIVIEREN. Und DAS ist dann so, dass du abends ins Bett
gehst und an den Workshop denkst und am nächsten Morgen
wieder aufstehst und sagst: Mensch, ich hab' jetzt noch
drei Tage, wenn ich da jetzt rein gehe in dem Workshop und
sach: Leute, das was hier GESTERN passiert ist, DAS ist GAR
NICHTS äh (.) ich hab' eigentlich GAR KEINE Lust mehr! Dann
steht der Workshop auf der Stelle. Das heißt, du MUSST auch
morgens in der LAGE SEIN, kurz in den Spiegel zu gucken,
dich zu schütteln und zu sagen: Ich mach~ jetzt einen auf
gute Laune und ich SCHAUSPIELER 'n Stück weit. [ ... ] Dass
wir dann auch wirklich morgens rein kommen: GUTEN MORGEN,
Mensch die Sonne scheint, wie geiles Wetter und wollen wir
noch eben sehen, das wir n bisschen was machen ne? Ob DU
DICH danach FUEHLST, ist 'n GANZ anderes Thema. Also ich
sag" mal das, das Thema SCHAUSPIELEREI gehört 'n Stück weit
238 6 Empirische Ergebnisse

dazu, weil ähm (.) alle anderen reagieren natürlich auf den
ERSTEN ABSCHLAG des Moderators, ne?M (MODOJ/75)

Der Moderator als Verhandlungsführer bzw. Schlichter ist nicht per se emotions-
los, muss aber für die Weitentihrung des Prozesses innerhalb des Workshops die
tatsächlichen (womöglich negativen) Gefühle unterdrücken, um gut gelaunt und
hoch motiviert zu erscheinen. Nach M3 muss er in der Lage sein, seine wahren
Geföhle zu unterdrücken und falsche Emotionen zeigen, um den Prozess nicht zu
gefahrden: •Weil, sonst sitzen da zwölf Leute und die gucken wirklich erst mal: WIE
ist der AUFTAKTl" (MOD03175). Arlie Hochschild spricht von .Gefühlsarbeit,
die das Wohlbefinden und den Status anderer unterstützt, verstärkt und aufwer-
tet" (Hochschild 2006: 135; Hervorhebungen im Original, M.F.). Der Moderator
agiert als Stimmungsbarometer des Workshops und kann zum Wohlbefinden der
Teilnehmer beitragen. Moderatoren orientieren sich an den Bedürfnissen anderer,
entfremden sich so von eigenen Gefühlen und können nicht authentisch in ihrer
Arbeitsrolle .Moderator" sein. Arlie Hochschild sagt dazu:

..Ob aber die Trennung zwischen ,mir' und meinem Gesichtsausdruck oder meinen
Gefühlen als Entfremdung erlebt wird, hängt vom äußeren Umfeld ab. In der Welt
des Theaters gilt es als ehrenvolle Tradition, auf der Bühne die Kapazitäten des Ge-
dächtnisses und das Repertoire an Gefühlen ausgiebig auszuschöpfen. Im privaten
Leben lassen sich dieselben Fähigkeiten, wenn auch in einem geringeren Ausmaß,
vorteilhaft einsetzen. Wenn wir aber die Welt betreten, in der Gewinn und Verlust
zählen, wenn die psychologischen Kosten der Gefühlsarbeit von der Firma nicht
honoriert werden, dann erfahren wir die ansonsten hilfreiche Trennung zwischen
,mir' und meinem Ausdruck und meinen Gefühlen als potentiell entfremdend."
(Hochschild 2006: 55)

Authentizität wäre ein Indiz für ehrliche Prozesse, die auch Fehler, Widersprüche
und echte Gefühle erlauben würden. Es lässt sich festhalten, dass der KVP eine
Scheinwelt aufbaut, in der ehrliche Gefühle keinen Platz haben (siehe dazu die
Ausführungen zum Potemkin-Syndrom in Abschnitt 6.2.4).

6.2.2.2 Die KVP·Moderatoren aus der Verwaltung


für die Verwaltung
Dieser Abschnitt veranschaulicht die kollektive Orientierung und das Motiv
zum Neutralitätskonzept der Teilnehmer der Gruppendiskussion MODIB, den
KVP-Moderatoren aus der Verwaltung für die Verwaltung.
6.2 Die KVP-Moderatoren 239

Neutralität als Emotionsarbeit


Für MODIBB und MODIBD stehen der eigene und der fremde Bereich, in dem mo-
deriert wird, im Kontrast und sind ein entscheidendes Kriterium in der Herstellung
von Neutralität. Im eigenen Bereich ist sie schwer herzustellen, im schlimmsten Fall
bleibt sie sogar ein unerreiebtes Ziel (HersteIlungsieIstung), im fremden Bereieb
dagegen ist Neutralität bereits vorhanden (Zustand). MODIBD exemplifiziert
diesen Kontrast:

".Aber ich habe jetzt zwei workshops äh durchgeführt in


anderen Bereichen und das hat mir mehr Spaß gemacht, weil
man also viel äh neutraler, also, oder man IST richtig
neutral und das ist ja sehr schwierig, im eigenen Bereich
neutral zu bleiben, weil man identifiziert sich dann doch
mit den eigenen (.) äh Arbeitsgängen oder eben auch mit
den Personen, äh mit denen man da sitzt. Das sind sonst
Arbeitskollegen und (.) es ist sehr schwierig und in man-
chen Situationen fühlt man sich vielleicht auch mal so ein
bissehen unwohl. u (MODIBD/82)

Es herrsebt Ambivalenz bei der Herstellung von Neutralität und bei den Rollen
nich und Moderator". Neutralität wird aueb gleichgesetzt mit der Neutralität der
Emotionen. Das "ich" ist innen und emotional, der Moderator ist außen und
gefühlmeutral (Emotionsarbeit). MODIBB besebreibt diesen inneren Zwiespalt:

".Und ich hab' mich selber in zwei Workshops dabei (1) ge-
fühlt, erwischt weiß ich nicht, wie ich sagen kann (.) wo
ich dann innerlich gedacht hab': Mensch, vielleicht bist du
zu massiv (.) oder zu weit allein in dieser (.) Verständ-
nisfrage wieder reingegangen, vielleicht hätte ich vorher
einfach: okay, wir schreiben das so auf (.) und nicht im-
mer permanent als Moderator hinterfragen (.) weil ICH ICH
wollte es verstehen, ICH wollte es verstehen und noch mal
und noch mal und noch mal, das war mir alles zu abstrakt
(.) obwohl der Moderator ja eine neutrale Funktion da hat
[... ] und das hat sich so über zehn fünfzehn Minuten dann
ergeben und da hab' ich gesagt, Mensch (.) da hättest du
gar nicht so detailliert rein müssen aber das=das liegt,
glaube ich, auch an der Person (77) (.) wie gesagt, ich
habe für mich noch nicht (.) den Abstand gefunden, wirk-
lich zu sagen zu können, dass ich da neutral reingehe •u
(MODIBB/1l1+1l3)
240 6 Empirische Ergebnisse

Die Emotionsarbeit, die zur Herstellung der Neutralität geleistet werden muss,
beschreibt MODIBD vor allem als Emotionslrontrolle. Die Anforderungen an
seine Rolle im Workshop .Ruhe auszustrahlen" (MODIBD/447) und die Gruppe
.versuchen zu begeistern" (ebd.) führen zur Entfremdung mit eigenen Gefühlen
und lösen ein Störgefühl aus. Auch MODIBE spricht von Emotionskontrolle, wenn
er sagt, dass .man sich dann sehr zurückhalten [muss] und die Gruppe kommen
lassen" (MODIBE/437-443).
Die Moderatorenrolle erfordert Distanz, Abstand vom eigenen Ich, von der
Situation, etablierten sozialen Beziehungen, Routinen, üblichen Verhaltens- und
Denkweisen sowie von der bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen beruflichen Iden-
tität. Das, was bereits über viele Jahre, also im Laufe der beruflichen Sozialisation,
ein Teil der Selbstzwangapparatur wurde, wird zunächst nicht mehr benötigt und
auf Eis gelegt. Neue Anforderungen in Form formaler Vorgaben, die in Modera-
torenschulungen erlernt werden, erleben die Akteure zunächst als äußere Zwänge
(Fremdkontrolle). Sie können sich die neuen Verhaltensweisen nicht innerhalb
kurzer Zeit zu eigen machen. MODIBB beschreibt dieses Störgefühl unter ande-
rem mit seinem fehlenden Einverständnis für Situationen, das er aber aufgrund
der äußeren Vorgaben nicht auflösen kann. Er hofft, dass dieses Gefühl mit der
Anzahl gesammelter Erfahrungen vergeht:

wEB gibt so einige Situationen (.) da hab' ich dann noch


ein Kribbeln im Bauch und eigentlich nicht so ganz mit
einverstanden (.) und äh weiß nicht, ich bin auch nicht so
abgebrüht und kaltschnäuzig, dass man mir das, glaube ich,
nicht ansieht (.), dass ich dann trotzdem noch, trotzdem noch
die nötige Ruhe hab l
wie man von einem (.) Moderator
{.},

vielleicht erwartet. Aber vielleicht hat das auch was mit


dieser (.) Findungsphase, mit den (.) Erfahrungen, die wir
selber sammeln müssen, zu tun. U (MOOISS/117)

Die Moderatoren sind im Grunde Produktionsdouble (oder genauer Produktions-


system-Double). Ihre berufliche und je eigene Identität spielt keine Rolle, wenn sie
ein Verbesserungskonzept und seine Ideologie in Workshops weitergeben sollen.
Sie re-formulieren lediglich die auf zentraler Ebene verfassten Ziele und Absichten
des Unternehmens. Eigene Sichtweisen oder gar Ablehnung einzelner Methoden
oder Zielwerte sind nicht vorgesehen. Die Moderatoren werden auf diese Weise
zu Marionetten des KVP-Konzepts (Produktionssystem-Double) ohne Platz für
eine eigene Identität. Diese Fremdsteuerung führt zu einer höchst ambivalenten
Ausführung der Moderatorentätigkeit. Die Moderatoren bewältigen diese Dis-
sonanz auf je individuelle Weise. Sie müssen also ein Thema vermitteln, bei dem
6.2 Die KVP-Moderatoren 241

sie selbst widersprüchlich sind, was vor allem beim gescheiterten Versuch, die
Leistungsverdichtung zu verschleiern, sichtbar wird. Vor dem Hintergrund der
subjektiven Widersprüchlichkeit schwebt der gesamte Diskurs.

6.2.3 "Wir sind Moderatoren.ul1o -


Figuration oder Schicksalsgemeinschaft?

Im Diskurs entwickeln die Teilnehmer von MODIB eine Definition zu ihrer Mo-
deratorengruppe als eine Art "Schicksalsgemeinschaft", die sich gemeinsam für
bessere Rahmenbedingungen stark macht, jedoch als Einzelkämpfer an der Front
moderieren. Ihre Gemeinsamkeiten, stellen die Befragten fest, äußern sich in den
.Problemen" (s. u.) (fehlende Rahmenbedingungen). Unregelmäßige, informelle
und lockere Treffen der Moderatoren lassen keine Definition als Gruppe zu, wie
MODIBD exemplarisch feststellt:

".wenn ich einhaken darf, äh als Gruppe, ICH fühl' mich


nicht als Gruppe jetzt, ne? Klar, wenn wir uns hin und
wieder für einen Workshop vorbereiten, dann kommt man in
ner Zweierqruppe mal zusammen? Aber im Grunde qenommen
kämpft jeder für seine Workshops äh wieder das das Gefecht
aus, also (.) und äh die Probleme wissen wir eben, haben
alle." (MODIBD/302)

Im Workshop geht es um Gruppendynamik und Spiele zwischen den einzelnen


Akteuren. Die Moderatoren sehen sich als Kämpfer an der Front (Frontverlauf
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite) .

• Dle Geister, die Ich rief"


Die neue Figuration entwickelt gemeinsame Forderungen und erlangt als Kollektiv
neue Handlungsspielräume. MODIBA antizipiert dabei die Position des Unter-
nehmens und befürchtet, dass die Gruppenformierung aufgrund der Kraft, die
ein Kollektiv entwickelt, gar nicht erwünscht sei:

".Ich q1aube auch nicht, dass das so qewo11t ist, dass wir
jetzt so diese reqe1mäßiqen Treffen machen wollen, wenn wir
etwas ver1anqen, dann muss ja [Name] sich drum kümmern (.)
und der hat auch nicht das Personal. Wenn wir jetzt sa-
qen: ja mit dem Caterinq oder (.) äh Laptop, ne? Besorqen

110 MODIBD/375.
242 6 Empirische Ergebnisse

und hinbringen und so, kann er auch nicht sagen: Ja, ich
stell' euch da jetzt einen Mann dafür. (.) Funktioniert
auch nicht, also (.) 'ne Lösung hab' ich selber auch nicht,
'ne bessere (.) ich weiß es nicht, wie wir es hinkriegen
sollen." (MODIBA/343)

Der selbstgesteuerte Zusammenschluss der KVP-Moderatoren im indirekten


Bereich kann neue Handlungsspielräume etablieren. Es handelt sich nicht nur um
eine lose Ansammlung von Moderatoren, sondern um mehr, denn das Ganze ist oft
mehr als die Summe seiner Teile. Ihre zunehmende Integration und wechselseitigen
Abhängigkeiten lassen erste Anzeichen eines emergenten Zusammenschlusses
und einer neuen Figuration in der Organisation erkennen. Zu diesem Zeitpunkt
ist keine Prognose zulässig, ob erste Figurationserscheinungen Bestand haben und
sich entwickeln. Es hängt stark vom Kontext ab, also wie sich die Reorganisations-
maßnahme und damit die Rolle der Moderatoren zukünftig gestaltet.
Wo MODIBA sich noch als mitfühlend erweist und die neuen Spielräume selbst
begrenzen will, fordern die anderen Moderatoren rigoros die Verbesserung der
Rahmenbedingungen im Sinne einer Verhandlungseinsatzes. Die Tätigkeit, die die
KVP-Moderatoren im indirekten Bereich zusätzlich leisten, erweist sich als Ent-
grenzung inhaltlich klar definierter Strukturen. Um die besondere Herausforderung
zu bewältigen, fordern sie aktiv und selbstbestimmt eine .Be-Grenzung" dieser
Situation. Exemplarisch für diese Haltung steht das folgende Zitat von MODIBD:

wAlso so muss der Prozess sein und so werden wir ihn [MO-
DIBE: Das wär mal was.] [MODIBA: Also, das wär (.) toll,
ja.] äh das auch mit denen kommunizieren und sonst machen
die das nicht. [_1 Aber ich seh' auch nicht ein, dass ich
jetzt losgeh und mich um solche Sachen noch kümmer also
(.) irgendwo härts dann auf, ne? Wir sind Moderatoren und
wie gesagt, sollen als Moderatoren tätig sein und nicht
eben die ganzen Sachen beschaffen. M (GDIBMODD/370-373+375)

Der Schwerpunkt ihres Diskurses liegt auf fehlenden Rahmenbedingungen und


ihrem Kampf um Beseitigung sowie die Betonung des Spaßfaktors der Modera-
torentätigkeit. Es handelt sich um den Versuch, sich von der inhaltlichen Ver-
antwortung zu entlasten (Bewältigungsstrategie). Sie sind nicht die Akteure des
KVP, sie müssen das in weiten Teilen ambivalente Konzept »nur" moderieren. Die
Distanzierung zum Inhalt und die Fokussierung auf die Rahmenbedingungen
lässt auch die Distanzierung zur eigenen inneren Ambivalenz zu, die sie gegenüber
dero KVP empfinden.
6.2 Die KVP-Moderatoren 243

Der mehrfach betonte Spaßfaktor der Moderatorentätigkeitlll ist zudem ein


Verweis auf die Befriedigung aus der Arbeit, die im Grunde keine Anerkennung von
außen benötigt. Der Job des Moderators erfährt im Unternehmen kein Ansehen.
doch die eigene Befriedigung ist immer auch auf andere Menschen gerichtet und
so konzentriert sich der Moderator ganz auf die individuelle Befriedigung einer
erfolgreichen Workshop-Woche und auf die Anerkennung durch die Workshop-Teil-
nehmer. Der Gebrauchswert seiner Arbeit zeigt sich vor allem in der Funktion,
die ein Moderator für die Durchftihrung der KVP-Workshops hat. denn ohne ihn
würde es keine geben (Voswinkel2002: 79f.).

Verunsicherung der Moderatoren


Aufgrund der neuen Organisationsform. die vor allem aufSelbstverantwortung und
freier Entscheidung basiert, sind die Moderatoren verunsichert. Sie sind angesichts
der aktuellen Situation dazu aufgefordert. sich selbst zu steuern (Selbststeuerung
vs .•Steuerungssymbol"m). Die Mitarbeiter des KVP-Büros .hauen [Termine.
M.F.] raus" (MODIBD/328). was bedeutet. dass es keine individuellen Adressaten
für Anfragen gibt und die Teilnehmer diesen Zustand dann als unkoordiniert be-
zeichnen. Die Moderatoren müssen selbstgesteuer! aufnehmen. was dort .liegt" und
der Situation selbst Grenzen setzen (auch mal.Nein" sagen können. MODIBCO.
Die Organisation der Workshop-Termine verlangt eine Absprache mit anderen
Moderatorenkollegen und eine eigene aktive Entscheidung für oder gegen Termine.
Diese Art der freien Entscheidung verunsichert die Moderatoren, die sich allein
gelassen fühlen (MODIBD/335). da die neue Organisationsform gegen traditionelle
Verfahrensweisen des Unternehmens verstößt. die durch starke Hierarchie und
feste Strukturen charakterisiert ist. .Alleine" bedeutet hier .nicht eingebettet in
eine Institution'. Die Figuration ist zum Zeitpunkt der Untersuchung in einem
Prozess des Suchens:

"Das ist das, was gerade MODIBA sagte, ne? Ne, was er si-
cherlich auch meinte, ne? Dass wir so ein Stück weit alleine
da stehn, ne?M (MODIBD/335)

111 ,.Sind uns eigentlich ganz schnell bewusst geworden. dass uns persönlich das eigent-
lich (.) sehr, sehr viel Spaß macht. Das. also, das ist eigentlich außen (.) außer Frage
(MODIBBI201/203).
112 Das .. Steuerungssymbol" (MODIBB/311/313) kennzeichnet einen erwünschten
Steuermann und Strukturgeber, einen Haltgeber in einer entgrenzten Situation, die
ohne ..Gemeinschaftsdenkenu (ebd.) agiert. Selbstorganisation und klassische hierar-
chische Organisationsformen treffen hier aufeinander.
244 6 Empirische Ergebnisse

Die institutionalisierte .Vernetzung" (MODIBB/321; vom .Steuerungssymbol"


organisiertes regelmäßiges Treffen) kann zu einer festen und etablierten Figuration
innerhalb der betrieblichen Verflechtungssphäre werden. Der von MODIBB bisher
verneinte .Gruppengedanke", (MODIBB/323) als Ausdruck für eine emotionale und
kognitive Akzeptanz als Gruppe, wird von den betrieblichen Akteuren erst dann
als wirkungsvoll erachtet, wenn eine offizielle Institutionalisierung (Integration)
und damit Anerkennung der Moderatorengruppe erfolgt.

6.2.4 Die Position des KVP-Moderators im Betrieb

Die Anerkennung für ihre Tätigkeit erfahren die Moderatoren vor allem durch
die Teilnehmer der KVP-Workshops (.aus der Gruppe selber", MOD02/99, s. auch
MOD04/I04, MOD02/113), denn die Position des KVP-Moderators im Fallbetrieb
ist .nicht besonders beliebt" (MODOl/49). Aktive Akteure im Rahmen des KVP
stehen sinnbildlich für die Reduzierung von Teamgrüßen, Arbeitsintensivierung
und allgemeine Unruhe im Fallbetrieb. Doch auch bei den Vorgesetzten handelt es
sich um eine betriebliche Figuration, die dem KVP gegenüber negativ eingestellt
sein kann. Die Moderatoren erfahren nur für ihre Tätigkeit im konkreten Work-
shop-Zusammenhang eine Anerkennung. Das bedeutet, indem sie eine neutrale
Gestaltung ihrer Moderation anstreben und für Fairness stehen, können sie in
persönlichen Beziehungen die Bestätigung ihrer Leistung erwarten.
Die betriebliche Ausbildung zum Moderator wird der Aufgabe nicht gerecht.
Die hohen subjektiven Anforderungen an die Leistung des Moderators stehen im
Gegensatz zur ungenügenden betrieblichen Ausbildung und seinem Ansehen in der
Organisation, denn der Moderator kann die Art und Weise der KVP-Umsetzung
entscheidend prägen, wie MI feststellt:

nIst für mich 'ne ganz entscheidende Rolle eigentlich, also,


denke schon, dass der Moderator ganz großen Einfluss darauf
hat äh wie dieser [Name der Organis8tionsentwicklungsmaß-
nahme] im Unternehmen umgesetzt wird. Das 'seh ich so, ich
denke auch, dass die Rolle des Moderators oft unterschätzt
wird und äh(.) und das BO'n bissehen stiefmütterlich be-
handelt wird, das ganze Thema, auch Moderatorenbesetzung,
Ausbildung alles so zusammen, finde ich. Wird eigentlich
nicht dem gerecht, was so n' Moderator, was der Moderator
eigentlich leisten soll, finde ich. M (MODOl/Sl)

KVP gleicht einer Fassade und einer Alibiveranstaltung und deshalb ist die für
diesen Zweck eingerichtete Funktion des KVP-Moderators im Grunde überflüs-
6.2 Die KVP-Moderatoren 245

sig und wertlos. Es zeigt sich hier eine starke Double-bind-Figur bezüglich der
Moderatorenfunktion: Die von MODIBE im Kontrast dargestellte hohe .gefühlte
Wichtigkeit" (sprich: objektive Wichtigkeit) zur weniger .wichtig genommenen"
beschreibt diese Spannungsfigur sehr deutlich:

"Ja, die gefühlte Wichtigkeit nenn ich1s mal, ist eigent-


lich schon hoch, ne? Ob das so wichtig genommen wird, ist
'ne andere Frage. Bei den Werksmanagern teilweise Skepsis
spüre." (MODIBE/536/538)

Die Moderatoren müssen die Skepsis der (eigenen) Vorgesetzten aushalten und mit
dieser Ambivalenz eine Moderation überzeugend durchführen. Kritik und Zweifel
werden nicht öffentlich geäußert. sondern geschehen heimlich und indirekt. Die
Moderatoren müssen mit Vorgesetzten umgehen, die teilweise nur aus Pflicht, aber
nicht aus überzeugung am KVP teilnehmen:

"Wenn ich da so an meinen Chef denke, der das alles jetzt


nicht SO toll findet irgendwo anscheinend, was er zwar
nicht direkt o~en sagt, aber das merkt man schon immer. H
(MODIBE/538)

Der Moderator ist lediglich ein Agent der Fremdverantwortung. Die in die Im-
plementierung eingelassene Ambivalenz und Double-bind-Strukturll3 lässt den
Moderator zur Chimäre werden. Seine Position im Fallbetrieb ist aufgrund der
generellen Eigenschaft des KVP als Legitimationsfassade überflüssig. wird aber
wie der gesamte Prozess, verbal aufrechterhalten und verweist insofern auf das
Potemkin-Syndrom1l4• Im Zusammenhang mit der Rolle des KVP-Moderators wird
die Scheinwelt selbst .zur handlungsbestimmenden Wirklichkeit" (Weltz 2011:
77) und ist der Grund für die auftretenden Dissonanzen bei der Bewertung der
Moderatorenrolle im Betrieb (.gefühlt wichtig" und .nicht wichtig genommen").

113 Double-bind-Struktur im Fallbeispiel: a) Verbal vorgeben. vom Konzept des KVP über-
zeugt zu sein. handlungspraktisch jedoch erkennen lassen. dass diese überzeugung nur
vorgetäuscht wird; b) den KVP aufgrund seiner Teilhabechancen als Erfolg ausloben.
aber faktisch keine Freiräume zulassen oder sie schnellstmöglich wieder begrenzen.
114 Es beschreibt zunächst allgemein ..die Herstellung einer Scheinwelt zur (Selbst-)
Bestätigung eines autokratischen Regimes" (WeItz 2011: 77). Diesem Syndrom begegnet
man nicht nur auf politischer. sondern auch auf betrieblicher Ebene. Der Prozess der
Reorganisation. wie er sich im untersuchten Fallbetrieb darstellt, zeigt Parallelen zu
einem autokratischen System.
246 6 Empirische Ergebnisse

Der sogenannte .Leidensdruck1l5 durch den Vorstand" (MODIBE/542) verändert


das Verhalten der Vorgesetzten. Die Unternehmenskultur im Fallbetrieb lässt sich
mit dem Zitat von MODIB treffend beschreiben: "Ne? Weil, das ist ein Vorstandsbe-
schluss und der hat nicht diskutiert zu werden, also." (MODIBA/547/549) Priorität
beim Management hat dagegen das Geschäftsjahr (Kurzfristigkeit) und weniger die
vom Unternehmen angeordnete Langfristperspektive des KVP. Vorstandsbeschlüsse
werden zwar nicht diskutiert, aber sie sind auch nicht immer handlungsrelevant.
Der KVP wird aufgrund seiner Eigenschaft als .Vorstandsbeschluss" zu einer
Pflichtveranstaltung, der sich kein betrieblicher Akteur offen entziehen kann:

".DA fehlt die unterstützung an der Seite. (.) aber zum-


wir haben ja zumindest den (.) den Leidensdruck durch den
Vorstand, der das Ganze treibt (.) und äh na das ist na-
türlich bei den Vorgesetzten auch so, die sind ja alle an
kurzfristigen Erfolgen orientiert (.) ne? Da interessiert
erst mal das laufende Geschäftsjahr und vielleicht noch das
nächste, aber was zweitausendachtzehn ist, das ist denen
egal." (MODIBE/542)

Es entsteht eine Grauzone durch: a) Der KVP wird nicht öffentlich kritisiert, aber
Vorgesetzte lassen ihre negative oder gleichgültige Haltung dennoch durchblicken,
b) Der KVP verfügt über keine eindeutige und durchgängige Handlungsrelevanz
und c) Die Vorgesetzten müssen Mitarbeiter aus ihrem Stab für eine Moderato-
rentätigkeit auswählen, die sie im Hinblick auf ihre persönliche Weiterentwicklung
als reizvoll darstellen. Gleichzeitig lassen sie durchblicken, dass sie generell vom
KVP-Konzept nicht überzeugt sind:

,..Aber so bei den UAs [Unterabteilungsleitern, M.F.], was


da direkt runtergesiedelt ist, da kommt mir das immer so
vor: joah, müssen wir ja. Also, dem ist das eigentlich mehr
oder weniger egal. M (MODIBCf/554)

Die Position des KVP-Moderators gerät durch die »Grauzonen" in eine sich
widersprechende Situation. Kollektiv formulierte und ambivalente Ansprüche
an ihn und seine Position, muss der Moderator individuell bewältigen. Der Re-
krutierungsprozess der KVP-Moderatoren ist ein Beispiel für die individuelle
Bewältigung eines kollektiven Anspruchs.

115 In diesem Fall wird der Leidensdruck durch eine ernsthafte Bedrohung der eigenen
Position bei Nichtbeachtung des Vorstandsbeschlusses ausgelöst.
6.2 Die KVP-Moderatoren 247

6.2.5 Berufung zum Moderator - Ein neues Anspruchssystem

Der Moderator reguliert nicht nur seine Gefühle, wenn er die Gruppe mode-
riert, sondern auch, wenn der Vorgesetzte ihm die neue Aufgabe anbietet. In der
Gruppendiskussion MODIB wurde deutlich, dass alle Teilnehmer das Angebot,
KVP-Moderator zu werden vom Vorgesetzten erhalten haben. Bei der Annahme
des Angebots handelt es sich beinahe um eine eigene Entscheidung: .Sie müssen
das nicht machen, es ist freiwillig (.) aber ähm (.) vom Tonfall her klang das eher
nicht so, als wenn das freiwillig wäre." (MODIBE/164+166) Die Beschäftigten
in der Organisation sind in der Wahl ihrer Entscheidungen nicht völlig frei und
können nicht autonom handeln. Da der Vorgesetzte über die berufliche Ent-
wicklung entscheiden kann und die Möglichkeit hat, im Sinne einer persönlichen
Machtquelle, Steine in den Weg zu legen, wägt der Mitarbeiter seine Entscheidung
bezüglich möglicher Konsequenzen ab (Langsicht). Im Fall der Auswahl für die
Moderatorentätigkeit, stimmten die Moderatoren zu, um Flexibilität zu beweisen,
obwohl zu Beginn nicht ganz klar war, welchen Umfang diese Tätigkeit anneh-
men könnte. Den Beschäftigten ist die .gewisse Freiwilligkeit" bewusst und sie
reflektieren mögliche negative Sanktionen, die sie in die Entscheidungstindung mit
einbeziehen. Wenn es kein absolut stichhaltiges Gegenargument gibt (.dem nichts
entgegenzusetzen", MODIBB/790; Arbeitszeiten bei außertariflichen Angestellten
.nach oben hin offen", MODIBEI191), stimmen sie der Nominierung zu:

wGut, der vorgesetzte stellt sich natürlich schon irgendwo


die Frage, ne? Äh auch bei uns: Wer könnte das denn noch
machen? Und (.) gut, er hat halt MODIBB und mich gefragt
(.) obwohl das war auch eine gewisse Freiwilligkeit. Er hat
gesagt: Von euch könnte ich mir das gut vorstellen oder
von mir könnte ich mir das gut vorstellen. Obwohl bei dir
war es ja genauso, ne? Wir waren ja zusammen da und (.)
ich hatte dem nichts entgegenzusetzen. MODIBB auch nicht,
ne?" (MODIBD/790)

Aus der .gewissen Freiwilligkeit" und dem Muss wurde ein.Wollen" (Emotlons-
arbeit). MODIBE passt sich den neuen Verhältnissen an und nimmt die Heraus-
forderung als eigene Motivation an (Selbstzwang):

wAlso wirklich noch nicht, dass ich das Ganze als Erholung
empfinde «lachend» gegenüber dem normalen Arbeitsalltag
(.) vielleicht kommt das dann nachher noch, wenn ich mehr
workshops gemacht habe (.) aber ja für mich war das ein
bissehen die Motivation, das dann auch zu wollen (.) äh
248 6 Empirische Ergebnisse

dass man eben (.) freier wird, wenn man jetzt vor Gruppen
sprechen muss. U (MODIBE/267)

Das späte .Wollen" von MODIBEE beschreibt die nachträglich legitimierte .ge-
wisse freiwillige" Entscheidung. Honneth (2002) beschreibt diese Vorgehensweise
als ein neues Anspruchssystem für die Beschäftigten, das die Arbeit als Berufung
thematisiert:

"Deren Motivation muss intrinsisch allein auf das beanspruchte Tätigkeitsprofil


zugeschnitten sein. sie müssen unterschwellig die Bereitschaft besitzen, jeden Ar-
beitsplatzwechsel als Ausfluss einer eigenen Entscheidung zu präsentieren. und das
Engagement muss insgesamt dem Wohl des ganzen Unternehmens gewidmet sein."
(HonDetb 2002: 153)

Im dargestellten Fall ist das Engagement in erster Linie einem subjektiven Wohl
gewidmet (z. B. frei vor Gruppen sprechen zu können), das sich indirekt aber wieder
als Teil einer Unternehmenskultur verorten lässt. Dort ist nämlich die intrinsische
Motivation, persönlichen Fähigkeiten immer weiterzuentwickeln, ein erklärtes Ziel
und somit steht die Entwicklung eigener Fähigkeiten von MODIBEE im Interesse
des Unternehmens.

6.2.6 Zwischenfazit

Nicht nur die besondere Rolle der Moderatoren im Rahmen der Implementierung
eines KVP ist der Grund, weshalb sich ein genauerer Blick auf sie lohnt, sondern
auch ihre Eigenschaft als Beweisfignr für die wahren Absichten des KVP und als
ambivalente Bewahrer einer Scheinwelt. Als neuer emergenter Zusammenschluss
ist es möglich, dass die Gruppe der KVP-Moderatoren eine neue betriebliche
Fignration im Fallbetrieb bildet.

6.3 Vermarktllchung - Das Eindringen der Marktlogik In


den produktiven Kern (Ausbau der Kontingenz)

Die Unbestimmtheit des Marktes wird in GPS direkt an die Beschäftigten wei-
tergegeben und während der Arbeit durch den sogenannten Kundentakt wahr-
genommen, der sich in schwankenden Stückzahlen pro Tag ausdrückt oder in
der andauernden Betonung der Kundenwünsche, die bei der Ausführung von
6.3 Vermarktlichung 249

Tätigkeiten handlungsleitend sein sollen. Vermarktlichungsstrategien haben einen


Einfluss auf die Leistungsintensivierung im Arbeitsprozess. Die Vermarktlichung
wird im untersuchten Fallbetrieb als Lösungsversuch zur Relativierung des Trans-
formationsproblems (siehe Abschnitt 3.1) eingesetzt und drückt sich in vielfaltiger
Weise aus wie die folgenden Ausführungen belegen.

6.3.1 Zeitökonomie - "Stillstand ist Rückschritt""'-


Hauptthese der betrieblichen Reorganisation

Im Diskurs erarbeiten die Befragten der Gruppendiskussion GEMA die Leitthese


der betrieblichen Organisation im Fallbetrieb: Stillstand ist Rückschritt. Die Be-
schäftigten wollen nicht zu den Verlierern gehören, zu denen, die auf der Strecke
geblieben sind. Wie die folgenden Ausftihrungen von GEMAC zeigen, müssen
sie dafür in Bewegung bleiben und offen für Neues sein (vgl. auch Kocyba 1999).
"Normales" soll infrage gestellt werden und indem sie sich "an die eigene Nase
fassen" (GEMAC/9), kontrollieren sie sich selbst (Selbstknntrolle). Stillstand, der
Rückschritt bedeutet, gleicht der Bewahrung von Verhältnissen und dem Erhalt
von Arbeitsweisen (dem .alten Stand"). GEMAC und GEMAE formulieren das
Motiv der kontinuierlichen Bewegung als eigene Anforderung, die im KVP-Work-
shop begrenzt wirksam wird. Die Beschäftigten tragen selbst die Verantwortung
dafür, nicht stehen zu bleiben (Selbstverantwortung), um damit zur selben Zeit
das Unternehmen in Bewegung zu halten:

wIch sag' mal: Stillstand ist Rückschritt. Man muss sich,


ja im Grunde genommen jeden Tag an die eigene Nase fassen
und ähh, gucken kann ich irgendetwas verbessern, um meine
Arbeit noch effektiver zu machen. M (GEMAC/9)
wKVP sagt ja aus: Kontinuierliche verbesserungs prozesse,
das heißt ja, man muss immer wieder was Neues hören, se-
hen, mitmachen etcetera, nicht nur immer so auf den alten
Stand bleiben, wie man~s früher einmal gemacht hat, sage
ich mal, offen sein für alles, immer was Neues ausprobieren
etcetera. So das, sehe ich da so.U (GEMAE/12)

Sennett spricht gar von der "Furcht davor, nichts zu tun", denn "in einer dyna-
mischen Gesellschaft ist der Stillstand wie der Tod" (Sennett 2000: 116). Rosa
in Bezug zu Sennett sagt, dass diese These zu einem "ökonomisch irrationalen
Hyper-Aktivismus führe" (Rosa 2005: 277, Fußnote).

116 GEMAC/9.
250 6 Empirische Ergebnisse

6.3.2 Kontingenz des Rahmens

Die von den Beschäftigten ohne KVP-Partizipation entdeckte Formel ..Wege sind
Zeit" löst ein Nachdenken darüber aus, wie es wäre, wenn die Möglichkeit der
Partizipation bestünde. Sie decken mithilfe der Formel das Dilemma .Bequem-
lichkeit" versus .. Rationalisierung" auf. Die von den Beschäftigten durchschaute
Kausalität verlangt also eine stärkere Langsicht ihrer Handlungen:

"Das Problem ist ja auch noch, wenn man irgendwas umsetzt,


dann kommt ja gleich als Nächstes der Zeitnehmer und guckt
dann und nimmt die neuen Zeiten und entwirft dann 'ne
neue Zeitmatrix und in die passt sich dann ja oder ähm die
ist dann ausschlaggebend von der Stückzahl her, wie viel
Leute dann eingesetzt werden und dann wie sie [STEWEBf,
M.F.] ja sachte muss man sich schon überlegen äh was man
da vorschlägt. Ob das dann nicht im Bnde~ekt zum Nachteil
wird und dann wie STBWEE sachte, dass dann ähm wenn dann
mit den unterschiedlichen Stückzahlen, dass man da mal zu
dritt da drin ist und mal zu viert und. u (STEWEC!521-525)

Doch selbst die Reflexion möglicher Handlungsfolgen reicht nicht für eine seriöse
Prognose. Die Rahmenbedingungen sind derart kontingent, STEWE formuliert
es wie Kursschwankungen am Aktienmarktmarkt (..von 61 auf 79 auf 97"), dass
eine Vermutung beeinträchtigt ist:

"Dann passt es ja auch nicht mehr. Wenn man jetzt 'ne


konstante Term äh, Geschwindigkeit hat immer, dann kann
man sich's ja so einstellen, aber es geht ja nicht. Wir
tauschen ja, wir verändern die Stückzahlen stündlich. [_.]
Das geht von 61 auf 79 auf 97 und wieder runter und dass
da kann man sich und dann wird immer wieder die Regale
hin und her geschoben. u (STBWEE!500 u. 503)

Die Beschäftigten sind unsicheren Bedingungen in Form schwankender Stück-


zahlen ausgesetzt. Das macht Entscheidungen so schwer. Die Arbeitsorganisati-
on, also der Einsatz von Personal, kann nicht so schnell auf die Schwankongen
reagieren, wie sie müsste. Da die Größe des Teams sich nach den Stückzahlen
richtet, müssten bei jeder Schwankung Mitarbeiter zu- oder abgefübrt werden
(Regale auf Rollen reichen nicht aus). Die Flexibilität bei den Stückzahlen findet
keine Entsprechung beim flexiblen Personaleinsatz. Die Flexibilität in Form
unterschiedlicher Stückzahlen wird in Zeitmatrizen festgehalten. Bürokratie,
Taylorismus und ein frerndbestimmtes Zeitregime sind Referenzfollen für eine
6.3 Vermarktlichung 251

flexibilisierte Produktion. Die alten Strukturen gelten genauso wie die flexibili-
sierten Strukturen (Gleichzeitigkeit alten und neuen Logik; s. auch strategischer
Mix). Im Begriff .flexible Standardisierung" (vgl. Pfeiffer 2007) soll der eigentliche
Widerspruch von Statik und Prozess aufgelöst werden. Das Unternehmen spielt
in den Ausführungen als Unterstützer dieser Prozesse keine Rolle. Die Flexibilität
erscheint nicht praxisgerecht, sondern propagiert und spielt in der betrieblichen
Praxis keine Rolle (vgl. Lohr/Nickel200S: 214f.). Diese Semantik entspricht daher
eher einer .strategischen Vision" (Kocyba 1999) als einer .eropirisch gesicherten
Zustandsbeschreibung" (ebd.).
Die Beschäftigten müssen viele nene Variablen bewältigen: weniger Mitar-
beiter im Team. mehr Arbeitsgänge (als Ergebnis eines KVP-Workshops) sowie
schwankende Stückzahlen (als direkte Anbindung an den Kundentakt). Selbst die
Reduzierung der Stückzahl pro Tag entspricht keiner Erleichterung der Bedingun-
gen, da sich die Zahl der Arbeitsgänge erhöht hat:

wSO, dann is man mal mit der Stückzahl runtergegangen, aber


du hast ja wesentlich mehr Arbeit, ne? Dat passt nicht!U
(STEliEE/516 u. 518)

Die Produktionsmitarbeiter diskutieren auf einer Metaebene über Vorgänge.


die sie am Ende - im Gegensatz zu allen anderen - stofflich bewältigen müssen.
Selbst wenn das Konzept diese Ambivalenzen und zwiespältigen Anforderungen
erzeugt. bewältigen die Produktionsmitarbeiter sie mit der eigenen subjektiven
Leistung. Worüber eben noch diskutiert wurde, wird im nächsten Moment als
600ster verbauter Seitenspeigel real.
Die von den Befragten indirekt formulierte Forderung an das Unternehmen ist
im Grunde einfach zusammengefasst: Stoppt die Unsicherheit! Eine konstante Ge-
schwindigkeit des Bandes würde bedeuten, dass .man sich's ja so einstellen [kannl.
aber es geht ja nicht" (STEWEE/SOO). Die Folgen der Schwankungen bedeuten
die Missachtung der Standards. die unter dem Zeitdruck nicht mehr eingehalten
werden können (schmeißen statt legen): .in ner Kiste rein geschmissen. egal" (STE-
WEE/S07). Die Beschäftigten müssen auf die neuen Anforderungen mit weniger
Sorgsamkeit reagieren. Die zwiespältigen Anforderungen. Arbeitsverdichtung und
gleichzeitige Sorgfalt zur Einhaltung von Standards müssen von den Beschäftigten
selbst bewältigt werden. Der eigene Anspruch der Beschäftigten an eine sorgfaltige
Ausführung der Arbeitstätigkeit ist kein Theroa im Konzept der Reorganisation
und wird missachtet. Der Beschäftigte und sein Anspruch an die Erledigung der
Arbeitsaufgaben findet keine Beachtung. Das Unternehmen fragt den Beschäftig-
ten nicht nach dem Niveau seiner Standards und der (Qualitäts-) Ansprüche an
252 6 Empirische Ergebnisse

seine Arbeitstätigkeit oder ob er überhaupt eines besitzt. Das Unternehmen geht


davon aus, dass es nicht gut genug ist und verbessert oder zumindest verändert
werden muss; nach dem Motto des .irrationalen Hyper-Aktivismus" (Rosa 2005:
277, Sennett 2000: 99ff.): anders ist immer besser. Das Unternehmen ist mithilfe
der Kaizen-Methode bestrebt, informelle Spielräume zu formalisieren und damit
beherrschbar zu machen. Nach Balte und Porschen lässt sich das Informelle als
erfahrungsgeleitetes Wissen jedoch nur unterstützen und nicht von außen steuern,
festlegen und kontrollieren (vgl. Bolte/Porschen 2006: 67).
Auch wenn die Produktionsmitarbeiter als .Experten" gehandelt werden, zeigt
ihre Behandlung das Gegenteil und die Bezeichnung .Experte" erweist sich als
instrumenteller Begriff und als Versuch, die Beschäftigten zu umschmeicheln.
Da die Ziele des Workshops bereits .beschlossene Sache" sind, erscheint die Ein-
beziehung der Beschäftigten als sogenannte Experten in den Workshops als eine
Scheindiskursivität (vgl. MOD4). Sie sollen im Grunde wie zu Taylors Zeiten ihr
Erfahrungswissen (Expertenwissen) bereitstellen, das ihnen dann enteignet und
als fremde Arbeitsanweisung wieder vorgesetzt wird (vgl. Moldaschl2010: 268).

Routinierte Rotation
Flexibilität zeigt sich fUr die Beschäftigten bereits in der Rotation der Arbeitsgänge.
Innerhalb der Figuration des Vertrauenskörpers ist eine marktorientierte Sprache
vorzufinden, die daraufhinweist, dass die Marktlogik bereits in den produktiven
Kern vorgedrungen ist. Die Ausführungen von GENEE machen deutlich, dass
sie mit-verantwortlich für die Wettbewerbsfahigkeit des Betriebes sind, indem
er feststellt, dass jeder Workshop ein Maß an Effizienz erarbeiten muss. Seine
besondere Aufgabe als Vertrauensmann besteht nun darin, den Umfang von
Effizienzerbringung, dessen Notwendigkeit aufgrund des von ihm konstatierten
Zwangs zur Wettbewerbsflihigkeit entsteht, zu regulieren. Rationalisierung endet
für ihn allerdings dort, wo auch das .Machbare" endet:

wDaSB man ein gewisses Potenzial an Ratio bringen muss,


das ist jedem bewusst, also das weiß ich als Vertrauens-
mann sofort, wenn wir einen workshop machen. wir müssen ja
auch wettbewerbsfähig bleiben, das ist halt so, ne? Aber
es muss nicht im großen Maß, nicht so passieren und ich
weiß auch selbst, was in einer Gruppe machbar ist und was
nicht machbar ist. u (GENEE/I06)

GENEC spricht von einem "gegenhalten" (GENEC/209) gegen die ökonomischen


Interessen des Unternehmens und so liefern GENEC und GENEE einen Hinweis
auf die .rebellische (oppositionelle) Subjektivität" (Dörre et al. 2011: 46f.), die sich
6.3 Vermarktlichung 253

der totalen Vereinnahmung des Selbst in den Weg stellt und aktiv die Flexibili-
sierung begrenzt.

6.3.3 Die Erweiterung der .undankbaren Aufgabe-


des Vertrauensmanns

Das Unternehmen hält Distanz und überlässt den Workshop-Teilnehmern die


Aufgabe, das Team zu informieren. Aufgaben, die ehemals dem Management
vorbehalten waren, übernehmen jetzt die Beschäftigten selbst. Sie sind eio Hinweis
auf die Dezentralisierung als Aspekt eines Eindringens der Marktlogik in den
Produktionsbereich. Das Management tritt zur Seite und nicht "an die Gruppe
ran" (BESAC/201). BESAC macht io diesem Zusammenhang die ursprüngliche
Aufgabe des Unternehmens deutlich, um die diffusen oder auch fehlgeleiteten
Aufgabenzuschreibungen wieder zu be-grenzen (s. auch GENEF/204 .Gegen-
druck fehlt"):

... Es ist auch (.) vielleicht ist das auch ,n Problem von un-
serer Führunq oder von den Leuten, die da diesen Workshop
mitmachen und dann später hin das durchqeboxt wird, dass
da irqendwo was passiert in dem Bereich, dass die selber
nicht mal an die Gruppe ran treten. Wir sind ja (.) wir (.)
äh (.) dafür harn wir ja diese Teamarbeit, dass man immer
qreifbar is', saq' ich mal. Das Team macht die Arbeit, so,
und da kann man doch einmal in die Gruppe reinqehen und
den Leuten das eben vernünftiq erklären. Und wenn man sich
da mal ,ne halbe Stunde Zeit für nimmt und einfach nur
sacht: Pass' auf, ich erklär euch das jetzt mal als Füh-
rung, als Führungsperson. Ich erklär' euch das jetzt mal.
So und so ist das, das und das ham wir gemacht und so MUSS
es gehen.· (BESAC/201)

Die Verunsicherung entsteht durch die nicht mehr eiodeutige Rollenverteilung im


KVP (Entgrenzung). Die Vertrauensleute und Teamsprecher verhandeln qualitative
und quantitative Arbeitsbedingungen auf der individuellen Ebene. Die Kommu-
nikation der Ergebnisse, also gravierende Veränderungen im Personaleinsatz und
Arbeitsintensität, erfolgt auf gleicher Ebene. Eioe Aufgabe, die die Grenzen zwischen
den Funktionen verschwimmen lässt. Die Vertrauensleute und Teamsprecher
arbeiten nicht nur selbst an der Rationalisierung mit, sie kommunizieren sie auch
noch als Gemeinschaftsarbeit, sodass es sich für die Kollegen im Team darstellt
als sei BESAC .auf Arbeitgeberseite" (ebd.).
254 6 Empirische Ergebnisse

6.3.4 Das Tabuthema Leistungsintensivierung als Folge des


KVP oder: die "gefühlte Leistungsverdichtung U117

Im Rahmen der Queranalyse der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit


den KVP-Moderatoren ergab sich das übergreifende Thema der Leistungsintensi-
vierung als Folge des KVP. MI wagt es, das Tabuthema nicht nur anzusprechen,
sondern es mit Einschränkungen sogar zu brechen:

".Und sehen immer die Gefahr: Ich muss mehr arbeiten und
letztendlich krieg' ich nichts dafür. Obwohl es natürlich
auch Beispiele gibt für Ergonomie-Verbesserungen oder (.)
ja Arbeitsablauf und so. Es gibt schon, es gibt auch Bei-
spiele, wo auch die Leute merken: Mensch, es ist ja gar
nicht so schlecht. Das gefällt mir besser, so zu arbeiten.
Aber im Grunde genommen ist ja immer doch eine Art Leis-
tungsverdichtung ist da immer mit drin. Jedenfalls gefühlte
Leistungsverdichtung für die Leute." (MOD01/147)

Die gefühlte Leistungsverdichtung steht im Gegensatz zur quantitativen Leis-


tungsverdichtung. Die Moderatoren vermitteln ein Thema, bei dem sie selbst wi-
dersprüchlich sind. Vor dem Hintergrund dieses Stürgefübls schwebt der gesamte
KVP. MODIBD wagt die Beschreibung einer Folie, auf der mithilfe einer Kreis-
darstellung der Aspekt des ,Streichens einer Verschwendung und Auffüllens mit
wertschöpfenden Tätigkeiten' bildlich und vereinfacht dargestellt wird. MODIBD
kann davon ausgehen. dass alle in der Gruppendiskussion diese Folie kennen. Er
macht klar, dass auch er (nicht nur die Teilnehmer eines Workshops) überrascht
über diesen Aspekt gewesen sei ("mit dieser einen Folie, da bin ich auch am Anfang
drüber gefallen", MODIBD/462):

".Da ist eine Kugel dargestellt und da ist eine Verschwendung


drin und dann kommt noch 'ne Leistungsverdichtung dazu und
dann ist es keine Kugel mehr, sondern sieht es irgendwie
aus wie so ein komisches rundes [eieriges] [Iut: wie ein
ei, mhml Gebilde." (MODIBD/464/466)
".Die Verschwendung äh die fällt raus (.) so und ja was kommt
dann dazu äh 'ne wertschöpfung, ne? Und dann sagen natürlich
auch viele: Oh, das ist ja doch 'ne Leistungsverdichtung.
Aber da muss man natürlich auch ehrlich sein und ein Stück
weit mal so sagen: Ja, natürlich ist das so." (MODIBD/472)

117 MODl/147.
6.3 Vermarktlichung 255

MODIBD hat das Tabu gebrochen und bestätigt die wachsende Leistungsverdich-
tung. Er entschärft seine Äußerungen allerdings nach einem Einwand von MODIBA
(475), den Begriffleistungsverdichtung nicht im Workshop zu verwenden, indem
er die offizielle Definition, also die präzise Begri1llichkeit, wiedergibt (.da steht"):

"Ja, ich will nicht sagen, ich will nicht sagen Leistungs-
verdichtung • Hab l ich jetzt falsch mich ausgedrückt, da
steht: neue Aufgaben kommen hinzu, BO. Und dann andere: ha,
jetzt kommen dann doch wieder Aufgaben hinzu. u (MODIBD/477)

Der Vorteil, diese Begriffe zu nutzen, besteht darin, dass sie von allen Instanzen
(Vorstand und Betriebsrat) akzeptiert werden und auf den ersten Blick keine
Widersprüche und Unsicherheiten enthalten. Infolgedessen kaon auch der eigene
Widerspruch überlistet werden, wenn man sich nur an das Konzept hält. Außerdero
ist es möglich, sich auf die Begriffe zu stützen, da sie eine formale Machtquelle
darstellen:

"Also es gibt ja in Sätzen hundertachtzig Folien und wenn


wir da die eine oder andere ausblenden wollen, dann können
wir das tun und das tun wir auch. Es ist aber nicht so,
dass ich jetzt eigene Folien da reinbringe. Das nicht, weil
das ist ja nicht abgesprochen mit dem (.) Sozialpartner in
dem unternehmen. u (MODlBA637/639)

MODIBA stellt die Aussage von MODIBD nicht infrage. Zunächst hat es den
Anschein, dass er die Tatsache verneint und es sich um Leistungsverdichtung
handelt, doch im Grunde warnt er davor, es nicht im Workshop zu wiederholen
(Verschleierungstaktik):

"Aber ich würde nicht sagen, dass es eine Leistungsver-


dichtung ist, weil meine Meinung ist, wenn ich das sage
in einem Workshop (.) dann hab ich verloren. M (MODlBA/475)

Mit der Verschleierungstaktik und dem Rückgriff auf offizielle Begriffe werden
Hinweise auf das von Weltz beschriebene Potemkin-Syndrom auf betrieblicher
Ebene gegeben. Er erklärt, welche Bedeutung der Rhetorik in dieser Scheinwelt hat:
"Man versichert nicht nur der Welt, sondern vor allem sich selbst, immer wieder
aufs Neue, daß alles in Ordnung sei - und wird so selbst zum Gefangenen der
Rhetorik" (Weltz 2011: 78). In diesem Zusammenhang bedeutet .in Ordnung" in
erster Linie, dass Paradoxien und Ambivalenzen nicht existieren. Indem sich die
Moderatoren diesen Aspekt immer wieder bestätigen, glauben sie es fast selbst. Mit
256 6 Empirische Ergebnisse

Rhetorik sollen Widersprüche eliminiert werden. Die KVP-Moderatoren haben


die besondere Aufgabe, sprachlich widerspruchsfrei zu bleiben. GENEE formuliert
die Bedeutung von Sprache:

"Das Problem ist, dass da vorne sind immer geschulte Leu-


te, die wissen, wie sie WAS umschreiben müssen, das wissen
viele halt nicht. Und das ist schon n' Problem wenn, das
muss man wissen. M (GENBE/139)

GENEE spricht von denen .da vorne", den Moderatoren, und bescheinigt ihnen die
Fähigkeit mit Rhetorik umgehen zu können und Sachverhalte zu .umschreiben",
statt zu ,be-schreiben'. Die anderen, um die es in dem Zitat geht, sind die PMA,
die alles ohne Umschweife auf den Punkt bringen (im Zusammenhang mit einer
Verhandlungssituation ist diese Eigenschaft allerdings weniger hilfreich und daher
benennt GENEE es hier als .Problem").
Für M3 ist die Leistungsintensivierung der Beitrag der Produktionsmitarbeiter,
den sie zum eigenen Arbeitsplatzerhalt leisten können. M3 macht seinen Stand-
punkt sehr ausföhrlich deutlich:

"Dass er seinen eigenen Arbeitsplatz MITgestalten kann.


Das halt ich eigentlich für sehr wichtig. Dass er ei-
gentlich weiß: wo komm ich her? Also es ist ja häufig BO,
dass ich 'n vorgefertigtes SCHEMA VORfinde und übernehm
das einfach ohne nachzudenken. Mir wird kurz gezeigt, wie
muss ich das machen? (.) und dann mach ich das erst mal
so, ne? Und jetzt kommt natürlich dazu (.) WIE (.) WER,
WER bringt mich auf die Idee, was NEU zu betrachten? Ich
hab' ja erst mal von MIR aus keine veranlassung, das zu
machen. Gerade wenn's bequem ist sowieso schon nicht. Das
heißt, man will ja auch dann den Leuten was wegnehmen und
n bissehen Produktivität bringen und das bedeutet für mich
zuerst natürlich 'ne VERAENDERUNG (.) und in der Regel ist
das SO, WAS ich nicht möcht ist, MICH VERAENDERN. Schon
gar nicht aus eigener Kraft. Natürlich zu meinem Vorteil.
Klar, denn wenn mir was in den Schoß fällt, nehm ich das
mit (.) aber Dinge, die erst mal 'n AUFwand von mir er-
fordern, die schieb' ich erst mal gerne nach hinten (.)
und ähm (.) da denk I ich mal ähm (.) DA wird KVP den WEG
AUFBRECHEN und sagen: Das (.) das ist dann auch der NUTZEN
für den Mitarbeiter zu sehen: ICH sichere eigentlich (.)
ICH TRAG" eigentlich dazu bei, dass ich meinen Arbeitsplatz
auf lange Zeit SICHER. Denn man muss ja auch sehen: WO
steht man im Gefüge? wir bauen hier so 'n HIGH-END-Produkt
hier in [Ort des Fallbeispiels] und wir können eigent-
6.3 Vermarktlichung 257

lieh Leute INTEGRIEREN mit WENIG VORBILDUNG und sagen:


Okay, wir schallen euch auf lange Sicht hier 'n SICHEREN
Arbeitsplatz, 'n GUT BEZAHLTEN, SICHEREN Arbeitsplatz und
dann bitte schön, kann ich auch von euch erwarten, dass
ihr 'n Stück weit dazu beitragt, dass es SO BLEIBT. Und
DIESEN Beitrag seh ich auch im KVP. Also, die BAUsteine zu
VERINNERLICHEN und zu sagen: KLAR, Gr~itenoptimierung,
ICH muss zwar jetzt zwei Schrauben mehr anbringen, aber
ich muss die Dinger ja auch nicht mehr holen. Im prinzip
hat sich keine Leistungsverdichtung ergeben: DANN mach'
ich das auch mit. Und DAS halt ich auch für den Beitrag,
den die Mitarbeiter können. u (MOD3/113)

In diesem Kernzitat macht M3 seine Betrachtungsweise des MachtgefaIles im


Fallbetrieb deutlich. In Dankbarkeit gegenüber dem Betrieb soll der PMA mit
"wenig Vorbildung" Veränderungsbemühungen zeigen; schließlich hat er einen
Arbeitsplatz in einer High-end-Produktion bekommen. Der Teil der Belegschaft,
der sich aus Facharbeitern zusammensetzt, wird von M3 nicht angesprochen. Um
seine Argumentation des "Veränderungswillens aus Dankbarkeit" zu stützen,
stehen die Un- und Angelernten der Belegschaft im Mittelpunkt der Beschrei-
bung. Wenn ein Beschäftigter lediglich froh darüber sein kann, überhaupt im
Fallbetrieb zu arbeiten, sind ihm im Prinzip die Hände für Forderungen und
Teilhabebemühungen gebunden. Seine Handlungen spielen sich lediglich in
einem engen Spielraum ab, der von Demut begrenzt wird. Das Bild, das M3
zeichnet, entspricht nicht der zeitgemäßen Auffassung eines Produktionsrnit-
arbeiters, der gleichberechtigt, selbstbestimmt und selbstverantwortlich an der
Erwerbsarbeit teilnimmt. Die Art und Weise, wie M3 die Moderatorentätigkeit
gestaltet, stützt sich auf seine Bewertung der antriebslosen Beschäftigten. Er
agiert als "Antreiber" für eine Belegschaft, die aus eigenen Stücken keinen
Veränderungswillen beweist.
Der Schutz des Arbeitnehmers wird aufgelöst, der selbstverantwortlich seinen
Arbeitsplatz retten muss (Vermarktlichung). Dass er diese Verantwortung über-
haupt besitzt, verdeutlichen Kollegen. Eigene Ansprüche und Erfordernisse der
Beschäftigten an die Arbeitssituation werden von M3 nicht angesprochen gebracht.
Sie sind für ihn keine mündigen Erwerbsteilnehmer und müssen geführt werden.
Mit Bewegungsmetaphern (..wir müssen uns bewegen" MOD4/47) und dyna-
mischen Bildern (..hab' hier viele, tolle Leute kennengelernt und ALLE die so n'
bissehen das Werk ANSCHIEBEN wollen" MOD04/51) appelliert auch M4 an die
Selbstverantwortung der Produktionsrnitarbeiter. Er baut ein Angstszenario auf:
Stillstand würde Ertrinken bedeuten.
258 6 Empirische Ergebnisse

M4löst die Angst vor Leistungsverdichtung nicht auf. Die PMA sollen allerdings
ihre pessimistische Haltung aufgeben, offensiv sein und Selbstverantwortung
übernehmen: Für .gutes Geld' mehr leisten. langfristig Denken und Selbstver-
antwortung zeigen:

wAlle Mitarbeiter DENKEN, die in einem KVP reinqehen, dass


sie jetzt MEHR machen MUESSEN. Also, die Wer (.) EINIGE
WERKER sehen da KEINEN Vorteil drin. Hast du vielleicht
auch schon mal festgestellt. Weil ALLE denken: Jetzt krie-
gen wir irgendwas an die Backe, ~s wir gar nicht wollen,
ne? Hab' ich schon gesagt. Das ist dieser INSELBLICK: Es
war schon IMMER SO. ~UH sollten wir'8 dann jetzt indern?
Aber dann sollten die Leute auch mal die TAGESSCHAU sich
angucken ja? Und GUCKEN WAS in der Welt los ist. Und dass
hier (.) DASS ALLE Mitarbeiter HIBR GUTES GELD verdienen,
ne? Und dass wir das auch noch in (.) nach [Jahreszahl]
auch noch bekommen. u (MOD04/l22)

Man will den Leuten ihren Job nicht wegnehmen. nur versuchen, das Bestmögliche
aus dem Prozess (Wertschöpfung erhöhen) rauszuholen. Als Agent des Unterneh-
men. fordert er die .totale Mobilmachung" (Bröckling 2000) der Beschäftigten.
M4 artikuliert den Rationalisierungsgedanken ambivalent:

".Man will den Leuten ja IHREN JOB nicht wegnehmen. Man


will nur halt versuchen, das BBSTMOEGLICHE aus dem Prozess
rauszuholen, um keinen zu ÜBERlasten. Die Arbeit MUSS zu
SCHAFFEN sein. Die Arbeit muss erledigt werden, auch in der
passenden Qualität, weil wir keinen UEBERfordern. u (MOD04/23)

Leistungsintensivierung im Zuge des KVP wird von allen Moderatoren indirekt


bestätigt und höchst ambivalent artikuliert.
MODIBE zum Beispiel bedient sich der offiziellen Formulierung des Konzepts
und kontrastiert: Die Mitarbeiter müssen nicht mehr leisten, sondern sinnvollere
Tätigkeiten ausführen. Leistungen. die als Verschwendung deklariert sind. ver-
schwinden und werden mit sinnvollen Leistungen aufgefüllt (Tausch). MI nennt
es .gefühlte Leistungsverdichtung" (MODI/147). die die Beschäftigten erleben.
Der empfundene Leistungsgrad wird intensiviert und die mathematisch errech-
nete Fehlleistung wird verringert. Mehr Handgriffe in kürzerer Zeit verdichten
die Handlungen der Produktionsmitarbeiter. Laufwege. die den Beschäftigten
als Erholzeiten dienen. entfallen und führen nach MTM zur Reduzierung von
Fertigungszeit (Erhöhung der Produktivität). Das ist ein weiteres Beispiel für
die Doppelwirklichkeit des Fallbetriebs: die Beschäftigtenwirklichkeit und die
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 259

mathematische Wirklichkeit des Industrial Engineering... Sinnvoll" erweist sich


als kontingenter Begriff, der anhand verschiedener Präferenzordnungen definiert
werden kann. Im vorliegenden Fallbeispiel wird ..sinnvoll" zu einem ökonomischen
Ellizienzkriterium erklärt und die machtvollere Figuration (Unternehmen) nutzt
dafür ihren Deutungsspielraum aus. Eine Tätigkeit, die transparent, äußerlich
und somit messbar ist, erhält den ökonomischen Sinn und beschreibt ein weiteres
Beispiel für das Eindringen des Marktes in Form von Kundenwünschen in den
produktiven Kern:

wAber das ist qenau der Punkt, bei dem man ansetzen muss,
dass man den Leuten klar macht, sie müssen nicht mehr
leisten, sondern nur (.) SINNvollere Tätigkeiten ausführen,
statt sich mit verschwendung aufzuhalten. M (MODIBE/43)

Wie gehen die Moderatoren mit den (unausgesprochenen) Anforderungen und


Ambivalenzen um, die das Reorganisationskonzept in sich birgt? Sie verzichten
bewusst auf die Artikulation der Tabus (z. B. das Thema Leistungsverdichtung als
Ziel des KVP), das sie auch den Vorgesetzten, die an KVP-Workshops teilnehmen,
deutlich machen:

wVorgesetzten in den Gesprächen, denen zu sagen: Mensch,


eure Rolle ist jetzt die SChlüsselposition. Wenn ihr da
jetzt nicht mitmacht und wenn ihrs vielleicht denkt und ihr
denkt das, aber sagt es nicht, also so, ne?M (MODIBA/827)

Die Moderatoren bewegen sich im Tabufeld: nur denken, nicht aussprechen.

6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation

Verantwortung wird in der Organisationstheorie (vgl. Kieser/Walgenbach 2010)


meist nüchtern mit Belohnung, Strafe und Hafiung in Beziehung gesetzt: Wer trägt
in einern Betrieb für eine bestimmte Aufgabe die Verantwortung und kann für
Probleme und Schäden haftbar gemacht werden oder im besten Fall eine Anerken-
nung erhalten? Im untersuchten Fallbetrieb, der hierarchisch gegliedert ist, sind
Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse und die damit verbundene Verantwortung
an Positionen gebunden und damit relativ eindeutig geregelt.
Betrachtet man nun die Vorgänge im GPS weicht diese relative Klarheit einer
Unsicherheit. Die Verantwortlichkeiten zeichnen sich nun eher durch Diffusität
260 6 Empirische Ergebnisse

und Kontingenz aus. Es erscheint für die beteiligten Beschäftigten nicht klar, welche
Position in welcher Weise Ansprechpartner für Probleme und Entscheidungen im
Rahmen der KVP-Aktivitäten sind. Im Folgenden werden einige Aspekte zum Motiv
der unklaren Verantwortung im Rahmen des KVP, wie sie sich den Beschäftigten
und den KVP-Moderatoren darstellt, beschrieben.

6.4.1 Kein Adressat für Verantwortung oder:


Der nGegendruck""· fehlt

Auf die Frage in der Gruppendiskussion GENE, ob es aufgrund des KVP zu mehr
Verantwortung für sie gekommen sei, stellt GENEH fest:

"Also, bei uns ist das so, mehr verantwortung würde ich
nicht sagen. Du hast jetzt zwar jede Menge Telefonnummern,
wo du dich dran wenden kannst, ne? Die dann was verbessern
können, wollen, aber eigentlich so nicht machen." (GENEB/201)

Perspektive GENEH (PMANertrauensmann):


Der von GENEH dargestellte Kontrast verweist zunächst auf einen erweiterten
Kommunikations- und Handlungsspielraum. Die Telefonnummern als eine neue
ioformelle Machtquelle .Kommunikationswege" und .totale Kommunikation" (vgl.
Bröckliog 2000) lösen keioe dauerhafte und gesteigerte Verantwortung aus. Ohne
die formalen Wege einzuhalten und den Teamsprecher oder Meister einzubeziehen,
versucht der Vertrauensmann GENEH, die neuen Kontakte aus dem Workshop
zu nutzen. Er kann allerdings keioe Verantwortung für sich feststellen, da diese
keinen Adressaten findet, denn die Kontaktierten wollen und künnen helfen, tun
es aber schlussendlich nicht. Seioe proaktive und selbstveraotwortliche Handlung
läuft ins Leere und so geht der PMA nicht von einer gesteigerten Verantwortung
als Folge des KVP aus.
Die Struktur, auf die seine Bemühungen stößt, ist fordistisch geprägt. Sein
Anrufbewirkt keine Aktivitäten, da sich der Kontaktierte nicht verpflichtet fühlt
zu haodeln. Selbstverantwortung ist für ihn nicht intrinsisch motiviert. Die nenen
Kontakte sind demnach keine indirekte Aufforderung des Unternehmens an den
PMA, nun selbst und ohne Berücksichtigung der formalen Vorgänge zu handeln.
Die entgrenzte Zusammenarbeit galt lediglich im Workshop und verliert außerhalb
dieser Sozialtechnik an Wert. Sie wird nicht zur institutionellen Norm und die
Beschäftigten finden keinen Bezugspunkt in den Fachabteilungen.

118 GENEF/204.
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 261

Perspektive des Kontaktierten (z. B. aus der FachabteIlung Planung):


Die Aufforderung zu handeln kam nicht von einem Vorgesetzten, sondern von einem
Produktionsmitarbeiter, der in seiner Position keine Rechte geltend machen oder
sich auf etwas beziehen kann, außer an die Selbstverantwortung seines Kontaktes
zu appellieren. Diese Form der Kooperation wurde jedoch nicht formalisiert oder
institutionalisiert (Bolte/Porschen 2006: 21). Verantwortung gilt demnach nur,
wenn sie eine offizielle Forderung darstellt, also den agentschaftshierarchischen
Abläufen der Organisation folgt.
Für selbstorganisatorisches Handeln in einer arbeitsteiligen, formalisierten
Organisation gilt, dass sie nur dann wirkungsvoll ist. wenn der Ansprechpartner
dem gleichen Prinzip folgt oder Selbstorganisation eine anerkannte und betrieb-
liche Anforderung darstellt. Eine Verbindung zwischen Formalität und (Selbst-)
Verantwortung stellt auch ein KVP-Moderator im indirekten Bereich her:

"verantworten in dem Sinne, ich weiß gar nicht, was kann


man da antworten. Es gibt ja keine Verantwortung. Es ist ja
niemand da, der jetzt sagt: so ihr müsst jetzt das errei-
chen. Es gibt ja keine Zahlen, Daten, Fakten. u (MODlBA/825)

Verantwortung gilt für ihn als äußerliche, fremdbestimmte Anweisung einer Person
zur Erbringung von Zielwerten. Niemand fordert explizit eine Verantwortung im
Sinne eines solchen Werts. Diese Erkenntnis lässt auf die Bedingung schließen:
Wenn keiner von Verantwortung spricht, gibt es auch keine.
Der KVP dokumentiert sich in vielfaltigen Kaizen-Methoden, die von den Teil-
nehmern in einem KVP-Workshop angewandt werden. Sobald die Beschäftigten
sich an einen Verantwortlichen im Rahmen ihrer neuer Handlungsspielräume
wenden wollen, ist völlig unklar, wer diese Person ist. Eine Reorganisation wurde
nach dem Top-down-Prinzip angeordnet und mit großem Aufwand gestartet.
Die Beschäftigten sind nun allerdings verunsichert, wer für diesen Prozess ihr
Ansprechpartner ist. Die Anforderung, sich in KVP-Workshops zu beteiligen,
war an die Beschäftigten adressiert. Doch wer ist nun wiederum ihr Adressat?
Die Verantwortung des Managements diffundiert, verflüssigt sich im Konzept
des KVP und dokumentiert sich nur noch in Form von Kaizen-Werkzeugen. Die
Verantwortung des Unternehmens wurde entpersonalisiert. Kritik., Anregungen.
Feedback und die von den Beschäftigten formulierte Bitte um Unterstützung
laufen ins Leere, so wie es GENEF als Reaktion auf einen anderen Teilnehmer der
Gruppendiskussion formuliert:

"Aber du sagst ja selbst andauernd: wir, wir, wir. Ich


merke nicht, dass von oben mal Druck kommt. Hier der eine
262 6 Empirische Ergebnisse

Punkt, ne? Wann wird das mal gemacht? Warum guckt nicht
so ein UA [Unterabteilungsleiter, M.F.] runter: hier Kol-
lege [klatscht in die Hände], wenn du deine Arbeit nicht
machen willst, versetze ich dich, mal einen Druck ausübt,
dat ist eben BO, wir müssen, ihr oder ihr Vertrauensleute
und, und oder ihr Kollegen, Druck, Druck. Es wird nur von
unten gedrückt. Von unten drücke ich bloß hoch, es muss
auch einen Gegendruck brinqen. M (GENEF/204)

In dem Zitat macht der PMA GENEF deutlich, dass es Funktionen im Unterneh-
men gibt, die ihre Aufgaben nicht ausführen. Dieses Problem ist vor allem dort zu
beobachten, wo Menschen mit der Abarbeitung von - aus Worksbops generier-
ten - Maßnahmen beschäftigt sind. Diese Beschäftigten nutzen die Möglichkeit
in dieser »Phase des übergangs", sich auf die etablierte Untemehmenskultur zu
beziehen und sich der Verantwortung für eine Abarbeitung zu entziehen, solange
es keine Anordnung von .oben" gibt. Die veränderten Aufgaben und erarbeiteten
Maßnahmen, die sich aus den KVP-Workshops ergeben, fUhren zu einem anomi-
schen Zustand der Entgrenzungll'il und zu einer fortgeschrittenen Differenzierung
ohne die entsprechende Integration und Koordination. Hier geht es um eine am-
bivalente Auflösung von fordistischen Strukturen, die aber nicht in den Köpfen
der Leute stattfindet.
Sobald keiner von Verantwortung spricht oder sie nicht schriftlich fixiert ist,
kann der Beschäftigte sich dieser Forderung entziehen. So lässt sich folgende These
formulieren: Für Beschäftigte aus fordistisch geprägten, stark arbeitsteiligen Ar-
beitszusammenhängen wird (Selbst-)Verantwortung nur dann dauerhaft aktiviert,
wenn sie institutionell unterstützt und/oder gar verlangt wird und nicht diffus
bleibt. In den angeführten Zitaten läuft sie einerseits ins Leere und andererseits
bleibt sie diffus120 •

119 Der anomische Entgrenzungszustand beschreibt die Durchlässigkeit inhaltlicher


Zuordnungen und bedeutet, dass sich nun auch die Beschäftigten mit Fragen der
quantitativen Arbeitsplanung auseinandersetzen. Zudem werden Vorgesetzten- und
Beschäftigtenfunktionen durchlässig, indem Entscheidungen für oder gegen eine
Maßnahme in der Gruppe getroffen werden sollen. Für die dort teilnehmenden
Vorgesetzten ist der Charakter des KVP, sich an das Diskurs- statt an das Befehlsprinzip
zu halten. neu und ungewohnt.
120 Reorganisation ist auch arbeitsteilig organisiert, aber nicht routiniert. Das Zusammenspiel
der spezialisierten Funktionen ist im Hinblick auf die Reorganisation nicht so routiniert,
wie im täglichen Arbeitszusammenhang und gelingt deshalb nicht so gut. Der KVP
wird so zu einer Parallelorganisation, einem ,neben der täglichen Arbeit', in der Selbst-
Aktivitäten vorausgesetzt werden. Die Menschen handeln in beiden Systemen. Am
Ende wird eine Bewertung der Leistung jedoch im herkömmlichen Handlungssystem
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 263

Menschen in einem Betrieb mit ausgeprägter Fremdregulierung bzw. mit


strenger hierarchischer Gliederung reagieren auf geforderte Selbstregulierung im
Rahmen neuer Partizipationskonzepte in unterschiedlicher Weise: 1) Sie rufen in
kontingenten Situationen nach hierarchischer Führung, 2) sie sind verunsichert,
weil nun nicht mehr klar ist, welches Handeln belohnt wird und 3) sie drängen auf
Wiederherstellung einer starken Führung (vgl. Elias 1987/2003: 243).
Es deutet sich bereits eine besondere Phase des übergangs an, die von Altem und
Neuem geprägt ist, und die im weiteren Verlauf der Arbeit näher bestimmt wird.

6.4.2 Die "ldee"12', Verantwortung zu übernehmen

Entspricht die übernahme von Verantwortung eher einer Last (psychische Belas-
tung) oder mehr einer Lust (im Sinne einer Herausforderung)?Il2 In der vorliegenden
Studie wurden viele Facetten von Verantwortung in den Gruppendiskussionen
und Einzelinterviews diskutiert, die nun vorgestellt werden.

Mehr oder weniger Verantwortung?


Die Teilnehmer von MODIB erarbeiten im Diskurs eine Abschätzung, ob sie mehr
oder weniger Verantwortung in der Moderation haben als während der täglichen
Arbeit"'. Die Bandbreite schwankt zwischen den Schätzungen: gar keine Verantwor-
tung (.Es gibt ja keine Verantwortung.", MODIBAJS25) über weniger Verantwortung
(.Wenn man sich seiner Rolle bewusst ist, eher weniger.", MODIBB/S02) innerhalb
der Moderation bis zu fast keine Verantwortung (.Im Workshop hab ich fast keine
Verantwortung, find ich persönlich.", MODIBD/S13). Wenn man sich .seiner Rolle
bewusst ist" (MODIBB/S02),liegt nach MODIBB weniger Verantwortung vor. Das
bedeutet, er wendet die formale Beschreibung der Moderatorenaufgaben an, die
besagt, dass die Gruppe für das Ergebnis verantwortlich ist. Er grenzte auf diese
Weise die Verantwortung ein, indem er wiederholt auf die Verantwortung der
Gruppe für das Ergebnis hindeutet. Den enormen Druck (.Angst", MODIBB/S23),
den die Moderatoren aufgrund eines unsicheren Verlaufs des Workshops infolge
eigendynamischer Gruppen (Kontingenz) verspüren, bewältigt MODIBB auf

erfolgen, sodass sich die Akteure vornehmlich auf die Erledigung dieser Anforderungen
konzentrieren.
121 MOD03/23.
122 Diese Frage stellte sich Preisendörfer (1985) in seiner Dissertation und stellte beide
Thesen gegenüber.
123 Die Abschätzung in Form eines Kontrasts wurde von der Interviewerin initiiert.
264 6 Empirische Ergebnisse

diese Art, also indem er wiederholt auf die Ergebnis-Verantwortung der Gruppe
hinweistl 2-4. Daraus ergibt sich eine innere Spannung rur die Moderatoren, ob eine
größere Verantwortung tatsächlich existiert und welchem Zweck sie dient. Zudem
kommt es wieder zur (emotionalen) Abgrenzung des eigenen .Ichs· und der Mode-
ratorenrolle (MODIBB/821). Führen die Aktivitäten zu einem unvorhergesehenen
schlechten Workshop-Ergebnis, kann MODIBB die Verantwortung .wegdrücken"
(ebd.: 823), indem er auf die Ergebnisverantwortung der Gruppe verweist:

"[Also ich] seh das genauso, wie MODIBD das gerade gesagt
l

hat. Also, für meinen Job, wo ich das Geld auch eigentlich
für bekomme, trag' ich 'ne sehr sehr hohe verantwortung
und fühle mich auch wirklich (.) also fühl mich in dem
Thema auch richtig drinne und (.) und das bin ICH, diese
Moderatorengeschichte ist eine Geschichte, die mir sehr
sehr viel Spaß macht, eine verantwortung, die wie wir ge-
rade gesagt haben, schon da ist, aber auf 'ner Wertigkeit
zu setzen, würd' ich das nicht mit meinem täglichen Job
auf eine Stufe setzen weil, [1] hat gerade gesagt, wenn
wir die Gruppe vielleicht nicht zielführend zum Ergebnis
hingebracht haben oder versucht haben, da hinzulenken
wie gesagt, Ergebnis für mich ist noch immer so oder das
Ergebnis aus einem Workshop trägt noch immer die Gruppe
selber. Und als Moderator kann ich auch noch so gut Wege
gezeigt haben, wo man vielleicht sich langhangeln kann,
wie man da hinkommt. Wenn die Gruppe, wenn die Gruppe das
Ergebnis nach den zwei Tagen sieht: das ist alles (.) oder
das Ergebnis ist grottenschlecht [_.] dann hab' ich inner-
lich für mich gesagt, ich hab' vielleicht versagt. Bloß das
darf bei mir persönlich ja nicht passieren, weil das ist
gar nicht mein Ergebnis, sondern Ergebnis der Gruppe und
somit kann ich die Verantwortung könnte ich (.) zum Glück
ist es noch nicht dieses Szenario passiert, dass eine Gruppe
aus dem Ruder gelaufen ist, da da haben wir, glaub' ich,
alle so ein bisschen Angst vor, dass so 'ne Gruppe so 'ne
Eigendynamik erlebt und ganz woanders hingeht (.) ähm aber
dann kann ich so ein bisschen die Verantwortung wieder so
ein bisschen von mir wegdrücken. M (MODIBB/821/823)

124 Dieser Aspekt wird den Moderatoren in der Schulung erklärt. Damit soll der Work-
shop-Gruppe das Konzept der Selbstverantwortung für die Veränderungen vermittelt
werden. Zudem nutzen die KVP-Moderatoren die Ergebnisverantwortung der Gruppe
als Bewältigungsstrategie für diese neue Aufgabe.
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 265

Die Abhängigkeit, die zwischen Aufgabe und Ergebnis besteht, ist ftir die Modera-
toren ein Mittel der Subjektivierung. Den Unsicherheitsraum zwischen Aufgaben-
stellung und Resultat beherrscht die Gruppe. Der Druck, der sich aus der Gestaltung
und der Bewältigung dieser Abhängigkeit ergibt, versuchen die Moderatoren zu
bewältigen, indem sie wiederholt auf die Verantwortung der Gruppe verweisen.
Im schlimmsten Fall (Versagen) kann ein Moderator aber die Verantwortung
.wegdrücken" (ebd.) und in Distanz zur eigenen Person bringen. Die Moderatoren
sind sich nicht sicher, ob sie eine gute oder schlechte Moderation geliefert haben,
das heißt, sie fragen sich, ob sie thematisch überzeugen, eine Diskussion abwenden
oder die Gruppe zielführend lenken können. Sie haben .Angst" (ebd.) vor dem
herannahenden .Szenario· (ebd.) im Workshop: Erwartet sie eine mitarbeitende
(konforme) oder eigendynamische bzw. eigenwillige und den Schein entlarvende
Gruppe?
MODIBCflöst das Dilemma eines Vergleichs auf, indem sie feststellt: .Ja, das
kann man nicht vergleichen." (MODIBCf/812) und leitet damit über zu einem
Diskors über den Inhalt von Verantwortung beider Tätigkeitsfelder.
Welche Verantwortung hat nun ein KVP-Moderator im indirekten Bereich?
Sie umfasst das Erklären und Überzeugen der Workshop-Gruppe hinsichtlich des
KVP, die Maßnahmenpflege in der Datenbank, das zielgerichtete Begleiten während
des Workshops sowie das Vorgespräch mit dem Vorgesetzten (vgl. MODIBE/807,
MODIBCf/808, MODIBA/827, MODIBD/828). MODIBE beschreibt in diesem
Zusammenhang den Kontrast zwischen einer verantwortungsvollen und einer
leichtfertigen Ausführung der Tätigkeit (.nicht ordentlich"):

wWenn man seinen MOderatorenjob nicht ordentlich wahrnimmt


und den richtig versiebt, so n Workshop, dann wäre das,
find ich, schon ne Verantwortung, die man da jetzt nicht
wahrgenommen hat (.) indem man diese gruppe also nicht
wirklich da von dem Thema überzeugen konnte. u (MODIBE/818)

Der Aspekt Verantwortung gibt der Moderatorentätigkeit einen Wert und zwingt
sie dazu, sich näher mit dieser Tätigkeit auseinanderzusetzen. Würden die Mo-
deratoren diese Tätigkeit auf die gleiche Wertstufe setzen, müssten sie sich näher
mit dem Thema auseinandersetzen, was mit einem erhöhten psychischen Aufwand
verbunden wäre. Diese Annahme erklärt auch die Abgrenzung mithilfe des Entgelts:

wA1so, für meinen Job, wo ich das Geld auch eigentlich


für bekomme, trag ß ich 'ne sehr, sehr hohe verantwortung. u
(MODIBB/821)
266 6 Empirische Ergebnisse

Für MODIBB ist die Moderatorentätigkeit nicht relevant genug, um dafÜr ein
Entgelt zu bekommen. Er stellt die Tätigkeit damit auf eine niedrige Stufe (Be-
wältigungsstrategie).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwei Aspekte von Verantwortung
im Diskurs thematisiert werden: zum einen der Wert der Verantwortung, in einer
Gegenüberstellungvon mehr oder weniger bzw. höher oder niedriger (als Vergleich
zwischen der Moderatoren-Tätigkeit und der alltäglichen Aufgabe) und zum an-
deren Art und Inhalt der Verantwortung in Form einer Definition.

Widersprüche zwischen Anforderungen und Möglichkeiten


der Verantwortungsübernahme
Verantwortung ergibt sich für Menschen in fordistisch-tayloristisch organisierten
Betrieben aus fremdbestimmten Anweisungen einer Person u. a. zur Erbringung
von äußerlichen Zielwerten. Doch im Fallbeispiel fordert niemand explizit eine
Verantwortung im Sinne eines Zielwerts. Im Rahmen des KVP diffundiert die
Verantwortung. Die Moderatoren haben keine reelle Person oder faktische Vor-
gabe. an die sie ihre Handlungen orientieren und abstimmen können. Insgesamt
lässt sich die Bedingung festhalten, solange keiner von Verantwortung spricht
und Kennzahlen fehlen, gibt es auch keine Verantwortung. Diese Erkenntnis
verweist darauf, dass sich die Moderatoren eher an traditionellen, hierarchischen
Organisationstrukturen orientieren, die weniger auf Selbstkontrolle, denn auf
Fremdkontrolle setzen:

wVerantworten in dem Sinne, ich weiß gar nicht, was kann


man da antworten, es gibt ja keine Verantwortung. Es ist ja
niemand da, der jetzt sagt: so, ihr müsst jetzt das errei-
chen. Es gibt ja keine Zahlen, Daten, Fakten. u (MODlBA/825)

Die »unausgesprochene"' Verantwortung in Form weicher Zielfaktoren im Kontrast


zu den harten Faktoren, die sich in Zahlen ausdrücken lassen (:Ne Einsparung
von, ich weiß nicht, zehn, zwanzig Prozent."), ist ein Teil der Selbstzwangapparatur
geworden. Die .vernünftige" (MODIBA/827) Durchführung haben sich die Mo-
deratoren selbst als Aufgabe gestellt, ohne dass explizit eine schriftliche Fixierung
vorliegt. MODIBA beschreibt diese stillen Anforderungen.
Im folgenden Zitat wird deutlich, dass ein Verantwortungsbewusstsein (Verant-
wortungsgefühl) erst bei negativen Prozessen erscheint. Verläuft alles nach Plan,
ist sich der Moderator der Verantwortung hingegen nicht bewusst oder schätzt
sie gering ein. Erfolg lässt die Verantwortung nicht als schwere Bürde in Erschei-
nung treten. Erst ein Scheitern lässt sie sichtbar werden. MODIBD beschreibt in
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 267

dem folgenden Zitat diesen Zusammenhang und ihre Leistung als "Lenker" des
Unternehmens und des Prozesses:

wUnd wir müssen natürlich die gut durchs Programm führen.


Und der Moderator kann natürlich auch viel kaputt machen,
indem er (.) ja Blödsinn erzählt, vorne steht, sich mit
dem Thema nicht identifizieren kann oder das Thema gar
nicht verstanden hat und ganz was anderes erzählt. Und
die Gruppe fühlt sich nicht abgeholt und ja diskutiert auf
einmal völlig falsch und also dann hat man schon Ine hohe
verantwortung, also, ne irgendwo. weil wir lenken da ja
schon (.) das unternehmen in der Hinsicht, dass mit oder
den Prozess, dass wir besser werden wollen, ne? INe bessere
Produktivität und und und, ne? Und dazu tragen wir natür-
lich als Moderator auch ein Stück mit bei. Vielleicht ist
uns die verantwortung im Moment noch gar nicht so bewusst
oder weil wir eben meinen, wir machen einen guten Job und
wir stehen vorne und es kommen gute Ergebnisse bei rum.
Und somit ist die Verantwortung in dem Moment vielleicht
auch sehr gering. Oder man schätzt sie sehr gering ein. u
(MODIBO/830)

M2 macht genau wie MODIBD darauf aufmerksam, dass ihr Handeln den Verlauf
der Prozesse und Beziehungen verändern kann. In diesem Zusammenhang sprechen
sie von .Ienken" (MODIBD/830) und .beeinflussen" (MOD02l113). In der Reflektion
wird ihnen die Verantwortung in der Verflechtungssphäre Orgsnisation bewusst.
M2 stellt dazu fest, dass ein Moderator aufgrund seiner .exponierten Stellung"
(MOD02/113), also einem größeren Handlungsspielraum, einen besonderen Ein-
fluss auf Prozesse und Menschen hat. Die Verantwortung eines KVP-Moderators
erfolgt aufgrund seiner Verflechtung in einem dichten Gewebe der Aktionsketten.
Seine Aufgabe und Selbstverantwortung besteht darin, beim Zusammentreffen
viele Menschen unterschiedlicher Figurationen "zufriedenzustellen" (ebd.) und
Valenzen zu sättigen. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss ein
Moderator eine ausgeprägte Langsicht an den Tag legen. Er muss sich darüber im
Klaren sein, dass sein Handeln Folgen hat und indern er diese Tatsache reflektiert
und danach handelt, zeigt er Verantwortung.
Die Bewältigung einer »unklaren Verantwortung" im Rahmen der Moderatoren-
rolle erfolgt durch die aktive .Begrenzung" eines Verantwortungsraums. Aufgrund
der vielen Bereiche, die ein Moderator betritt, hat M4 den Verantwortungsbereich
auf den Workshop und seine Mitglieder begrenzt:
268 6 Empirische Ergebnisse

wA1so (.) da WIR als KVP-Moderatoren durch ALLE Bereiche


geqanqen sind, ja? Muss ich sagen, hab' ich 'ne VERANTWOR-
TUNG für den Workshop gehabt, aber NICHT für den Bereich
gehabt, ja?" (MOD04/104)

Die Be-Grenzung des Verantwortungsbereichs wird von den Moderatoren selbst


aktiv gestaltet.

Der Moderator als Agent der Fremdverantwortung


M3 spricht von der .Idee" (geistige Vorstellung), Verantwortung zu übernehmen
und lässt sie damit flüchtig und virtuell werden. In diesem Aggregatzustand
handelt es sich weniger um eine konkrete Forderung an die Beschäftigten, Selbst-
verantwortung zu übernehmen, sondern eher um eine Kannbestimmung. Diese
"Kann-Verantwortung" wäre dann vom Unternehmen flexibel einzufordern und
so würde die Aktivierung der Verantwortung in den Händen des Unternehmens
liegen. Die Beschäftigten wären Agenten einer unternehmerischen Fremdverant-
wortung. Da sich das Unternehmen nicht sicher sein kann, ob die Beschäftigten
ihre gewonnenen Handlungsspielräume (Selbstverantwortung) den eigenen Werten
und Normen oder dem Betriebsziel verpflichtet fühlen, ist die von M3 beschriebene
Virtualisierung der Verantwortung als "Idee" die Lösung für eine vom Unterneh-
men flexibel einsetzbare Verantwortung. M3 formuliert es so:

".DENNOCH ist es SO (.), dass DIEJENIGEN im prozess, die


normale Mitarbeiter sind, die einfach NICHT gelernt haben
VERANTWORTUNG zu übernehmen auch vielleicht von [FALL BE-
TRIEB] auch NIE herangetragen wurde die Idee, DIE sitzen
ihre Themen jetzt auch aus. M (MOD03/23)

Verantwortung übernehmen können setzt Teilhabe voraus. In einem fordistisch


organisierten Betrieb ist aufgrund des unausgewogenen Machtgleichgewichts
der Spielraum ftir die Beschäftigten stets klein gewesen. So handelt es sich bei der
von M3 dargestellten allumfassenden Verantwortlichkeit um einen rhetorischer
Diskorstrick. Denn eine solche Verantwortlichkeit aller Organisationsmitglieder
gibt es nicht. Ausgewogene Machtverhältnisse im Betrieb könnten die Eigenver-
antwortlichkeit der Beschäftigten herausfordern, denn wer an Entscheidungen
teilhaben kann, fühlt sich auch eher verantwortlich. Eine Eingrenzung oder
Überwachung von (eigenwilliger) Selbstverantwortlichkeit ist in einem solchen
Fall nicht möglich oder gar vorgesehen.
6.5 Der strategische Mix von Fordismus und Postfordismus 269

Die im Diskurs beschriebenen Motive der ..Verantwortung" sind tendenziell


eher Last als Lust, da die Selbstverantwortung nicht mit einer Erweiterung der
Handlungsspielräume einhergeht.

6.5 Der strategische Mix von Fordismus und


Postfordismus

Die Beschäftigten befinden sich in einem Mix aus fordistischen und postfordistischen
Arbeitsweisen, in dem (scheinbare) Teilhabechancen aufkonservative Formen der
Arbeitsabläufe treffen. Im Folgenden werden die Diskurse zu den widersprüchlichen
Anforderungen an die Beschäftigten, aber auch an die Vorgesetzten dargestellt.

6.5.1 Ein Appell an die Selbstverantwortung

M2 appelliert an die Selbstverantwortung der Produktionsmitarbeiter, spontane


Bedürfnisbefriedigung und tradierte Vorstellungen zugunsten einer langfristigen
und von Traditionen losgelöste Perspektive zurückzustellen. Diese Aufforderung
soll darauf hindeuten, dass die Beschäftigten es selbst in der Hand haben, ihre
Arbeitsplätze zu sichern, wenn sie sich von einer traditionellen Sichtweise lösen.
Das folgende Zitat steht exemplarisch für die von M2 empfohlene Langsicht:

wUnd negativ an dem KVP-Prozess kann ich dann nur empfinden,


dass sich an dieser Stelle immer mal wieder so'n bissehen
Fronten auftun. Das ist bestimmt nicht gewollt und das
ist auch nicht richtig. Das Verständnis dafür, dass auch,
auch dieses äh im Sinne der Belegschaft grundsätzlich ist,
im Sinne von Arbeitsplatzerhaltung, Standorterhaltung und
so weiter. Dieses langfristige Denken, das muss an dieser
Stelle vielleicht noch stärker verankert werden." (MOD02/129)

Auch M4 appelliert an die Selbstverantwortung der Beschäftigten, ihren Beitrag


für den Standorterhalt zu leisten und veranschaulicht seine Perspektive mit einer
Insel-Metapher, die im Folgenden beschrieben wird.
270 6 Empirische Ergebnisse

6.5.2 Die Insel-Metapher

M4 erklärt den Workshopteilnehmern die eigene Perspektive mit einero Bildnis


von der .Insel". Das Unternehmen steht zwar auf einer Insel und ist geschützt
(durch Tarifverträge, Umsatzsteigerungen und hohe Gewinne), aber das Wasser
(die Umweltbedingungen, globalisierte Märkte) steigt. Um den Schutz gegen das
steigende Wasser wieder zu erhöhen, müssen die PMA ihren Beitrag leisten. Die-
ser Schutz wird ihnen durch die Sozialtechnik KVP gewährt. Also, durch aktive
Beteiligung am KVP zeigen die Beschäftigten Selbstverantwortung und beweisen
sich als langfristige Denker und Protagonisten im Sinne eines Standorterhalts:

".Also ich hab' (.) sagen wir mal (.) ich hab' versucht
immer die Leute ja auch zu SENSIBLISIEREN, auf DAS THEMA
KVP, auf die Wirtschaftslage. WAS auch in der Welt PAS-
SIERT, und dass wir bei [Fallbetrieb] NICBT auf einer In-
sel sind. Wo das Wasser GANZ, GANZ weit weg ist, ne? Das
Wasser steigt AUCH auf UNSERER Insel. wir sind zwar NOCH
ganz gut AUFgestellt im Gegensatz zu anderen Firmen. Siehe
[Name Automobilunternehmen], [Name Automobilunternehmen]
oder wie sie alle heißen, aber dass man da auch nicht die
Augen vor versperren sollte. Und es hat schon mal ne' zeit
gegeben, wo AUSgesperrt wurde (.) und da hatte ich denen
auch aus meiner Sichtweise gesagt: Wenn die jetzt sagen
würden: (.) So, ALLE Leute kommen NICBT mehr rein, WIR
SPERREN euch aus. Und da steht einer hinter den Häuschen,
hinter den werthäuschen und sagt: SO, jeder, der jetzt
zwanzig Prozent weniger verdienen möchte, DER kann jetzt
wieder reinkommen. Und da hab' ich gesagt: Dann bin ich
der ERSTE, der wieder rein läuft, ja?M (MOD04/45)

Mit Bewegungsmetaphern (.wir müssen uns bewegen" MOD04/47) und dyna-


mischen Bildern (.hab' hier viele, tolle Leute kennengelernt und ALLE, die so
n' bisschen das Werk ANSCHIEBEN wollen" MOD04/51) appelliert M4 an die
Selbstverantwortung der PMA. Er baut ein Angstszenario auf, um den Druck
auf die Workshopteilnehmer zu erhöhen. Stillstand würde in seiner Perspektive
ertrinken bedeuten.
Die Insel-Metapher beschreibt noch eine weitere Perspektive, die im folgenden
Zitat von M4 anschaulich aufgezeigt wird. Sie charakterisiert den Betrieb als soziale
(beinahe sozialistische) Einrichtung, die keinen ökonomischen Eflizienzkriterien
folgt. Seine Mission gilt demnach den Beschäftigten, ihnen den Wert ihrer Arbeit,
aber vor allero ihrer Fehler nahe zu bringen. Die Marktökonomie wirkt auf diese
Weise in die Produktion hinein (Entgrenzung):
6.5 Der strategische Mix von Fordismus und Postfordismus 271

wUnd wenn irgendwas zu TEUER ist oder wenn irgendwelche


Fehler mal gemacht werden. Jeder darf mal 'n Fehler machen,
aber der sollte nur EINMAL vorkommen, ja? Und dann, den
Leuten auch mal zu zeigen, WIE TEUER jetzt so 'n Fehler
vielleicht mal wird, ja? weil ich glaub' einige Mitarbeiter
WISSEN GAR NICHT wie teuer vielleicht was wird, WENN sie
mal 'n FEHLER gemacht haben. Und das einfach nur mal mit
Zahlen HINTERLEGEN, ja? Und das die da so n' bisschen 'ne
(.) sehen, dass es dann DOCH schon mal GANZ, GANZ schnell
in die TAUSENDER gehen kann. Um mal zu sagen: Hier, jetzt
hast du diesen Monat UMSONST gearbeitet. Ja? Weil, ne? Wie
schon gesagt: (.) Jeder Mitarbeiter von [Fallbetreib] denkt:
Ich bin auf DIESER INSEL, ja? Und dann auch mal zu zeigen,
was dahinter steckt. M (MOD04/98)

Der Druck, den M4 mit der Drohkulisse .Insel im steigenden Wasser" und dem
.Wert der Fehler" aufbaut, soll als Disziplinierung der Beschäftigten wirken und
so an ihre Selbstverantwortung appellieren.
Mit dem Begriff des .k1einen" Mitarbeiters reprodnziert M4 die klassische
fordistische Trennung der Figurationen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihr
besonderes betriebliche Machtgefalle:

wKVP ist 'ne Erfahrung wert und JEDER lebt sie ANDERS.
Ich sag': Einige Mitarbeiter gehen in einen KVP rein und
wissen manchmal gar nicht, was sie da sollen, ja? Einige
Mitarbeiter gehen RICHTIG frohen MUTES rein und sagen so:
SO, wir können vielleicht was bewegen und SEHEN das auch,
dass sie die CHANCE DA bekommen, weil WO gibt's denn sonst
die Chance, in ARBEITSabläufe einzugreifen? ALS MITARBEI-
TER. Als wKLEINERM in Anführung KLEINER Mitarbeiter, ne?
Sie können ihren EIGENEN Prozess optimieren. So sollten
sie's auch machen. Manchmal ist es auch 'ne Erleichterung.
Und ich glaub', viele Firmen, geben da eigentlich NICHT die
MÖGLICHKEIT, sich da so aktiv zu beteiligen, wie [FALLBEI-
SPIEL] jetzt." (MOD04/112)

Eine Vorstellungsrunde .ohne irgendwelche Hierarchien" (MOD2/37), der .kurze


Dienstweg" (MOD04/114) oder auch .mit den richtigen Leuten an den Tisch"
(MOD03/43) sind Beschreibungen der entgrenzten Situation eines KVP-Workshops
durch die Moderatoren:

wDass man Arbeitsgänge auf n' KURZEN Dienstweg OPTIMIEREN


KANN, ja? (.) Man muss NICHT IMMER über die Planung gehen.
Man MUSS NICHT über, man muss nicht TAUSEND Leute fragen,
272 6 Empirische Ergebnisse

ne? Wie schon gesagt, die FACHLeute sitzen vor Ort. Das sind
die Leute, die da am RUMSCHRAUBEN sind und am RUMSTECKEN
sind und am MONTIEREN sind. Und DA seh' ich den KURZEN
DIENSTweg. Alle Leute sind BEISAMMEN, DIE Entscheidungen
treffen können oder wo man sich zu Rat (.) wo man RAT bekom-
men kann. Wenn man einmal einen rufen muss. Also, ich seh'
da dieser KURZE DIENSTWEG den RIESENVorteil. M (MOD04/114)

Auch M3 sieht die entgrenzte Siuation als Ausnahme und besondere Gelegenheit
an, gemeinsam zu arbeiten:

wWenn ich das aus meiner betrieblichen Führunqsrolle noch


mal betrachte (.): WANN hat man mal 'n lEIer, 'n PLANER, 'n
TEAHsprecher und 'n BETRIEBSrat und 'n BETREIBER an EINEM
Tisch? Das schafft man im laufenden Prozess NIE. Das heißt,
es bilden sich immer Expertengruppen und der Mitarbei-
ter muss dann in so ner INFOgeschichte informiert werden
und fühlt sich ständig in der Rolle desjenigen, dem was
ÜBERgestülpt wird. Das ist bei KVP ANDERS. Da sitzen DIE
Leute, die es MITbetri~t, MIT im Boot. NICBT ALLE, also
auch in der Multiplikatorenrolle, 'n Teamsprecher oder 'n
Vertrauensmann, aber sie sind in dem Prozess von ANFANG
an in der Gestaltung MIT DABEI. M (MOD03/101)

Der .kurze Dienstweg" ist keine neue Erfindung, doch soll er unter neuen Vor-
zeichen genutzt werden. Das Umgehen geltender Prozesse und Verfahrensweisen
in der Organisation soll in Form eines Zusammenrückens formalisiert werden.
Das ehemals informelle Kurzschließen und Beschleunigen von Prozessen und
Entscheidungen in Abgrenzung zum offiziellen Einhalten der Entscheidungswege
soll ein formalisierter Prozess werden. Der KVP soll Informalität und Kooperation
organisieren (Bolte/Porschen 2006). Die Ausnahmesituation KVP-Workshop enthält
keine Rituale und Erfahrungen, auf die die Workshop-Mitglieder zurückgreifen
könnten (Bolte/Porschen 2006: 30). In den meisten Fällen wird auch zukünftig
keine Routine entstehen können, da die Zusammensetzung der Gruppe variiert.
Die Anerkennung der PMA als Fachleute und Experten vor Ort erfolgt lediglich
aus strategischen Gründen. Die Bezeichnung des Experten erweist sich als inst-
rumenteller Begriff und als Versuch, die Beschäftigten zu umschmeicheln, damit
sie ihr Erfahrungswissen preisgeben.
Wer entscheidet eigentlich in der von Egalität charakterisierten Arbeitssitu-
ation des KVP-Workshops bei im Grunde hierarchisch differenten Menschen?
Beim Zusammentreffen entgrenzter (Zusammenarbeit über Hierarchie- und
Funktionsgrenzen hinweg) mit begrenzten Strukturen (Entscheidungen treffen
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 273

nur Führungskräfte), entsteht eine "Zone der Unsicherheit". Für die Beschäftig-
ten wird die Antwort auf die Frage diffus, inwieweit sich ihre Handlungs- und
Entscheidungsspielräume im Rahmen der Zusammenarbeit ausgeweitet haben.
Auch die Vorgesetzten wissen aufgrund der neuen Anforderungen nicht, wie
weit der neue Spielraum der Beschäftigten geht und wann sie nun wieder als
Führungskraft gefordert sind. M4 versucht der Unsicherheitszone eine Struktur
zu geben, indem er den Vorgesetzten im Workshop sehr explizit auffordert zu
handeln und zu entscheiden: .DU bist hier CHEF." (MOD04/106)

6.6 Verdichtung der Ergebnisse

Die empirischen Ergebnisse haben gezeigt, dass sich mithilfe der Verschränkung
von induktivem und deduktivem Vorgehen vielfaltige Motive und Orientierungen
herausarbeiten ließen. Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse auch
im Hinblick auf die forschungsleitenden Fragen in verdichteter Form dargestellt.

6.6.1 Die Beharrungstendenz

Wie die Ergebnisse zeigen, führen die unermüdlichen Verhandlungen und damit
unaufhörlichen Bewegungen in den KVP-Workshops die Verflechtungssphäre
Organisation in eine relative Beharrung. Sie ist das ungeplante Resultat der
Machtproben und Spielzüge der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Figuration.
Die Verhandlungssituation als Kompromissbildung und als Mix aus benann-
ten und zurückgehaltenen Verbesserungsvorschlägen und Befürchtungen (siehe
Abbildung .Beharrungstendenz" in Abschnitt 6.1.4.2), manövriert die Figuration
in eine relativ stabile .Beharrungstendenz" (Elias 1970/2004: 85), obwohl Verände-
rung das Ziel sein soll. Das gegenseitige Belauern und Misstrauen zwischen beiden
Gruppen führt dazu, dass sich keine Seite aus ihrer .Sicherheitszone" bewegt und
sie infolgedessen einen Status quo der Machtverhältnisse festschreiben. Die "per-
manent fixierte Aufmerksamkeit" (Sennett 2000: 121) auf die Kompromissbildung
zwischen menschengerechter und ökonomisch effizienter Arbeitsplatzgestaltung
und damit ihre Festschreibung als unvereinbare Dichotome, blendet den großen
Zusammenhang aus. Die Gegensätzlichkeit der Sinnsysteme "Arbeitskultur" und
.Untemehmenskultur" als .betriebliche Doppelwirklichkeit" (Weltz 2011) wird
in den Workshops zwar existent, kann als übergeordnetes Problem aber nicht
angegangen werden. In diesem besonderen Fall muss das langfristige Denken
274 6 Empirische Ergebnisse

der Menschen sogar aufgehoben und zugunsten unmittelbarer Problemlösung


zurückgestellt werden. Die Langsicht muss sich dann auf die zu verhandelnden
Kompromisse konzentrieren und dient der gedanklichen Rück.- und Vorausschau
der Folgen genannter Verbesserungsvorschläge und ihrer Abwägung. Auf dieser
Ebene bleiben die Mitglieder der Figurationen »Gefangene der Gegenwart" (Sennett
2000: 121), denn die Anstrengungen der Verhandlungen führen nirgendwo hin,
außer in die Beharrung.
Das übergeordnete Problem, also zwei gültige, aber unvereinbare Sinnsysteme
im Unternehmen, lassen sich wie bereits gezeigt wurde, an den herausgearbei-
teten Motiven "An der Grenze zur Entscheidung" und "Die Wissenden in einer
Organisation" dokumentieren. Die Unternehmenskultur zeichnet sich dadurch
aus, dass Zahlen zum bestimmenden Wert und »poltischen Datum" (Weltz
2011: 70) werden. In ihr gelten mathematische Formeln wie ,minus zwei Mann
gleich gut' (vgl. BESAC/68) und so kann die Berechnung der Verbesserungen
nach Wirtschaftlichkeit kurzfristig erfolgreiche Ergebnisse ausweisen. Die
Wissenschaftlichkeit der MTM-Methoden kann den Akteur vernachlässigen
und orientiert sich am objektiven Arbeitshandeln, also an äußeren Merkmalen,
wie Hand- und Armbewegungen in Zeiteinheiten. Die Arbeitskultur hingegen
erweist sich im Vergleich als erheblich komplexer. Sie bezieht sich nicht auf
mathematische Formeln, sondern auf die Machbarkeit der Verbesserungen und
ihrer Folgen. Das Machbare beschreibt die Transformation von Vorgaben in
konkrete Handlungen und Arbeitsweisen, also das subjektive Arbeitshandeln
und geht vom Akteur aus. Die Bewertung der Verbesserungen erfolgt demnach
mit einer langfristigen Perspektive, die die Konsequenzen für das eigene Ar-
beitshandeln mitdenken muss. Damit wird deutlich, dass die Konsequenzen
aus Verbesserungsmaßnahmen für das Arbeitshandeln der Abgesandten der
Unternehmenskultur, in diesem Fall der Mitarbeiter des Industrial Engineering,
ausbleiben. Sie profitieren als Agenten im positiven Fall von einer verbesserten
Fertigungszeit und damit Wirtschaftlichkeit als Auftragserledigung für ihren
Vorgesetzten. Die Abgesandten der Arbeitnehmergruppe hingegen müssen mit
den Konsequenzen ganz direkt umgehen. Die in der virtuellen Welt der Mathema-
tik errechnete neue Arbeitsorganisation wird in der realen Welt gegenständlich.
Diese Asymmetrie und diese Gesetzmäßigkeit findet keine Berücksichtigung im
untersuchten KVP. Oft wird die Teamreduzierung bereits vollzogen, obwohl die
dafür notwendigen Voraussetzungen nicht geschaffen wurden. Damit ist gemeint,
dass lediglich ein Teil der Verbesserungen des Maßnahmenblattes abgearbeitet
wird, obwohl sie nur als Bündel ihre volle Wirkung entfalten und eine Teamre-
duzierung ermöglichen würden.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 275

Die Entscheidung für eine partielle Abarbeitung und damit Eliminierung von
einem Teil der gemeinsam erarbeiteten Einzelmaßnabmen erfolgt unter Ausschluss
der an der Ausarbeitung beteiligten Team-Mitglieder und Workshop-Mitglieder.
Diese Vorgehensweise ist ein Hinweis auf die Größe der Handlungs- und Ent-
scheidungsspielräume der am KVP beteiligten Beschäftigten. Wer in der Ver-
flechtungssphäre Organisation die Spielregeln ändern kann und Zugang zu den
.koordinierenden Kommandopositionen" (vgl. Elias 1970/2004: 156) besitzt, ist
Teil der machtstärkeren Figuration und besitz! die größere relative Spielstärke. Die
Begriffe .anmahnen" (GENEA/47), .Vorschläge" (STEWEBfI763), "gegensteuern"
(BESAA/330) und die (rhetorische) Frage nach der .Ernsthaftigkeit" (GENEA/65)
kennzeichnen die faktische Reichweite der Spielräume, die sich im Rahmen des KVP
für die Beschäftigten eröffnet haben. Sie sind eine verbale Bestimmung begrenzter
Spielräume innerhalb partizipativer Verfahren und bilden damit die Asymmetrie
der Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeberfiguration ab.
Das fehlende Vertrauen aufgrund unechter Partizipation, die vom Fallbetrieb
jedoch als echte Teilhabechance deklariert wird, verhindert, dass sich die Figu-
rationen aus ihren Sicherheitszonen bewegen und damit eine Entwicklung der
Verflechtungssphäre Organisation bewirken.

6.6.2 Die Folgen einer Scheinpartizipation

Die im Fallbetrieb geltende Präferenzordnung der Verbesserungen im Rahmen des


KVP ist nicht nur ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Partizipation "gemanagt"
(vgl. Greifenstein et al. 1993: 31Sf.) wird, sondern auch durch wen diese Aufgabe
geschieht. Die Arbeitgeberfiguration besitzt den Handlungsspielraum, Verbesse-
rungen, die dem ökonomischen Kurzfristprinzip folgen, durchzusetzen und ihnen
den bestimmenden Wert im Fallbetrieb zuzuschreiben. Verbesserungsmaßnabmen
müssen dann nicht nur mit der Wertschöpfungsfrage im Hinterkopfbernessen wer-
den, sondern auch damit, ob sich kurzfristige Erfolge ausweisen lassen. So passiert
es, dass Arbeitssicherheit, humanere Arbeitsbedingungen und selbst Qualität in
den Hintergrund rücken. Es bleibt keine Zeit, Veränderungen im Krankenstand,
bei den gemeldeten Unflillen oder auch den Kosten der Nacharbeit zu verfolgen.
Direkte Effekte, die sich unmittelbar in den MTM-Methoden als Verringerung der
Fertigungszeit ausweisen lassen, stehen im Gegensatz zu den indirekten Effekten,
die sich in der Nachverfolgung als komplexer erweisen würden.
Der Fokus auf die ökonomischen Erfolge und damit Ausblendung aller anderen
Möglichkeiten verdrängt die Beschäftigten als Akteur aus dem Partizipationsprozess.
Statt erweiterter Handlungs- und Entscheidungsspielräume werden sie zu Statisten
276 6 Empirische Ergebnisse

einer Scheinpartizipation und dienen dem Unternehmen zur Legitimierung eines


vermeintlich partizipativen Verfahrens (vgl. Ernst 2010: 44).
Beginnen die Beschäftigten in der Verhandlungssituation des KVP-Workshops,
jede Verbesserung anband betrieblicher Ziele zu bewerten, wird die Teilhabe zur
Selbst-Verleugnung eigener Ansprüche an Arbeit und eigene Interessen werden
verdeckt. Oder im anderen Fall, wenn die Beschäftigten an .. ihren" Verbesserun-
gen und damit an eigenen Interessen festhalten, scheitern sie häufig am Übergang
zur Entscheidung, die ein anderer Funktionsträger trifft. Begrenzte Teilhabe im
neuen Produktionssystem trifft dann auf konservative Arbeitsformen und bleibt
inauthentisch. Und werden die Forderungen der Beschäftigten nur erfüllt, wenn sie
zufaJIig eine Schnittmenge mit Arbeitgeberinteressen bilden oder als Zugeständnisse
in der Verhandlungssituation gewährt werden, um eine Eskalation zu vermeiden,
etabliert sich keine dauerhafte Partizipationsbereitschaft (vgl. Minssen 1999: 131).
Unechte Teilhabechancen und daraus resultierende negative Verhandlungsresultate
aufseiten der Arbeitnehmerfiguration bilden die .Achillesverse" (vgl. auch Bischoffl
Detje 2003: 64f. mit Bezug auf Dörre 2002; Senghaas-Knobloch 2008: 113f.) neuer
Produktionssysteme wie dem GPS.
GENEB beschreibt die gescheiterten Verhandlungen im KVP-Workshop mit
einem .VerlustgeföhI" (GENEB/249), das die Beschäftigten vor allem deshalb
empfinden, da sich Partizipationschancen, wenn überhaupt nur innerhalb des
Workshops ergeben. Die Niederlage im Workshop bleibt also unwiderruflich.
Unechte Teilhabe, wie sie mit der Analyse dokumentiert wird, ist im umgekehrten
Fall demuach .echte Teilhabe an der Niederlage der Arbeitnehmerfiguration". Sie
wurden Zeugen für die noch immer geltende Machtasymmetrie im Fallbetrieb,
die zugunsten der Arbeitgeberfiguration ausfallt.
Die kulturspezifische Unterscheidung der Verbesserungsmerkmale und ihre je-
weilige Priorisierung bremst die Entwicklung und Dynamik von Machtverhältnissen
und Partizipation. Das Kräftemessen und die daraus resultierenden Spannungen
zwischen den betrieblichen Gruppen führen im untersuchten Fallbetrieb in eine
relativ stabile Beharrungstendenz.

6.6.3 Das Potemkln-Syndrom

Die beiden Sinnsysteme .mathematische Wirklichkeit ohne Akteursbezug" (Schein-


welt) und .betriebliche Wirklichkeit des Machbaren mit Akteursbezug" verweisen
auf das Poternkin-Syndrom (Weltz 2011: 77ff.). Weltz machtim Hinblick auf diese
Doppelwirklichkeit den folgenden Zusammenhang deutlich:
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 277

.. Die Machbarlceit der Scheinwelt versperrt nicht nur den Blick auf die .reale' Welt,
sondern führt auch zu einer Fehleinschätzung des tatsächlich Machbaren [... ] Die
Opfer. die Machtlosen sind letztlich die einzigen. die noch den Durchblick, den Blick
durch die offizielle Scheinwirklichkeit auf die reale Welt haben," (Weltz 2011: 78)

Die .. Machtlosen", wie Weltz sie nennt, haben nicht nur den ..Durchblick", sie ha-
ben wie die Ergebnisse dieser Studie bestätigen, auch als einzige die semantische
Fähigkeit und Freiheit, die Verhältnisse - zumindest in den Gruppendiskussio-
nen - auf den Punkt zu bringen. Das folgende exemplarische Zitat von GENEC
bestätigt diese Erkenntnis noch einmal:

wWeil es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall. Da brauchen wir uns nichts vor machen, das
ist eben so." (GENEC/184)

Der Ort, an dem diese Welten aufeinandertreffen, ist der KVP-Worksbop. Die
künstlich-harmonische Situation (vgl. Riesman 1967) der angeordneten egalitären
Zusammenarbeit im Workshop löst bei den Beteiligten ein Störgefühl aus, das sie
reduzieren wollen. Innerhalb der Workshops hat sich der sogenannte "Eskalations-
mittwoch' als Befreiungsschlag erwiesen, an dem Scheinwelt und Realwelt sichtbar
kollidieren, ohne sich dabei aufzulösen. Die hierarchischen und funktionalen
Unterschiede zwischen den Beteiligten, die daroit verbundenen Handlungs- und
Entscheidungsspielräume und die Interessenkonflikte offenbaren sich in dieser
Phase. Die künstliche Situation einer vermeintlichen Egalität weicht zugunsten
einer Verhandlungssituation zwischen konfliktären Arbeitnehmer- und Arbeit-
gebergruppen. Die beiden Welten haben sich nicht aufgelöst, aber der Gruppe
gelingt es nun, das Störgefühl mit der Erarbeitung von Kompromisslösungen auf
niedrigerem Niveau zu verringern. Das übergeordnete Problem, das zu diesem
Zeitpunkt unlösbar scheint, wird zu einem Hintergrundrauschen.
Autokratische Systeme, und im Fallbetrieb zeigen sich Parallelen dazu, nutzen zur
Bestätigung ihres Systems die Herstellung einer Scheinwelt, in der die Rhetorik eine
besondere Bedeutung erhält. Widersprüche und Ambivalenzen werden rhetorisch
verschleiert und indem das System sich auf diese Weise seiner selbst immer wieder
versichert und beschwört, dass alles in Ordnung sei, werden sie zu ..Gefangenen der
Rhetorik" (Weltz 2011: 78). Besonders deutlich wird das Potemkin-Syndrom bei der
Analyse der KVP-Moderatoren, die als Produktionssystemdouble und Agenten der
Fremdverantwortung in erster Linie die rhetorische Fähigkeit beweisen müssen,
die wahren Gründe des KVP zu verschleiern. Sie übernehmen als Abgesandte bzw.
Agenten der Arbeitgeberfiguration die Aufgabe, das System und seine Machtver-
278 6 Empirische Ergebnisse

hältnisse zu bewahren. Die Bedeutung der Sprache im Zusammenhang mit dem


KVP und seiner immanenten Konfliktlinie ist den Beschäftigten sehr wohl klar
und so beweist der Produktionsmitarbeiter und Vertrauensmann GENEE in der
Gruppendiskussion nicht nur seinen Durchblick, sondern auch seine semantische
Fähigkeit, diesen Umstand ohne Umschweife zu benennen:

wDas Problem ist, das da vorne sind immer geschulte Leute,


die wissen, wie sie was umschreiben müssen, das wissen
viele halt nicht. Und das ist schon n' Problem wenn, das
muss man wissen. u (GENEE/139)

Den KVP-Moderatoren ist die Fähigkeit des .Umschreibens", wie bereits deutlich
wurde, nicht immer leicht gefallen und sie sind der Herausforderung mit je indi-
viduellen Bewältigungsstrategien begegnet.

6.6.4 Die Kunst des Verhandelns als Hinweis auf stärkere


Selbstzwänge (Wege aus der Beharrungstendenz)

Die Verhandlungssituation, in die die Teilnehmer der KVP-Workshops unvermittelt


und ungeplant geraten sind, ist für sich schon ein Hinweis auf eine fortgeschrittene
Entwicklung der Affektregulierung. Es ist ein Zeichen für ausgeprägtere Selbstzwän-
ge, dass die Teilnehmer (Vertreter bzw. Unterhändler der betrieblichen Figuratio-
nen) überhaupt dazu in der Lage sind, an einem Tisch miteinander zu verhandeln.
Innerhalb weniger Monate etablierten sich die an den Workshops teilnehmenden
Beschäftigten zu professionellen Verhandlungspartnem. Sie lernten schnell Kampf;
Eskalation und Abbruch gegen Verhandlung, Taktik und neue (informelle) Allian-
zenllS einzutauschen. Ihnen wurde rasch und zur eigenen Überraschung klar, dass
ihnen diese Handlungsspielräume und Möglichkeiten - zumindest auf den ersten
Blick - eröffnet wurden. Nach Mastenbroek, befinden sich die beobachteten und
beschriebenen Verhandlungen im Übergang vom 2. in das 3. Stadium der Kunst
des VerhandeIns. Er unterscheidet drei Entwicklungsstadien, die analog zum
gesamtgesellschaftlichen Zivilisationsprozess gelesen werden können:

125 Trotz oder auch gerade wegen der ausgeprägten Reglementierung des KVP und seiner
Workshops ergaben sich im Fallbetrieb als .Gegengewicht" (Böhle/Bolte 2002: 76)
neue informelle Allianzen und Kooperationen zwischen Arbeitgeber. Arbeitnehmer
und Betriebsrat, um langwierige formelle Prozesse und Widersprüche zu überwinden.
Diese ungeplante Folge ist ein Beispiel für das von Elias beschriebene dynamische
.Spannungsgefüge" (EHas 1970/2004: 142), das mal kooperativ und mal konlliktär
sein kann.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 279

.. 1) Niedriges Niveau der Triebrepression (Kampf, Flucht, Unterwerfung). Selbstbe-


herrschung ist einseitig und instabil; die Absicht besteht im Dominieren.
2) Die Selbstbeherrschungwird konstanter und gleichmäßiger; Unterdrückung von
Impulsen; Absichten werden verschleiert.
3) Die Selbstbeherrschung wird weniger streng. Kontrollierte Dekontrollierungvon
Affekten; die Absicht verwandelt sich zur Entwicklung von zuverlässigen Beziehungen
zum gegenseitigen Nutzen. Nur ab und zu wird Druck ausgeübt, um einen Vorteil
zu erzielen."' (Mastenbroek 1992: 189)

Im untersuchten Fallbetrieb werden die Rationalisierungsabsichten der Arbeitgeber-


figoration bisher noch hinter Rhetorik verschleiert, obwohl sie längst durchschaut
wurden, sodass sich keine zuverlässigen Beziehungen zwischen Arbeitnehmer- und
Arbeitgeberfigoration entwickeln konnten. Würde sich die Arbeitgeberfiguration
von ihrer Scheinwelt lösen und ihre Absichten offenlegen, könnten sich vertrau-
ensvollere Beziehungen zwischen interdependenten Gruppen bilden, die von
Langfristigkeit geprägt wären. Die Interessengegensätze müssen sich aus diesem
Grund nicht zwangsläufig auflösen und dabei in eine strategisch-künstliche
Übereinstimmung im Sinne der Vermarktlichungsstrategie (z. B. Standorterhalt)
münden, aber die Verhaodlungssituation wäre u. U. fruchtbarer und die Beziehung
zwischen (weiterhin) interdependenten (interessenkonfliktären) Gruppen könnte
aufVertrauen126 und Langfrist basieren.
Die Kraft und Anstrengung, die daon nicht mehr in Misstrauen und Belauern
investiert wird, kann in die Erarbeitung bestmöglicher Verhandlungsergebnisse
fließen. Hier liegt vielleicht auch ein Schlüssel zur Auflösung der Beharrungsten-
denz, die unter anderem aus dem Misstrauen aufgrund der Verschleierung echter
Absichten resultiert. Aber auch, weil die Abgesaodten der Figurationen die Bear-
beitung des übergeordneten Problems nicht aogehen, da ihnen die Lösung als nicht
unmittelbar fassbar erscheint. Sie konzentrieren sich aus diesem Grund eher auf
die Bearbeitung von Kompromisslösungen auf niedrigerem Niveau (vgl. Sennett
2000: 121). Würde sich die Scheinwelt der Arbeitgebertigoration also auflösen
oder sich wenigstens öffnen und damit an die Machbarkeit der Praxis annähern,
käme dieser Zustand der Auflösung des übergeordneten Problems gleich und die
Beharrung könnte einer Entwicklung Platz machen.
Diese Vorstellung ist sicherlich zu diesem Zeitpunkt utopisch, denn die Auflö-
sung der Scheinwelt würde für das Maoagement als Teil der Arbeitgebertiguration
zunächst den Verlust von Machtressourcen und damit eine enorme Veränderung
des Kräfteverhältnisses in der Fabrik bedeuten. Klaus Dörre aber meint, dass
.demokratische Prinzipien und solidarische Gerechtigkeitsvorstellungen in der

126 Vertrauen im Sinne eines Wissens. wie sich der andere verhält.
280 6 Empirische Ergebnisse

Arbeitswelt in größere wirtschaftliche Effizienz münden [kann]" (Dörre 2006: 5).


Diese neue Sichtweise entspricht der beschriebenen Auflösung des übergeordneten
Problems, also dem Ende der Scheinwelt, die sich in der eigenen Rhetorik verhed-
dert und Partizipation und Fortschritt verhindert. Echte Partizipation, die nicht
nur dann legitim ist, wenn sie wirtschaftlich nützlich ist, kann die Organisation
auf ein neues Entwicklungsniveau heben (vgl. ebd.). Die Interessengegensätze,
die sich bisher als Dichotomien präsentieren - hier wirtschaftliche Effizienz,
dort humanere Arbeitsgestaltung - müssten nicht mehr in einem solch starken
Kontrast stehen, denn in der gleichberechtigten Ausbandlung und der Teilnahme
an Entscheidungen erscheinen sie weniger als entgegengesetzte und unvereinbare
Pole und mehr als Kriterien, die in Gesprächen und Verhandlungen berücksichtigt
werden müssen.

6.6.5 Betriebliche Reorganisation und kognitive Dissonanzen

Veränderungsprozesse in Organisationen erzeugen Ambivalenzen und Paradoxien,


die von den Betreibern betrieblicher Reorganisationsmaßnahmen meist verschleiert
und rhetorisch begradigt werden. Nichtsdestotrotz gibt es diese widersprüchlichen
Prozesse, die von den Beteiligten oft selbst bewältigt werden müssen. Im Folgenden
werden diese kognitiven Dissonanzen, die im Verlauf der Analyse sichtbar wurden
noch einmal zusammenfassend dargestellt.
Kognitive Dissonanzen beschreiben eine widersprüchliche Beziehung zwi-
schen kognitiven Elementen, wie Meinungen und Einstellungen, die bei einem
Menschen eine unangenehme psychische Spannung auslösten. Sie wollen diese
dann reduzieren oder sich der Situation entziehen (vgl. Schäfers 1986: 53; auch
Festinger 1957, Sennett 1992).
Die betriebliche Doppelwirklichkeit und die in ihr geltenden Sinnsysteme
münden in einen ambivalenten Kontrast, der bei den Beschäftigten ein Störge-
fühl auslöst: etwas bewerten und entscheiden können, weil das (Erfahrungs-)
Wissen über die Machbarkeit vorhanden ist versus es einfach umsetzen, weil
der Handlungsspielraum als hierarchischer Funktionsträger gegeben ist und
die mathematische Wirklichkeit im Fallbetrieb gilt. Die Unvereinbarkeit beider
Sinnsysteme und die größere relative Spielstärke der Arbeitgeberfiguration, die
besonders in den KVP-Workshops sichtbar wird, münden in ein Störgefühl für
die Beteiligten. Sie sollen im Rahmen eines scheinbar partizipativen Verfahrens
eine Aufgabe bewältigen, die so unlösbar scheint, wie die generelle Auflösung der
betrieblichen Wirklichkeit. Dieses übergeordnete Problem lässt sich, wie bereits
beschrieben, nicht im Workshop bearbeiten. Die Aufmerksamkeit verlagert sich
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 281

aus diesem Grund auf die Kompromissbildung in den Verhandlungen und kann
das Störgertihl, ausgelöst durch die betriebliche Doppelwirklichkeit, zwar nicht
beseitigen, aber mildem.
Der Doppelcharakter der Verbesserungsmaßnahmen bzw. der .nicht unliebsame
Nebenetfekt" (Minssen 1999: 133) gemeinsamer Schnittmengen kann bei den Be-
schäftigten ebenfalls ein Störgefühl auslösen.•Wege sind Zeit" (STEWEBf/494) stellt
eine Produktionsmitarbeiterin fest und so kann die Arbeitserleichterung, weniger
laufen zu müssen, im selben Moment zu Effizienz führen und Fertigungszeit und
damit Personal reduziert werden. Mit der überlegung .Lauf ich lieber ein paar
Meter mehr oder sag' ich das jetzt?" (ebd.) bremsen sich die am KVP beteiligten
Produktionsmitarbeiter bei der Nennung von Verbesserungsideen und wägen mit
einer beständigen Rück- und Vorausschau die Folgen ihrer Handlungen ab. Das
Störgefühl, so lässt sich zusammenfassen, wird dadurch ausgelöst, aktiv an der
Erzielung von Arbeitserleichterungen und im selben Moment, allerdings ungeplant
an der eigenen Leistungsintensivierung beteiligt zu werden.
Wenn die Beschäftigten ihre Verbesserungsideen im Hinblick auf den damit
erbrachten Beitrag zur Wertschöpfung überprüfen, ist dieses Verhalten ein Indiz
für das Eindringen der Marktlogik in die Produktion. Als abhängig Beschäftigte
sollen sie wie Unternehmer agieren und eigene Ziele in Einklang mit betrieblichen
Zielen bringen. Eigene Interessen und ihre Vertretung als das Wahrnehmen von
Teilhabechancen werden verdeckt und so sind die mit den betrieblichen Zielen
abgestimmten Interessen inauthentisch und fübren zur Entfremdung des eigenen
Wollens (vgl. Senghaas-Knobloch 2008: 114). Die kognitive Dissonanz, die daraus
entsteht, müssen die Beschäftigten selbst bewältigen. Im untersuchten Fallbetrieb
reflektieren die Beschäftigten die Forderungen des Unternehmen, wertschöpfende
Verbesserungsideen zu präferieren und gestehen ihnen zu, dass sie diese betriebs-
wirtschaftliche Sichtweise nachvollziehen können, aber sie nur unter bestimmten
Bedingungen bereit sind, sich darauf einzulassen. In den Verhandlungen der
KVP-Workshops wird diese Haltung der Beschäftigten deutlich. Sie lehnen Stel-
lenabbau im direkten produktiven Bereich zum Erhalt der Wettbewerbsfahigkeit
nicht generell ab, aber sie halten dem grenzenlosen Rationalisierungsprozess ohne
humane Aspekte eigene Bedingungen entgegen (vgl. GENEC/209, GENEE/106)
und begegnen einer totalen Vereinnahmung des Selbst mit ihrer .oppositionellen
Subjektivität" (Dörre et al. 2011: 46f.).
Auch für die betrieblichen KVP-Moderatoren oder gerade für sie in ihrer
Mehrfachrolle als Agenten der Arbeitgeberfiguration, Unterhändler und/oder
Verhandlungsführer ergeben sich kognitive Dissonanzen im Rahmen betrieblichen
Veränderungsmaßnahmen. Sie formulieren in ihrer Aufgabe als Moderator keine
eigenen Sichtweisen oder Kritik, sondern re-formulieren die aufzentraler Ebene
282 6 Empirische Ergebnisse

verfassten Ziele und Absichten des Unternehmens. Sie vermitteln ein Konzept, bei
dem sie selbst widersprüchlich sind. Besonders beim Aspekt der Leistungsverdich-
tuog als Folge des KVP treten Inkompatibilitäten auf. Mit Rhetorik versuchen sie
die Leistungsverdichtung als Zweck der KVP-Workshops zu verschleiern, obwohl
im Grunde allen Beteiligten klar ist, dass es quasi ausschließlich um Produktivität
geht. Sie erhalten auf diese Weise die Fassade einer realen Partizipation aufrecht.
Der KVP als Legitimationsfassade lässt auch die Rolle des Moderators zum Trugbild
werden und ist ein Grund für die auftretenden Dissonanzen bei der Bewertung der
Moderatorenrolle im Fallbetrieb, die zwischen dem objektiven .. gefühlt wichtig"
und dem subjektiven "nicht wichtig genommen" (MODIBE/536+538) schwankt.
Die KVP-Moderatoren bewegen sich in einem Tabufeld, in dem gilt: nur den-
ken, nicht aussprechen. Um die Dissonanz zu ertragen oder sie herabzumindem,
versuchen sich die Moderatoren selbst zu überzeugen, indem sie Ambivalenzen
rhetorisch begradigen, wie das folgende Beispiel von MODIBE zeigt, und werden
zu Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik (vgl. Weltz 2011: 78):

"Aber das ist qenau der punkt, bei dem man ansetzen muss,
dass man den Leuten klar macht, sie müssen nicht mehr
leisten, sondern nur (.) SINNvollere Tätigkeiten ausführen,
statt sich mit Verschwendung aufzuhalten. u (MODIBE/43)

Die KVP-Moderatoren sind damit beschäftigt, eigene Gefühle und Interessen zu-
gunsten betrieblicher Absichten zu verbergen und ihre Emotionen zu kontrollieren.
Der KVP-Moderator erhält die Aufgabe des gleichbleibend gut gelaunten Stim-
mungsbarometers und trägt auf diese Weise zum Wohlbefinden der Teilnehmer bei
(vgl. Hochschild 2006: 55). Auf diese Weise sichert er einen erfolgversprechenden
Verlauf während einer Workshop-Woche. Negative Gefühle werden unterdrückt
und der KVP-Moderator wird zum Schauspieler (vgl. MOD03175). Er orientiert
sich an den Bedürfnissen anderer und entfremdet sich auf diese Weise von den
eigenen Gefühlen.
Eine weitere Bewältigungsstrategie zur Reduzierung der Dissonanz, zum Kon-
zept selbst widersprüchlich zu sein, ist die Herstellung der Distanz zwischen den
Rollen .ich" und .Moderator", wobei das "ich" emotional und die Moderatorenrolle
eher emotionslos gestaltet werden soll. Die beschriebenen subjektiven Leistungen
"Emotionskontrolle" und »Distanzherstellung" werden vom Unternehmen still-
schweigend hingenommen und erfahren keine Anerkennuog (da sie die Scheinwelt
bedrohen würde) und so empfindet der Moderator die Trennung zwischen "ich"
und »Moderator" als relativ entfremdend. Genauso ist es den KVP-Moderatoren
im indirekten Bereich im Fall ihrer Rekrutierung ergangen.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 283

6.6.6 Das Neutralitätskonzept der KVP-Moderatoren

Die Motive und Diskurse im Zusammenhang mit den innerbetrieblichen KVP-Mo-


deratoren sind in Abschnitt 6.2 bereits ausführlich erläutert worden, sodass an
dieser Stelle keine summative Aufzählung erfolgen sol~ sondern die verdichtete
Darstellung des zentralen Motivs des .Neutralitätskonzepts".
Das De-Eskalationsteam, bestehend aus Mitgliedern des Managements und
des Betriebsrats, ist im Fallbetrieb eingerichtet worden, um Konfliktsituationen in
den KVP-Workshops zu lösen. In der Analyse wurden in diesem Zusammenhang
zwei Kategorien von Moderatoren unterschieden: a) Für diese Moderatoren ist das
De-Eskalationsteam das äußere Zeichen einer gescheiterten Neutralitätsleistung.
Der KVP-Moderator hat bei der Vermittlung seiner neutralen Position versagt,
ein Dritter muss einspringen und diese Aufgabe nun übernehmen; b) In diesem
Fall sehen die Moderatoren das De-Eskalationsteam nicht als Versagen ihrer
Neutralitätsbemühungen an, sondern als Unterstützung ihrer Unabhängigkeit. Sie
nutzen das betriebliche Angebot im Fall einer Eskalation und erhalten weiterhin
ihre Neutralität im Sinne einer Nichteinmischung.
Der Umgang der KVP-Moderatoren mit der konfliktreichen Neutralitätsher-
stellung zeigt stark egozentrierte Bewältigungsstrategien. Der Ich-Bezug wird in
der gesamten Darstellung der KVP-Moderatoren und ihrer Bewältigungsstrategien
deutlich und zeigt ihre subjektive Leistung im Rahmen dieser neuen Rolle. Ins-
besondere die Moderatoren aus der Verwaltung für die Verwaltung befinden sich
mit ihrer Rolle im Reorganisationsprozess in einem Mix aus widersprüchlichen
Anforderungen. Die eigentliche Aufgabe in der Organisation als Sachbearbeiter
bzw. Fachreferent ist in eine hierarchische Linienorganisation eingefügt, demge-
genüber steht die Aufgabe als KVP-Moderator, dessen Verhaltensanforderungen an
entgrenzte, von Selbstorganisation geprägten Strukturen orientiert ist. In diesem
Mix aus Struktur und Entgrenzung bewegen sich die Handlungen der KVP-Mo-
deratoren, die sie je individuell bewältigen. Das Unternehmen spielt keine Rolle
als Unterstützer für diese ambivalente Herausforderung. Zudem erkennt es diesen
Spagat nicht als besondere Leistung an und so erklärt sich der Ich-Bezug in den
Darstellungen der KVP-Moderatoren in den Gruppendiskussionen.
Der Fallbetrieb erweist sich im gesamten KVP nicht nur als Verweigerer der
Unterstützung und Anerkennung der Moderatorenleistungen, sondern engagiert
zudem als Ausdruck gezielter Provokation und Disziplinierung externe Mo-
deratoren, die den innerbetrieblichen Moderatoren in dem Moment vorgesetzt
werden, wenn die Effizienzleistungen nicht den gewünschten Zielen entsprechen.
So erhielten sie nicht nur keine Anerkennung, sie wurden zudem noch gedemü-
tigt. Die Befriedigung der eigenen Bedürfoisse wie zum Beispiel Anerkennung
284 6 Empirische Ergebnisse

für seine Tätigkeiten zu erfahren ist aber immer auch auf andere gerichtet. Die
KVP-Moderatoren bewältigen diese Situation, indem sie sich einerseits auf die
heterogen zusammengesetzte Workshop-Gruppe konzentrieren und sich dort
Anerkennung in Form von Bewunderung erarbeiten und andererseits auflallig
oft die Moderatorentätigkeit als .Spaß" betiteln (vgl. Voswinkel2002: 79f.). Vor-
aussetzung ist allerdings die erfolgreiche Nutzung der Neutralitätsfunktion und
die erfolgreiche Durchführung eines Workshops; erfolgreich bedeutet dann, zur
Zufriedenheit aller Workshop-Teilnehmer arbeiten. Das Neutralitätskonzept, auch
wenn es faktisch eine Illusion ist, bildet den Versuch, von der Workshop-Gruppe
eine Anerkennung zu erlangen. Schafft ein Moderator es, die beiden konfliktären
Verhandlungspartner zur Zusammenarbeit und zu Kompromisslösungen zu
bringen, führt er diesen Erfolg auf seine Neutralitätsleistung zurück. üb er dabei
dem Prinzip a) oder b) folgt, ist nicht wichtig. Ausschlaggebend ist der erfolgreiche
Workshop mit "irgendwie"-Ergebnissen.
In diesem Zusammenhang ist oft die Kontrolle und damit Entfremdung eigener
Gefühle verbunden, wenn die erfolgreiche Durchführungvon der guten Stimmung
des Moderators abhängig ist. Arlie Hochschild spricht von "Gefühlsarbeit", die
dazu dient, dass es den anderen dadurch besser geht (vgl. Hochschild 2006: 135).
Die Entfremdung von eigenen Emotionen führt dann dazu, dass sie in ihrer Rolle
als KVP-Moderator nicht authentisch sind.

6.6.7 Die Auflösung des Fordismus gelingt nur fordistisch

Im Rahmen der Abarbeitung von Verbesserungsmaßnahmen fordern die be-


fragten PMA eine äußere "Kontrolle" (GENEF/35) in Form einer "Truppe, die
nachbereitet" (GENEA/44), Fortschritte überwacht und gegebenenfalls forciert.
Im Verlauf der Analyse wurde deutlich, dass Generierung und Abarbeitung der
aus den KVP-Workshops entstandenen Verbesserungsmaßnahmen sich auf un-
terschiedliche Werte- und Normensysteme stützen und je eigene Verhaltensan-
forderungen verlangen.
Entstanden sind die Maßnahmen innerhalb der entgrenzten Zusammenarbeit
im KVP-Workshop. Dort wurde mit hierarchiebefreiter Zusammenarbeit expe-
rimentiert, die auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung der einzelnen
Teilnehmer setzte. Maßnahmen, die nicht sofort umgesetzt wurden, mussten im
Anschluss an die Workshop-Woche von anderen Fachabteilungen abgearbeitet
werden. Ihre Verwaltung erfolgte durch eine Datenbank, in der allen Maßnahmen
ein verantwortlicher Sachbearbeiter oder Fachreferent zugeordnet wurde. Erfolgte
die Bearbeitung der Maßnahmen nicht fristgerecht, erhielt der Vorgesetzte des
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 285

Sachbearbeiters bzw. Fachreferenten eine E-Mail mit der Information, dass sein
Mitarbeiter in Verzug sei. Die Bearbeitung der Verbesserungsmaßnahmen soll
mithilfe einer Datenbank unterstützt werden, die von den eingetragenen Verant-
wortlichen eine zeitlich begrenzte Selbstorganisation verlangt. Die ,.Anweisung"
und ihr Bearbeitungszeitraum erfolgt in entpersonalisierter Form als E-Mail und
ist das Resultat der Verhandlungsergebnisse einer ganzen Worksbop-Woche. Die
virtuelle Anweisung trifft auf traditionell fordistische und damit hierarchische
Strukturen. In dieser Zone orientieren sich die Sachbearbeiter in erster Linie an
der ihnen bekannten und etablierten Unternehmenskultur''' und können sich der
Erledigung dieser Aufgaben entziehen, solange es keine Anweisung von "oben"
gibt. Selbstverantwortung wird bei ihnen nicht aktiviert.
Der Experimentierraum KVP-Workshop lässt zu. dass sich nun auch Produk-
tionsmitarbeiter mit Fragen der quantitativen Arbeitsplanung auseinandersetzen.
Der anomische Zustand einer inhaltlichen und funktionalen Entgrenzung führt
dann zu einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung. ohne dass eine
entsprechende Integration und Koordinierung erfolgt. Selbstorganisation trifft auf
fordistische Arbeitsweisen und die Resultate aus den KVP-Workshops laufen ins
Leere. wenn sie nicht fremd kontrolliert werden. Der ambivalente Auflösungsprozess
des Fordismus gelingt demzufolge nur auf fordistische Weise.
In einem Betrieb mit starker Fremdregulierung innerhalb hierarchischer
Strukturen reagieren Beschäftigte auf die geforderte Selbstregulierung im Rahmen
neuer Partizipationskonzepte in unterschiedlicher Weise. Entweder sie begegnen
ihr mit Verunsicherung. weil unklar ist, welches Handeln belohnt wird. oder sie
rufen in unsicheren Situationen nach hierarchischer Führung bzw. sie drängen
regelrecht auf Wiederherstellung einer starken Führung (vgl. Elias 1987/2003: 243).
also einem Vorgesetzten der .von oben mal Druck" (GENEF/204) ausübt. In der
Forderung nach äußerer Kontrolle der Abarbeitung zeigt sich der noch immer
gültige traditionell fordistische Habitus.
Das in MODIB erwähnte .Steuerungssymbol" (MODlBB/311 +313) kennzeichnet
zum Beispiel einen erwünschten (personifizierten) Steuermann und Struktur-
geber, einen Haltgeber für eine neue und unbekannte Situation, in der sich die
KVP-Moderatoren der Verwaltung plötzlich wiederfinden. Ein Zusammenschluss
zur institutionalisierten Moderatorengruppe ist für die Befragten nur dann vor-
stellbar, wenn eine Person die Koordination und Integration übernimmt. In der

127 Vgl. dazu Stefan Kühl, der auf den Strukturkonservatismus durch Selbstorganisation
hinweist: ..Das Dilemma der Selbstorganisation ist, dass die selbst organisierten Einheiten
sich vorrangig an den bekannten fremd organisierten Strukturen im Unternehmen
orientieren." (Kühl 2000: 132f.)
286 6 Empirische Ergebnisse

Fixierung auf ein Steuerungssymbol bemerken die Moderatoren jedoch gar nicht,
dass sie sich bereits in der Entwicklung zu einem emergenten Kollektiv befinden.
Die selbstregulierte Vereinigung zu einer Moderatorenfiguration findet automatisch
und beinahe unbemerkt statt.

6.6.8 Der Mix von Fordismus und Post-Fordismus

In einer Phase, in der Selbstorganisation aufFremdorganisation trifft, entsteht ein


sich zum Teil widersprechender Mix aus alten und neuen Verhaltensanforderungen,
der Verunsicherung auslöst, aber auch strategisch genutzt werden kann.
Den Zustand der paradoxen Anforderungen im Rahmen von Veränderungspro-
zessen hat Stefan Kühl mit dem .Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbehalt-Pa-
radox" (Kühl 2002: 75) beschrieben. Infolgedessen fragen sich die Beschäftigten
berechtigterweise: .Wer entscheidet das denn? Das is' immer nur die Frage."
(STEWEC1735) Sie mussten feststellen, dass ihr Handlungs- und Entscheidungs-
spielraum an der .Scheidelinie zur Entscheidung" endet.'" Der Begriff, der diesen
Mix treffend beschreibt, ist "flexible Standardisierung". Die Verantwortung .für
die kontinuierliche Verbesserung ihrer Arbeitsprozesse auf Basis von Standards"l29
meint keine Selbstorganisation als situative Ad-hoc-Anpassung an veränderte Be-
dingungen, sondern einen bürokratischen Prozess. Der Standard kann veriindert
werden, muss aber in einen neuen, verbindlichen und schriftlich fixierten Standard
münden. Die Beschäftigten werden nicht aus dem hierarchischen Prozess entlassen,
da sich aus der damit verbundenen Kontingenz, ein Legitimationsproblem für die
Vorgesetztenebene ergeben würde. Dezentralisierung ist begrenzt dezentralisiert
und endet an der Linie zur Entscheidung, also an dero Menschen, der die .koordi-
nierende Kommandoposition" (Elias 1970/2004: 156) besitzt und auf diese Weise
werden die bestehenden Machtverhältnisse fortgeschrieben.
Selbstorganisation gilt, solange sie nicht das traditionelle Machtgleichgewicht
berührt. In dieser Übergangsphase ist den Handelnden oft nicht klar, welche Anfor-
derungen gelten, also inwieweit sich die Handlungs- und Entscheidungsspielräume
verändert haben. Die Beschäftigten wie auch die Vorgesetzten probieren Schritt

128 Vgl. das ..Konzept widersprüchlicher Arbeitsanforderungen" (WAA) von Manfred


Moldaschl, in dem er das Spannungsverhältnis von Fremdbestimmung und erweiterten
Handlungsspielräumen darstellt, das von den Beschäftigten als Belastungsanforderung
bewältigt werden muss. Sie besitzen in diesem Spannungsfeld nicht die relative
Spielstärke, die begrenzenden Bedingungen der neuen gewährten Spielräume zu
verändern (Moldasch12001: 143ff.).
129 Vgl. interne Broschüre zum Produktionssystem des Fallbetriebs.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 287

für Schritt aus, wie weit sie unter den neuen Voraussetzungen gehen können.
Gerade in den KVP-Workshops wird die Unsicherheit dentlichö dort bewegen
sich die Beteiligten zwischen den Polen Frernd- und Selbstorganisation hin und
her. Das Zusammentreffen entgrenzter Strukturen als direkte Zusammenarbeit
hierarchisch und funktional differenter Menschen mit begrenzten Strukturen als
fordistische Organisation, in der nur die Vorgesetzten entscheiden, lässt also einen
Raum der Unsicherheit entstehen, der von den Beteiligten bewältigt werden muss.
Die betrieblichen KVP-Moderatoren sind über »Gruppen, die aus dem Ruder
laufen" und »Eigendynamik" (MODIBB/821+823) entwickeln, besorgt. Gemeint
ist damit eine Workshop-Gruppe, die sich nicht mehr zielführend steuern bzw.
managen lässt und eine Dynamik entwickelt, die gleichbedeutend mit Selbstorga-
nisation ist. Selbstorganisation beunruhigt die KVP-Moderatoren aufgrund der ihr
immanenten Kontingenz ganz generell, aber gerade auch im Fall einer Partizipation,
die sich in einer unter Schutz stehenden Scheinwelt vollzieht. Selbstorganisation
soll überwacht und damit eingegrenzt werden, damit die gewährten Spielräume
im Sinne des Unternehmensziels genutzt werden können. Doch nicht nur für die
Beschäftigten offenbart sich der KVP-Workshop als diffuser Handlungs- und
Entscheidungsspielraum. Auch die Vorgesetzten wissen aufgrund neuer Anfor-
derungen nicht, wie weit der neue Spielraum der Beschäftigten geht und wann sie
nun wieder als Führungskraft gefordert sind. Ein KVP-Moderator versucht, der
Unsicherheitszone eine Struktur zu geben, indem er den Vorgesetzten im Workshop
sehr explizit auffordert zu handeln und zu entscheiden, was im selben Moment
auch seiner Neutralitätswahrung als Moderator dient (M4).
Im Rahmen der Maßnahmenabarbeitung drängen die Beschäftigten, auf Wie-
derherstellung einer starken Führung. Ihnen wird klar, dass die Anweisung, die
eine Datenbank in Form von E-Mails generiert, allein nicht genügt und fordern
den frerndbestimmten »Druck von oben".
Selbstorganisation gilt als Anspruch an die Beschäftigten, solange sie sich
betrieblichen und nicht eigenen Werten und Normen verpflichtet. Bemerken die
Vertreter der Arbeitgeberfiguration im KVP-Workshop, dass sich die Handlungen
der Vertreter der Arbeitnehmerfiguration an der Welt des Machbaren und an eigenen
subjektiven Ansprüchen an Arbeit orientieren, weicht das Verhandlungsprinzip dem
Befehlsprinzip. Die Arbeitgeberfiguration verändert dann die Spielregeln oder setzt
sie bei Bedarf ganz aus. Deutlich wird dieses Handeln am Beispiel der nur partiell
abgearbeiteten Maßnahmenblätter. Auf diese Weise kann der Mix aus Frernd- und
Selbstorganisation bzw. fordistischer und postfordistischer Produktionsweisen
strategisch genutzt werden. Die Anforderung (Selbst- oder Fremdorganisation),
die die größte Aussicht auf Erfolg im Sinne betriebswirtschaftlicher Effizienz hat,
wird bevorzugt und gilt für diesen Moment. Selbstorganisation ist demnach eine
288 6 Empirische Ergebnisse

Kann- und keine Mussanforderung an die Beschäftigten. Zu welchem Zeitpunkt


sie aktiviert werden soll. liegt nicht in der Hand der Beschäftigten.
Wie verhält es sich nun mit der Diagnose wachsender Selbstkontrollen in der
Gesellschaft und im Bereich der Produktionsarbeit und der Verwaltung? Die Ant-
wort daraufbleibt offen. Ein .Ja" zu wachsender Selbstkontrolle alleine wäre falsch.
da sich das ..Nein" in Form eines klassischen Kontrolldiskurses zum Subjektivie-
rungdiskurs hinzugesellt. Beim .Fordismus im Post-Fordismus" handelt es sich
gegenwärtig um einen "Post-Post-Fordismus" im .. nenen Geist des Kapitalismus"
(BoltanskilChiapeilo 2003), der die beiden gegensätzlichen Regimelogiken ohne
Weiteres kombiniert.
Schlussbetrachtung und Ausblick
7

Auch wenn sich mit einer dynamischen prozesssoziologischen Studie nur "offene
Antworten" ergeben und sich gegenwärtige Ereignisse aufgrund ihrer zeitlichen
Nähe in ihrer Analyse eher kompliziert und unübersichtlich erweisen, lassen sich
Ergebnisse formulieren, die Grundlage für weitere Forschung sein können.
Das Nebeneinander oder die Gleichzeitigkeit von alten und neuen Anforderun-
gen im organisationalen Funktionssystem ist für den Einzelnen nur zu bewältigen,
indem er sich in dem einen Moment für diese eine Option entscheidet, denn wie
Gabor Steingart feststellt, ist .die Freiheit der Gleichzeitigkeit [... ] die einzige
Freiheit, die der Mensch nicht besitzt" (Steingart 2011: 137). Die Gleichzeitigkeit
beschreibt die Fülle von Handlungsoptionen, die sich aus dero komplexen System
der Produktionsweisen ergibt, das seit Langem keiner linearen, sequenziellen
Entwicklung mehr folgt. Auf die Logik der .Ablösung des Alten durch das Neue"
folgt das neue .sowohl-als-auch«-Paradigma des modemen Produktionssysteros.
So wie sich das Konzept des KVP im Fallbetrieb darstellt, zielt die Freisetzung
von Subjektivität in erster Linie auf die ",Objektivierung' des arbeitsorganisato-
risch freigesetzten ArbeitshandeIns" (Böhle 2003: 128). Gemanagte Partizipation
will Informelles formalisieren und Kontingenz vermeiden. Die Freisetzung von
Handlungsspielräumen soll betrieblichen Zielen folgen und die Beschäftigten
sollen das Transformationsproblero quasi selbst lösen. Dem steht jedoch die
.oppositionelle, rebellische Subjektivität" (Dörre et al. 2011: 46f.) entgegen, die
die befragten Beschäftigten als ein .Gegenhalten" gegen die ausschließlich öko-
nomischen Interessen beschreiben.
Ist Subjektivierung eine Chance oder ein Risiko? Ist der moderne Mensch
nicht eher einer "Bilanzbetrügerei" aufgesessen, die "Zumutungen als Gewinne
ausweist" (Steingart 2011: 137)? Freiheit ohne Sicherheit, Selbstbestimmung ohne
Geborgenheit und die daraus resultierende Schwächung der kollektiven Inter-
essenvertretung "nimmt den Subjekten jenen sicheren Rahmen, der notwendig
wäre, um Marktrisiken als positive Handlungsanreize entschlüsseln zu können"

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie 10,
DOI 10.1007/978-3-658-05146-4_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
290 7 Schlussbetrachtung und Ausblick

(Dörre 2006: 4). Die Chancen im Rahmen neuer Beteiligungskonzepte, also die
Nutzung erweiterter Handlungsspielräume im Sinne einer Selbstermächtigung,
finden ohne entsprechende Integration und Koordinierung statt. Der Indivi-
dualisierungsschub einerseits und die auf Selbstverantwortlichkeit basierenden
neuen Beteiligungskonzepte als fortschreitende funktionale Differenzierung
andererseits fehlen die Integrationsformen. Zwar kommt es zu den von Friehe
und Lobo beschriebenen .frei assoziierten" (Friebe/Lobo 2006: 277) Kollektiven,
doch bestehen diese zeitlich labilen, aber in ihrer Verbindlichkeit untereinander
relativ stabilen Integrationsformen ohne rechtliche Basis. Ohne Integration und
Institutionalisierung der differenzierten Funktionen, fehlen den Beschäftigten die
notwendigen Spielräume, die ihre relative Spielstärke im Organisationsgeflecht
bestimmen. Wenn aber die Beschäftigten zum Gestalter sowie Ausführenden
der eigenen Arbeit würden, wäre das die notwendige Funktionsintegration der
zunehmenden Funktionsdifferenzierung.
Die beharrliche Dynamik der immer wieder neu auszuhandelnden Arbeitsbe-
dingungen ist eine Herausforderung für die Beschäftigten. Die Reorganisation in
Permanenz und das .Tempo unserer Zeit" (Elias 1939/1997, Bd. 2: 348) verlangen
erhöhte Wachsamkeit und Präsenz der Menschen. Die Steigerung der Verfallraten
gültiger Verhaltensanforderungen, Arbeitsbedingungen und Produktinnovationen
sind das Indiz für die Verkürzung des Zeitraums der Gegenwart: was eben noch
modern war, gilt im nächsten Moment als veraltet (vgl. Rosa 2005: 133). Der mo-
derne Arbeitsmensch verhält sich wie Albert Camus' Sisyphos (vgl. Camus 2000),
der in ständiger Bewegung ist, ohne jemals sein Ziel zu erreichen.
Norbert Elias hat bereits im Zusammenhang mit der Periode der Industria-
lisierung beschrieben, dass funktionale Differenzierung und Integration zeitlich
divergent sein können. Die Koordination und Integration hinkt auch gegenwärtig
wieder der beschleunigten Funktionsdifferenzierung hinterher. Erschwerend
kommt hinzu, dass die Integration immer weniger von staatlichen Monopolen,
sondern von den Menschen als .Integrationsagenturen" (Degele 1999) selbst
übernommen werden.
Dieser Prozess führt dazu, dass die kollektive Interessenvertretung in Gestalt
von Betriebsrat und Gewerkschaften vor der beinahe unmöglichen Herausforde-
rung steht, die einzelnen Interessen der "Integrationsagenturen" zu bündeln. Die
Definition der Anforderungen an die eigene Arbeit wird von den Beschäftigten
individuell definiert und behindert weitgehend ihre Bündelung auf betrieblicher
sowie auf gewerkschaftlicher (gesellschaftlicher) Ebene (vgl. Sauer 2011). Minssen
konstatiert dazu: "Die Vereinheitlichung von Interessen durch Gewerkschaften wird
also angesichts der Heterogenisierung der Interessenlagen zusehends erschwert."
(Minssen 2006: 177) Und Dieter Sauer sieht darin eine .radikale Wende in der
7 Schlussbetrachtung und Ausblick 291

Arbeitspolitik" (Sauer 2011: 241, nämlich das .Ende der Stellvertreterpolitik" (ebd.1,
die ftir ihn nicht bedeutet, dass die kollektive Interessenvertretung ausgedient hat,
sondern dass sie sich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen klar werden und
neuer Möglichkeiten bedienen muss. Die Bewertung der neuen Bedingungen und
die daraus abzuleitenden Möglichkeiten fallen schwer und müssen in aktuellen
gesellschaftlichen, (gewerkschafts-1politischen und wissenschaftlichen Diskors er-
arbeitet werden. Diese Arbeit liefert einen solchen Beitrag. Die Integrationsfunktion
des deutschen Modells der Mitbestimmung verliert auf den ersten Blick ihren Sinn.
Ein zweiter Blick wird notwendig, ihre Koordinations- und Integrationsfunktion
neu zu bestimmen und zu modifizieren.
Der Fallbetrieb befand sich zum Zeitpunkt der Studie in einem .Unruhezustand"
und somit in einer idealen Situation für empirische Untersuchungen. In Zeiten
betrieblicher Restrukturierungen werden Selbstverständlichkeiten infrage gestellt
werden und die Beschäftigten beginnen sich und ihre Situation zu reflektieren.
Die Einftihrung des KVP erwies sich als .brennendes Thema" auf allen Organi-
sationsebenen und konnte als gemeinsames Interesse zwischen Forscherin und
Akteuren der Organisation formuliert werden.
Arbeitshandeln findet in der Balance zwischen Fremd- und Selbstzwängen statt
und tendiert gegenwärtig und heute mehr denn je zu solchen Zwängen, die wir
auf uns selbst ausüben. Die Selbstzwangapparatur der Menschen war noch nie so
ausgeprägt wie heute. Diese Studie zeigt die figurations- und prozesssoziologische
Dimension der Entwicklung von Fremd- und Selbstzwängen unter flexibilisier-
ten Bedingungen auf. Die Anwendung des rekonstruktiven Analyseverfahrens
ermöglicht einerseits die Rekonstruktion angewandter Bewältigungsstrategien
und Abwehrmechanismen im Hinblick auf die Gestaltung der besonderen Lage
zwischen Optionen und Anforderungen und andererseits den Blick auf sich wan-
delnde Fremd- und Selbstkontrollen. Mit der Anwendung von Analyseheuristiken,
die auf Veränderungen spezialisiert sind, ist es möglich in einer figurations- und
prozesssoziologischen Weise, dynamische Veränderungen zu erfassen und zu
analysieren.
Mit dem Blick auf die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit verfolgt die
Arbeit das sich wandelnde Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten.
Seit den 1970er Jahren nimmt die automatische Autoritätsannahme ab und die
Qualität der Handlungen muss gerechtfertigt werden. Die Studie belegt, dass
aus diachroner Sicht aus Befehl Verhandlung wurde und zeigt die zunehmende
gesellschaftliche Selbstkontrolle im Verlauf der Menschheitsgeschichte auf, die
eben nicht auf den sozialen Ort der Fabrik beschränkt ist. Diese Sichtweise öffnet
die auf Organisationen beschränkte Forschung, die einseitig davon ausgeht, dass
es sich bei den Selbstorganisationsfahigkeiten und ihrer betrieblichen Nutzung
292 7 Schlussbetrachtung und Ausblick

um eine punktuelle Erfindung des Managements handelt und auf diesen Ort be-
schränkt bleibt. Der aktuelle Zivilisierungsgrad lässt Sozialtechniken zu, die auf
.Selbst-Fähigkeiten" beruhen und so beweisen die Manager, dass sie die aktuellen
Verhältnisse korrekt analysiert haben und im Verlauf einer Experimentierphase
den richtigen Einsatz einer Sozialtechnik zur richtigen Zeit der menschlichen
Zivilisation vollzogen haben. Mit Elias' Verflechtungsgedanken. also der Wech-
selwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, lassen sich die Veränderungen
in den Fabriken gesamtgesellschaftlich analysieren und verstehen.

Ausblick

Fabrikarbeit und ihre Disziplinierungsgeschichte wird fortgeschrieben und bleibt


eine Bewertung des Arbeitshandelns zwischen Frerod- und Selbstzwängen. Die
Analyse des Arbeitshandelns der Beschäftigten in der Automobilindustrie zeigt,
dass sich die betrieblichen Figurationen weiterhin in einem konfliktären Aus-
handlungsprozess zwischen Frerod- und Selbstansprüchen an qualitative und
quantitative Arbeitsleistung und ihrer gerechten Anerkennung befinden. Seit
Beginn der Disziplinierungsgeschichte in den Fabriken hat sich nichts an den An-
sprüchen der Unternehmer verändert. Es geht weiterhin darum, die Beschäftigten
im Sinne einer effizienten Produktionsweise zu disziplinieren. also ihr Verhalten
an diese Erfordernisse anzupassen. Zu diesem Zweck nutzen die Unternehmen
vielfältige Mittel, wie zum Beispiel die Sozialtechniken KVP und Teamarbeit sowie
Vermarktlichungskonzepte.
Aus zivilisationstheoretischer und historischer Perspektive ist gegenwärtig ein
vortrefflicher Zeitpunkt für die Umwandlung von Fremd- in Selbstansprüche auf
betrieblicher Ebene. Die aktuellen .Techniken" sind wie die Disziplinarmethode
"Fabrikordnung", so wie sie zu Beginn der ersten Fabriken eingesetzt wurde, ein
Spiegel des Zivilisationsgrads. Aktuell versuchen die Unternehmen die Interes-
sengegensätze von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu vereinen und die Beschäf-
tigten zu motivieren, ihre Arbeitskraft selbst in Arbeitsleistung umzuwandeln.
Zu diesem Zweck - so müsste die Forderung lauten - muss der Beschäftigte zum
Gestalter und Ausführenden der eigenen Arbeit werden; mit den dazugehörigen
und erforderlichen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, die nicht aufgrund
drohender Kontingenz vom Unternehmen wieder begrenzt werden.
Die moderne Fabrik ist auch heute noch kein Ort, an dem die Bedürfnisse
betrieblicher Figurationen in Einklang gebracht werden können. Sie steht jedoch
heute mehr denn je vor der Herausforderung auf die veränderten gesellschaftlichen
Machtverhältnisse zu reagieren. Wenn sich die Entwicklung des gesellschaftlichen
7 Schlussbetrachtung und Ausblick 293

und betrieblichen Machtgleichgewichts der Figurationen wie in den 1970er Jahren


in erheblichem Maße widersprechen würden, könnte sich die aus dieser Schieflage
abgeleitete negative Stimmung der Beschäftigten mit ungeahnten Folgen entladen
(z. B. als Streiks). Aufgrund der Ergebnisse dieser Arbeit können eher zähe, aber
dennoch wirksame Wandlungstendenzen der Machtverhältnisse zwischen den
betrieblichen Figurationen vermutet werden. Eigenverantwortliches Handeln findet
seinen Platz noch auf .Inseln" wie den KVP-Workshops und erreicht lediglich einen
Bruchteil der Beschäftigten. Die Erfahrungen der an den Sozialtechniken Beteiligten
wirken sich auch auf die Beziehungen zu anderen Menschen eigener und fremder
Figurationen aus. Indem diese kleine Gruppe erweiterte Handlungsspielräume,
die sie aufgrund ihrer Erfahrungen aus den KVP-Workshops mitbringen, aufzeigt
und nutzt, beeinflussen sie in einem dynamischen Spannungsgefüge das Handeln
anderer Menschen, mit denen sie wechselseitig interdependent sind. Schritt-für-
Schritt können sich Machtverhältnisse in den Fabriken wandeln und sich, wenn
auch zeitlich verzögert, den geselIschatlIichen Machtverhältnissen annähern. Wie
sich dieser Prozess vollzieht, ist die Aufgabe weiterer Untersuchungen, die sich
in eine diachrone. zivilisationstheoretische Sichtweise und Tradition einreihen.
Anhang

Beispiel-Leitfaden .GENEN
Zielgruppe 1, Produktion, mit Workshop-Teilnahme
Frage Bemerkuna: Indikator
Was ist KVP eigentlich fiir Eröffnungsfrage
ouchl
Subj_rioruog und Merkposten
Entgrenzung
Was wird in einem Diese Frage zielt darauf ab. herauszu- Kommunikationsf"a1tigkeit.
KVP-Workshop von euch finden. ob typische Subjekt-Qualitä- Interaktionen. Leistungsan-
abverlangt? ten genannt ~rden. forderung, Verantwortung,
welche Fähigkeiten braucht Interpretationsleistung,. Qua-
ihr? lifikation
Wie könnt ihr euch in dieser Hier möchte ich herausfinden, wie dieVerantwortung. Kommun!-
Woche einbringen? Einstellung zur Partizipation am KVP kationsfähigkeit, Motivation,
ist und ob sie stattfindet. Engagement, Entfaltung und
Selbstverwirklichung,. Selbstbe-
stimmung
Welche Erwartungen Entfaltung und Selbstverwirkli-
hattet ihr an den Workshop? chung, Anerkennung, Partizipa-
Wurden die Erwartungen in tion. Selbstbestimmung
dieser Woche erflilltr
Hat man Euch nach Euren Anerkennung. Partizipation,
Erwartungen oder Befürch- Selbstbestimmung, Werte
tungen gefragt?
Wie ist die Phase direkt nachWas macht man mit den Fähigkeiten KommunikationsIa1tigkeit,
einem Workshop, speziell für an der Linie. die man im Workshop so Motivation und Engagement,
euch und eure Arbeitssitu- dringend gebraucht han Partizipation
ation? Kommunikationsfihigkeit, Motivati-
on und Engagement. Partizipation
Wurdet ihr auf eigene ID.er möchte ich die Motivation fiir Verantwortung. Motivation und
Initiative Workshop-Teilneh- eine Teilnahme herausfinden. Engagement, Anerkennung.
mer oder seid ihr bestimmt Partizipation. Selbstbestim-
wonknl mung, Identifikation

M. Frerichs, Innovationsprozesse und organisationaler Wandel in der Automobilindustrie,


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296 Anhang

Wie findet ihr im Allgemei- Motivation &: Engagement. Ver-


nen die Idee. Mitarbeiter von antwortung. Sinn-Ansprüche
der Linie in den KVP Prozess und Bedürfnisse an die Arbeit,
direkt mit einzubeziehen? Anerkennung, Partizipation,
Zwang. Selbstbestimmung.
Identifikation, Freirlume
Welchen Anreiz gibt cs. bei Anerkennung. Möglichkeit der Teil- Ökonomisch, Anerkennung,
eine KVP-Worbhop mitzu- nahme. finanzielle Anreize Partizipation. Motivation,
machen! Partizipation, Zwang, Selbstbe-
ltimmung
Habt ihr durch KVP mehr Fokus auf der Veränderung: Vor- Zwang. Selbstbestimmung.
Verantwortung? Wie war es her-Nachher KVP Freiräume, Entfaltung &: Selbst-
vorher? verwirklichung. Leistungsan-
forderungen. Werte
Hat der ganze Prozcas Zd'
Auawirkungen auf eure
Arbeitszeit?
Habt ihr einen festen Kolle- Mit KVP .ollen Mitarbeiter einzelner Sozialorgani.atioD
genkreis? Teams in andere Bereiche versetzt
werden. um die Produktivität in
den betraGhtcten Teams zu erhöhen.
Zunächst eine rein rechnerische
Erhöhung der Produktivität. da der
MA weiter im Werk arbeitet (dann
vielleicht als Bereit-
steller).
Wie könnt ihr euch außer- Partizipation. Motivation Ik
halb eines Workshops in Engagement. Verantwortung.
den Verbesserungsprozess Zwang. Selbstbestimmung.
einbringen? Wollt ihr das Werte, Entfaltung &: Selbstver-
überhaupt? wirklichung, Identifikation,
Freiräume. Sinn-Ansprüche und
Bedürfniase an die Arbeit
Merkpolten

Wie sehr wollt ihr penönlich Subjekte versuchen Grenzen zu Partizipation. Motivation BI:
in den KVP Prozess mit setzen. wenn die Tauschrelationen Engagement. Verantwortung.
einbezogen sein? Wo sagt ihr: nicht stimmen und sie zu .ehrver- Zwang. Selbstbestimmung,
Bis hi.erhin und nicht weiter? einnahmt werden ohne eine adäquate Werte, Entfaltung &: Selbstver-
Entlohnung. wirklichung, Identifikation,
Freiräume, Sinn-Ansprüche und
Bedürfniase an die Arbeit
Beispiel-Leitfaden .GENE" 297

Wo ist der Unterschied zu Verantwortung. Motivation &:


eurer Arbeit an der Linie Engagement. Kommunikati-
und der Teilnahme an einem onsI'ahi.gkeit, Sinn-Ansprüche
KVP-Workshop? &: Bedürfnisse an die Arbeit.
Entfaltung und Selbatverwirk-
Hchung, Leistungsanforde-
rungen, Selbstbestimmung.
Interpretationsleistungen.
Zwang. Interaktionen
Hudlungafreiriume MerkpOlteD

Habt ihr das Gefühl bei KVP Sinn-Ansprüche und Bedürfnis-


wirklich mitgestalten zu kön- se an die Arbeit, Entfaltung &:
nen und euer Arbeitaumfeld Selbstverwirklichung, Freiräu-
zu verbessern? me, Selbttbeatlmmung. Zwang.
Motivation und Engagement
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