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(Figurationen. Schriften Zur Zivilisations- Und Prozesstheorie 10) Melanie Frerichs (Auth.) - Innovationsprozesse Und Organisationaler Wandel in Der Automobilindustrie_ Eine Prozesssoziologische Analy
(Figurationen. Schriften Zur Zivilisations- Und Prozesstheorie 10) Melanie Frerichs (Auth.) - Innovationsprozesse Und Organisationaler Wandel in Der Automobilindustrie_ Eine Prozesssoziologische Analy
Schriften zur
Zivilisations- und Prozesstheorie
Band 10
Herausgegeben von
Annette Treibel, Karlsruhe, Deutschland
in Zusammenarbeit mit
Helmut Kuzmics und Reinhard Blomert
Melanie Frerichs
Innovationsprozesse
und organisationaler
Wandel in der
Automobilindustrie
Eine prozesssoziologische Analyse
betrieblicher Machtproben
Melanie Frerichs
Düsseldorf, Deutschland
D6
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Danksagung
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine Dissertation, die ich 2012
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht habe. Für die
Veröffentlichung wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet.
Mein erster Dank gilt den Akteuren des Fallbetriebs, ohne die es die vorliegende
Arbeit nicht gäbe: allen voran der Betriebsrat, das Team des KVP-Büros, der IG
Metall-Vertrauenskörper, der Werkleiter und das gesamte Werkmanagement sowie
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Interviews und Gruppendiskussionen.
Auch möchte ich hier ausdrücklich meinen Kolleginnen und Kollegen im Fallbe-
trieb und des Doktorandenkollegs danken, die mit mir in dieser Zeit durch alle
Höhen und Tiefen gegangen sind.
Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Stefanie Ernst, die mir in allen Phasen der
Arbeit als wissenschaftliche Betreuerin zur Seite stand und mit mir ausdauernd den
Eliasschen Gedanken diskutierte. Zudem bedanke ich mich bei dem zweiten Gutach-
ter der vorliegenden Arbeit, Prof. Dr. Rolf von Lüde von der Universität Hamburg.
Prof. Dr. Ulrich Jürgens vom Wissenschaftszentrum Berlin danke ich für die
kritische Begutachtung meiner Arbeit und den stets ergiebigen Austausch wäh-
rend der gesamten Phase der Dissertation. Einen wertvollen Beitrag zur besseren
Lesbarkeit der Arbeit hat mein Schreibberater und Lektor Hergen Hillen aus
Hamburg geleistet.
Ein besonderer Dank geht auch an Dr. Jan Kruse von der Albert-Ludwigs-Uni-
versität Freiburg, der in jeder Empiriephase mein Ansprechpartner und maßgeblich
am Erfolg der Analyse der empirischen Daten beteiligt war.
Mein herzlicher Dank gilt Thorsten Gallus, meiner Familie und meinen Freun-
den, die viel Ausdauer und Geduld bewiesen haben.
Ein besonders tief empfundener Dank gilt auch meinem verstorbenen Kollegen
Ewald D. (Betriebsrat), ihm widme ich diese Arbeit.
Düsseldorf, 7.1.2014
Melanie Frerichs
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung .................................................... 15
3 Untersuchungsleitende Konzepte:
Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung . . . . . . . . . . . . . 51
3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.3 Doppelte Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.4 Das Transformationsproblem und seine
Überwindungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen
Produktionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
8 Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildungen
Tabellen
Neue Arbeitsformen sind seit den 1990er Jahren in der Automobilindustrie die
ausschlaggebenden Wettbewerbsmerkmale auf dem globalisierten Markt. Der
stetig wachsende Konkurrenzdruck zwingt die Unternehmen zu einer Steigerung
der Produktivität, zu erheblichen Kostensenkungen und erhöhter Flexibilität.
Es ist unübersehbar, dass sich der Verkäufer- zu einem Käufermarkt gewandelt
hat. Dabei müssen die Beschäftigten im Rahmen der Einführung beteiligungs-
orientierter Konzepte wie dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP)
die damit verbundenen „Unsicherheitserfahrungen in Permanenz“ (Dörre 2005:
194) selbst bewältigen. Die Rekonstruktion der von ihnen angewandten Bewälti-
gungsstrategien oder auch Abwehrmechanismen im Hinblick auf die Gestaltung
der besonderen Lage zwischen neuen Optionen und Anforderungen ermöglicht
den Blick auf sich wandelnde Fremd- und Selbstkontrollen. Auch wenn zur indi-
viduellen Bewältigung neuer Formen von Arbeitsorganisation vielfältige Studien
vorliegen (Pfeiffer 2007, Lohr/Nickel 2005; Senghaas-Knobloch et al. 1997 etc.),
ist die figurations- und prozesssoziologische Dimension, die die Entwicklung von
Fremd- und Selbstzwängen unter den Bedingungen flexibilisierter Strukturen fo-
kussiert, noch relativ unbestimmt (vgl. Ernst 2007: 138). Die vorliegende Studie ist
ein Beitrag zur näheren Bestimmung dieser figurations- und prozesssoziologischen
Sichtweise und ein Beispiel für die praktische Anwendung prozesstheoretischer
Organisationsforschung.
Das Schlagwort der Automobilindustrie zu Beginn des Jahrzehnts hieß dabei
Lean Production. Damit fassten Womack, Jones und Roos (1991) am Massachusetts
Institute of Technology (MIT) die Ergebnisse ihrer Studie über die Hintergründe
für den Erfolg der japanischen Automobilhersteller zusammen. Nicht die Technik
– so das Resultat – war für den Wettbewerbsvorteil japanischer gegenüber europä-
ischen und amerikanischen Herstellern ausschlaggebend, sondern eine optimierte
Arbeitsorganisation. Das an Toyota orientierte Konzept, das die Schwächen des
Taylorismus (rigide horizontale und vertikale Arbeitsteilung) überwinden sollte,
1 Vgl. Voß 1998; Holtgrewe 2000; Moldaschl/Voß 2003; Lohr/Nickel 2005; Huchler/
Voß/Weihrich 2007; vgl. zu ausführlichen Literaturangaben, zu den Anfängen der
Subjektivierungsdebatte in der deutschsprachigen Soziologie Kleemann et al. 2003:
70.
1 Einleitung 17
Die Flexibilität selbst wird zum Standard erhoben und stellt widersprüchliche
Anforderungen an die Beschäftigten. Sie halten sich an einen Standard, den sie
gleichzeitig immer wieder infrage stellen sollen („flexible Standardisierung“,
vgl. Pfeiffer 2007: 60). Zudem arbeiten sie durch diese Standards an der eigenen
Disziplinierung. Die veränderte Arbeitsorganisation macht die Beschäftigten zu
Subjekten der Rationalisierung und der Disziplinierung. Flexible Standards haben
auch einen disziplinierenden Charakter und bieten aufgrund ihrer Flexibilität und
ihrer Mitgestaltungsaufforderung neue Handlungsspielräume für die Beschäftigten.
Jürgens spricht von einem „Konfliktfeld“ (Jürgens 2003: 31f.). Fremdkontrolle in
Form starrer Vorgaben wandelt sich zu Selbstkontrolle. Das Transformationspro-
blem, also die Überführung von Arbeitskraft in Arbeitsleistung, wird quasi von
den Beschäftigten selbst gelöst.
In der vorliegenden Studie sind die Subjekte im Arbeitsprozess nicht Opfer
der neuen Verwertungslogik, sondern mit individuellen Handlungsoptionen
ausgestattet. Subjektivierung ist als doppelter Prozess zu verstehen und so geht die
Untersuchung von einer dialektischen „Wechselwirkung zwischen Subjektivierung
als Zwang und Subjektivierung im Interesse der Subjekte“ (Lohr 2003: 525f.) aus.
Die neue Subjektivität im Produktionsprozess ist „in das semantische Gewand
jahrzehntealter Anforderungen gekleidet“ (Sauer 2005: 116) und zugleich eine
Herausforderung an die betriebliche Interessenvertretung.
Die Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias ermöglicht mit ihrem
rekonstruktivem Zugang eine sozio- und psychogenetische Analyse des Einzelnen
in seinen gesellschaftlich-historischen Verflechtungen. Das Verhalten wird im
Zuge der Modernisierung zivilisierter und beinhaltet Freiheitsgrade, aber auch
neue Einschränkungen, die sich in differenzierten Selbstzwängen ausdrücken.
Die Zivilisationstheorie kann auch für die Arbeits- und Organisationssoziologie
nutzbar gemacht werden, indem sie u. a. die Analyse Einzelner und ihre Verortung
in Organisation und Gesellschaft ermöglicht (vgl. Mastenbroek 2002, Ernst 2010).
Organisationen als Funktionssystem und Verflechtungssphäre sind historisch ge-
wachsene, sich weiterentwickelnde dynamische soziale Orte und Begegnungsstätten
mit Konflikten, Kooperationen und Verhandlungen. Ihre von Machtbeziehungen
geprägten interdependenten Gruppen (Management, Facharbeiter, Produktions-
mitarbeiter, Betriebsrat etc.2) sind in unterschiedlicher Form auf den vertikalen und
horizontalen Ebenen (Routine-, Experten- und Facharbeit) tätig (vgl. Ernst 2010:
47). Für die vorliegende Fallstudie ist vor allem die Disziplinierungsgeschichte der
2 In der vorliegenden Studie wurde aufgrund der besseren Lesbarkeit auf die jeweils
weibliche Form verzichtet. Nur in den Fällen, in denen explizit auf Frauen Bezug
genommen wird, wird die weibliche Form verwendet.
18 1 Einleitung
„Elias’ Ansatz eignet sich auch deshalb für die Analyse des Arbeits- und Organi-
sationslebens, weil er den Nexus von Macht, Gefühlen, Subjektivität, Konflikt und
Kontrolle in einen größeren historischen Kontext stellt.“ (Ernst 2007: 135)
Zunächst wird die Prozess- und Figurationssoziologie Norbert Elias’ für die Or-
ganisationsforschung nutzbar gemacht und ein prozesssoziologisches Vokabular
entwickelt, mit dem im weiteren Verlauf der Studie gearbeitet wird. Obwohl Elias’
Konzept besonders geeignet ist, die historische Transformation von Fremd- und
Selbstzwängen und den damit verbundenen Veränderungen der gesellschaftlichen
Machtverhältnisse zu verstehen, wurde sein Beitrag in der Forschung zum Wandel
der Arbeitsgesellschaft bisher in der deutschen Soziologie nur unzureichend oder
missverständlich rezipiert (vgl. Ernst 2007: 134). Sein Figurationsansatz dient als
theoretischer Rahmen, mit dem sich die Wechselwirkung zwischen Individuum
und Gesellschaft durch den Verflechtungsgedanken analysieren lässt. In diesem
Kapitel wird die figurationssoziologische Perspektive ausführlich erläutert und auf
den zu untersuchenden Gegenstand angewandt. Elias hat selbst einige empirische
Untersuchungen durchgeführt. Obwohl seine Studie über „Etablierte und Außen-
seiter“ (Elias/Scotson 1993) eigentlich in einem anderen Kontext durchgeführt
wurde, erlauben die Ergebnisse eine Transformation auf andere soziologische
Felder. Elias nutzte die Etablierten-Außenseiter-Figuration als eine Art „empiri-
sches Paradigma“ (ebd.: 10), das sich als Modell auch auf andere Figurationen wie
etwa Organisationen und Betriebe anwenden lässt.
Im dritten Kapitel folgt eine Einführung in die untersuchungsleitenden Konzepte
der arbeits- und industriesoziologischen Diskurse über die „Subjektivierung und
Entgrenzung von Arbeit“, die in forschungsrelevanter Hinsicht dargestellt werden
und der Analyse der empirischen Daten als „offene Interpretationsleitpfade“ dienen
(Kruse 2004: 118; Hervorhebung im Original, M.F.). Damit ist eine größtmögliche
Offenheit gegenüber dem Untersuchungsfeld gewährleistet.
Das vierte Kapitel verfolgt die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeiter
anhand wesentlicher Entwicklungslinien und Rationalisierungsetappen beginnend
mit den ersten Fabrikordnungen bis hin zu den gegenwärtigen Produktionskon-
zepten der Automobilindustrie. Es geht um Machtkämpfe und gesellschaftliche
1 Einleitung 21
In diesem Kapitel wird der figurations- und prozesstheoretische Rahmen für die
Studie beschrieben, für die Organisationsforschung nutzbar gemacht und ein pro-
zesssoziologisches Vokabular entwickelt, mit dem im weiteren Verlauf gearbeitet
wird. Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias dient als Beobachtungs- und
Erklärungsrahmen und soll bei Bedarf erweitert werden. Die Explikation der
Methode und die Entwicklung eines Forschungsdesigns dieser Figurationsanalyse
folgt in Kapitel 5 zum methodischen Vorgehen.
Elias regt dazu an, Figurationen mithilfe der Metapher „Menschen spielen Spiele
miteinander“ gedanklich nachzuvollziehen: Der „Spielverlauf“ (Elias 1970/2004:
141), der „aus der Verflechtung der Handlungen einer Gruppe interdependenter
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 25
2.2.1 Verflechtungszusammenhänge
Nach Elias ist die eigene Befriedigung der Bedürfnisse von anderen Menschen
abhängig und daher immer auch auf andere gerichtet. Menschen lernen von
anderen Menschen und werden von ihnen sozialisiert. Sie sind „erst von Natur,
dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisie-
26 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
Affektive Bindungen
Menschen sind von Natur aus trieb- und affektgesteuert. Während ihrer Sozi-
alisation lernen sie, ihre spontanen Triebe und Emotionen zu steuern und zu
regulieren. Nach Elias ist die eigene Befriedigung der Bedürfnisse von anderen
Menschen abhängig und daher immer auch auf andere gerichtet. Die Befriedigung
bezieht sich nicht nur auf sexuelles Verlangen, sondern es gibt „eine ganze Skala
von weiteren Gefühlsbefriedigungen“ (Elias 1970/2004: 147). Emotionen müssen
durch andere Menschen stimuliert werden, auch wenn die sexuelle Befriedigung
bereits in einer gesättigten Valenz3 verankert ist. Menschen befinden sich aufgrund
ihrer emotionalen Bedürfnisse immer auf der Suche nach Gesellschaft mit anderen
Menschen der gleichen Einheit. Elias beschreibt Menschen als
„Wesen mit vielen Valenzen […], die sich auf andere Menschen richten, von denen
einige in anderen Menschen ihre feste Bindung und Verankerung gefunden haben,
andere dagegen, frei und ungesättigt, auf der Suche nach Bindung und Verankerung
in anderen Menschen sind“ (Elias 1970/2004: 147).
3 Der Begriff Valenz bedeutet ganz allgemein Wertigkeit. Elias geht es in seiner Darstel-
lung der Figurationen in Abbildung 1 darum, dass Individuen nicht bloß verbunden,
sondern ihre Verbindungen emotional aufgeladen sind und einen spezifischen Wert
im Hinblick auf die Befriedigung eines Gefühls besitzen (vgl. Treibel 2008: 72).
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 27
Staatliche Bindungen
Staaten sind „Objekte gemeinsamer Identifizierungen“ (Elias 1970/2004: 151). Die
emotionalen Bindungen an den Staat stehen in der Präferenzliste an erster Stelle
vor allen anderen Figurationen. Das gemeinsame Bedürfnis der Menschen, sich
in einer Einheit zusammenzuschließen, ist die Befriedigung des grundlegenden
Schutzbedürfnisses vor physischer Gewalt durch andere und vor Naturgewalten.
Staaten bilden durch ihr Gewaltmonopol Überlebenseinheiten, indem sie vor
direkter Rache und Gewalt schützen.
Räumliche Bindungen
Elias zeigt in seiner Studie über „Etablierte und Außenseiter“ (Elias/Scotson 1993)
die Wichtigkeit der räumlichen Bindungen. Gemeinden, Stadtteile und Nachbar-
schaften sind bestimmte Figurationstypen, die die Handlungen von Menschen in
einer bestimmten Art ermöglichen oder aber beschränken und unterschiedliche
Zwänge ausüben können.
4 Nina Degele konstatiert, dass die Integration in der Moderne immer weniger durch
staatliche Organisationen (Versorgungsanstalten) erfolgt, sondern zu einer Anforde-
rung an das Individuum wird. Individualisierung bedeutet heute zunehmend, auch als
Individuum selbst die Integrationsfunktion zu übernehmen. Degele spricht in diesem
Zusammenhang vom Individuum als „Integrationsagentur“ (Degele 1999; Degele/Dries
2005: 89f., 168f.).
28 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
2.2.2 Machtbeziehungen
Die Wendung „Macht haben“ verdinglicht das Phänomen. Diese Vorstellung reicht
nicht aus, den Beziehungscharakter von Macht zu fassen. Für Elias ist Macht kein
statischer Begriff. Er nimmt damit eine gegensätzliche Position zur Definition Max
Webers ein, der schrieb: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich-
viel, worauf diese Chance beruht“ (Weber 1922/1976: 28). Elias sieht Macht als
Bindeglied bzw. Relation (zwischen)menschlicher Beziehungen.5 Er verwandelt
den „Substanzbegriff in einen Beziehungsbegriff“ (Elias 1970/2004: 142) und
grenzt sich damit von Webers verengter Sichtweise ab, Macht als „konkreten,
zweckrationalen Vollzug individueller Akteure“ (Ernst 1997: 161) zu definieren.
Elias betont die Interdependenz zwischen den Individuen und beschreibt diese mit
den historischen Veränderungen der Abhängigkeiten der Menschen voneinander
aufgrund der zunehmenden Funktionsdifferenzierung in der Gesellschaft. Der
Zugriff auf den „polymorphen Charakter der Machtquellen“ (Elias 1970/2004: 97;
Hervorhebung im Original, M.F.) (emotional, sozial, ökonomisch etc.) sei nun me-
thodisch möglich. Da menschliche Beziehungen wandelbar sind, ist auch die ihnen
5 Es sei darauf hingewiesen, dass Macht nach der weberschen Definition auch bedeutet,
dass der eigene Wille mit Einverständnis des Gegenübers geschehen kann. Kädtler
spricht in diesem Fall vom „kalkulierten Kooperationswillen“ (Kädtler 2004: 67),
der eine zeitliche Perspektive beinhaltet, also die Ge-nerierung erprobter, auf Dauer
angelegter Vertrauensbeziehungen zwischen interdependenten Men-schen. Die
Machtverhältnisse werden davon nicht berührt, aber beide Seiten wissen, wie die
jeweils andere auf welche Handlungen reagiert (Wann ist man z. B. zu weit gegangen?)
und auf diese Weise entsteht eine Art Verlässlichkeit („Grundvertrauen“, ebd.) in der
Konkurrenzbeziehung.
2.2 Das dynamische und relationale Machtkonzept 29
„etwas starrer und undifferenzierter Ausdruck für die besondere Reichweite des
individuellen Entscheidungsspielraums, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen
Positionen verbindet, als ein Ausdruck für eine besonders große gesellschaftliche
Chance, die Selbststeuerung anderer Menschen zu beeinflussen und das Schicksal
anderer Menschen mitzuentscheiden“ (Elias 1987/2003: 80).
In einer Beziehung messen die Menschen ihre Kräfte und führen kleinere und
größere „Machtproben“ (Elias 1970/2004: 76) durch, um ihr „Machtpotential“ und
ihre „strategischen Chancen“ (ebd.: 189) zu verbessern. Im Laufe der Zeit stellt
sich möglicherweise ein gewisses Machtgleichgewicht ein. Die Untersuchung von
Macht gelingt Elias ohne emotionales Engagement mithilfe der Sichtweise der
Figurationen, also Menschen, die wechselseitig miteinander in Beziehung stehen.
6 Vgl. ergänzend die vier organisationalen Machtquellen, die von den Organisations-
forschern Michel Crozier und Erhard Friedberg unterschieden werden und in erster
Linie auf Wissen und Information beruhen: 1) Expertenwissen: der für das zufrie-
denstellende Funktionieren einer Organisation erforderliche Sachverstand als Folge
der funktionalen Differenzierung bzw. Spezialisierung und der damit verbundenen
Wissensasymmetrie, 2) Außenkontakte: Beziehungen zur Umwelt durch erforderliche
Kenntnisse, Fähigkeiten und entsprechende Kontaktstellen, 3) Informations- und
Kommunikationskanäle: Wissen über Knotenpunkte zwischen organisatorischen
Einheiten und 4) Formalstruktur: Vorschriften und Verfahren, die eigentlich geschaffen
wurden, um das Verhalten der Organisationsmitglieder vorhersehbar zu machen (z. B.
der „Dienst nach Vorschrift“) (vgl. Crozier/Friedberg 1979: 50ff.).
30 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
Trotz der ungeplanten, nicht auf eine rationale Grundlage gestützten Transforma-
tion des Ganzen vollzieht sich die Zivilisation nicht chaotisch oder strukturlos. Ihr
sind Zwänge und Gesetzmäßigkeiten eigener Art immanent. Es verwandeln sich
Fremdzwänge in Selbstzwänge, spezifische menschliche Verhaltensweisen werden
in die zweite Reihe gedrängt und mit Schamgefühl belegt und die Regelung des
gesamtem Trieb- und Affektlebens wird durch eine fortlaufende Selbstkontrolle
immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler. Die „Verflechtungsordnung“ geplanter
und ungeplanter menschlicher Handlungen und die Interdependenz zwischen den
Menschen liegt dem Zivilisationsprozess zugrunde und bestimmt den Ablauf des
historisch-gesellschaftlichen Wandels (Elias 1939/1997, Bd. 2: 324f.). Spannungen,
die den gesellschaftlichen Verflechtungen immanent sind, enthalten ein hohes Maß
an Zwangsläufigkeiten (Konkurrenz) und drängen daher zu anderen Formen der
Verflechtung, wie Elias feststellt:
2.3 Der Zivilisationsprozess 31
„Die Zivilisation ist nichts ‚Vernünftiges‘; sie ist nichts ‚Rationales‘, so wenig sie etwas
‚Irrationales‘ ist. Sie wird blind in Gang gesetzt und in Gang gehalten durch die Ei-
gendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in
der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind.“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 327)
7 Willems spricht hier vom Individuum, das als „Niederschlag“ eines sozialen Prozesses
sowie als „Interakteur“ (Willems 2012: 140f.) erscheint.
32 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
„Diese Ketten sind nicht in der gleichen Weise sichtbar und greifbar wie Eisenketten.
Sie sind elastischer, variabler und wandelbarer; aber sie sind nicht weniger real, sie
sind ganz gewiß nicht weniger fest.“ (ebd.: 34)
Das Wissen um die Folgen von Handlungen wird als „gleichmäßiger Druck“ (Elias
1939/1997, Bd. 2: 336) spürbar, der vom Gewaltmonopol oder anderen Menschen,
also von der Gesellschaft, ausgeht. Ein unmittelbarer Druck oder Zwang ist nicht
mehr notwendig, da die Menschen mögliche Sanktionen verinnerlicht haben,
die auf das normabweichende Verhalten folgen. Die Menschen üben nun diesen
Zwang durch ihre Selbstkontrollapparatur – bewusst als Selbstbeherrschung und
unbewusst als Gewohnheiten – auf sich selbst aus (Selbstzwang) (ebd.: 337). Der
Selbstzwang ist die ständige Rück- und Vorausschau auf „Aktionen und Absichten
Anderer“ (ebd.: 347). Es handelt sich um friedliche Zwänge, die Beziehungen auf
2.3 Der Zivilisationsprozess 33
8 Dieser Begriff steht für Einheiten wie Stämme, Dörfer, Staaten etc., die sich bilden, um
in gemeinsamen Ausscheidungskämpfen das eigene Überleben zu sichern.
34 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
„es das Problem [ist], wie Menschen für ihre elementaren animalischen Bedürfnisse
im Zusammenleben miteinander Befriedigung finden können, ohne daß sie sich
bei der Suche nach dieser Befriedigung immer von neuem gegenseitig zerstören,
frustrieren, erniedrigen oder in anderer Weise schädigen, also ohne daß die Befrie-
digung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von
Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen
Gruppe geht“ (ebd.).
Mit der Gewaltmonopolisierung wird der Blick für andere Zwänge frei, die Men-
schen aufeinander ausüben. Wie sich unter diesen Bedingungen eine Selbstzwan-
gapparatur ausbildet, zeigen die folgenden Ausführungen.
9 Vgl. auch „Habitusensemble“ (Willems 2010: 257); „das Erlernen eines bestimmte
Schemas der Selbstregulierung“ (Elias 2006: 74).
10 Die Zivilisationstheorie ist auch als Forschungsinstrument geeignet und die analyti-
sche Teilung zwischen Zivilisation und sozialer Habitus aus heuristischen Gründen
sinnvoll.
2.3 Der Zivilisationsprozess 35
„Dieses Gepräge, also der soziale Habitus der Individuen, bildet gewissermaßen den
Mutterboden, aus dem diejenigen persönlichen Merkmale herauswachsen, durch die
sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet.
So wächst ja etwa auch aus der gemeinsamen Sprache, die der Einzelne mit anderen
teilt und die ganz gewiss einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus bildet,
ein mehr oder weniger individueller Stil heraus oder aus der sozialen Schrift eine
unverkennbar individuelle Handschrift.“ (Elias 1987/2003: 244)
„Denn im Laufe dieses Prozesses verändert sich die Struktur der einzelnen Menschen;
sie werden ‚zivilisierter‘. Und solange man sich den einzelnen Menschen wie einen
von Natur verschlossenen Behälter mit einer äußeren Schale und einem in seinem
Innern verborgenen Kern vorstellt, muß es unverständlich bleiben, wie ein viele
Menschengenerationen umfassender Prozeß der Zivilisation möglich ist, in dessen
Verlauf sich die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Menschen wandelt, ohne daß
sich die Natur des Menschen wandelt.“ (Elias 1939/1997, Bd. 1: 67f.)
Elias macht klar, dass sich die Natur des Menschen (Triebhaftigkeit) nicht ändert.
Sie rückt lediglich in die zweite Reihe, um dem zivilisierten Verhalten den Vortritt
zu lassen. Den Verlauf dieses Prozesses beschreiben die folgenden Ausführungen.
„Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen
Selbstregulierung im Sinne wandelbarer Zivilisationsmuster sind soziale Universa-
lien.“ (Elias 1986: 383; Hervorhebungen im Original, M.F.)
„So ist etwa Fremdzwang in der Form physischer Gewalt weniger zur Ausbildung
von gleichmäßigen Selbstkontroll-Instanzen geeignet als geduldige Überredung;
Fremdzwänge, die häufig zwischen heftiger Drohung und heißer Liebesbezeugung
hin und her schwanken, weniger als gleichmäßige Fremdzwänge auf einer sicher-
heitsgebenden Grundlage affektiver Wärme.“ (ebd.: 383)
11 Hier sei auf Michel Foucault verwiesen, dessen Arbeiten sich ähnlich und/oder komple-
mentär zur Figurations- und Prozesssoziologie verhalten (vgl. eine Gegenüberstellung
der Arbeiten von Michel Foucault und Norbert Elias bei Willems 2012, Bührmann/Ernst
2010, Degele/Dries 2005). Foucault und Elias beschäftigen sich mit den Themen Macht,
Kontrolle und (Selbst-)Disziplin. Die Deutung einer soziogenetischen Entwicklung der
Zivilisation ist analog zur Sichtweise des „Panopticons“ (Foucault 1977: 256ff.), wobei
Foucaults Deutungen weniger optimistisch gestimmt sind. Er zeichnet ein eher düsteres
Bild der Menschen als Gefangene ihrer selbst, was aus figurationssoziologischer Sicht
dem homo clausus entspräche. Diese Auffassung teilt Elias nicht, denn Menschen sind
nur in ihren Beziehungen zu analysieren und dort besitzen sie immer eine relative
Autonomie (Freiräume). Sie können sich zwar nie ganz von ihren Selbstzwängen lösen,
gewinnen ihnen gegenüber aber eine größere Autonomie (Emanzipation).
2.4 Veränderungen der Verhaltensstandards im 20. Jahrhundert 37
12 Entzivilisierung bedeutet die Verringerung der Reichweite des Mitgefühls (Elias 1986:
386).
38 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
„Die Masse der Bevölkerung wurde nur als ‚Sie‘ und als Außenseiter wahrge-
nommen. Noch spät im 19., noch im frühen 20. Jahrhundert wurden Teile der
Bevölkerung, zunächst die Bauern, dann vor allem die Industriearbeiterschaft,
durch die herrschenden Klassen, Bürgertum und Adel, von der Wir-Identität der
Staatsbürger ausgeschlossen. Und jene Außenseiter hörten nicht auf, den Staat
als etwas zu erleben, von dem man nur ‚Sie‘ und nicht kaum auch ‚Wir‘ sagte.“
(Elias 1987/2003: 276)
Dieser Vorgang war für die Veränderung des Verhaltenskanons von großer
Bedeutung.
3. Der Aufstieg der Außenseitergruppen führte zu Veränderungen in der Art
des Zusammenlebens und im Verhalten und Empfinden zwischen den Men-
schen. Trotz dieser Aufstiegsbewegungen kam es nicht zu einer Eliminierung
der Etabliertengruppen, sondern zu einer Verringerung der Machtdifferenz
zwischen den beiden Gruppen. Elias nennt dabei exemplarisch das Verhältnis
von Frauen und Männern, Eltern und Kindern bzw. der jüngeren und älteren
Generation, Regierenden und Regierten und europäischen Ländern und ihren
Kolonialstaaten. Die Stärke dieser sozialen Aufstiegsbewegungen ist nach
Elias erstaunlich.
4. Der Wandel der Machtverhältnisse verunsichert die Menschen, da der alte
Verhaltenskanon nicht mehr in der ursprünglichen Form gilt. Erst durch
Ausprobieren und Experimentieren kann sich ein neuer Kanon herausbilden.
Elias fasst zusammen: „Alles in allem ist dies ein Jahrhundert der wachsenden
Statusunsicherheit von Menschen“ (ebd.: 41). Berührt wird auch die soziale
Identität, die mit der Statusunsicherheit infrage gestellt wird. Das zwanghafte
Suchen nach Identität beunruhigt die Menschen.
5. Die teils ungeplante, teils geplante Abnahme der Machtdifferenzen macht die
Probleme einer Gesellschaft erst bewusst. Die Menschen erkennen, dass (gesell-
schaftliche) Probleme nicht selbstverständlich oder gottgegeben sind, sondern
veränderbar. Diese Entwicklung führt zu einer Gewissensbildung und einem
Anwachsen des „Mitverantwortungsgefühls“ beider Gruppen.
wirkt sich auf die Bereiche formellen und informellen Verhaltens aus. Es kommt
zu einem Informalisierungsschub, der im folgenden Abschnitt erläutert wird.
haben sich vom Fremdzwang des Rituals emanzipiert und können sich nicht mehr
auf derart festgelegte Verhaltensweisen beziehen. Sie sind vor allem auf sich selbst
gestellt, was zu einem deutlich höheren Anspruch an die Selbstzwangapparatur
führt. Zwei Menschen erproben sich im Rahmen der Paarbildung und müssen
sich ganz auf ihr Gefühl und Urteilsvermögen verlassen. Die Informalisierung löst
bei den Menschen eine stärkere Beanspruchung der Selbstzwangapparatur, eine
Notwendigkeit zum Experimentieren und eine strukturelle Verunsicherung aus.
Als Folge lässt sich in Ansätzen zudem ein neuer Verhaltenskanon festhalten. Elias
beschreibt ihn als „Gruppenkontrolle“ (Elias 1989/2005: 59) und meint damit, dass
der Freundeskreis das Verhalten der Paare beobachten und sanktionieren kann.
Sobald sich einer nicht an informelle Paarregeln hält, schlagen sich die Freunde
auf die eine oder auf die andere Seite (ebd.). Elias beschreibt,
„wie eng der Zusammenbruch eines herkömmlichen, älteren Kanons des Verhaltens
und Empfindens mit einer Veränderung der Machtbalance zwischen den sozialen
Gruppen zusammenhängt, deren Beziehung durch den betreffenden Kanon gesell-
schaftlich gesteuert wurde“ (ebd.: 60).
Masse der Außenseiter“ (ebd.: 48) und dazu führte, dass die „Abhängigkeit aller
von allen gleichmäßiger wird“ (Elias 1939/1997, Bd. 2: 351).
Das Kontroll- und Normgefüge, der Code bzw. Kanon des Verhaltens und
Empfindens ist in jeder Gesellschaft spezifisch mit einem bestimmbaren Gefälle
zwischen relativer Formalität und relativer Informalität verbunden. Die Struktur
des Gefälles verändert sich im Laufe der Entwicklung einer Gesellschaft und kann
als Merkmal des Zivilisationsprozesses beschrieben werden.
Elias beschreibt im zweiten Band seines Zivilisationsprozesses, wie sich neue
Verhaltensweisen nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach
oben übertragen können. Dieser Prozess ist abhängig davon, wie die sozialen Ge-
wichte sich verlagern. Nach einem Hin und Her von Auflockerung und Straffung
verschmelzen die beiden Verhaltenscodes schließlich (vgl. Elias 1939/1997, Bd. 2:
452f.). Diese Vermischung findet erst dann statt, wenn sich die Machtdifferenzen
zwischen den beiden Gruppen annähern: „Prozesse der Informalisierung treten in
Übergangsperioden auf, in denen sich Gruppen vormaliger Außenseiter emanzipie-
ren und bis in die gesellschaftlichen Machtzentren vordringen können.“ (Wouters
1999: 49) Diese „Emanzipationsprozesse“ waren vor allem in den 1960er und 1970er
Jahren zu beobachten. Je mehr Menschengruppen in den Machtzentren vertreten
sind, desto mehr werden die Umgangsformen und Selbstkontrollmuster auf die
neuen Mitglieder abgestimmt. Dieser Prozess setzt ein, wenn die Etablierten nicht
den Druck spüren, sich von den Neuen abheben zu müssen und ihre Rolle als Eta-
blierte mit ausgeprägten Selbstkontrollen bei sich und den Neuen zu festigen. Ihre
Verachtung gegenüber der neuen Gruppe zeigen sie dann auch eher unverblümt.
Wenn sich die Machtdifferenzen zwischen diesen Gruppen aber verringern, treibt
der Druck die etablierten Gruppen dazu, eine Barriere von Distinktionsmerkmalen
aufzubauen. Dazu gehört die Betonung und Kultivierung des eigenen Lebensstils,
des besonderen Benehmens und der Affektkontrolle, sodass mögliche Vergehen von
den Etablierten gegen den herrschenden Verhaltenskodex (noch) stärker negativ
bewertet wurden. Elias nennt als Beispiel für die Kultivierung sozialer und psychi-
scher Distanz durch die Etabliertengruppe die Verringerung der Machtdifferenz
zwischen Arbeitern (sowie die sogenannten „kleinen Leute“, also Handwerker und
Kleinbürger), die begannen sich zu organisieren, und den etablierten Bürgern.
Die Etablierten zwangen sich zur Einhaltung ihres Verhaltenscodes, indem sie
begannen, sich stärker gegenseitig zu sanktionieren.
Die bürgerlichen Umgangsformen wurden zum Instrument der Distanzierung
von den aufsteigenden Außenseitergruppen. In der Struktur dieser Entwicklung
zeigt sich nicht nur der Druck des distinktiven Verhaltens, sondern auch der
Druck zur Abschwächung der Differenzen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wurden aufgrund der zunehmenden Funktionsteilung und Differenzierung immer
42 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
Die Umgangsformen der etablierten Gruppe waren nun weniger von Verboten
gekennzeichnet. Die Menschen hatten allerdings den Eindruck, dass die Diffe-
renzen bei den Verhaltens- und Affektkontrollen zunehmen würden. Dabei war
die Spannweite des Verhaltens vermindert worden. Allerdings wurden in diesem
kleineren Ausschnitt Verhalten und Gefühle stärker und feiner unterschieden.
Gleichzeitig wuchs die Skala der sozial akzeptierten Spielarten. Die „verringerten
Kontraste“ und die „vergrößerten Spielarten“ sind nach Elias komplementäre
Aspekte des gleichen Zivilisationsprozesses (ebd.: 359).
„Informalisierung besteht also größtenteils aus der Abschwächung bzw. dem Ver-
schwinden von strikten Kontrollen, die aus dem Wunsch stammten, soziale Distanz
und Distinktion gegenüber aufsteigenden Gruppierungen zu bewahren, im Zusam-
menhang mit einer weitergehenden Nuancierung von Verhaltens- und Affektkon-
trollen.“ (Wouters 1999: 54)
unterschiedlich aus. Viele Menschen wussten nicht, ob sie sich lieber weiterhin an
die noch immer geltenden Regeln halten sollten oder sich gehen lassen konnten.
Die Frage im Informalisierungsprozess lautet daher: Wie weit kann ich mich öffnen
und wann bin ich zu weit gegangen?
Im Zuge der wachsenden Identifikation der Menschen miteinander verbrei-
tete sich das neue „Umgangsideal“ (ebd.: 56) und ältere Umgangsformen wur-
den mit Scham und Peinlichkeit belegt. Die Machtdifferenzen zwischen der
älteren und jüngeren Generation wurden geringer, sie glichen sich ebenfalls
einander an. In diesem Prozess offenbarten sich „Emanzipationsbestrebun-
gen“. Die neuen Manieren zeugten von einer größeren wechselseitigen „Iden-
tifikation“, denn die Menschen traten nun stärker für sich selbst ein (Indivi-
dualisierung) und nahmen dabei mehr Rücksicht aufeinander (Solidarität)
. Sie offenbarten dabei viel von sich und hatten das neue Umgangsideal als ge-
meinsamen Referenzpunkt. Die persönlichen Qualitäten als Individuum rückten
ins Zentrum der sozialen Beziehungen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass
Individualität und Solidarität schnell in ein Spannungsverhältnis geraten können,
denn „es gibt keine Ich-Identität ohne Wir-Identität“ (Elias 1987/2003: 247) (aus-
führlich zur Wir-Ich-Balance in Kapitel 2.6).
Damals gab die machtgrößere Gruppe das Verhalten und die Balance von
Individualität und Solidarität vor. Seit den 1960er/1970er Jahren jedoch, als die
Machtdifferenzen geringer wurden, der Wohlstand zunahm und keine akute Gefahr
eines Krieges bestand und die Probleme von Gewalt und drohender Angst in den
Hintergrund rückten, trat die „Qualität des menschlichen Zusammenlebens“ (Wou-
ters 1999: 57) in den Vordergrund. Manieren waren fortan Waffen im Wettkampf
um Prestige und sozialer Anerkennung (ebd.: 58). Als Individuen kämpften sie nun
um Anerkennung in sozialen Beziehungen, um als wertvolles Individuum angese-
hen zu werden. Dabei stellen sie eine wechselseitige Rangordnung fest. Erschwert
wird das Ganze durch die Fülle von Lebensstilvarianten und deren Verteidigung.
Der ambivalente Charakter menschlicher Beziehungen zeigt sich in der Balance
von vorteilhaften und nachteiligen Aspekten innerhalb einer Beziehung. In einer
Beziehung mit einer ausgeglichenen Machtbalance tolerieren die Menschen weniger.
Die Ambivalenz in dieser Beziehung offenbart sich als psychisches Problem. Die
Ausbalancierung der Machtverhältnisse wird zum Gegenstand von Verhandlungen.
Auf wie viel muss ich verzichten und inwieweit gebe ich dem anderen in seinen
Wünschen nach? (Wouters 1999: 58f.). In unausgewogenen Beziehungen kann der
2.5 Informalisierung und die Formalitäts-Informalitäts-Spanne 45
Mächtige entscheiden und der Schwächere die Folgen nur hinnehmen (vgl. de Swaan
1991). Auch im praktischen Arbeitsvollzug sind diese Wandlungen feststellbar.13
13 Vgl. dazu auch Simmel, der feststellt, dass Differenzierungs- und Individualisierungs-
prozesse „also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der
eignen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden [bewirkt]“ (Simmel
1888/1989: 22).
46 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
„In dem Maße, in dem die in den ‚guten Manieren‘ gegebenen Ge- und Verbote
weniger umfangreich, weniger detailliert und weniger streng wurden, sind die
selbstverständlichen Erwartungen, die die Menschen im Hinblick auf die eigene
Selbstkontrolle und die der anderen hegen, geradezu umfangreicher, detaillierter
und starrer geworden.“ (Wouters 1999: 62)
14 Vgl. auch die Diskussionen zum Aspekt Individualisierung von Elisabeth Beck-Gerns-
heim und Ulrich Beck seit den 1980er Jahren: Beck 1986, Beck/Beck-Gernsheim 1994,
Beck 2002, Beck/Lau 2004; vgl. eine Gegenüberstellung der Sichtweisen von Ulrich
Beck und Norbert Elias zum Individualisierungsprozess bei Treibel 1996.
15 Beck 1986: 123f., Elias 1987/2003: 43 („Individualisierungsschübe“).
2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess 47
Die Menschen sind gezwungen, Beharrlichkeit und Langsicht an den Tag zu legen.
Dazu gehört auch, kurzfristige Chancen zugunsten langfristiger Ziele nicht zu
ergreifen. Mit anderen Worten: „dauerhafte Befriedigung“ gegen „kurzfristige
Impulse“ (ebd.: 177f.).
Im Gegensatz zu Beck (1986) spricht Elias aber nicht von einer Auflösung der
Wir-Beziehungen, sondern – in seiner Perspektive einer Wir-Ich-Balance – von
einer Verschiebung zugunsten des Ich-Ideals, die sich in einer Ich-Wir-Balance
ausdrückt (Treibel 1996: 424ff.). Individuen können sich nicht komplett vom Wir
lösen, da sie sich stets in interdependenten Beziehungen befinden. Selbst bei einer
starken Individualisierung ändert sich nichts an der „natürlichen Abstimmung
eines Menschen auf das Zusammenleben mit anderen“ (Elias 1987/2003: 259).
Das gesellschaftliche Gewebe ist das Medium, in dem sich die Individualität des
Einzelnen überhaupt erst entfalten kann (Elias 1939/1997, Bd. 2: 486f., Anmerkung
16 Herbert Willems (2012: 144, Fußnote) verweist auf die logische Assoziation mit dem
Entfremdungsbegriff und stellt fest, dass Elias mit dieser Sichtweise eine eigene Defi-
nition lieferte.
17 Vgl. diesbezüglich den Begriff „homo clausus“ (Elias 1970/2004, 1987/2003): Unter dem
Begriff ist nicht nur die Kritik Elias’ an anderen Theorien der Individualisierung zu
fassen, die Menschen statt in Beziehungen als „wirlose“ (Elias 1987/2003: 266) Einzelne
betrachten, sondern der „homo clausus“ beschreibt zudem die „Selbsterfahrung“ (ebd.:
177) und „(Selbst-)Wissen-Realität des Individuums“ (Willems 2012: 143).
2.6 Individualisierung im Gesellschaftsprozess 49
129). Elias bringt die Ambivalenz der Individualisierung auf den Punkt, wenn er
feststellt:
Annette Treibel stellt fest, dass Verschiedenheit zunehmend „zu einer sozialen
Norm, zu einem Wert an sich“ (Treibel 2008: 91) wird, aber im selben Moment
der „gesellschaftliche Konformitäts-Druck“ kaum bis gar nicht nachgelassen hat.
Diese Ambivalenz – Konformität und Besonderheit stehen nebeneinander und
gelten zur gleichen Zeit – wird der Kontext, in dem sich die Individuen bewegen
und ihre je geltenden Handlungsspielräume begrenzen oder ermöglichen.18
Eine Diagnose der Gegenwart und eine Bestimmung der gegenwärtigen Zivi-
lisation ist nach Willems eine besondere Herausforderung, da sie sich aufgrund
der zeitlichen Nähe „komplizierter, vielschichtiger, widersprüchlicher, vieldeutiger
und unübersichtlicher“ (Willems 2012: 139) darstellt. Gefühle von Einsamkeit
und Alleinsein führt Treibel in Anlehnung an Elias darauf zurück, dass neue
Wir-Identitäten noch nicht gefunden seien (Treibel 2008: 93). Das Wir, also die
Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, ist inoffizieller geworden (vgl. Treibel 1996: 432)
und neue Kollektive sind durch geringere Stabilität gekennzeichnet (ebd. 2008:
94). Die „Integrationsagenturen“ (Individuen) (Degele 1999) schließen sich in der
modernen Gesellschaft zu „frei assoziierten“ (Friebe/Lobo 2006: 277) Kollektiven
(Netzwerken) zusammen, die zeitlich labil, aber in ihrer Verbindlichkeit unter-
einander relativ stabil sind. Zunehmende gesellschaftliche Differenzierung wird
von ihnen mit einer Integration zu freien Netzwerken beantwortet. Auch Willems
spricht von der Herausbildung einer „Art (kollektiver) Identität“ und meint damit
etablierte „kollektive und kollektivierende Gemeinsamkeiten“ (Willems 2012: 146f.),
die sich aufgrund der starken Differenzierung und Verflechtung und damit eines
gemeinsamen Wissens und Bewusstseins ergeben haben.
In diesem Kapitel stand die Beschreibung eines figurations- und prozesssoziolo-
gischen Beobachtungs- und Erklärungsrahmens und die Definition einschlägiger
18 Das schwedische Modeunternehmen H&M ist ein Beispiel für Individualität, das in der
Masse angeboten und verkauft wird. Individueller Kleidungsstil wird zum konformen
Massenlook.
50 2 Norbert Elias’ Figurations- und Prozesssoziologie
t Die „kompensatorische Subjektivität“ ist eine Antwort auf die starren, betrieb-
lich-formalisierten Anforderungen. Eine Anpassungsleistung von Mensch und
Arbeit wird allein vom Subjekt in Form eines praktischen Handelns vollzogen
und „im Gebrauch geformt und verändert“ (Moldaschl/Sauer 2000: 220).
t Die zweite Form ist die „strukturierende Subjektivität“, die der Flexibilisierung
und Verflüssigung institutionalisierter Grenzen geschuldet ist. Die Subjekte fin-
den neue Freiräume vor und begegnen den nun bestehenden Bedingungen mit
einer aktiven Auseinandersetzung und individuellen Ausgestaltung. Von ihnen
müssen die neuen Strukturen geschaffen werden. Dieser individuelle Prozess
hat ungeplante Auswirkungen auf andere Bereiche. Dort, wo Strukturen noch
existieren, werden sie reflektiert und auf Funktionalität überprüft.
t Die dritte Form bildet die „reklamierende Subjektivität“ auf der Ebene des
Diskurses hinsichtlich gesellschaftlicher Sinn-Strukturen und speziell der auf
Arbeit bezogenen soziokulturellen Werte und Einstellungen. Reklamierende
Subjektivität fordert die Gesellschaft und ihre Institutionen auf, alternative
Orientierungen zu berücksichtigen. Sinn-Strukturen sind nicht unmittelbar
handlungsrelevant, sondern müssen von den Individuen in Wechselwirkung
mit ihrer Umwelt für die eigene Arbeits- und Lebenswirklichkeit übersetzt
3.1 Subjektivierung von Arbeit und Vermarktlichung 55
Die beschriebenen Formen verweisen auf die vierte, die „ideologisierte Subjektivität“,
die sich komplementär zur reklamierenden Subjektivität verhält. Im Zuge zuneh-
mender öffentlicher Debatten über Globalisierung, Wettbewerb und Flexibilität
ändert sich die Rahmung des individuellen Deutens und Handelns. In diesem Fall
geht es um die Prägung der vermittelten Sinn-Strukturen. Subjektivierung kann
als „Ideologie“ (vgl. Baethge 1999, Kleemann et al. 2003: 91) handlungsrelevant
und in dieser Form von den Unternehmen strategisch genutzt werden oder rein
appellativ bleiben (Kocyba 2000: 131). Lohr und Nickel sprechen in Anlehnung an
Deutschmann von einem Mythos der Subjektivierung, der als self-fullfilling-pro-
phecy tatsächlich real werden kann (Lohr/Nickel 2005: 214, Deutschmann 2003:
487). Flexibilität und Subjektivität haben dann einen Anforderungscharakter und
können Teil der Selbstzwangapparatur werden.
Mit der von Dörre et al. beschriebenen „rebellischen (oppositionellen) Subjek-
tivität“ (Dörre et al. 2011: 46f.), die sich der totalen Vereinnahmung des Selbst in
den Weg stellt und aktiv die Flexibilisierung begrenzt, kann auf eine fünfte Form
von Subjektivität verwiesen werden. Gleichzeitig artikulierte Sicherheitsansprüche
und Flexibilitätsanforderungen gehören zur betrieblichen Realität. Auch wenn es
in der Ideologie eine abrupte Zäsur geben kann (z. B. vom Kommandosystem zur
Leitidee der Vermarktlichung), werden die Handlungspraxen von einem Neben-
einander alter und neuer Verhältnisse geprägt sein (Dörre et al. 2011: 24f.). Die
Autoren gehen davon aus, „dass die verschiedenen Schichten der Subjektivität
auf unterschiedliche Weise erfasst und in ein Spannungsverhältnis zueinander
gesetzt werden“ (ebd.: 25). Die rebellische (oppositionelle) Subjektivität macht aus
einem eindimensionalen, abstrakten ein realistisches Konzept, mit dem sich die
Bewältigungsmuster und eventuelle Abwehrmechanismen adäquat erfassen lassen.
Subjektivität beschreibt die gesellschaftlich-historische Konstellation, was ein
Subjekt aufgrund seiner individuellen Prägung kann und was es in Bezug auf
geltenden Normen und Werte darf. Infolge kontingenter, nicht eindeutiger Situ-
ationen auf betrieblicher Ebene (technisch, arbeitsorganisatorisch, menschlich)
kann Subjektivität als Reaktion abgerufen werden (vgl. Schimank 1986: 75). Sie
ist auf andere Personen gerichtet und kann nicht allein sozial erzeugt werden.
Subjektivität ist damit ein Relationsbegriff. Erst die aktive und kreative Leistung
des Individuums in wechselseitig interdependenten Beziehungen stellt Subjekti-
56 3 Untersuchungsleitende Konzepte
vität her. Im Konzept der Subjektivierung geht es um die Vermittlung von Subjekt
und Gesellschaft (vgl. Klemann et al. 2003). Diese Auffassung teilen Klemann et
al. mit Norbert Elias, der diese Dichotomie mithilfe seines Figurationsansatzes
überwindet (siehe Abschnitt 2.1).
23 Vgl. dazu George H. Meads Me, I, Self in „Mind, Self and Society“ (1968).
24 Analog zum Begriff der „Selbsterfahrung“ bei Elias (1987/2003: 177).
25 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Elias zur Ich- und Wir-Identität (Elias 1987/2003:
245ff.). Für Elias fallen die gegenwärtigen Identitätsdiskurse mehr in die Kategorie des
homo clausus, da es für ihn keine Ich-Identität ohne Wir-Identität gibt. Die Beschreibung
des Balanceakts im Modell von Krappmann beinhaltet jedoch auch die von Dynamik
gekennzeichneten Beziehungen zwischen Menschen und steht nicht im Kontrast zu
Elias Begriff der Ich-Identität. Er bezieht sich jedoch nicht auf diese Autoren (vgl.
Willems 2012: 142, Fußnote 78).
3.2 Identitätsbildung und Anerkennungsformen 57
Die Beschäftigten geraten bei deckungsgleichen Zielen in ein Dilemma, da sie allein
für ihre Leistung keine Würdigung mehr einfordern können26 . Die erfolgreiche
Herstellung einer Ich-Identität und die Befriedigung der Bedürfnisse, die auf an-
dere Menschen gerichtet ist, erfordert aber weiterhin eine Form der Anerkennung.
Doch wo und wie sollen sie diese Anerkennung einholen und einfordern können?
Voswinkel verweist auf den zweiten Modus der Anerkennung: Bewunderung. Hier-
„Jeder Käufer von Arbeitskraft muß mit der Mitsprache des Besitzers in dem dop-
pelten Sinne rechnen, daß er einerseits nicht ausschließlich über die gekaufte Ware
verfügen kann und andererseits die Nutzung der Arbeitskraft an die Mitwirkung
von deren Eigentümer unauflöslich gebunden ist. Der Arbeitnehmer muß auch
arbeiten wollen; das Grundproblem jeder betrieblichen Organisation der Arbeit
besteht darin, den Arbeiter als Subjekt der Arbeitskraft zu dieser Mitwirkung zu
veranlassen.“ (Berger/Offe 1982: 352)
„Sie [die Labour Process Debate, M.F.] hatte eine große Variabilität technisch-orga-
nisatorischer und sozialer Kontrollstrukturen aufgedeckt und zugleich die sozialen
Mechanismen fokussiert, durch welche Leistungsbereitschaft, Kooperation und
Konsens im Produktionsprozess hergestellt werden.“ (Marrs 2010: 333)
„Produktionsspiele“34 wurden zum Beispiel als Indiz für die Akzeptanz der Produk-
tionsbedingungen ausgemacht (vgl. Burawoy 1979, Bonazzi 2008). Taylors Scientific
Management galt lange Zeit als der beste Weg (one-best-way) der Management-
kontrolle und erhielt seine Legitimation vor allem über seine Wissenschaftlichkeit
(vgl. Bonazzi 2008: 41f.).
34 Donald Roy (1953) hatte untersucht, wie Arbeit die Form eines Spiels annehmen kann
(making out). Der Akkord war nicht nur ein ökonomischer Anreiz, sondern wurde
auch zu einem Wettbewerb der Geschicklichkeit. Die Erarbeitung von Freiräumen
durch schnelles, geschicktes Arbeiten war ein Anreiz. Zudem stieg das Ansehen bei
den Kollegen und die Arbeiter konnten sich dem Diktat der „Zeitnehmer“ entziehen
und sich eigene, informelle Zeit-Spielräume erarbeiten (vgl. Bonazzi 2008: 123 ff.).
35 Vgl. ausführlich zum Konzept der Lean Production in Kapitel 4 „Disziplinierungsgeschichte
der Fabrikarbeit“.
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem 65
Subjekte sind laut Pfeiffer, Dörre und Minssen eigen genug, sich einer totalen
Vereinnahmung zu widersetzen, ansonsten käme es zur vollständigen (Auf-)
Lösung des Transformationsproblems (vgl. Pfeiffer 2007: 72; Dörre et al. 2011:
46f.; Minssen 2012: 120).
36 Das Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung geht zurück auf die japanische Lebens-
und Arbeitsphilosophie Kaizen und bedeutet: „Verändere das Gute zum Besseren“.
3.5 Subjektivierung von Arbeit im ganzheitlichen Produktionssystem 67
Unterlagen37 wird deutlich, dass das Unternehmen davon ausgeht, den kompeten-
ten, qualifizierten, kreativen und hochmotivierten Mitarbeiter quasi automatisch
zu bekommen, sofern das Produktionssystem erst einmal von allen Beschäftigten
verstanden wurde. Als Voraussetzung hat das Unternehmen ein „verständliches“,
„verbindliches“ und „integrierendes“ System geschaffen, das auf direktem Wege zu
Selbstverantwortung, Engagement, Kompetenz und Zufriedenheit der Beschäftig-
ten führen soll. Das Mittel zu mehr Effizienz und damit Wirtschaftlichkeit beruht
auf dem Engagement der Beschäftigten. Ihre Mitarbeit und die Preisgabe ihres
Wissens zur Verbesserung der Effizienz soll den wirtschaftlichen Beitrag für die
Zukunft des Unternehmens und ihrer Standorte (Vermarktlichung) leisten. Die
als Herausforderung an das Unternehmen verwendeten Begriffe „Wachstum“,
„Renditeziel“ und „Kundenzufriedenheit“ verweisen auf die wichtigsten Stakehol-
der des Unternehmens, auf die alle Bemühungen gerichtet sind: die Aktieneigner
(Shareholder) und die Kunden. Das Reorganisationskonzept versucht Einfluss
auf den Willen der Beschäftigten zu nehmen, indem es sie dazu auffordert, ihre
Entscheidungen am „Unternehmenserfolg auszurichten“ und im „Sinne der Un-
ternehmensphilosophie“ zu handeln.
Im Einklang mit den erklärten Zielen spielen subjektive Anforderungen an
die eigene Arbeit, wie z. B. Selbstverwirklichung und Identifikation, eine unter-
geordnete Rolle. Die Ziele der Beschäftigten wie Verbesserungen hinsichtlich
Arbeitssicherheit und Ergonomie sowie verbesserter Gesundheitsschutz erscheinen
in der Betriebsvereinbarung lediglich als Mittel zum Zweck der Kostensenkung
und sind keine eigenen Zielwerte. Bereits Nick Kratzer hat in seiner Untersuchung
festgestellt, wenn der Markt als Verursacher negativer Folgen entgrenzter Arbeit von
allen betrieblichen Akteuren identifiziert wird, sind klassische innerbetriebliche
Interessengegensätze zweitrangig (vgl. Kratzer 2003: 258).
Produktivitätsfortschritte sind vor allem als Reduzierung des Personals zu
verstehen. Ergänzend muss festgehalten werden, dass geltende Tarifverträge die
Beschäftigten vor betriebsbedingten Kündigungen schützen. Die Folge von Team-
reduzierungen ist eine Leistungsintensivierung für die übrigen Teammitglieder
und „lediglich“ eine Versetzung in andere Bereiche. Hier lässt sich schon erahnen,
dass die Mitarbeit an Effizienzkriterien, die sich am Personaleinsatz bemessen,
Leistungszurückhaltung hervorrufen kann. Auch wenn keine Kündigungen folgen,
so ist die drohende Versetzung in andere Bereiche ein Einschnitt in die Teamfi-
guration und berührt bestehende soziale Beziehungen. Die Beschäftigten sehen
sich untereinander nicht als Arbeitskraft an, sondern als Menschen in sozialen
Beziehungen. Es bleibt für die Teammitglieder unsicher, wen es von ihnen trifft
3.6 Zwischenfazit
3.6 Zwischenfazit
In diesem Kapitel stand die forschungspraktische Einführung in die Diskurse
über die Subjektivierung und Entgrenzung (Vermarktlichung) von Arbeit im
Vordergrund.
Die in der Arbeits- und Industriesoziologie diskutierten Konzepte „Subjek-
tivierung und Entgrenzung von Arbeit“ erfüllen für die vorliegende Studie eine
heuristische Funktion und fungieren als „sensitizing concepts“ (Blumer 1954)
bzw. als „offene Interpretationsleitpfade“ (Kruse 2004: 118), um dem Prinzip der
Offenheit Rechnung zu tragen (vgl. Kelle/Kluge 1999: 25ff.). Sauer (2005) sieht
den Prozess der Entgrenzung von Arbeit vor allem als ein analytisches Konzept,
mit dem sich die Merkmale der gegenwärtigen Entwicklung bestimmen und sei-
ne historische Reichweite analysieren lassen. Der Entgrenzungsprozess hat eine
„Indikatorqualität“ (Sauer 2005: 114) für den Umbruch der fordistisch-tayloristi-
schen Produktionsweise und ist daher auf „Veränderungen“ spezialisiert. Mit dem
Entgrenzungskonzept wird ein gemeinsamer analytischer Rahmen zwischen den
Forschungen zu Reorganisation und Rationalisierung, Arbeitszeit, Beschäftigung
und Arbeitsmarkt sowie zu Erwerbsorientierung und Lebensführung etabliert, um
die Arbeitsteilung dieser Disziplinen partiell zu überwinden (vgl. Kratzer/Sauer
2003: 578). Die Autoren betonen dabei die „Offenheit“ (ebd.) des Konzeptes und
die daraus resultierende Möglichkeit, es als „empirisches Suchkonzept“ (ebd.)
41 Taylorismus 2.0 bedeutet nach Sabine Pfeiffer: „Die Prinzipien des Taylorismus erscheinen
hier nicht nur in einem neuen Gewand, sondern in einer neuen Rolle auf der Bühne.
Sie treten in neuer Qualität auf, um den Bedürfnissen eines schnellen, globalen und
flexiblen Marktes begegnen zu können. Da dabei die Logik des Taylorismus sozusagen
in die Verantwortung der Beschäftigten zurückverlagert wird, spreche ich […] von
einem Taylorismus 2.0, also einer qualitativ neuen Version des Taylorismus.“ (Pfeiffer
2007: 48f.); eine weitere Bezeichnung für den neuen Taylorismus lautet: „subjektivierter
Taylorismus“ (Matuschek et al. 2008).
3.6 Zwischenfazit 71
Elias hat in seiner Abhandlung „Über den Prozess der Zivilisation“ das „Wesen
geschichtlicher Prozesse“ (Elias 1939/1997, Bd. 1: 84) mit „seelischen Prozessen“
(ebd.) und mit den Begriffen Soziogenese und Psychogenese in Beziehung gesetzt.
Auch die Entwicklung der Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit kann nur
mit der Verflechtung der Entwicklung des psychischen Habitus der Menschen
und den gesellschaftlichen Hierarchien und Machtverhältnissen nachvollzogen
werden. Die Disziplinierungsgeschichte ist demnach eine gesamtgesellschaftli-
che Entwicklungsgeschichte. Die Wirtschaftssphäre ist nach Elias keine Sphäre,
die unverbunden neben anderen steht und unabhängig von staatlich-politischen
Entwicklungen analysiert werden kann (Elias 1970/2004: 155). Aus der Perspek-
tive der Prozesssoziologie handelt es sich um „völlig unabtrennbare Aspekte der
Entwicklung eines gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhangs“ (ebd.:
154). Psychogenese und Soziogenese verlaufen zeitlich nicht immer synchron, wie
Elias im folgenden Zitat bemerkt:
hin zu den aktuellen Formen industrieller Arbeitsorganisation zeigt sich ein langer
widerständiger Prozess betrieblicher Kontrolle, der in Verbindung mit einem
(übergeordneten) gesamtgesellschaftlichen Wandel der Fremd- und Selbstkontrol-
len steht. Wichtig für die Rekonstruktion der betrieblichen Disziplinarmethoden
(Fremdkontrollen) ist das, was nicht explizit benannt wird. Regeln der Fabrikord-
nungen zeigen ein gewünschtes Verhalten und geben Aufschluss darüber, welche
Verhaltensnormen zu diesem Zeitpunkt noch nicht als selbstverständlich galten.
Verinnerlichte Verhaltensnormen als Teil einer Selbstzwang-apparatur werden
vorausgesetzt und nicht mehr benannt. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist zum
Beispiel aufgrund steigender Produktivität ein Indiz für die erfolgreiche Anwen-
dung von Selbstkontrollen, die ein Produktionsprozess benötigt. In dieser Zeit
verschwinden detaillierte Verhaltensanforderungen, die u. a. auf den angeordneten
Verbleib am Arbeitsplatz hinweisen. Stefanie Ernst (2006) macht in Anlehnung
an Doerling (2006) und Ketterer (2000) auf weitere Veränderungen in den Ar-
beitsordnungen aufmerksam, die ein Indiz für wachsende Affektkontrollen und
Selbstzurücknahme sind: Während im Jahr 1594 noch darauf hingewiesen wurde,
dass die Tötung eines Kollegen unter Strafe steht, wurde 1920 körperliche Gewalt
nicht mehr erwähnt. Aggression war in den Betrieben nicht mehr das zu lösende
Problem. Stattdessen wurden nun Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Reinlichkeit
und Gesundheitsschutz als Arbeitsanforderungen vermerkt (Ernst 2006: 7).
und Verhaltensansprüche in Form von Ge- und Verboten sowie Sanktionen bei
Nichteinhaltung. Später wurden sie durch individuelle Arbeitsverträge ersetzt (vgl.
Flohr 1981).
43 Vgl. ausführlich zu (sozial-)geschichtlichen und soziologischen Analysen der interde-
pendenten Faktoren Industrialisierung, Zeit, (Arbeits-)Disziplin, Arbeit, Zentralisation
der Produktion und Lohnarbeit: Braverman 1977, Thompson 1980, Flohr 1981, Sauer
1984, Kocka 1990, Ruppert 1993, Kruse 2002.
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 75
„Die Technisierung ist ein menschheitlicher Prozeß. Sie setzt langsam ein, weil
Menschen relativ wenig wußten von der Welt in der sie lebten und beschleunigt
sich im Verein mit dem wachsenden Wissen von der unbelebten Natur. Schon die
Erfindung des Pflugs erhöhte den Arbeitsertrag, verringerte die Mühsal und bot so
die Chance zu einem besseren Leben.“ (Elias 1986/2006: 183)
44 Un- und angelernte Arbeiter bildeten die Mehrheit der Belegschaft (Bauern, Arme und
Straffällige).
76 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
An anderer Stelle äußert sich Elias zur Verringerung der Machtasymmetrie zwischen
den gesellschaftlichen Schichten in der Industrialisierungsperiode:
„Mit dieser Sichtweise erscheint es auffällig, dass das Ende der Minderqualifizierung
von ‚Arbeit‘ mit dem Ende der Aristokratie zusammenfällt! Oder anders gesagt: Die
Aufwertung von Arbeit beginnt mit dem Aufstreben des Bürgertums: Sie fällt in
eine gesellschaftliche Epoche, in der eine bisher herrschende Klasse von einer neuen
abgelöst wird. Und da es die Aristokratie eine gewisse Zeit verstand, das aufstrebende
Bürgertum herrschaftspolitisch sich nicht weiter entwickeln zu lassen, brauchte es
schon bestimmter ‚Kampfmittel‘ seitens des Bürgertums, um die Herrschaftsposition
der Aristokratie abzulösen.“ (Kruse 2002: 136)
der Industrialisierung beschrieben, die den Charakter der Industriearbeit bis heute
prägen: der Wandel der Fabrikordnungen im Zusammenhang mit Veränderungen
der Arbeitsdisziplin, die Herausbildung einer Lohnarbeiteridentität, die Bildung
von Gewerkschaften und die Besonderheiten der Figuration „Fabrikarbeiterschaft“.
Entscheidungen mit dem Ziel der Nutzenmaximierung treffen kann (vgl. Hillmann
1994: 340).
4.1 Disziplinierung in der frühen Phase der Industrialisierung 79
Entgelte und Sozialleistungen, die auf einen langfristigen Verbleib angelegt sind
und auf diese Weise die Fluktuation verhindern sollen. Integrations- und Koor-
dinierungsfunktionen wie zum Beispiel die Gewerkschaften haben zur Diszipli-
nierung der Fabrikarbeiter beigetragen, indem der individuelle Kampf für bessere
Arbeitsbedingungen zugunsten kollektiver Kämpfe durch ihre Repräsentanten
aufgegeben wurde (Flohr 1981: 84).
Die Gestaltung des Lohnarbeiterstatus wurde zum einen durch die Teilung und
Aufspaltung der handwerklichen Tätigkeiten aufgrund der Maschinisierung geför-
dert und trug zur Auflösung der traditionsreichen Handwerkeridentität bei. Damit
war der Weg zu einer berufsübergreifenden Lohnarbeiteridentität eröffnet. Zum
anderen half die Maschinisierung, die Zentralisation der Produktion voranzutrei-
ben. Der Wunsch nach Verwendung von Maschinen war ein wichtiger Antrieb.
Charakteristisch für die Lohnarbeit war, dass die Arbeiter die Produktionsmittel
wie Gebäude, Anlagen, Rohstoffe und Geräte nicht selbst besaßen. Ihnen war die
Lohnabhängigkeit ihrer Stellung vom zentralisierten Betrieb daher sicherlich
bewusst (Kocka 1990: 476f.). Die Fabriken waren gleichzeitig ein äußeres Zeichen
dafür, dass die Arbeiter nicht mehr für sich selbst, sondern für den Unternehmer
arbeiteten (Sauer 1984: 56).
und des sozialen Status, die ein Gegengewicht bilden gegen den keineswegs zu un-
terschätzenden Trend, sich als Industriearbeiterschaft in gemeinsamer Klassenlage
zu sehen.“ (Fischer 1967: 250)
46 Nach 1850 gab es erste Tendenzen für eine „Massenproduktion“. Mit einer Intensivierung
der Nachfrage nach Produkten wurde die führende Produktion nach Auftrag mehr
und mehr durch eine Produktion auf Lager ergänzt. Damit ging auch eine langsam
beginnende Standardisierung einher, die die individualisierten Produkte verdrängte.
Es ging vor allem um die Nutzung ökonomischer Vorteile der sich durchsetzenden
spezialisierten Werkzeugmaschinen mithilfe der Verwendung austauschbarer Teile
im Fall eines Verschleißes oder Defekts. Voraussetzung war eine fortgeschrittene
Arbeitsteilung (funktionale Differenzierung) und eine anspruchsvolle Masse von sich
wiederholenden und immer gleichen Produkten und Herstellungsvorgängen (Kocka
1990: 441f.).
82 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
47 Sekundärmacht ergibt sich nicht nur aufgrund der Stärke von Belegschaften, also der
Primärmacht, sondern auch „aus den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes“
(Minssen 1999: 149).
48 „Primärmacht ist im historischen Prozess ersetzt, ergänzt, überlagert worden von
kollektiv erkämpften Macht- und Einflusspositionen von Belegschaftsgruppen und
betrieblichen sowie gewerkschaftlichen Interessenvertretungen.“ (Jürgens 1984: 64)
49 Vgl. ausführlich dazu Müller-Jentsch 1997, 2007.
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 83
„Er untersuchte unter Rückgriff auf Max Weber und Sigmund Freud den Zivilisati-
onsprozess auf der gesellschaftlichen (Soziogenese) wie auf der individuellen Ebene
(Psychogenese). Er nimmt die sozialen Verhaltensmodelle der mittelalterlichen und
der höfischen Gesellschaft zum Ausgangspunkt, um die Verschiebung von Fremd-
zwängen zu Selbstzwängen zu zeigen.“ (Treibel: 2008: 51)
„Weber zeichnet hier die innerweltliche Askese der englischen Puritaner der frühen
Zeit […] als einen Lebensstil beherrscht vom Antrieb zur konstanten Selbstkontrolle
und voller Argwohn gegen die unbefangene Vitalität triebmäßigen Handelns und
naiven Gefühlslebens (vgl. Goudsblom 1984: 134f.; Weber 1920/2010: 196, 162).
Gemeinsam waren den Soziologen Weber und Elias die Erforschung der „Genese
der modernen abendländischen Gesellschaft und der damit verbundenen Per-
84 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
„wie aus der Verflechtung von unzähligen individuellen Interessen und Absichten
– sei es von gleichgerichteten, sei es von verschieden gerichteten und feindlichen –
schließlich etwas entsteht, das, so wie es ist, von keinem der Einzelnen geplant oder
beabsichtigt worden ist, und das doch zugleich aus Absichten und Aktionen vieler
Einzelner hervorging. Und dies ist eigentlich das ganze Geheimnis der gesellschaft-
lichen Verflechtungen, ihrer Zwangsläufigkeit, ihrer Aufbaugesetzlichkeit, ihrer
Struktur, ihres Prozesscharakters und ihrer Entwicklung; dies ist das Geheimnis
der Soziogenese und der Beziehungsdynamik.“ (Elias 1997/1939, Bd. 2: 229)
Im Folgenden wird mit Rückgriff auf Norbert Elias zunächst allgemein die Frage
untersucht, welchen Zweck Zeit und Zeitbestimmung überhaupt erfüllen soll, um
mit diesen Erkenntnissen den disziplinierenden Charakter von Zeit nachvollziehen
zu können.
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 85
„Menschen, die unter anderem die einzigartige Fähigkeit haben, durch den Gebrauch
von Symbolen miteinander zu kommunizieren – von Symbolen, die nicht genetisch
86 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
„Die Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen Zeitinstitution in ein das ganze
Leben umgreifendes Selbstzwangmuster des einzelnen Individuums ist ein anschau-
liches Beispiel dafür, in welcher Weise ein Zivilisationsprozeß zur Ausprägung des
sozialen Habitus beiträgt, der zum integralen Bestand jeder individuellen Persön-
lichkeitsstruktur gehört.“ (Elias 2004/1984: 21)
In der Agrargesellschaft bezogen sich die Menschen auf die regelmäßig wiederkeh-
renden Naturabläufe der Jahreszeiten, des Sonnenaufgangs und -untergangs. Mit
Beginn der Industrialisierung, dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesell-
schaft, begann eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse. Charakteristischstes
Merkmal war die Trennung der Arbeits- und Lebensbereiche durch Errichtung
4.2 WandelbareMachtgleichgewichte–DieHerausbildungdesArbeitsethos 87
von Fabriken, mit denen die Menschen nun unabhängig von den Naturabläufen
wurden und die eine standardisierte, symbolisch repräsentierte Zeitbestimmung
durch Uhr und Kalender erforderten. „Kalender als eine Institution der Gesell-
schaft haben eine soziale Regulierungsfunktion“ (Elias 2004/1984: 72f.). Nach
Adam Smith war die Trennung dieser Bereiche sogar der bedeutsamste Typus der
Arbeitsteilung (vgl. Sennett 2000: 44).
Die immer längeren und differenzierteren Interdependenzketten der heutigen
Gesellschaft, die durch das Bevölkerungswachstum, eine immer ausgeprägtere
berufliche Spezialisierung und einer erhöhten Integration der Individuen in die
Gesellschaft ausgelöst wurden, erfordern erhöhte Koordinations- und Synchro-
nisationsleistungen aller sozialen Prozesse. Immer mehr menschliche Tätigkeiten
müssen synchronisiert und in einem standardisierten Zeitraster als gemeinsamer
Bezugsrahmen koordiniert werden (vgl. Elias 2004/1984: 72). Das „Zeitbestim-
mungsmonopol“ (ebd.) lag bei den Zentralinstanzen von Staat oder Kirche, die
das festgelegte Zeitraster für die Bestimmung von Steuern und Löhnen benötig-
ten. Zudem konnten Feiertage festgelegt werden, die den Arbeitern zur Erholung
dienten (vgl. ebd.: 71f.).
Die Entwicklung der Wirtschaft ist nicht ohne eine Entwicklung der staat-
lich-politischen Organisation und umgekehrt möglich. Ausgehend von einer
prozesssoziologischen Sichtweise handelt es sich bei der Industrialisierung um
eine „Periode, in der die funktionale Differenzierung der Interdependenzketten der
entsprechenden Integrierung vorauseilte“ (ebd.: 155; Hervorhebung im Original,
M.F.). Es geht um ein Modell unterschiedlicher Funktionsdifferenzierung und
nicht um ein Modell mit nebeneinander stehenden, autonomen Sphären. Die zu-
nehmende Differenzierung, also der immer komplexer werdende Arbeitsprozess
und seine Synchronisation, führten zu einem Bedeutungszuwachs des Zeitaspekts.
Eine Integrations- und Koordinationsfunktion übernahmen zum Zeitpunkt der
Industrialisierung die Schulen (das staatliche Bildungssystem), die den Kindern
u. a. den Umgang mit der Zeit lehrten. So konnten die folgenden Generationen
bereits das gesellschaftliche Zeitempfinden mit der Erziehung und Sozialisation
erlernen und als gleichmäßigen Zwang in ihre Selbstzwangapparatur aufnehmen.
Innerhalb der Fabriken konnte sich ein weitgehend autonomes Verhältnis von
Zeit, Lohn und Leistung entwickeln. Die Fabriken schotteten sich zunehmend
von der Familiensphäre ab und konnten sich mit diesen Bedingungen ganz auf
die Effizienz der Arbeitsverhältnisse konzentrieren. Dazu gehörte ein neuer öko-
nomischer Umgang mit der Zeit („Zeit ist Geld“). Die Zeit, die die Arbeiter dem
Unternehmen zur Verfügung stellten, erhielt erst im Zusammenhang mit ihrer
konkreten Arbeitstätigkeit einen Wert. Eggebrecht et al. stellen dazu fest:
88 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
„Der Unternehmer wußte, daß Zeit Geld ist, die ‚Zeit ist Geld‘-Ethik mußte aber den
Arbeitern erst beigebracht werden. Einhalten der Zeit und Verhalten in der (Arbeits-)
Zeit waren für die Menge und Qualität der Produktion ausschlaggebend, und beides
wurde am strengsten kontrolliert.“ (Eggebrecht et al. 1980: 212)
ßigen Arbeitsverhalten gegenüber (vgl. Deutschmann 1985: 80). Die vielen Verbote
und Strafandrohungen in den Arbeitsordnungen waren ein Indiz dafür, dass diese
Verhaltensvorschriften außerhalb des Fabrikgebäudes nicht selbstverständlich
waren. Die Arbeiter führten einen Kampf gegen die Arbeitsordnung, um ihre
Lebensgewohnheiten zu behaupten: Ausdehnung der Kaffeepausen, lange Toilet-
tengänge, vorzeitiges Putzen und Aufräumen, Blauer Montag (Fernbleiben), häufige
Stellenwechsel. Die Machtbalance fiel zu dieser Zeit allerdings deutlich zugunsten
der Arbeitgeber aus. Ein Arbeiter musste bei Fortbleiben vom Arbeitsplatz mit
einem Stellenverlust rechnen und gefährdete die eigene wirtschaftliche Existenz
und die seiner Familie (Kocka 1990: 481ff.). Kocka stellt Veränderungen in dieser
Zeit fest, die auf einen interdependenten Zusammenhang zwischen Länge eines
Arbeitstages und Grad der Selbstregulierung verweisen:
„Wenn die Überlänge der Arbeitszeit […] bis 1860 mit dem Disziplinierungs-
rückstand in den damaligen Betrieben, der Extensität der Arbeiterausnutzung und
der mangelnden Permanenz der Fabrikarbeit wechselseitig zusammenhing, dann
verweist die Abnahme der Arbeitszeit seit den 60er Jahren darauf, daß nunmehr die
seit Jahrzehnten in Gang befindlichen Disziplinierungs-, Systematisierungs- und
Verstetigungsversuche allmählich Erfolg zeigten.“ (Kocka 1990: 486)
Die täglichen, extrem langen Arbeitszeiten in der Phase der ersten Fabriken konn-
ten die Arbeiter nur durchhalten, weil sie ihre Pausen und ihren Arbeitsrhythmus
entgegen den Anforderungen der Fabrikordnungen selbst bestimmten. Zudem
arbeiteten sie nicht ihr Leben lang in diesen Fabriken oder sie unterbrachen meh-
rere Jahre diese Tätigkeit, um als Handwerker, Heimarbeiter etc. ihr Überleben zu
sichern (hohe Fluktuation von Belegschaften). Die Fabrikarbeit war insgesamt noch
von kurzfristigen Interessen und Zeithorizonten und weniger durch langfristige
Planungen geprägt. Die Unternehmer hatten in ihrem Kalkül nicht die langfristige
Nutzung von Arbeitskraft im Blick und die Arbeiter waren nicht an einer kontinu-
ierlichen Verbesserung der Erwerbschancen interessiert. Es war keine dauerhafte
Reproduktion von Arbeitskraft und langfristigen Humankapitalstrategien geplant.
Es gab ein fast unbegrenztes Reservoir von Arbeitern, die vom Land in die Stadt
zogen und allgemein sehr mobil waren (Binnenwanderungen, Landflucht). Daher
sahen die Fabrikherren keine Notwendigkeit, die extensive Ausnutzung gegen eine
langfristige Strategie auszutauschen. Fehlende Arbeiter wurden einfach ersetzt
(Deutschmann 1985: 120).
Als die Arbeit jedoch aufgrund von Maschinisierung und Standardisierung
intensiviert werden konnte, erkannten selbst die Unternehmer, dass damit auch eine
Arbeitszeitverkürzung notwendig wurde. In dieser Periode des Übergangs musste
der Entgrenzung der fremdbestimmten Zeit wieder eine Begrenzung folgen. Der
90 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
„Eine der Erscheinungen, die diesen Zusammenhang zwischen der Größe und dem
inneren Druck des Interdependenzgeflechts auf der einen, der Seelenlage des Indivi-
duums auf der anderen Seite besonders deutlich zeigt, ist das, was wir ‚das Tempo‘
unserer Zeit nennen. Dieses ‚Tempo‘ ist in der Tat nichts anderes, als ein Ausdruck
für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen, gesellschaftlichen
Funktion verknoten, und für den Konkurrenzdruck, der aus diesem weiten und dicht
bevölkerten Netz heraus jede einzelne Handlung antreibt. Es mag sich bei einem
Beamten oder Unternehmer in der Fülle seiner Verabredungen oder Verhandlungen
zeigen, bei einem Arbeiter in der genauen Abstimmung jedes Handgriffs auf eine
bestimmte Minute und Zeitlänge, hier wie dort ist das Tempo ein Ausdruck für
die Fülle der Handlungen, die voneinander abhängen, für die Länge und Dichte der
Ketten, zu denen sich die einzelnen Handlungen zusammenschließen, wie Teile zu
einem Ganzen, und für die Stärke der Wett- und Ausscheidungskämpfe, die dieses
ganze Interdependenzgeflecht in Bewegung halten […] [D]ie Funktion [erfordert] im
Knotenpunkt so vieler Aktionsketten eine ganz genaue Einteilung der Lebenszeit; sie
gewöhnt an eine Unterordnung der augenblicklichen Neigungen unter die Notwen-
digkeiten der weitreichenden Interdependenzen; sie trainiert zu einer Ausschaltung
aller Schwankungen im Verhalten und zu einem beständigen Selbstzwang.“ (Elias
1997/1939, Bd.2: 348f., Hervorhebung nicht im Original, M.F.)
[…] als Zeitkonzept und Lebensform sozial vermittelt“ wird (Degele/Dries 2005:
177) und entsprechen der Sichtweise Elias‘, der von sozialer Zeit in Abgrenzung
zur physikalischen Zeit spricht.
der Zeit und die Herausbildung neuer Arbeitsverfahren. Rosa (2005) beschreibt
diesen Zusammenhang wie folgt:
„Fordismus und Taylorismus und die Arbeit der REFA und MTM-Ingenieure
optimierten die Zeiteffizienz in einer Weise, wie sie nur […] in einer von allen le-
bensweltlichen, privaten und subjektiven Bezügen gereinigten Arbeitswelt [möglich
ist].“ (Rosa 2005: 273)
„Den Arbeitern sollen alle Dispositionen und Entscheidungen, von denen der Ausstoß
der Werkstatt abhängt, aus der Hand genommen und auf einige Leute übertragen
werden, welche durch spezialisierte Ausbildung und Anleitung instand gesetzt worden
sind, die nötigen Anweisungen zu geben und ihnen Wirklichkeit zu verschaffen […].
In unserem System wird jedem Arbeiter bis ins Kleinste vorgeschrieben, was er zu
tun hat und wie er es auszuführen hat; und jedwede Verbesserung, die ein Arbeiter
diesen Vorschriften gegenüber vornimmt, ist vom Übel.“ (Taylor 1906: §124 u. §118)
„Er [der Arbeiter, M.F.] soll auf jede Weise ermuntert werden, Verbesserungen
vorzuschlagen. Allerdings darf der Arbeiter nicht jedes Gerät oder jede Methode
anwenden, die ihm bei seiner Arbeit gerade richtig erscheint. Er sollte aber auf jede
Weise ermuntert werden, Verbesserungen in Methoden und Werkzeugen vorzu-
schlagen. Die Betriebsleitung sollte es als feste Regel betrachten, jede Verbesserung,
die ein Arbeiter vorschlägt, sorgfältig zu prüfen und genau den relativen Vorteil
des neuen Vorschlags gegenüber der alten Norm zu ermitteln. Wenn sich die neue
Methode tatsächlich als besser erweist als die alte, dann sollte die Norm für den
ganzen Betrieb festgelegt werden und der Arbeiter sollte die volle Anerkennung für
seine Verbesserung finden.“ (Taylor 1919: §135-137)
Taylor zog unter das über Jahrzehnte gesammelte Erfahrungswissen der Arbeiter
aus ihren traditionellen Handwerksfertigkeiten einen Strich und bündelte es in
seine empirisch ermittelten und daraus abgeleiteten Gesetze und Standards:
4.3 Wissenschaftliche Betriebsführung nach Frederick W. Taylor 95
„Der Scharfsinn jeder Generation hat schnellere und bessere Methoden für jede
Detailarbeit in den verschiedenen Gewerben ersonnen. So stellen denn die heutigen
Methoden die geläuterte Endsumme der geeignetsten und besten Ideen dar, die seit
dem Beginn eines jeden Gewerbes darauf verwendet wurden.“ (Taylor 1919: 32f.)
Taylor sah im Erfahrungswissen der Arbeiter nicht den Schlüssel zu einer rei-
bungslosen Produktion, sodass ihm auch die neuen Erfahrungen der Arbeiter
mit ihren Tätigkeiten während des Prozesses nicht so wichtig erschienen, dass
er sie in einer umfassenden Weiterentwicklung der Standards und seiner wis-
senschaftlichen Methoden hätte nutzen wollen. Indem er die Fertigkeiten der
Arbeiter zu einem bestimmten Zeitpunkt bündelte und abschöpfte, machte er den
Prozess, Erfahrungswissen zu sammeln, zudem relativ statisch im Vergleich zur
bisher freien Gestaltung der Arbeitshandlungen. Taylor war der Überzeugung,
den Arbeiter von einer Last befreit zu haben, indem die Verantwortung für den
Produktionsprozess nun ausschließlich bei den Ingenieuren in den Planungsbüros
lag. Die Arbeiter konnten sich nun voll und ganz dem Vollzug der Arbeitsschritte
widmen. Damit wurden die Handlungsspielräume der Ingenieure erweitert und im
Gegenzug erhielten die Arbeiter höhere Löhne als Entschädigung für den Verlust
ihrer Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Die Art der Arbeitsorganisation
und der Einsatz von Maschinen erwiesen sich für die Arbeiter als Fremdkontrolle
ihres Arbeitshandelns.
Bei Taylors „Scientific Management“ wurde der Fremdzwang, also die Anwen-
dung intensiver Kontrollen noch verschärft, die ausgelöst durch die monotonen und
damit wenig motivierenden Arbeitsinhalte (fehlendende Motivation im Hinblick
auf Bestleistungen sollte durch äußere Kontrolle kompensiert werden) und anderer-
seits durch das Misstrauen Fabrikleitung gegenüber den Fähigkeiten der Arbeiter
ausgelöst wurden. Im Sinne einer Self-Fulfilling-Prophecy54 handelten die Arbeiter
dann genauso, wie die Fabrikherren es erwarteten, und bestätigten die negativen
Erwartungen. Drei typische Kontrollsysteme und Fremdzwänge zur Erhaltung der
höchsten Arbeitsleistung können in einem Betrieb identifiziert werden:
54 Die Wahrscheinlichkeit des Verhaltens eines Menschen nimmt zu, wenn dieses Ver-
halten erwartet wird; dieser Begriff wurde von Robert K. Merton geprägt (vgl. Merton
1995: 399ff.).
96 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
Der Arbeiter wird zu einem Teil der Maschinerie, die er nicht mehr überblicken
kann. Er ist als Person austauschbar und wenn möglich sogar durch Maschinen
ersetzbar. Die Maschinisierung ist nach Taylor eine unausweichliche Folge der
Arbeitsteilung. Manche Kritiker folgerten, dass Taylor von einem Menschenbild
ausging, das den Arbeiter als dumm, faul und unbeweglich erscheinen ließe. Dieser
Arbeiter sei nicht in der Lage, eigene Interessen zu erkennen und zu verwirklichen.
Taylor ging vom homo oeconomicus aus, also von einem Menschen, der nur an
der Maximierung seines Nutzens und Gewinns orientiert sei. Er glaubte, dass der
Mensch nur zu Leistung bereit sei, wenn er dafür gerecht entlohnt werde. Daher
war eine seiner Anreizmethoden die Einführung eines „objektiven“ Lohnsystems
(Akkordlohn).
Taylor suchte immer den besten Mann für eine Aufgabe. Dabei ging es ihm in
erster Linie um die bestmögliche Besetzung einer Tätigkeit und erst im zweiten
Schritt um den Arbeiter, der seine Qualifikationen optimal einsetzen sollte:
„Bisher stand die ‚Persönlichkeit‘ an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation
und das System an erste Stelle treten. Daraus ist aber nicht etwa der Schluß zu ziehen,
dass man keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr braucht. Im Gegenteil, die Aufgabe
eines jeden guten Systems muß es sein, sich erstklassige Leute heranzuziehen, und
bei systematischem Betrieb wird der beste Mann sicherer und schneller in führende
Stellung gelangen als je zuvor.“ (Taylor 1919: 4)
Die Behauptungen Taylors, sein Ansatz könne die Interessengegensätze von Kapital
und Arbeit versöhnen sowie die Nutzung der Ingenieursleistungen und der damit
einhergehenden Steigerung des Berufsstandes fördern, verbesserten das Image des
Taylorismus. Selbst die politische Linke und die Gewerkschaften waren für dieses
Konzept offen.55 Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise erhielt der Taylorismus viel
Kritik hinsichtlich seiner negativen Auswirkungen auf die Menschen und das
Etikett einer unsozialen und inhumanen Arbeitsweise (vgl. Mayo 1933).
Infolge der Krise der Arbeit und der damit verbundenen Produktivitätskrise
wuchs in den 1970er Jahren die Kritik am Taylorismus (vgl. Abschnitt 4.5). Man
begriff, aufgrund von Experimenten mit neuen soziotechnischen Innovationen
der Arbeitsorganisation und des Toyotismus (Lean Production), dass es auch
Alternativen zum Taylorismus gab. Soziologen befassten sich vor allem mit dem
Aspekt der Arbeitsteilung, der bereits ein Jahrhundert vorher von Marx analysiert
wurde. Ihnen war der Prozess der Trennung von Kopf- und Handarbeit zu einem
55 Sogar Lenin forderte die Einführung des Taylorismus, um die Arbeiter schnell für
die industrielle Produktion qualifizieren zu können und ihnen damit die notwendige
Arbeitsdisziplin anzutrainieren (Linhart 1976).
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform 97
bestimmten historischen Zeitpunkt wichtig. Manager sahen darin die Ursache für
das schwindende Interesse der Arbeiter für die Arbeitsprozesse und die daraus
resultierenden Schwierigkeiten, eine flexible Produktion für die zunehmende
Nachfrage nach individuellen Produkten zu etablieren. Massenkonsum, indivi-
dualisierte Fertigung, die industrielle Produktion und die Selbstverwirklichung
der Arbeiter sollten im Einklang stehen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Taylorismus-Begriff im Laufe
der Jahrzehnte verwässerte und zum Synonym für die Trennung von Kopf- und
Handarbeit sowie die extreme Zerlegung der Arbeitsprozesse wurde, obwohl die
Trennung von Planung und Ausführung bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit
den ersten Manufakturen und Fabriken begann.
dien boten diese Funktion und so lässt sich festhalten, dass der Taylorismus als
Integrations- und Koordinationsfunktion für die fortschreitende funktionale
Differenzierung fungierte. Die mit der wissenschaftlichen Betriebsführung
verbundene Zerlegung der Arbeit setzte sich jedoch erst mit der Einführung des
Fließbandes von Henry Ford durch (vgl. Freyssenet 1984). Immer mehr Arbeits-
gänge mussten aufeinander abgestimmt werden, um Rationalisierungsfortschritte
zur Erzielung der höheren Stückzahlen zu erreichen. Die Fabriken sollten als eine
große arbeitsteilige Maschine geplant werden. Die Herausforderung bestand
darin, den Menschen in diese technische Welt einzubetten, sodass mit Mensch
und Maschine der höchste Nutzen erreicht wird.
Die Produktion konnte nun mit dem Fließband kalkulierbarer und unabhän-
giger von der Leistung Einzelner gestaltet werden. Die Tätigkeiten wurden auf
schlichte Mechanismen reduziert, sodass sich die Arbeitsweise für die Arbeiter
weiter verdichtete. Aufgrund der ausgeprägten Differenzierung der Tätigkeiten
ergab sich für die Beschäftigten ein Verlust des Überblicks über den gesamten
Produktionsablauf und eine zunehmende Entfremdung zum eigenen Arbeitshan-
deln. Die Arbeitsweise wurde standardisiert und normiert. Die Überführung der
Arbeitskraft in Arbeitsleistung und die stetige Anpassung des Arbeitshandelns
an neue technische und arbeitsorganisatorische Anforderungen sind bis heute
die wesentliche Herausforderung für Unternehmen. Gezielte Anweisungen und
Überwachungen der Vorgesetzten in den Fabriken sollten die Leistungsanforde-
rungen garantieren. Ford hob den Grad der Disziplinierung und Ausbeutung der
Arbeiter auf ein neues Niveau. Endgültig setzt sich der Fordismus jedoch erst mit
dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch (Hirsch/Roth 1986: 51f.).
Ausschlaggebend für eine rationelle Massenproduktion waren die Verbesse-
rung der Produktionsmethoden und -techniken. Ford war der Meinung, dass
man beim Start der Produktion ein fertig entwickeltes Produkt haben sollte und
die Verbesserungen allein bei den Produktionsmethoden ansetzen sollten (vgl.
Ford 1935: 18ff.). Ford erkannte, dass Herstellung und Vertrieb eines Autos eher
ein wirtschaftliches, denn ein technisches Problem waren (vgl. Eckermann 1984:
69). Die Minimierung der Herstellungskosten und die gleichzeitige Erhöhung
der Löhne garantierten Ford einen ausreichenden Gewinn. Er verließ sich bei der
Gewinnerhöhung auf die Absatzmenge (Volumenstrategie). Wichtige Folge dieser
Leitlinien war die Erhöhung der Kaufkraft. Der prä-fordistische Kapitalismus ließ
die noch immer agrarisch geprägte Reproduktionssphäre (Sozialbeziehungen, Kon-
sumgewohnheiten, Lebensformen) der Arbeiter relativ unberührt. Im Fordismus
hingegen wurden die Arbeiter in den Fabriken zu Konsumenten der von ihnen
selbst hergestellten Produkte: „Die von Ford praktizierte Form des Kapitalismus
4.4 Der Fordismus – Produktionsweise und Gesellschaftsform 99
„Unter dieser scheinbaren Gewöhnung jedoch fließt die Feindseligkeit der Arbeiter
gegenüber den degenerierten Arbeitsformen, die ihnen aufgezwungen werden, als
ein unterirdischer Strom weiter, der sich seinen Weg zur Oberfläche erkämpft, wenn
die Beschäftigungsbedingungen es erlauben oder wenn der kapitalistische Drang
nach einer größeren Arbeitsintensität die Grenzen der körperlichen und geistigen
Belastbarkeit überschreitet. Sie erneuert sich in neuen Generationen, drückt sich in
dem grenzenlosen Zynismus und Widerwillen aus, den zahllose Arbeiter gegen ihre
Arbeit empfinden und kommt immer wieder als ein gesellschaftliches Problem zum
Vorschein, das eine Lösung verlangt.“ (Braverman 1977: 119)
und der Reifezeit (ebd.: 191f.). Elias stellt fest, dass der „Übergang zur Reifezeit“
mit der „Reifung der zugehörigen sozialen Organisation zusammenhängt“ (Elias
1986/2006: 192). Technische Entwicklungen und ihre Institutionen der Integra-
tion entsprechen einem langen Lernprozess (ebd.: 194), der von Fortschritt und
Rückschlag begleitet wird. Die Etappen der Fabrikentwicklung entsprechen einem
ähnlichen Verlauf und dem von Elias beschriebenen langen Lernprozess. Technische,
arbeitsorganisatorische und zivilisatorische Entwicklungen gehören zusammen
und sind Teilprozesse der Menschheitsentwicklung (Elias 1986/2006: 189).
Elias befasste sich auch mit dem Fordismus und der damit beginnenden
Massenproduktion und -konsumtion: Für ihn war die Idee, die Produzenten der
Ware auch zu den Käufern der Ware zu machen, keine punktuelle Erfindung,
sondern entsprach den damaligen Wandlungsprozessen, die in Form von erhöhter
Produktivität, steigenden Gewinnen und mehr Wohlstand für eine Vielzahl von
Menschen gekennzeichnet waren. Ford erkannte lediglich die Zusammenhänge
und nutzte die sich daraus ergebende Chance:
„Das Entstehen eines Massenmarktes und daher von Unternehmern, die für diesen
Markt Güter produzieren, war ein Symptom eines charakteristischen Wandels in der
Struktur der Industriegesellschaften selbst. In dieser Zeit wurde durch die maschinelle
Produktion allmählich genügend Wohlstand in diesen sich industrialisierenden
Gesellschaften geschaffen, so daß Unternehmer ihren Beschäftigten und dem ganzen
Netzwerk des mit ihnen verbundenen Handwerks und Gewerbes ein ausreichend
hohes Einkommen bezahlen konnten, das es diesen wiederum ermöglichte, für sie
vordem unerreichbare Luxusgüter zu kaufen. Die Unternehmer konnten das jetzt
tun, ohne ihren Gewinn zu senken […] Mit anderen Worten: der Lebensstandard der
Massen stieg an. Der Massenmarkt wurde nicht geschaffen: er war von Menschen
wie Henry Ford gewittert und genutzt worden. So begann die Massenproduktion
von Automobilen.“ (Elias 1986/2006: 197)
Das Bildungssystem (Schulen, das deutsche Modell der dualen Ausbildung), das
Gesundheitssystem und die Gewerkschaften haben die Integrations- und Ko-
ordinationsfunktion der funktionalen Differenzierung als Folge des Fordismus
übernommen und auf diese Weise das Produktionsmodell als Gesellschaftsmodell
etabliert.
102 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
Menschen und ideologische Vorstellungen ging, waren die Experimente mit neuen
Arbeitsformen durch die verschärfte Konkurrenzsituation in der Automobilindus-
trie ausgelöst worden. Es war eine veränderte Organisationsgestaltung notwendig,
um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.
Es war unübersehbar geworden, dass sich der Verkäufer- zu einem Käufermarkt
wandelte und japanische Automobilhersteller die größeren Wettbewerbsvorteile
besaßen. Während der Automobilhersteller Ford noch die Volumenstrategie ver-
folgte, zielt die Lean Production auf eine kontinuierliche Kostensenkungsstrategie
(Boyer/Fressenet 2003: 112). Die Diskussion um das neue Konzept wurde vor
allem durch die von Womack, Jones und Roos (1991) am MIT erarbeitete Studie
ausgelöst, die zu dem Ergebnis gelangt, dass der Wettbewerbsvorteil japanischer
Automobilhersteller vor allem auf eine gelungene Arbeitsorganisation und nicht
auf eine bessere Technik zurückzuführen war. Die Hauptmerkmale einer schlanken
Produktion lassen sich wie folgt zusammenfassen:
„Die Betriebe sollen die Blindleistungen, die Verschwendung von Arbeit, Material
und Zeit, abbauen durch flache Hierarchien, kurze Entscheidungswege, Verlagerung
von Aufgaben und Kompetenzen an die Gruppen, die das höchste Informationsniveau
und den größten Durchblick haben, also auch an die Basis; durch faire Kooperation
mit Zulieferern, Vertriebsorganisationen und Kunden. In der Massenfertigung
werden Denken, Entscheiden und Handeln gespalten; Lean Production soll Kopf-
und Handarbeit wieder zusammenführen.“ (manager magazin 4/1992, Infokasten)
dessen Gestaltung auf das Vorbild des japanischen Kaizen zurückgeht (Haipeter
2000: 285). Der Mensch schien im Hinblick auf die Ernüchterung der Industrie
hinsichtlich einer ausnahmslos technisierten Montage (die menschenleere Fabrik) als
einziger Ausweg. Vorrangiges Konzept war die Mobilisierung der Motivations- und
Qualifikationsaspekte im Arbeitshandeln. Das Schwergewicht lag auf Innovation
und Problemlösung, permanente Verbesserung und damit Ablaufoptimierung des
Produktionsprozesses. Das im Taylorismus verbannte Selbst, d. h., die Subjektivität
der Arbeiter sollte in den Produktionsprozess zurückkehren.
Ende der 1990er Jahre wurde ein allgemeiner Rückgang partizipativer Konzepte
verzeichnet, die auf einen neuen betriebswirtschaftlichen Rechtfertigungsdruck
zurückzuführen sind. Die Orientierung auf Shareholder-Value-Interessen (Dörre
2002: 2) fördert eine kurzfristige Orientierung auf Renditeziele und steht Verbes-
serungen der Arbeitsbedingungen im Weg (Schumann 2008: 380f.).57
Eine „zweite Lean Production Welle“ (Jürgens 2006: 15) in Gestalt ganzheitlicher
Produktionssysteme (GPS) integriert aktuell die bisher unverbundenen Manage-
mentkonzepte Teamarbeit, KVP und Zielvereinbarungsprozesse aus den 1990er
Jahren und soll ihre einzelnen Elemente miteinander abstimmen.58 Gestaltung-
saspekte sind in diesem Produktionssystem eher restriktiv. Die Selbstorganisation
folgt klaren Regeln und ist in einen standardisierten Verlauf eingebunden. Eigen-
mächtige und situative Änderungen der Standards sind nicht vorgesehen, sondern
erfolgen in Abstimmung mit Teamkollegen und planenden Stellen im Rahmen
der Teamgespräche („flexible Standardisierung“, vgl. Springer/Meyer 2006: 45).
Ganzheitliche Arbeitsaufgaben, wie sie noch als Forderung in den 1970er Jahren
gestellt wurden, sind im GPS nicht vorgesehen. Im Gegenteil, Selbstorganisation
und „Mitdenken“ findet ihren Platz in den Teamgesprächen und fungiert als
Kompensation (und Komplementär) für die kurzen Arbeitszyklen von 1-1,5 Mi-
nuten. Detlef Gerst stellte mit Bezug auf Ulrich Jürgens (1997) bereits 1999 fest,
dass aufgrund der zunehmenden Variantenvielfalt „längere Bearbeitungszyklen in
der stehenden Montage, die gewisse zeitliche und arbeitsmethodische Spielräume
eröffnen, deshalb in der deutschen Automobilindustrie bald ganz der Vergangenheit
an[gehören]“ (Gerst 1999: 49). Der Widerspruch, der zwischen der Ausführung
stark repetitiver Arbeit und dem zur selben Zeit an die Produktionsmitarbeiter
gestellten Anspruch, gestalterisch, kreativ und engagiert zu sein, entsteht, müssen
die Beschäftigten selbst bewältigen. Gemäß des Konzepts im Fallbetrieb sind die
Bedarf bestimmt und auf diese Weise strategisch nutzbar. Sie verbinden sich im
Sinne der Emergenz zu etwas Neuem, das nicht verschmilzt, sondern durch ein
Sowohl-als-auch charakterisiert ist. Welche Folgen dieser Prozess hat, wird in den
empirischen Ergebnissen unter Abschnitt 6.5 erläutert.
4.7 Zwischenfazit
4.7. Zwischenfazit
Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit ist durch verschiedene „Perioden
des Übergangs“ gekennzeichnet, die sich u. a. durch Indizien wie wandelbare
Werteskalen auszeichnen. Muße wird z. B. als erstrebenswerte Tugend von einer
Arbeit als Pflichterfüllung abgelöst und diese wiederum von einer Arbeit als
Selbstverwirklichung. Die Übergangsphasen werden im Folgenden noch einmal
verdichtet zusammengefasst.
Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft (Industrialisierung)
bildet eine Phase, in der die funktionale Differenzierung so schnell voranschritt,
dass die Koordinierung und Integration zeitlich zurückblieb. Die Herausbildung
eines Arbeitsethos war das Zeichen für die Verringerung der Kontraste in der
Gesellschaft; Arbeit wurde zur Tugend erklärt und damit zum Charakteristikum
für die Mehrheit der Gesellschaft. Die Trennung von Arbeit und Leben aufgrund
der Zentralisierung der Produktion (funktionale Differenzierung) hatte einen
nachhaltigen Einfluss auf das Leben der Menschen und führte zu einer neuen Ver-
wendung von Zeit. Der natürliche Arbeitsrhythmus aus der Landwirtschaft verlor
an Bedeutung und wurde durch eine soziale Zeit ersetzt, die der Synchronisation
der verschiedenen Handlungen vieler Menschen diente. Maschinisierung und
Standardisierung der Produkte und Arbeitsverfahren in den Fabriken bewirkten
enorme Produktivitätsfortschritte. Infolgedessen konnte der Entgrenzung der Zeit
wieder eine Be-Grenzung der Zeit folgen, indem der Normalarbeitstag von acht
Stunden eingeführt wurde.
Der Taylorismus hat für die fortschreitende gesellschaftliche funktionale Dif-
ferenzierung und komplexe Arbeitsteilung in den Fabriken eine Integrations- und
Koordinierungsfunktion übernommen. Der Fordismus als endgültige Durchsetzung
des Taylorismus hatte nicht nur Einfluss auf die konkreten Arbeitszusammenhänge
in der Fabrik, sondern auch auf den privaten Bereich, indem er die Produzenten
der Ware zu ihren Konsumenten machte. Der Fordismus ist nicht nur eine be-
triebliche Produktionsweise, er ist auch eine Gesellschaftsform. Integrations- und
Koordinierungsfunktionen haben Bildungsinstitutionen, Gewerkschaften u. a.
übernommen und diese neue Form gesellschaftlich etabliert.
108 4 Die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit
Grundlage für diese Studie ist ein qualitatives Forschungsdesign, das über das Me-
dium Sprache ein „Eintauchen“ in Lebensformen ermöglicht, die nicht die eigenen
sind (vgl. Senghaas-Knobloch/Dohms 1997: 33; Senghaas-Knobloch/Nagler 2000).
Bei Befragungen steht nicht immer die Beantwortung der Fragen im Vordergrund,
sondern die Schwerpunkte, die die Befragten in die Antworten legen. Der Fokus
der Analyse liegt auf der Herausarbeitung, wie etwas in der Alltagssprache the-
matisiert oder verdeckt wird (ebd.: 33). In Zeiten betrieblicher Restrukturierungen
„werden für die Betroffenen Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und damit
grundlegende Bedürfnisse, berufliche Selbstbilder und Ich-Ideale wieder bewusster
Selbstreflexion zugänglich“ (ebd.: 34). Der kommunikative Charakter des quali-
tativen Forschungsprozesses entspricht den Alltagsinteraktionen, die ebenfalls
kommunikativ sind. Die „Gruppe“ wird als zentrale Untersuchungseinheit gewählt.
Die systematische Einnahme der Innenperspektive erfolgte als kommunikative
und kontextsensitive Leistung. Die hierfür notwendigen Daten konnten in Grup-
pendiskussionen und teilnarrativen Interviews sowie innerhalb der teilnehmenden
Beobachtung erhoben werden (vgl. Ernst 2010: 85). In der prozessorientierten
Analyse der Implementierung eines GPS ging es um die objektiven Strukturen
hinter den subjektiven Geschichten Einzelner. Anhand der Beschreibungen,
Re-Inszenierungen und Diskurse der Gruppendiskussions-Teilnehmer konnten
soziale Prozesse und kollektive Orientierungsmuster (Bohnsack 2010) rekonstruiert
und beschrieben werden. Diese Orientierungen bleiben „Organisationsfremden“
verschlossen und den Mitgliedern der Organisation sind sie nicht bewusst. Quali-
tative Forschung macht Unsichtbares sichtbar, indem sie „das Fremde oder von der
Norm Abweichende und das Unerwartete als Erkenntnisquelle“ (Flick et al. 2010:
14) nutzt und kontrastierend – bekannt versus unbekannt – wahrnehmbar macht.
Die Studie basiert auf der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2010)
und ergänzt diese in der Analyse mit dem integrativen Basisverfahren (Helffe-
rich/Kruse 2007; Kruse/Biesel/Schmieder 2011; Kruse/Schmieder 2012). Diese
„Die Problematik besteht […] darin, wie neue, das heißt nicht tautologische Er-
kenntnisse ermöglicht werden (Fremdverstehen) und wie über sprachliche Mittel
(Erhebungsinstrumente) in kommunikativen Settings (Erhebungssituationen)
sprachlich konstruierte Wirklichkeit (Forschungsgegenstand) rekonstruiert werden
kann.“ (Kruse 2011: 40)
Die Figurations- und Prozesssoziologie von Norbert Elias ermöglicht mit ihrem
rekonstruktiven Zugang eine sozio- und psychogenetische Analyse des Einzelnen
in seinen gesellschaftlich-historischen Verflechtungen. Es ist empirisch möglich,
Figurationen (Beziehungsgeflechte interdependenter Individuen) nachzuzeichnen
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 111
Researcher‘s Perspective
Figuration
Socio-Genesis
Individual
„Langfristsynthesen, selbst wenn sie nur kurz skizziert werden, rücken, wie man
sieht, durchaus nicht nur Probleme vergangender Gesellschaften schärfer umrissen
ins Licht. Auch Gegenwartsprobleme treten mit ihrer Hilfe deutlicher ins Bewusstsein
als zuvor und vor allem auch mögliche Zukünfte.“ (Elias 1983/2006a: 407)
„Die Forscher selbst sind mit in diese Muster einverwoben. Sie können nicht um-
hin, sie – direkt oder durch Identifizierung – als unmittelbar Beteiligte von innen
zu erleben; und je größer die Spannungen und Belastungen, denen sie oder ihre
Gruppe ausgesetzt sind, desto schwerer ist es für sie, den Akt der Detachierung
[Loslösung, M.F.] von ihrer Rolle als unmittelbar Beteiligte zu vollziehen, der allem
wissenschaftlichen Bemühen zugrundeliegt.“ (Elias 1987/2003a: 122f.)
62 Zudem wurde noch eine Analyse der Dokumente vorgenommen, die im Kontext des
Forschungszusammenhangs standen. Für die Forscherin war in diesem Zusammenhang
die Reflexion des Konzepts der Reorganisationsmaßnahmen und ihre Ansprüche in
Abgrenzung zur betrieblichen Wirklichkeit wichtig.
63 Siehe im Folgenden auch das Gütekriterium der „reflektierten Subjektivität“, bei der
sich die Forscherin quasi selbst beobachtet.
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 113
t „Die Figuration als Ganze [wird] mit ihren Positionen, Regeln und Normen
sowie Werten identifiziert,
t zwischenmenschliche Spannungen und Konflikte [werden] begreifbar,
t das spezifische Interdependenzgeflecht [wird] als Handlungsrahmen der Ein-
zelnen einbezogen,
t die soziogenetische Entwicklung der Figuration [wird] analysiert […],
t die Formalisierungs- und Informalisierungsspanne sowie der Formwandel der
Selbstregulierung [wird] in Bezug zu den Mitteln der Befriedigung elementarer
physischer und sozialer Bedürfnisse aufgezeigt,
t die jeweils zentralen Orientierungs-, Steuerungs- und Kommunikationsmittel
der Gesellschaft [werden] untersucht,
t eine systematische Beobachtung der Einzelnen [erfolgt] in ihren sich wandelnden
Verflechtungen und damit
t [werden] Machtbalancen und funktionale Äquivalente in ihren Veränderungen
aufgezeigt […].“ (Ernst 2010: 77)
Das kommunikative Setting dieser Studie erlaubt die Rekonstruktion der Verflech-
tungen innerhalb des untersuchten Fallbetriebes, denn sprachliche Äußerungen sind
ein Zeichen für Menschen in sozialen Beziehungen64 . Zum Aspekt des Gesprächs
als Verflechtungsfigur bzw. zur Sprache als „soziales Gebilde“ (Elias 1987/2003:
279) in Verbindung mit Erziehung bzw. Sozialisation meint Elias:
„So entwickelt auch das Sprechen anderer in dem Heranwachsenden etwas, das
ganz sein eigen, ganz seine Sprache ist und zugleich Produkt seiner Beziehungen zu
anderen, Ausdruck des Menschengeflechts sind, in dem er lebt.“ (Elias 1987/2003: 55)
Sprache und Zeit sind Symbole, über die Menschen miteinander kommunizieren.
Sprache ist eine „soziale Tatsache […], die die Existenz anderer Menschen vor-
aussetzt und der Existenz besonderer Individuen schon vorausgeht“ (Elias 2001:
37). Beide Symbole werden ihnen durch Erziehung und Sozialisation zur „zweiten
Natur“ (sozialer Habitus):
„Was vom Netz der Symbole einer spezifischen menschlichen Gruppe nicht reprä-
sentiert werden kann, bleibt ihren Mitgliedern unbekannt. Menschen können sich
nicht nur von Natur aus mit Hilfe sprachlicher Symbole in der Welt orientieren, sie
brauchen auch Symbole; sie müssen die Symbole einer Gruppe erwerben, ganz gleich,
welches sinnliche Muster diese Symbole haben mögen. Sie können ihr Verhalten
nicht regulieren, kurz, sie können nicht menschlich werden, ohne eine Sprache zu
erlernen.“ (Elias 2001: 91f.)
Das Datenmaterial umfasst Phänomene, die für die Befragten bereits sinnhaft kon-
stituiert sind. Der Forscher verschafft sich einen Eintritt in den Bedeutungsrahmen
der Interviewten und erstellt ein bereits sinnhaft konstituiertes Konzept. Dieses
Konzept benötigt dann wieder eine Interpretation, um verstanden zu werden. Es
findet also ein doppelter Prozess der Übersetzung statt65.
65 Vgl. dazu auch der Begriff „doppelte Hermeneutik“ von Giddens 1984: 12ff.; sowie
Willems 2010a: 48f. (in Anlehung an Goffman): „‚doppelt‘, weil es sich um eine Kunst
der Interpretation von jedermanns ‚Interpretationskunst‘ handelt.“.
66 Vgl. zu Konstruktivismus, Ethnomethodologie und symbolischem Interaktionismus
ausführlich in den Übersichtskapiteln in Flick et al. 2010.
67 „Indexikalität“ (Garfinkel/Sacks 1976).
5.1 Methodologische Grundlagen qualitativer Forschung 115
gilt diese Bedingung auch für die Interviewsituation. Eine qualitative Befragung
generiert keine objektive Wirklichkeit, sondern eine bestimmte Version von Wirk-
lichkeit (ebd.; vgl. auch Helfferich 2011: 23; Breuer 2009: 22). Das bedeutet für die
Befragungssituation, dass sie in verschiedene Kontexte wie soziale Eingebundenheit
der Beteiligten, ihre je individuellen Lebensgeschichten und Erfahrungen sowie die
konkrete Interaktion in der Erhebungssituation selbst eingebunden ist, die selbst
rekonstruiert werden müssen (vgl. Kruse 2011: 10). Nach Watzlawicks Auffassung
gibt es keine absolute Wirklichkeit, sondern nur subjektive, teils widersprüchliche
Wirklichkeitsauffassungen, von denen „naiv“ angenommen wird, dass sie der
„wirklichen“ Wirklichkeit angehören (Watzlawick: 1978: 142).
Die Frage nach der „wahren“ bzw. „wirklichen“ Wirklichkeit verbietet sich dem-
nach in der rekonstruktiven Sozialforschung. Diese Einsicht entspricht in gewisser
Weise der von Elias formulierten Anforderung an qualitative Forschung, sich statt
an „absoluten Dichotomien“ wie wahr-unwahr oder richtig-falsch besser an Relati-
onen wie an ein „Weniger und Mehr an ‚Wahrheit‘ oder, besser: Adäquatheit“ (Elias
1987/2003a: 162) zu orientieren. Rekonstruktive Sozialforschung bzw. Prozessanalyse
muss der Frage nachgehen, welchen Sinn die in der Erhebungssituation dargestellte
Wirklichkeit für die Befragten hat. Dabei sind die Wirklichkeitsdarstellungen
nicht zufällig oder beliebig, da sie als „Indikator“ in Beziehung zu einem dahinter
liegenden, verborgenen Muster oder Konzept stehen. Außerdem kann das Muster
durch die vielfältigen Einzeläußerungen erfasst werden, was darauf schließen lässt,
dass es sich um einen prozesshaften, dynamischen Verlauf und keine statische
Struktur handelt. Da Äußerungen immer kontextgebunden sind, ist es für die
Forscherin notwendig zu verstehen, in welchem Kontext sie entstanden sind und
wie der Sinn generiert wurde. Die Wahrnehmung einer sprachlichen Äußerung in
Verbindung mit ihrem Kontext (frühere lebensweltliche Erfahrungen der Befragten
sowie aktuelle Interaktion innerhalb der Befragungssituation) wird erst dann zu
einem sinnhaften Ganzen. Die Analyse dieser Äußerungen bildet den primären
Zugang zum Forschungsgegenstand (vgl. Helfferich 2010: 22). Die Betonung des Wie
im Gegensatz zum Was charakterisiert den Paradigmen- und Perspektivwechsel
innerhalb der qualitativen Sozialforschung (vgl. Kruse 2011: 11; Kurt 1995; 11ff.):
Innerhalb menschlicher Kommunikation gibt es einen Inhalts- und einen Bezie-
hungsaspekt (Sprache als menschliches Gebilde). Diese Unterscheidung machen
auch Watzlawick et al. (2007: 53ff.) in ihrer Kommunikationstheorie. Vom Was
zum Wie, also vom gegenstandsbezogenen zum beziehungsgestalterischen Aspekt.
Nicht die faktische Wirklichkeit (das Was) steht im Fokus des Erkenntnisinteresses,
sondern der Prozess ihrer Entstehung und die Funktion (das Wie und Wozu). Diese
Auffassung entspricht auch der Methodik eines prozessorientierten Zugangs, der
das Gewordensein der Gegenwart in den Mittelpunkt stellt.
116 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
zu wissen und somit offen für jede Wissenserweiterung zu sein. „Offenheit“ meint
also die verzögerte theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstands und
den Verzicht auf die Hypothesenbildung ex ante:
„Das Prinzip der Offenheit besagt, dass die theoretische Strukturierung des For-
schungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungs-
gegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat.“ (Hoffmann-Riem
1980: 343, 345)
Das Prinzip der Offenheit sichert zudem die methodische Kontrolle, denn in-
nerhalb der qualitativen Forschung gilt das Paradoxon: Je weniger Eingriffe der
Forscher in die Kommunikation zwischen den Teilnehmern vornimmt, desto mehr
methodische Kontrolle ist notwendig (Bohnsack 2010: 21ff.). Die Fragestellung sollte
insoweit offen sein, dass die Interviewten die Antwort selbst strukturieren und einen
Antwortfokus bestimmen können. Damit besteht die Möglichkeit darzustellen,
ob sie Interesse am Thema haben und es ihnen relevant erscheint. Unklar ist, ob
das Relevanzsystem der Interviewten überhaupt mit der Fragestellung berührt
wird und wenn ja, welcher Aspekt bedeutend ist. Die Interviewten sollen bei der
Fragestellung ihrer ersten Assoziation folgen und auf ihre Art interpretieren, wie
die Frage gemeint ist. Sie bestimmen die zu untersuchenden Aspekte. Damit ist die
Gefahr gebannt, dass der Interviewer das eigene Relevanzsystem in das Interview
einbringt und die Antwort missverstehen könnte sowie eigene Bedeutungen hin-
einzuinterpretieren, die nicht „wahr“ sind. Den Interviewten muss die Gelegenheit
gegeben werden, das eigene Relevanzsystem in die eigene Sprache und im eigenen
Symbolsystem entfalten zu können (vgl. Bohnsack 2010: 20f.) (Prinzip des Fremd-
verstehens). Erst im Kontext kann der Forscher den Sinn der Antworten verstehen
und vermeidet es, das eigene Relevanzsystem anzuwenden.
In einer Gruppendiskussion werden angesprochene Aspekte deutlicher, wenn
die Teilnehmer in ihrer alltäglichen Sprache kommunizieren. Die Teilnehmer
befinden sich in ihrem „gewohnten sozialen Kontext“ (vgl. ebd.: 21), in dem sie
täglich kommunizieren. Bei der wechselseitigen Bezugnahme der Teilnehmer
aufeinander generieren sie einen „kommunikativen Kontext“ und die Ein-
zelmeinungen bekommen einen Sinn. Im vorliegenden Beispiel sind es u. a.
Produktionsmitarbeiter/innen des gleichen Betriebes, die mit dem KVP zu tun
haben bzw. indirekt involviert sind. Als Gruppe kommunizieren sie täglich in
den Pausen und in 14-tägigen Abständen unter Anleitung von Teamsprechern
in Teamsitzungen.
Es handelt sich nicht um eine absolute Offenheit der Befragung, denn bereits
die Interaktionssituation ist eine Art Begrenzung. Offenheit kann angestrebt
werden, indem die Methode dem Gegenstandsbereich angemessen bleibt. Die
118 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
Vorstrukturierung bleibt vor der Erhebung so gering wie möglich, sodass das Vor-
wissen prozesshaft reflektiert und angepasst werden kann (vgl. Steinke 1999: 36).
Prozesshaftigkeit und Reflexivität sind methodologische Prämissen des gesamten
Forschungsprozesses, die eine weitgehende Flexibilität erforderlich machen, um
auf veränderte Umstände (Kontextänderungen, Erkenntnisgewinn) angemessen
reagieren zu können.68 Dieses Vorgehen macht wiederum die Beschreibung einzel-
ner Untersuchungsschritte notwendig, um die Nachvollziehbarkeit gewährleisten
zu können.
69 Die „Notwendigkeit des Vertrautwerdens“ betont auch Birgit Volmerg: „Der Kontext
kann nur ermittelt werden, wenn die Forschenden selbst Mitglieder der Regeln werden,
die in der Situation des Handelns gelten.“ (Volmerg 1988: 131)
120 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
Forscher stellen das eigene Relevanzsystem zurück, um dem Prinzip der Offenheit
Rechnung zu tragen. Sie wollen den Sinn der Äußerungen rekonstruieren und nicht
ihren Sinn hineinlegen. Im Forschungsprozess wird auch die eigene Forschung
erforscht wird und der Forscher erfährt dabei immer auch viel über sich selbst.
Diese Metaebene ermöglicht dann Erkenntnisfortschritte im Forschungsprozess.
Reliabilität x Konsistenzregel
vität, Reliabilität, interne und externe Validität), haben sich Gütekriterien für die
qualitative Sozialforschung entwickelt, die die erkenntnistheoretischen Grundla-
gen als auch die methodischen Verfahrensprinzipien der qualitativen Forschung
berücksichtigen (vgl. Steinke 1999: 43ff., Steinke 2010: 319ff.).
Interaktionen der Akteure verloren geht. Nach Wolff handelt es sich beim Zu-
gang zum Feld um ein „eigenständiges soziales Phänomen“ (Wolff 2010: 339), das
bewusst gestaltet werden muss. Daher waren die zu Beginn der Forschungsarbeit
geführten Gespräche mit Vertretern des Werkmanagements und des Betriebsrats
eine vertrauensfördernde Maßnahme. Der Umgang mit solchen Akteuren, den
„Gatekeeper“ (Türöffner, Schlüsselpositionen) der Organisation, ist von strategi-
scher Bedeutung. Erst die Zustimmung dieser Mitglieder ermöglicht den Zugang
zum Feld (vgl. Wolff 2010: 342).
Der Kontakt zum Betriebsrat erfolgte mit einer Vorstellung der Forscherin und
ihrem Forschungsvorhaben in den zuständigen Gremien und Ausschüssen. Im
Anschluss entwickelte sich dann ein persönlicher Dialog zwischen der Forscherin
und einzelnen Betriebsräten, der sich während der gesamten Studie regelmäßig
fortsetzte. Der einvernehmliche Verlauf der Vorgespräche eröffnete den unein-
geschränkten Zugang in das Innere der Organisation und die Zustimmung zur
Kontaktaufnahme zu allen für die Forschung notwendigen Organisationsmitglie-
dern. Mit dem Datenschutzbeauftragten des Betriebsrates wurden das generelle
Design, die Kriterien der Forschungsethik, des Datenschutzes, die Richtlinien
für die Aufzeichnung von Gruppendiskussionen und die Anonymisierung der
personenbezogenen Daten besprochen. Die Kriterien wurden schriftlich fixiert,
sodass das Verfahren die Zustimmung erhielt.
Anschließend folgte das „Eintauchen“ in die soziale und betriebliche Realität.
Es war wichtig, in direktem Kontakt mit den Akteuren im Forschungsfeld zu
sein, um die Realität in ihrer Komplexität adäquat zu deuten und ein umfassen-
des Verständnis zu entwickeln. In den folgenden Gesprächen ging es darum, das
Forschungsvorhaben und seinen Nutzen zu beschreiben. Die Studie sollte die
Einführung des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) im Rahmen eines
Ganzheitlichen Produktionssystems (GPS) untersuchen und den Schwerpunkt
auf die Beschäftigtenperspektive legen. In Zeiten betrieblicher Reorganisationen
„werden für die Betroffenen Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und damit
grundlegende Bedürfnisse, berufliche Selbstbilder und Ich-Ideale wieder bewusster
zugänglich“ (Senghaas-Knobloch et al. 1997: 34). Die Einführung des KVP war
zum Zeitpunkt der Studie ein „brennendes Thema“, das auf allen Ebenen der
Organisation diskutiert wurde. Damit war ein gemeinsames Interesse zwischen
Forscherin und Akteuren der Organisation formuliert worden.
124 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
Die dokumentarische Methode ist besonders für die Arbeits- und Organisations-
forschung (Implementierung von neuen Arbeitsorganisationsformen) geeignet, da
gerade auf diesem Feld zwischen den normativen Vorgaben der Organisation und
der handlungspraktischen, meist implizit bleibenden Alltags- und Erlebniswelt der
Organisationsmitglieder zu unterscheiden ist, wobei die Erlebnisseite den Fokus
der empirischen Analyse bildet.
„Der konjunktive Erfahrungsraum „erfasst vielmehr eine von der konkreten Gruppe
gelöste Kollektivität, indem er diejenigen miteinander verbindet, die an Handlungs-
praxen und damit an Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben, die in einem
bestimmten Erfahrungsraum gegeben sind.“ (ebd.: 282)
Sprache
Auch Sprache ist nach Mannheim (1980: 217ff.) nicht unabhängig von den kon-
junktiven Erfahrungsräumen zu deuten und muss immer im Kontext verstanden
werden. Sprache und ihre Bedeutung ist dynamisch und kann lediglich eine Fi-
xierung von Bedeutung in einem spezifischen Handlungskontext darstellen. Auf
der Sprachebene lassen sich beide Sinnebenen ausfindig machen: zum einen als
allgemeine Bedeutung eines Begriffs und zum anderen als konjunktive Bedeutung in
der konkreten Handlungspraxis. „Als in Handlungsvollzüge und in Körperlichkeit
eingeschriebenes Wissen kommt man in der Interpretation dem Dokumentsinn
insbesondere über die Performanz, die Gestaltung und über (sprachliche) Bilder
auf die Spur“ (ebd.: 281).
x
Beschäftigte Kürzel
aus der Produktion Gruppendiskussion
GENE (n=8) Zielgruppe 1 (Teilnahme in mind. einem KVP-Workshop);
"Geben und Nehmen" acht Männer, keine Frauen
STEWE (n=5) Zielgruppe 2 (ohne KVP-Workshop-Erfahrung);
"Stehen im Weg" drei Männer, zwei Frauen
BESA (n=4) Mischgruppe (Zielgruppe 1 und 2);
"Beschlossene Sache" drei Männer, eine Frau
Beschäftigte Kürzel
aus der Verwaltung Gruppendiskussion
GEMA (n=5) Zielgruppe 1 (Beschäftigte aus der Verwaltung mit KVP-
"Gemeinsam aufräumen" Workshoperfahrung);
vier Männer, eine Frau
MODIB (n=5) Zielgruppe KVP-Moderator (aus der Verwaltung für die
"Moderatoren Indirekter Verwaltung);
Bereich" vier Männer, eine Frau
Im Verlauf der Untersuchung fiel die Aufmerksamkeit auf eine weitere Befragungs-
gruppe: die innerbetrieblich gewählten KVP-Moderatoren. In Anlehnung an die
Grounded Theory und dem Prinzip der Offenheit wurde der Erkenntnisgewinn
genutzt und das Sample um die Gruppe der Moderatoren erweitert („schrittweise
Auswahl“ nach Flick 2010: 163). Die Auswahl erfolgte aufgrund der Besonderheit
ihrer Biografie im Unternehmen und des Rekrutierungsprozesses zum Moderator.
Die selbstverständliche Anwesenheit der Moderatoren in den KVP-Workshops
brachte die Forscherin dazu, genau dieses zu hinterfragen: Wie wurden die Mo-
deratoren ausgesucht? Warum wurden gerade SIE gewählt? Warum stimmten sie
zu? Oder haben sie sich proaktiv für die Aufgabe beworben? Gab es interne Stel-
lenausschreibungen? Auch im Hinblick darauf, dass diese Aufgabe ohne die groß
angelegte Reorganisationsmaßnahme im Fallbetrieb nicht existieren würde, war
der innerbetrieblich gewählte Moderator von besonderem Interesse. Nach vielen
Gesprächen wurde der Forscherin klar, dass die ursprünglichen Aufgaben und
Positionen der Moderatoren nicht darauf schließen ließen, dass die Moderatorentä-
tigkeit innerhalb der beruflichen Laufbahn ein logischer Schritt gewesen wäre. Sie
alle waren keine ausgebildeten Moderatoren oder Seminarleiter, noch zeichneten sie
sich durch besondere Kenntnisse im Themengebiet KVP oder Reorganisation aus.
Im Gegenteil, sie durchliefen im Rahmen der neuen Tätigkeit mehr oder minder
eine Art Training-on-the-Job (in Theorie und Praxis) und in einigen Fällen verlie-
fen Training und Ausführung sogar zur selben Zeit (just-in-time-Qualifikation,
Entgrenzung). Ihre berufliche Identität und Position im Fallbetrieb und der neue
(zeitlich befristete) Moderatoren-Job führten dabei oft zu Diffusität und Unsicherheit
134 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
Gruppen (Figurationen) und wurde als Kontext mit berücksichtigt. Welche genau das
sind, wird in den Ergebnissen dargestellt.
72 Das ist aus dem Grunde erwähnenswert, da die Vertrauensleute ihre Kollegen schützen
wollen und sie in einer Interviewsituation dem Verhalten der Forscherin und ihrem
Umgang mit Daten ausgeliefert sind.
136 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
Leitfragen
Die Formulierung des Erkenntnisinteresses mithilfe von Vorannahmen reicht nicht
aus, das Erkenntnisinteresse direkt in einen Leitfaden zu übersetzen. Auf dem Weg
dorthin folgt als Zwischenschritt die Formulierung von Leitfragen. Dazu bieten
Gläser und Laudel (2009) eine unterstützende Checkliste an:
Der Leitfaden
Den Rahmen der Erhebungssituation bildet die Offenheit in den Gruppendis-
kussionen im Hinblick auf die Teilnehmer. Der Leitfaden darf daher nicht als ein
starres Instrument verstanden werden. Die Reihenfolge der Fragen mit den Themen
Subjektivierung, Entgrenzung sowie Figurations- und Prozesssoziologie wurde
bereits vor den tatsächlich stattfindenden Gruppendiskussion umgestellt und
einer antizipierten Gesprächslogik, dem Anspruch einer authentischen, lockeren
Gesprächssituation folgend, angepasst.
Der Leitfaden wurde in einem Seminar an der Universität Hamburg über die
praktische Anwendung empirischer Methoden getestet, um die Generierungskraft
der Fragen zu testen. Der Verlauf der Simulation und das Feedback sollten wichtige
Hinweise zur endgültigen Erstellung des Leitfadens (Leitfaden für eine ausgewählte
Zielgruppe im Anhang) liefern.
Während der Gruppendiskussion wurden die Fragen dann an die tatsächliche
Gesprächssituation ausgerichtet und ihre Formulierung frei gewählt. Inwieweit
die Moderation der Gruppendiskussion direktiv verlief, hing von der Bereitschaft
und dem Vermögen der Teilnehmer ab, den Diskussionsverlauf eigenständig zu
gestalten. Bei den untersuchten Gruppen handelt es sich um weniger erfahrene
Redner, die eine Diskussionssituation nicht aus dem Arbeitsalltag kennen. Er-
schöpften sich die Antworten zu einer Leitfrage, dann richteten die Teilnehmer
138 5 Forschungsdesign und methodisches Vorgehen
den Blick auf die Moderatorin bzw. den Moderator in Erwartung einer Reaktion
oder einer neuen Frage. Zwischen diesen Leitfragen überließ die Interviewerin den
Gruppendiskussionsteilnehmern die Gestaltung des Verlaufs und reagierte nur in
besonderen Fällen (Pausen) mit Nachfrage und Verständnisfragen.
Die Prägnanz und Übersichtlichkeit des Interviewleitfadens half der Intervie-
werin den Überblick zu behalten, sodass die Teilnehmer das Gespräch gestalten
konnten und es ermöglichte, eine schnelle direkte Kontrolle über offen gebliebene
forschungsrelevante Fragen und eröffnete den Teilnehmern den Freiraum, ein
eigenes Relevanzkonzept im Gespräch zu entwickeln.
Die situative Anpassung der Fragen, indem bestimmte Themen bewusst aus-
gelassen wurden oder Themen von Befragten aufgegriffen wurden, erfüllt das
Prinzip der Offenheit und Flexibilität. Der Leitfaden war also ein Hilfsmittel,
das den Forschungsgegenstand repräsentierte, in zähen und kargen Gesprächen
genügend Anregung bot und in schnellen Gesprächsverläufen zur Orientierung
diente. Jedes Interview ist eine komplexe soziale Interaktion und die Güte wird
vom Handeln und Verhalten des Interviewers bestimmt.
Die Leitfäden der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews folgten dem
gleichen Muster und enthielten die Felder: Subjektivierung, Entgrenzung, Figu-
rations- und Prozesssoziologie.
5.2.5 Analyseschritte
Vorstufe: Inventarisierung
Die digital aufgezeichneten Gruppendiskussionen und Einzelinterviews wurden in
Anlehnung an das Basistranskriptionssystems von GAT (vgl. Deppermann 2008:
39ff., 119f.) vollständig transkribiert. Im Weiteren wurde der thematische Verlauf
der Diskussion festgehalten (Inventarisierung). Die Reihenfolge der Themen blieb
unverändert. Ein besonderes Augenmerk lag auf den thematischen Wendungen,
die das Ende einer „Passage“ kennzeichneten. Die thematischen Einheiten bilden
die kleinsten Schritte für die Interpretation, orientierten sich aber weitgehend an
den Leitfragen.
3. Diese Textpassage unterscheidet sich formal von den anderen durch ihren „ho-
hen Detaillierungsgrad und eine ausgeprägte Bildhaftigkeit der Darstellung“
(Bohnsack 2010: 123). Die Redebeiträge zeichnen sich durch eine „interakti-
ve“ und „metaphorische Dichte“ aus und legen den Blick auf die kollektiven
Orientierungen, die im Fokus der Gruppe (des Milieus) stehen, frei. Bohnsack
spricht in dem Fall von einer „Fokussierungsmetapher“ (ebd.: 123). Die Einzel-
meinungen treten zurück und der Einzelne geht euphorisch im Diskurs auf,
„wenn sie also gemeinsame Zentren der Erfahrung aktualisieren“ (Loos/Schäffer
2001: 28; Hervorhebung im Original, M.F.) können.
4. Es besteht eine thematische Vergleichbarkeit der Passagen, die in die kompa-
rative Analyse mit einbezogen werden.
Dritter Analyseschritt:
Strukturierung, Verdichtung und Sicherung der Ergebnisse
Nachdem in einem ersten Durchgang auf Basis der sprachlich-kommunikativen
Deskriptionen erste Interpretationen herausgearbeitet und in einem weiteren
Durchgang strukturiert festgehalten werden, folgt ein dritter Analyseschritt: die
Verdichtung und Sicherung der Ergebnisse. Die bisher herausgearbeiteten Motive
und Interpretationen, die als lose Fäden in der Hand gehalten werden, können nun
endgültig gebündelt werden. Die Darstellung der gebündelten Interpretationen
erfolgt mithilfe eines „Fallexzerpts“, das die zentralen Ergebnisse übersichtlich
wiedergibt, die mit direkten Zitatbeispielen aus dem Text belegt werden. Die
Fallexzerpte dienen zudem als Basis für die Querauswertung, also die fallüber-
greifende Komparation.
Das Herausarbeiten der kollektiv geteilten Orientierungsmuster in den kon-
junktiven Erfahrungsräumen ist das Ziel der dokumentarischen Methode:
„Im Zuge der Typenbildung werden auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten der
Fälle (z. B. milieutypische gemeinsame Erfahrung der Auseinandersetzung mit
Reorganisationen) spezifische milieutypische Kontraste der Bewältigung dieser
Erfahrung herausgearbeitet (z. B. zwischen Workshop-Teilnehmer und Nicht-Teil-
nehmer).“ (Bohnsack 2007: 383; Die Beispiele entstammen aus dem hier zugrunde
gelegten Fallbeispiel)
Das folgende Schema fasst noch einmal den gesamten Verlauf der Analyse zu-
sammen:
5.2 Methodisches Vorgehen 147
Die Analyse hat sich von den untersuchungsleitenden Konzepten, der Forschungs-
frage und vom emergenten Charakter des offenen und rekonstruktiven Verfahrens
leiten lassen. Das Ergebnis dieser induktiv und deduktiv verschränkten Verfahrens-
weise sind Kategorien und Motive. Das Kapitel fokussiert die im Forschungsprozess
herausgearbeiteten zentralen Motive (Kernkategorien), die im weiteren Verlauf
die Kapitelüberschriften bilden (Submotive bilden Unterkapitel). Die dargestellten
Zitate dienen als Ankerbeispiele und der Illustration der herausgearbeiteten Motive.
Die ersten beiden Tage sind Schulungstage, in denen die Teilnehmer typische, am
Kaizen (vgl. Imai 1994) orientierte KVP-Methoden erlernen und sofort anwenden.
Dabei handelt es sich unter anderem um die 5S-Bewegung, die neun Arten der
Verschwendung (Muda), den Eintakter und die Griffweitenoptimierung. Gleich-
zeitig erfolgt die Erarbeitung eines Ist-Standes des Arbeitsplatzes:
„Tja, bei uns ist das so abgelaufen, wir haben zwei Workshops bei uns gehabt,
in einem kurzen Zeitabstand. Der erste Tage war bei beiden gleich, wir liefen
erst mal rum und: Wo haben wir noch Potenzial?“ (GENEF/32)
Der Mittwoch erweist sich in der Workshopwoche unbeabsichtigt als ein Ent-
scheidungstag, dem eine Wende folgt. GENEE weist in der folgenden Passage auf
eine Spannung hin, die am Mittwoch sichtbar wird und sich entlädt:
Warum es zur Eskalation am Mittwoch kommt, soll an anderer Stelle noch dar-
gestellt werden.
Den Abschluss bildet die Ergebnispräsentation, die alle Verbesserungsideen
und Aktivitäten dokumentiert. Diese Veranstaltung findet vor einem großen
Publikum statt, das aus allen Workshop-Teilnehmern der betreffenden Woche,
dem Werkmanagement, dem Betriebsrat und anderen Interessierten besteht
(50-70 Personen). Trotz der schwierigen und angespannten Situation soll kein
Workshop ohne Ergebnis beendet werden. Daher wurden Präsentationen ange-
fertigt, die scheinbare und auf den ersten Blick positive Ergebnisse auswiesen.
GENEH kritisiert zum Beispiel massiv, dass bei den Präsentationen „beschissen“
152 6 Empirische Ergebnisse
(GENEH/29) werde „ohne Ende“ (ebd.). Beispielhaft ist auch die folgende Passage
von GENEA (BVKLer):
„Ja, man muss ja auch zusehen, dass man die Jungs oder die
IE [Industrial Engineering, M.F.] oder so was, auch mal
Sachen, mit ran holen. Ich habe den Kerl geschnappt, habe
ihm Handschuhe an, habe ihn gedrückt und hab gesagt: Rüs-
te mal mit. Ja, dann kam er mit Schlips und Kragen da an
und meinte, so ein Seil da rüber zu wuchten über so ein
Werkzeug. Dat ist nicht viel Arbeit, ich: Dann mach mal
mit, werf doch mal einen >WHFKQ%HJULҬ@ da rauf. Du musst
sie ja mal mit anpacken lassen und der hat drei Werkzeuge
mitgemacht und ist dann weggelaufen. Dann hat er es auf-
gegeben.“ (GENEF/109)
79 Minssen meint vor allem das Spannungsverhältnis zwischen zum einen einer relativen
Verbreitung von Kommunikation in Entscheidungsprozessen und zum anderen vorge-
gebener Ziele. Der Diskurs auf betrieblicher Ebene ist für ihn nicht verständnisorientiert
(organisationales Machtgleichgewicht), sondern ergebnisorientiert.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 153
einer Niederlage des IE- Mitarbeiters, wie GENEF feststellt, denn er sei bereits
nach drei Rüstvorgängen „weggelaufen“ (GENEF/109) und habe „aufgeben“ (ebd.).
Trotz der heterogenen Zusammensetzung der vielfältigen Funktionen und
Hierarchiestufen in diesen Workshops identifizieren die Gruppendiskussions-
teilnehmer gleich zu Beginn zwei gegensätzliche Lager und Positionen. Diese
Begrenzung erfolgt mit einer Linie, die die Gruppe in eine Arbeitgeber- und eine
Arbeitnehmerseite teilt. Zur Arbeitgeberseite zählen alle, die nicht unmittelbar in
den Produktionsprozess eingebunden sind (Werkmanager, Schichtleiter, Meister,
Mitarbeiter der Planung und des IE und m. E. der Moderator):
„Weil es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall, da brauchen wir uns nichts vormachen, das ist
eben so.“ (GENEC/184)
„Ja, doch, dass denk’ ich ja, auf jeden Fall. Aber das
[spiegeln von Feedback und Kritik ins KVP-Büro, M.F.] kön-
nen die anderen Moderatoren auch, also das ist nun nicht
ähm, dass (.) davon leben die ja auch hier, die wissen ja
nicht, was im Workshop passiert.“ (MOD01/103)
Die Abschlusspräsentation bildet den großen Auftritt und die Darstellung der Leis-
tung der Gruppe, aber auch die des Moderators. Dort zeigt sich seine erfolgreiche
oder auch erfolglose Moderation. Alles ist größer und lauter als im KVP-Workshop:
Das Publikum ist größer (und wichtiger) und mit dem Mikrofon ist das Präsentierte
lauter und besser zu hören. Das Ganze hat den Charakter eines großen Auftritts,
der auf einer Bühne vor großem Publikum stattfindet. Sogar besondere (externe)
Gäste sind eingeladen. Obwohl die Moderatoren in den meisten Fällen nicht selbst
präsentieren, handelt es sich dennoch um die Früchte ihrer Arbeit. Sie können stolz
auf ihre Arbeit blicken und sie zur Aufwertung des eigenen guten Rufs nutzen, denn
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 155
das gesamte Werkmanagement und der Betriebsrat sind bei dieser Veranstaltung
anwesend. M2 stellt die Situation anschaulich im folgenden Zitat vor:
hin, was passiert, wenn nur schnelle, kurzfristige Ergebnisse ausgewiesen werden
sollen, statt die Organisationsentwicklungsmaßnahme als langfristigen Wandel
zu betrachten:
(neuen) sozialen Beziehungen, aber auch die Ereignisse im Verlauf des Workshops
werden gar ausgeblendet. Das führt zur Vertuschung von schlechten oder gar
keinen Ergebnissen (im Sinne des Betriebsziels), die zu einer Doppelwirklichkeit
führt und nach außen Erfolge suggeriert, die es nach innen nicht gibt. KVP ist
dann eine schöne Fassade und nur "Kosmetik" (MODOl/49), die die wahren
Problernfelder und Spannungen innerhalb des Betriebs im Sinne eines blinden
Flecks verdeckt. Statt kontinuierlicher Verbesserung und Zunahme gleichberech-
tigter Zusammenarbeit interdependenter Figurationen wird vielmehr der Erhalt
des Status quo des Machtgleichgewichts erreicht, der zur Beharrungstendenz
innerhalb der Verflechtungssphäre "Organisation" führt (siehe Abschnitt 6.1.4.2
zur Beharrungstendenz).
"ABER die Rolle des PLANERS und DAS ist ja DAS SPANNENDE
in dem Prozess. Man muss sich ja FOLGENDES überlegen: ICH
setz mich da jetzt hin und hab zwei OPTIONEN. DAS HEISST:
ICH bleib sitzen und schweige. Dann kann ich Glück haben,
wenn mich keiner auf das richtige Thema schubst, dass ich
'ne recht entspannte woche, gegebenenfalls recht entspann-
te fünf Wochen habe. WENN ich natürlich jetzt SAGE: ICH
mach FASS A, Bund C von alleine auf, die Arbeit bleibt
ja auch an mir hängen, ne? Aber das ist ja so 'n bisschen
so 'n Abwicklungsprozess im menschlichen Bereich. WAS mo-
tiviert mich, DAS zu machen? Und am Ende weiß der Planer
GANZ genau, das MEISTE bleibt bei ihm KLEBEN. Also, ist
er eigentlich GANZ FROH und sagt in der Regel NICHTS von
alleine. IMMER nur auf Ansprache, weil er weiß ja ganz
genau, wenn ich jetzt sage: Man könnte, man könnte, man
könnte (.) WEIL er ja 'n ganz ANDERES FABRIKBILD vor Augen
hat, wie so 'n WERKER, der das ERSTE MAL da sitzt oder 'n
Teamsprecher. DER kennt ja Dinge aus PLANUNGSrunden und,
und, und (.) DER kann ja auch Themen losschieben. Bloß er
weiß auf der ANDEREN Seite auch GANZ genau (.) DAS bleibt
ja bei mir hängen, ne? Das heißt, ich nehm mir die Arbeit
heut Nachmittag mit ins Büro. Die gehen um 15 Uhr noch
81 MOD021123.
158 6 Empirische Ergebnisse
was (.) nach Hause und ich kann mich dann noch 'ne Stunde
ins Büro setzen und mit [Werk M] telefonieren und da n
Bild beschafren oder 'ne KONSTRUKTION zeichnen und, und,
und (.) Und ähm (.) das ist immer so 'n Abwäqunqsprozess,
ne?" (MOD03/91)
Den Auftrag, den die Planer zu erledigen haben sowie ihre ganz individuelle
Absicht, die sie im Workshop verfolgen, kann im Gegensatz zu denen der ande-
ren Teilnehmer stehen. M2 stellt fest, dass unterschiedliche ..Intentionen" aller
Teilnehmer Auswirkungen auf den Gruppenprozess haben. Im Fall der Planer ist
es so, dass sie das befürchtete hohe Arbeit&pensum als Folge der Workshop-Maß-
nahmen mit .. Barrieren" stoppen können und auf diese Weise die Herausforderung
bewältigen. Ihre Bewältigungsstrategie bleibt individuell und wird ohne Wissen
des Prinzipals angewandt. Solange es keine offizielle Beschwerde über mangelnde
Unterstützung des Planers gibt, wird der Prinzipal nie erfahren, dass es sein Agent
ist, der die Unterstützung begrenzt. M2 beschreibt die Situation mit den Planern
bzw. den Mitarbeitern des IE als besondere Herausforderung für den Moderator,
den .Faktor Mensch" als .Unwägbarkeit" (MOD02/119) im Workshop immer
berücksichtigen zu müssen.
Die relative Spielstärke der Planer ergibt sich aus ihrer Machtressource .Fach-
wissen" sowie aus dem daraus abgeleiteten Aufbau von Unsicherheitszonen bzw.
• Barrieren" bei neuen Vorschlägen. M2 hatim Laufe der Zeit gelernt, die besonde-
ren Intentionen der Workshop-Teilnehmer zu durchschauen und kontrastiert die
Sichtweise eines nüchternen, logischen Prozesses ohne Subjekt (also ohne Macht-
beziehungen) im Gegensatz zur Sichtweise, die den Menschen, seine Absichten
und seine Interdependenzen in den Vordergrund stellt. Der von M2 dargestellte
Kontrast ist die anschauliche Darstellung seiner Lernerfahrung im Verlauf seiner
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 159
In einem zweiten Schritt erst kann sich der BVKLer mit der Erarbeitung von Ver-
besserungen in der Gruppe beschäftigen. Den Wechsel zwischen Mitarbeit und
Auftragserfüllung lässt den BVKJ:er zwischen den Rollen Workshop-Mitglied und
160 6 Empirische Ergebnisse
Interessenvertreter hin und her springen. Wo die Grenze seiner Mitarbeit endet,
beschreibt die folgende Passage von M3:
wUnd sie machen auch GANZ gut MIT, aber es gibt auch ganz
KLAR definierte Grenzen. Wo sie dann sagen: JA, HALT, STOPP,
jetzt bin ich INTERESSENvertreter. Und das ist immer DA,
wo man dann sagt: da har. jemand Potenzial ausgebuddelt,
was in Richtung POTENZIAL geht, ne?M (MOD03/27)
Und so lässt sich zusammenfassend feststellen, dass das Ziel für den BVKLer
demnach .Auftragserfüllung" heißt.
82 BESAB/ISO.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 161
,..Und danach ist dann eben gesagt worden (.) oder vor diesem
(0) Workshop ist immer gesagt worden: Ihr müsst euch da
anstrengen, dass wir den Mann halten und ähh (.) und das
und das könnt ihr da mit einbringen und hier und da. Ja,
und dann sitzt du da oben und dann wird gesagt: Ja (.) und
so. Dann mal 10s!U (BESAC/131)
Die Vertrauensleute haben sich in eine Situation begeben, die einem relativ chan-
cenlosen Kampf gleicht. Trotz guter Argumente ist es ihnen kaum möglich, die
Teamreduzierung zu verhindern. Vor allem die Pseudopartizipation, also die
verbale, aber nicht praktische Ausweitung ihres Handlungsspielraums, lässt die
Vertrauensleute fast chancenlos in eine Verhandlung gehen, deren Ziele bereits
bestimmt sind.
Der KVP kann Auswirkungen auf die Stellung der Figurationen Betriebsrat und
Vertrauenskörper in der Organisation haben und sie schwächen, so formuliert es M2:
,..50 hat der Mann auch einen Einblick bekommen, wie das
in einem Workshop läuft, das man nicht alles nur über das
Knie brechen kann, sondern man muss auch Geben und Neh-
men." (GENEB/70)
,..Es ist für mich sehr wichtig, weil das Problem was wir
hatten, ähh beim KVP war am Anfang nur der Vertrauensmann
Der Einblick in den Workshop öffnet den Teilnehmern ein bisher .verschlossenes"
Auge, sodass sie befahigt werden, mit .zweierlei Augen" (BESAC/201) zu sehen.
Das zurückgelassene Team und sein Entsandter für den Workshop kennen keinen
gemeinsamen Erlrenntnisweg (blinder Fleck). Die eigene Erfahrung der Niebtteil-
nehmer hätte gezeigt, dass autonomes Handeln im Workshop niebt möglich ist.
Zwänge, die Menschen aufgrund ihrer wechselseitigen Abhängigkeit aufeinander
ausüben und Formalitäten (standardisierter AblauO, an die sieb die Teilnehmer
halten, begrenzen den eigenen Handlungsspielraum. Auf diesem Auge ist das
restliebe Team (Nichtteilnehmer) blind. BESAC stellt fest, dass man als Teil einer
Gruppe nicht unvernünftig und asozial agieren kann, sondern ..teamfähig sein" muss
(BESAC/188) (Balance der leb-Identität). Im Workshop wird man sehend, da sieb
das zweite Auge öffnet. Die Teilnehmer sehen nicht nur die eigenen Forderungen,
die umgesetzt werden sollen, sondern auch die Situation, die aus interdependenten
(niebt autonomen) Menschen besteht. Jedes Teammitglied wäre in die gleiebe ver-
flochtene Situation geraten und .hätte genau das Gleiebe aufdiktiert bekommen",
wie BESAC in der folgenden Passage ausführlieb beschreibt:
Dass die selber nicht dabei sind, weil jeder andere, der
da oben mit sitzen würde oder gesessen hätte, hätte qenau
das Gleiche aufdiktiert bekommen bzw. hätte gesehen: So und
so viel zeit hat man und (.) ne? Dann wir' es denen auch
,n bissehen näher gebracht worden. M (BESAC/201)
Der Doppelcharakter und die Schnittmengen der Verbesserungen sind nicht nur
motivierend für die Beschäftigten. sich weiter beim KVP zu beteiligen. sondern
auch eine Argnmentationshilfe für die Vertrauensleute:
nWeil wir wirklich das umgesetzt haben, was wir haben woll-
ten und äh, klar haben wir da F-Zeiten eingespart durch
Laufwege, aber dafür ist der ganze Arbeitsablauf weitaus
besser als vorher, ne? Und das ist was Schönes und das kann
man dann auch vermitteln und dann sind die Mitarbeiter
auch zufrieden. M (GBNEE/97)
84 Die Arbeitsplatzsicherheit und der Standorterhalt werden vom Unternehmen oft als
gemeinsames Ziel proklamiert und sollen im Sinne eines Selbstzwangs instrumenta-
lisiert werden.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 165
Die Einteilung in zwei betriebliche Lager ist ein zentrales Motiv der Gruppendis-
kussionen und wird von den Befragten anschaulich erläutert wie die folgenden
Ausführungen zeigen.
,..Genau, es ist das. Die KVP's, die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen DIE auch dafür sorgen, dass das, was wir erarbei-
tet haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da [auf
dem Haßnahmenblatt, H.F.] drauf steht. Das ist nicht der
Fall." (GEBEE/205)
..Verhandeln ist die richtige Strategie, wenn Interessen unterschiedlich oder entge-
gengesetzt sind, wenn die wechselseitige Abhängigkeit so groß ist, dass eine über-
einkunft Vorteile für heide Parteien bietet. In diesem Fall sind sich die Parteien nicht
einig. aber bereit. zu einer Übereinkunft zu gelangen. da es für sie nachteilig wäre.
wenn sie einerseits die Dinge treiben ließen oder andererseits kämpfen würden,-
(Mastenbroek 1992: 234)
Ein Produktionsmitarbeiter briogt die Situation, die sich eher ungeplant in den
KVP-Workshops ergeben hat auf den Punkt, indem er ganz selbstverständlich
feststellt:
Die wechselseitige Funktion beider beruht darauf, dass sie einen Zwang aufeinander
ausüben können, der mit der Machtbalance in der Organisation zusammenhängt.
Die Funktionen, die Unternehmer und Beschäftigte füreinander haben, sind
Machtproben unterworfen, die auf folgenden Fragen beruhen:
",Wer braucht wen mehr? Wessen Funktion für den anderen, wessen Angewiesenheit
auf den anderen ist größer oder kleiner? Wessen Abhängigkeit von dem anderen ist
dementsprechend kleiner oder größer? Wer hat größere Machtchancen und kann
dementsprechend den andern in höherem Maß steuern. die Funktionen des anderen
herabmindern oder ihn gar seiner Funktionen berauben?" (Elias 1970/2004; 82)
85 Auf wen sich die Fürwörter ..wir" und ",sie" (hier auch ..die") konkret beziehen. kann
sich im Laufe der Zeit verändern. Die Trennung in Produktionsmitarbeiter und die
anderen, die hier in Untersuchung von den Befragten vollzogen wird. ist nicht zwangs-
läufig für immer in Stein gemeißelt.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 167
wGenau das ist, was ich mir zum Beispiel unter einem KVP
vorstelle. Die Verbesserung des Arbeitsablaufes für uns, egal
ob es Ergonomie ist, ob's Arbeitssicherheit ist. M (GENEE/33)
wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bisschen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld, ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?M (GENEH/29)
wJa, als Erstes ist es auf alle Fälle Ratio, ganz klar. Das
ist bei mir, ganz, steht als erstes bei. Und das zweite
168 6 Empirische Ergebnisse
Die Befragten sind sich dem präferierten Ziel des Unternehmens hinsichtlich des
KVP bewusst, genauso wissen sie, dass Verbesserungen einen Doppelcharakter
(.auch vernünftige Sachen". BESACI70) aufweisen können. also nicht nur wert-
neutrale, ergonomische, sondern zur gleichen Zeit auch ökonomische Effizienz
zur Folge haben können. Minssen spricht von einem "nicht unliebsamen Ne-
beneffekt" (Minssen 1999: 133). wenn sich im Rahmen partizipativer Verfahren
die Perspektiven von Management und Beschäftigten decken. Die gemeinsamen
Schnittmengen sind der Motivationsschub für die Beschäftigten. sich weiterhin
zu engagieren. Die Beschäftigten arbeiten an der eigenen Leistungsintensivierung
mit (Subjekte der Rationalisierung). Die Ambivalenz des KVP-Konzepts ist ihnen
bewusst. STWEBfbringt es auf den Punkt, wenn sie feststellt:
wWei1, wenn man jetzt Wege einspart, dass, Wege sind Zeit,
auch wenn'g bequemer für uns ist, Wege sind Zeit und dann
kann's passieren, dass ein Mann rauskommt. So, dann über-
legt man sich schon, lauf' ich lieber ein paar Meter mehr
oder sag ich das jetzt?1I (STEWEBf" /494)
GENEE verdeutlicht in der folgenden Passage den Zwiespalt. in dem sich die
PMA im Ralunen des KVP befinden. Früher ging es definitiv um Ratio. An dieser
Orientierung hat sich bis heute eigentlich nichts geändert. Das Konzept des un-
tersuchten Fallbetriebs beschreibt die Maßnahmen als Leistungsaustausch oder
auch .Leistungsvertrag". bei dem keine Arbeitsplätze abgebaut. niemand finanziell
schlechter gestellt und die Standorte modernisiert werden. wenn die Beschäftigten
im Gegenzug die Effizienz ihrer Arbeitsleistung erhöhen und produktiver arbeiten.
Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen wird nicht explizit als Teil des Leis-
tungsaustauschs aufgeführt. Die Leistung der PMA erfolgt .zum ermäßigten Preis
des bloßen Arbeitsplatzerhalts" (Dörre 2002: 3) und ist ein Hinweis auf den vom
Unternehmen als geroeinsames Ziel formulierten Standort- und Arbeitsplatzerhalt.
Mit Anwendung der Kaizen-Methoden - so die Logik des Konzepts - erfolgt die
Verbesserung der Arbeitsbedingungen quasi automatischll7•
86 Das kleingeschriebene ..f" kennzeichnet die weibliche Form und weist daraufhin, dass
es sich um das Zitat einer Gruppendiskussionsteilnehm.erin handelt.
87 Hinweis auf Kaizen ,anders herum<: tendenziell fokussiert der untersuchte KVP
zunächst die Produktivität, um dann automatisch bessere Arbeitsbedingungen zu
erhalten. Das Konzept geht von einer Synergie aus, in der beides zusammenfallt. Die
ursprüngliche Idee des Kaizen ist. wenn die Voraussetzungen für eine höhere Qualität
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 169
Die neuen Ziele, die im Grunde nicht neu sind, werden mithilfe von Kai-
zen-Werkzeugen erreicht, die den Interessengegensatz von Unternehmer und
Beschäftigtem aufheben sollen (vgl. Imai 1994). Diese Sichtweise vernachlässigt die
Machtasymmetrie in Unternehmen bzw. bezieht sie nicht mit ein. Das Gewicht, das
bei der Durchführung des KVP nun auf die allgemeinen Verbesserungen gelegt
wird, soll die ökonomischen Ziele verdecken. Allerdings haben die PMA diese
Vorgehensweise längst durchschaut, denn sie wissen, "die ham sich 'n Ziel gesetzt"
(BESAB71). Das im Fallbetrieb vorgefundene Partizipationsverfahren entspricht
eher einer "verordneten. funktionalisierten. mit vorgegebenen Unternehmens-
zielen konformen Beteiligung" (vgl. Wolf 1999: 152), die GENEE im Folgenden
aoschaulich mit dem »Endeffekt" beschreibt:
".Ich habe die alten Workshops gemacht und ich habe die
neuen Workshops mitgemacht, also die alten, die waren de-
finitiv nur auf Ratio aus. Da wurde schon im von vornherein
bestimmt, was Sache ist. Und jetzt die neuen Mitarbeiter,
da wird auch ein bisschen auf uns eingegangen, dass man
bei uns was verbessern kann. Im Endefiekt geht es eigent-
lich auch nur darauf hinaus, dass wir dadurch Leute oder
F-zeiten einsparen. M (GENEE/19)
BESAC erkennt die Gesetzmäßigkeit, die hinter der Optimierung der Arbeitsabläufe
steckt, nämlich die Einsparung von Arbeitsplätzen (Langsicht):
gegeben sind. dass sich Produktivität quasi automatisch einstellt: .Japanische Manager
haben erkannt. dass Verbesserung um der Verbesserung willen der sicherste Weg zur
Verbesserung der gesamten Wettbewerbsfahigkeit eines Unternehmens ist. Wenn man
auf Qualität bedacht ist. stellen sich die Gewinne von selbst ein." (Imai 1994: 74)
170 6 Empirische Ergebnisse
Der Handlungsspielraum wird von den PMA als begrenzt wahrgenommen. Den
Durchmarsch des Unternehmens können sie nicht stoppen, nur verlangsamen. In
den Ausführungen der PMA gebt es darum, Schadensbegrenzung zu betreiben (vgl.
GENEC22). Das vorab definierte Ziel, das meistens unausgesprochen und latent
bleibt, soll im KVP-Worksbop angesteuert werden. Der Handlungsspielraum der
PMA besteht, darin mit- oder gegen-zusteuern. Das Unternehmen ist in diesem
Vergleich der Kapitän, der das Ziel bestimmt:
Die PMA versuchen nun zumindest ,.mit-zusteuern" oder wie GENEe es ausdrückt:
Obwohl bei den Gruppendiskussionen GENE, STEWE und BESA deutlich wird,
dass der Handlungsspielraum als äußerst klein wahrgenommen wird (.die [das
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 171
Unternehmen, M.F.] wollen den vierten Mann und die kriegen den vierten
Mann auch." BESAC/23), resignieren die Produktionsmitarbeiter nicht, denn sie
wissen, das Machtgleichgewicht im Unternehmen darf nicht gefahrdet werden,
indem sie das Pendel ungehindert Richtung Unternehmen schlagen lassen. In
seiner Funktion als Vertrauensmann formuliert BESAC die Herausforderung
beispielsweise so:
"Aber das ist genauso, das ist genauso wie mit den wahlen,
sag ich mal, wenn man nicht hingeht und nicht wählt, dann
l
Direkte Partizipation ist für die Menschen in einer Organisation neu und
unterscheidet sich grundlegend von der tayloristischen Logik, die Planung und
Ausführung trennt. Neu sind auch die in Bewegung geratenen hierarchisch-bü-
rokratischen Strukturen. Die Beschäftigten werden aufgrund der Teilnahme an
den KVP-Workshops zwar ein Teil dieser neuen Partizipationslogik, beziehen sich
aber dennoch auf die tradierte symbolische Vermittlung eines .oben" und .unten"
sowie aufihre Rolle als Anweisungsempfanger (Einbahnstraße). Das folgende Zitat
eines PMA zeigt beispielhaft die noch immer geltende Oben-unten-Symbolik:
wGenau es ist das. Die KVP's die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen die auch dafür sorgen, dass das, was wir erarbeitet
haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da drauf
steht. Das ist nicht der Fal1. u (GENEE/205)
Es handelt sich bei den KVP-Workshops nicht nur um direkte Partizipation (Mit-
wirken an betrieblichen Entscheidungen), sondern auch um direkte (synchrone)
Kommunikation und damit Konfrontation zwischen planenden und ausführenden
Positionen. Minssen spricht in diesem Zusammenhang von »einem neuen Modus
betrieblicher Kommunikation" (Minssen 1999: 132). GENEE stellt fest, dass man
»lernta, mit Menschen anderer Figurationen zu sprechen, in denen möglicherweise
andere Kommunikations- und Verhaltensstandards gelten:
wOb's Planer sind, ob's IEs oder so, man kommt auch weiter
und das finde ich auch gar nicht so schlecht, weil man lernt
dann auch den Umgang, mit diesen Leuten zu reden. Das ist
schon ganz toll." (GENEE/167)
91 Vgl. auch die Ergebnisse der Studie zur Implementierungvon Teamarbeit im gleichen
Fallbetrieb im Jahr 2001. Mit der Einführung der Teamarbeit in 2001 mussten sich die
Beschäftigten mit neuen sozialen Beziehungen auseinandersetzen. die im Rahmen der
Teamgespräche wichtig wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits festgestellt. dass
.die Akteure nun mit den allgemeinen Werteordnungen der Organisation und der
anderen Akteure konfrontiert [sind]. Das bedeutet. dass das eigene Verhalten bewertet
und gegebenenfalls negativ sanktioniert werden kann. Demnach birgt ein Handeln,
für das man selbst die Verantwortung trägt. ein erhöhtes Risiko."' (Frerichs 2002: 54)
174 6 Empirische Ergebnisse
nicht programmatisch oder hierarchisch abgesichert und nicht in der Lage, sich
auf formelle Regeln zu beziehen (Unsicherheitszone). Zudem konnte sie noch
keine Vertrauensbeziehung aufbauen, die sich im Laufe der Zeit einstellen könnte
(.kalkulierter Kooperationswille", vgl. Kädtler 2004: 67).
Die Teamsprecher sind ein neuer betrieblicher Akteur (neue Hierarchiestufe),
der seine Legitimation zum einen fachlich aus seiner Verantwortung für den Ar-
beitsablauf und zum anderen aus seiner Wahl durch das Team erhält. Die ca. 400
Teamsprecher im Fallbetrieb bilden eine neue innerbetriebliche Interessenvertre-
tung (vgl. BraczykJSchienstock 1996: 321), die genauso wie die Vertrauensleute und
Betriebsräte per Wahl legitimiert sind. Zudem wurden sie in Qualifizierungsmo-
dulen fachlich sehr gut geschult. Diese Konstellation macht die Teamsprecher zu
Konkurrenten der Betriebsräte und Vertrauensleute92 • Im eigenen Team müssen
Interessen abgestimmt werden, um zu gewährleisten. dass der Teamsprecher das
Team adäquat nach außen vertreten kann. Diese Anforderung verlangt eine neue
Kommunikationsleistung des gesamten Teams wie auch der direkten Vorgesetz-
ten wie den Meistern. Innerhalb "diskursiver Koordinierung"93 (Minssen 2006:
129f.) erfolgt die Steuerung durch Abstimmung im Team, die Kommunikations-
beziehungen im Unternehmen aber werden nicht gänzlich diskursiv gestaltet. Die
festgelegten Unternehmensziele entziehen sich dem betrieblichen Diskurs und
werden nur in eine Richtung - top down - an den shop floor kommuniziert (vgl.
ebd.; Braczyk 2001: 49).
wUnd das ist schon eine Sache und da finde ich, so sollten
wir auch als Vertrauensleute, Teamsprecher uns vielleicht
auch mal Gedanken machen, man weiß, man hat irgendwo ei-
nen KVP, so, man bereitet sich vor, man guckt, was kann
passieren, ne? Sind die Leute alle vorbereitet, wissen die
äh, wie sie zu arbeiten haben, was der Arbeitsplan aussagt,
äh, haben wir Arbeiten verschachtelt, die eigentlich nicht
verschachtelt werden dürfen und solche Sachen. Also, da
müssen wir uns auch irgendwo gut aufstellen. M (GENEA/107)
wHaben wir etwas ausgearbeitet, was für uns auch Ergonomie
sehr gut ist, aber da haben sie im Vorhinein gesagt: Den
Mann müssen wir raus haben, egal wie, wir kegeln den raus.
Dann haben wir es auch hin gekriegt, aber wir haben einige
Sachen gemacht, die für uns auch gut sind, aber wodurch
wir auch gesagt haben, wenn [die, H.F.] das soweit haben,
den Umbau, dann können sie den auch kriegen. M (GENEF/32)
Rationalisierung wurde von den Befragten als Ziel der KVP Maßnahme erkannt und
m. E. akzeptiert. Die Vertrauensleute fordern nun eine Gegenleistung und stellen
die Bedingungen für das Spiel mit unterschiedlichem Erfolg auf. Die Beschäftigten
in den Workshops spielen nun das Spiel, entwickeln Strategien (Lerneffekt) und
verhalten sich taktisch. Sie begreifen die Spielregeln und beginnen sie sogar zu
gestalten, indem sie zum Beispiel die Bedingung formulieren: .Dann können sie
den auch kriegen.". Die Teilnehmer nutzen den vorhandenen Spielraum und stellen
im Verlauf des Prozesses eine Bedingung als neue Spielregel auf, die sich ungeplant
herausgebildet hat und die dem öknnomischen Verhalten des Unternehmens
etwas entgegensetzt: eine Mischung aus vorgefundener Formalität in Form von
Maßnahmenblättern und ihrer subjektiven Interpretation und Gestaltung. Aus
ungerichtetem wird gerichtetes Verhalten. Die Zitate von GENEF und GENEA
94 STEWEBf/38.
176 6 Empirische Ergebnisse
stehen exemplarisch für den Lernprozess und die Aufstellung von Bedingungen zur
Messung der Größe des Handlungsspielraums (ausloten, wie weit sie gehen können).
6.1.3.1 Spielregeln
Die Spielregel lautet demnach: Wenn alle Maßnahmen umgesetzt sind, dann kann
der Mann weg. Jedoch lässt sich diese "Bedingung" nicht so einfach erfüllen wie
die mathematische Formel des Unternehmens, die BESAC formuliert hat: ,Mann
raus' gleich ,Auftrag erfüllt' (BESAC/19). Der komplexe Teil, also die Umsetzung
der vielfaltigen Maßnahmen folgt erst noch, sodass sich die Teamreduzierung
möglicherweise zeitlich verzögert. Kurzfristigkeit bei der Zielerreichung (im
Sinne des Unternehmens) steht einer langfristigen Sichtweise entgegen (s. auch
Theorie-Praxis-Dilemma, "quälen sich damit ja auch mit rum"). BESAC akzep-
tiert und reproduziert diese Spielregel und damit die gegebene, formale Struktur
(Maßnahmenkatalog), indern er sich an diese Bedingung hält. Sie ist für ihn eine
akzeptierte Regel und Verhaltensnorm, an die die Akteure der Organisation ihre
Handlungen orientieren sollen:
Das Unternehmen hält sich jedoch nicht immer an die Spielregeln und verändert
sie bei Bedarf oder setzt sie ganz aus. Oft geschieht die Tearnreduzierung, ohne
dass die erforderlichen Maßnahmen, die im Grunde die Voraussetzung wären,
abgearbeitet und damit umgesetzt werden. In anderen Fällen wird das Maßnah-
menblatt nur teilweise abgearbeitet, was eine Verschlechterung der Bedingungen
zur Folge haben kann. Die im Workshop erarbeiteten Maßnahmen bestehen
nämlich meistens aus einem Katalog von Einzelveränderungen dar, die als Ein-
zelmaßnahme keinen Sinn ergeben und nur in der gesamten Abarbeitung ihre
Wirkung entfalten. So verhält es sich auch mit der formulierten Bedingung: Erst
wenn alles abgearbeitet ist, können sie den Mann haben. Dabei handelt es sich
weniger um eine Machtprobe der Arbeitnehmerfiguration (aber auch) als um den
Versuch, die Logik dieses Maßnahmenblatts nicht ad absurdum zu führen, denn
alle Maßnahmen im Bündel würden die Verbesserung der Arbeitsbedingungen
und eine Teamreduzierung zulassen.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 177
...Und all solche Sachen. Uns wird gesagt: Pass auf, beim
nächsten Werkzeug müssen die kleiner werden. Ja (.) wenn
das nächste werkzeug kommt, nächste [produktmodell], sag l
(BESAC/76)
Umgekehrt - und nun zum zweiten Beispiel- nutzen auch die Produktionsmitar-
beiter ihren Einsatz strategisch. Der Spieleinsatz wird auflange Sicht abgewogen.
Zunächst stimmen sie dem Abbau eines Arbeitsplatzes zu und beim folgenden
Durchgang dem Abbau des nächsten Arbeitsplatzes (fortlaufende Arbeitsin-
tensivierung''). So verhält es sich zum Beispiel mit dem folgenden von GENEC
dargestellten "Kompromiss". statt zwei nur ein Teammitglied abzubauen. Die
Verhandlung bezüglich des zweiten Teammitglieds wird vertagt. Dieser zunächst
verschonte Arbeitsplatz wird dann der Einsatz des nächsten Spiels in weiteren
KVP-Verhandlungen. Die exemplarisch durch GENEC und BESAA dargestellte
Langsicht führt zu einer rationalen Verhandiungsführung, die durch die Ein-
teilung der Spieleinsätze chatakterisiert ist:
wOa könnte ein Mann verschwinden. Ich aus meiner Sicht sage
dann, eigentlich könnte schon, aber wenn wir hier schon1n
Workshop haben, es werden noch viele Workshops folgen, ich
sag': Dann lass' uns erst mal, das ist dann, mit Betriebsrat
zusammen 90 einen Kompromiss, wo ich dann sAge: Okay, dann
bauen wir jetzt erst mal den Einen ab, und den Anderen
lassen wir schön weiterarbeiten. Ergebnis haben wir da,
Ratio ist da, was wir gerne haben wollen und ein Ergebnis
haben wir vor allen Dingen, dat was wichtig ist. Und ja,
den nächsten Workshop, das, ich weiß ja jetzt schon, was
da passieren wird, also ganz klarer Fall, aber wie gesagt,
erst mal haben wir das Übel noch mal abgewendet. Beim
Nächsten kämpfen wir weiter.- (GENEC/I02)
Die PMA steIlen fest, dass die Arbeitsplätze auch ohne Spieleinsätze abgebaut
werden würden und so nutzen sie den KVP-Workshop als Ort, um Interessen zu
formulieren. Die Teilnahme an den KVP-Workshops ermöglicht den Beschäftigten
Verhandlungen mit der Gegenseite an einem Tisch und die Formulierung von
Gegenleistungen. Für BESAC kommt es nicht infrage, kampflos aufzugeben. Er
nimmt in seiner Position als Produktionsmitarbeiter und Vertrauensmann das
Mandat an und stellt sich der Herausforderung des Spiels:
"Aber das ist genauso, das ist genauso wie mit den wahlen
sag ich mal, wenn man nicht hingeht und nicht wählt, dann
l
hab l auch gleich gesagt: Wenn hier sich keiner bereit er-
klärt als vertrauensmann - wir haben drei Stück bei uns im
Bereich - wenn sich hier keiner bereit erklärt, dann gehl
ich da hin. Weil, wenn da GAR keiner von uns sitzt und,
und nichts einbringt, dann, dann können wir genauso gut
gleich sagen, hier: Da [tippt auf den Tisch] unterschreibt
eben, der Mann kommt weg und alles andere bleibt so, wie
es ist." (BESAC/155)
Der im Folgenden dargestellte Diskurs zwischen GENEC und GENEB zeigt die
kollektive Orientierung, indem der Vertrauenskörper sich endlos und .immer
wieder" gegen die Interessen des Unternehmens stellen muss, ohne dabei das
ultimative Ziel der ,Machtübernahme' zu erreichen:
GERBe: "Nur wenn, ich sag mal, wenn du jetzt als Vertrau-
ensmann jetzt auch noch resignierst, dann macht keiner
mehr was.- (207)
QBKBB: Hlch werde einen Teufel tun.- (208)
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 179
GBRBe: .Nein, aber es, es, ich, ich weiß von Leuten, die
sagen, genau dieses irgendwann: Es passiert ja sowieso
nichts. Aus. Wenn das auch noch passiert, dann passiert
gar nichts mehr, dann passiert wirklich nur noch das, was
Ratio angeht. Das wird passieren, immer wieder, weil wenn
ich irgendwo einen Mann abbauen kann für das Unternehmen.
Es ist für mich auch nachvollziehbar, durchaus, aber das
wird passieren und alles andere wenn wir da nicht gegen-
halten, dann wird gar nichts mehr passieren. Und darum
muss es immer wieder von uns kommen, weil es kommt von den
anderen nicht, jedenfalls nicht freiwillig." (209)
In den betrieblichen Spielen wird die Waage der gegensätzlichen Interessen (be-
triebswirtschaftliche Interessen vs. Arbeitnehmerinteressen) und Machtverhältnisse
balanciert. Wenn der Vertrauensmann sich nicht mehr für die Abarbeitung der
Probleme einsetzt, kippt die Waage und das Unternehmen kann ungehindert Ra-
tio-Potenziale (Abbau von Arbeitsplätzen) umsetzen. Solange der Vertrauenskörper
also nicht .resigniert" und ein Gegengewicht darstellt kann, die Machtkonstellation
erhalten bleiben. Das Unternehmen wird "freiwillig", so GENEC, keine humanen,
ergonomischen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen umsetzen. So beschreibt
er die Figuration des Vertrauenskörpers als ein Gegengewicht zur Figuration des
Unternehmens, um die organisationale Machtwaage zu erhalten.
Was ist das Gegenteil von Resignation! Die eigene Aktivität und das Nutzen
der zur Verfügung stehenden Spielräume befahigen die Beschäftigten, vollwertige
Spieler des Spiels zu werden und das Umfeld mitzugestalten. GENEA bringt in
der folgenden Passage den Einfluss der individuellen Machtressourcen, die nicht
formell institutionalisiert sind. auf den Punkt:
Für ihn besitzt jeder Akteur den nötigen Spielraum, andere Mitglieder der Orga-
nisation im eigenen Sinne zu "steuern" und zu "beeinflussen". Diese Spielräume
müssen aktiv genutzt werden, um die Verläufe selbst zu gestalten. Der Appell von
GENEA lautet, Beschäftigte sollten Eigeninitiative zeigen und Spielräume nicht
ungenutzt lassen.
180 6 Empirische Ergebnisse
6.1.3.3 Strategien
Die Strategie des KVP-Moderators als Teil der Unternehmensfiguration, also u. a.
der Einsatz von Rhetorik, die verschleiern kann, ist von erfahrenen Workshop-Teil-
nehmern bereits durchschaut worden. Schwierig wird es, wenn .normale" Mitar-
beiter oder neue Vertrauensleute am Workshop teilnehmen. Sie kennen Strategie
und Gegenstrategie nicht:
Die Spielregeln des KVP Konzepts (z. B. startet der erste Workshop-Tag mit der
Ist-Stand-Analyse) werden von den Unternehmensvertretern nicht eingehalten,
da sie nicht unvoreingenommen in den Workshop gehen. Sie haben bereits etwas
.im Vorfeld geplant" (GENEE!33) und missachten damit die Spielregeln. Diese
unterschiedlichen Vor-aussetzungen gleichen die Teilnehmer wieder aus, indem
sie lernen und sich dem Spiel anpassen. GENEE macht die Anpassung deutlich:
".Das sind zum Beispiel Sachen, die hatte ich früher bei
meinem ersten workshop, da bin ich einfach so reingegangen.
Ich war gerade Vertrauensmann, so in den Workshop rein und
dann, wenn du nicht vorbereitet bist, ist das überhaupt
nicht so gut. Mittlerweile, ich bin jetzt über [Zahl] Jahre
Vertrauensmann und ich weiß, wie man redet und was man
machen kann und so. Und ich bereite mich gewaltig darauf
vor. Ich schreibe mir alles auf, was man machen kann und
dann geht man da hin. (GENEE/IOB)
N
"Ob's Planer sind, ob's lEs oder so, man kommt auch weiter
und das finde ich auch gar nicht so schlecht, weil man lernt
dann auch den Umgang mit diesen Leuten zu reden, das ist
schon ganz toll. M (GENBB/167)
Ein anderer Befragter der gleichen Gruppendiskussion spricht von der Verunsi-
cherung, die aufgrund der Durchmischung der Funktionen in der besonderen
Workshop-Situation sowie von beruflichen und privaten Kontakten ausgelöst
wird. Die Teilnehmer befinden sich in einer neuen Situation, die keine bekannten
Verhaltensstandards bietet. Das informelle Du trägt dazu be~ dass die Teilnehmer
während des Workshops, aber auch im Anschluss verunsichert sind:
".Also, das kann ich nicht bestätigen. Ich sag' mal, da,
also die Kontakte, die man da auch aufgebaut hat, äh, die
funktionieren nach dem KVP auch noch. Liegt vielleicht auch
daran, dass ich nicht nur in einem gesessen habe, ich war
ja in ein paar mehr. Kann sein, dass das der Grund ist,
ne?" (GENEA/164)
".Also ICH würde (0) als KERN seh ich IMMER das (.) das ICH
hab immer so n Bild vor Augen, dass man eigentlich sagt:
WIR haben die EXPERTEN im UNTERNEHMEN für DIE ist es ei-
gentlich 'n LEICHTES zu sagen: WIR strukturieren HIER und
DA 'n bisschen um, WIR bauen SUPER produkte, WIR haben
'n gutes STANDING in der Welt, WIR sind GLOBALPLAYERo Wir
haben auch sicher, mit Sicherheit DIE FACHleute, die auch
sagen können: Und DA können wir noch was tun, DA können wir
was tun. DIE könnten sich an den grünen Tisch setzen und
sagen (0) WIR strukturieren jetzt die Fabrik UM, WIR können
mit DEUTLICH WENIGER Leuten oder mit schlankeren Prozessen
DIES oder JENES machen. GENAU DAS macht [Fallbetrieb] NICBT
und das ist der Charme (0) des [Organisationsentwicklungs-
prozesses] . Ich DENKE mal aufgrund der stark, natürlich
sicherlich auch geschuldet der STARKEN MITbestimmung, die
wir hier haben ähm (.) gehen wir den Weg, dass wir sagen
(0) WIR machen das MIT den Menschen von INNEN nach AUSSEN. M
(MOD3/101)
Es entsteht hier eine Doppelwirklichkeit: Das Unternehmen lässt sich offiziell auf
die Verhandlungssituation ein, verpflichtet sich auf Methoden und Verhaltens-
standards, die es selbst mit dem Top-down-Prinzip eingeführt hat, hält sich am
Ende dann aber selbst nicht mehr an die neuen Spielregeln. sondern geht zurück
zum Befehlsprinzip. Mit anderen Worten: Auf der Bühne gilt Verhandlung, hinter
den Kulissen gilt Befehl.
".Genau es ist das. Die KVPs, die kommen ja nicht von uns,
die kommen ja von da oben und wir arbeiten da mit und dann
müssen die auch dafür sorgen, dass das was wir erarbeitet
haben, auch so schnell umgesetzt wird, wie es da [Auf dem
Maßnahmenblatt, M.F.] drauf steht. Das ist nicht der Fall. M
(GENEE/20S)
zum Teil unbemerkt - wieder eingeschränkt oder zugespitzt gefragt: Waren diese
nenen Handlungsspielräume je real?
wWeil, es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall, da brauchen wir uns nichts vormachen, das ist
eben so." (GENEC/184)
Obwohl beiden Seiten klar ist, dass es sich um gegensätzliche Positionen und Inter-
essen im Workshop handelt, wird die Illusion der harmonischen Zusammenarbeit
mithilfe .neutraler" KVP-Methoden zunächst aufrechterhalten. In dem Moment,
in dem einer der beiden Seiten das Ziel nicht in Zusammenarbeit, sondern nur
mit Konfrontation erreichen kann, wird die Situation aufgelöst. Die Spielregeln
werden von der Arbeitgeberseite außer Kraft gesetzt, um ungehindert eigene Ideen
umzusetzen. Dass die Arbeitgeberseite am Ende der Verhandlungen in einigen
Fällen doch - gegen alle Argumente - ihre Forderung durchsetzt oder ihre Seite
des Kompromisses nicht einlöst, da nicht alle Maßnahmen abgearbeitet werden,
aber die Teamreduzierung bereits stattgefunden hat, deutet unweigerlich darauf
hin, dass die Machtasymmetrie deutlich zugunsten der Arbeitgeber ausfallt. Von
einer ausgewogenen Beziehung oder auch einer gerechten Teilhabe zwischen beiden
Gruppen kann daher keine Rede sein.
Trotz allem erscheint die KVP-Situation als eine Annäherung, die nicht nur
körperlich, sondern auch geistig stattfinden kann. Die "rivalisierende Zusammen-
arbeit" beeinflusst die Teilnehmer aller beteiligten Figurationen. Die Kontraste
haben sich verringert und im KVP-Workshop sind bereits größere Spielarten
im Verhalten beider Figurationen festzustellen, die sich in neuen informelleren
Umgangsregeln äußern. Abram de Swaan weist daraufhin, dass die Verschiebung
von der Befehls- zur Verhandlungsökonomie nicht zwingend bedeutet, .daß damit
auch im allgemeinen die Gleichheit unter den Menschen zugenommen hätte" und
stellt weiter fest, dass .dort, wo sich eine derartige ,Verhaltensökonomie' heraus-
bildet, [... ] zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern innerhalb einer Organisation
186 6 Empirische Ergebnisse
Rückzug aus der Workshopsituation. Diese Erkenntnis wird mit dem folgenden
Zitat von GENEE illustriert:
,..Das sind zum Beispiel Sachen, die hatte ich früher bei
meinem ersten Workshop, da bin ich einfach so reingegangen.
Ich war gerade Vertrauensmann, so in den Workshop rein und
dann, wenn du nicht vorbereitet bist, ist das überhaupt
nicht so gut. Mittlerweile, ich bin jetzt über [Zahl] Jahre
Vertrauensmann und ich weiß, wie man redet und was man
machen kann und so. Und ich bereite mich gewaltig darauf
vor. Ich schreibe mir alles auf, was man machen kann und
dann geht man da hin. M (GENEE/l08)
,..Und wenn die dann erst merken: halt, wenn wir jetzt über-
treiben, dann macht er das und das. Also, dann wirkt das
doch schon ein bisschen. Es wird teilweise, meinen sie,
dass die einen überfahren können und wenn sie damit merken
bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter, dann sollte
es auch [Rest unverständlich, M.F.]." (GENEB/136)
sich aber im Anschluss an den Workshop direkt wieder schließen. Die Teilnehmer
müssen sich im Workshop beeilen (.Kannst zusehen, dass du ,n paar Sachen da
ausarbeitest.", BESAC/70), ihre Argumente darzustellen und Verbesserungen
direkt umzusetzen. Danach haben sie keinen (formalisierten) Einfluss mehr auf
die Verbesserungen und die Teilnehmer verschwinden wieder in der Masse der
Belegschaft; sie werden als Individuen unsichtbar. GENEB beschreibt diese Situ-
ation mit einem .Verlustgefühl":
Die Situation, die GENEB im Workshop erlebt hat, wird sich nicht wiederholen.
Die Niederlage in der Verhandlung ist endgültig. Was jetzt nicht geschafft wurde,
kann auch später nicht mehr erreicht werden. Der Fall ist abgeschlossen und wird
»abgehakt" (BESAC/76). Der Workshop eröffnet keine langfristige Partizipati-
onschance für die Teilnehmer oder einen dauerhaften Teilhabeprozess und auf
diese Weise verlieren (Verlustgefühl) sie an Einfluss. BESAC betont in diesem
Zusammenhang den Zeitaspekt, also das Sich-beeilen-müssen (.zusehen") im
Workshop, bevor sich das Fenster wieder schließt:
Mit der Reorganisation der Reorganisation nach dem Workshop, die ohne die
Beschäftigten und »ohne Absprache" (GENED/45) erfolgt, hat sich ihr Einfluss
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 189
regelrecht aufgelöst. GENEA macht darauf aufmerksam, dass .nach wie vor die
Truppe [fehltl, die nachbereitet" (GENEA/44) und GENEF fordert eine .Kont-
rolle" (GENEF/35) der Abarbeitung, die sicherstellt, dass die Maßnahmenblätter
abgearbeitet werden. Die Abarbeitung benötigt eine Fremdkontrolle und lässt
darauf schließen, dass sich in diesem Zusammenhang bisher keine Selbstkont-
rollen entwickelt haben. In der Forderung nach einer äußerlichen Kontrolle der
Abarbeitung zeigt sich der noch immer gültige traditionell fordistische Habitus.
Die abarbeitenden Funktionen (Sachbearbeiter und Fachreferenten) zeigen kei-
nen Tendenz zur Selbstverantwortlichkeit im Hinblick auf die Bearbeitung der
KVP-Maßnahmen (siehe auch Abschnitt 6.4.1).
Die Rückkehr an den Linienarbeitsplatz beschreibt GENEA als einen .Kultur-
schock" (GENEA/237). Der Ausflug in die entgrenzte Welt eines KVP-Workshops
zeigt die Unterschiede zwischen beiden Arbeitskulturen. Im Workshop ist die
Hierarchie auf den ersten Blick kurzfristig ausgesetzt und alle Teilnehmer gelten
dem Anschein nach als gleichberechtigte Partner.
97 Vgl. auch Giddens' Konzept der ..Dualität von Struktur" (Giddens 1997: 34), in der
(neben Wandel) Trägheit und Stabilität das Ergebnis unaufhörlicher Bewegung sein
können.
190 6 Empirische Ergebnisse
Verbesserungsvorschlige Verbesserungsvorschläge
der PMA: des UNo wirtschaftliche
Arbeitserleichterung Effizienzsteigerung (Ratio)
Stabile
BALANCE
"weil wenn man jetzt wege einspart, das, wege sind zeit,
auch wenn's bequemer für uns ist, Wege sind Zeit und dann
kannls passieren, dass ein Mann rauskommt. So, dann über-
legt man sich schon: lauf ich lieber ein paar Meter mehr
oder sag ich das jetzt M (STEWEBf/494)
wUnd dann halt hier äh mit den zeiten einsparen diese weg-
verkürzungen, darum geht's ja auch meistens und Rationali-
sierung. Das ist uns bekannt, das sind dann immer so die
Befürchtungen, die man damit verbindet und hat. w (STEWEC/754)
"Ist ja noch nicht passiert, aber davon hat keiner was und
dann die Sachen, wo wir wirklich mehr Arbeit durch haben.
Wo die uns wirklich erleichtern könnten, das ist zu teu-
er, das umzusetzen, jedenfalls bei uns [M: Zustimmung]."
(STEIiEBf/339)
192 6 Empirische Ergebnisse
wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bissehen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?U (GENEH/29)
HUnd wenn ich auf einen workshop gehe, es ist ein Geben und
Nehmen. Ich bin ja bereit, dass man Kompromisse eingehen
muss, das ist ja auch schon gesagt worden, aber man möchte
dann auch gerne was einfordern. H (GENEB/206)
99 BESAB/63.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 193
Die .veränderte Stoßrichtung von Partizipation" (Minssen 1999: 132) meint die
.verbesserte Nutzung des Erfahrungswissens der Beschäftigten zu Produktivitäts-
zwecken" (ebd.: 132f.) und ist eine Abkehr von den Zielen des HdA-Programms,
Gleichberechtigung der machtvollen Figurationen auf betrieblicher Ebene. Der
KVP-Workshop erweist sich zunächst als eine Situation, in der hierarchische
Begrenzungen aufweichen (operationale Dezentralisierung) und das Prinzip der
Anweisung dem Prinzip der Verhandlung zwischen gleichberechtigten Partnern
weicht. Aus dem Verhandlungsprinzip kann tendenziell wieder ein Befehlsprinzip
werden. Auch die Überlappungvon Interessen kann zunächst täuschen, denn trotz
Schnittmengen ("Es kommen ja auch ,n paar vernünftige Sachen da zustande."
BESAC70) sind die Interessen im Grunde gegenläufig.
Beim KVP haben die Beschäftigten vor allem Einfluss auf die Arbeitsgestaltung
und weniger auf die Arbeitsausführung. Das führt zur Frage: Wer in der Organi-
sation entscheidet, was im Modus der flexiblen Standardisierung am Ende zum
neuen Standard erhoben wird? Der Handlungsspielraum der Beschäfligten wird
unterschieden zwischen dem Tätigkeitsspielraum sowie dem Entscheidungs- und
Kontrollspielraum. Job rotation (Aufgabenwechsel) und job enIargernent (Aufga-
benvergrößerung) können der Erweiterung des Tätigkeitsspielraums zugeschrieben
werden, wohingegen die qnalitative Anreicherung der Arbeit (job enrichrnent),
also Entscheidungsbefugnisse, die bisher auf hierarchisch höheren Ebenen lagen,
eine Vergrößerung des Entscheidungs- und Kontrollspielraums bedeutet (vgl.
Minssen 2006: 120).
Partizipation wird nach dem Top-down-Prinzip eingeführt, ohne die Beschäf-
tigten überhaupt einzubeziehen, eingeführt und so zur .gemanagten Partizipa-
tion" (Greifenstein et al. 1993: 31Sf.). Stefan Kühl (2002: 70tf.) hat die sich daraus
entwickelnden Paradoxien in drei Gruppen eingeteilt:
wUnd von daher hat sich eben das bewahrheitet, die wollen
Leute raus haben, erst mal, und dann irgendwann mal ein
bissehen auf Qualität, wo Verbesserungen dran sind. Kostet
es Geld, ist es noch schlimmer, das wird dann überhaupt
nicht mehr gemacht, ne?U (GENEH/29)
Die Frage nach der »Ernsthaftigkeit" beschreibt die Größe des Handlungsspiel-
raums, die das Unternehmen den PMA zugesteht. Die geltende Präferenzordnung
der Verbesserungen ist ein Hinweis auf die angesprochene Ernsthaftigkeit. Ver-
besserungen, die in erster Linie mit Kosten verbunden sind und keine direkte,
messbare Verbesserung der Fertigungszeit darstellen, sind argumentativ nicht
durchzusetzen, da sie den kurzfristigen ökonomischen Erfolg nicht ausweisen
können. Qualität, gesündere Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit sind Werte,
die sich nur anhand indirekter Parameter messen lassen: Qualität als Kosten der
Nacharbeit, bessere Arbeitsbedingungen als Veränderungen im Krankheitsstand
und Arbeitssicherheit als geroeldete Fälle von Unf_lIen und daran anschließende
Krankschreibungen. Solange diese Unterscheidung von Verbesserungen im Rah-
men partizipativer Sozialtechniken gilt, kann nicht von einem Machtgleichgewicht
oder einer demokratischen und gerechten Teilhabe der Beschäftigten gesprochen
werden. Der partizipationsorientierte Veränderungsprozess. der nach dem Top-
down-Prinzip angestnßen wurde und nach dem Bottnm-up-Prinzip realisiert
werden soll, verdrängt die mitwirkenden Beschäftigten jedoch aus dem Prozess. Sie
werden nicht zu Akteuren mit erweiterter Entscheidungs- und Definitionsmacht,
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 195
100 Kognitive Dissonanz (Festinger 1957, Sennett 1992) beschreibt die widersprüchliche
Beziehung zwischen kognitiven Elementen (Meinungen, Einstellungen, Werte etc.):
..Eine Dissonanz wird als unangenehme psychische Spannung empfunden und moti-
viert die Person, ihre Kognition so umzustrukturieren, dass die Dissonanz reduziert
wird, oder solche Situationen zu vermeiden, die aller Wahrscheinlichkeit nach die
196 6 Empirische Ergebnisse
macht, obwohl sie abhängig Beschäftigte eines Unternehmens sind. Es besteht die
Gefahr der Inauthentizität auf individueller Ebene, einer Entfremdung des eigenen
Wollens (vgl. Sengbaas-Knobloch 2008: 114): nicht ernst gemeinte Partizipation
auf organisatorischer Ebene und unechte Partizipation auf Individualebene
(Unternehmensinteressen werden eigene Interessen und eigene Interessen werden
verdeckt). Auch Minssen stellt fest, dass
Die Teilhabe ist so groß, wie die tatsächliche .Ernsthaftigkeit" des gesamten Un-
terfangens und wo die neuen Handlungs- und Entscheidungsspielräume anfangen
und enden, zeigt der folgende Abschnitt.
Dissonanz erhöhen" (Schäfers 1986: 53). In diesem Fall akzeptieren die Beschäftigten
die Betriebsziele und machen sie zu ihren eigenen (Erzwungene Einwilligung: die
Person hat die Illusion, dieses Verhalten freiwillig auszuführen). Das Störgefühl, als
abhängig Beschäftigter wie ein Unternehmer zu handeln, bleibt in gewissem Maße
allerdings erhalten.
101 STEWEC/735.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 197
übliches Problem schließen. Die PMA kommen häufig nicht weiter am Übergang
zur Entscheidung. STEWEBf macht deutlich, dass sich der Handlungsspielraum der
PMA (ohne KVP Partizipation) einzig und allein auf den.Vorschlag" beschränkt:
Formal haben sie nicht die Position, Entscheidungen zu treffen, denn sie besitzen
nicht den Zugang zu den .koordinierenden Kommandopositionen" auf betrieb·
Iicher Ebene (Organisation als Funktionssystem und Verflechtungssphäre) (vgi.
Elias 1970/2004: 156).
Selbstorganisation in Form flexibler Anpassungen und Veränderungen ist
demnach im Fallbetrieb nicht gemeint. Die Verantwortung .für die kontinu-
ierliche Verbesserung ihrer Arbeitsprozesse auf Basis von Standards"l02 ist mit
einem bürokratischen Prozess verbunden. Sie werden nicht in die Selbstorgani-
sation entlassen, die zu viel Kontingenz bedeuten würde und die Berechtigung
fur Vorgesetztenpositionen infrage stellen könnte, die dann wiederum einem
Legitimationsproblem ausgesetzt sind. Der Standard kann verändert werden,
muss aber in einen neuen und für alle verbindlichen Standard münden (flexible
Standardisierung). Situative und selbstorganisierte Anpassung und Veränderung
an sich wandelnde Bedingungen ist damit also nicht gemeint und so bleibt der
Arbeitsprozess fremdbestimmt. Stefan Kühl (2002) beschreibt diesen Zustand als
das .Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbebalt-Paradox", das von den Beschäf-
tigten bewältigt werden muss. Selbstorganisation trifft aufFremdorganisation und
verbindet sich zu einem Mb:. Es entspricht der von Pongratz und Voß beschrie-
benen .fremdorganisierten Selbstorganisation" (Pongratz/Voß 2000: 227), die die
Paradoxie von Altem und Neuem beschreibt. Der Begriff flexible Standardisierung
trifft die Verbindung sebr gut und ist ein Versuch das Gegensatzpaar .Prozess und
Statik" zu verbinden. STEWEC macht es in einer längeren Ausführung deutlich:
Er weist nicht nur daraufhin, dass der Übergang zur Entscheidung die Grenzlinie
seines Handlungsspielraums darstellt, sondern macht auch deutlich, dass zwei
Sinnsysteme aufeinanderprallen. Obwohl die PMA ihre Idee für richtig halten und
sie in ihrer betrieblichen Lebenswelt auch sinnhaft ist. können sie die Veränderun-
gen nicht autonom entscheiden und umsetzen. Sie sind auf andere Akteure in der
Fabrik angewiesen, die unter Umständen nach einer anderen Logik entscheiden.
Beschrieben wird eine Unternehmenskultur, die den Entscheidern in der Organi-
sation auch die Definitionsmacht einräumt. Die Organisation ist charakterisiert
durch eine differenzierte Funktionsteilung und eine lange Kette von Spezialisten
(Menschen mit Sonderaufgaben), die miteinander verwoben sind (vgl. der Begriff
•Wissensasymmetrie", Willems 2012: 397). Eine autonome Entscheidung der PMA
in diesem dichten Gewebe von Funktionen und Abhängigkeiten ist kaum möglich.
Der KVP-Workshop ermöglicht zwar die räumlich-körperliche Annäherung der
verschiedenen Figurationen, (vielleicht auch sozial) aber nicht die gedankliche
Annäherung der gegensätzlichen Interessen oder sogar die Verschmelzung ihrer
Wertesysteme. Im Folgenden werden beide Kulturen der Organisation beschrieben.
103 STEWEC/705.
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 199
die allerdings nicht immer leicht zu lösen ist (.beipulen"). BESAC legt Wert auf
eine "vernünftige" Erklärung und verweist auf eine sachliche und argumentative
Begründung, die sich von Irrationalität und Unvernunft abgrenzt. Sein Spielraum
ergibt sich durch sein Erfahrungswissen:
"Dass man dann sagen kann: So, statt drei Mann kommen da
jetzt nur zwei Mann raus, weil, das geht nicht anders [... ]
Wenn man dann wirklich selber davon überzeugt ist, dass
das mit zwei Mann grad noch zu schaRen ist, aber nicht mit
drei Mann. Dass man eben drum kämpfen kann, einen Mann da
drin zu halten. u (BESAA332/334)
"Weil auf'm Papier sind Zahlen geduldig, sach ich mal und
(.) die Arbeit sieht teilweise auch ,n bisschen anders aus.
Wenn dann da steht 0,5 Minuten oder Sekunden für die und
die Tätigkeit, laut MTM. Dann is' das nicht unbedingt auch
immer dann wirklich so realitätsnah. u (BESAA/336)
BESAC unterscheidet zwischen Menschen .direkt vom Band" und .die hier oben".
Die Entscheidung für oder gegen eine Vetänderung kann nur ein Mensch vom Band
(Produktionsmitarbeiter) treffen, da er mit den Konsequenzen direkt umgehen
muss. Demgemäß verweist STEWEC auf die notwendige Langsicht der PMA bei
dem KVP im Hinblick auf die zukünftige Arbeitssituation:
"Wie GENEC das ganz klar gesagt hat, wir sägen nicht an
unserem eigenen Ast. wir nennen denen ja keine Ratio-Po-
tenziale. Montag muss ich da wieder in die Gruppe und hab'
dann ein, zwei Mann weniger, muss dann zusehen, wie ich
die Arbeit Bcha~e und das ist natürlich ein Knieschuss. M
(GENEA/65)
Die "anderen", also Menschen anderer Figurationen, entscheiden nach der eige-
nen einfachen "Formel" (Richtlinien, Zeit- und Stückzahlvorgaben). Für sie ist es
übersichtlicher, da die Konsequenz keine Veränderung des eigenen Arbeitshan-
delns zur Folge hat; wohl aber eine positive Konsequenz in den Berechnungen
der Wirtschaftlichkeit (Kurzfrist). Die Abgesandten der Figuration werden nach
ihrer Wirtschaftlichkeit bewertet bzw. die Wirtschaftlichkeit drückt den dort
entscheidenden Wert in zweifacher Hinsicht als mathematisch und im Sinne
von Wertvorstellungen aus. Humane Arbeitsbedingungen gehören nicht zu den
(vorrangigen) Zielen.
In einer UntemehmensknItur, in der Zahlen die oberste Präferenz bilden,
wird Messbarem der bestimmende Wert zugesprochen und in Aushandlungen
zu einem .politischen Datum" (Weltz 2011: 70). Was messbar und schwarz auf
weiß sichtbar ist, ist wahr. In einem betriebswirtschaftlichen Kontext, wie es die
Unternehmung darstellt, hat Messbares einen Wert, der verhandelbar ist. Sobald
Arbeit messbar ist, gehört sie nicht mehr den Beschäftigten. Sie ist äußerlich und
kann ohne subjektives (individuelles) Zutun verändert werden. Die folgende Passage
eines Mitarbeiters aus dem indirekten Bereich belegt die kollektive Orientierung
der Unterscheidung zwischen den Bereichen:
.Also der direkte Bereich, ähh gut die arbeiten nach MTM,
dat is so, wenn wir da irgendetwas umstellen, wenn wir ir-
gendwelche Arbeitsweisen ändern, was auch immer, da sparen
wir F-Zeit ein, das können wir ausweisen, das sieht man,
schwarz auf weiß. So. Sogar vielleicht irgendwo haben die
irgendwelche Stückzahlen, wo wir, mit, ich sag mal, wo wir
eine gewisse Stückzahl mit einem Mitarbeiter weniger fahren
können, so das ist eigentlich das, was man, ja das kann
man auch greifen. So und im indirekten Bereich ist es so,
jeder Sachbearbeiter oder jeder Job, ich sag mal, ist ja
individuell, SO.M (GEMAC/27)
In der Gruppendiskussion GEMA mit Teilnehmern aus der Verwaltung sind sich die
Teilnehmer einig. dass sich die PMA über die sichtbaren Prozesse steuern lassen und
6.1 Machtverhältnisse im Betrieb 201
"Das sehe ich genauso. Also, wenn ich jetzt bei meinen Sta-
tistiken bin, kann man schlecht ermessen wie lang braucht
man jetzt für eine Auswertung oder ähh, auf ähh. Wenn meine
Arbeitskollegen, wenn die jetzt ein Personalgespräch füh-
ren, dann kann das von fünf Minuten bis anderthalb Stunden
dauern oder so, das ist nicht so stark messbar, wie so was
dann." (GEMAB/30)
.. Die Machbarkeit der Scheinwelt versperrt nicht nur den Blick auf die .reale' Welt.
sondern führt auch zu einer Fehleinschätzung des tatsächlich Machbaren [.. ,] Die
Opfer, die Machtlosen sind letztlich die einzigen, die noch den Durchblick, den Blick
durch die offizielle Scheinwirklichkeit auf die reale Welt haben,- (Weltz 2011: 78)
6.1.6 Zwischenfazit
Aufgabe zu! Oder haben sie sich proaktiv für die Tätigkeit beworben! Gab es interne
Stellenausschreibungen! Auch im Hinblick darauf, dass diese Aufgabe ohne die
groß angelegte Reorganisationsmaßnahme im Fallbetrieb nicht existieren würde
und ihre Biografie keinen Hinweis darauf gab, dass sie prädestiniert für diese
Aufgabe waren, war die Gruppe innerbetrieblicher KVP-Moderatoren und ihre
Bewältigungsstrategien der neuen Herausforderungvon besonderem Interesse. Die
Analyse liefert wichtige Antworten und Anhaltspunkte für das Erkenntnisinteresse
gewandelter Fremd- und Selbstzwänge.
(Langsicht) bilden sich Unsicherheitszonen für beide Seiten. Das KVP-Büro weiß
nicht, ob es wirklich in einen fahigen Mitarbeiter investiert, der Moderator hingegen
weiß nicht, ob sein Engagement auch sicher in eine dauerhafte Beschäftigung im
KVP-Büro mündet. Die Situation ist charakterisiert durch die abhängige Variable
Zeit in Form eioer Zukunftsoption. Die Handlungen (Engagement bei MI und
gewährte Spielräume durch das Unternehmen) beider Seiten beziehen sich auf eioe
Langfristperspektive als Kontextbedingung:
".Ich hab' das Gefühl jaa, (.) weil ich mich (.) meiner An-
sicht nach auch, bisschen mehr engagiert hab', als vielleicht
andere Moderatoren aufgrund der Tatsache, dass viele von
den Moderatoren, die nur zeitlich hier sind, auch wirklich
nur ihren MOderatorjOb machen wollen und nichts drum her-
UM. Bei mir sieht das ein bisschen anders (.) ähm ich hab'
eigentlich schon das Ziel, hier weiterzuarbeiten und von
daher ähm (.) hat man mir 'n bissehen mehr (.) zugetraut,
vielleicht Kompetenzen eingeräumt und so weiter. Ich denke
schon." (MOD01/97)
,..Und so und das find' ich so'n bisschen (.) mmh bei mir war
es ja nun 'n Sonderfall. viele Moderatoren, die kommen,
die sind ja zeitlich begrenzt hier, die wissen genau, wann
sie wieder gehen. Bei mir ist es ja nicht der Fall, von
daher stehe ich immer so'n bisschen zwischen den Stühlen. u
(MOD01/61)
Für MI wurde die Struktur geöffnet (Entgrenzung), aber aufgrund der Situation
eines »Sonderfalls" nicht wieder verschlossen, da er zeitlich zunächst unbegrenzt
in der Moderatorenposition arbeiten möchte.
105 Ein Begriff aus der Psychologie, der die Bindung eines Menschen an paradoxe kom-
munikative Botschaften und Signale und deren Auswirkungen beschreibt.
6.2 Die KVP-Moderatoren 209
Position handelt. Auf die Frage, wo im Organigramm er sich als Moderator posi-
tionieren würde, antwortet Mi:
... Ähm (.) ich würde sagen, ziemlich weit unten (lacht). Der
KVP-Moderator ist, glaub' ich, nicht besonders angesehen
und der Job ist, glaub' ich, auch nicht besonders beliebt.
Das sagen aber viele, die äh (.) vom KVP sowieso nichts
halten und das sind auch etliche, die wirklich was zu sa-
gen hier im Unternehmen, die wirklich was zu sagen haben
im Unternehmen, die von KVP nichts halten, weiß ich nicht
(2) Also, ich glaub', das ist nicht so besonders angesehen
und auch nicht besonders beliebt. M (MOD1/49)
Die Frage stellt sich also. wieso MI an einer unbefristeten Tätigkeit im KVP-Büro
interessiert ist. Aufgrund seiner Beschreibung wird die Einteilung in zwei Gruppen
deutlich: Organisationsmitglieder. die für (Etablierte) oder gegen (Außenseiter)
KVP sind. MI ist der Ansicht. dass er durch den praktischen Wissensvorsprung
(Erfahrungswissen) zur Etablierten-Gruppe des Unternehmens gehören wird.
also zu denen, die praktisches Insiderwissen zu den KVP Vorgängen besitzen.
Die Außenseiter charakterisiert MI hingegen als Nichtwissende (im besten Fall
Theorie-Kenntnisse) bezüglich des KVP:
MI lernt folglich nicht nur viele Bereiche kennen (Vergrößerung der Spielräume.
Verdichung des Gewebes). Sein (Erfahrungs-)Wissensvorsprung grenzt ihn von
anderen Beschäftigten der Organisation ab, die von der Thematik nur gehört
oder gelesen haben. aber .in Wirklichkeit [...] nicht richtig Bescheid [wissen]"
(MODI/75). Diese Außenseiter sind die Passiven. außerhalb des Prozesses. Eta-
blierte hingegen die Aktiven im Prozess. Mi investiert bereits in die Zukunft, da
er hofft. zur Etablierten-Gruppe zu gehören. Diese Aussicht motiviert ihn den im
Fallbetrieb zurzeit unbeliebten Job durchzuführen und vernachlässigt dabei sogar
die negative Haltung des Managements gegenüber dem KVP. da er auf die Wich-
210 6 Empirische Ergebnisse
w1n der Regel kann man ja davon ausgehen, dass die, die
Unternehmensvertreter oder sagen wir mal Leute, wie Planer
oder IE doch I nen andern Wissenshintergrund haben, was die
ganze Problematik angeht, als, als äh (.) der Mitarbeiter,
der an der Linie steht, der kennt nur meist seinen Bereich
und auch nicht viel darüber hinaus. Es gibt natürlich auch
ganz andere Fälle, aber in der Regel ist es so, da muss man
dann doch schon, manchmal ein bissehen weiter ausholen, um
die dann auch (2) ja, auf den weg da mitzunehmen." (MODOl/89)
Wissen anwendet und im Workshop fokussiert, lässt sich auch von einer Bewälti-
gungsstrategie dieser für ihn ungewohnten Moderatorenrolle sprechen:
wUnd wollte auch die Dinge, die ich im Vorfeld gelernt habe,
die die meine Ausbildung ausmachen und so weiter, die wollte
ich auch mit unterbringen, zum Beispiel konstruktive Dinge
mit ändern." (MOD02/8S)
106 Die Abgrenzung zu den anderen Moderatoren ist ausgeprägter als bei den anderen.
6.2 Die KVP-Moderatoren 213
Es besser als die anderen zu machen ist die Devise von M2 und die Strukturen
kreativ und individuell zu nutzen. Er erarbeitet sich Freiräume, ist nicht angewiesen
auf das Intranet, lässt die Workshop-Gruppe in Untergruppen selbstorganisiert
arbeiten und bewältigt damit die eher starre Struktur der KVP-Organisation.
• Problemthemen" (MOD02/41) verwandelt er in .unterstützende Themen" (ebd.):
wUnd ich hatte mir also im Vorfeld, als ich noch als Co-Mo-
derator zu tun hatte, hatte ich mir sO'n Grundkonzept zu-
rechtgestellt und äh und eine Dateienstruktur auf meinem
Rechner zusammengestellt, so dass ich auch auf 'ne Anbindung
im Intranet nicht angewiesen war. Ich konnte da frei ar-
beiten und diese Grundstruktur habe ich dann nachher immer
weiter verfeinert mit den laufenden Workshops und konnte
die dann immer wieder eben als Grundlage äh, anwenden und
hatte sehr wenige Probleme bei der, das beschränkte sich
oftmals auf Bilder einfügen. Einfache Grafiken und Skizzen
in powerpoint machen und so weiter. Und so war die Thema-
tik, die immer als Problemthematik auch diskutiert wurde:
das Erstellen, das sehr, sehr schnelle äh erstellen der
Endpräsentation mit Zeitdruck, das äh war nachher äh kein
Problemthema mehr für mich, sondern ein unterstützendes
Thema." (MOD02/41)
notwendig, denn ein KVP-Moderator ist auch noch nach der Moderatorentätigkeit
Teil der Unternehmensfiguration. Ein Scheitern, also der Verlust von Anerkennung
durch andere Menschen verschiedener Figurationen. hätte auch Nachwirkungen
zur Folge. M2 bescheinigt sich selbst allerdings die erfolgreiche Umsetzung dieser
Herausforderung:
wAus der Gruppe selber. Die Gruppe selber war mit den Er-
gebnissen am Ende sehr zufrieden. Ich äh, habe das später
äh kennengelernt, wenn ich Workshop-Mitglieder auf der
Straße im werk wieder getroffen hatte. Das habe ich aus den
Reaktionen erfahren. u (MOD02/99)
Die Verdichtung des Beziehungsgewebes und die Arbeit an der eigenen Anerken-
nung durch die Workshopteilnehmer war eine Herausforderung für M2, die er
erfolgreich gemeistert hat.
schiene", MOD02/30) sowie eine Chance, aus der eigenen Schiene auszubrechen.
M2 spricht über den KVP als seine Möglichkeit des Lernens und neue Bereiche
und Menschen kennenzulernen. Für ihn handelt es sich um einen Schritt auf
dem Weg zu etwas Neuem. Der Verbesserungsprozess als solcher steht nicht im
Vordergrund seiner Aussagen:
Die Entscheidung gegen eine hierarchische Laufbahn muss gut begründet sein und
im Sinne der Unternehmenskultur des Fallbetriebs erfolgen (z. B. sich ein soziales
Netzwerk im Unternehmen aufbauen, eigene Softskills erweitern):
Der KVP-Exkurs bedeutet, eine sofortige Befriedigung zurückzustellen und auf die
Belohnung »Fachreferent" zu warten. Bis dahin muss eine Moderatorentätigkeit
qualitativ gut erledigt werden. M2 stellt seine Bedürfnisse zurück (Affektkontrolle)
in der Hoffnung, dass etwas von ihm Erwünschtes folgt (HandiungskeUen). Der
216 6 Empirische Ergebnisse
Ausgang dieses Abstechers, beschrieben als .positiver Effekt" (ebd.), bleibt aber
eher vage.
Persönliche Weiterentwicklung
M2 beurteilt die Moderatorenaufgabe rückblickend als persönlichen .Lernprozess"
und .Lerneffekt". Er reflektiert indirekt die Frage: Warum mache ich diese Mode-
ratorentätigkeit? War das .sinnvoll", hat die Tätigkeit ihn .nach vorn" gebracht?
M2's Antwort fallt positiv aus:
wUnd äh, das ist eben auch dieser gesamte Lernprozess, den
ich für mich, für die weitere Laufbahn äh bei [Fallbetrieb]
insgesamt auch für, für sehr sinnvoll hielt und das äh hat,
war In großer Lerneffekt für mich und hat mich wirklich äh
insgesamt nach vorne gebracht.- (MOD02/73)
Die Untemehmenskultur unterstützt vor allem das Motiv des ,sich weiterentwi-
ckeln' und ,nicht stehen bleiben' und so handelt M2 im Sinne des Unternehmens,
indem er immer .nach vorne" strebt (MOD02/26).
Das Grundmotivvon M2 ist Freiheit (Autonomie), Individualität und Überle-
genheit in Abgrenzung zur üblichen Struktur und zu den anderen Moderatoren.
M2 ist der Individualist, der sich seine Autonomie und Spielräume geschickt
unter Zuhilfenahme der Strukturen erarbeitet. Er wandelt auf dem schmalen Grat
zwischen vorgegebenen organisationalen Regeln und Normen und ihrer kreativen
6.2 Die KVP-Moderatoren 217
wAlso, wenn ich jetzt sage, erst mal, denk' ich mal, ist
das ne"ne (.) STABSTELLE auf jeden Fall. Also, gehört NICBT
in den Kernbereich hinein. Also, der KERN der Fabrik, ist
107 MOD03/43.
6.2 Die KVP-Moderatoren 219
die FERTIGUNG als solches. Und ICH würd' MICH da auch als
DIENSTLEISTER einordnen. Ich würd sagen: Hört ZU LEUTE.
Wir sind hier das [KVP, H.F.] Büro. WIR können euch 'ne
Dienstleistung anbieten, WIR können über eure PROZESSE rü-
ber gucken. Im Rahmen des [Name Organisationsentwicklungs-
maßnahme ] und äh (.) WIR können METHODISCH n paar Dinge
zugrunde legen und sagen: Holt uns die RiCHTIGEN Leute an
den Tisch und wir setzen uns mit denen zusammen und lösen
'n paar Probleme. Und ich würd' dann auch IMMER wieder in
dieser FUNKTION wieder kommen. Also, ich würde sagen, das
ist die KLASSISCHE DIENSTLEISTERROLLE in so 'nem Unter-
nehmen. Wo man einfach sagt: ICH komm' WIEDER und wenn's
beim ERSTEN mal NICBT geklappt hat, dann muss ich halt
auch so offen sein und sagen: Okay, das war noch nicht so
ganz rund, ich komm~ noch mal wieder, ne? Muss man noch
mal wieder kommen und ähm (.) ich denke, da würd' ich den
KVP l-.] auch positionieren. Also, als REINE STABSTELLEN-
funktion." (MOD03/43).
Das KVP-Büro bietet den Beschäftigten eine Dienstleistung an, ohne dass eine
explizite Nachfrage der Beschäftigten vorliegt. Es handelt sich um ein Angebot
mit indirektem Annahmezwang. M3 formuliert seine Dienstleistung nicht als
einmaliges, sondern als kontinuierliches Angebot, falls die Dienstleistung einmal
nicht .geklappt" (ebd.) hat. Da die PMA allerdings diese Nachfrage nicht formuliert
hatten, bekommt das Angebot .noch mal wieder zu kommen" (ebd.) eher einen
Drohcharakter, wie das folgende Zitat belegt:
M3 reflektiert die .zielführende" Art und Weise seiner Moderation und ist sich
dem besonderen Merkmal bewusst, auch wenn er sagt, dass er nicht weiß, ob die
anderen Moderatoren es auf eine andere Weise machen.
108 Diese Berater wurden vom Fallbetrieb eingesetzt, als sich die erhoffte Produktivität
nicht einstellte. Sie sollten die ungeplante Verhandlungssituation, die sich in den KVP-
Workshops zwischen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite einstellte, auflösen. Zudem
sollten sie den internen Moderatoren als Vorbild dienen und praktisch vorführen, wie
sich die Workshops adäquat ohne menschliche Verstrickungen und ergebnisorientiert
durchführen lassen. An dieser Stelle kann bereits erwähnt werden, dass auch die exter-
nen Moderatoren nicht in der Lage waren, betriebliche Machtbeziehungen aufzulösen.
Nach ein paar Monaten wurden die externen Moderatoren wieder abgewgen, als klar
wurde, dass auch ihre Vorgehensweise nicht den gewünschten Erfolg lieferte.
6.2 Die KVP-Moderatoren 223
Der KVP ist für M4 ein Exkurs zur Meistertätigkeit. Für ihn ist es neu, sich in
interdependenten Beziehungen zu befinden und diese aktiv zu gestalten. Es ist
für ihn eine neue Situation, eine Meinung zu vertreten und sie mit Argumenten
zu füllen. Er konnte sich als Moderator persönlich weiterentwickeln, denn die
Moderation galt als .übung" für das Meister-Assessment:
"Ja (.) so (.) was vielleicht für mich NORMAL ist, ist
vielleicht für ANDERE NICBT normal. Ja und (.) DA muss ich
sagen auch in der MEK [Meisterentwicklunqsklausur, HoF.]
ja (.) da sind auch ANDERE Leute, die ne' Meinung zu was
haben und müssen mit ARGUMENTEN überzeugen. Ja (.) da muss
ich sagen: Das ist so und so und SO und muss sagen, das
ist SO, weil ich seh' das so und so und SO. Kannst du da
mitgehen? Kannst du da nicht mitgehen? Und das war auch
eigentlich 'ne gute Übung für MICH. U (MOD02/19)
Für M4 haben sich mit der Arbeit als KVP-Moderator neue Perspektiven ergeben,
die er berücksichtigen muss. Zum einen sind ..Argumente" hinzugekommen und
zum anderen die Frage nach sozialen Beziehungen (..Kannst du da mitgehen?
Kannst du da nicht mitgehen?"). Beides ist mit eingeschränkten Entscheidungs·
spielräumen durch Kompromisse verbunden (Zwang von anderen interdependenten
Menschen dieser Figuration), aber auch mit einem Gewinn an sozialer Identität
und die Eröffnung weiterer Spielräume.
6.2 Die KVP-Moderatoren 225
..Auch derjenige kann also eine Gruppensitzung moderieren. der vom zu behandelnden
Thema wenigversteht, sofern er nur Kommunikationsprozesse richtig lenken kann.
Fachliches Detailwissen beim Moderator kann sogar insofern gef;ihrlich sein. als er
dadurch in die Versuchung gerät, nicht mehr zu moderieren, sondern mitzudiskutieren
und vielleicht sogar Partei zu ergreifen. In dieselbe Situation gerät auch sehr leicht
ein Moderator. den das Thema sehr stark interessiert. In beiden Fällen verliert der
Moderator die Distanz zum Geschehen. Er wird zu einem Diskussionsteilnehmer.
vielleicht sogar zu einem Störfaktor für den konfliktfreien Ablauf der Diskussion.
Nur sehr erfahrene Moderatoren vennögen im Rahmen der Moderation gelegentlich
auch die Rolle eines Diskussionsteilnehmer einzunehmen." (Witt/Witt 2008: 76)
MI stellt zudem fest, dass es ihm leichter fallt, Gruppen zu moderieren, dessen
Teilnehmer keine Mitglieder seiner aktuellen Figurationen sind. Leute aus »vor-
herigen" (MOD01l79) Zeiten kennen, macht die Situation schwerer; sie nicht zu
kennen, macht die Situation .leichter" (ebd.). Für MI ist es schwierig, eine neue
Rolle einzunehmen, die seiner alten Rolle so gar nicht entspricht (Neutralitätsas-
pekt), wenn er auf Akteure trifft, die Teil der alten Figuration waren. MI fUhlt sich
unwohl, da er ein Anderer ist und neue Regeln und Vorgehensweisen befolgen muss:
"Ja (.) war für mich am Anfang auch neu. Man ist unsicher,
wenn man neu ist und das (.) .ähm (.) kommt immer drauf an,
wenn man die Leute kennt, aus(.) aus (.) vorherigen Zeiten
ist es etwas anderes, als wenn man die gar nicht kennt.
Wenn man die gar nicht kennt, ist es glaub' ich, leichter,
sich dahin zu stellen und ähm (.) erst mal sein Ding da
durchzuziehen. u (MOD01/79)
Fremde Akteure sind nicht Teil seiner üblichen Figuration und geben ihm als eine
Art Vorschuss womöglich mehr Handiungsspielraum'''. Diese Workshopteilneh-
mer haben keine speZifischen Erwartungen an ihn und seine Handlungen (soziale
Identität) und warten die weitere Entwicklung ab (weniger Zwang):
109 Witt und Witt sprechen in diesem Zusammenhang von einem ..Vertrauensvorschuss·
(Witt/Witt 2008: 79), den der KVP-Moderator als wichtiges .Eignungsmerkmal" (ebd.)
besitzen sollte.
6.2 Die KVP-Moderatoren 229
".Ich glaube, weil die Leute (.) mein' ich dann jedenfalls,
dass die Workshopteilnehmer, wenn die dich kennen, 'ne
andere Erwartungshaltung haben und wenn sie dich nicht
kennen, dann gucken sie erst mal: Was ist das für einer,
mal gucken, was der so erzählt. Die haben, glaub' ich,
nicht so 'ne Erwartungshaltung. M (MOD01/Sl)
In den Äußerungen von MI zeigt sich deutlich ein Distanzmotiv. Das Verhalten
in der eigenen Figuration ist sanktionierbar und hat Folgen für die sozialen
Beziehungen. MI bevorzugt eine Moderation in einer fremden Gruppe. um den
Folgen zu entgehen.
Die besondere Mission des M2, der Gruppe seine Neutralität .glaubhaft rüberzu-
bringen" (MOD02/38) (zu .vermitteln", MOD02J39) ist ein Alleinstellungsmerkmal
in Bezug auf seine Bewältigungsstrategie. Er präsentiert sich der Gruppe autonom
(befreit von jeglichem Zwang der machtvollen Figurationen im Betrieb). M2 ist frei
von Zwängen und wird weder .geleitet von" Ideen des Betriebsrats noch des Ma-
nagements. Er distanziert sich von den machtvollen Figurationen im Betrieb und
stellt diesen Umstand als sein Alleinstellungsmerkmal im Gegensatz zu den anderen
KVP-Moderatnren heraus. Seine Vorstellung ist, wenn die Gruppe merkt, dass man
mit M2 "uneingeschränkt" arbeiten kann, wird es eine "stressfreie" Workshop-Woche.
Die Sichtweise von M2 zusammengefasst: Wenn ich eine neutrale Position
einnehme, kann ich verschiedene Sichtweisen und Fronten neutral bewerten und
erziele damit ein gutes Ergebnis für alle.
• Eine Funktion in diesem Gesamtkonzept" (MOD02/75) verlieren und eine
neutrale Position außerhalb des Organigramms einnehmen (freie Spielerposition)
ist die Beschreibung für die Position des KVP-Moderators. Er ist für ein halbes Jahr
nicht Teil des Organigramms und fern von einem rollenkonformen erwarteten
Verhalten, sodass er sich entfalten kann. Die Vorstellung von der Einnahme einer
neutralen Position bleibt illusorisch. M2 möchte sich vor allem von den Fronten
lösen und zunächst alle Sichtweisen ungefiltert hören, um sie dann zu bewerten.
Doch damit bewegt er sich aus der Neutralitätszone: wer bewertet, hält sich nicht
raus und erhält einen großen Handlnngsspielraum:
M2 möchte mit seiner Sichtweise von einer Logik, die für ihn bereits im System
steckt, die Workshop-Situation von ideologischer Haltung und Machtbeziehungen
befreien. Wer nach M2 also .insgesamt mit offenen Augen" (MOD02/39) positiv
verändert, tut dies quasi automatisch zum Wohl der gesamten Belegschaft (.zum
Guten aller Mitarbeiter", ebd.).
Für M2 ist es wichtig, dass er keine fremde Hilfe (De-Eskalationsteam) für die
Durchföhrung seiner Workshops benötigte. Für ihn ist es nicht .das Nutzen dieser
Möglichkeiten", sondern persönliches Versagen:
M2 exemplifiziert die These, die die Moderatoren in zwei Kategorien teilt: a) Fremde
Hilfe im Fall einer Eskalation im Workshop gilt als Versagen des Moderators und
als Versagen, seine neutrale Rolle glaubhaft zu vermitteln. b) Der andere Teil der
Moderatoren nutzt das De-Eskalationsteam zur Aufrechterhaltung ihrer Neutra-
lität, wenn sie die Parteien nicht zu einer Einigung bringen können. Sie sehen es
als betriebliches Angebot und Unterstützung ihrer Moderation an und nutzen es
bei Bedarf. Sie sehen darin kein Versagen ihrer Neutralitätsbemühungen, sondern
die Aufrechterhaltung ihrer Autonomie.
ist denn DA passiert? Und dann tritt man so 'n bisBchen als
MEDIATOR auf in der ganzen Geschichte, ne? Dann heißt es
häufig, also das haben wir AUCH. Dann gabs n Gewitter und
dann sagt einer: HIER Mensch, hier in Gruppenraum drei, wir
haben das aufgeteilt in drei Gruppenräume (.) die Gruppe
hat Zoll. DA PASST irgendwas nicht, ne (.) dann gehst da rein
und dann wird schon mal gesagt: Hier [Name Moderator, H.F.]
hör dir das mal an, was wir da haben. WAS sagst du dazu?
Und dann merkt man eigentlich AUCH, dass man es GESCHAFFT
hat, in dem Prozess NEUTRAL zu bleiben und dann tragen
BEIDE Seiten ihr Problem vor (.) und meistens besitzt man
ja a) Kenntnisse zu dem Thema und b) die Fähigkeit, die
Leute wieder zusammen an einem Tisch zu holen. Und dann
kriegt man das in der Regel auch wieder hin. Also, ich
brauchte bisher noch NIE jemanden von AUSSEN. Den gibtls
ja auch bei uns. Wir können uns ja In Mediator holen und
sagen KONFLIKTLÖSER, die sind ja auch namentlich BENANNT,
aber bisher haben wirls nicht gebraucht. M (MOD03/81)
Wer laut M3 seine Neutralität als Moderator im Prozess behält, kann als .Media-
tor" (ebd.) bei .Zoff" (ebd.) in den Gruppen helfen. Wenn beide Seiten ihr Problem
vortragen, kann M3 zum einen inhaltlich-fachlich verstehen und zum anderen
mithilfe seiner Neutralität die Parteien an den Tisch zurückholen. Würde die
Workshopgruppe oder ein Teil von ihr die Neutralität des Moderators nicht aner-
kennen, müsste es einen neutralen Dritten geben. Daher ist für M3 die Anrufung
des De-Eskalationsteams im selben Moment eine Bestätigung seines gescheiterten
Neutralitätskonzepts.
M3 entlarvt sich semantisch selbst, keine neutrale Funktion im KVP-Work-
shop zu besitzen und auszuüben, indem ein KVP-Moderator nicht nur die Neu-
tralitätsfunktion (Mediator, Schlichter, Verhandlungsführer), sondern auch die
.Antreiberfunktion" (MOD3/29) im Prozess ausfüllen sollte:
M3 erlebt die PMA sowie die Vorgesetzten in ihrer Funktion als Workshopteilneh-
mer antriebslos. Nur ein Moderator kann .solche Prozesse am Leben [... ] erhalten"
(M0D3/45). M3 bewältigt die Moderatarenaufgabe mit einer militärisch geprägten
6.2 Die KVP-Moderatoren 233
"JA (.) kommt einem natürlich entqegen, das man mal BETRIEB-
LICHER VORGESETZTER war. Am Ende ist es SO, dass man dann
den Leuten (.) den Leuten sagt: So Leu~e, wer geht jetzt WO
hin? Sagt mir mal 'n Namen, ne7 Man muss ja Leute GEZIELT
ansprechen. Sonst wird das am Ende auch NICHTS und ähm (.)
WER ist welche Gruppe? Und es gibt ja auch Meldungen. Es
läuft ja auch 'ne Menqe von ALLEINE. Aber wenns dann halt
nicht weitergeht, MUSS man Leute GEZIELT ansprechen und
saqen: Kollege Heiko, Paul, Wal~er, Die~rich und wie auch
immer? Ähm (.) MACHT ihr das je~z~ mi~ dem Thema X und
MACHT ihr das je~z~ mit dem Thema Y. JA, wir gehen je~z~
los (.) und dann bit~e schijn auf'm Rückweg noch mal kurz
sagen, wie weit seid ihr im Prozess, ne7 Und das qehört da
halt IMMER WIEDER dazu." (MOD03/3l)
234 6 Empirische Ergebnisse
Die defensive .Erwartungshaltung" (ebd.), die M3 den PMA sowie den Vorgesetz-
ten bescheinigt, nutzt er als Rechtfertigung für seinen autoritären Führungsstil.
Für M4 gilt das De-Eskalationsteam als Hilfe zur Wahrung der Neutralität des
Moderators: Damit seine Neutralität im Workshop bewahrt werden kann. hat er bei
.schwierigen Workshops" (MOD04/25) das De-Eskalationsteam gerufen. das hat
dann die Entscheidung übernommen und seine Neutralität wurde geschützt. Die
Neutralitätsdefinition nach M4lautet, es ist legitim, als Moderator eine Meinung
zu haben und sie zu äußern. die aber keiner der beiden Seiten (Arbeitgeber und
Arbeitnehmer) aufgedrängt werden soll:
Der Kontrast .Neutralität" versus .seine Meinung und Sichtweise vertreten dür-
fen" wird von M4 als subjektive Theorie formuliert: :N Moderator darf auch ne
Meinung haben" (MOD04/43). M4 versteht sich als Seil des Teams" (ebd.) und legt
damit die Rolle des Moderators ab. Das Aussprechen der Meinung gefahrdet für
ihn nicht zwangsläufig die Neutralität. Lediglich das Beharren auf seiner Meinung
würde sie nach der Definition von M4 gefahrden. Wobei eine geäußerte Meinung
die Gruppe bereits beeinflussen und lenken kann und die Neutralität damit auf-
gehoben wäre. Seine Sichtweise steht den von Will und Will (2008) genannten
persönlichen Kompetenzen und Verhaltensmerkmalen eines KVP-Moderators
entgegen, die Distanz zu wahren und sich nicht an der Diskussion zu beteiligen.
M4 formuliert seine subjektive Perspektive wie folgt:
indem er die Expertenfunktion der PMA betont und sich nur als der neutrale
.. Zusammenfassende" darstellt:
wMan ist selber NICHT EXPERTE. MUSS man auch NICHT sein.
Man muss aber VERSUCHEN, für die Probleme, die die MITAR-
BEITER haben, 'ne Idee zu finden, ja?M (MOD04/21)
"Ja, irqendwie (.) die Leute, die in einem workshop REIN-
kommen, DENKEN, DA sitzt der SPEZIALIST, ne? Dass ICH der
SPEZIALIST wäre (.) Ich sag': Ich hab' überhaupt keine Ahnung
davon. Ich sag': IHR arbeitet da TAG täglich. Ich sag': die
SPEZIALISTEN sitzen vor mir. Ich sag': ich muss nur versu-
chen, das wissen von EUCH irgendwie zusammenzufassen, ja?
(.) Und dann versuchen anhand ETLICHER METBODENbausteine,
ja? Über Laufweqdiaqramme, was eigentlich SEHR gut ist,
diese LAUFWEGOIAGRAMME." (M0004/53)
,..Und gesagt hab': SO, DU bist hier CHEP. Die und DIE Proble-
matik haben wir die? Kannst du die entscheiden? DARFST du
die entscheiden? Und wenn DU sie entscheiden DARFST, dann
MACH' es und wenn du es noch mit irgendjemand absprechen
musst, dann MACH es AUCH. Und dann setz' auf die TRUPPE
KOMPLETT oder klär' die Truppe auf, WAS die SACHlage dann
ist. Aber ich hab' versucht, immer DA diese Neutralität
auch zu behalten, aber dann auch dann so FORDERND zu sein
und sagen: SO da muss jetzt was entschieden werden und das
kann NICHT ICH, DAS kannst NUR DU. M (MOD04/l06)
wWeil nach den Workshops hat man sich meistens noch mit den
Meistern oder dem UA nochmal zusammengesetzt und gesagt:
DAS war GUT das war SCHLECHT, ja? Wie kriegen wir das und
das und DAS hin? weil meistens werden MONTAGS und DIENSTAGS
die Ideen GESAMMELT. Und dann werden die Mittwoch, don-
nerstags, freitags weiter AUFgearbeitet und AUSgearbeitet.
Und sagen wir mal SO: DA sehen wir vielleicht POTENZIAL.
Können wir das (.) WIE gehen wir das an? WIE holen wir die
Mitarbeiter MIT ins Boot? WAS müssen wir probieren? Müssen
wir den Betriebsrat noch mal informieren, dass wir da viel-
leicht irgendwie 'n Arbeitsversuch starten, ne? Brauchen wir
da irgendwelche WERKZEUGE für? Irgendwelche BETRIEBSMITTEL
für das Modell (.) haben wir alles (?meint?) (.) Das klappt
auch ganz gut." (MOD04/82)
wUnd das ist dann am Ende so (.) dass diese VIELEN AUFs
und ABs dich natürlich MOTIVIEREN, aber natürlich auch DE-
MOTIVIEREN. Und DAS ist dann so, dass du abends ins Bett
gehst und an den Workshop denkst und am nächsten Morgen
wieder aufstehst und sagst: Mensch, ich hab' jetzt noch
drei Tage, wenn ich da jetzt rein gehe in dem Workshop und
sach: Leute, das was hier GESTERN passiert ist, DAS ist GAR
NICHTS äh (.) ich hab' eigentlich GAR KEINE Lust mehr! Dann
steht der Workshop auf der Stelle. Das heißt, du MUSST auch
morgens in der LAGE SEIN, kurz in den Spiegel zu gucken,
dich zu schütteln und zu sagen: Ich mach~ jetzt einen auf
gute Laune und ich SCHAUSPIELER 'n Stück weit. [ ... ] Dass
wir dann auch wirklich morgens rein kommen: GUTEN MORGEN,
Mensch die Sonne scheint, wie geiles Wetter und wollen wir
noch eben sehen, das wir n bisschen was machen ne? Ob DU
DICH danach FUEHLST, ist 'n GANZ anderes Thema. Also ich
sag" mal das, das Thema SCHAUSPIELEREI gehört 'n Stück weit
238 6 Empirische Ergebnisse
dazu, weil ähm (.) alle anderen reagieren natürlich auf den
ERSTEN ABSCHLAG des Moderators, ne?M (MODOJ/75)
Der Moderator als Verhandlungsführer bzw. Schlichter ist nicht per se emotions-
los, muss aber für die Weitentihrung des Prozesses innerhalb des Workshops die
tatsächlichen (womöglich negativen) Gefühle unterdrücken, um gut gelaunt und
hoch motiviert zu erscheinen. Nach M3 muss er in der Lage sein, seine wahren
Geföhle zu unterdrücken und falsche Emotionen zeigen, um den Prozess nicht zu
gefahrden: •Weil, sonst sitzen da zwölf Leute und die gucken wirklich erst mal: WIE
ist der AUFTAKTl" (MOD03175). Arlie Hochschild spricht von .Gefühlsarbeit,
die das Wohlbefinden und den Status anderer unterstützt, verstärkt und aufwer-
tet" (Hochschild 2006: 135; Hervorhebungen im Original, M.F.). Der Moderator
agiert als Stimmungsbarometer des Workshops und kann zum Wohlbefinden der
Teilnehmer beitragen. Moderatoren orientieren sich an den Bedürfnissen anderer,
entfremden sich so von eigenen Gefühlen und können nicht authentisch in ihrer
Arbeitsrolle .Moderator" sein. Arlie Hochschild sagt dazu:
..Ob aber die Trennung zwischen ,mir' und meinem Gesichtsausdruck oder meinen
Gefühlen als Entfremdung erlebt wird, hängt vom äußeren Umfeld ab. In der Welt
des Theaters gilt es als ehrenvolle Tradition, auf der Bühne die Kapazitäten des Ge-
dächtnisses und das Repertoire an Gefühlen ausgiebig auszuschöpfen. Im privaten
Leben lassen sich dieselben Fähigkeiten, wenn auch in einem geringeren Ausmaß,
vorteilhaft einsetzen. Wenn wir aber die Welt betreten, in der Gewinn und Verlust
zählen, wenn die psychologischen Kosten der Gefühlsarbeit von der Firma nicht
honoriert werden, dann erfahren wir die ansonsten hilfreiche Trennung zwischen
,mir' und meinem Ausdruck und meinen Gefühlen als potentiell entfremdend."
(Hochschild 2006: 55)
Authentizität wäre ein Indiz für ehrliche Prozesse, die auch Fehler, Widersprüche
und echte Gefühle erlauben würden. Es lässt sich festhalten, dass der KVP eine
Scheinwelt aufbaut, in der ehrliche Gefühle keinen Platz haben (siehe dazu die
Ausführungen zum Potemkin-Syndrom in Abschnitt 6.2.4).
Es herrsebt Ambivalenz bei der Herstellung von Neutralität und bei den Rollen
nich und Moderator". Neutralität wird aueb gleichgesetzt mit der Neutralität der
Emotionen. Das "ich" ist innen und emotional, der Moderator ist außen und
gefühlmeutral (Emotionsarbeit). MODIBB besebreibt diesen inneren Zwiespalt:
".Und ich hab' mich selber in zwei Workshops dabei (1) ge-
fühlt, erwischt weiß ich nicht, wie ich sagen kann (.) wo
ich dann innerlich gedacht hab': Mensch, vielleicht bist du
zu massiv (.) oder zu weit allein in dieser (.) Verständ-
nisfrage wieder reingegangen, vielleicht hätte ich vorher
einfach: okay, wir schreiben das so auf (.) und nicht im-
mer permanent als Moderator hinterfragen (.) weil ICH ICH
wollte es verstehen, ICH wollte es verstehen und noch mal
und noch mal und noch mal, das war mir alles zu abstrakt
(.) obwohl der Moderator ja eine neutrale Funktion da hat
[... ] und das hat sich so über zehn fünfzehn Minuten dann
ergeben und da hab' ich gesagt, Mensch (.) da hättest du
gar nicht so detailliert rein müssen aber das=das liegt,
glaube ich, auch an der Person (77) (.) wie gesagt, ich
habe für mich noch nicht (.) den Abstand gefunden, wirk-
lich zu sagen zu können, dass ich da neutral reingehe •u
(MODIBB/1l1+1l3)
240 6 Empirische Ergebnisse
Die Emotionsarbeit, die zur Herstellung der Neutralität geleistet werden muss,
beschreibt MODIBD vor allem als Emotionslrontrolle. Die Anforderungen an
seine Rolle im Workshop .Ruhe auszustrahlen" (MODIBD/447) und die Gruppe
.versuchen zu begeistern" (ebd.) führen zur Entfremdung mit eigenen Gefühlen
und lösen ein Störgefühl aus. Auch MODIBE spricht von Emotionskontrolle, wenn
er sagt, dass .man sich dann sehr zurückhalten [muss] und die Gruppe kommen
lassen" (MODIBE/437-443).
Die Moderatorenrolle erfordert Distanz, Abstand vom eigenen Ich, von der
Situation, etablierten sozialen Beziehungen, Routinen, üblichen Verhaltens- und
Denkweisen sowie von der bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen beruflichen Iden-
tität. Das, was bereits über viele Jahre, also im Laufe der beruflichen Sozialisation,
ein Teil der Selbstzwangapparatur wurde, wird zunächst nicht mehr benötigt und
auf Eis gelegt. Neue Anforderungen in Form formaler Vorgaben, die in Modera-
torenschulungen erlernt werden, erleben die Akteure zunächst als äußere Zwänge
(Fremdkontrolle). Sie können sich die neuen Verhaltensweisen nicht innerhalb
kurzer Zeit zu eigen machen. MODIBB beschreibt dieses Störgefühl unter ande-
rem mit seinem fehlenden Einverständnis für Situationen, das er aber aufgrund
der äußeren Vorgaben nicht auflösen kann. Er hofft, dass dieses Gefühl mit der
Anzahl gesammelter Erfahrungen vergeht:
sie selbst widersprüchlich sind, was vor allem beim gescheiterten Versuch, die
Leistungsverdichtung zu verschleiern, sichtbar wird. Vor dem Hintergrund der
subjektiven Widersprüchlichkeit schwebt der gesamte Diskurs.
Im Diskurs entwickeln die Teilnehmer von MODIB eine Definition zu ihrer Mo-
deratorengruppe als eine Art "Schicksalsgemeinschaft", die sich gemeinsam für
bessere Rahmenbedingungen stark macht, jedoch als Einzelkämpfer an der Front
moderieren. Ihre Gemeinsamkeiten, stellen die Befragten fest, äußern sich in den
.Problemen" (s. u.) (fehlende Rahmenbedingungen). Unregelmäßige, informelle
und lockere Treffen der Moderatoren lassen keine Definition als Gruppe zu, wie
MODIBD exemplarisch feststellt:
".Ich q1aube auch nicht, dass das so qewo11t ist, dass wir
jetzt so diese reqe1mäßiqen Treffen machen wollen, wenn wir
etwas ver1anqen, dann muss ja [Name] sich drum kümmern (.)
und der hat auch nicht das Personal. Wenn wir jetzt sa-
qen: ja mit dem Caterinq oder (.) äh Laptop, ne? Besorqen
110 MODIBD/375.
242 6 Empirische Ergebnisse
und hinbringen und so, kann er auch nicht sagen: Ja, ich
stell' euch da jetzt einen Mann dafür. (.) Funktioniert
auch nicht, also (.) 'ne Lösung hab' ich selber auch nicht,
'ne bessere (.) ich weiß es nicht, wie wir es hinkriegen
sollen." (MODIBA/343)
wAlso so muss der Prozess sein und so werden wir ihn [MO-
DIBE: Das wär mal was.] [MODIBA: Also, das wär (.) toll,
ja.] äh das auch mit denen kommunizieren und sonst machen
die das nicht. [_1 Aber ich seh' auch nicht ein, dass ich
jetzt losgeh und mich um solche Sachen noch kümmer also
(.) irgendwo härts dann auf, ne? Wir sind Moderatoren und
wie gesagt, sollen als Moderatoren tätig sein und nicht
eben die ganzen Sachen beschaffen. M (GDIBMODD/370-373+375)
"Das ist das, was gerade MODIBA sagte, ne? Ne, was er si-
cherlich auch meinte, ne? Dass wir so ein Stück weit alleine
da stehn, ne?M (MODIBD/335)
111 ,.Sind uns eigentlich ganz schnell bewusst geworden. dass uns persönlich das eigent-
lich (.) sehr, sehr viel Spaß macht. Das. also, das ist eigentlich außen (.) außer Frage
(MODIBBI201/203).
112 Das .. Steuerungssymbol" (MODIBB/311/313) kennzeichnet einen erwünschten
Steuermann und Strukturgeber, einen Haltgeber in einer entgrenzten Situation, die
ohne ..Gemeinschaftsdenkenu (ebd.) agiert. Selbstorganisation und klassische hierar-
chische Organisationsformen treffen hier aufeinander.
244 6 Empirische Ergebnisse
Die Anerkennung für ihre Tätigkeit erfahren die Moderatoren vor allem durch
die Teilnehmer der KVP-Workshops (.aus der Gruppe selber", MOD02/99, s. auch
MOD04/I04, MOD02/113), denn die Position des KVP-Moderators im Fallbetrieb
ist .nicht besonders beliebt" (MODOl/49). Aktive Akteure im Rahmen des KVP
stehen sinnbildlich für die Reduzierung von Teamgrüßen, Arbeitsintensivierung
und allgemeine Unruhe im Fallbetrieb. Doch auch bei den Vorgesetzten handelt es
sich um eine betriebliche Figuration, die dem KVP gegenüber negativ eingestellt
sein kann. Die Moderatoren erfahren nur für ihre Tätigkeit im konkreten Work-
shop-Zusammenhang eine Anerkennung. Das bedeutet, indem sie eine neutrale
Gestaltung ihrer Moderation anstreben und für Fairness stehen, können sie in
persönlichen Beziehungen die Bestätigung ihrer Leistung erwarten.
Die betriebliche Ausbildung zum Moderator wird der Aufgabe nicht gerecht.
Die hohen subjektiven Anforderungen an die Leistung des Moderators stehen im
Gegensatz zur ungenügenden betrieblichen Ausbildung und seinem Ansehen in der
Organisation, denn der Moderator kann die Art und Weise der KVP-Umsetzung
entscheidend prägen, wie MI feststellt:
KVP gleicht einer Fassade und einer Alibiveranstaltung und deshalb ist die für
diesen Zweck eingerichtete Funktion des KVP-Moderators im Grunde überflüs-
6.2 Die KVP-Moderatoren 245
sig und wertlos. Es zeigt sich hier eine starke Double-bind-Figur bezüglich der
Moderatorenfunktion: Die von MODIBE im Kontrast dargestellte hohe .gefühlte
Wichtigkeit" (sprich: objektive Wichtigkeit) zur weniger .wichtig genommenen"
beschreibt diese Spannungsfigur sehr deutlich:
Die Moderatoren müssen die Skepsis der (eigenen) Vorgesetzten aushalten und mit
dieser Ambivalenz eine Moderation überzeugend durchführen. Kritik und Zweifel
werden nicht öffentlich geäußert. sondern geschehen heimlich und indirekt. Die
Moderatoren müssen mit Vorgesetzten umgehen, die teilweise nur aus Pflicht, aber
nicht aus überzeugung am KVP teilnehmen:
Der Moderator ist lediglich ein Agent der Fremdverantwortung. Die in die Im-
plementierung eingelassene Ambivalenz und Double-bind-Strukturll3 lässt den
Moderator zur Chimäre werden. Seine Position im Fallbetrieb ist aufgrund der
generellen Eigenschaft des KVP als Legitimationsfassade überflüssig. wird aber
wie der gesamte Prozess, verbal aufrechterhalten und verweist insofern auf das
Potemkin-Syndrom1l4• Im Zusammenhang mit der Rolle des KVP-Moderators wird
die Scheinwelt selbst .zur handlungsbestimmenden Wirklichkeit" (Weltz 2011:
77) und ist der Grund für die auftretenden Dissonanzen bei der Bewertung der
Moderatorenrolle im Betrieb (.gefühlt wichtig" und .nicht wichtig genommen").
113 Double-bind-Struktur im Fallbeispiel: a) Verbal vorgeben. vom Konzept des KVP über-
zeugt zu sein. handlungspraktisch jedoch erkennen lassen. dass diese überzeugung nur
vorgetäuscht wird; b) den KVP aufgrund seiner Teilhabechancen als Erfolg ausloben.
aber faktisch keine Freiräume zulassen oder sie schnellstmöglich wieder begrenzen.
114 Es beschreibt zunächst allgemein ..die Herstellung einer Scheinwelt zur (Selbst-)
Bestätigung eines autokratischen Regimes" (WeItz 2011: 77). Diesem Syndrom begegnet
man nicht nur auf politischer. sondern auch auf betrieblicher Ebene. Der Prozess der
Reorganisation. wie er sich im untersuchten Fallbetrieb darstellt, zeigt Parallelen zu
einem autokratischen System.
246 6 Empirische Ergebnisse
Es entsteht eine Grauzone durch: a) Der KVP wird nicht öffentlich kritisiert, aber
Vorgesetzte lassen ihre negative oder gleichgültige Haltung dennoch durchblicken,
b) Der KVP verfügt über keine eindeutige und durchgängige Handlungsrelevanz
und c) Die Vorgesetzten müssen Mitarbeiter aus ihrem Stab für eine Moderato-
rentätigkeit auswählen, die sie im Hinblick auf ihre persönliche Weiterentwicklung
als reizvoll darstellen. Gleichzeitig lassen sie durchblicken, dass sie generell vom
KVP-Konzept nicht überzeugt sind:
Die Position des KVP-Moderators gerät durch die »Grauzonen" in eine sich
widersprechende Situation. Kollektiv formulierte und ambivalente Ansprüche
an ihn und seine Position, muss der Moderator individuell bewältigen. Der Re-
krutierungsprozess der KVP-Moderatoren ist ein Beispiel für die individuelle
Bewältigung eines kollektiven Anspruchs.
115 In diesem Fall wird der Leidensdruck durch eine ernsthafte Bedrohung der eigenen
Position bei Nichtbeachtung des Vorstandsbeschlusses ausgelöst.
6.2 Die KVP-Moderatoren 247
Der Moderator reguliert nicht nur seine Gefühle, wenn er die Gruppe mode-
riert, sondern auch, wenn der Vorgesetzte ihm die neue Aufgabe anbietet. In der
Gruppendiskussion MODIB wurde deutlich, dass alle Teilnehmer das Angebot,
KVP-Moderator zu werden vom Vorgesetzten erhalten haben. Bei der Annahme
des Angebots handelt es sich beinahe um eine eigene Entscheidung: .Sie müssen
das nicht machen, es ist freiwillig (.) aber ähm (.) vom Tonfall her klang das eher
nicht so, als wenn das freiwillig wäre." (MODIBE/164+166) Die Beschäftigten
in der Organisation sind in der Wahl ihrer Entscheidungen nicht völlig frei und
können nicht autonom handeln. Da der Vorgesetzte über die berufliche Ent-
wicklung entscheiden kann und die Möglichkeit hat, im Sinne einer persönlichen
Machtquelle, Steine in den Weg zu legen, wägt der Mitarbeiter seine Entscheidung
bezüglich möglicher Konsequenzen ab (Langsicht). Im Fall der Auswahl für die
Moderatorentätigkeit, stimmten die Moderatoren zu, um Flexibilität zu beweisen,
obwohl zu Beginn nicht ganz klar war, welchen Umfang diese Tätigkeit anneh-
men könnte. Den Beschäftigten ist die .gewisse Freiwilligkeit" bewusst und sie
reflektieren mögliche negative Sanktionen, die sie in die Entscheidungstindung mit
einbeziehen. Wenn es kein absolut stichhaltiges Gegenargument gibt (.dem nichts
entgegenzusetzen", MODIBB/790; Arbeitszeiten bei außertariflichen Angestellten
.nach oben hin offen", MODIBEI191), stimmen sie der Nominierung zu:
Aus der .gewissen Freiwilligkeit" und dem Muss wurde ein.Wollen" (Emotlons-
arbeit). MODIBE passt sich den neuen Verhältnissen an und nimmt die Heraus-
forderung als eigene Motivation an (Selbstzwang):
wAlso wirklich noch nicht, dass ich das Ganze als Erholung
empfinde «lachend» gegenüber dem normalen Arbeitsalltag
(.) vielleicht kommt das dann nachher noch, wenn ich mehr
workshops gemacht habe (.) aber ja für mich war das ein
bissehen die Motivation, das dann auch zu wollen (.) äh
248 6 Empirische Ergebnisse
dass man eben (.) freier wird, wenn man jetzt vor Gruppen
sprechen muss. U (MODIBE/267)
Das späte .Wollen" von MODIBEE beschreibt die nachträglich legitimierte .ge-
wisse freiwillige" Entscheidung. Honneth (2002) beschreibt diese Vorgehensweise
als ein neues Anspruchssystem für die Beschäftigten, das die Arbeit als Berufung
thematisiert:
Im dargestellten Fall ist das Engagement in erster Linie einem subjektiven Wohl
gewidmet (z. B. frei vor Gruppen sprechen zu können), das sich indirekt aber wieder
als Teil einer Unternehmenskultur verorten lässt. Dort ist nämlich die intrinsische
Motivation, persönlichen Fähigkeiten immer weiterzuentwickeln, ein erklärtes Ziel
und somit steht die Entwicklung eigener Fähigkeiten von MODIBEE im Interesse
des Unternehmens.
6.2.6 Zwischenfazit
Nicht nur die besondere Rolle der Moderatoren im Rahmen der Implementierung
eines KVP ist der Grund, weshalb sich ein genauerer Blick auf sie lohnt, sondern
auch ihre Eigenschaft als Beweisfignr für die wahren Absichten des KVP und als
ambivalente Bewahrer einer Scheinwelt. Als neuer emergenter Zusammenschluss
ist es möglich, dass die Gruppe der KVP-Moderatoren eine neue betriebliche
Fignration im Fallbetrieb bildet.
Die Unbestimmtheit des Marktes wird in GPS direkt an die Beschäftigten wei-
tergegeben und während der Arbeit durch den sogenannten Kundentakt wahr-
genommen, der sich in schwankenden Stückzahlen pro Tag ausdrückt oder in
der andauernden Betonung der Kundenwünsche, die bei der Ausführung von
6.3 Vermarktlichung 249
Sennett spricht gar von der "Furcht davor, nichts zu tun", denn "in einer dyna-
mischen Gesellschaft ist der Stillstand wie der Tod" (Sennett 2000: 116). Rosa
in Bezug zu Sennett sagt, dass diese These zu einem "ökonomisch irrationalen
Hyper-Aktivismus führe" (Rosa 2005: 277, Fußnote).
116 GEMAC/9.
250 6 Empirische Ergebnisse
Die von den Beschäftigten ohne KVP-Partizipation entdeckte Formel ..Wege sind
Zeit" löst ein Nachdenken darüber aus, wie es wäre, wenn die Möglichkeit der
Partizipation bestünde. Sie decken mithilfe der Formel das Dilemma .Bequem-
lichkeit" versus .. Rationalisierung" auf. Die von den Beschäftigten durchschaute
Kausalität verlangt also eine stärkere Langsicht ihrer Handlungen:
Doch selbst die Reflexion möglicher Handlungsfolgen reicht nicht für eine seriöse
Prognose. Die Rahmenbedingungen sind derart kontingent, STEWE formuliert
es wie Kursschwankungen am Aktienmarktmarkt (..von 61 auf 79 auf 97"), dass
eine Vermutung beeinträchtigt ist:
flexibilisierte Produktion. Die alten Strukturen gelten genauso wie die flexibili-
sierten Strukturen (Gleichzeitigkeit alten und neuen Logik; s. auch strategischer
Mix). Im Begriff .flexible Standardisierung" (vgl. Pfeiffer 2007) soll der eigentliche
Widerspruch von Statik und Prozess aufgelöst werden. Das Unternehmen spielt
in den Ausführungen als Unterstützer dieser Prozesse keine Rolle. Die Flexibilität
erscheint nicht praxisgerecht, sondern propagiert und spielt in der betrieblichen
Praxis keine Rolle (vgl. Lohr/Nickel200S: 214f.). Diese Semantik entspricht daher
eher einer .strategischen Vision" (Kocyba 1999) als einer .eropirisch gesicherten
Zustandsbeschreibung" (ebd.).
Die Beschäftigten müssen viele nene Variablen bewältigen: weniger Mitar-
beiter im Team. mehr Arbeitsgänge (als Ergebnis eines KVP-Workshops) sowie
schwankende Stückzahlen (als direkte Anbindung an den Kundentakt). Selbst die
Reduzierung der Stückzahl pro Tag entspricht keiner Erleichterung der Bedingun-
gen, da sich die Zahl der Arbeitsgänge erhöht hat:
Routinierte Rotation
Flexibilität zeigt sich fUr die Beschäftigten bereits in der Rotation der Arbeitsgänge.
Innerhalb der Figuration des Vertrauenskörpers ist eine marktorientierte Sprache
vorzufinden, die daraufhinweist, dass die Marktlogik bereits in den produktiven
Kern vorgedrungen ist. Die Ausführungen von GENEE machen deutlich, dass
sie mit-verantwortlich für die Wettbewerbsfahigkeit des Betriebes sind, indem
er feststellt, dass jeder Workshop ein Maß an Effizienz erarbeiten muss. Seine
besondere Aufgabe als Vertrauensmann besteht nun darin, den Umfang von
Effizienzerbringung, dessen Notwendigkeit aufgrund des von ihm konstatierten
Zwangs zur Wettbewerbsflihigkeit entsteht, zu regulieren. Rationalisierung endet
für ihn allerdings dort, wo auch das .Machbare" endet:
der totalen Vereinnahmung des Selbst in den Weg stellt und aktiv die Flexibili-
sierung begrenzt.
... Es ist auch (.) vielleicht ist das auch ,n Problem von un-
serer Führunq oder von den Leuten, die da diesen Workshop
mitmachen und dann später hin das durchqeboxt wird, dass
da irqendwo was passiert in dem Bereich, dass die selber
nicht mal an die Gruppe ran treten. Wir sind ja (.) wir (.)
äh (.) dafür harn wir ja diese Teamarbeit, dass man immer
qreifbar is', saq' ich mal. Das Team macht die Arbeit, so,
und da kann man doch einmal in die Gruppe reinqehen und
den Leuten das eben vernünftiq erklären. Und wenn man sich
da mal ,ne halbe Stunde Zeit für nimmt und einfach nur
sacht: Pass' auf, ich erklär euch das jetzt mal als Füh-
rung, als Führungsperson. Ich erklär' euch das jetzt mal.
So und so ist das, das und das ham wir gemacht und so MUSS
es gehen.· (BESAC/201)
".Und sehen immer die Gefahr: Ich muss mehr arbeiten und
letztendlich krieg' ich nichts dafür. Obwohl es natürlich
auch Beispiele gibt für Ergonomie-Verbesserungen oder (.)
ja Arbeitsablauf und so. Es gibt schon, es gibt auch Bei-
spiele, wo auch die Leute merken: Mensch, es ist ja gar
nicht so schlecht. Das gefällt mir besser, so zu arbeiten.
Aber im Grunde genommen ist ja immer doch eine Art Leis-
tungsverdichtung ist da immer mit drin. Jedenfalls gefühlte
Leistungsverdichtung für die Leute." (MOD01/147)
117 MODl/147.
6.3 Vermarktlichung 255
MODIBD hat das Tabu gebrochen und bestätigt die wachsende Leistungsverdich-
tung. Er entschärft seine Äußerungen allerdings nach einem Einwand von MODIBA
(475), den Begriffleistungsverdichtung nicht im Workshop zu verwenden, indem
er die offizielle Definition, also die präzise Begri1llichkeit, wiedergibt (.da steht"):
"Ja, ich will nicht sagen, ich will nicht sagen Leistungs-
verdichtung • Hab l ich jetzt falsch mich ausgedrückt, da
steht: neue Aufgaben kommen hinzu, BO. Und dann andere: ha,
jetzt kommen dann doch wieder Aufgaben hinzu. u (MODIBD/477)
Der Vorteil, diese Begriffe zu nutzen, besteht darin, dass sie von allen Instanzen
(Vorstand und Betriebsrat) akzeptiert werden und auf den ersten Blick keine
Widersprüche und Unsicherheiten enthalten. Infolgedessen kaon auch der eigene
Widerspruch überlistet werden, wenn man sich nur an das Konzept hält. Außerdero
ist es möglich, sich auf die Begriffe zu stützen, da sie eine formale Machtquelle
darstellen:
MODIBA stellt die Aussage von MODIBD nicht infrage. Zunächst hat es den
Anschein, dass er die Tatsache verneint und es sich um Leistungsverdichtung
handelt, doch im Grunde warnt er davor, es nicht im Workshop zu wiederholen
(Verschleierungstaktik):
Mit der Verschleierungstaktik und dem Rückgriff auf offizielle Begriffe werden
Hinweise auf das von Weltz beschriebene Potemkin-Syndrom auf betrieblicher
Ebene gegeben. Er erklärt, welche Bedeutung der Rhetorik in dieser Scheinwelt hat:
"Man versichert nicht nur der Welt, sondern vor allem sich selbst, immer wieder
aufs Neue, daß alles in Ordnung sei - und wird so selbst zum Gefangenen der
Rhetorik" (Weltz 2011: 78). In diesem Zusammenhang bedeutet .in Ordnung" in
erster Linie, dass Paradoxien und Ambivalenzen nicht existieren. Indem sich die
Moderatoren diesen Aspekt immer wieder bestätigen, glauben sie es fast selbst. Mit
256 6 Empirische Ergebnisse
GENEE spricht von denen .da vorne", den Moderatoren, und bescheinigt ihnen die
Fähigkeit mit Rhetorik umgehen zu können und Sachverhalte zu .umschreiben",
statt zu ,be-schreiben'. Die anderen, um die es in dem Zitat geht, sind die PMA,
die alles ohne Umschweife auf den Punkt bringen (im Zusammenhang mit einer
Verhandlungssituation ist diese Eigenschaft allerdings weniger hilfreich und daher
benennt GENEE es hier als .Problem").
Für M3 ist die Leistungsintensivierung der Beitrag der Produktionsmitarbeiter,
den sie zum eigenen Arbeitsplatzerhalt leisten können. M3 macht seinen Stand-
punkt sehr ausföhrlich deutlich:
M4löst die Angst vor Leistungsverdichtung nicht auf. Die PMA sollen allerdings
ihre pessimistische Haltung aufgeben, offensiv sein und Selbstverantwortung
übernehmen: Für .gutes Geld' mehr leisten. langfristig Denken und Selbstver-
antwortung zeigen:
Man will den Leuten ihren Job nicht wegnehmen. nur versuchen, das Bestmögliche
aus dem Prozess (Wertschöpfung erhöhen) rauszuholen. Als Agent des Unterneh-
men. fordert er die .totale Mobilmachung" (Bröckling 2000) der Beschäftigten.
M4 artikuliert den Rationalisierungsgedanken ambivalent:
wAber das ist qenau der Punkt, bei dem man ansetzen muss,
dass man den Leuten klar macht, sie müssen nicht mehr
leisten, sondern nur (.) SINNvollere Tätigkeiten ausführen,
statt sich mit verschwendung aufzuhalten. M (MODIBE/43)
und Kontingenz aus. Es erscheint für die beteiligten Beschäftigten nicht klar, welche
Position in welcher Weise Ansprechpartner für Probleme und Entscheidungen im
Rahmen der KVP-Aktivitäten sind. Im Folgenden werden einige Aspekte zum Motiv
der unklaren Verantwortung im Rahmen des KVP, wie sie sich den Beschäftigten
und den KVP-Moderatoren darstellt, beschrieben.
Auf die Frage in der Gruppendiskussion GENE, ob es aufgrund des KVP zu mehr
Verantwortung für sie gekommen sei, stellt GENEH fest:
"Also, bei uns ist das so, mehr verantwortung würde ich
nicht sagen. Du hast jetzt zwar jede Menge Telefonnummern,
wo du dich dran wenden kannst, ne? Die dann was verbessern
können, wollen, aber eigentlich so nicht machen." (GENEB/201)
118 GENEF/204.
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 261
Verantwortung gilt für ihn als äußerliche, fremdbestimmte Anweisung einer Person
zur Erbringung von Zielwerten. Niemand fordert explizit eine Verantwortung im
Sinne eines solchen Werts. Diese Erkenntnis lässt auf die Bedingung schließen:
Wenn keiner von Verantwortung spricht, gibt es auch keine.
Der KVP dokumentiert sich in vielfaltigen Kaizen-Methoden, die von den Teil-
nehmern in einem KVP-Workshop angewandt werden. Sobald die Beschäftigten
sich an einen Verantwortlichen im Rahmen ihrer neuer Handlungsspielräume
wenden wollen, ist völlig unklar, wer diese Person ist. Eine Reorganisation wurde
nach dem Top-down-Prinzip angeordnet und mit großem Aufwand gestartet.
Die Beschäftigten sind nun allerdings verunsichert, wer für diesen Prozess ihr
Ansprechpartner ist. Die Anforderung, sich in KVP-Workshops zu beteiligen,
war an die Beschäftigten adressiert. Doch wer ist nun wiederum ihr Adressat?
Die Verantwortung des Managements diffundiert, verflüssigt sich im Konzept
des KVP und dokumentiert sich nur noch in Form von Kaizen-Werkzeugen. Die
Verantwortung des Unternehmens wurde entpersonalisiert. Kritik., Anregungen.
Feedback und die von den Beschäftigten formulierte Bitte um Unterstützung
laufen ins Leere, so wie es GENEF als Reaktion auf einen anderen Teilnehmer der
Gruppendiskussion formuliert:
Punkt, ne? Wann wird das mal gemacht? Warum guckt nicht
so ein UA [Unterabteilungsleiter, M.F.] runter: hier Kol-
lege [klatscht in die Hände], wenn du deine Arbeit nicht
machen willst, versetze ich dich, mal einen Druck ausübt,
dat ist eben BO, wir müssen, ihr oder ihr Vertrauensleute
und, und oder ihr Kollegen, Druck, Druck. Es wird nur von
unten gedrückt. Von unten drücke ich bloß hoch, es muss
auch einen Gegendruck brinqen. M (GENEF/204)
In dem Zitat macht der PMA GENEF deutlich, dass es Funktionen im Unterneh-
men gibt, die ihre Aufgaben nicht ausführen. Dieses Problem ist vor allem dort zu
beobachten, wo Menschen mit der Abarbeitung von - aus Worksbops generier-
ten - Maßnahmen beschäftigt sind. Diese Beschäftigten nutzen die Möglichkeit
in dieser »Phase des übergangs", sich auf die etablierte Untemehmenskultur zu
beziehen und sich der Verantwortung für eine Abarbeitung zu entziehen, solange
es keine Anordnung von .oben" gibt. Die veränderten Aufgaben und erarbeiteten
Maßnahmen, die sich aus den KVP-Workshops ergeben, fUhren zu einem anomi-
schen Zustand der Entgrenzungll'il und zu einer fortgeschrittenen Differenzierung
ohne die entsprechende Integration und Koordination. Hier geht es um eine am-
bivalente Auflösung von fordistischen Strukturen, die aber nicht in den Köpfen
der Leute stattfindet.
Sobald keiner von Verantwortung spricht oder sie nicht schriftlich fixiert ist,
kann der Beschäftigte sich dieser Forderung entziehen. So lässt sich folgende These
formulieren: Für Beschäftigte aus fordistisch geprägten, stark arbeitsteiligen Ar-
beitszusammenhängen wird (Selbst-)Verantwortung nur dann dauerhaft aktiviert,
wenn sie institutionell unterstützt und/oder gar verlangt wird und nicht diffus
bleibt. In den angeführten Zitaten läuft sie einerseits ins Leere und andererseits
bleibt sie diffus120 •
Entspricht die übernahme von Verantwortung eher einer Last (psychische Belas-
tung) oder mehr einer Lust (im Sinne einer Herausforderung)?Il2 In der vorliegenden
Studie wurden viele Facetten von Verantwortung in den Gruppendiskussionen
und Einzelinterviews diskutiert, die nun vorgestellt werden.
erfolgen, sodass sich die Akteure vornehmlich auf die Erledigung dieser Anforderungen
konzentrieren.
121 MOD03/23.
122 Diese Frage stellte sich Preisendörfer (1985) in seiner Dissertation und stellte beide
Thesen gegenüber.
123 Die Abschätzung in Form eines Kontrasts wurde von der Interviewerin initiiert.
264 6 Empirische Ergebnisse
diese Art, also indem er wiederholt auf die Ergebnis-Verantwortung der Gruppe
hinweistl 2-4. Daraus ergibt sich eine innere Spannung rur die Moderatoren, ob eine
größere Verantwortung tatsächlich existiert und welchem Zweck sie dient. Zudem
kommt es wieder zur (emotionalen) Abgrenzung des eigenen .Ichs· und der Mode-
ratorenrolle (MODIBB/821). Führen die Aktivitäten zu einem unvorhergesehenen
schlechten Workshop-Ergebnis, kann MODIBB die Verantwortung .wegdrücken"
(ebd.: 823), indem er auf die Ergebnisverantwortung der Gruppe verweist:
"[Also ich] seh das genauso, wie MODIBD das gerade gesagt
l
hat. Also, für meinen Job, wo ich das Geld auch eigentlich
für bekomme, trag' ich 'ne sehr sehr hohe verantwortung
und fühle mich auch wirklich (.) also fühl mich in dem
Thema auch richtig drinne und (.) und das bin ICH, diese
Moderatorengeschichte ist eine Geschichte, die mir sehr
sehr viel Spaß macht, eine verantwortung, die wie wir ge-
rade gesagt haben, schon da ist, aber auf 'ner Wertigkeit
zu setzen, würd' ich das nicht mit meinem täglichen Job
auf eine Stufe setzen weil, [1] hat gerade gesagt, wenn
wir die Gruppe vielleicht nicht zielführend zum Ergebnis
hingebracht haben oder versucht haben, da hinzulenken
wie gesagt, Ergebnis für mich ist noch immer so oder das
Ergebnis aus einem Workshop trägt noch immer die Gruppe
selber. Und als Moderator kann ich auch noch so gut Wege
gezeigt haben, wo man vielleicht sich langhangeln kann,
wie man da hinkommt. Wenn die Gruppe, wenn die Gruppe das
Ergebnis nach den zwei Tagen sieht: das ist alles (.) oder
das Ergebnis ist grottenschlecht [_.] dann hab' ich inner-
lich für mich gesagt, ich hab' vielleicht versagt. Bloß das
darf bei mir persönlich ja nicht passieren, weil das ist
gar nicht mein Ergebnis, sondern Ergebnis der Gruppe und
somit kann ich die Verantwortung könnte ich (.) zum Glück
ist es noch nicht dieses Szenario passiert, dass eine Gruppe
aus dem Ruder gelaufen ist, da da haben wir, glaub' ich,
alle so ein bisschen Angst vor, dass so 'ne Gruppe so 'ne
Eigendynamik erlebt und ganz woanders hingeht (.) ähm aber
dann kann ich so ein bisschen die Verantwortung wieder so
ein bisschen von mir wegdrücken. M (MODIBB/821/823)
124 Dieser Aspekt wird den Moderatoren in der Schulung erklärt. Damit soll der Work-
shop-Gruppe das Konzept der Selbstverantwortung für die Veränderungen vermittelt
werden. Zudem nutzen die KVP-Moderatoren die Ergebnisverantwortung der Gruppe
als Bewältigungsstrategie für diese neue Aufgabe.
6.4 Verantwortung im Kontext der Reorganisation 265
Die Abhängigkeit, die zwischen Aufgabe und Ergebnis besteht, ist ftir die Modera-
toren ein Mittel der Subjektivierung. Den Unsicherheitsraum zwischen Aufgaben-
stellung und Resultat beherrscht die Gruppe. Der Druck, der sich aus der Gestaltung
und der Bewältigung dieser Abhängigkeit ergibt, versuchen die Moderatoren zu
bewältigen, indem sie wiederholt auf die Verantwortung der Gruppe verweisen.
Im schlimmsten Fall (Versagen) kann ein Moderator aber die Verantwortung
.wegdrücken" (ebd.) und in Distanz zur eigenen Person bringen. Die Moderatoren
sind sich nicht sicher, ob sie eine gute oder schlechte Moderation geliefert haben,
das heißt, sie fragen sich, ob sie thematisch überzeugen, eine Diskussion abwenden
oder die Gruppe zielführend lenken können. Sie haben .Angst" (ebd.) vor dem
herannahenden .Szenario· (ebd.) im Workshop: Erwartet sie eine mitarbeitende
(konforme) oder eigendynamische bzw. eigenwillige und den Schein entlarvende
Gruppe?
MODIBCflöst das Dilemma eines Vergleichs auf, indem sie feststellt: .Ja, das
kann man nicht vergleichen." (MODIBCf/812) und leitet damit über zu einem
Diskors über den Inhalt von Verantwortung beider Tätigkeitsfelder.
Welche Verantwortung hat nun ein KVP-Moderator im indirekten Bereich?
Sie umfasst das Erklären und Überzeugen der Workshop-Gruppe hinsichtlich des
KVP, die Maßnahmenpflege in der Datenbank, das zielgerichtete Begleiten während
des Workshops sowie das Vorgespräch mit dem Vorgesetzten (vgl. MODIBE/807,
MODIBCf/808, MODIBA/827, MODIBD/828). MODIBE beschreibt in diesem
Zusammenhang den Kontrast zwischen einer verantwortungsvollen und einer
leichtfertigen Ausführung der Tätigkeit (.nicht ordentlich"):
Der Aspekt Verantwortung gibt der Moderatorentätigkeit einen Wert und zwingt
sie dazu, sich näher mit dieser Tätigkeit auseinanderzusetzen. Würden die Mo-
deratoren diese Tätigkeit auf die gleiche Wertstufe setzen, müssten sie sich näher
mit dem Thema auseinandersetzen, was mit einem erhöhten psychischen Aufwand
verbunden wäre. Diese Annahme erklärt auch die Abgrenzung mithilfe des Entgelts:
Für MODIBB ist die Moderatorentätigkeit nicht relevant genug, um dafÜr ein
Entgelt zu bekommen. Er stellt die Tätigkeit damit auf eine niedrige Stufe (Be-
wältigungsstrategie).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwei Aspekte von Verantwortung
im Diskurs thematisiert werden: zum einen der Wert der Verantwortung, in einer
Gegenüberstellungvon mehr oder weniger bzw. höher oder niedriger (als Vergleich
zwischen der Moderatoren-Tätigkeit und der alltäglichen Aufgabe) und zum an-
deren Art und Inhalt der Verantwortung in Form einer Definition.
dem folgenden Zitat diesen Zusammenhang und ihre Leistung als "Lenker" des
Unternehmens und des Prozesses:
M2 macht genau wie MODIBD darauf aufmerksam, dass ihr Handeln den Verlauf
der Prozesse und Beziehungen verändern kann. In diesem Zusammenhang sprechen
sie von .Ienken" (MODIBD/830) und .beeinflussen" (MOD02l113). In der Reflektion
wird ihnen die Verantwortung in der Verflechtungssphäre Orgsnisation bewusst.
M2 stellt dazu fest, dass ein Moderator aufgrund seiner .exponierten Stellung"
(MOD02/113), also einem größeren Handlungsspielraum, einen besonderen Ein-
fluss auf Prozesse und Menschen hat. Die Verantwortung eines KVP-Moderators
erfolgt aufgrund seiner Verflechtung in einem dichten Gewebe der Aktionsketten.
Seine Aufgabe und Selbstverantwortung besteht darin, beim Zusammentreffen
viele Menschen unterschiedlicher Figurationen "zufriedenzustellen" (ebd.) und
Valenzen zu sättigen. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss ein
Moderator eine ausgeprägte Langsicht an den Tag legen. Er muss sich darüber im
Klaren sein, dass sein Handeln Folgen hat und indern er diese Tatsache reflektiert
und danach handelt, zeigt er Verantwortung.
Die Bewältigung einer »unklaren Verantwortung" im Rahmen der Moderatoren-
rolle erfolgt durch die aktive .Begrenzung" eines Verantwortungsraums. Aufgrund
der vielen Bereiche, die ein Moderator betritt, hat M4 den Verantwortungsbereich
auf den Workshop und seine Mitglieder begrenzt:
268 6 Empirische Ergebnisse
Die Beschäftigten befinden sich in einem Mix aus fordistischen und postfordistischen
Arbeitsweisen, in dem (scheinbare) Teilhabechancen aufkonservative Formen der
Arbeitsabläufe treffen. Im Folgenden werden die Diskurse zu den widersprüchlichen
Anforderungen an die Beschäftigten, aber auch an die Vorgesetzten dargestellt.
".Also ich hab' (.) sagen wir mal (.) ich hab' versucht
immer die Leute ja auch zu SENSIBLISIEREN, auf DAS THEMA
KVP, auf die Wirtschaftslage. WAS auch in der Welt PAS-
SIERT, und dass wir bei [Fallbetrieb] NICBT auf einer In-
sel sind. Wo das Wasser GANZ, GANZ weit weg ist, ne? Das
Wasser steigt AUCH auf UNSERER Insel. wir sind zwar NOCH
ganz gut AUFgestellt im Gegensatz zu anderen Firmen. Siehe
[Name Automobilunternehmen], [Name Automobilunternehmen]
oder wie sie alle heißen, aber dass man da auch nicht die
Augen vor versperren sollte. Und es hat schon mal ne' zeit
gegeben, wo AUSgesperrt wurde (.) und da hatte ich denen
auch aus meiner Sichtweise gesagt: Wenn die jetzt sagen
würden: (.) So, ALLE Leute kommen NICBT mehr rein, WIR
SPERREN euch aus. Und da steht einer hinter den Häuschen,
hinter den werthäuschen und sagt: SO, jeder, der jetzt
zwanzig Prozent weniger verdienen möchte, DER kann jetzt
wieder reinkommen. Und da hab' ich gesagt: Dann bin ich
der ERSTE, der wieder rein läuft, ja?M (MOD04/45)
Der Druck, den M4 mit der Drohkulisse .Insel im steigenden Wasser" und dem
.Wert der Fehler" aufbaut, soll als Disziplinierung der Beschäftigten wirken und
so an ihre Selbstverantwortung appellieren.
Mit dem Begriff des .k1einen" Mitarbeiters reprodnziert M4 die klassische
fordistische Trennung der Figurationen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und ihr
besonderes betriebliche Machtgefalle:
wKVP ist 'ne Erfahrung wert und JEDER lebt sie ANDERS.
Ich sag': Einige Mitarbeiter gehen in einen KVP rein und
wissen manchmal gar nicht, was sie da sollen, ja? Einige
Mitarbeiter gehen RICHTIG frohen MUTES rein und sagen so:
SO, wir können vielleicht was bewegen und SEHEN das auch,
dass sie die CHANCE DA bekommen, weil WO gibt's denn sonst
die Chance, in ARBEITSabläufe einzugreifen? ALS MITARBEI-
TER. Als wKLEINERM in Anführung KLEINER Mitarbeiter, ne?
Sie können ihren EIGENEN Prozess optimieren. So sollten
sie's auch machen. Manchmal ist es auch 'ne Erleichterung.
Und ich glaub', viele Firmen, geben da eigentlich NICHT die
MÖGLICHKEIT, sich da so aktiv zu beteiligen, wie [FALLBEI-
SPIEL] jetzt." (MOD04/112)
ne? Wie schon gesagt, die FACHLeute sitzen vor Ort. Das sind
die Leute, die da am RUMSCHRAUBEN sind und am RUMSTECKEN
sind und am MONTIEREN sind. Und DA seh' ich den KURZEN
DIENSTweg. Alle Leute sind BEISAMMEN, DIE Entscheidungen
treffen können oder wo man sich zu Rat (.) wo man RAT bekom-
men kann. Wenn man einmal einen rufen muss. Also, ich seh'
da dieser KURZE DIENSTWEG den RIESENVorteil. M (MOD04/114)
Auch M3 sieht die entgrenzte Siuation als Ausnahme und besondere Gelegenheit
an, gemeinsam zu arbeiten:
Der .kurze Dienstweg" ist keine neue Erfindung, doch soll er unter neuen Vor-
zeichen genutzt werden. Das Umgehen geltender Prozesse und Verfahrensweisen
in der Organisation soll in Form eines Zusammenrückens formalisiert werden.
Das ehemals informelle Kurzschließen und Beschleunigen von Prozessen und
Entscheidungen in Abgrenzung zum offiziellen Einhalten der Entscheidungswege
soll ein formalisierter Prozess werden. Der KVP soll Informalität und Kooperation
organisieren (Bolte/Porschen 2006). Die Ausnahmesituation KVP-Workshop enthält
keine Rituale und Erfahrungen, auf die die Workshop-Mitglieder zurückgreifen
könnten (Bolte/Porschen 2006: 30). In den meisten Fällen wird auch zukünftig
keine Routine entstehen können, da die Zusammensetzung der Gruppe variiert.
Die Anerkennung der PMA als Fachleute und Experten vor Ort erfolgt lediglich
aus strategischen Gründen. Die Bezeichnung des Experten erweist sich als inst-
rumenteller Begriff und als Versuch, die Beschäftigten zu umschmeicheln, damit
sie ihr Erfahrungswissen preisgeben.
Wer entscheidet eigentlich in der von Egalität charakterisierten Arbeitssitu-
ation des KVP-Workshops bei im Grunde hierarchisch differenten Menschen?
Beim Zusammentreffen entgrenzter (Zusammenarbeit über Hierarchie- und
Funktionsgrenzen hinweg) mit begrenzten Strukturen (Entscheidungen treffen
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 273
nur Führungskräfte), entsteht eine "Zone der Unsicherheit". Für die Beschäftig-
ten wird die Antwort auf die Frage diffus, inwieweit sich ihre Handlungs- und
Entscheidungsspielräume im Rahmen der Zusammenarbeit ausgeweitet haben.
Auch die Vorgesetzten wissen aufgrund der neuen Anforderungen nicht, wie
weit der neue Spielraum der Beschäftigten geht und wann sie nun wieder als
Führungskraft gefordert sind. M4 versucht der Unsicherheitszone eine Struktur
zu geben, indem er den Vorgesetzten im Workshop sehr explizit auffordert zu
handeln und zu entscheiden: .DU bist hier CHEF." (MOD04/106)
Die empirischen Ergebnisse haben gezeigt, dass sich mithilfe der Verschränkung
von induktivem und deduktivem Vorgehen vielfaltige Motive und Orientierungen
herausarbeiten ließen. Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse auch
im Hinblick auf die forschungsleitenden Fragen in verdichteter Form dargestellt.
Wie die Ergebnisse zeigen, führen die unermüdlichen Verhandlungen und damit
unaufhörlichen Bewegungen in den KVP-Workshops die Verflechtungssphäre
Organisation in eine relative Beharrung. Sie ist das ungeplante Resultat der
Machtproben und Spielzüge der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Figuration.
Die Verhandlungssituation als Kompromissbildung und als Mix aus benann-
ten und zurückgehaltenen Verbesserungsvorschlägen und Befürchtungen (siehe
Abbildung .Beharrungstendenz" in Abschnitt 6.1.4.2), manövriert die Figuration
in eine relativ stabile .Beharrungstendenz" (Elias 1970/2004: 85), obwohl Verände-
rung das Ziel sein soll. Das gegenseitige Belauern und Misstrauen zwischen beiden
Gruppen führt dazu, dass sich keine Seite aus ihrer .Sicherheitszone" bewegt und
sie infolgedessen einen Status quo der Machtverhältnisse festschreiben. Die "per-
manent fixierte Aufmerksamkeit" (Sennett 2000: 121) auf die Kompromissbildung
zwischen menschengerechter und ökonomisch effizienter Arbeitsplatzgestaltung
und damit ihre Festschreibung als unvereinbare Dichotome, blendet den großen
Zusammenhang aus. Die Gegensätzlichkeit der Sinnsysteme "Arbeitskultur" und
.Untemehmenskultur" als .betriebliche Doppelwirklichkeit" (Weltz 2011) wird
in den Workshops zwar existent, kann als übergeordnetes Problem aber nicht
angegangen werden. In diesem besonderen Fall muss das langfristige Denken
274 6 Empirische Ergebnisse
Die Entscheidung für eine partielle Abarbeitung und damit Eliminierung von
einem Teil der gemeinsam erarbeiteten Einzelmaßnabmen erfolgt unter Ausschluss
der an der Ausarbeitung beteiligten Team-Mitglieder und Workshop-Mitglieder.
Diese Vorgehensweise ist ein Hinweis auf die Größe der Handlungs- und Ent-
scheidungsspielräume der am KVP beteiligten Beschäftigten. Wer in der Ver-
flechtungssphäre Organisation die Spielregeln ändern kann und Zugang zu den
.koordinierenden Kommandopositionen" (vgl. Elias 1970/2004: 156) besitzt, ist
Teil der machtstärkeren Figuration und besitz! die größere relative Spielstärke. Die
Begriffe .anmahnen" (GENEA/47), .Vorschläge" (STEWEBfI763), "gegensteuern"
(BESAA/330) und die (rhetorische) Frage nach der .Ernsthaftigkeit" (GENEA/65)
kennzeichnen die faktische Reichweite der Spielräume, die sich im Rahmen des KVP
für die Beschäftigten eröffnet haben. Sie sind eine verbale Bestimmung begrenzter
Spielräume innerhalb partizipativer Verfahren und bilden damit die Asymmetrie
der Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeberfiguration ab.
Das fehlende Vertrauen aufgrund unechter Partizipation, die vom Fallbetrieb
jedoch als echte Teilhabechance deklariert wird, verhindert, dass sich die Figu-
rationen aus ihren Sicherheitszonen bewegen und damit eine Entwicklung der
Verflechtungssphäre Organisation bewirken.
.. Die Machbarlceit der Scheinwelt versperrt nicht nur den Blick auf die .reale' Welt,
sondern führt auch zu einer Fehleinschätzung des tatsächlich Machbaren [... ] Die
Opfer. die Machtlosen sind letztlich die einzigen. die noch den Durchblick, den Blick
durch die offizielle Scheinwirklichkeit auf die reale Welt haben," (Weltz 2011: 78)
Die .. Machtlosen", wie Weltz sie nennt, haben nicht nur den ..Durchblick", sie ha-
ben wie die Ergebnisse dieser Studie bestätigen, auch als einzige die semantische
Fähigkeit und Freiheit, die Verhältnisse - zumindest in den Gruppendiskussio-
nen - auf den Punkt zu bringen. Das folgende exemplarische Zitat von GENEC
bestätigt diese Erkenntnis noch einmal:
wWeil es ist ja so. Ich weiß, was ich will in dem Workshop
und ich weiß auch, was die Arbeitgeberseite will, ganz
klarer Fall. Da brauchen wir uns nichts vor machen, das
ist eben so." (GENEC/184)
Der Ort, an dem diese Welten aufeinandertreffen, ist der KVP-Worksbop. Die
künstlich-harmonische Situation (vgl. Riesman 1967) der angeordneten egalitären
Zusammenarbeit im Workshop löst bei den Beteiligten ein Störgefühl aus, das sie
reduzieren wollen. Innerhalb der Workshops hat sich der sogenannte "Eskalations-
mittwoch' als Befreiungsschlag erwiesen, an dem Scheinwelt und Realwelt sichtbar
kollidieren, ohne sich dabei aufzulösen. Die hierarchischen und funktionalen
Unterschiede zwischen den Beteiligten, die daroit verbundenen Handlungs- und
Entscheidungsspielräume und die Interessenkonflikte offenbaren sich in dieser
Phase. Die künstliche Situation einer vermeintlichen Egalität weicht zugunsten
einer Verhandlungssituation zwischen konfliktären Arbeitnehmer- und Arbeit-
gebergruppen. Die beiden Welten haben sich nicht aufgelöst, aber der Gruppe
gelingt es nun, das Störgefühl mit der Erarbeitung von Kompromisslösungen auf
niedrigerem Niveau zu verringern. Das übergeordnete Problem, das zu diesem
Zeitpunkt unlösbar scheint, wird zu einem Hintergrundrauschen.
Autokratische Systeme, und im Fallbetrieb zeigen sich Parallelen dazu, nutzen zur
Bestätigung ihres Systems die Herstellung einer Scheinwelt, in der die Rhetorik eine
besondere Bedeutung erhält. Widersprüche und Ambivalenzen werden rhetorisch
verschleiert und indem das System sich auf diese Weise seiner selbst immer wieder
versichert und beschwört, dass alles in Ordnung sei, werden sie zu ..Gefangenen der
Rhetorik" (Weltz 2011: 78). Besonders deutlich wird das Potemkin-Syndrom bei der
Analyse der KVP-Moderatoren, die als Produktionssystemdouble und Agenten der
Fremdverantwortung in erster Linie die rhetorische Fähigkeit beweisen müssen,
die wahren Gründe des KVP zu verschleiern. Sie übernehmen als Abgesandte bzw.
Agenten der Arbeitgeberfiguration die Aufgabe, das System und seine Machtver-
278 6 Empirische Ergebnisse
Den KVP-Moderatoren ist die Fähigkeit des .Umschreibens", wie bereits deutlich
wurde, nicht immer leicht gefallen und sie sind der Herausforderung mit je indi-
viduellen Bewältigungsstrategien begegnet.
125 Trotz oder auch gerade wegen der ausgeprägten Reglementierung des KVP und seiner
Workshops ergaben sich im Fallbetrieb als .Gegengewicht" (Böhle/Bolte 2002: 76)
neue informelle Allianzen und Kooperationen zwischen Arbeitgeber. Arbeitnehmer
und Betriebsrat, um langwierige formelle Prozesse und Widersprüche zu überwinden.
Diese ungeplante Folge ist ein Beispiel für das von Elias beschriebene dynamische
.Spannungsgefüge" (EHas 1970/2004: 142), das mal kooperativ und mal konlliktär
sein kann.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 279
126 Vertrauen im Sinne eines Wissens. wie sich der andere verhält.
280 6 Empirische Ergebnisse
aus diesem Grund auf die Kompromissbildung in den Verhandlungen und kann
das Störgertihl, ausgelöst durch die betriebliche Doppelwirklichkeit, zwar nicht
beseitigen, aber mildem.
Der Doppelcharakter der Verbesserungsmaßnahmen bzw. der .nicht unliebsame
Nebenetfekt" (Minssen 1999: 133) gemeinsamer Schnittmengen kann bei den Be-
schäftigten ebenfalls ein Störgefühl auslösen.•Wege sind Zeit" (STEWEBf/494) stellt
eine Produktionsmitarbeiterin fest und so kann die Arbeitserleichterung, weniger
laufen zu müssen, im selben Moment zu Effizienz führen und Fertigungszeit und
damit Personal reduziert werden. Mit der überlegung .Lauf ich lieber ein paar
Meter mehr oder sag' ich das jetzt?" (ebd.) bremsen sich die am KVP beteiligten
Produktionsmitarbeiter bei der Nennung von Verbesserungsideen und wägen mit
einer beständigen Rück- und Vorausschau die Folgen ihrer Handlungen ab. Das
Störgefühl, so lässt sich zusammenfassen, wird dadurch ausgelöst, aktiv an der
Erzielung von Arbeitserleichterungen und im selben Moment, allerdings ungeplant
an der eigenen Leistungsintensivierung beteiligt zu werden.
Wenn die Beschäftigten ihre Verbesserungsideen im Hinblick auf den damit
erbrachten Beitrag zur Wertschöpfung überprüfen, ist dieses Verhalten ein Indiz
für das Eindringen der Marktlogik in die Produktion. Als abhängig Beschäftigte
sollen sie wie Unternehmer agieren und eigene Ziele in Einklang mit betrieblichen
Zielen bringen. Eigene Interessen und ihre Vertretung als das Wahrnehmen von
Teilhabechancen werden verdeckt und so sind die mit den betrieblichen Zielen
abgestimmten Interessen inauthentisch und fübren zur Entfremdung des eigenen
Wollens (vgl. Senghaas-Knobloch 2008: 114). Die kognitive Dissonanz, die daraus
entsteht, müssen die Beschäftigten selbst bewältigen. Im untersuchten Fallbetrieb
reflektieren die Beschäftigten die Forderungen des Unternehmen, wertschöpfende
Verbesserungsideen zu präferieren und gestehen ihnen zu, dass sie diese betriebs-
wirtschaftliche Sichtweise nachvollziehen können, aber sie nur unter bestimmten
Bedingungen bereit sind, sich darauf einzulassen. In den Verhandlungen der
KVP-Workshops wird diese Haltung der Beschäftigten deutlich. Sie lehnen Stel-
lenabbau im direkten produktiven Bereich zum Erhalt der Wettbewerbsfahigkeit
nicht generell ab, aber sie halten dem grenzenlosen Rationalisierungsprozess ohne
humane Aspekte eigene Bedingungen entgegen (vgl. GENEC/209, GENEE/106)
und begegnen einer totalen Vereinnahmung des Selbst mit ihrer .oppositionellen
Subjektivität" (Dörre et al. 2011: 46f.).
Auch für die betrieblichen KVP-Moderatoren oder gerade für sie in ihrer
Mehrfachrolle als Agenten der Arbeitgeberfiguration, Unterhändler und/oder
Verhandlungsführer ergeben sich kognitive Dissonanzen im Rahmen betrieblichen
Veränderungsmaßnahmen. Sie formulieren in ihrer Aufgabe als Moderator keine
eigenen Sichtweisen oder Kritik, sondern re-formulieren die aufzentraler Ebene
282 6 Empirische Ergebnisse
verfassten Ziele und Absichten des Unternehmens. Sie vermitteln ein Konzept, bei
dem sie selbst widersprüchlich sind. Besonders beim Aspekt der Leistungsverdich-
tuog als Folge des KVP treten Inkompatibilitäten auf. Mit Rhetorik versuchen sie
die Leistungsverdichtung als Zweck der KVP-Workshops zu verschleiern, obwohl
im Grunde allen Beteiligten klar ist, dass es quasi ausschließlich um Produktivität
geht. Sie erhalten auf diese Weise die Fassade einer realen Partizipation aufrecht.
Der KVP als Legitimationsfassade lässt auch die Rolle des Moderators zum Trugbild
werden und ist ein Grund für die auftretenden Dissonanzen bei der Bewertung der
Moderatorenrolle im Fallbetrieb, die zwischen dem objektiven .. gefühlt wichtig"
und dem subjektiven "nicht wichtig genommen" (MODIBE/536+538) schwankt.
Die KVP-Moderatoren bewegen sich in einem Tabufeld, in dem gilt: nur den-
ken, nicht aussprechen. Um die Dissonanz zu ertragen oder sie herabzumindem,
versuchen sich die Moderatoren selbst zu überzeugen, indem sie Ambivalenzen
rhetorisch begradigen, wie das folgende Beispiel von MODIBE zeigt, und werden
zu Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik (vgl. Weltz 2011: 78):
"Aber das ist qenau der punkt, bei dem man ansetzen muss,
dass man den Leuten klar macht, sie müssen nicht mehr
leisten, sondern nur (.) SINNvollere Tätigkeiten ausführen,
statt sich mit Verschwendung aufzuhalten. u (MODIBE/43)
Die KVP-Moderatoren sind damit beschäftigt, eigene Gefühle und Interessen zu-
gunsten betrieblicher Absichten zu verbergen und ihre Emotionen zu kontrollieren.
Der KVP-Moderator erhält die Aufgabe des gleichbleibend gut gelaunten Stim-
mungsbarometers und trägt auf diese Weise zum Wohlbefinden der Teilnehmer bei
(vgl. Hochschild 2006: 55). Auf diese Weise sichert er einen erfolgversprechenden
Verlauf während einer Workshop-Woche. Negative Gefühle werden unterdrückt
und der KVP-Moderator wird zum Schauspieler (vgl. MOD03175). Er orientiert
sich an den Bedürfnissen anderer und entfremdet sich auf diese Weise von den
eigenen Gefühlen.
Eine weitere Bewältigungsstrategie zur Reduzierung der Dissonanz, zum Kon-
zept selbst widersprüchlich zu sein, ist die Herstellung der Distanz zwischen den
Rollen .ich" und .Moderator", wobei das "ich" emotional und die Moderatorenrolle
eher emotionslos gestaltet werden soll. Die beschriebenen subjektiven Leistungen
"Emotionskontrolle" und »Distanzherstellung" werden vom Unternehmen still-
schweigend hingenommen und erfahren keine Anerkennuog (da sie die Scheinwelt
bedrohen würde) und so empfindet der Moderator die Trennung zwischen "ich"
und »Moderator" als relativ entfremdend. Genauso ist es den KVP-Moderatoren
im indirekten Bereich im Fall ihrer Rekrutierung ergangen.
6.6 Verdichtung der Ergebnisse 283
für seine Tätigkeiten zu erfahren ist aber immer auch auf andere gerichtet. Die
KVP-Moderatoren bewältigen diese Situation, indem sie sich einerseits auf die
heterogen zusammengesetzte Workshop-Gruppe konzentrieren und sich dort
Anerkennung in Form von Bewunderung erarbeiten und andererseits auflallig
oft die Moderatorentätigkeit als .Spaß" betiteln (vgl. Voswinkel2002: 79f.). Vor-
aussetzung ist allerdings die erfolgreiche Nutzung der Neutralitätsfunktion und
die erfolgreiche Durchführung eines Workshops; erfolgreich bedeutet dann, zur
Zufriedenheit aller Workshop-Teilnehmer arbeiten. Das Neutralitätskonzept, auch
wenn es faktisch eine Illusion ist, bildet den Versuch, von der Workshop-Gruppe
eine Anerkennung zu erlangen. Schafft ein Moderator es, die beiden konfliktären
Verhandlungspartner zur Zusammenarbeit und zu Kompromisslösungen zu
bringen, führt er diesen Erfolg auf seine Neutralitätsleistung zurück. üb er dabei
dem Prinzip a) oder b) folgt, ist nicht wichtig. Ausschlaggebend ist der erfolgreiche
Workshop mit "irgendwie"-Ergebnissen.
In diesem Zusammenhang ist oft die Kontrolle und damit Entfremdung eigener
Gefühle verbunden, wenn die erfolgreiche Durchführungvon der guten Stimmung
des Moderators abhängig ist. Arlie Hochschild spricht von "Gefühlsarbeit", die
dazu dient, dass es den anderen dadurch besser geht (vgl. Hochschild 2006: 135).
Die Entfremdung von eigenen Emotionen führt dann dazu, dass sie in ihrer Rolle
als KVP-Moderator nicht authentisch sind.
Sachbearbeiters bzw. Fachreferenten eine E-Mail mit der Information, dass sein
Mitarbeiter in Verzug sei. Die Bearbeitung der Verbesserungsmaßnahmen soll
mithilfe einer Datenbank unterstützt werden, die von den eingetragenen Verant-
wortlichen eine zeitlich begrenzte Selbstorganisation verlangt. Die ,.Anweisung"
und ihr Bearbeitungszeitraum erfolgt in entpersonalisierter Form als E-Mail und
ist das Resultat der Verhandlungsergebnisse einer ganzen Worksbop-Woche. Die
virtuelle Anweisung trifft auf traditionell fordistische und damit hierarchische
Strukturen. In dieser Zone orientieren sich die Sachbearbeiter in erster Linie an
der ihnen bekannten und etablierten Unternehmenskultur''' und können sich der
Erledigung dieser Aufgaben entziehen, solange es keine Anweisung von "oben"
gibt. Selbstverantwortung wird bei ihnen nicht aktiviert.
Der Experimentierraum KVP-Workshop lässt zu. dass sich nun auch Produk-
tionsmitarbeiter mit Fragen der quantitativen Arbeitsplanung auseinandersetzen.
Der anomische Zustand einer inhaltlichen und funktionalen Entgrenzung führt
dann zu einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung. ohne dass eine
entsprechende Integration und Koordinierung erfolgt. Selbstorganisation trifft auf
fordistische Arbeitsweisen und die Resultate aus den KVP-Workshops laufen ins
Leere. wenn sie nicht fremd kontrolliert werden. Der ambivalente Auflösungsprozess
des Fordismus gelingt demzufolge nur auf fordistische Weise.
In einem Betrieb mit starker Fremdregulierung innerhalb hierarchischer
Strukturen reagieren Beschäftigte auf die geforderte Selbstregulierung im Rahmen
neuer Partizipationskonzepte in unterschiedlicher Weise. Entweder sie begegnen
ihr mit Verunsicherung. weil unklar ist, welches Handeln belohnt wird. oder sie
rufen in unsicheren Situationen nach hierarchischer Führung bzw. sie drängen
regelrecht auf Wiederherstellung einer starken Führung (vgl. Elias 1987/2003: 243).
also einem Vorgesetzten der .von oben mal Druck" (GENEF/204) ausübt. In der
Forderung nach äußerer Kontrolle der Abarbeitung zeigt sich der noch immer
gültige traditionell fordistische Habitus.
Das in MODIB erwähnte .Steuerungssymbol" (MODlBB/311 +313) kennzeichnet
zum Beispiel einen erwünschten (personifizierten) Steuermann und Struktur-
geber, einen Haltgeber für eine neue und unbekannte Situation, in der sich die
KVP-Moderatoren der Verwaltung plötzlich wiederfinden. Ein Zusammenschluss
zur institutionalisierten Moderatorengruppe ist für die Befragten nur dann vor-
stellbar, wenn eine Person die Koordination und Integration übernimmt. In der
127 Vgl. dazu Stefan Kühl, der auf den Strukturkonservatismus durch Selbstorganisation
hinweist: ..Das Dilemma der Selbstorganisation ist, dass die selbst organisierten Einheiten
sich vorrangig an den bekannten fremd organisierten Strukturen im Unternehmen
orientieren." (Kühl 2000: 132f.)
286 6 Empirische Ergebnisse
Fixierung auf ein Steuerungssymbol bemerken die Moderatoren jedoch gar nicht,
dass sie sich bereits in der Entwicklung zu einem emergenten Kollektiv befinden.
Die selbstregulierte Vereinigung zu einer Moderatorenfiguration findet automatisch
und beinahe unbemerkt statt.
für Schritt aus, wie weit sie unter den neuen Voraussetzungen gehen können.
Gerade in den KVP-Workshops wird die Unsicherheit dentlichö dort bewegen
sich die Beteiligten zwischen den Polen Frernd- und Selbstorganisation hin und
her. Das Zusammentreffen entgrenzter Strukturen als direkte Zusammenarbeit
hierarchisch und funktional differenter Menschen mit begrenzten Strukturen als
fordistische Organisation, in der nur die Vorgesetzten entscheiden, lässt also einen
Raum der Unsicherheit entstehen, der von den Beteiligten bewältigt werden muss.
Die betrieblichen KVP-Moderatoren sind über »Gruppen, die aus dem Ruder
laufen" und »Eigendynamik" (MODIBB/821+823) entwickeln, besorgt. Gemeint
ist damit eine Workshop-Gruppe, die sich nicht mehr zielführend steuern bzw.
managen lässt und eine Dynamik entwickelt, die gleichbedeutend mit Selbstorga-
nisation ist. Selbstorganisation beunruhigt die KVP-Moderatoren aufgrund der ihr
immanenten Kontingenz ganz generell, aber gerade auch im Fall einer Partizipation,
die sich in einer unter Schutz stehenden Scheinwelt vollzieht. Selbstorganisation
soll überwacht und damit eingegrenzt werden, damit die gewährten Spielräume
im Sinne des Unternehmensziels genutzt werden können. Doch nicht nur für die
Beschäftigten offenbart sich der KVP-Workshop als diffuser Handlungs- und
Entscheidungsspielraum. Auch die Vorgesetzten wissen aufgrund neuer Anfor-
derungen nicht, wie weit der neue Spielraum der Beschäftigten geht und wann sie
nun wieder als Führungskraft gefordert sind. Ein KVP-Moderator versucht, der
Unsicherheitszone eine Struktur zu geben, indem er den Vorgesetzten im Workshop
sehr explizit auffordert zu handeln und zu entscheiden, was im selben Moment
auch seiner Neutralitätswahrung als Moderator dient (M4).
Im Rahmen der Maßnahmenabarbeitung drängen die Beschäftigten, auf Wie-
derherstellung einer starken Führung. Ihnen wird klar, dass die Anweisung, die
eine Datenbank in Form von E-Mails generiert, allein nicht genügt und fordern
den frerndbestimmten »Druck von oben".
Selbstorganisation gilt als Anspruch an die Beschäftigten, solange sie sich
betrieblichen und nicht eigenen Werten und Normen verpflichtet. Bemerken die
Vertreter der Arbeitgeberfiguration im KVP-Workshop, dass sich die Handlungen
der Vertreter der Arbeitnehmerfiguration an der Welt des Machbaren und an eigenen
subjektiven Ansprüchen an Arbeit orientieren, weicht das Verhandlungsprinzip dem
Befehlsprinzip. Die Arbeitgeberfiguration verändert dann die Spielregeln oder setzt
sie bei Bedarf ganz aus. Deutlich wird dieses Handeln am Beispiel der nur partiell
abgearbeiteten Maßnahmenblätter. Auf diese Weise kann der Mix aus Frernd- und
Selbstorganisation bzw. fordistischer und postfordistischer Produktionsweisen
strategisch genutzt werden. Die Anforderung (Selbst- oder Fremdorganisation),
die die größte Aussicht auf Erfolg im Sinne betriebswirtschaftlicher Effizienz hat,
wird bevorzugt und gilt für diesen Moment. Selbstorganisation ist demnach eine
288 6 Empirische Ergebnisse
Auch wenn sich mit einer dynamischen prozesssoziologischen Studie nur "offene
Antworten" ergeben und sich gegenwärtige Ereignisse aufgrund ihrer zeitlichen
Nähe in ihrer Analyse eher kompliziert und unübersichtlich erweisen, lassen sich
Ergebnisse formulieren, die Grundlage für weitere Forschung sein können.
Das Nebeneinander oder die Gleichzeitigkeit von alten und neuen Anforderun-
gen im organisationalen Funktionssystem ist für den Einzelnen nur zu bewältigen,
indem er sich in dem einen Moment für diese eine Option entscheidet, denn wie
Gabor Steingart feststellt, ist .die Freiheit der Gleichzeitigkeit [... ] die einzige
Freiheit, die der Mensch nicht besitzt" (Steingart 2011: 137). Die Gleichzeitigkeit
beschreibt die Fülle von Handlungsoptionen, die sich aus dero komplexen System
der Produktionsweisen ergibt, das seit Langem keiner linearen, sequenziellen
Entwicklung mehr folgt. Auf die Logik der .Ablösung des Alten durch das Neue"
folgt das neue .sowohl-als-auch«-Paradigma des modemen Produktionssysteros.
So wie sich das Konzept des KVP im Fallbetrieb darstellt, zielt die Freisetzung
von Subjektivität in erster Linie auf die ",Objektivierung' des arbeitsorganisato-
risch freigesetzten ArbeitshandeIns" (Böhle 2003: 128). Gemanagte Partizipation
will Informelles formalisieren und Kontingenz vermeiden. Die Freisetzung von
Handlungsspielräumen soll betrieblichen Zielen folgen und die Beschäftigten
sollen das Transformationsproblero quasi selbst lösen. Dem steht jedoch die
.oppositionelle, rebellische Subjektivität" (Dörre et al. 2011: 46f.) entgegen, die
die befragten Beschäftigten als ein .Gegenhalten" gegen die ausschließlich öko-
nomischen Interessen beschreiben.
Ist Subjektivierung eine Chance oder ein Risiko? Ist der moderne Mensch
nicht eher einer "Bilanzbetrügerei" aufgesessen, die "Zumutungen als Gewinne
ausweist" (Steingart 2011: 137)? Freiheit ohne Sicherheit, Selbstbestimmung ohne
Geborgenheit und die daraus resultierende Schwächung der kollektiven Inter-
essenvertretung "nimmt den Subjekten jenen sicheren Rahmen, der notwendig
wäre, um Marktrisiken als positive Handlungsanreize entschlüsseln zu können"
(Dörre 2006: 4). Die Chancen im Rahmen neuer Beteiligungskonzepte, also die
Nutzung erweiterter Handlungsspielräume im Sinne einer Selbstermächtigung,
finden ohne entsprechende Integration und Koordinierung statt. Der Indivi-
dualisierungsschub einerseits und die auf Selbstverantwortlichkeit basierenden
neuen Beteiligungskonzepte als fortschreitende funktionale Differenzierung
andererseits fehlen die Integrationsformen. Zwar kommt es zu den von Friehe
und Lobo beschriebenen .frei assoziierten" (Friebe/Lobo 2006: 277) Kollektiven,
doch bestehen diese zeitlich labilen, aber in ihrer Verbindlichkeit untereinander
relativ stabilen Integrationsformen ohne rechtliche Basis. Ohne Integration und
Institutionalisierung der differenzierten Funktionen, fehlen den Beschäftigten die
notwendigen Spielräume, die ihre relative Spielstärke im Organisationsgeflecht
bestimmen. Wenn aber die Beschäftigten zum Gestalter sowie Ausführenden
der eigenen Arbeit würden, wäre das die notwendige Funktionsintegration der
zunehmenden Funktionsdifferenzierung.
Die beharrliche Dynamik der immer wieder neu auszuhandelnden Arbeitsbe-
dingungen ist eine Herausforderung für die Beschäftigten. Die Reorganisation in
Permanenz und das .Tempo unserer Zeit" (Elias 1939/1997, Bd. 2: 348) verlangen
erhöhte Wachsamkeit und Präsenz der Menschen. Die Steigerung der Verfallraten
gültiger Verhaltensanforderungen, Arbeitsbedingungen und Produktinnovationen
sind das Indiz für die Verkürzung des Zeitraums der Gegenwart: was eben noch
modern war, gilt im nächsten Moment als veraltet (vgl. Rosa 2005: 133). Der mo-
derne Arbeitsmensch verhält sich wie Albert Camus' Sisyphos (vgl. Camus 2000),
der in ständiger Bewegung ist, ohne jemals sein Ziel zu erreichen.
Norbert Elias hat bereits im Zusammenhang mit der Periode der Industria-
lisierung beschrieben, dass funktionale Differenzierung und Integration zeitlich
divergent sein können. Die Koordination und Integration hinkt auch gegenwärtig
wieder der beschleunigten Funktionsdifferenzierung hinterher. Erschwerend
kommt hinzu, dass die Integration immer weniger von staatlichen Monopolen,
sondern von den Menschen als .Integrationsagenturen" (Degele 1999) selbst
übernommen werden.
Dieser Prozess führt dazu, dass die kollektive Interessenvertretung in Gestalt
von Betriebsrat und Gewerkschaften vor der beinahe unmöglichen Herausforde-
rung steht, die einzelnen Interessen der "Integrationsagenturen" zu bündeln. Die
Definition der Anforderungen an die eigene Arbeit wird von den Beschäftigten
individuell definiert und behindert weitgehend ihre Bündelung auf betrieblicher
sowie auf gewerkschaftlicher (gesellschaftlicher) Ebene (vgl. Sauer 2011). Minssen
konstatiert dazu: "Die Vereinheitlichung von Interessen durch Gewerkschaften wird
also angesichts der Heterogenisierung der Interessenlagen zusehends erschwert."
(Minssen 2006: 177) Und Dieter Sauer sieht darin eine .radikale Wende in der
7 Schlussbetrachtung und Ausblick 291
Arbeitspolitik" (Sauer 2011: 241, nämlich das .Ende der Stellvertreterpolitik" (ebd.1,
die ftir ihn nicht bedeutet, dass die kollektive Interessenvertretung ausgedient hat,
sondern dass sie sich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen klar werden und
neuer Möglichkeiten bedienen muss. Die Bewertung der neuen Bedingungen und
die daraus abzuleitenden Möglichkeiten fallen schwer und müssen in aktuellen
gesellschaftlichen, (gewerkschafts-1politischen und wissenschaftlichen Diskors er-
arbeitet werden. Diese Arbeit liefert einen solchen Beitrag. Die Integrationsfunktion
des deutschen Modells der Mitbestimmung verliert auf den ersten Blick ihren Sinn.
Ein zweiter Blick wird notwendig, ihre Koordinations- und Integrationsfunktion
neu zu bestimmen und zu modifizieren.
Der Fallbetrieb befand sich zum Zeitpunkt der Studie in einem .Unruhezustand"
und somit in einer idealen Situation für empirische Untersuchungen. In Zeiten
betrieblicher Restrukturierungen werden Selbstverständlichkeiten infrage gestellt
werden und die Beschäftigten beginnen sich und ihre Situation zu reflektieren.
Die Einftihrung des KVP erwies sich als .brennendes Thema" auf allen Organi-
sationsebenen und konnte als gemeinsames Interesse zwischen Forscherin und
Akteuren der Organisation formuliert werden.
Arbeitshandeln findet in der Balance zwischen Fremd- und Selbstzwängen statt
und tendiert gegenwärtig und heute mehr denn je zu solchen Zwängen, die wir
auf uns selbst ausüben. Die Selbstzwangapparatur der Menschen war noch nie so
ausgeprägt wie heute. Diese Studie zeigt die figurations- und prozesssoziologische
Dimension der Entwicklung von Fremd- und Selbstzwängen unter flexibilisier-
ten Bedingungen auf. Die Anwendung des rekonstruktiven Analyseverfahrens
ermöglicht einerseits die Rekonstruktion angewandter Bewältigungsstrategien
und Abwehrmechanismen im Hinblick auf die Gestaltung der besonderen Lage
zwischen Optionen und Anforderungen und andererseits den Blick auf sich wan-
delnde Fremd- und Selbstkontrollen. Mit der Anwendung von Analyseheuristiken,
die auf Veränderungen spezialisiert sind, ist es möglich in einer figurations- und
prozesssoziologischen Weise, dynamische Veränderungen zu erfassen und zu
analysieren.
Mit dem Blick auf die Disziplinierungsgeschichte der Fabrikarbeit verfolgt die
Arbeit das sich wandelnde Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten.
Seit den 1970er Jahren nimmt die automatische Autoritätsannahme ab und die
Qualität der Handlungen muss gerechtfertigt werden. Die Studie belegt, dass
aus diachroner Sicht aus Befehl Verhandlung wurde und zeigt die zunehmende
gesellschaftliche Selbstkontrolle im Verlauf der Menschheitsgeschichte auf, die
eben nicht auf den sozialen Ort der Fabrik beschränkt ist. Diese Sichtweise öffnet
die auf Organisationen beschränkte Forschung, die einseitig davon ausgeht, dass
es sich bei den Selbstorganisationsfahigkeiten und ihrer betrieblichen Nutzung
292 7 Schlussbetrachtung und Ausblick
um eine punktuelle Erfindung des Managements handelt und auf diesen Ort be-
schränkt bleibt. Der aktuelle Zivilisierungsgrad lässt Sozialtechniken zu, die auf
.Selbst-Fähigkeiten" beruhen und so beweisen die Manager, dass sie die aktuellen
Verhältnisse korrekt analysiert haben und im Verlauf einer Experimentierphase
den richtigen Einsatz einer Sozialtechnik zur richtigen Zeit der menschlichen
Zivilisation vollzogen haben. Mit Elias' Verflechtungsgedanken. also der Wech-
selwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, lassen sich die Veränderungen
in den Fabriken gesamtgesellschaftlich analysieren und verstehen.
Ausblick
Beispiel-Leitfaden .GENEN
Zielgruppe 1, Produktion, mit Workshop-Teilnahme
Frage Bemerkuna: Indikator
Was ist KVP eigentlich fiir Eröffnungsfrage
ouchl
Subj_rioruog und Merkposten
Entgrenzung
Was wird in einem Diese Frage zielt darauf ab. herauszu- Kommunikationsf"a1tigkeit.
KVP-Workshop von euch finden. ob typische Subjekt-Qualitä- Interaktionen. Leistungsan-
abverlangt? ten genannt ~rden. forderung, Verantwortung,
welche Fähigkeiten braucht Interpretationsleistung,. Qua-
ihr? lifikation
Wie könnt ihr euch in dieser Hier möchte ich herausfinden, wie dieVerantwortung. Kommun!-
Woche einbringen? Einstellung zur Partizipation am KVP kationsfähigkeit, Motivation,
ist und ob sie stattfindet. Engagement, Entfaltung und
Selbstverwirklichung,. Selbstbe-
stimmung
Welche Erwartungen Entfaltung und Selbstverwirkli-
hattet ihr an den Workshop? chung, Anerkennung, Partizipa-
Wurden die Erwartungen in tion. Selbstbestimmung
dieser Woche erflilltr
Hat man Euch nach Euren Anerkennung. Partizipation,
Erwartungen oder Befürch- Selbstbestimmung, Werte
tungen gefragt?
Wie ist die Phase direkt nachWas macht man mit den Fähigkeiten KommunikationsIa1tigkeit,
einem Workshop, speziell für an der Linie. die man im Workshop so Motivation und Engagement,
euch und eure Arbeitssitu- dringend gebraucht han Partizipation
ation? Kommunikationsfihigkeit, Motivati-
on und Engagement. Partizipation
Wurdet ihr auf eigene ID.er möchte ich die Motivation fiir Verantwortung. Motivation und
Initiative Workshop-Teilneh- eine Teilnahme herausfinden. Engagement, Anerkennung.
mer oder seid ihr bestimmt Partizipation. Selbstbestim-
wonknl mung, Identifikation
Wie sehr wollt ihr penönlich Subjekte versuchen Grenzen zu Partizipation. Motivation BI:
in den KVP Prozess mit setzen. wenn die Tauschrelationen Engagement. Verantwortung.
einbezogen sein? Wo sagt ihr: nicht stimmen und sie zu .ehrver- Zwang. Selbstbestimmung,
Bis hi.erhin und nicht weiter? einnahmt werden ohne eine adäquate Werte, Entfaltung &: Selbstver-
Entlohnung. wirklichung, Identifikation,
Freiräume, Sinn-Ansprüche und
Bedürfniase an die Arbeit
Beispiel-Leitfaden .GENE" 297
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