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Festschrift: Feier Des Zweihundertjahrigen Bestehens
Festschrift: Feier Des Zweihundertjahrigen Bestehens
ZUR
MATHEMATISCH-PHYSIKALISCHE KLASSE
SPRINGER- VERLAG
BERLIN . GaTTINGEN . HEIDELBERG
1951
ISBN 978-3-540-01540-6 ISBN 978-3-642-86703-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-86703-3
Ihre Entstehung ist völlig anderer Art, als die aller verwandten Körper-
schaften. Ihre Entwicklung führt sie, im ersten Halbjahrhundert vermöge
der Natur der Sache, von da ab im großen gemeinsamen Strom des geistigen
Lebens, immer mehr in die Gleichheit des Wesens und schließlich sogar in
die Gemeinschaft der Arbeit mit den Genossinnen ihres Weges hinein.
1 TROELTSCH: Rist. Z. 86 (1901); jetzt Ges. Sehr. IV, 805.
VI RUDOLF SMEND:
Ihre Gründung ist durchaus eigener Art. Sie ist nicht hervorgegangen
aus irgendeiner Verzweigung jenes genossenschaftlichen Gefälles, aus dem
die gelehrten Körperschaften der Spätrenaissance hervorgegangen sind, deren
sich dann die staatliche Führung allenfalls nachträglich bemächtigte, so wie
aus der Londoner Society alsbald die Royal Society wurde - eines Gefälles,
das immerhin auch die Bildungen des 18. Jahrhunderts noch zum guten Teile
trägt. Sie ist auch nicht hervorgegangen aus jenem fürstlichen Bestreben,
dem LEIBNIZ seine Akademiepläne überall anregend einordnete, jener von
TRoELTscH nicht ganz gerecht als fürstliche Willkür gekennzeichneten Ten-
denz des barocken und spätbarocken Fürstentums, seine Repräsentation
politisch-geistlicher Totalität durch eine fürstliche Akademie abzurunden --
einem Bestreben, dessen klassisches Ergebnis die Berliner Gründung von
1700 ist. Sie ist nicht getragen von bestimmten politischen und kulturpoliti-
schen Absichten, wie die Akademie MAXIMILIAN JOSEPHS, und sie war umge-
kehrt nie der Gegenstand politischer Befürchtungen, wie die Akademiepläne
im METTERNIcHschen Österreich. Sie ist endlich auch nicht getragen von der
großartigen Universalität des Geistes, wie sie oich als LEIBNIzsches Erbe in ver-
schiedenen Brechungen anderswo auswirkte, jener Universalität, zu der etwa
das Berliner Gründungsdokument vom 11. Juli 1700 sich feierlich bekennt.
Zwar klingen alle diese vorgefundenen Motive in den für die Göttinger
Gründung anregenden oder gar maßgebenden Entwürfen an. Aber sie treten
in MÜNCHHAUSENS Händen alsbald unter das besondere Gesetz seiner Göt-
tinger Gründung überhaupt, der Universität, von der die Zeitgenossen mein-
ten, sie solle nicht in dynastischer Unwahrheit Georgia Augusta, sondern als
seine, wie es in Hannover hieß, "schöne Tochter" Gerlaca Adolfa heißen.
Die vierzehn Jahre nach der Universität begründete Königliche Societät der
Wissenschaften zu Göttingen sollte keine Trägerin monarchischen Prestiges
oder höfisch-gesellschaftlichen Pomps, aber auch nicht die Trägerin irgend-
eines allgemeineren geistigen Anspruchs sein. In MÜNCHHAUSENS Planung
ist die Societät ein Universitätsinstitut, freilich besonderer Art und ohne
jedes Vorbild in den älteren Hochschulgründungen. Der Societät sollte ein
ganz kleiner Ausschnitt aus dem Lehrkörper angehören, der in der gegen-
seitigen Anregung und Kontrolle der Societät wissenschaftlich arbeiten, for-
schen sollte, Decouverten machen, wie man gleichzeitig in Berlin von den
Akademikern sagte - eine Aufgabe, die damals grundsätzlich nicht die des
Professors, sondern die des grundsätzlich nicht eine Professur bekleidenden
Akademikers war - eine Aufgabe, die MÜNCHHAUSEN den Mitgliedern der
Societät zum allgem'einen Besten, vor allem aber zur Hebung des lustre der
Universität stellte.
So kümmer1ich die Anfänge der Societät, so trostlos ihre ersten Jahrzehnte
vielfach waren, so hat man doch alsbald in dieser, im persönlichen und sach-
lichen Aufwande unsäglich sparsamen Gründung den ~igentlichen Vorzug
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. VII
von Göttingen gesehen. "Sie (die Göttingischen Gelehrten Anzeigen und die
Societät) haben der Universität den größten Ruf und einen Vorzug vor allen
ihren Schwestern verschaffet", so urteilt GEORG BRANDES 17641, und dies
Urteil steigert sich bis zur vorbildlichen RoIIe Göttingens gerade unter diesem
Gesichtspunkt der Personalunion von Universität und Akademie in FRIED-
RICH AUGl:ST WOLFS Berliner Universitätsdenkschrift von 1807: "Daß nach
und nach auch einzelne tiefer gelehrte oder entdeckende Universitätslehrer
Academiciens werden, dagegen ließe sich wohl nichts einwenden, und hier
wäre bloß das Exempel von Göttingen (als das einzige in Europa) zu prüfen
und vielleicht zu befolgen. Denn die dort neben der Universität bestehende
Societät der Wissenschaften ist dasselbige nach HALLERS herrlichem Plane,
als was hier die Akademie nach LEIBNlzens war oder sein sollte". Dieselbe
RoIIe spielt Göttingen in seinem Reformplan für die Berliner Akademie,
deren "neues Leben" er sich "mehr nach Art der Göttinger Societät als der
ausländischen Akademien" denkt 2 •
Es ist aIIerdings nicht nur das Verdienst MÜNCHHAUSENS, dieses politi-
schen Merkantilisten und hochschulpolitischen Rationalisten, daß aus diesem
seinem Erziehungsinstitut für Professoren und Werbungsinstitut für die Uni-
versität eine Körperschaft wurde, die zumindest in einem so großen Sinne
verstanden werden und wirken konnte. Ein Größerer als er, ALB RECHT VON
HALLER, übernahm in seinem Auftrage das Präsidium der Societät. Zwar
hat er es nur zwei Jahre tatsächlich geführt, von der Gründung der GeseII-
schaft 1751 bis zu seiner Rückkehr nach Bern 175}. Und sachlich schien er
ihr nur sehr begrenzte und nüchterne Aufgaben zu stellen: "So eingeschränkt",
so faßt HEYNE noch einmal im Rückblick kurz vor seinem Tode zusammen,
"MÜNCHHAUSENS Absichten bei der Anlegung seiner neuen Universität Waren,
so sehr war es HALLER bei der Stiftung der Göttingischen Societät der Wissen-
schaften"3. Trotzdem verdankt die Gesellschaft ihm, bis auf die Gründung,
sozusagen alles. Der erste Gelehrte im damaligen Deutschland, gab er mit
seinem Namen und seinem formell bis zu seinem Tode 1777 fortdauernden
Präsidium der Gesellschaft den höchsten wissenschaftlichen Geltungsanspruch.
In der sachlichen Mächtigkeit seines an LEIBNIZ gemahnenden universalen
Gelehrtenturns gab er der GeseIIschaft sachlich eine Universalität und Tiefe
ihrer Zwecksetzung und ihres dauernden Gehaltes mit, wie sie ihr keine
1 FRENsDORFF, F.: Eine Krisis in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu
Göttingen. Nachrichten von der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen 1892: S. 43.
2 HARNACK, AD.: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften,
Bd. I/2, 1900, S. 566f. - Dieser Geltung der Göttinger Societät, nicht der 'WoLFschen An-
regung entsprach die Kommission für die Reform der Berliner Akademie, wenn sie 1810 ein
Gutachten von HEYNE über die Göttinger Verhältnisse erbat, das auf ihr eigenes Reform-
werk unverkennbar maßgebend eingewirkt hat, a. a. O. S. 601 Anm. 1, und FRIEDRICli LEO,
HEYNE, in der Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der KönigÜchen, C;;~~ellschaft
der Wissenschaften zu Göttingen , 1901, S. 205 ff. .'
3 Bei LEO a. a. Ü. S,; 206, abweichend von A. H. L. HEEREN, CHRISTI AN GOTTLOB HEYNE,
1813, S.119. '
VIII RUDOLF SMEND:
formelle Satzung hätte geben können. Und aus der zähen Wucht seiner un-
geheuren Arbeitsleistung, vermittelt durch viele Kanäle, seine Briefe, seine
Abhandlungen, die Erschließung des zeitgenössischen Gedankenguts in seinen
zahllosen Beiträgen zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen!, - einer im
ganzen rätselhaften Wirkungskraft rührte der Anstoß her, der sich in den
folgenden Jahrzehnten als zähe Lebenskraft der Gesellschaft bewährte, über
ihre Kinderkrankheiten akuter und chronischer Lebenskrisen hinweg.
An solchen Krisenzeiten fehlt es im ersten halben Jahrhundert der Göt·
tinger Akademiegeschichte nicht 2 • Der Kleinheit der Verhältnisse entspre-
chend verlaufen sie anders als in der Berliner oder der Münchener Akademie
des 18. Jahrhunderts: der Personalstand schmilzt gelegentlich verhängnis-
voll zusammen, die Sitzungen unterbleiben, die Veröffentlichungen der Ge-
sellschaft, abgesehen von den Anzeigen, erscheinen 1755 bis 1771 nicht mehr,
1798 und 1808 erklärt HEYNE die Societät für so gut wie aufgelöst oder in
der Auflösung begriffen 3. Hier bedeutete die Göttinger Sonderart besondere
Sicherung: die Anlehnung an die Universität erlaubte immer wieder die Er-
neuerung von dort her, und bei der Kleinheit der Verhältnisse konnte es der
Hingabe einer einzelnen bedeutenden und selbstlosen Persönlichkeit gelingen,
immer wieder die Nöte der persönlichen Konflikte, der geistigen Ermattung,
des Geldmangels zu überwinden - die stolze Leistung von HEYNES "bestän-
digem Secretariat" 1770 bis 1812. Freilich hatte er sich dabei als der Schwie-
gersohn des älteren, der Schwager des jüngeren BRANDES der auch persönlich
gewährleisteten zuverlässigen Stützung durch die Regierung in Hannover zu
erfreuen. Eben hier lag zugleich die organisatorische Schwäche des Systems.
Es ist erschütternd, in der Geschichte' der Georgia Augusta und der ihr an-
geschlossenen Societät zu verfolgen, wie ohnmächtig selbst die in der Ge-
schichte der gelehrten Organisationen und ihrer Verwaltung einzigartige,
ein Menschenalter hindurch wahrhaft väterlich fürsorgende Leitungsarbeit
MÜNCHHAUSENS gegenüber den inneren Schwierigkeiten des gelehrten Kör-
pers war - nur darum, weil diesem die heilende Kraft, die Lebensgewähr
der Selbstverwaltung und damit der korporativen Selbstverantwortung ver-
sagt war. Bei aller Lauterkeit der tragenden Persönlichkeiten sind auch im
Göttingen des 18. Jahrhunderts kollegialer Zank, Intrige und Denunziation,
Strebertum und Verbitterung die unvermeidlichen Schattenseiten autoritärer
Leitung gewesen, und hier liegen die tieferen Gründe der Schwierigkeiten
der Societät in ihrem ersten halben Jahrhundert, nicht so sehr in HALLERS
Abwesenheit oder in den Charakterfehlern von J OHANN DAVID MICHAELIS,
dem tatsächlichen Leiter der Akademie von 1753 bis 1770.
1 ROETHE, G.: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen, in der Göttinger Fest-
schrift S. 567ff.
a FRENsDoRFF a. a. O. S. 53ff., LEO a. a. O. S. 153ff., und die ältere Literatur.
3 LEO S. 202, 204.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. IX
Die sachliche Leistung der Societät im 18. Jahrhundert ist in ihrer Eigen-
art durch drei Merkmale bestimmt.
Einmal durch einen Grundzug praktischer Nüchternheit. Man hat den
Göttingischen Gelehrten Anzeigen damals nachgerühmt, sie hätten das Ihrige
dazu getan, die Studien der Deutschen mehr auf das Nützliche und Brauch-
bare in allen Wissenschaften zu richten!. Das kommt im wesentlichen auf
die Rechnung der Societät, von deren Mitgliedern MÜNcHHAusEN von vorn-
herein die Anzeigen ausschließlich bestritten wissen wollte. Damit hielten
sie sich in der Linie nüchterner Rationalität, die MÜNcHHAusEN seiner Schöp-
fung gewiesen hatte und die - unter Abstrich alles Utilitarischen -- eine
Komponente des Göttinger akademischen Wesens bis heute geblieben ist.
Darüber hinaus hat auch Göttingen einen großen Anteil an der Bildungs-
aufgabe der Zeit erfüllt. In Polyhistorie und Raison, späthumanistischem
Klassizismus und Aufklärung - HARNACK hat diese Welt unübertrefflich
geschildert - haben die Akademien in ihrer übernationalen Sprache, Berlin
französisch bis 1812, Göttingen lateinisch bis 1837 und 1840, ihr deutsches
Publikum in die geistige Weltlage hineingeführt und den Raum für die klas-
sische Philosophie und für die deutsche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
geradezu erst geschaffen.
Und endlich: die Hauptträger dieser Leistung sind in Göttingen nach
HALLER die Philologen gewesen, voran MICHAELIS und HEYNE. Auch sie
noch nicht im Sinne spezialisierter Disziplinen des 19. Jahrhunderts, sondern
überkommener universaler Wissenschaft. Aber sie sind die Wegbereiter der
großen philologisch-historischen Wissenschaft der Folgezeit gewesen, nicht
nur für Göttingen.
Damit ist zugleich die Frage beantwortet, ob in der Göttinger Societät
und ihrer organischen Eingliederung in die Georgia Augusta die HUMBOLDT-
sehe Universität der untrennbaren Verbindung von Forschung und Lehre
vorgebildet, ja vorweggenommen ist. Mit Recht hat man sich in Berlin von
1807 bis 1811 an dem Göttinger Vorbilde orientiert. Darum ist dieser neue
Lebenssinn der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts doch anderer Her-
kunft und anderen Wesens, als jene Göttinger Personalunion 2 • In Göttingen
eine Veranstaltung eines klugen rationalistischen Universitätsgründers, ist
sie hier schon im 18. Jahrhundert über diesen ihren Ursprung weit hinaus-
gewachsen. Aber sie blieb, was sie war: vermöge des HALLERschen Anstoßes
eine der eigenartigsten und bedeutendsten Institutionen des deutschen Geistes-
lebens des 18. Jahrhunderts. Aber eben doch des 18. Jahrhunderts - die
von der neuen Philosophie des Geistes getragene neue Universität und Aka-
1 ROETHE S. 580.
2 Dieser Abstand nicht deutlich genug bei LEO a. a. O. S. 199 und in seiner Festrede
zum 9. November 1901, Nachrichten von der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen. Geschäft-
liche Mitteilungen 1901, H.2. S.118f.
x RUDOLF SMEND:
demie der Berliner Reformzeit hat sich in Göttingen erst später und allmäh-
lich und nie ganz vollständig durchgesetzt.
Der Durchbruch des Neuen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die ent-
scheidende Krisis in der Geschichte der deutschen gelehrten Körperschaften.
Im philosophischen Begriff und in der geistigen Wirklichkeit wird die
Wissenschaft verstanden, ergriffen und realisiert als eine der obersten Lebens-
formen des Geistes, in bisher unerhörter innerer Einheit und Freiheit, Gültig-
keit und Lebensmächtigkeit. Die Lebenskräfte der alten Akademien, spät-
humanistisches und Nützlichkeitsdenken, Stoffgelehrsamkeit und Aufklärung
verloren ihre Geltl111g, und damit auch die gelehrten Köperschaften, sofern
sie vOn Aer~n Dienst den eigenen Daseins· und Geltungsanspruch herleiteten.
Dem entspricht das allgemeine Urteil dieser Zeit. So hat WILHELM GRIMM
geurteilt (an Goethe 20. September 1816): "Von Akademien kommt viel-
leicht auch Beistand (für den Plan der Monumenta Germaniae), nur ist
man an etwas erstarrtes und lebloses bei ihnen schon seit langen Zeiten
gewöhnt"l. Bestimmter lauten die Urteile im unmittelbaren Vergleich der
alten Akademie mit dem neuen Leben. Im Entwurf BOEcKHs für das
Corpus Inscriptionum 1815 heißt es: "Es ist leider nur zu wahr, daß die
deutschen Akademien noch gar nichts geleistet haben, und alle Fortschritte
der Wissenschaften durch die Kraft der einzelnen Gelehrten, wesentlich auf
Universitäten, gemacht worden sind"2. Und SAVIGNY bezeichnet 1818 die
Berliner Akademie, der er angehört, als eine "erzwungene Abhandlungs-
fabrik" 3.
Abgesehen vorn Schwund ihrer geistigen Grundlagen mußten die gelehrten
Gesellschaften nunmehr auch als technisch entbehrlich erscheinen. Wenn der
Universitätslehrer grundsätzlich aufhörte, nur Lehrer zu sein, und künftig
grundsätzlich nur als Forscher legitimiert sein sollte, dann wurden die Aka-
demien als Sitze der Forschung neben den Universitäten überflüssig, vollends
angesichts nunmehriger Universitätsgründungen neben ihnen am gleichen Ort
(Berlin 1811, München 1826)4. Auch die mit der Aufklärung und dem Poly-
historismus der Vergangenheit verbundene Sozialität der gelehrten Arbeit,
wie sie im gelehrten Gespräch der Akademien organisiert war, mochte an-
gesichts der fortschreitenden Spezialisierung und der damit gegebenen Iso-
lierung moderner kritischer Wissenschaft als eine vergangene Lebensform des
wissenschaftlichen Geistes .empfunden werden. Allerdings wurde auch die
neue Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gerade in ihren frühen Lebensstufen
von Arbeitsgemeinschaften höchsten Ranges und Gehalts getragen. Die Ge-
meinschaft wissenschaftlichen Lebens und Wirkens unter F. A. WOLF,
1 Bei HARNACK. Bd. 1/2. S. 677. Anm. 2.
2 Bei M:A:RNACK. Bd. 1/2, S. 668.
3 Bei) !;IAI.t.NACK. : Bd. 1/2. S. 687.
4 In dieser Richtung HUMBOLDTS Urteil 1810. HARNACK. S. 595, Anm.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XI
liches praktisches Zeugnis für die Göttinger Societät abgelegt, in deren Schrif-
ten sein Name doch bisher kaum erschienen war: indem er 1854 seinen Anteil
an den von dem "Leipziger Komitee" zur Unterstützung der Göttinger
Sieben aufgebrachten Mitteln für die Zwecke einer künftigen Leipziger Aka-
demie der Wissenschaften zur Verfügung stellte, setzte er eine wichtige Be-
dingung für die erfolgreiche Weiterführung des gerade damals von endgül-
tigem Scheitern bedrohten Gründungsplanesi. Zwei stolze Zeugnisse für die
damalige Geltungskraft der Idee der Akademie und für die Lebendigkeit
der damaligen Göttinger Societät, von der JACOB GRIMM wie WILHELM WEBER
ausgingen.
Leben und Arbeit der Akademie gehen durch die Jahrzehnte des 19. Jahr-
hunderts ihren stillen Gang. An die überwältigend stolze Reihe der GAUSS-
schen Publikationen schließen sich die von RIEMANN, HAUSMANN und WÖH-
LER, RUDOLF WAGNER und HENLE, auf historisch-philologischer Seite die
methodische Arbeit von WAITZ und der eigentümlich leuchtende Klassizis-
mus von ERNST CURTIUS, um nur einige Namen aus den Bändereihen heraus-
zugreifen. Aber es ist stille Zeit, beendet durch die Forderungen einer neuen
Generation und die Reform von 1893.
Es hätte nicht so zu sein brauchen. Das wissenschaftliche Göttingen der
dreißiger Jahre, das mit seinem wissenschaftlichen und menschlichen Reich-
tum immer neue Untersuchungen und Quellenpublikationen herausfordert,
versprach eine große Geschichte und einen dauernden hohen Rang von Uni-
versität und Akademie über Jahrzehnte hinaus. Das Jahr 1837 hat dem ein
Ende gemacht, und Jahrzehnte lang werden auch die amtlichen Stellen nicht
müde, an diese Wurzel allen Übels in der seitherigen Göttinger Universitäts-
geschichte zu erinnern. Man braucht sich nur den Anteil der Brüder GRIMM
an den Berichten der Berliner Akademie zu vergegenwärtigen, um zu ermessen,
was auch die Göttinger Akademie verlor, indem sie genötigt wurde, mit der
Georgia Augusta aus der ersten Reihe der gelehrten Körperschaften Deutsch·
lands und der Welt zu weichen.
Als die Gesellschaft der Wissenschaften ihre erste Jahrhundertfeier be-
ging, konnte sie an diesem für ihr Schicksal und ihre damalige Lage grund-
legenden Ereignis nicht vorübergehen. In seiner Festrede 2 in der Aula der
Universität am 29. November 1851, auf den die Feier wegen des drohenden
Ablebens des Königs vom 10. November verlegt worden war, gedachte der
Physiologe RUDoLF WAGNER mit besonderem Nachdruck dieses Jahres und
"jener schmerzlichen Ereignisse, welche unser Land auf das tiefste erschütter-
ten und in ganz Deutschland, ja in Europa widerhallten". Ich gebe die
weiteren Worte wieder, nicht wegen ihres Tatsachengehaltes und ihrer Urteile,
1 Zur 50jährigen Jubelfeier der König!. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig
am 1. Juli 1896, S. IX, XII.
2 WAGNER, RUDOLF: Abh. kg!. Ges. Wiss. Göttingen 5 (1853).
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XIII
Die stillen Jahre der oft beschriebenen steifen und exklusiven Hofrats-
universität, bewegt allenfalls durch die Spannung zwischen dem großdeutsch
und dem preußisch gesonnenen Teil des Lehrkörpers, waren auch in der Ge-
sellschaft der Wissenschaften stille Zeit. Die Reihe der LAGARDESchen Gut-
achten zur Reform der Gesellschaft von 1885 bis 1889 läßt in ihrer Mischung
von Bedeutendem, Trivialem, Utopischem und Peinlichem doch die Schwächen
der Patientin erkennen: bei aller achtenswerten Leistung persönliche Über-
alterung und einen gewissen sachlichen Leerlauf. Freilich war auch im ganzen
die wissenschaftliche Lage eine andere, als die jenes wissenschaftlichen Früh-
lings der Berliner Reformjahre und der Göttinger Zeit ÜTFRIED MÜLLERS
und der Brüder GRIMM. Man näherte sich der Epoche, die MOMMSENS LEIB-
NIz-Rede von 1895 als die der "alternden Pallas Athene" bezeichnet hat.
"Unser Werk lobt keinen Meister und keines Meisters Auge erfreut sich an
ihm; denn es hat keinen Meister, und wir sind alle nur Gesellen": so charak-
terisiert er die nüchterne Unpersönlichkeit der damaligen Arbeit der Berliner
Akademie. Immerhin gab es in Berlin Aufgaben, im Gegensatz zu Göttingen.
"Wir leben Alle von Pflichten. Auch Institute leben von Pflichten. Gebe
man der Gesellschaft der Wissenschaften ... Aufgaben ... ": das ist der
gesunde Kern von LAGARDES Kritik 2.
Die eigenartige Stellung der Göttinger Societät beruhte, von außen ge-
sehen, ursprünglich in ihrer ganz besonderen Einordnung in den Staat. Im
politischen Vakuum der hannoverschen Adelsrepublik entstanden, ist sie
niemals in irgendeine nähere Beziehung zum Staatsoberhaupt oder zur poli-
tischen Zentrale getreten. Ihr ist niemals ihre Sprache vorgeschrieben worden,
wie der Berliner Akademie, in ihr wurden keine Abhandlungen eines könig-
lichen Mitglieds verlesen, ihr wurde nie die Wahl eines Lessing verargt oder
eines GelIert verweigert, zu ihr hat nie ein Monarch eine persönliche Bezie-
hung gesucht, wie Friedrich der Große, wie Ludwig 1., wie Friedrich Wil-
helm IV. zu der ersten gelehrten Körperschaft ihrer Hauptstadt. Es war in
den Anfängen wohl unvermeidlich, daß man sich in dem Göttingen der
Grafenbänke in den Hörsälen wenigstens mit der dekorativen Mitgliedschaft
von "Standespersonen" noch irgendwie an die Gesellschaftsordnung des Spät-
barock anhängte. Letzte derartige Schnörkel waren die Ehrenmitgliedschaft
Ferdinands von Braunschweig 1768 bis 1780 und dessen Ehrenpräsidentschaft
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XVII
1780 bis 1792, und 1802 die Ehrenpräsidentschaft Adolf Friedrich Herzogs von
Cambridge, des später so beliebten Vizekönigs, der aber trotz seiner Göttinger
Studienjahre zur Societät ebenso wenig in innerer Beziehung stand, wie der
immerhin so viel geistigere Sieger von Minden, der Oheim der Anna Amalia.
Dann schloß das neue geistige Selbstgefühl derartige Zugeständnisse aus.
Die unverhältnismäßig starke Eingliederung in die Universität schützte
die Societät gegen alle Heteronomien politischer und gesellschaftlicher Art.
Unvermeidlich bestand die grundsätzliche Einordnung in den Staat,
inhaltlich bestimmt nach dem jeweiligen Staatsrecht. Das bedeutete im
Territorialstaat des 18. Jahrhunderts die Abhängigkeit von der Privilegien-
hoheit des Landesherrn, vermöge deren jeder Korporation ihre konkrete
Rechtslage besonders zugewiesen wurde. Sie bedeutete im rationalen Patri-
archialismus des MÜNCHHAUsENschen Systems eine oft geschilderte, bis ins
Kleinste gehende Fürsorge. In der fortschreitenden Lockerung der Staats-
aufsicht nach hannoverschem und schließlich preußischem Universitätsrecht
blieb die finanzielle Abhängigkeit als das stärkste Machtmittel der Regierung
übrig. Die empfindlichsten Übergriffe des Staats in der Geschichte der Ge-
sellschaft waren solche der westfälischen Fremdherrschaft und des Dritten
Reichs.
Die entscheidende Wurzel der Unabhängigkeit der Akademien besteht
darin, daß diese Unabhängigkeit eine organisatorische Folgerung aus dem
Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist. Ihre praktische Gewähr findet sie
heute nicht zuletzt in der internationalen Einordnung der Akademien und
dem internationalen Interesse an der Würde ihrer Unabhängigkeit. Selbst
gegenüber dem nationalsozialistischen Regime hat sich diese Unabhängigkeit
unverhältnismäßig länger und erfolgreicher verteidigen lassen, als die der
Hochschulen. Hier hat sich herausgestellt, daß die Rechtsstellung der Aka-
demien ein Eckstein der wissenschaftlichen, ja überhaupt der geistigen Frei-
heit ist. Mag im Alltage der Akademiearbeit die Autonomie ihrer wissen-
schaftlichen Unternehmungen als die wichtigste Folgerung ihrer Unabhän-
gigkeit erscheinen, so sollte doch nach den Erfahrungen im Dritten Reich
ihre grundsätzliche Bedeutung in den Stürmen der Gegenwart nicht ver-
gessen werden.
Manches von der Eigenart der Göttinger Akademie beruht auf ihren ört-
lichen Verhältnissen. Sie ist für ihre Ergänzung in besonderer Weise an den
Bestand der Georgia Augusta gewiesen. Der kleinstädtische Raum bedingt
einen anderen Rhythmus ihrer Arbeit, als der der Großstadtakademien sein
muß. Je begrenzter ihr Raum, um so mehr bestand und besteht in ihr die
Möglichkeit eines gewissen Personalismus: von ihren frühen Zeiten, in denen
ihre Geschichte beinahe zusammenfällt mit der ihrer Häupter, HALLER,
MICHAELIS, HEYNE, bis hin zu ihrer jüngsten Vergangenheit, in der
XVIII RUDOLF SMEND:
wenigstens ihr Stil noch von einzelnen bestimmt wurde, von ERNST EHLERS
und mehr noch nach ihm von EDwARD SCHRÖDER - in der in ihr besonders
gepflegten Übung, das geistige Bild ihrer verstorbenen Mitglieder sorgfältig
festzuhalten - in den wissenschaftlichen Unternehmungen, die dem Lebens-
werk eines ihrer Großen gewidmet sind, wie der Ausgabe der Werke von GAUSS,
oder die auf eine ganz besondere Persönlichkeit zugeschnitten sind, wie die
Ausgabe der älteren Papsturkunden auf die einmalige Persönlichkeit PAUL
KEHRS.
Das Problem der Akademie grundsätzlich zu stellen, wäre wohl nie Göt-
tinger Art gewesen. Weder im Sinne grundsätzlicher Kritik!, noch im Sinne
utopischer Überschätzung, in der LAGARDE die Neugestaltung Göttingens
nur von der Gesellschaft der Wissenschaften aus, von ihrer Erneuerung aber
einen wesentlichen Beitrag zur Neugeburt der Nation erwartete 2, oder roman-
tischer Überbewertung, wie in jACOB GRIMMS Akademierede von 1849. Man
hat in Göttingen wohl auch immer um die Grenzen der Akademie gewußt,
darum, daß ihre Sitzungen für Mitteilungen regelmäßiger Fortschritte der
Wissenschaft, ihre Unternehmungen für die Erfüllung übersehbarer Aufgaben
bestimmt sind, daß sie aber nicht der Schauplatz für die großen Würfe und
die radikalen Infragestellungen von Arbeitszielen und Methoden ist. Man
hat auch hier wie anderswo die sehr verschiedene Art der Einordnung der
Mitglieder in die Arbeit der Akademie beobachtet: von dem Falle so über-
wiegender Arbeitsorientierung eines Mitgliedes auf die Vorlage in der Aka-
demie hin, daß darüber seine übrigen wissenschaftlichen und Lehraufgaben
zu kurz kamen, bis zu dem entgegengesetzten Grenzfall, zu dem sich WILA-
MOWITZ in seiner Berliner Antrittsrede bekannte, "daß jemand, der also
arbeitet, für sich der organisierten akademischen Arbeit kaum bedarf" -
und die ganze Fülle möglicher Zwischenstufen.
Einleitung.
Die Theorie der idealen Kristalle, an der ich seit mehr als 40 Jahren
gearbeitet habe, ist trotz mancher Erfolge weder logisch noch empirisch
befriedigend. Die wichtigsten Einwände sind die folgenden:
Die Schwingungen des idealen Gitters stellen ein quantenmechanisches
System von makroskopischen Dimensionen dar; denn die Normalkoordinaten
sind die Amplituden von Wellen, die sich durch das ganze Gitter erstrecken.
Das scheint eine bedenkliche Annahme. Allerdings wird eine Milderung erzielt
durch DEBYES Theorie der Wärmeleitung [1], die darauf beruht, daß, die
durch Anharmonizität der Gitterkräfte bewirkte Streuung der Wellen berück-
sichtigt wird. Man kann eine freie Weglänge für den Energietransport defi-
nieren, die gewissermaßen eine Grenze setzt für die Idealität des Gitters und
die Kohärenz der Wellen. Neuere Abschätzungen dieser Weglänge durch
PEIERLS [2], POMERANCHUK [3] und KLEMENS [4] haben zu komplizierten
Formeln geführt, die die Erfahrungen über Wärmeleitung gut darstellen, aber
weder eine prinzipielle Lösung der genannten logischen Schwierigkeit, noch
eine Erkärung andrer Tatsachen liefern, nämlich jene Eigenschaften der
Festkörper, die man als strukturempfindlich bezeichnet. Es sind die praktisch
wichtigsten Eigenschaften, wie Plastizität, Reißfestigkeit, Versetzungen usw.
Zu ihrer Erklärung hat man eine Theorie der Realkristalle entwickelt, die
mit der Theorie der idealen Kristalle nur in lockerer Berührung steht und
ganz andre, semi-empirische Methoden benutzt. Dies ist eine unbefriedigende
Situation; man muß verlangen, daß die Gültigkeitsgrenzen der idealen Theorie
aufgewiesen werden und die Behandlung der Realkristalle logisch an sie
angeschlossen wird.
Diese Grenze der idealen Theorie glaube ich schon vor etwa 5 Jahren
gefunden zu haben [5]; es hat sich herausgestellt, daß sie strenggenommen
nur für submikroskopische Blöcke gilt, deren lineare Dimensionen kleiner
sind als etwa 1000 Atomabstände (entsprechend etwa 1000 A). Ich vermutete
damals, daß es eine Art Sub-Mosaikstruktur von dieser Größenordnung in
allen Festkörpern geben muß und daß bei der Bildung kleiner fester Teilchen
(Kolloide) dieselbe Länge eine ausgezeichnete Rolle spielt. Inzwischen sind
Göttinger Akademie·Festschrift.
2 MAX BORN:
Belege für diese Vermutung beigebracht worden. Die bei der Dehnung von
Metalldrähten eintretende plastische Deformation scheint auf der Bild ung
von Schichten dieser Dicke zu beruhen. R. POHLS Versuche über photo-
chemisehe Prozesse in Kristallen führen auf eine Sub-Mosaikstruktur.
R. FÜRTH hat durch indirekte Überlegungen [6] und durch direkte Ver-
suche [7] mit Lichtstreuung die Existenz dieser Struktur sehr wahrscheinlich
gemacht. Andrerseits ist die Existenz sehr großer, nahezu vollkommener
Einkristalle sichergestellt.
Um diese bei den Ergebnisse in Einklang zu bringen, kann man annehmen,
daß bis zur Grenze von etwa 1000 A die Kräfte zwischen den Teilchen im
Kristall von atomarer Größenordnung sind und die höchste Symmetrie der
Anordnung hervorbringen, daß aber für größere Aggregate die Molekular-
bewegung eine Schwächung der Kräfte bedingt, wodurch leicht Störungen
des regelmäßigen Baus eintreten 1 :
Im folgenden werde ich zeigen, daß man die kinetische Theorie der Fest-
körper so aufbauen kann, daß ihre Gültigkeit nicht durch die Größe der
Gebilde beschränkt ist. Die Annahme von Einkristall-Lösungen der Grund-
gleichungen führt zu keinem Widerspruch und die Parameter des Gitters
lassen sich aus wohldefinierten Bedingungen bestimmen. Die Grundglei-
chungen enthalten aber einen Parameter (den man als Länge von der Ordnung
1000 Atomabstände ansehen kann), und es scheint daher durchaus möglich,
daß es andre Lösungen gibt, die eine Struktur jener Lineardimension zeigen.
Doch ist es mir noch nicht gelungen, hierfür einen Beweis zu erbringen.
12 = -;em.
k
(1.2)
Dies ist offenbar die Grenze der Gültigkeit des oben beschriebenen Näherungs-
verfahrens.
Würde nun e (T) beliebig klein für T ---+ 0, so würde diese Konvergenz-
grenze beliebig hoch rücken, und die Theorie wäre für große Kristalle gerettet
wenigstens für genügend tiefe Temperaturen.
Nun geht aber bekanntlich e(T) nicht gegen Null für T ---+ 0, sondern
gegen einen endlichen Wert, die Nullpunktsenergie. Wenn man, als rohe
Abschätzung, mit unabhängigen Oszillatoren rechnet, hat man e (T) ---+ 1 h 1~
für T---+o; also wird, mit e=hvlk,
2
n ---+ n o = --;:65.
1*
4 MAX BORN:
Selbst beim absoluten Nullpunkt bleibt also eine Schranke der linearen
Dimension bestehen, oberhalb deren die übliche Theorie versagt. Wie groß
ist dies n o ?
Bekanntlich ist für alle Festkörper IX ' " 10- 5 grad -1 und e '" 102 grad
(DEBYES charakteristische Temperatur), woraus sich
(1.4)
ergibt, eben die in der Einleitung genannte Zahl. Wenn man die tatsäch-
lichen Werte von IX und e benutzt, kann man leicht eine Tabelle aufstellen,
die das summarische Ergebnis (1.4) bestätigt. Unter den Metallen findet man
den kleinsten Wert von n o für Na, 11 0 ,-...,200, den größten für Mo, n o ,-...,'1540;
Diamant fällt mit n o'"" 800 nicht aus der Reihe, trotz des abnorm großen
e-Wertes, der eben durch ein kleines IX kompensiert wird.
Durch eine theoretische Analyse der Größen IX und e kann man die
Größenordnung des Ausdrucks (3) tiefer verstehen; es zeigt sich (worauf ich
V
aber nicht eingehen will), daß n o '" Mim, wo Meine Kernrnasse, m die
Elektronenrnasse ist. Für Kerne vom Atomgewicht A hat man daher
n o",.y2000A, also z.B. für A =45,11 0 "-'300.
Die übliche Theorie ist also nur gültig für Kristallstückehen von sub-
mikroskopischen Dimensionen. Es handelt sich jetzt darum, eine Theorie
aufzustellen, die von dieser Beschränkung frei ist. Daß dies nicht ganz
einfach ist, erhellt aus folgender Betrachtung: Die thermische Ausdehnung
beruht auf der Verschiebung der mittleren Lagen X k der Kerne gegen die
angenommenen Gleichgewichtslagen X~. Diese Verschiebung aber hängt,
außer von der Anharmonizität (Faktor IX), von den Frequenzen v ab, die
anscheinend erst definiert werden können, wenn die X~ gegeben sind (und
damit die Entwicklung der potentiellen Energie für kleine Abweichungen
von ~). Man kann aber die frühzeitige Festlegung der X~ umgehen und die
Rechnung so führen, daß die zur Beschreibung der Wärmebewegung dienenden
Oszillatoren nicht von vornherein mit dem wirklichen Kernsystem gekuppelt
werden und ihre Wahl bis zum letzten Schritt frei bleibt.
Es wird angenommen, daß das Problem für feste Kerne mit der HAMILTON-
Funktion
11° = ~ L -;;-p~ +U(x, XO) (2.2)
gelöst ist, d.h. daß die Lösungen E,:, IPn(x,XO) der SCHRÖDINGERSchen
Gleichung
(J-i 0 - E~) IPn = 0 (2.3)
bekannt sind für einen geeigneten Bereich der 3N Parameter ~. Die Lösung
der vollständigen Wellengleichung
(l1-E)lP= 0 (2.4)
kann dann nach den IPn entwickelt werden:
rp (x, X, XO) = L "Pn(X, XO) IPn(x, XO), (2.5)
n
Das Gleichungssystem (2.6) ist das gewünschte Resultat der Elimination der
Elektronenbewegung. Es gilt in jedem Falle, auch für Metalle, wo dann die
Summe über n' durch ein Integral über die kontinuierlichen Bereiche der
Elektronenenergie zu ersetzen ist. Die Theorie kann auch für diesen Fall
durchgeführt werden und mag für FRÖHLICHS Erklärung der Supraleitung
von Wichtigkeit sein. Hier aber wollen wir uns auf ideale Nichtleiter be-
schränken, definiert dadurch, daß die Kernenergie neben der aller Elektronen-
übergänge (n~ n') vom Grundzustand (n = 0) vernachlässigt werden kann.
In anderen Worten: Alle Matrixelemente UnO(X, XO) sind klein neben
U00 (X, XO), für das wir kurz U (X) schreiben. Indem wir ferner "P für "Po
schreiben und
e=E -Eg (2.9)
setzen, erhalten wir aus (2.6) mit (2.9) einfach
(H - e) "P(X, XO) = 0, (2.10)
6 MAX BORN:
wo
H= : L: ;k Pk2+ V (X) - V (XO) . (2.11 )
k
Das ist die übliche Schwingungsgleichung für die Kerne mit anharmonischer
Koppelung V (X) t.
I
damit sie am Ende als Koordinaten der mittleren Kernlagen bestimmt
werden können, besteht darin, 3N neue Variable ql durch eine lineare kano-
nische Transformation
X" - X2 =V~k~ekiqi
(3. 2)
Pk = VM k L ek i Pi
J
Durch Einsetzen von (3.2) in V(X) erhält man eine Funktion V(q), und
wegen der Linearität der Transformation entspricht jedem homogenen An-
teil Vn der Entwicklung von V nach Potenzen der qJ'
V(q)-V(O)=v;.+V2 +···, (3.4)
der entsprechende homogene Anteil Vn in (3.1), so daß
V2 =+L: 11'
V;l,ql qj"
(3.5)
. J
tDie hier benutzte Lösung ist nicht dIe gewöhnlich beschriebene (wenn auch nie durch-
geführte) "adiabatische", wo als Hilfsfunktionen die Eigenfunktionen9?n (x,X) des Elektronen-
systems für die jeweiligen Kernkoordinaten X k genommen werden. Dann gilt eine Gleichung
der Form (2.11) nicht angenähert, sondern streng, wobei aber U durch einen Zusatzterm
zu ergänzen ist. Andrerseits sind die 9?n (x, X, für beliebige X k praktisch unbestimmbar,
während man bei dem im Text gegebenen Verfahren die XZ so wählen kann, daß dIe 9?n (x, XO)
wenigstens approximativ konstruierbar sind (z. B. indem man XZ als Gitterkoordinaten nimmt).
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 7
Hier bedeuten Uk , Ukk " .,. die partiellen Ableitungen von U(X) nach X k
an der Stelle XOk ; daher sind V,
1
V.J1 " ... ebenfalls Funktionen der X~. Sie
sind ferner symmetrisch in den Indizes j, j', ...
Die HAMILToNsche Funktion (2.11) wird nun
(3.6)
H=Ho+f (3.8)
und
V= V(q) ~ V(o) ~tL
J
w; qj
gegebene Problem zu lösen und nachträglich die 3N Koordinaten die xt
t 3 N(3 N ~ 1)
Koeffizienten ekj der Transformation (3.2) und schließlich die
3N Frequenzen w J so zu bestimmen, daß der Anschluß der tatsächlichen
Bewegung an die Oszillatorbewegung möglichst eng ist. Die Gesamtzahl der
zur Verfügung stehenden Parameter X~, ekj , Ol, ist
3N +D N (3 N + 1) = ~N (1 + N) .
Die Forderung des engen Anschlusses bedeutet offenbar zunächst: Die X~
sollen stets mit den mittleren Lagen (X k ) übereinstimmen, oder wegen (3.2),
die Mittelwerte der ql sollen verschwinden:
(3. 10
Das sind 3 N Bedingungen. Die übrigen ~ 3 N (3 N +
1) erhält man durch die
Forderung, daß die qj im Falle der Vernachlässigung aller höheren als qua-
dratischen Glieder in V die zu V2 gehörigen Normalkoordinaten sein sollen:
(3.11)
wo der Strich die Mitte1ung über die Zustände des Oszillatorensystems be-
deutet. Die GI. (3.10), (3.11) sollen für alle Temperaturen gelten; also sind
die Mittelungen nicht nur als quantenmechanische Erwartungswerte aufzu-
fassen, sondern als thermische Mittelwerte entsprechend dem BOLTzMANN-
sehen Gewichtsfaktor.
wo ß = 1jk T und "Pn (q) ein System von orthonormalen Funktionen ist. Diese
genügt bekanntlich der BLOcHschen Differentialgleichung
oe 1
ap=-2(He+e H) , (4.2)
eO-II
-- . e·10 , (4.5)
1
wo
~i= qi+ qj, (4.6)
E.
J
= nWj
2' ti = tanh Ei ß. (4.7)
(4.5) zeigt, daß sich eO bei Differentiation nach qi und qj' einfach mit einem
Polynom multipliziert; darauf beruht die Möglichkeit (4.2) durch sukzessive
I
Approximation zu lösen.
Wenn man von der Operatorform der GI. (4.2) zu der Darstellung im
q-Raum übergeht, so erhält man
(4.12)
(4.13 )
wo
(4.14)
Nach (3.9) sind die Glieder der Entwicklung von V dieselben wie die von V,
gegeben durch (3.5), ausgenommen das zweite, nämlich
V2 = V2 - tL wjqj, oder ~j' = ~j' - wj bij" (4.15 )
i
1f
(4.17)
(4.18)
haben, wo gn ein Polynom noten Grades in den ~,1J ist; man erhält die
Rekursionsformel
10 MAX BORN:
Man sieht leicht, daß die gn von den ~, 'YJ in derselben Weise abhängen wie die
vv",aber mit Koeffizienten, die Funktionen von ß sind. Wir schreiben:
gl = "" q;(l)
L.J 1
~.1
1 (4.20)
wo hier, wIe Im folgenden, die Abkürzungen (4.7) benutzt sind. Die für
ß = 0 verschwindende Lösung ist
(4.22)
(4.23 )
. _._ 1;;:
• (2) _ _ _ TT 1 I 1 -15,1
151- 1 1-;1
1 1
'P, 7' - 4 j j' 15 2 - 15 2, ~ (4.24)
m(2)
't'
= h2. " "
8 L.J
~ {V
15 2
2'
1
Si ß
15 •
~Ii _L V.. [ß 2 11
B·
1
(t
1
+r "
1) -1l}.1
.i 1 1 J
Von den Koeffizienten von g3 will ich nur die angeben, die im Schluß-
ergebnis auftreten (während die andern nur zur Berechnung höherer Nähe-
rungen nötig sind), nämlich
~(3!." = q;(I) q;(~)"
171 J 11
+ q;(~) q;(~) + q;(~) q;(2! _
J 1 I I 11
2 q;(I)
1
q;(~) q;!~) _
1 1
wo
s . - ___ 4 ._ ____ _ cL ci' c j " _ _ _ ____ .
(4.26)
11']" - c14 + c1, + c14" - 2 (E 2, E2"
J]
+ cJ 2" cJ2 + 8 c 'l '
J
2 2
J
und
Das Verfahren läßt sich fortsetzen und scheint immer auf elementar auswert-
bare Integrale zu führen.
(5.1)
und nach (4.20) sind die gn für 'fJj =0 abbrechende Potenzreihen des Grades n
00
00
g= Lg(n) , (5.2)
H=O
g
(3)_
-
1_~( (3)
3!.L.J CPli'i"
+ ....)1: <;}
I:
<;j'<;J"
I:
i1' ]"
Definieren wir nun den ~Iittelwert einer Größe ! (~) gebildet mit ri durch
(5 A)
so hat man offenbar
(5.5)
(5.9) und (5.10) bestimmen, in der hier gewählten Annäherung die Schwin-
gungszentren X~ und die Schwingungsparameter cki' als Funktionen der w;
Temperatur (enthalten in tJ Außerdem werden in den Ausdrücken aber
auch noch molare Parameter, wie das Volumen, auftreten. Um diese zu be-
stimmen muß man die freie Energie
F = - k Tlog J e(q, qlß) dq
kennen, die (bis auf ein in k T lineares, daher unwesentliches Glied)
(5.11)
geschrieben werden kann. Das Integral kann auf dieselbe Weise, wie oben,
Glied für Glied berechnet werden. Sodann erhält man die Gleichgewichts-
bedingungen für die molaren Parameter und die Entropie durch Differenzieren,
z.B.
S=--"
oF
oT'
Die hier angedeutete Methode führt natürlich auf die gewöhnliche Theorie
der idealen Gitter zurück, sobald auch die Glieder dritter Ordnung vernach-
lässigt werden. Dann reduzieren sich die Bedingungen (5.9) und (5.10) auf
rp(l) = 0, m(2! =0
J TU '
Vf= 0,
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 13
Berücksichtigt man hier die Bedeutung der ~, ~1" wie SIe In (3.5) ausge-
drückt ist, so sieht man, daß die eki die Koeffizienten der Hauptachsen-
transformation der Matrix Ukk , und co: die Quadrate der Eigenfrequenzen
sind, und daß ferner Uk = 0, d. h. die X~ eine Konfiguration darstellen, für
die U stationär ist.
Wenn man nun die Glieder dritter Ordnung berücksichtigt, wird man
(5.10), mit (4.22), so schreiben
(5.13)
wo
(5.14)
Da die f i als klein angesehen werden können, so darf man in den q;(3), die
explizite durch (4.25) und (4.27) gegeben sind, die Glieder mit q;Y) streichen,
und man sieht, daß alle Glieder in fi proportional Vfi'i" werden. Indem
man die Definition (3.5) benutzt, kann man (5.13) ersetzen durch
Uk=fk' (5.15)
wo
fk=~2:ekd7 (5.16)
6. Gitterlösung.
Die erste Frage ist nun, ob die Annahme, daß diese Gleichungen eIn
ideales Gitter als Lösung haben, zulässig ist.
Es ist ratsam hier die Bezeichnung zu ändern. Da die instantanen Kern-
koordinaten gar nicht mehr vorkommen, sondern nur ihre Mittelwerte xo,
°
kann man den Index weglassen; wir wollen ferner kleine Buchstaben für
die Kernkoordinaten gebrauchen. Wir schreiben für den Ortsvektor eInes
Gi tterpunktes
(6.1)
wo I = (11' 12 , ta) der Zellindex und k der Basisindex ist. Der Ortsvektor X (k)
in der Basiszelle ist ein Mikroparameter ; die Komponenten der Basisvektoren
GI, G 2 , Ga aber sind als molare Parameter anzusehen, da sie die Form und Größe
eines endlichen parallelepipedischen Stückes des idealen Gitters bestimmen.
An Stelle von Uk , Ukk " ••• hat man jetzt in leicht verständlicher Schreib-
welse
(lll)
Urzß kk' , ... ,
Nun gilt aber für ein ideales Gitter der Satz, daß irgendeine Funktion f(l)
das Zellenindex, die eine physikalische Größe darstellt, im statistischen
Gleichgewicht in allen Zellen denselben Wert haben muß: f(Z) =/(0). Ebenso
gilt für eine Funktion zweier Zellen, daß sie nur von deren relativer Lag
e
abhängt: f(Z, I') =f(l-l', 0), oder kurz f(l-l'); usw. Daher hat man
UIX.{3
ll')
(kk' =UIX.{3
(l-l')
kk' , ... (6.2)
gegeben sind. Dabei haben wir zyklische Grenzbedingungen für einen Block
von N = n 3 Zellen angenommen; j kennzeichnet die Zweige der Frequenz-
funktion, h = (h 1 , h2 , h3 ) die einzelnen Frequenzen (hlX. = 1, 2, ... n), und es ist
(hZ) = ~hlX.llX.' Die e(kl:) sind die Eigenvektoren des reduzierten Schwin-
gungsproblems für den Zweig j.
Diese Eigenvektoren (und die zugehörigen Normalkoordinaten) sind aller-
dings komplex; aber da ich sie hier nur auf ein Beispiel anwenden will, wo
sie linear auftreten, so ist es nicht nötig, die umständliche Zerlegung im
realen und imaginären Teil vorzunehmen.
Ich betrachte zunächst die linke Seite von (5.13), die nach (3.5) jetzt so
zu schreiben ist:
VG) = L L1/~k e" (kl~) 1/~ e- 2:i (hl) U" (k). (6.4)
" kl V V
Hier kann man nun die Summation über l zuerst ausführen und erhält
wo b(h) für n-'?oo eine DIRAcsehe b-Funktion ist. Daher reduziert sich (6.4)
auf
(6.5)
und enthält nur noch die Eigenvektoren für den Nullpunkt des reziproken
Gitters (unendlich lange Wellen). Bei Vernachlässigung der Anharmonizität
(d.h. der thermischen Kräfte) reduziert sich also (6.5) auf die endlich vielen
Gleichungen
(6.6}
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 15
und da die eIX (k \~) eine unitäre Matrix bilden, ist das equivalent mit
UIX(k) =0. (6.7)
Das sind gerade so viel Gleichungen, als es Komponenten der Basisvektoren
r (k) gibt, die daraus bestimmt werden können. [Tatsächlich nur ihre Dif-
ferenzen, da die Identitäten L: UIX (k) = 0 bestehen wegen der Invarianz der
k
potentiellen Energie gegen Translation des Gitters.]
Werden die thermischen Kräfte berücksichtigt, so folgt in derselben Weise,
daß t(;) eine o-Funktion in h ist, so daß (5.13) sich reduziert auf
(6.8)
oder aufgelöst
(6.9)
wo rechts die Komponenten der thermischen Kräfte stehen, die die relative
Lage der einfachen Gitter gegeneinander beeinflussen. Aus diesen Gleichungen
erhält man die Basisvektoren r Ih) als Funktionen der Temperatur.
Physikalisch bedeutet das Auftreten der o-Funktion in (6.5) natürlich
die wohlbekannte Tatsache, daß sich die wechselseitigen Kräfte in jedem
einfachen Gitter aus Symmetriegründen aufheben, ausgenommen für Teilchen
an der Obetfläche; daher sind die Gleichgewichtsbedingungen für alle außer
den längsten Wellen identisch erfüllt. Da sich die Gleichungen (6.9) auf die
(endliche) Basis beziehen, kann man sie durch sukzessive Approximationen
lösen. Man geht von den Lösungen rO(k) von (6.7) aus und ergänzt diese durch
kleine Zusatzvektoren U(k), r (k) = rO (k) + u (k); dann hat man Gleichungen
der Form
L:L:UIXß(kk') uß(k') =t~(k) (6.10)
k' ß
zu lösen, wo rechter Hand die Argumente rO (k) einzusetzen sind. Sind die
u (k) aus (6.10) gefunden, so bleiben noch die Zellvektoren 01' O 2 , 03 zu be-
stimmen. Da diese, wie schon betont, molare Parameter sind, so hat man
hierfür die freie Energie (5.11) zu benützen, nachdem in e die gefundenen
Werte der r(k) = rO(k) + u (k) eingesetzt sind.
Die tatsächliche Ausrechnung ist verwickelt und führt vermutlich zu
keinen andern Ergebnissen als die übliche Theorie. Der Zweck dieser Aus-
führungen ist der zu zeigen, wie die anfangs beschriebene prinzipielle Schwie-
rigkeit behoben werden kann.
Zugleich aber führt die neue Theorie auf andre Möglichkeiten, die der
Betrachtung lohnen. Es scheint nämlich keineswegs ausgemacht, daß die
GI. (5.13) oder (5.15) nur solche Lösungen haben, die durch ein unendliches,
16 MAX BORN: Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung.
Literatur.
[lJ DEBYE, P.: Vorträge über die kinetische Theorie der Materie und der Elektrizität,
S.46. Wien: J. B. Teubner 1914. - [2J PEIERLS, R: Ann. de Phys. (5) J, 1055 (1929). -
Helv. phys. Acta 7, Suppl. 24 (1934). - Ann. Inst. Henri Poincare 5, 177 (1935). - [3J POME-
RANCHUK, J.: J. Physics USSR. 4, 357 (1941); 6,237 (1942). - [4J KLEMENS, P. G.: Proc.
roy. Soc., Lond. 208, 108 (1951). - [5J BORN, M.: Proc. math.-phys. Soc. Egypt J, 35 (1947).-
[6J FÜRTH, R: Phil. Mag. (7) 21, 1227 (1949). - [7J FÜRTH, R, and S. P. F. HUMPHREYS-
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84, 457 (1927). - [9J HUSIMI, K.: Proc. physico-math. Soc. Japan 22, 265 (1940).
I. Einleitung.
Die Untersuchung der Hyperfeinstruktur (Hfs.) der Atomspektrallinien
mit hochauflösenden optischen Spektralapparaten hat gezeigt, daß neben der
magnetischen Hfs., die nur an Isotopen mit ungerader Massenzahl A beob-
achtet l und durch die Existenz magnetischer und elektrischer Momente der
Atomkerne erklärt wird, die sog. Isotopieverschiebung (Is.V.) auftritt. Es
ist dies die Tatsache, daß in den Spektrallinien der Atome eines Elementes
die Schwerpunkte der Isotope nicht zusammenfallen, sondern nach Massen-
zahlen geordnet, mehr oder weniger eng nebeneinander liegen. Man hat
gelernt, zwei Typen dieses Phänomens zu unterscheiden:
1. den Isotopieverschiebungseffekt der leichten Elemente, der sich als Effekt
der endlichen Kernmasse deuten läßt (massenabhängiger Is.V.-Effekt) und
2. den Isotopieverschiebungseffekt der schweren Elemente, der aller Wahr-
scheinlichkeit nach in der endlichen Ausdehnung des Atomkerns seine Er
klärung findet (volumenabhängiger Is.V.-Effekt).
Beide Effekte zeigen ausgeprägte Gesetzmäßigkeiten.
I, 2. Der Kernvolumeneffekt 1.
Er wird bevorzugt am Ende des periodischen Systems beobachtet, und
zwar fast ausschließlich bei Spektrallinien, deren einer Term eine Elektronen-
konfiguration mit einem oder zwei s-Elektronen in der äußersten Schale
besitzt. Wenn man den Termen ohne s-Elektron die Is.V. Null zuordnet,
liegt innerhalb eines Feinstrukturterms das leichteste Isotop "am tiefsten".
Die Abstände isotoper Terme sind auch nicht annähernd äquidistant. Die
Is.V. nimmt mit abnehmender Kernladungszahl ab und wird bei Z ,....,40
(A ""gO) von der Größenordnung des einfachen Mitbewegungseffektes.
Der Vorschlag, diesen Tatbestand durch Abweichungen der elektrischen
Kernfelder vom reinen COULoMB-Feld als Folge der endlichen Ausdehnung
der Kerne zu erklären, stammt von PAULI und PEIERLS [PP 31]. Im Kern-
innern hat man auf Grund der elektrostatischen Ladungsverteilung des Kerns
für ein in ihn eintauchendes s-Elektron mit einem vom COULoMB-Feld ab-
weichenden Potential V (r) zu rechnen, das für verschiedene Isotope eines
Elementes etwas verschieden ausfällt, wenn der Kernradius sich von Isotop
zu Isotop ändert. Man erhält daher für die durch ein einzelnes s-Elektron
erzeugte Is.V. zwischen zwei Isotopen eines Elementes die Störenergie :
00
angegeben zu haben, die sich bei der Berechnung der magnetischen Kern-
dipolmomente aus dem empirisch gefundenen Aufspaltungsfaktor a s einer
durch ein einzelnes s-Elektron erzeugten Termhyperfeinstruktur wesentlich
besser bewährt hat als das "p;(0), das man nach der Methode von HARTREE
ermittelt. Unter Verwendung von (3) und plausiblen Annahmen über Ladungs-
verteilung des Kerns und Anwachsen des Kernradius konnte BREIT [Br 32]
zeigen, daß eine wenigstens größenordnungsmäßige Übereinstimmung zwi-
schen Theorie und Experiment besteht.
Für einen solchen Vergleich im einzelnen ist zu beachten, daß man im
Experiment unmittelbar nur die Is.V. in den Spektrallinien, d.h. die Dif-
ferenzen der Is.V. in den Termen mißt, und zwar unter günstigen Bedingungen
mit der Genauigkeit der optischen Interferometer (0,001 cm-I ). Wenn der
Beitrag des massenabhängigen Effektes, der ja von Feinstrukturterm zu Fein-
strukturterm variiert, in diesen Meßfehlern untergeht, stellen die gemessenen
relativen Is.V. in den Linien auch die relativen Is.V. in den Termen dar.
Was aber die absoluten Is. V. in den Termen anbelangt, so ist die Situation
erheblich komplizierter als etwa bei der Analyse der magnetischen Hfs.
Während man nämlich bei der Festlegung der magnetischen Hfs.-Aufspal-
tungen der Terme aus denjenigen der Spektrallinien fast immer Bezugsterme
findet, die nicht aufspalten können 2, besitzen alle Feinstrukturterme Is.V.,
und man hat nur die Möglichkeit, einem -- an sich willkürlich gewählten -
Feinstrukturterm als Bezugsterm die Is.V. Null zu geben 3. Dadurch ist
allerdings bei komplizierten Elektronenkonfigurationen noch wenig im Hin-
blick auf die eben skizzierte Theorie gewonnen, wie das experimentelle
1 Als Folge der Normierung der Eigenfunktionen_
t Z = Kernladungszahl, Za = effektive Kernladungszahl, da/dn =Änderung des Quanten-
defekts a mit der Hauptquantenzahl n, aH = erster BOHRscher Radius, n a = effektive Haupt-
quantenzahl.
2 Das sind Terme mit ] = o.
3 Wenn möglich der Seriengrenze der betrachteten Termserie.
2*
20 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
Material, das aus der Analyse des Tl 1- und Pb I-Spektrums ermittelt worden
ist, allzu deutlich gezeigt hat l . Aber selbst wenn man die Is.V. eines alkali-
ähnlichen 2S,-Terms - etwa mit der Elektronenkonfiguration 5dIO 6s - in
~
bezug auf seine Seriengrenze - 5 dlO - festgestellt hat, ist diese nur genähert
die von der Theorie berechnete Is.V. eines einzelnen 6s-Elektrons, da ein
solches Leuchtelektron die Rumpfelektronen mehr oder weniger abschirmt.
Erst wenn es gelingt, die Abschirmungseffekte zwischen dem s-Leuchtelektron
einerseits und den inneren sowie den - bei nichtalkaliähnlichen Spektren -
noch vorhandenen äußeren Hüllenelektronen andererseits rechnerisch zu eli-
minieren, hat man den Beitrag des einzelnen s-Elektrons zur Is.V., der dann
allerdings sowohl wegen der Normierung auf die Seriengrenze als wegen der
Abschätzung der Abschirmungseffekte mit erheblicher Ungenauigkeit be-
haftet ist.
Über das bis zum Jahre 1940 gefundene empirische Material, das noch
recht dürftig und in dem eben diskutierten Sinne wenig systematisch aus-
gewertet war, wurde in der Monographie "Kernmomente" [Km 40J berichtet.
Bis Kriegsende hat sich an diesem Stande nichts Wesentliches geändert. Seit
'1945 beschäftigt man sich intensiver und auch systematischer mit dem Is.V.-
Effekt, und es sind bis heute vor alle!ll in experimenteller, in geringerem Maße
auch in theoretischer Hinsicht Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht worden,
über die im folgenden berichtet werden soll.
Is.V. gefunden wurde [LR 51]. In den Tabellen der "Atomic Energy Levels"
[Mo 49] findet man die nach (1) berechneten Is.v. für alle Einelektronen-
spektren bis 0 VII r.
Messungen der Is.V. an den Mehrelektronenspektren der leichten Elemente
sind hauptsächlich aus zwei Gründen von Nutzen:
1. Zur Prüfung der Theorie des massenabhängigen Effektes,
2. zur Abschätzung des massenabhängigen Anteils der Is.V. bei den
mittleren und schweren Elementen durch Extrapolation aus den leichten
Elementen, da Rechnungen für die ersteren vorläufig nicht möglich sind.
Spek- Wellen-
I A l '. A 2'. A 3 I LI VI-2 LI V2-3 LI vl-2 Aa
- Literatur
trum länge (A) (lO- S cm-l ) (lO- S cm-l ) LI V2-3 Al
)
MgI 8806,7 24; 25; 26 +42,3 +42,8 0,99 MM44
5711,1 +26,6 +27,9 0,95
5528,4 + 37.4 + 33,5 1,12 1,08 :
4703,0 + 38 +30 1,27 I
I
4351,9 +39 + 31 1,26
Zn I 3075,9 64; 66; 68 +23 +23 1,0 CGKS 50
)
Zn II 7478,8 -96 -92 1,04 I
SW 33a
!
6471,1 -77 -83 0,93 1,06
6214,6 -95 -94 1,01 i
5894,4 I -95 -94 1,01
, I I I
Spek- L1 v exp
A 1 -A. Linien L1 v exp L1vB Literatur
trum L1vB
I
LiI 6-7 2s 'Sl - 2P'P + 350 1 + 193 1 1,81 MMS48; JK39
Mg II I 24-26 35 'S! - 3P 'PI + 102 +62 1,65 CKSG 49; Fi 42
KI 39-41 4s 'Si - 4P'P +7,6 + 8,9 0,9 JK38
CU I 63-65 45'S! -4P'P + 18 +8,1 2,2 BH50
RbI 85-87 5s' S i - 5P'P + 1,3± 1 + 1,9 KK 36; Ho 37
Sr II 87-88 5s 'Sl - 5P 'Pl 01 ± 1 + 1,7 1 HK 38
AgI 107~1O9 5s'S! - 5P'P -15 +2,8 I BKMW51
Ball 135-137 !6S'Si- 6P'P -6 + 1,2 Ar50
Hg II 200-202 , 6s 'S! - 6P'P -226 I + 1,5 Mr42
Spek- L1 vexp
AI-A. Linien L1 vexp L1 VB Literatur
trum
I I L1vB
zur Deutung heranziehen könnte. Auf Grund der Untersuchungen von CRAW-
FORD, GRAY, KELLY und SCHAWLOW [CGKS 50] am Zn und von BRIX und
HUMBAcH [EH 50] am Cu muß es sich jedoch vorwiegend um massen-
abhängige Effekte handeln 1.
Beim Ag und Cd (A R:; 110) sind an den entsprechenden Linien die
massenabhängigen Anteile der Is.V. offensichtlich viel kleiner, als man nach
einer1/A2-Extrapolation aus Cu bzw. Zn erwarten würde [EKMW 51, ES 50].
Da auch in den Spektren mit komplizierteren Elektronenkonfigurationen wie
Se [MA 49] und Br [TT 40, Ra 51] mit Massenzahlen von A ",80 keine Is.V.
festgestellt werden konnte, so darf man wohl annehmen, daß von den Seltenen
Erden an (A ~ 140) die massenabhängige Is.V. gegenüber der volumen-
abhängigen Is.V. vernachlässigt werden kann 2.
Außer den im Text referierten Arbeiten sind der Vollständigkeit halber
noch die neueren Messungen am C II [Eu 50], am N I [Ho 43, Ho 48] und
am Ne II [MS 48] und ein Theorem von VINTI [Vi 40a] zu erwähnen, das
für die Berechnung des Is.V.-Effektes der leichten Elemente von Vorteil ist,
wenn die radialen Eigenfunktionen in Form von Tabellen und nicht als
analytische Funktionen vorliegen.
Spektrum Spektrum
EIe- Ele-
Z Z
ment ment
I 11
I I III I IV I
I
11 111 IV
40 Zr D* I 64 Gd B* B* I
42 Mo C* (i6 Dy
I I
44 Ru 68 Er I
46 Pd C* I 70 Yb B I
47 Ag B* C* 71 Lu I
48 Cd C* C 72 Hf D I
!
49 In 74 W B* I
I
I
50 Sn D* D 75 Re C I
51 Sb D D D 76 Os C I
I
52 Te 77 Ir C* 1
54 Xe C* 78 Pt A
56 Ba D* B* 80 Hg B B* C*
57 La 81 Tl C B B*
58 Ce C* i 82 Pb B A B C
60 Nd C* I 90 Tl). * * I
62 Sm B* C* 92 U C* C*
63 Eu B i
I
1_
Berechnung der experimentellen Is. V.K. für das Isotopenpaar Tl 203-205 1 •
1 2 4 5 6 7 8
I
3_ 1 I
Is.V. ! LI Texp LI Texp
Term LI Texp I a b as - - -_.p Fehlerquellen
as as
10-3 cm-1 1 10-3 cm-1 10- 3 cm-1 10-' cm-1
Tl III 6s I (340) 2 1,285 264 5880 0,058 256 Ermittlung von LI Texp 2
7s 90' 0,309 291 1348 0,067 296 Normierung der Is.V. auf die
Seriengrenze '
8s 46 3 0,126 365 565 0,081 361 Normierung der Is.V. auf die
Seriengrenze 3
7s-8s 44 0,183 240 I
I
783 0,056 249 Nur Meßfehler
Tl II 6s 7S-6S9S 44 4 574 0,077 340 Beseitigung der Störung 4
6s 7s-6s 54 4 I 760 0,071 315 Beseitigung der Störung 4
. Z~(1-da/dn) . b' - LI Texp n~
-~-~--
a.
n a3 '
. Z~(1-da/dn)
Wo in Spalte 1 zwei Terme aufgeführt sind, enthalten die Spalten 2, 3 und 5 die
Differenzen der Werte für beide Terme, z. B. steht in der letzten Zeile von Spalte 5 der
Wert (a 6S +a7S ) im 6s 7s '51 -Zustand des Tl II minus a6S im 2S!-Zustand des Tl III.
Spalte 2 von Tabelle 6 enthält in den ersten drei Zeilen die gCJ;Ilessenen
Is.V. für das Isotopenpaar Tl 203 - 205 im 6s, 7 sund 8s 2S,_ Telm des ]J
mit Zeile 1 übereinstim- 0.75 (:t0.09) 0. 79(:t 0.05 ) '1,60(:t 0. 11) (~11,46
II 1,1, b. Abschirmungen.
Die Diskussion der Tabelle 6 bedarf einer Ergänzung, da die gemessenen
Is.V. LI T.xp wegen des Auftretens von Abschirmungseffekten noch nicht mit
den allein vom 6s-, 7 s- usw. Elektron herrührenden Is.V. identifiziert werden
dürfen. Die Bedeutung der Abschirmungen soll zunächst am Beispiel des
Hg-Spektrums erläutert werden.
Fig. 1 zeigt eine schematische Übersicht über die Is.V. in den wichtigsten
Elektronenkonfigurationen des Hg I und Hg 11. Bezugsterm 2 ist der Grund-
zustand des Hg III, 5 dlO • Die Messungen stammen von MROZOWSKI, SCHÜLER
Tabelle i. Auswertung der Is. V. des TIIII-Grundzustandes 5d'0 6s, bezogen auf 5d lO •
Zahlenwerte in 10- 3 cm-I •
1 2 3 4 5
------
I
Is.V. 5 d 10 6s Tl III
Is.V. Is.V.
Konfiguration durch Ver- I durch Ver-
Hg 200-202 Tl 203-205
gleich mit Hg gleich mit Pb
und anderen Autoren (Literatur siehe [EK 51J) und sind von MROZOWSKI
[Mr 42J diskutiert worden.
Für zwei durch einen Pfeil verbundene Elektronenkonfigurationen steht
das Verhältnis der gemessenen Is.V. am Pfeilende. Die dabei aufgeführten
Fehler sind aus den experimentellen Unsicherheiten abgeschätzt worden und
stellen nur einen Anhalt dar. Die durch eine Klammer zusammengefaßten
Zahlenpaare stimmen relativ gut überein, so daß sich folgende Aussagen
gewinnen lassen: Die Anwesenheit eines 6 p- bzw. 5 d-Elektrons erniedrigt
die Is.V. der 6s- und 6s 2 - Terme um '" 7 % 1 bzw. "-'23 % 2; eine 6s 2 -Kon-
figuration hat gegenüber der zugehörigen 6s-Konfiguration nicht die doppelte,
sondern nur die 1,55fache IS.V.3. Ähnliche Auswertungen am Pb [Ex 51J
ergeben in guter Übereinstimmung damit für die Abschirmung durch das
6p-Elektron "-'11 %, durch das 5d-Elektron "-'26% und für die 6s 2 -Kon-
figuration den Faktor "-' 1,64.
Unter der Annahme, daß die Abschirmungen im Hg- und Pb-Spektrum
auf das Tl-Spektrum übertragen werden können, ist in Tabelle 7 die Is.V. des
Tl III SdlO 6s-Terms ausgewertet worden. In Spalte 1 stehen die Elektronen-
konfiguration und der Bezugsterm, in den Spalten 2 und 3 die gemes-
senen Is.V. für die Isotopenpaare Hg 200-202 (vgl. Fig.1) und Tl 203-205
(Literatur bei Tabelle 6). Die Werte der Spalte 4 wurden mit der Is.V.276
für das 6s-Elektron des Hg II nach dem Schema 410·276: 350 =323 usw.
1 Der direkte Beitrag eines 6N-Elektrons zur Is.V. sollte für Z = 80 theoretisch [RH 32J
etwa 5% von dem eines 6s-Elektrons ausmachen; für 6p~- und5d-Elektronen sollte er ver-
nachlässigbar klein sein. Experimentell ist der Unterschied zwischen der Is.V. eines p!-
und PI-Elektrons bisher nicht mit Sicherheit feststellbar gewesen, so daß die direkten Bei-
träge schon der p}-Elektronen offenbar in den Meßfehlern und Störungen untergehen. Sie
werden deshalb im folgenden stets vernachlässigt.
• Die große abschirmende Wirkung des 5d-Elektrons ist verständlich, da sich nach den
Rechnungen von HARTREE [HH 35J die 5d-Elektronen hauptsächlich innerhalb der 65-
Elektronen aufhalten (s. z.B. [Dö 50J). An Hand von empirischen Daten läßt sich zeigen,
daß der Einfluß der Sd-Elektronen auf die 5s 2-Schale keine große Rolle spielt [Bx 51]. Be-
sonders große Abschirmungseffekte des noch tiefer liegenden 4f-Elektrons sollten bei den
Seltenen Erden auftreten; in der Tat lassen sich einige sonst unverständliche Beobachtungen
am Sm [Bx 49J zwanglos so verstehen [BK 49, BE 51].
3 Zum Vergleich: Das Verhältnis der entsprechenden nach HARTREE-FoCK gerechneten
1f'~(O)-Wer·te beträgt 1,43 beim Mg [BT 49J und Ca [HH 38J.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 29
berechnet. Die Angaben in Spalte 5 sind auf ähnliche Weise aus den Ab-
schirmungen im Pb-Spektrum gewonnen worden.
Ein schönes Beispiel für die Bedeutung der Abschirmungen liefert das
Tl I-Spektrum l , für das sich die gemessenen Is.V. [SK 31a] in Tabelle 8
finden. Bei Normierung auf die Seriengrenze bekommt der 7 s-Term gar
keine Is.V. und der 6p 2P-Term eine Is.V mit falschem Vorzeichen, was
unverständlich erscheint. BREIT [Er 32] hat jedoch bereits 1932 darauf hin-
gewiesen, daß man die beobachteten Is.V. als Abschirmungseffekte des Leucht-
elektrons auf die 6s2 -Schale deuten muß. Es läßt sich zeigen, daß diese
Deutung auch quantitativ durchgeführt
werden kann: Tabelle 8. Isotopieverschiebungen im
Tl I-Spektrum.
Für die Is.V. der Konfiguration 5 dlO 6s 2
läßt sich nach dem Muster der Tabelle 7 Term I Is.V. Tl 203-205
der ungefähre Wert 560 (bezogen auf 5tP°) 6s' 6p 2Pi o
auswerten. Nach den Angaben der Ta- 6s' 6p 2Pi o (Bezugsterml
6s 2 7 s oS! +60
belle 8 ist die Is.V. in der Konfiguration 6s' 6d "D I + 50
5dlO 6s2 6p um ",60 kleiner. Daraus folgt 6s" 8P, 9P, 10P" P I ~ +60
eine 6p-Abschirmung von ",60/560 = 10 %,
was gut zu dem Wert beim Hg ('" 7 %) und Pb ('" 11 %) paßt. Für das 7 s-
Elektron heben sich der eigene Beitrag zur Is.V. und die Abschirmungswirkung
auf die 6s2 -Schale in der Normierung auf die Seriengrenze annähernd auf.
Das 7s-Elektron wird jedoch nicht nur, wie eben gezeigt, auf die 6s 2 -
Schale, sondern auch auf die tiefer liegenden 5S2_ usw. Elektronen Abschir-
mungseffekte ausüben, und ähnliches muß z. B. auch für das Leuchtelektron
des Tl III gelten. Betrachtet man etwa den Vorgang der Ionisierung des 6s-
Elektrons im Tl III, so gilt folgende Bilanz für die Ladungsdichte am Kernort :
Li!p (0) !P6s (0) - [b!p5s' (0) + bq:5P' (0) + ... + lJ!Pls (0)] (5)
Gesamtänderung Ladungsdichte Änderung der Ladungsdichte am Kernort
(Abnahme) der am Kernort des für die inneren Schalen auf Grund der
Ladungsdichte 6s-Elektrons im geringeren Abschirmung
am Kernort 5dlO 6s-Term
y
Wie durch Pfeile angedeutet, entspricht der linken Seite von GI. (5) die
experimentell gemessene (auf die Seriengrenze bezogene) Is.V. Li T.xp. Das
erste Glied auf der rechten Seite ist der direkt vom 6s-Elektron herrührende
Beitrag zur Is.V. Li Tos, wie er z. B. für einen Vergleich mit der Theorie be-
nötigt wird. Das dritte Glied läßt sich - formal - als IX • Li Tos schreiben.
Wenn noch der massenabhängige Effekt Li1~ hinzugefügt wird, folgt all-
gemein aus Gl. (6)
(7)
1 Ähnliche Verhältnisse liegen im Pb I-Spektrum vor [Er 32, Ex 51].
30 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
mit
ß=1-r:x.. (8)
(Es ist zu beachten, daß LI TM normalerweise negativ ist.)
Die Kenntnis der Größe ß = 1 - r:x. ist für die Auswertung von LI T. aus
den gemessenen Is.V. von entscheidender Wichtigkeit. CRAWFORD und
SCHAWLOW [CS 49J haben als erste versucht, ß an Hand von HARTREE-
Funktionen [RH 35] für das Hg abzuschätzen. Sie geben den Wert r:x.;::;;0,16
für das 6s-Elektron des Hg an. HUMBAcH [Hu 51] hat jedoch bei einer ein-
gehenderen Diskussion der Abschirmungswirkungen gezeigt, daß es nicht
genügt, die direkte Abschirmung der tiefen s2-Schalen durch das 6s-Elektron
zu betrachten, wie es bei [C S 49] geschehen ist. So tritt z. B. auf dem Umweg
über die 5dlo·Schale eine indirekte Abschirmungswirkung des Leuchtelektrons
auf die 5s2-Schale auf, die die direkte Abschirmung wahrscheinlich völlig
kompensiert. Wegen dieser indirekten Abschirmungen muß damit gerechnet
werden, daß ß unter Umständen sogar größer als 1 (r:x. < 0) werden kann.
Das erscheint zunächst nicht sehr wahrscheinlich, jedoch erhält man auch
bei dem Versuch, die Größe ß aus den Hfs.-Daten am Hg empirisch abzu-
leiten [Ex 51], einen etwas über 1 liegenden Wert.
Leider ist die Situation heute noch so, daß eine definierte Angabe des 11
für beliebige Spektren nicht möglich ist. Wir haben uns deshalb entschlossen,
bei der folgenden Diskussion des experimentellen Materials den Faktor ß
stets ohne Angabe eines Zahlenwertes mitzuführen.
I I I, 1, c. Experimentelle Isotopieverschiebungskonstante.
Für die schweren Elemente kann der massenabhängige Effekt nach Ka-
pitel II mit großer Wahrscheinlichkeit vernachlässigt werden, so daß nach
(7) LlI;xp R::1 ß LI T. ist. Unter der berechtigten Voraussetzung!, daß ß inner-
halb einer s-Termserie als annähernd unabhängig von der Quantenzahl an-
gesehen werden kann [Hu 51], gilt die in III, 1, a nachgewiesene empirische
Proportionalität zwischen der Ladungsdichte eines s-Elektrons und LlI;xp
auch für 2 LI T.. Das Verhältnis von LI T. zur Ladungsdichte des s-Elektrons
am Kernort ist dann - unabhängig vom betrachteten Feinstrukturterm -
eine für das betreffende Isotopenpaar charakteristische experimentelle Konstante.
1 Diese Bedingung ist nicht sehr kritisch, da wegen der experimentellen Fehlerquellen fJ
nur größenordnungsmäßig konstant zu sein braucht.
2 Es gibt zwei Betrachtungsweisen: 1. Stellt man sich auf den Standpunkt, daß die
theoretischen Grundlagen der GI. (2) richtig sind, so ist die Proportionalität zwischen LI Ts
und tp~ (0) eine Trivialität. Aus dem experimentellen Sachverhalt LI Texp -tp~ (0) folgt dann
die Konstanz von fJ als empirischer Befund. 2. Will man die Beschreibung des experimen-
tellen Materials ohne Verquickung mit einer speziellen Theorie durchführen, so folgt aus der
anderweitig rechnerisch begründeten Konstanz von fJ (innerhalb einer Termserie) die Pro-
portionalität von LI T, mit tp~ (0) als rein experimentelle Gesetzmäßigkeit. Wir haben uns
hier auf den zweiten Standpunkt gestellt.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 31
C LI Ts
exp = 'P~ (0) n ~k/Z (9)
Für die Bestimmung von 'lf;(0) aus as hat man nach BREIT [Br 31J und
FERMI [Fe 30, F 5 33J mit Korrekturen nach ROSENTHAL und BREIT [RB 32,
C549] und BOHR und WEISSKOPF [mV 50, Bo 51]:
(11 )
wobei 1
(12)
und 2
8 R (1.2
K = - _00_ = 8,486 . 10- 3 cm -1.
3 mp/me
C LI~
exp R::! asiF . (14)
Für das Isotopenpaar Tl 203 -205 sind die in Spalte 4 von Tabelle 6
berechneten Quotienten wegen (10) bereits die Werte für ß· Cexp ' Aus den
Angaben der Spalte 6 ergibt sich ß Cexp durch Multiplikation mit dem
Faktor 3 F =4430' 10- 3 ern-I. Die Genauigkeit, mit der die Zahlcn in
Spalte 7 mit denen in Spalte 4 übereinstimmen, ist ein Zeichen für die
erstaunlich gute Äquivalenz 4 der Formeln (10) und ('14).
Als Bestwert wollen wir nach Tabcllc 4 für das Tl 203 -205
ßCexp = (280 ± 40) . 10- 3 cm-1
angeben.
11 I, 1, d. Relative Isotopenlagen.
Das wichtigstc ncucre Ergebnis über die relativcn Isotopenlagen ist dic
Beobachtung yon KLINKENBERG [Kl45], daß das Neodym genau wie das
Samarium (SCHÜLER und SCHMIDT [5534]) zwischen dcn Neutronenzahlen
1 Dabei bedeuten: g[ den Kern-g-Faktor; x die relatiVistische Korrektur: x = 3!(4a2 - 1) a
V
mit a = 1- (l.2Z2; 0 eine Korrektur, die den Einfluß des endlichen Kernvolumens auf die
Eigenfunktion des s-Elektrons berücksichtigt; 15 eine Korrektur, die die Verteilung des ma-
gnetischen Kernmoments auf das endliche Kernvolumen berücksichtigt.
2 R oo = RYDBERG-Konstante für unendlich große Kernmasse ; (I. = Feinstrukturkon-
stante; mplme = Verhältnis von Protonenmasse zu Elektronenmasse.
3 Benutzte Zahlenwerte: Z=81; g[=3,26; x=2,32; 0=0,12; 15=0,03.
4 Auch bei den übrigen schweren Elementen stimmen die Berechnungen nach (10) und
(14) sehr gut überein; vergleiche dazu die Werte für Z~(1-da!dn)!n~ und as!F bei den Ele-
menten Rb, Xe, Ba, Pt und Hg (Kapitel IH, 1, e). Weitere Daten zur Genauigkeit der
GOUDSMIT-FERMI-SEGRE-Formel bei [CS 49, SHC 49, ERC .50J und [PI50J.
32 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
Neutronenzahl . I 82 1 83 84 85 86 87 88 90 92
Nd. Z = 60 . . . I 0 1 ? 1.03 ? 2 3.08 4.73
Sm.Z=62. . . 0 - ~ 1,41 2 ;;;;;;2.26 3.14 4.81 5.72
Autoren [Km 32, SJ 32, RG 32, Ra 35, RS 36, MAW50J ergeben keine
wesentlich größere Schwankungsbreite. Nun werden sich bei der Mittel-
wertbildung über 10 verschiedene Pb-Linien eventuelle massenabhängige
Effekte in guter Näherung herausmitteln. Der Mittelwert LI'II (206-207) : LI '11
(206- 208) = 0,38 5 kann deshalb als charakteristisch für den IS.V.-Effekt der
schweren Elemente am Pb angesehen werden. Selbst wenn man die Streuung
der Meßwerte allein 1 auf massenabhängige Effekte schiebt, können diese
nach Ausweis der Fig. 2 höchstens ±9% des Is.V.-Effektes der schweren
Elemente ausmachen. Eine Nachprüfung am Hg [Mu 50J hat ebenfalls eine
Konstanz der relativen Isotopenlagen ergeben.
Die Fig.2 zeigt ferner 2, daß bei bestimmten Verhältnissen von LI'IIMILI 'IIs
die Isotope nicht mehr in der Reihenfolge der Massenzahlen geordnet liegen.
Derartige Verhältnisse kommen anscheinend an einigen Ba-Linien 3 vor [Ar 50].
Es darf daraus jedoch nicht auf eine falsche Reihenfolge der Isotope für den
Is.V.-Effekt der schweren Elemente am Ba geschlossen werden. Die am Xe 3
beobachteten relativen Isotopenlagen [KR 50] sind wahrscheinlich ebenfalls
noch durch den massenabhängigen Effekt verfälscht.
Eine ernste Schwierigkeit scheinen die am Uran gemessenen relativen
Is.V. [BSA 49J zu bereiten. Das Verhältnis ,1'11 (233-.235) : LI '11 (233--238)
schwankt für 12 Linien regellos zwischen 0,26 und 0,70. Das ließe sich durch
massenabhängige Is. V. nur dann erklären, wenn diese ein Mehrfaches des
Is.V.-Effektes der schweren Elemente ausmachen würden. Es scheint uns,
daß das vorliegende experimentelle Material bisher noch nicht genügend
gesichert ist, um derartig weittragende Schlüsse zu ziehen. Genauere Mes-
sungen am Uran sind deshalb dringend erwünscht.
Pd (Z=46).
Pd 106-108. Nach unveröffentlichten Messungen von STEUDEL am Pd I [St 51, BS 51J ist:
ßC = (38 ± 8)· ta- 3 cm- l . (Vorläufiger Wert.)
Ag (Z=47).
Ag ta7-109. Nach BRIX, KOPFERMANN, MARTIN und WALCHER [BKMW 51J ist:
ßC = (38 ± 6)· ta- 3 cm-l .
Cd (Z = 48).
Cd 112-114. Nach BRIX und STEUDEL [BS 50J ist:
ßC = (34 ± 4)· 10- 3 cm- l •
Xe (Z= 54).
Xe 134-136. Nach KOCH und RASMUSSEN [KR 50J ist für das Xe I:
LI Texp (6s) = 3,3±0,5.
LlTM =-0,7±0,5 (nach Tabelle 4 geschätzt); ßLlT6s =4,0±1.
n a = 1,900; 1-da/dn= 1,08; (1-da/dn)/n!=0,157.
F=-923·ta- 3 cm-1 (mit g/=-1,545; "=1,37; t5=0,04; 1'=0,01);
a6s =-145 (jj-Kopplung); a6s /F=0,157.
ßC = (25 ± 6)· ta- 3 cm-l •
benutzt. Auf die Literaturangaben hierfür haben wir verzichtet. Die Größe t5 ist von CRAW-
FORD und Mitarbeitern für einige Elemente berechnet worden [CS 49, SHC 49, KRC 50,
CSKG 50J; zwischen diesen Werten wurde interpoliert. Die Berechnung von E erfolgte nach
BOHR und WEISSKOPF [BW 50J, wobei für ein unpaariges Proton gL = 1, gs = 5,59 und für
ein unpaariges Neutron gL = ° gesetzt wurde. Literaturangaben fur die den as-Werten zu-
grunde liegenden Hfs.-Messungen finden sich bei [BK 51J.
~euere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 35
Ba (Z= 56).
Ba 135-137. Nach ARRoE [Ar 50J ist für das Ba II: LI Texp (6s) = 6± 1,5. (Unsicher; KELLY
[unveröffentlichtJ findet etwa den doppelten Wert, s. auch [KW 51].)
LI TM = - 2 ± 1 (nach Tabelle 3 geschätzt); ßLI Tus = 8 ± 2,5.
na=2,332; 1-dajdn= 1,097; Z!(1-dajdn)jn!=O,346.
F=398'1O-s cm-1 (mitg l =O,624; :>e=1,41; 15=0,04; e=O,01);
ass = 135,5; aBsfF = 0,340.
(Vorläufiger Wert.)
1 Ursprünglich (Fig.4 von [BF 50]) war näherungsweise mit 1-da/dn ~ na(7s) -n a (6s)
gerechnet worden. Mit dem differentiellen da/dn ergibt sich eine Korrektur von 3,5% für
das Ce II [En 51].
3*
36 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
W (Z= 74).
-----
W 182-184. Nach KOPFERMANN und MEYER [KM 47] zeigt das W I folgende Is.V.: Sd 5 6s:0
(Bezugterm); Sd'6s·:+73;Sd'6s6P:+16. Extrapolation vom Hg 11 (ähnlich wie in Ta-
belle S) ergibt für Sd 5 6s, bezogen auf Sd 5 : LI Texp (6s) R: ßLl16s = 70 ± 10.
n a = 1,329; 1-drJ/dn= 1,40±0,1St; (1-drJ/dn)/n!=0,596±0,06.
ßC = (117 ± 30)' lO-·cm-l .
Ir (Z= 77).
Ir 191~193. Nach unveröffentlichten Messungen von v. SIEMENS [Si 50, BKS 50] ist:
ßC = (130 ± 40) ·lO-·cm-l . (Vorläufiger Wert.)
Pt (Z = 78).
Pt 194-196. Nach JAECKEL und KOPFERMANN [fK 36, Ja 36] und TOLANSKY und LEE
°
[TL 37] lassen sich folgende Is.V. für das Pt I angeben (vgl. [BK 51]): Sd lO : (Bezugsterm) ;
5d 9 6s:+90±10tt; Sd 8 6s·:+203; Sd 8 6s6P:+112; 5d 9 7s:+12.
F=1490'1O-s cm-l (mit g/=1,212; "=2,1S; (J=0,11; e=0,027).
n a (6s) = 1,2S1; 1 - drJ/dn = 1,37; (1 - drJ/dn)/n! = 0,699.
a6s =1042 [Sc36]; a6s!F=0,700.
n a (7 s) =2,373; 1-drJ/dn=1,04; (1-drJ/dn)/n!=0,078.
a7s =200±80; a7s !F=0,134±0,05.
Auswertung von ßC:
1. Aus Sd 9 6s unter der Annahme, daß Sdlo und die Seriengrenze 5d9 praktisch dieselbe
Is.V. haben (LI Texp (6s) ""'ßLlT6S =90± 10): ßC= 129± 14.
2. Aus der Differenz der Is.V. von Sd) 6s und 5d' 7sund
a) der Differenz der as!F-Werte: ßC=138±30,
b) der Differenz der (1-drJ/dn)/n!-Werte: ßC = 126± 16.
Dabei geht als Unsicherheit die experimentell nicht gut gesicherte Is.V. von 5d 9 7s ein.
3. Mit ßLlTbS = 110± 1S. (Diesen Wert erhält man aus den Is.V. der Konfigurationen
5d 9 6s, Sd 8 6s' und Sd 8 6s6p durch Vergleich mit dem Hg 11): ßC=1S7±22.
Bestwert: ßC = (13S ± 2S)' lO- s cm-l •
Relative Isotopenlagen [fK 36, TL 37], vgl. [BK 51]. (194) :0; (19S) :0,44 (196): 1; (198) :2,04.
Hg (Z=80).
Hg 200-202. Nach MROZOWSKI [Mr 42] ist fur das Hg 11: LI Texp (6s) "'" ßLI T6s = 276 ± 30.
n a = 1,703; 1 -drJ/dn= 1,248; Z!(1-drJ/dn)/n!= 1,010.
F=1320'10-scm-l(mitgI=1,008; "=2,257; (J=0,12; e=0,03);
a 6s =13S8; a 6s /F=1,028.
Relative Isotopenlagen [Mu 50, Mr 40, Sc 38, SK 31b, vgl. BK 51]. (198): - 0,92; (199):
-0,80; (200):0; (201):0,30; (202):1; (204):1,99.
Tl (Z= 81).
Tl 203-205. Nach der ausführlichen Diskussion in Kapitel 111, 1, a, c ist:
ßC = (280 ± 40) . 10- 3 cm-1 •
t Abgeschätzt aus einem Vergleich der Spektren Cu I-Ag I-Au I mit Cr I-Mo 1-W I.
tt Nach Beseitigung der Störung [Lu 48] auch für 3D. und lD 2 •
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 37
Pb (Z=82).
Pb 206-208. Nach einer unveröffentlichten Diskussion der Hfs. im Pb IH-Spektrum geben
HUME und CRAWFORD [HC50] folgende Werte an: LI Texp (6s) =ßLlT6s = 500; a 6s =2600.
Mit F=1640·1O- 3 cm-1 (g/=1,176; ,,=2,38; <5=0,13; e=0,03) wird
ßC =(315 ± 35) .1O-3 cm-l •
Diese Is.V.K. ist auch mit den Is.V. im Pb 1-, Pb H und Pb IV-Spektrum sehr gut ver-
einbar, wenn dieselben Abschirmungswirkungen wie beim Hg zugrunde gelegt werden.
Relative Isotopenlagen ([RS 36, MAW 50, Ge 50, MS 50]; s. auch Kapitel IH, 1, d). (204):
-0,90; (206):0; (207):0,38; (208):1.
Tabelle 10. Zur Berechnung der experimentellen Is. V.K. aus der an den Ubergängen 6s'- 6s 6p
gemessenen Is. V.
(LI '1'- und ßC-Werte in 10-3 cm-l .)
1 2 3 4 5 6 7
ßC aus ßC aus Verhältnis
Spektrum A1-A. Llv(6s'-6s6p) n~ (6s')
(3), (4) LI T(6s) (6) zu (5)
eine angenäherte Auswertung der Is.V.K. direkt aus den gemessenen Is.V. der Linien mög-
lich ist. Zu diesem Zweck ist für die Bogenspektren derjenigen Elemente, bei denen die
Is.V.K. aus Abschnitt A bekannt ist (Spalte 6), die an den 6s' - 6s6p-übergängen gemessene
Is.V. mit dem n!-Wert des 6s'-Terms multipliziert worden l (Spalte 5). Ein Vergleich der
Spalten 5 und 6 zeigt, daß diese theoretisch nicht ohne weiteres gerechtfertigte Art der Aus-
wertung überraschend gut die aus einem alkaliähnlichen Term berechnete Is.V.K.liefert. Die
nach Ausweis der Tabelle (Spalte 7) entstehenden Fehler von ± 10% bleiben im Rahmen der
experimentellen Unsicherheiten, und die übertragung auf das Re und Os erscheint zulässig.
Re (Z= 75).
Re"185-187. Nach SCHÜLER und KORSCHING [SK 37] ist LI v (6s' - 6s 6P) = 65. Mit
n! (6s') ~ 2,27 wird
ßC =(148 ± ,...,40) ·lO-'cm-l .
Os (Z= 76).
Os 190-192. Nach den Messungen von KAWADA [Ka 38] kann LI v (6s' - 6s 6P) zu ,...,65
angenommen werden. Mit n!(6s') R; 1,95 wird
ßC = (127 ± ,...,40) .1O-3 cm-l •
V~ T l -
JEu
400
..c
G"'
~ 20 0
cesm~ Re-Ir-Hg- Pb_
ti
lift
a1
-Cl
J5
0.
Cth fur Ra - 1,5 ·10-1l:m ___
Ra -1,4 .1O- ßcm,
~~ +Gd
""-
~
~ 60
/00
80
~
// Yb
.
wl
Os
1 Pt
j V
B. 4 O~ , ~g
J
/"
Pd P~Cd
Xe Ba
~ 20
.~
:s-
C;
.!:2 10
8 Rb
6
40 50 60 70 80
Z~
Dividiert man GI. (2) durch 1p;(0):7: a~/Z (und durch h cl, so erhält man
in Analgie zu (9) und wegen 1 Cf!s (0) "'1p; (0) einen theoretischen Wert für die
wiederum vom betrachteten Elektronenterm unabhängige IS.V.K.:
00
worden [Be 45, IT 48, BK 491, CS 49, Ru 51]. Die so berechneten theo-
retischen Is.V.K. haben wir mit Cth (lies: theoretisch für homogen geladenen
Kern) bezeichnet. Für R o = 1,4 . 10-13 cm und 1,5 . 10 -13 cm ist Cth in Fig. 3
eingezeichnet. Ausführliche Tabellen für Cth finden sich bei HUMBAcH [Ru51],
dort ist auch angegeben, wie sich C für ein beliebig anders gewähltes !5e(r)
bequem berechnen läßt.
I I I, 2, b. Andere Effekte.
Der Einfluß der Nicht-CouLOMBschen Wechselwirkung zwischen Elek-
tronen und Neutronen [HRR 51, 'FM 47] auf die Is.V. ist so klein, daß er
völlig vernachlässigt werden kann [Co 36, BK 49, WB 51].
BREIT, ARFKEN und CLENDENIN [BAC 50] haben untersucht, welchen
Beitrag eine Polarisation des Atomkerns durch die Hüllenelektronen zur
Is.V. liefert. Dieser Beitrag ist in dem Kernvolumeneffekt entgegengerichtet.
Er läßt sich nur unter sehr detaillierten Annahmen über die betreffenden
Kerne numerisch auswerten. Abschätzungen ergaben, daß er die Größen-
ordnung des Volumeneffektes erreichen kann. Wegen der Einzelheiten sei
auf die zitierte ausführliche Arbeit verwiesen.
während man auf die kleinen Schwankungen im Verlauf der ßCexp beim
augenblicklichen Stand uns('rer Kenntnisse über die Is.V. noch keinen großen
Wert legen sollte.
Der von BREIT diskutierte Polarisationseffekt (Kapitel III, 2, b) kann
wohl nur eine sekundäre Rolle spielen [Ra 51], worauf später noch· kurz ein-
gegangen werden soll.
Somit stellen nach unserer Meinung die in Fig. 3 wiedergegebenen ßCexp
angenähert auch die Cexp-Werte in ihrer Abhängigkeit von Z dar und geben
nach dem früher Gesagten ein Abbild der Ladungsänderung der Atomkerne
beim Einbau von Neutronen. Aus der Tatsache, daß die ßCexp in der Mehr-
zahl der Fälle so stark vom Cth abweichen, möchten wir schließen, daß die
Vorstellung der von Isotop zu Isotop gleichmäßig im Verhältnis der Massen-
zahlen anwachsenden Kernkugel zu grob ist. Es genügt auch nicht, die für
schwere Kerne wohl zutreffendere Vorstellung einer nach der Peripherie hin
zunehmenden, am Kernrand exponentiell abfallenden Ladungsverteilung an-
zunehmen, wenn man an der gleichmaßigen Ausdehnung der Kernladung mit
der Massenzahl festhält: Wie HUl\fBACH [Hu 51] gezeigt hat, wird dadurch
Cth nur unwesentlich geändert. Man muß aus dem Sinne der Abweichungen
zwischen Cexp und Cth vielmehr schließen, daß die "Verdünnung" der Kern-
ladung durch neu hinzukommende Neutronen nicht gleichmäßig vor sich geht,
sondern daß die zuletzt eingebauten Neutronen vorwiegend die äußeren Kern-
gebiete beeinflussen [BK 47, BK 49]. Im Sinne des Einteilchenmodells
[GM 50, HfS50] sollten das die Neutronen mit hohem Drehimpuls sein.
Doch weiß man heute über die Eigenfunktionen der Nukleonen zu wenig,
um mit ihrer Hilfe quantitative Aussagen über die Änderung der Kern-
ladungsdichten machen zu können.
Auch die Sonderstellung der drei Seltenen Erden Ce, Sm und Eu läßt
sich durch speziell mit den 4/-Elektronen verknüpfte Abschirmungseffekte
-- falls solche wirksam sind - wohl nicht beseitigen, da das Gd bereits wieder
annähernd das ßCexp seiner rechten Nachbarn hat. Der große Sprung zwischen
den Cexp von Gd und Eu (""' 1 : 4) bleibt jedenfalls bestehen, da die entspre-
chenden ßCexp aus Feinstrukturtermen (Gd II und Eu I) mit gleicher Elek-
tronenkonfiguration und speziell der gleichen Zahl von/-Elektronen gewonnen
sind [Bx 51].
Die extrem großen Is. V. zwischen Eu 151 und Eu 153 einerseits und
Sm 150 und Sm 152 andererseits lassen sich vielleicht als einen Quadrupol-
effekt der Is.V. verstehen [BK 47, BK 49]. Der Gedanke ist kurz der fol-
gende: Beim Übergang von Eu 151 zum Eu 153 ändert sich das Quadrupolmo-
ment Q der bei den Kerne von 1,2 '10- 24 cm 2 auf 2,5 . 10-- 24 cm 2 [SK 36]. Diese
Quadrupolmomente sind viel zu groß, um von einem einzigen Teilchen her-
zurühren. Setzt man, wie üblich, voraus, daß die beobachteten Abweichungen
der elektrostatischen Kernladungsverteilung von der Kugelsymmetrie als
42 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
r
1
)
1,5
i'" ~
Ce
Pd Gd
0.5
0 ~
H. TI
Ag "'-0 Cd Yb ~e g~b
i raa
Xe 0-.0
wl
~o-'O
Rb Os/~ pr
50 60 70 80 90 100 110 120 130
N-
Fig. 4. Verhältnis von ß Cexp zu C th für Isotopenpaare mit N - 2 und N Neutronen. (C th
für das Modell der homogen geladenen Kugel mit R o = A k. 1,4 . 10-13 cm.) Es sind nur die
Meßpunkte für gerade Neutronenzahlen eingetragen. Leere Kreise: KernladungszahlZ gerade,
ausgefüllte Kreise: Z ungerade. Fehlergrenzen s. Fig. 3. Die relative Lage der miteinander
verbundenen Meßpunkte ist von der Messung der relativen Isotopenlagen her gut bekannt.
Schließlich ist in Fig.4 das Verhältnis ßCexp/Cth als Funktion der Neu-
tronenzahl N aufgetragen, wodurch zusätzlich zu dem bisherigen Bild auf
den starken Sprung bei der Neutronenzahl 82 aufmerksam gemacht wird.
Ein entsprechender, allerdings nicht so betonter Sprung scheint bei N = 50
aufzutreten. Doch ist dieser noch nicht mit der gleichen zahlenmäßigen
Genauigkeit festzulegen, wie bei N = 82. In Fig. 4 ist dieser Sprung nur
durch die Meßpunktc von Rb und Pd, Ag belegt. Jedoch ist zu erwähnen,
daß die dicht vor N = 50 liegenden Elemente Kr! und Sr 2 wahrscheinlich
auch sehr kleine ßCexp/Cth-Werte haben, während das dicht hinter N=50
liegende Mo [Ar 51J relativ große Is.V. im Sinne des Volumeneffektes zeigt.
Diese offensichtliche Heraushebung der magischen Neutronenzahlen 50
und 82 durch die Is.V. ist an Hand der Nukleonenkonfigurationen des Ein-
teilchenmodells bisher nicht überzeugend zu deuten.
1 Siehe Tabelle 4.
2 Siehe Tabelle 3.
44 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
Wie die Darlegungen dieses Abschnittes zeigen, darf man beim heutigen
Stand unserer Kenntnisse von den Atomkernen nicht erwarten, daß aus dem
vorhandenen Material über die Is.V. das Kernaufbauprinzip des "richtigen"
Kernmodells abgeleitet werden kann. Man wird vielmehr, wie das ja auch
hier zum Teil versucht wurde, die experimentellen Daten der Is.V. von Fall
zu Fall henutzen, um Vorstellungen über die Änderung der Ladungsverteilung
der Atomkerne beim Einbau von Neutronen, die auf andere Weise nahegelegt
werden, zu prüfen.
vorletzten Zeile unterscheidet sich von der in den übrigen Zeilen weit außer-
halb der Meßfehler. Der Term 67 ist also nicht reell, die scheinbar gut pas-
sende Wellenzahldifferenz 783,S5 kommt, wie die Is.V. zeigt, in diesem Fall
nur zufällig zustande.
Messungen der Is.V. an einer großen Zahl von Linien sind mit den nor-
malen interferometrisehen Methoden relativ mühsam, deshalb ist das eben
geschilderte Prinzip bisher nur in bescheidenem Maße bei der Einordnung
von Spektrallinien benutzt worden [B x 49]. Da sich bei Verwendung von
getrennten Isotopen die Is.V. in manchen Fällen noch bequem mit dem
Gitter messen lassen (s. z. B.
Tabelle 11. Ausschnitt aus dem quadratischen Term-
[SM 50b]), dürfte die Methode schema des Sm I mit Angabe der I sotopieverschiebung.
in Zukunft einige Bedeutung er- Wellen zahlen der Linien in ern-I.
langen. Eingeklammert: Is.V. in 10- 3 ern-I.
Term I 4 Differenz 5
111, 4, b. Zuordnung von Elektro-
nenkonfigurationen, Diskussion 24 16015.08 783.55 15231.53
(-43) (0) (-43)
von Störungen. 29 16341.26 783.53 15557.73
Die Is.V. in den Termen der (-41) (+1) (-42)
50 18011.73 783.56 17228.17
schweren Elemente hängen, wie (+ 34) (+2) (+ 32)
in KapitelllI, 1, a u. b dargelegt, 67 19818.95 783.55 * 19035.40
(+24) (-25) (+49)
von der Anzahl der s-Elektronen 75 21142.76 783.49 20359.27
und ihrer Ladungsdichte am (-23) (-1) (-22)
Kernort ab. Da diese Gesetz- * Zujallige übereinstimmung der Wellenzahl-
differenz.
mäßigkeiten durch ein großes
Erfahrungsmaterial an anderweitig gut bekannten Spektren gesichert sind,
können sie bei der Identifizierung von noch unbekannten Elektronenkonfi-
gurationen mit herangezogen \verden 1,2. Messungen des ZEEMAN-Effektes,
die unmittelbar Auskunft über die Drehimpulsquantenzahlen der Atom-
terme, jedoch nicht über die Elektronenkonfiguration geben können, werden
deshalb in idealer \Aleise durch Messungen cer Is.V. ergänzt.
Folgende neuere Arbeiten sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen:
RASMUSSEN [Ra 40] hat die \'on ihm am Ag gefundenen Terme oer Konfi-
guration 4d 8 5 S2 und 4d 9 5 S2 durch Messungen der Is.V. gesichert. Die
5 d8 6s 2 - und 5 d 9 Gs 6p-Terme des Hg III wurden auf Grund der Is.V. identi-
fiziert [Fo 50, ]037, s. auch Mi' 421. Am Gd II ließ sich auf Grund der
Termanalyse [Ru 50] nicht entscheiden, welche P·Terme zu 4j7 6s 6p und
welche zu 4j1 5 d 6p gehören; Messungen der Is.V. zeigten, daß zwar eine
starke Durchmischung der Konfigurationen vorliegt, der tiefe z 10 P jedoch
1 Zum erstenmal haben wohl SCHÜLER und WEST1\IEYER [SW 33] auf diese Weise eine
Elektronenkonfiguration zugeordnet (4d 9 55 2 2D-Term des Cd II).
2 Der Nachweis. daß die Gesetzmäßigkeiten des Isotopieverschiebungseffektes der schwe-
ren Elemente auch für die Seltenen Erden gelten [BK 49. BE 51]. ist in diesem Zusammen-
hang von besonderem Nutzen. denn gerade mit den Seltenen Erden beginnen die großen
Lücken in der Analyse der Atomspektren [Me 51].
46 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:
1 Zwei Beispiele sind von LUCAS [Lu 48J in diesem Sinne diskutiert worden: Die gestörte-
IP-Serie des Hg I [SK 31b, SR 32J und die Störung zwischen Sd 8 65 2 apo und Sd 9 6s 3D 2 _
ID 1 im Pt I Spektrum [JK 36, TL 37J. Siehe ferner z.B. [Km 40J.
~euere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 47
Die Is.V. in den Spektren der schweren Elemente stellt also auch eine
bis heute nicht immer genügend beachtete Kontrolle für die Hfs.-Analyse
der Atomlinien dar.
Literatur.
Hinter jedem Zitat sind in Klammern die Abschnitte angegeben,
in denen die betreffende Arbeit zitiert ist.
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40, 550 (1950) (III 4b).
[Sc 38J SCHMIDT, TH.: Z. Physik 11 I, 332 (1938) (UI 1 e). - [Sc 39J SCHOBER, H.:
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1950 und unveröffentlichtes Material (erscheint voraussichtlich in der Z. Physik) (lU 1e).-
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SCHÜLER, H., u. J. E. KEYSTON: Z. Physik 70,1 (1931) (12, nI 1 b). - [SK 31bJ SCHÜLER,H.,
u. J. E. KEYSTON: Z. Physik 72, 423 (1931) (III 1e, 4b). - [SK 31cJ SCHÜLER, H., u.
J. E. KEYSTON: Naturwiss. 19, 320 (1931) (I 2). - [SK 36J SCHÜLER, H., u. H. KOR-
SCHING: Z. Physik 103, 434 (1936) (In 3). - [SK 37J SCHÜLER, H., u. H. KORSCHING:
Z. Physik 105, 168 (1937) (III 1e). - [SK 38J SCHÜLER, H., u. H. KORSCHING: Z. Physik
111, 386 (1938) (IIlie). - [SM50aJ SMITH,D.D., and J.R.McNALLYjr.: J. opt. Soc.
Amer. 40, 803 (1950) (In 4b). - [SM 50bJ SMITH, D. D., and J. R. McNALLY jr.: J. opt.
Soc. Amer. 40, 878 (1950) (In 4ab). - [SR 32J SHENSTONE, A. G., and H. N. RUSSELL:
Phys. Rev. 39, 415 (1932) (III 4b). - [SS34J SCHÜLER, H., u. TH. SCHMIDT: Z. Physik 92,
148 (1934) (In 1d). - [SS35J SCHÜLER, H., u. TH. SCHMIDT: Z. Physik 94, 457 (1935)
(lU 1 e). - [St 51J STEUDEL, A.: Unveröffentlicht (erscheint voraussichtlich in der Z. Physik)
(lU 1e). - [SW 33aJ SCHÜLER, H., u. H. WESTMEYER: Z. Physik 81, 565 (1933) (U 1). -
[SW 33bJ SCHÜLER, H., u. H. WESTMEYER: Z. Physik 82, 685 (1933) (lU 4b).
[TL 37J TOLANSKY, S., and E. LEE: Proc. roy. Soc., Lond., Sero A 158, 110 (1937) (lU 1 e,
4b). - [TT 40J TOLANSKY, S., and S. A. TRIVEDI: Proc. roy. Soc., Lond., Sero A 175, 366
(1940) (U 2).
[VM 51J VREELAND, J. A., and K. MURAKAWA: Phys. Rev. 83, 229 (1951) (lU 1, 1e).-
[Vi39J VINTI, J.P.: Phys. Rev. 56,1120 (1939) (111). - [Vi40aJ VINTI, J.P.: Phys.
Rev. 58, 882 (1940) (U 2). - [Vi 40bJ VINTI, J. P.: Phys. Rev. 58, 879 (1940); 59, 103
(1941) (U 1).
[Wa 34J WALERSTEIN, I.: Phys. Rev. 46, 874 (1934) (lU 1 b). - [WB 51J WILETS, L.,
and L. C. BRADLEY IU: Phys. Rev. 82, 285 (1951) (lU 2b). - eWe 37J WEIZSÄCKER, C. F. v.:
Die Atomkerne, S. 78. Leipzig 1937 (lU 2a.)
Gbttinger Akademie-Festschrift. 4
Paradoxien des Zeitbegriffs
in der Theorie der Elementarteilchen.
Von
w. HEISENBERG, Göttingen.
(Max-Planck-Institut für Physik.)
Mit 3 1;'iguren im Text.
Vergangenheit
\~\\,
Fig. 1. Raum-Zeitstruktur nach der klassi- Fig.2. Raum-Zeitstruktur nach der speziellen
sehen Theorie (t Zeit; x Raumkoordinate). . Relativitätstheorie.
etwas ähnliches wie eine völlig scharfe Lokalisierung der von 0 aus zu beein-
flussenden Vorgänge, sie muß also eine unendliche Unsicherheit der Impuls-
und Energiewerte zur Folge haben. Die unmittelbare Folge ist, daß in jeder
Quantentheorie einer relativistischen Wellentheorie mit Wechselwirkung
Divergenzen beim Energie- Impulsvektor auftreten, die einer geschlossenen
mathematischen Formulierung der Theorie im 'Hege stehen. Man erkennt
auch, warum die Schwierigkeiten gerade bei der speziellen Gruppe der rela-
tivistischen Wellentheorien mit Wechselwirkung erscheinen. In den unrela-
tivistischen Wellen theorien (z. B. denen von KLEIN, JORDAN und WIGNER)
treten sie nicht auf, weil ja dort die Vergangenheit gewissermaßen stetig in
die Zukunft übergeht. Auch in relativistischen Wellentheorien ohne Wechsel-
wir1wng kommen sie nicht vor, weil die genannte Unstetigkeit zwischen
Gegenwart und Zukunft nur dort auftritt, wo Wirkungen übertragen werden.
c) In der mathematischen Durchführung äußert sich die beschriebene
Schwierigkeit, wie von SCHWINGER und anderen [1] ausführlich dargestellt
worden ist, in der folgenden Weise:
Wenn man die Wellentheorie der Materie durch eine HAMILToN-Funk-
tion H festzulegen sucht, die von der Wellenfunktion 1p der Materie abhängt,
so kann man H einteilen in die kinetische Energie K "freier" Teilchen und
ihre Wechselwirkungsenergie W_
H=K+W. (1)
Diese Einteilung ist allerdings bis zu einem gewissen Grad willkürlich, da
die Massen der in K dargestellten "freien" Teilchen nicht notwendig identisch
sein müssen mit den Massen, die sich aus H für die wirklichen freien Teilchen
ergeben.
Man kann dann zunäcnst das einfachere System H = K behandeln und
für dieses, unter Voraussetzung eines konstanten Zustandsvektors P, die
Wellenfunktionen 1p(x) als Funktion der Raum- und Zeitkoordinaten x be-
rechnen. Die 1p (x) sind ja dann einfach Lösungen der zu K gehörigen linearen.
homogenen Wellengleichung. Für diese 1p (x) ergeben sich aus K die Ver-
tauschungsgrößen:
lji(x) 1p(x')± 1p(x' ) lji(x) = i LI (x, x'), (2)
wobei hier und im folgenden das obere Vorzeichen für Spinoren (FERMI-
Statistik), das untere für Skalare. Vektoren usw. (BüsE-Statistik) gilt. Die
Spinor- bzw. Vektorindizes sollen der Einfachheit halber bei den Koordinaten
x bzw. x' mit gemeint sein. Neben der Funktion LI (x, x') spielt iibrigens noch
eine ähnlich wichtige Rolle der Vakuumerwartungswert
(lji(x) 1p(x' ) =f 1p(x' ) lji(x) = LI (1) (x, x').
Die Funktionen LI (x, x') und LI (1) (x, x') genügen in x und x' der gleichen line-
aren, homogenen Wellengleichung wie 1p (x), und lassen sich aus K berechnen.
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 53
Benützt man die eben beschriebene Darstellung der lp(x) für das System (1)
mit Wechselwirkung, so spricht man von der "Wechselwirkungsdarstellung".
In dieser ist der Zustandsvektor jetzt nicht mehr zeitlich konstant, vielmehr
genügt er der HAMILToNschen Gleichung
15~~)=-iW(x)tp. (3)
a(x) bedeutet hier eine dreidimensionale Fläche, die nur raum artige Vektoren
enthält, lJI (0') den Zustandsvektor als Funktional der Wellenfunktionen auf
dieser Fläche. W(lp(x))=vV(x) ist relativistisch ein Skalar. Formal läßt
sich (3) integrieren durch [2J
(J'
wobei das Produkt als ein unendliches Produkt gemeint ist über alle raum-
zeitlichen Volumenelemente dx, die zwischen den Flächen 0' und 0" liegen.
Die Reihenfolge der Faktoren in JI ist dabei durch die Forderung festgelegt,
daß spätere Glieder W (x) links von früheren stehen müssen. Wegen der
Vertauschbarkeit der Wellenfunktionen '1J! (x) und 11' (x') bei raumartigen Ab-
ständen x-x' ist diese Definition relativistisch invariant; sie entspricht
übrigens gerade der Form des Kausalprinzips, das sich aus der Raum-Zeit-
struktur der speziellen Relativitätstheorie ergibt.
Bei der Auswertung des Produkts (4), etwa in Form einer Reihenent-
wicklung nach Potenzen von W, treten also Funktionen von x und x' auf,
die z. B. durch
<ip(x),lp(x')) für x später als x',
<11' (x'), ip (x)) für x früher als x'
definiert sind. Diese Funktionen genügen offenbar an der Stelle x= x' nicht
mehr der homogenen Wellengleichung ; sie sind vielmehr Lösungen der ent-
sprechenden inhomogenen Wellen gleichung, bei der die Inhomogenität die
Form einer c5-Funktion an der Stelle x= x' annimmt.
Man definiert zweckmäßig eine bestimmte Lösung J (x, x') der inhomo-
genen Gleichung, die sich im Rahmen der bisherigen Rechnungen von LI (x, x')
nur durch das Vorzeichen und den Faktor tunterscheidet:
LI (x, x') =-t E(X, x')· LI (x, x'), (5)
wobei
E(X x)
, {+=
1, wenn x später als x'
, - 1, wenn x früher als x'.
Bei der Auswertung von (4) tritt diese Funktion stets in der FEYNMANschen
Kombination [3J mit LI (1) auf
(6)
54 W. HEISENBERG:
Die Funktion J wird, ebenso wie LI, auf dem ganzen LichtkegelL'(x-x');=O
singulär nach Art der Funktion d(L'(x-x');). Da diese Funktion bei der
Auswertung von (4) in höheren Potenzen auftreten kann und da dann über x
integriert werden muß, divergieren die Integrale und man erhält für (4) keine
sinnvollen Resultate.
Allerdings auch keine unendlichen Resultate; denn der Operator II auf
der rechten Seite von (4) ist unitär, in ihm müssen sich also positiv und
negativ unendliche Glieder kompensieren. Es kann daher unter Umständen
gelingen, durch geeignete Summationsvorschriften der rechten Seite von (4)
einen Sinn zu geben.
Jedenfalls genügt also GI. (4) allein nicht zur Lösung des Problems; sie
muß, wenn man ihr überhaupt einen Sinn geben will, ergänzt werden durch
Summationsvorschriften, die die Unbestimmtheit der unendlichen Integrale
beseitigen.
In dieser mathematischen Situation spiegelt sich genau die in Abschn. Ib
erwähnte Unbestimmtheit der Impuls- und Energiewerte, die eine notwendige
Folge der scharfen Grenzen in Fig. 2, also der Raum-Zeitstruktur der spezirllen
Relativitätstheorie ist.
(8)
setzen. Oder man kann, wIe es nach BEITLER In manchen Fällen zweck-
mäßig ist,
.. (9)
annehmen. Jedesmal tritt in der Auswertung nach dem Muster von GI. (4)
nicht mehr die FEYNMANsche Vertauschungsfunktion LI F(X, x') sondern nur
noch LI(l) (x, x') auf, und die Integrale über x konvergieren.
Der Unterschied zwischen den GI. (3) und (4) einerseits, (8) und (9)
andererseits läßt sich auch in folgender Weise beschreiben:
Wenn der Übergang vom Anfangs- zum Endzustand über irgendwelche
Zwischenzustände erfolgt, so muß auch für die Zwischenzustände bei Gültig-
keit von (8) und (9) der Energiesatz gelten - es ist sozusagen beliebig viel
Zeit verfügbar, um auch im Zwischenzustand den Energieinhalt zu kon-
trollieren; bei Gültigkeit von (3) und (4) dagegen kann im Zwischenzustand
der Energiesatz nicht angewendet werden; denn der Zwischenzustand existiert
nur so kurze Zeit, daß in ihm die Energie gar nicht gemessen werden kann.
Die Divergenzen bei Gültigkeit von (3) und (4) rühren gerade von den Zwischen-
zuständen beliebig hoher Energie her, sie fallen also bei Gültigkeit von (8)
und (9) fort.
b) Nun ist freilich der Eingriff, der am kanonischen Formalism.us vor-
genommen wird, wenn man die GI. (3) und (4) einfach durch (8) oder (9)
ersetzt, schon viel zu grob und gewaltsam, um noch eine Darstellung der
Erfahrungen zuzulassen. Denn dieser Eingriff zerstört schon in endlichen
Zeitintervallen - auch solchen die groß gegen 10- 24 sec sind - den Kausal-
zusammenhang.
STÜCKELBERG, RIVIER [6J und FIERZ [7J haben auseinandergesetzt, daß
der normale Kausalzusammenhang nur gewahrt ist, wenn in dem der GI. (4)
entsprechenden Ausdruck nur die Funktion LI F (x, x') auftritt. Das Wort
Kausalzusammenhang ist dabei hier und im folgenden stets gemeint im Hin-
blick auf die speziellen Aussagen über die Wirkungen von einem Raum-
Zeitpunkt zu einem anderen, die aus der Raum-Zeitstruktur der speziellen
Relativitätstheorie folgen. Die Abweichungen vom Kausalgesetz, von denen
hier die Rede ist, haben also nichts zu tun mit den ganz andersartigen Ab-
weichungen, die durch die Quantentheorie aufgedeckt worden sind und mit
den Unbestimmtheitsrelationen ausgedrückt werden können.
Die Funktion LI F (x, x') also stellt diesen aus der speziellen Relativitäts-
theorie stammenden Kausalzusammenhang richtig dar, indem LI F(X, x') für
56 w. HEISENBERG :
FOURIER-Transformierte
(15)
eine rationale (und relativistisch invariante) Funktion des Vierervektors k,o
sei. Die Nullstellen bestimmen dann die Massen der "freien" Elementar-
teilchen. Für die Vertauschungsfunktion LJ (x, x') kann man hier, in Analogie
zu den Verhältnissen bei der einfachen Wellengleichung 0"1'=0, annehmen
(16)
(die erste Summe ist über die Nullstellen der ersten Art, die zweite über die
der zweiten Art zu erstrecken), so muß man, um (16) zu erhalten, annehmen:
(18)
mit
(19)
("Pi ist hermitisch konjugiert zu "1'1)' Dann können nämlich die Singularitäten
+
in "I'i(x) "1'1 (x') "1'1 (x') "I'i(x), die von den Nullstellen mit negativem BL/Bk4
herrühren, gerade die Singularitäten der anderen Gruppe in (16) kompensieren,
wenn die IXI und ßI richtig gewählt werden. Diese Kompensation ist aber
nur möglich, wenn j2 = - 1 ist, d. h. wenn Vi nur bis auf die Vorzeichen umkehr
von j hermitisch konjugiert zu "I' ist.
Nimmt man nun weiter für Wirgendeinen aus Invarianzgründen nahe-
liegenden Ausdruck höherer Ordnung aus "I' (x) und Vi (x), so wird dieser
Ausdruck nicht hermitisch, er kann also keine Wechselwirkung im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes darstellen. Wohl aber kann man mit ihm in Analogie
zu (4) und (7) einen Operator 1a:' definieren
r:,:=II~: (1- i W (x) dx), (20)
der der S~:-Matrix nachgebaut und wegen der Regularität der Vertauschungs-
funktionen regulär, aber im allgemeinen nicht mehr unitär ist. Setzt man
nun weiter durch Definition fest:
(21)
Paradoxien des Zeit begriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 59
Nehmen wir an, daß zwei Elementarteilchen (der ersten Gruppe) mit
hoher Energie zusammenstoßen. Diese Teilchen können ein oder mehrere
Teilchen der zweiten Gruppe beim Stoß erzeugen, die wiederum nach einer
kurzen Wegstrecke in Teilchen der ersten Gruppe zerfallen. Wenn man einen
solchen Vorgang in einer photographischen Platte beobachtete, so würde er
also das bekannte Bild eines "Doppelsterns" bieten: Ein Primärteilchen
erzeugt einen" Stern", dessen Sekundärteilchen wiederum einen oder mehrere
Sterne bilden. Verfolgt man jedoch den zeitlichen Ablauf des Ereignisses,
etwa durch Zählrohre, die die Sterne registrieren, so würde sich bei Gültig-
keit von (17) und (21) entgegen der Erwartung herausstellen, daß der zweite
(sekundäre) Stern schon zeitlich vor dem ersten gebildet worden ist.
Für dieses paradoxe Ergebnis gibt es dann drei verschiedene, aber letzten
Endes äquivalente Interpretationen, die die Struktur der Theorie in ver-
schiedener Weise beleuchten:
1. Für die (nur im Zwischenzustand vorhandenen) Teilchen der zweiten
Gruppe läuft die Zeit in der entgegengesetzten Richtung.
2. Noch bevor der "primäre" Zusammenstoß stattgefunden hat, geschieht
am Ort des "sekundären" Sterns ein Prozeß, bei dem einige Teilchen der
ersten Gruppe und ein Teilchen negativer Energie der zweiten Gruppe ent-
stehen. Dieses letztere läuft zu der Stelle, an der der "Primär"prozeß ge-
schieht, um dort gerade im richtigen Augenblick anzukommen und im Prozeß
absorbiert zu werden. Bei dieser Interpretation muß allerdings der Kausal-
zusammenhang im Sinne einer "causa finalis" gedeutet werden: Die Erzeugung
eines Teilchens negativer Energie ist nur möglich, weil später an der "rich-
tigen" Stelle die Energie vorhanden sein wird, um das Teilchen negativer
Energie wieder zu absorbieren.
3. Die Elementarteilchen (der ersten Gruppe) besitzen nicht nur eine
räumliche, sondern in gewissem Sinn auch eine zeitliche Ausdehnung; die
geschilderten Prozesse spielen sich alle innerhalb des Elementarteilchens ab.
Diese Deutung liegt besonders nahe bei den Annahmen von PAIS und UHLEN-
BECK, da dort der Operator e- A o' die räumliche und zeitliche "Verwaschung"
des Elementarteilchens hervorruft.
b) Ob eine unmittelbare Beobachtung der eben beschriebenen Paradoxien
möglich wäre, scheint allerdings fraglich, weil ja die Meßapparaturen selbst
auch aus Atomen bestehen und daher die Messung von Zeitdifferenzen der
Größenordnung 10- 24 sec nicht zulassen. An eine Messung wäre zunächst
nur zu denken bei Vorgängen sehr hoher Gesamtenergie, bei denen schon die
Teilchen der zweiten Gruppe mit so hoher Energie erzeugt werden, daß ihre
Zerfallszeit im Schwerpunktsystem des ganzen Prozesses durch Zeitdilatation
stark vergrößert und damit meßbar wird. Nur bei Prozessen so hoher Gesamt-
energie macht sich die Tatsache bemerkbar, daß die Verwaschung der Grenze
zwischen Vergangenheit bzw. Zukunft und Gegenwart in Fig. 3 auch über
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 61
mit sich. Denkt man sich das Lichtquant aus zwei Teilchen, A und B,
zusammengesetzt, so könnte bei Annahme des üblichen relativistischen
Kausalzusammenhanges nur entweder A auf B wirken, oder B auf A, aber
nicht beides gleichzeitig, da sich ja sowohl A als auch B mit Lichtgeschwin-
digkeit bewegen. Denn entweder liegt B im Vergangenheitskegel von A
oder umgekehrt. Unter diesen Umständen könnte aber keine echte Wechsel-
wirkung zwischen A und B zustande kommen; man sieht also nicht, wie das
Lichtquant als gebundener Zustand möglich sein sollte. Wenn aber die
Abweichungen vom relativistischen Kausalzusammenhang berücksichtigt
wc,rden, die in I und II besprochen wurden, so ist eine echte Wechselwirkung
zwischen A und B jedenfalls im Prinzip möglich. Allerdings ist bisher auch
noch nicht untersucht worden, unter welchen Bedingungen für W (x) solche
Lichtquantenlösungen existieren, und wahrscheinlich ergibt sich an dieser
Stelle eine sehr starke Einschränkung für die möglichen Theorien; denn mit
der Ruhmasse 0 der Lichtquanten ist eine neue Invarianzforderung, die der
Eichinvarianz, verknüpft.
Das Werden, Wachsen und Vergehen in der lebenden Natur ist mit der
Bildung, Umsetzung und Zersetzung komplizierter organischer Stoffe ver-
bunden. Dabei spielen die Proteine und Nukleinsäuren eine ganz wesentliche
Rolle. Dank den überraschenden Erfolgen, die die organische Chemie am An-
fang dieses Jahrhunderts durch die Synthese von Naturfarbstoffen, Zuckern,
Fetten, Alkaloiden usw. hatte, kam die Meinung auf, daß man sämtliche
Stoffe der Natur auf diese Weise darstellen, erforschen und damit in die
Lebensprozesse weiter eindringen könne. Dies geht z. B. aus dem bekannten
Vortrag von E. FISCHER 2 in der Deutschen Chemischen Gesellschaft aus dem
Jahre 1906 hervor, in dem er folgendes sagte:
"Ich möchte es deshalb geradezu als ein Glück ansehen, daß die Synthese genötigt ist,
zahlreiche neue Methoden des Aufbaues, der Erkennung und Isolierung zu schaffen, und
Hunderte von Zwischenprodukten genau zu studieren, bevor sie zu den Proteinen gelangen
kann. Denn diese Methoden werden schließlich nicht allein dazu dienen, alle Proteine der
Natur und noch viel mehr, als sie hervorbrachte, zu erzeugen, sie werden voraussichtlich
auch genügen für die Aufklärung der zahlreichen und merkwürdigen Umwandlungsprodukte
von Proteinen, die als Fermente, Toxine usw. eine so große Rolle spielen.
Kurzum, man darf erwarten, daß durch die tiefgehende und weit ausgedehnte synthetische
Arbeit das ganze, jetzt noch so dunkle Gebiet chemisches Kulturland wird, aus dem dip
Biologie einen großen Teil der Hilfsmittel beziehen kann, deren sie zur Lösung ihrer che-
mischen Aufgaben bedarf."
Die ungeheuer mannigfaltigen und komplizierten Lebensvorgänge konnten
allerdings nicht auf chemische Umsetzungen einfacher Moleküle zurück-
geführt werden; deshalb nahm man an, daß die stets veränderlichen kollo-
iden Zustände und Strukturen in der Zelle für die Lebensprozesse wesentlich
seien; denn einige einfache, übersichtlich gebaute Kolloide zeigen in ihrem
äußeren Aussehen und Verhalten manche Analogie zum Geschehen in der
lebenden Zelle. Bei dieser Sachlage war es verständlich, daß man über die
Bildung der lebenden Materie auf der Erde zu der Vorstellung kam, daß sie
sich in früheren Erdperioden aus anorganischer Materie gebildet habe, daß
also das Leben auf der Erde auf Urzeugung zurückzüführen sei 3.
I 352. Mitteilung. Vgl. Makromol. Chem. 7, H.2 (1951).
2 FISCHER, E.: Ber. dtsch. ehern. Ges. 39, 610 (1906).
3 Vgl. dazu HERTWIG, 0.: Allgemeine Biologie. Jena 1923. HARTMANN, M.: Allgemeine
Biologie. Jena 1947.
Göttinger Akademie-Festschrift.
66 HERMANN STAUDINGER:
vor allem einer anderen Art unterscheiden. Diese Schlußfolgerung ist not-
wendig, da kein lebendes Wesen vollständig dem anderen gleicht; diese Unter-
schiede im Aufbau müssen aber letzten Endes auf solchen in der Konsti-
tution seiner Proteine und die dadurch bedingten etwas andersartigen Reak-
tionen beruhen.
Ein für die Biologie wesentliches Ergebnis der makromolekularen Chemie
besteht weiter darin \ daß die makromolekularen Stoffe in vieler Hinsicht
unerwartete Eigenschaften zeigen können, die bei niedermolekularen Stoffen
nicht anzutreffen sind. Vergleicht man die Moleküle der lebenden Substanz,
an deren Aufbau sich außer Kohlenstoff nur wenige Atome beteiligen, mit
Bauwerken, so ist es verständlich, daß bei kleinen Bauwerken aus 10 bis
100 Bausteinen sich keine besonderen Konstruktionen ausführen lassen. Mit
10000 oder 100000 Bausteinen lassen sich aber die verschiedenartigsten Ge-
bäude mit neuartigen Konstruktionen errichten, die bei kleinen Bauwerken
überhaupt nicht möglich sind. Aus diesem Vergleich ist auch ersichtlich, daß
in der makromolekularen Chemie die Gestalt der Moleküle eine viel größere
Rolle für das physikalische, chemische und biologische Verhalten spielt, als
bei niedermolekularen Verbindungen. Die linearmakromolekularen Stoffe,
wie Zellulose oder Myosin unterscheiden sich im festen Zustand durch ihr
Faserbildungs- und ihr Quellungsvermögen, ferner durch die hohe Viskosität
ihrer kolloiden Lösungen weitgehend von den makromolekularen Stoffen mit
kugelförmigen Molekülen, wie den Glykogenen und den Sphäroproteinen, die
dieses eigenartige Verhalten nicht zeigen. Dabei sind solche Vorgänge, wie
der auffallende Übergang von den unbegrenzt quellbaren Kolloiden in be-
grenzt quellbare, den man auch in der Proteinchemie häufig antrifft, auf eine
Verknüpfung langer Fadenmoleküle zurückzuführen, wobei bei der Größe
derselben die Mengen der brückenbildenden Substanzen so gering sind, daß
sie sich häufig dem Nachweis entziehen. In diese Gruppe von neuartigen Er-
scheinungen bei makromolekularen Stoffen, die durch ihre Molekülgestalt
bedingt sind, gehört ferner die Inklusion: es können zwischen die Fadenmole-
küle der linearmakromoleklliaren Stoffe niedermolekulare Stoffe eingeklemmt
werden, ohne irgendwie durch Nebenvalenzen gebunden zu sein. Durch diese
Erweiterung des Gefüges wird aber die Reaktionsfähigkeit solcher linear-
makromolekularer Stoffe wesentlich erhöht. Es wird eine Aufgabe der makro-
molekularen Chemie der Zukunft sein, solchem vielfach unerwarteten Ver-
halten nachzugehen, da dann die Hoffnung besteht, Verständnis für weitere
biologische Prozesse zu gewinnen.
Bei dieser Bedeutung der Molekülgestalt für das Verhalten der makro-
molekularen Stoffe kommt also ein Faktor in diesem Gebiet zur Geltung, der
sich nicht wie die Zahl der möglichen Isomeren rechnerisch erfassen läßt, da
er nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur ist. Die Zahl der Isomeren
1 Vgl. STAUDINGER, H.: Makromolekulare Chemie und BIOlogIe. Basel: Wepf 1947.
5*
68 HERMANN STAUDINGER :
der Proteine läßt schon die Schlußfolgerung zu, daß die Wahrscheinlichkeit
der Bildung eines bestimmten Proteins und somit auch die Wahrscheinlich-
keit einer Synthese desselben durch einen schrittweisen Aufbau außerordent-
lich gering ist: eine bestimmte Gestalt und ihre Eigenheiten können nicht
rein statistisch erfaßt werden. Somit bieten die Makromoleküle einen Über-
gang zwischen den niedermolekularen Verbindungen, deren Verhalten nach
physikalisch-chemischen Methoden zu erforschen ist, und den Objekten der
lebendigen Natur, bei der diese Methoden allein nicht ausreichen, da es hier
nicht nur um die Beherrschung chemischer und physikalischer Prozesse geht,
sondern auf die bestimmte Anordnung der Vorgänge im kleinsten Raum und
in den feinsten Einheiten der lebenden Zelle ankommt. Die einzelnen Makro-
moleküle z. B. in den Zellkernen und im Protoplasma haben dabei schon
Dimensionen, die sich im Zelleninhalt raum be stimmend auswirken können;
zum Verständnis dieser Vorgänge müssen daher außer statistischen noch
weitere Gesichtspunkte herangezogen werden, da sie sonst nicht voll erfaßt
werden können.
Die Lebensvorgänge sind an Makromoleküle geknüpft; man kann deshalb
die Frage stellen, welche Zahl von Makromolekülen und kleinen Molekülen
zusammenwirken muß, um eine kleinste lebendige Einheit, ein "atomos des
Lebendigen", zu ermöglichen. Wenn man eine Bakterienspore unter diesem
Gesichtspunkt betrachtet, so enthält diese nach einer ersten Abschätzung
107 bis 10 8 Atome, welche eine Zahl Makromoleküle und eine noch größere
Anzahl von kleineren und kleinsten Molekülen aufbauen, die alle in gesetz-
mäßiger und geordneter Weise zusammenwirken, um Lebenserscheinungen zu
ermöglichen. Vom Standpunkt der makromolekularen Chemie ist also der
Inhalt einer lebenden Zelle nicht eine beliebig veränderliche kolloide Masse,
sondern derselbe besteht aus Makromolekülen bestimmter Größe und Form,
die in geordneter Weise mit kleinen Molekülen in Beziehungen stehen. Bis
hinab zum Molekül ist alles durchstrukturiert, nur ist dieser Aufbau der
lebendigen Materie mit den heutigen Methoden noch nicht erfaßbar.
Bei dieser Kompliziertheit des Aufbaues der lebendigen Materie sind die
früheren Hypothesen über die Urzeugung, wie sie von C. NÄGEL! und anderen
Forschern ausgesprochen wurden \ zu einfach. Der Forscher wird sich heute
bescheiden müssen und diese Fragen zurückstellen, bis über den Aufbau der
lebenden Materie und die Lebensprozesse weitere Erfahrungen gesammelt sind.
Das Werden eines neuen Individuums wird sehr wesentlich von seinen
Chromosomen aus, also durch sehr kleine Einheiten dirigiert. Dieselben
sehen häufig so ähnlich aus, daß man aus ihrem mikroskopischen Bild nicht
ohne weiteres sagen kann, welchem Individuum sie angehören und was ent-
steht. Diese Unterschiede sind wohl in ihrem makromolekularen Aufbau
1 Vgl. dazu HERTWIG, 0.: Allgemeine Biologie. Jena 1923. HARTMANN, M.: Allgemeine
Biologie. Jena 1947.
Bedeutung der makromolekularen Chemie für die Biologie. 69
begründet, der sich heute noch der chemischen Kenntnis entzieht. Die Materie
der Keimanlagen stellt gleichsam Matrizen dar, die bei der Vermehrung ein
ganz bestimmtes Wachstum verursachen. Beim gleichen Individuum müssen
dabei von Zelle zu Zelle äußerst geringfügige Unterschiede sein; denn bei
einem Baum haben z. B. alle Blätter das gleiche Bauprinzip, aber kein Blatt
eines Baumes gleicht in allen Einzelheiten einem anderen.
Der Bau dieser Matrizenstoffe und die dadurch bedingten Reaktionen
sind so außerordentlich konstant, daß sich die Arten in Millionen Generationen
unverändert fortpflanzen können. Man war seit Jahrzehnten in der Biologie
gewohnt, auf die Veränderung der Arten und so auf das Entstehen neuer
Arten das Hauptaugenmerk zu richten. Viel wunderbarer vom Standpunkt
der makromolekularen Chemie ist aber die Konstanz der Arten, die zeigt,
daß eine einmal gebildete makromolekulare Struktur eine außerordentliche
Beständigkeit hat. Dies zeigt sich schon an dem einfachsten Beispiel, daß
z. B. die makromolekulare Zellulose nach Jahrtausenden und Jahrhundert-
tausenden in ihrem Aufbau unverändert erhalten bleiben kann. Allerdings
lassen sich, wie es auch die Strahlenbiologie nachweist, unter starken äußeren
Einflüssen gewisse Variationen erzeugen; aber diese sind im Grunde genommen
geringfügig, und bei intensiver Behandlung wird die Lebensfähigkeit eines
großen Teiles der Individuen zerstört.
Diese Konstanz im Aufbau der lebendigen Natur ist vom Standpunkt der
makromolekularen Chemie auffallend und nicht verständlich; denn bei der
ungeheueren Variationsmöglichkeit im Aufbau der Moleküle der Proteine und
Nukleinsäuren sollte erwartet werden, daß die verschiedenartigsten Keim-
anlagen möglich sind, so daß keine bestimmten Arten bestehen, sondern daß
alle Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, durch Übergänge verbunden sind. Das
Existieren von bestimmten Arten zeigt also, daß in den kleinsten Einheiten
der Individuen, dem "atomos des Lebendigen", ganz bestimmt gebaute
Makromoleküle mit niedermolekularen Stoffen gesetzmäßig zusammen-
wirken, und daß daran das Leben gebunden ist.
So gibt die makromolekulare Chemie neue Möglichkeiten für das Ver-
ständnis biologischer Vorgänge und der Fortpflanzung ganz bestimmter
Arten. Jedes Lebewesen ist in seinem chemischen Aufbau und seinen chemi-
schen Prozessen ein einmaliges Gebilde, das sich von einem anderen in seinem
Aufbau unterscheidet, da kein lebendes Individuum einem anderen äußerlich
vollkommen gleicht. Der makromolekulare Aufbau und die chemischen
Prozesse sind sich bei einer Art ähnlich und ändern sich sprungweise von einer
Art zur anderen.
Für die Biologie ist es in mancher Hinsicht zweckmäßig, zum weiteren
Eindringen in diese Probleme auf die Grundlagen zurückzugehen. Eine solche
ist z. B. der Aufbau aus Atomen; so kann man schätzungsweise von jedem
biologischen Objekt, dessen Größe man kennt, die Zahl der Atome angeben,
70 HERMANN STAUDINGER: Bedeutung der makromolekularen Chemie für die Biologie.
1 Diese Überlegung wurde angeregt durch eine Unterhaltung mit Dr. h. c. Graf R. Dou-
GLAS, Langenstem.
2 Nach einer freundlichen Mitteilung von Herrn Prof. KOEHLER, Freiburg i. Br., ergeben
Auszählungen der Spermien in der Samen tasche der Bienenkönigip eine Anzahl von etwa 10 8 •
Einengungs- und Ausweitungsregionen
beiderseits des Urkontinents Laurentia.
Von
HANS STILLE, Hannover.
Mit 2 Figuren im Text.
I. Vorbemerkungen.
Zur Behandlung stehen Probleme der Breitenveränderung von Erdein-
heiten, wobei unter "Breite" die Erstreckung senkrecht zum Streichen der
tektonischen Elemente - der Faltensysteme, der Bruchsysteme usw. -- zu
verstehen ist. Diese Breitenveränderungen können von positiver und nega-
tiver Art sein. Die Hauptform der negativen Breitenveränderung, der Ein-
engung, ist die Faltung als das Ergebnis pressender Kräfte, die senkrecht
zum Faltungsstreichen wirksam gewesen sind. Sie bringt die das Faltungs-
feld umrahmenden Erdstücke einander näher. Ihr stehen andere Fälle der
Erdtektonik diametral gegenüber, die auf die Ausweitung (Zerrung) und da-
mit auf das Auseinanderrücken der Randräume des Ausweitungsfeldes (Zer-
rungsfeldes) hinauskommen.
Die Faltungen vollziehen sieh in solchen Räumen, in denen die Faltungs-
einengung mit einem Minimum von Arbeit erzielbar ist (Prinzip der kleinsten
Widerstände). Hieraus ist ohne weiteres begreiflich, daß sieh die großen Fal-
tungen der Erdkruste in die Orthogeosynklinalen verlagern. Denn diese haben
im Ablauf ihrer vorangegangenen epirogenen Entwicklung ein besonderes
Maß von Faltbarkeit erlangt, die zum Teil schon auf dem Materialzustande,
aber vor allen Dingen darauf beruht, daß die Sedimente eine Unzahl von
Schichtfugen, also von Flächen erhöhter innerer Gleitfähigkeit, aufweisen.
Die Orthogeosynklinalen bilden also die "mobilen", d. h. noch faltbaren
Zonen zwischen starreren ("kratonischen") Räumen, die nicht mehr faltbar
sind. Und im Zusammenhang damit, daß es zwei große Raumkategorien von
kratonischer Art gibt, nämlich die Kontinente (Hochkratone) und die Tief-
meere bzw. deren Untergrund (Tiefkratone), ergeben sich hinsichtlich der
Umrahmungsart zweierlei Orthogeosynklinalen, nämlich erstens die zwischen-
kontinentalen, die beiderseits von Hochkratonen umsäumt sind, und die neben-
kontinentalen, die auf der einen Seite eine hochkratonische und auf der
anderen Seite eine tiefrneerische Umrahmung besitzen. Das klassische Beispiel
der ersteren Art ist das die Peripherie des größten aller Urozeane unserer
Erde begleitende zirkumpazifische Geosynklinalsystem, das auf seinen vom
72 HANS STILLE:
In der dritten der großen neogäischen Ären, der variszischen, haben sich
wenigstens in einigen Teilen des nordamerikanischen Kordillerensystems
Faltungen, hier und da auch schon stärkere und von magmatischen Intru-
sionen begleitet gewesene, vollzogen, die "Prä-Nevadiden" schaffend. Etwas
größere Bedeutung haben sie, soweit zu übersehen, innerhalb ihrer immerhin
beschränkten Wirkungsräume speziell in den späteren Phasen der variszischen
Ära erlangt.
b) Die neoidische Tektonik.
Das kordillerische Faltungssystem Nordamerikas gehört im wesentlichen
erst in die jüngste, die neoidische Erdära. Zu unterscheiden sind in ihm die
westkordillerischen Nevadiden und das ostkordillerische Felsengebirge, die
Rockyidell. Durch ihr höheres Faltungsalter, den ungleich stärkeren Betrag
der Faltungen und deren plutonische und überhaupt magmatische Begleit-
erscheinungen charakterisieren sich die Nevadiden als die "Interniden" des
nordamerikanischen Kordillerensystems, denen dann später im zunächst
ungefaltet gebliebenen und relativ schmalen Ostraume der Gesamtkordilleren
die Rockyiden als die "Externiden" ostwärts angegliedert worden sind.
Hinsichtlich des speziellen Alters der nordamerikanischen Kordilleren-
faltungen nehme ich Bezug auf die von mir vor etwa einem Jahrzehnt ver-
öffentlichte "Einführung in den Bau Amerikas" (Berlin 1940).
Nach der paläozoischen Ära war ein sehr mächtiges System von Schichten
in dem nevadidischen Teiltroge zum Absatz gekommen, das mit seinen
hangendsten Teilen bis in den mittleren Weißen Jura, den Kimmeridge,
hineinreichte. Es unterlag dann der Faltung, mit und unmittelbar nach der
große Mengen granitischer Schmelzen in die Schichtverbände eindrangen.
Diskordant zu den gefalteten und zum Teil recht metamorphen und von
plutonischen Massen durchsetzten Gesteinsmassen, dem" Grundgebirge" der
Nevadiden, liegt das Knoxville, das Leitfossilien des Oberen Portland führt.
Damit muß sich die große Faltung der Nevadiden, die man in Amerika kurz-
hin als die "nevadische" zu bezeichnen pflegt, in der Zeitspanne zwischen
Kimmeridge und Oberem Portland vollzogen haben. Ihr ist nach Unter-
suchungen von TALIAFERRO, auf die ich schon 1940 kurz hinweisen konnte,
die inzwischen aber fortgesetzt und eingehender veröffentlicht worden sind,
noch eine schwache Nachphase nach Ablagerung des Oberen Portland (Knox-
ville-Serie) und vor Ablagerung der Unterkreide (Shasta- Gruppe) gefolgt.
TALIAFERRO hat sie nach dem Mount DiabIo als die "Diablan orogeny" be-
zeichnet. Etwas stärker hat sich dann die Faltung in einigen Teilen der
Nevadiden in der Zeit vor Ablagerung der Oberen Kreide, also in der austri-
schen Phase ("oregonische" Phase BLAcKwELDERs), wiederholt, und weitere
Nachwirkungen sind in der Grenzzeit von Kreide und Tertiär (laramische
Phase) eingetreten. Erst in der laramischen Phase ist östlich der Nevadiden
die Faltung der felsengebirgischen Teilgeosynklinale erfolgt.
74 HANS STILLE:
In bei den Fällen, denen sich noch andere des Erdbildes zugesellen, charak-
terisieren sich die rheinischen Dislokationszonen als solche der Zerrungs-
vorgänge.
Wir betrachten die speziellen Zeitverhältnisse der saxonischen Tektonik
unter besonderer Berücksichtigung der nordwestdeutschen Gebiete.
Schwache Andeutungen altkimmerischer Bewegungen, die man nach bis-
heriger Kenntnis wohl kaum als echt orogen, sondern als nur synorogen
anzusprechen hat, sind im deutsch-holländischen Grenzgebiete in zumeist
ziemlich weiträumigen ("regionalen") Heraushebungen gegeben.
Ganz anders ist die Sachlage hinsichtlich der jungkimmerischen Gebirgs-
bildung, die ich schon 1913 als die Hauptphase der saxonischen Tektonik
Deutschlands habe charakterisieren können. Die nachstehende Einteilung in
3 Unterphasen, wie sie DAHLGRÜN 1921 in einer Göttinger Dissertation geben
konnte, hat sich bis heute bewährt:
Neokom (zu unterst jüngeres Valendis),
Hilsphase
Wealden und jüngeres Portland (zu unterst Serpulit),
Osterwaldphase
Tieferes Portland (zu unterst Gigas- Schichten),
Deisterphase
Vorportlandischer Malm (Kimmeridge usw.).
Äußerst schwache Andeutungen von tektonischen Bewegungen austrischen
Alters, die man kaum anders als synorogen zu klassifizieren hat, erkennt man
hier und da im außeralpinen Mitteleuropa. Aber in vielen Fällen, in denen
das Cenoman oder auch schon das Alb einem gestörten Unterbau älterer
Schichten aufruht, gehen die Störungen des Unterbaues offensichtlich schon
auf die jungkimmerische und nicht erst auf die austrische Gebirgsbildung
zurück.
Schon recht lange kannte man im nordwestlichen Deutschland eine gewisse
Zahl von Salzpjeilern, d. h. von steil aus großen Tiefen aufgestiegenen, rund-
liche oder ovale oder gestreckte oder sonstige Querschnitte zeigenden Salz-
körpern. Aber in welch großer Menge sie vorhanden sind, weiß man erst,
seitdem der Untergrund Nordwestdeutschlands mit geophysikalischen Me-
thoden systematisch untersucht worden ist. Hierüber unterrichtet am besten
die im Jahre 1945 vom niedersächsischen Amt für Bodenforschung im Maß-
stab 1 :100000 herausgegebene geotektonische Karte von Nordwestdeutsch-
land, ein wissenschaftliches Werk von fundamentaler Bedeutung.
Die Zeitverhältnisse der Aufwärtsbewegung der Salzpfeiler sind viel dis-
kutiert worden. Neben der Auffassung, daß sie an die orogenen Phasen der
saxonischen Tektonik, wie sie sich in den salzfreien Räumen ergeben, gebunden
sei, steht diejenige der mehr kontinuierlichen Hochbewegung des Salzes. Eine
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 77
Überfülle von Material hat sich zu diesen Fragen neuerdings aus den nord-
westdeutschen Erdölbohrungen ergeben, und ziemlich allgemein scheint sich
jetzt die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß zwar der Hauptteil der Auf-
wärtsbewegungen der Salzkörper in die notorischen orogenen Phasen entfällt,
daß aber auch in den langen anorogenen Zwischenzeiten, aus denen abseits
von den Salzkörpern keine orogenen Ereignisse überliefert sind, sich Auf-
wärtsbewegungen von mehr "säkularer" Dauer ereignet haben. Es steht also
neben der, wie ich früher einmal sagte, "N ormalte.ktonik" des Untergrundes,
die vom Ologenen Zeitgesetz beherrscht ist, die Salztektonik, die auch außer-
halb der notorischen orogenen Zeitphasen Bewegungen aufweist, die man
ihrer Art nach (Änderung des Bodengefüges !) als "orogen" zu klassifi-
zieren hätte. Sie leitet über zu den Bewegungen des mobilsten Erdstoffes,
des Magmas, die noch ungleich wcniger an die orogenen Phasen gebun-
den sind.
Aus vorstehenden Darlegungen wird zunächst begreiflich, daß orogene
Phasen, die sich in der Normaltektonik bestimmter Gebiete kaum andeuten,
in der Salztektonik in verstärkter Weise zum Ausdruck kommen können,
und ich denke hier z. B. an die voralbischen (altaustrischen) Salzaufstiegc.
Aber darüber hinaus kann man sich sehr wohl vorstellen, daß in der Salz-
tektonik und im Zusammenhang damit auch in der Umgebung der Salz körper
Bewegungssteigerungen in Zeiten eintreten, in denen sich in der Normal-
tektonik keine Vorgänge von orogener Art ereignet haben. So ist zu ver-
stehen, daß sich in der Salztektonik zu den notorischen orogenen Phasen
noch einige rein "salinar-orogene" hinzufinden, zurückgehend auf eine epi-
sodische Steigerung der tektonischen Kräfte, die aber zu orogenen U mfor-
mungen der normalen Gesteine noch nicht ausgereicht hatte.
Wie nun die jungkimmerische Tektonik die Kardinaltektonik der saxo-
nischen Räume ist, so entfällt in sie auch der Hauptteil der Salzaufstiege Nord-
westdeutschlands, die eigentlich auch erst in dieser Phase eingesetzt zu haben
scheinen. Dieses jungkimmerische Alter der Salzaufstiege ist in einer Unzahl
von Fällen aus der Überdeckung der Salzpfeiler durch Unterkreide oder gar
schon durch Portland unmittelbar erweisbar. Doch auch in den vielen Fällen,
in denen über dem Salzspiegel jüngere transgredierende Serien liegen, ist
mindestens die Möglichkeit gegeben, daß der Salzkörper schon zur Zeit der
jungkimmerischen Tektonik aufgestiegen und bis zur Erdoberfläche durch-
gebrochen war und dann von Unterkreide bedeckt wurde, die er aber im
Anschluß an einen jüngeren und vielleicht nur geringfügigen Aufwärtsruck
wieder einbüßte. An solche Verhältnisse ist ganz besonders in den sehr zahl-
reichen Fällen zu denken, in denen zwar jüngere Transgressionen auf dem
Salzpfeiler liegen, neben diesem aber Unterkreide noch erhalten und dabei
diskordant von dem auch über dem Salz transgredierenden Schichtsystem
überlagert ist. Auf vielen Salzstöcken Nordwestdeutschlands liegt z. B. das
78 HANS STILLE:
:.:->:-1141"" v"§I'fllf<l,. .
. • . 61~
. fitosS"II".,,"
mm~
1
Osterwaldphase
Intervall mit nevadischer T f P tI d
Faltung le eres or an
Deisterphase
Kimmeridge Kimmeridge
5. Schluß.wort.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. leh bin weit davon entfernt,
sagen zu wollen, daß die rheinischen Spalten, die den Südostrand Laurentias
in einigem Abstand begleiten und dabei speziell an die Mittelmeer-Mjösen-
6*
84 HANS STILLE:
Zone gebunden sind, mit der nevadischen Faltung des Westrandes Laurentias
entstehungsmäßig etwas zu tun hätten. Denn erstens sind sie (s. Fig. 1) Teile
eines ganz Europa durchziehenden und damit auch außerhalb der etwa anzu-
nehmenden Wirkungssphären Laurentias liegenden Systems; und zweitens
ist dieses ganze System seiner Anlage nach viel, viel älter als die nevadische
Faltung. Vielmehr meine ich nichts anderes, als daß das gerade in der jung-
kimmerischen Phase eingetretene relativ weite Klaffen der saxonischen Nord-
Süd-Risse durch den in der nevadischen Faltung zum Ausdruck kommenden
Westdrang Laurentias begünstigt gewesen sein dürfte.
Ich wiederhole, daß mit den Pressungen, die sich auf der Westseite Lau-
rentias im Bereiche der Nevadiden vollzogen haben, die bedeutendste Auf-
lockerungsphase der Ostseite des großen Urkontinents zeitlich zusammen-
fällt. Dabei sind die besonders starken Auflockerungen (vgl. die Punktierung
in Fig. 1) speziell an denjenigen Teil der Mittelmeer-Mjösen-Zone geknüpft,
der dem Ostrande Laurentias nicht nur am stärksten genähert, sondern auch
im Gegensatz zu weiter nördlich und weiter südlich liegenden Teilen der
Zone gegen Auswirkungen von Laurentia her nicht durch zwischenliegende
subozeanische Tiefkratone abgeschirmt, vielmehr mit Laurentia hochkrato·
nisch über den Untergrund der Nordsee und der Britischen Inseln verbunden
ist und zu dem der Nord- und der Südrand Kleinlaurentias konvergieren.
Weiter ist zu unterstreichen, daß es sich bei den zeitlich zusammen-
fallenden geodynamischen Vorgängen einerseits des Westens und anderseits
des Ostens Laurentias, die zueinander in Beziehung gebracht werden, um
etwas quantitativ einmaliges handelt. Denn erstens ist die jungkimmerische
nevadische Faltung des Westrandes Laurentias in ihrer Großartigkeit ein
dort einmaliges Ereignis, demgegenüber alles zurücktritt, was später dort
noch an Faltungen gefolgt ist, gar nicht zu reden von dem, was an alt-
kimmerischen Faltungsansätzen vorangegangen war. Und ebenso sind die
jungkimmerischen Auflockerungsvorgänge im Osten Laurentias, verglichen
mit denen, die noch gefolgt sind oder schon vorangegangen waren, etwas
geradezu einmaliges.
Diese beiden geodynamisch einander gegensätzlichen geotektonischen Ein-
maligkeiten auf Grund ihrer zeitlichen Korrespondenz auch genetisch mitein-
ander in eine gewisse Verbindung zu bringen, erscheint zulässig speziell im
Hinblick auf einen schon vorangegangenen und besonders einleuchtenden
Fall der Beziehungen zwischen der geotektonischen Entwicklung einerseits
der östlichen und anderseits der westlichen Randregionen Laurentias. Er
betrifft die starke kaledonische Faltung an der Ostseite und ihr Unterbleiben
an der Westseite des Urkontinentes.
Von diesem älteren (kaledonischen) zu dem jüngeren (jungkimmerischen)
Falle haben sich, wie schon aus der wechselnden Lage der nebenlaurentischen
Faltungen ersichtlich ist, die geodynamischen Fronten vertauscht, und zwar
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 85
der heute verfügbaren Physik lösen kann, ohne auf die eigentlich kosmologi-
schen Fragen einzugehen. In ähnlicher Loslösung von unbeantworteten
Fragen von höherem Allgemeinheitsgrade sind ja wohl die meisten speziellen
Disziplinen der neuzeitlichen Wissenschaft entstanden. Im besonderen, hier
vorliegenden Fall scheint bei diesem Prozeß nicht einmal die Aufstellung
eines dem betrachteten Sachbereich eigentümlichen Gesetzesschemas nötig
zu sein; vielmehr scheint die Zurückführung auf die klassische Physik zu
gelingen. Da wir aber die allgemeine kosmologische Frage damit nicht aus-
schalten, sondern gleichsam nur die Operationsbasis ihr gegenüber vorschieben
wollen, ist es vielleicht erlaubt, unseren Bericht mit einer Betrachtung der
Entfaltung dieser Frage seit dem Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft
einzuleiten.
In den mythischen Kosmologien aller Völker kann man Vorstufen einiger
heutiger Auffassungen finden. Aber sie sind von der modernen Kosmologie
dadurch getrennt, daß in ihnen, wie überall im Mythos, die Scheidungen
von "Außen" und "Innen", von "Gegenstand" und "Bedeutung", von
"Objekt" und Subjekt", nicht oder doch nicht scharf vollzogen sind. Solange
die Gestirne göttlich sind und der Kosmos zu uns redet wie ein menschliches
Gesicht oder wie eine Schrift in vielleicht unverständlichen Zeichen. fehlt
die methodische Geschlossenheit, die der neuzeitlichen Naturwissenschaft die
Ausdauer im Stellen einer eingeschränkteren Art von Fragen verleiht. Die
naturwissenschaftliche Kosmologie beginnt mit einem Verzicht. Der "Kos-
mos" der neuzeitlichen Kosmologie ist eben nicht das Ganze der Wirklichkeit.
Er ist nicht Gott und er ist nicht Seele; oder zum mindesten betrachtet die
'Wissenschaft ihn so als wäre er bei des nicht. Gerade die räumlichen und
zeitlichen Grenzen unserer Kenntnis sind aber die Stellen, an denen diese
Scheidung am schwersten vollzogen wird. An ihnen erscheint es am zweifel-
haftesten, ob dieser Kosmos aus sich selbst heraus verstanden werden kann,
und die Meinungen über sie sind oft inmitten eines naturwissenschaftlichen
Denksystems noch bewußt theologisch oder philosophisch oder unbewußt
mythisch.
KOPERNIKUS lehrte ein neues 'Weltsystem, aber die kosmogonische Frage
entstand für ihn noch nicht. Die Frage, woher die Welt sei, ist durch den
Hinweis auf Gott beantwortet. Dabei ist der zwischen Gott und Welt ver-
mittelnde Begriff nicht so sehr der einer zeitlichen Schöpfung, wie der einer
wesensmäßigen Entsprechung zwischen der göttlichen Vollkommenheit und
der Harmonie des Weltbaus ; die menschliche Kategorie, in welche das
Geheimnis der göttlichen Schöpfung gefaßt wird, ist eher ästhetisch als kausal.
Vielleicht das erste konsequent "naturwissenschaftlich" gedachte Welt-
bild, das auch eine Kosmogonie enthält, stammt von DESCARTES. Sein Ur-
sprung ist charakteristischerweise nicht empirisch sondern spekulativ. DES-
CARTES entkleidet die Materie durch einen Akt prinzipiellen Denkens aller
88 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:
Attribute außer der Ausdehnung. Damit läßt die Frage, warum die materielle
Welt die Gestalt habe, die wir an ihr sehen, nur noch eine kausal-genetische
Antwort zu. Die heutige Gestalt der Welt ist die mechanisch notwendige
Folge der Materiebewegungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben;
diese Antwort bleibt übrig, weil die Kategorien, in denen anders hätte gefragt
werden können, aus der Wissenschaft entfernt worden sind. Sogar die spezielle
Modellvorstellung der Wirbel, mit der DESCARTES das kosmische Geschehen
zu erklären sucht, folgt notwendig aus seiner Definition der Materie. Wenn
Materie und Ausgedehntheit gleichgesetzt sind, gibt es keinen leeren Raum,
und die einzige mögliche Bewegungsform ist diejenige, in welcher das von
einer Materiemenge verlassene Raumstück alsbald von einer anderen Materie-
menge eingenommen wird. Das heißt DESCARTES hat sich durch seinen Ansatz
gezwungen, die Mechanik der Materie, modern gesprochen, als Hydrodynamik
einer inkompressiblen Flüssigkeit zu beschreiben. Der Erfolg NEWTONS ließ
die kartesischen Wirbel in Verruf kommen, aber die Ergebnisse, von denen
in diesem Bericht die Rede sein soll, lassen erkennen, daß DESCARTES einen
bestimmten Zug des kosmischen Geschehens deutlicher gesehen hat als
NEWTON, und daß er nur gleichsam den zweiten Schritt vor dem ersten zu
tun versuchte.
Es handelt sich um die Erklärung der Planetenbewegung. Alle Planeten
laufen in derselben Richtung um die Sonne in nahezu kreisförmigen Bahnen,
die nahezu in derselben Ebene liegen. DESCARTES erklärte diese Bewegung
durch die Annahme, das ganze Planetensystem sei ein ungeheurer Wirbel
feiner Materie, in dem die Planeten schwimmen wie Korkstücke im Wasser.
Gegen diese Theorie ist zunächst einzuwenden, daß sie nicht quantitativ ist.
Sie erklärt KEPLERS Gesetze nicht. NEWTONS Theorie blieb siegreich, weil
sie dies vermochte. Aber schon NEWTON sah, daß er zwar das mathematische
Detail der KEPLERschen Gesetze, nicht aber die aus DESCARTES' Wirbeln
mühelos folgende allgemeine Gestalt des Sonnensystems erklären konnte.
Nach KEPLER sind die Planetenbahnen nicht genaue Kreise, sondern Ellipsen.
Letzteres erklärte NEWTON, aber er erklärt nicht, warum sie Ellipsen von
sehr kleiner Exzentrizität, also doch beinahe Kreise sind. Die Ellipse ist eine
ebene Kurve; aber warum alle Planetenbahnen nahezu in derselben Ebene
liegen, bleibt bei NEWTON unverstanden. KEPLERS drittes Gesetz verknüpft
schließlich den Abstand der Planeten von der Sonne mit ihrer Umlaufszeit.
Auch dies erklärt NEWTON; hingegen bleibt unklar, warum die Abstände
der Planeten selbst eine einigermaßen regelmäßige Folge bilden.
NEWTONS allgemeine Mechanik aber gab in der Unterscheidung zwischen
Naturgesetz und Anfangsbedingung einen Hinweis auf eine mögliche Lösung
dieses Problems. Die Grundgesetze der Mechanik (und überhaupt der bis-
herigen Physik) sind Differentialgleichungen nach der Zeit. Der zeitliche
Ablauf eines Geschehens ist nicht durch ein übergreifendes Gestaltgesetz
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 89
größeren Systems der Milchstraße ist, und daß es vermutlich viele Sonnen-
systeme und viele Milchstraßen im Kosmos gibt. Er vergleicht die abge-
plattete Rotationsfigur des Sonnensystems mit der analogen Figur der Milch-
straße und der damals neuentdeckten Nebel, die er richtig als ferne Milch-
straßen deutet. Er subsumiert damit die Geschichte des Sonnensystems
unter ein allgemeines Entwicklungsgesetz und macht sie so der Analyse nach
normalen physikalischen und astronomischen Methoden zugänglich. Eben
damit aber ist sie methodisch gesehen nicht mehr ein einmaliges Ge-
schehen, von dem nur im Singular und mit dem hcstimmten Artikel geredet
werden könnte.
Wir wollen hier die Weiterentwicklung der Theorien um die Planeten-
entwicklung nicht verfolgen. Das Problem hat sich als eines der komplizier-
testen in der Astronomie erwiesen, und seit der Entfaltung der Astrophysik
in unserem Jahrhundert wissen wir zum mindesten, daß ohne diese unsere
neuen Kenntnisse seine wirkliche Lösung hoffnungslos sein mußte. Im letzten
Kapitel der vorliegenden Arbeit werden einige Ansätze zur Lösung des
Problems besprochen, die heute gegeben werden können. Von diesen Ansätzen
aus erscheint unter allen früheren Theorien diejenige KANTS (die von der
späteren LAPLAcEschen zu unterscheiden ist) als die bei weitem beste. Dies
ist wohl kein Zufall, denn als erster Bearbeiter der Frage, und ausgestattet
mit dem philosophischen Blick für das Einfache und Allgemeine, vermochte
KANT diejenigen Schlüsse richtig zu ziehen, die sich aus den grundlegenden
Gestalteigenschaften des Systems heraus aufdrängen; während alle späteren
Autoren den vergeblichen Versuch machten, die für ihren Kenntnisstand
unübenvindbaren inneren Schwierigkeiten seiner Theorie durch ad hoc erfun-
dene kompliziertere Hypothesen zu lösen.
Hingegen müssen wir noch einen Blick auf den heutigen Stand des kos-
mologischen Problems werfen. Der Raum, den wir heute übersehen können,
ist ungefähr gleichförmig mit Sternsystemen erfüllt, die wir nach ihrem
Anblick extragalaktische Nebel nennen. Etwa 10 8 bis 10 9 solcher Objekte
sind unseren Fernrohren erreichbar. Aus der Rotverschiebung ihrer Spektral-
linien erschließen wir, daß sich dieses System von Sternsystemen ausdehnt.
Nehmen wir an, die Ausdehnung erfolge ungefähr mit zeitlich konstanter
Geschwindigkei t, so folgt, daß sie vor etwa 2 . 10 9 Jahren begonnen haben
muß. Ein Alter von ähnlicher Größenordnung ergibt sich aus einer Reihe
methodisch völlig verschiedener Abschätzungen für viele verschiedene Objekte
im Kosmos.
Die Erfahrung deutet also darauf hin, daß der Kosmos in der Gestalt,
in der wir ihn heute kennen, ein endliches Alter von einigen 10 9 Jahren hat.
Einen ebenso direkten Hinweis auf räumliche Grenzen gibt sie nicht. Immer-
hin ergibt sich etwa derselbe "Radius der Welt" von rund 3 . 1027 cm, wenn
man entweder vorschreibt, die HUBBLEsche lineare Beziehung zwischen
92 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:
2. Hydrodynamische Grundlagen.
Empirisch erweist sich der kosmische Raum als erfüllt mit Materie in
dreierlei "Aggregatzuständen": Sterne, Staub und Gas. Wir beschränken
uns zunächst auf den Raum im rnnern unseres Milchstraßensystems. Hier
kann man etwa folgendes Bild geben [1].
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 93
die wir im folgenden benutzen wollen, ist in den Gleichungen der Hydro-
dynamik formuliert. Die Hydrodynamik setzt voraus, daß man den Zustand
eines durch den Raum ausgebreiteten Mediums beschreiben kann, indem man
an jedem Ort eine Materiedichte e und einen Geschwindigkeitsvektor tJ angibt
und die Veränderungen dieser Größen durch Differentialgleichungen bestimmt.
Bedingung für die Zulässigkeit dieser Näherung ist es, daß die mittlere freie
Weglänge Ader eimelnen Teilchen des Mediums klein ist gegen eine Länge l,
welche die Entfernung mißt, auf der die beiden Größen e, tJ sich merklich
ändern:
(1)
Diese Bedingung ist nicht erfüllt für das System der Sterne. Betrachtet
man formal die Sterne als "Moleküle" eines "Gases", so kann man eine freie
'vVeglänge definieren, indem man fragt, wie weit ein Stern läuft bis er einem
anderen Stern so nahe begegnet, daß er durch dessen Gravitationseinwirkung
um einen beträchtlichen Winkel aus seiner Bahn abgelenkt wird. Im Milch-
straßensystem ist diese Strecke erheblich größer als der Durchmesser des
Systems. Die Sterne durchlaufen also ihre individuelle Bahn mehrmals, ohne
durch nahe Begegnungen aus ihr abgelenkt zu werden. Ein System dieser
Art kann nur durch allgemeinere statistische Methoden (Stellardynamik)
beschrieben werden.
Die freie Weglänge von Staubteilchen für Stöße aufeinander ist ebenfalls
ziemlich groß. Für die Bewegung des Staubes kommt es aber mehr auf
seinen Impulsaustausch mit dem massereicheren Gas an, in das er eingebettet
ist. Abschätzungen [2g] zeigen, daß der Staub vielfach vom Gas mitgeführt
werden kann, aber doch auch zu einer eigenen Bewegung gegenüber dem
Gas fähig ist. Die Probleme des Staubes sind ziemlich kompliziert und sollen
im folgenden nicht ausführlich behandelt werden.
Kosmogonisch am wichtigsten ist die Frage der Anwendbarkeit der Hydro-
dynamik auf das Gas. Wir nehmen an, daß die Sterne und der Staub aus
dem Gas entstanden sind und daß daher die heutige Bewegung der Sterne
nicht "Verstanden werden kann, wenn man nur die Wechselwirkungen fertiger
Sterne miteinander berücksichtigt. Man wird vielmehr in den heutigen
Bewegungen der Sterne in weitem Umfang einfach den Überrest derjenigen
Bewegungen sehen müssen, die das Gas zur Zeit der Bildung der Sterne hatte.
Diese Überlegung ist eine VeraIIgemeincrung des im er~ten Teil besprochenen
Grundgedankens der Theorie von KANT.
Es zeigt sich nun, daß die Bewegung des Gases mit hinreichender Nähe-
rung durch die Hydrodynamik beschrieben werden kann. Ist n die Anzahl
von Gasatomen je Volumeneinheit und (J ihr Wirkungsquerschnitt für Zu-
sammenstöße, so ist die freie Weglänge durch die Formel
A= 1 (2)
na
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 95
gegeben. Für neutrale Atome ist 0" von der Größenordnung 10-15 bis 10-16 cm 2 .
Für ionisierte Atome muß man einen wesentlich größeren Wirkungsquerschnitt
einsetzen. Wenn man für 11. 1 cm- 3 wählt, so ergibt sich, daß Ä. stets kleiner
als 1016 cm, und in dichten oder ionisierten Gaswolken um mehrere Zehner-
potenzen kleiper als dieser Betrag ist. Die feinsten Einzelheiten, die man in
kosmischen Nebeln außerhalb unseres Planetensystems unterscheiden kann,
erstrecken sich über Bereiche in der Größenordnung 1015 bis 1016 cm. Im
allgemeinen haben \vir unsere Betrachtungen auf Wolken anzuwenden, die
entweder wenigstens 1018 cm groß oder, wie in der Theorie der Entstehung
des Planetensystems, etwa um den Faktor 1015 dichter sind als die inter-
stellare Materie. Die Bedingungen für die Anwendbarkeit der hydrodynami-
schen Näherung sind also praktisch überall gegeben.
In der Hydrodynamik werden die beiden wesentlich verschiedenen Be-
wegungsformen der laminaren und der turbulenten Strömung unterschieden.
Wir werden zeigen, daß die kosmischen Bewegungen fast durchweg turbulent
sein müssen. Wegen der Bedeutung dieses Ergebnisses für die Kosmogonie
seien ein paar Bemerkungen über die prinzipielle Bedeutung des Phänomens
der Turbulenz gestattet.
Man kann die laminare Strömung als geordnet, die turbulente als un-
geordnet bezeichnen. In der laminaren Strömung wird die Geschwindigkeit
durch eine glatte Funktion des Ortes und der Zeit dargestellt. In der turbu-
lenten Strömung überlagert sich einer wiederum durch glatte Funktionen
darstellbaren mittleren Geschwindigkeit eine räumlich und zeitlich unregel-
mäßig schwankende turbulente Zusatzgeschwindigkeit. Die scharfe Unter-
scheidung bei der Strömungsformen ist eingefuhrt worden an Hand der Beob-
achtung, daß ein unstetiger Übergang der laminaren in die turbulente
Strömung stattzufinden pflegt, wenn eine dimensionslose Größe, die REY-
NOLDsche Zahl, einen kritischen Wert überschreitet, der die Größenordnung
1000 hat. Der Aufbau der REYNoLDschen Zahl gibt einen Hinweis auf die
Gründe der Turbulenz. Die REYNoLDsche Zahl lautet:
R=_(!V~. (3)
It
Hier ist e die Dichte, v und l sind Werte der Geschwindigkeit und der Linear-
dimension, welche für das betreffende Strömungsbild charakteristisch sind;
schließlich ist ft die Zähigkeit. Die Strömung wird also turbulent, wenn der
Impuls der Strömung e v oder die durchströmte Strecke l groß ist; sie wird
laminar, wenn die Zähigkeit groß ist. Zähigkeit ist eine Kraft, welche be-
nachbarte Flüssigkeitsteilchen zu zwingen sucht, auf ungefähr gleichen Bahnen
zu laufen. Es ist also klar, daß große Zähigkeit die Tendenz hat, den Strö-
mungsverlauf zu glätten. Bei kleiner Zähigkeit ist ein glatter Strömungs-
verlauf mechanisch noch immer möglich. Die empirische Tatsache, daß er
schon bei kleinen Störungen in Turbulenz umzuschlagen pflegt, daß also die
96 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:
laminare Strömung dann instabil ist, zeigt, daß man die turbulente Strömung
in gewissem Sinn als die für Flüssigkeiten geringer Zähigkeit natürliche
Strömungsform anzusehen hat. Diese Tatsache wird verdeckt, wenn man
von den Lösungen der klassischen Hydrodynamik für wirbelfreie Strömungen
ausgeht. Wegen der HELMHoLTzschen Wirbelsätze kann eine Strömung, die
keine vVirbel enthält, diese nicht spontan erzeugen. Geht man daher von
einer wirbelfreien Strömung aus, so kann Turbulenz in der Tat nur erzeugt
werden, indem etwa am Randc der Strömung durch Reibung an einer festen
Oberfläche \Virbel in die Flüssigkeit gebracht werden. Dies ist aber nicht
derjenige Fall, der in der freien Natur, also auch im Kosmos im allgemeinen
vorliegt. Dort enthalten die Strömungen im allgemeinen schon von ihrer
Entstehung her große Wirbelstärken (z. B. die ursprüngliche Rotation des
Planetensystems oder der Milchstraße), deren Verteilung in die kleineren
Wirbel, die die Turbulerlz ausmachen, kein Erhaltungssatz im Wege steht.
Die Frage des Ursprungs der kosmischen Turbulenz wird damit in die Anfangs-
bedingungen zurückverlegt. Bcim augenblicklichen Stand unserer Kenntnisse
scheint es, als sei diese Frage nicht ohne kosmologische Spekulation zu beant-
worten. Sie ist daher aus den vorliegenden Betrachtungen auszuschließen.
Die Behauptung, die Turbulenz sei die natürliche Bewegungsform der
Flüssigkeit mit geringer Reibung, kann dahin präzisiert werden, daß sie die
statistisch wahrscheinlichste Bewegungsform ist. Ein Medium, dessen Be-
wegungszustand durch eine kontinuierliche Funktion des Orts beschrieben
wird, hat streng genommen unendlich viele Freiheitsgrade. Man kann z. B.
als Anfangsbedingung eine beliebige Geschwindigkeitsverteilung im Raum
vorgeben. Nur wenige unter den möglichen Anfangsverteilungen "ind durch
einigermaßen glatte Funktionen beschrieben. Eine Geschwindigkeitsver-
teilung, über die nicht ausdrücklich bekannt ist, daß sie durch eine glatte
Funktion zu beschreiben ist, wird also mit großer a priori-'Wahrscheinlichkeit
ein kompliziertes Strömungsbild haben, das unter den allgemeinen Begriff
Turbulenz fallen wird.
Die Turbulenz ist aber keine Bewegungsform, die sich selbst unbegrenzt
aufrechterhalten kann. Die molekulare Reibung setzt ständig kinetische
Energie der Strömung in Wärme um. Wenn der Strömung nicht ständig
neue Energie zugeführt wird, so muß sie mit der Zeit erlöschen. Im strengen
Sinn stationäre turbulente Strömungen dürfte es im Kosmos kaum geben,
da uns keine Energiequelle bekannt ist, welche die verlorengehende kinetische
Energie ständig ersetzen würde. Als quasistationär kann man aber die feinere
Struktur eines Strömungsfcldes bezeichnen, dessen Turbulenz mit der Zcit
abfällt; denn es zeigt sich, daß die feineren Strukturen in einem turbulenten
Strömungsfeld sich mit der Zeit rascher verändern als dIe gröberen.
Wir beschreiben eine quasistationäre Strömung, indem wir den PRANDTL-
schen [3] Begriff des Turbulenzelernents benutzen. Wir verstehen darunter
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 97
ein Teilvolumen der Flüssigkeit, das für einige Zeit eine ungefähr gemein-
same Bewegung ausführt. Ein Turbulenzelement ist keine dauerhafte Ein-
heit, es löst sich vielmehr wieder auf, nachdem es den "Mischungsweg" 1
zurückgelegt hat, der von der Größenordnung seines eigenen Durchmessers
ist. Eine präzisere Beschreibung dieser Sachverhalte kann mit den Hilfs-
mitteln der FOURIER-Analyse [4J gegeben werden. Für eine anschauliche
kurze Mitteilung der Resultate bedienen wir uns aber weiterhin der Sprache
der Turbulenzelemente. Außer durch 1 kann ein Element durch seine Ge-
schwindigkeit v relativ zu seinen Nachbarn charakterisiert werden. Es gibt
Turbulenzelemente aller Größen 1 von einer mit den Dimensionen des ganzen
Strömungsfeldes vergleichbaren Größe bis zu einer Grenze, die durch die
molekulare Zähigkeit bestimmt ist. Die kleinen Elemente befinden sich
innerhalb der größeren; sie können als ihre Feinstruktur bezeichnet werden.
Die energetische Struktur dieser "Hierarchie von Turbulenzelementen" kann
beschrieben werden, indem man eine Funktion v (l) angibt. Diese Funktion
sagt aus, wie der mittlere Betrag der Relativgeschwindigkeit zweier Punkte
in dem Medium, die den Abstand 1 voneinander haben, von diesem Abstand
abhängt. Für Elemente mittlerer Größe ergibt sich theoretisch [5J
(4)
Dieser Funktionsverlauf ist für irdische Strömungen [6J und neuerdings auch
für den Orionnebel [7J mit einiger Genauigkeit bestätigt worden. Die physi-
kalische Vorstellung, die zur Ableitung dieses Gesetzes führt, betrachtet zu
den Turbulenzelementen jeder Größe die kinetische Energiedichte t (! v 2 ,
welche der Bewegung ihres Schwerpunkts relativ zu Nachbarelementen zu-
geschrieben werden kann. Die quasistationäre Tm bulenz wird aufrecht-
erhalten, indem die Energie aus den größten Elementen durch die Hierarchie
hindurch bis in die kleinsten Elemente strömt, aus denen sie dann in Wärme
übergeht. Dabei wirken die kleineren Turbulenzelemente in bezug auf die
größeren ebenso wie die Moleküle des Gases in bezug auf die hydrodynamische
Strömung überhaupt. Der durch sie vermittelte Impulstransport kann als
Zähigkeit dargestellt werden und diese Zähigkeit bewirkt die Energie-
dissipation.
Für die Bewegung kosmischer Gasmassen ist die wichtigste Wirkung der
Turbulenz eben diese Zähigkeit, durch die sie die mittlere Strömung sehr
viel stärker beeinflußt als es die molekulare Zähigkeit tun könnte. Die
Turbulenzzähigkeit oder die "Austauschgröße" ist gegeben durch
'Yj=(!vl. (5)
Hier bedeuten 1 und v Mischungsweg und Geschwindigkeit der größten am
Impulstransport beteiligten Turbulenzelemente.
Daß die kosmischen Bewegungen turbulent sein müssen, ist nach dem
bisher Gesagten gewährleistet, sofern ihre REYNoLDsche Zahl groß ist
Gottinger Akademie·Festschrift. 7
98 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:
verglichen mit dem kinetischen Wert. Dabei ist zu beachten, daß nicht der
kritische Wert von etwa 1000 einzusetzen ist, der die Grenze für die Stabilität
einer laminaren Strömung angibt. Beim Übergang einer etwa durch ein
Druckgefälle in einem Rohr oder Kanal aufrechterhaltenen Strömung aus
dem laminaren in den turbulenten Zustand nimmt die effektive Zähigkeit
erheblich zu und die Geschwindigkeit entsprechend ab. Die REYNoLDsche
Zahl der resultierenden turbulenten Strömung ist also kleiner als die der
laminaren aus der si~ entstammt. Die REYNoLDsche Zahl, bei der eine
turbulente Strömung dadurch in eine laminare übergeht, daß ihre Wirbel
durch die Zähigkeit "erstickt" werden, ist [8] von der Größenordnung 10.
Setzen wir für die molekulare Zähigkeit die Formel
(6)
ein, in der vth die durchschnittliche thermische Geschwindigkeit der Moleküle
bedeutet, die wiederum größenordnungsmäßig gleich der Schallgeschwindig-
keit in dem betreffenden Medium ist, so ergibt sich als Grenze der Turbulenz
ungefähr
(7)
ist in der Hydrodynamik unter dem Namen bekannt, daß die MAcHsehe
Zahl der Strömung größer als 1 sei. Sie gibt gleichzeitig die Grenze an,
oberhalb deren die Bewegung nicht mehr wie die einer inkompressiblen
Flüssigkeit beschrieben werden kann. Wir haben also im kosmischen Gas
mit Verdichtungen und Verdünnungen zu rechnen, die wegen des turbulenten
Charakters der Bewegungen unregelmäßig verteilt sind. Genau dies zeigen
die Photographien kosmischer Gasmassen. Hier tritt allerdings eine Schwie-
rigkeit für die Theorie auf. Denn eine Theorie, welche die Effekte der Tur-
bulenz und der Kompression gleichzeitig berücksichtigt, existiert in der Hydro-
dynamik noch nicht. Turbulenz in einer inkompressiblen Flüssigkeit erzeugt
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 99
Fig. 2. Spiralnebel von der Achse aus gesehen. Spiralnebel M 51 in den Jagdhunden.
Aufnahme: Mt. Wilson.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 101
Fig. 3. Spiralnebel von der Kante aus gesehen. Aufnahme: Mt. Wilson.
Fig. 4. Spiralnebel, von der Kante gesehen, elliptischer Form sich nähernd.
Aufnahme: Mt. Wilson.
Rotation zu tun habe. Fig. 3 u. 4 zeigen ähnliche Nebel, von der Kante
aus gesehen. Wir entnehmen aus den Figuren, daß zur Rotationsgestalt
102 eARL FRIEDRICH V . WEIZSÄCKER:
von der Erhaltung des Drehimpulses. Wenn die Masse aus einer turbulenten
Gesamtmasse entstanden ist, wird sie einen Gesamtdrehimpuls besitzen und
wenn alle übrigen Turbulenzbewegungen erloschen sind, so muß deshalb eine
reine Rotationsbewegung übrigbleiben. Diese Bewegung verhindert ein un-
begrenztes Zusammensinken in der Richtung auf die Rotationsachse. Hin·
gegen können die Bewegungskomponenten parallel zur Rotationsachse weit-
gehend erlöschen und daher wird die Materie eine abgeplattete Gestalt
annehmen. Während die Wolkengestalten unserer Morphologie entweder
innere Teile eines größeren turbulenten Systems oder junge abgesonderte
Systeme darstellen müssen, dürften die Rotationsfiguren das zweite Ent-
wicklungsstadium bedeuten, dessen Entstehung wir soeben beschrieben haben.
Die Turbulenz kann aber nicht ganz erlöschen; wenn nicht eine ganz
spezielle Massenverteilung vorliegt, kann die Gasmasse nicht wie ein starrer
Körper rotieren. In großem Abstand vom Mittelpunkt wird die Rotation stets
dem dritten KEPLERschen Gesetz folgen. Nichtstarre Rotation ist aber eine
Quelle immer neuer Turbulenz. Diese Turbulenz wird z.B. dafür sorgen, daß
die rotierende Scheibe eine endliche Dicke senkrecht zur Hauptebene behält.
Dieser Zustand ist aber wiederum nicht streng stationär möglich. Die
Masse entwickelt sich weiter, indem ein Teil von ihr dem Mittelpunkt zu-
strebt und hierdurch Energie freimacht, welche durch turbulente Reibung
den äußeren Teilen der Masse zugeführt wird. Diese können sich nunmehr
vom Mittelpunkt weiter entfernen. Die Masse strebt also einem Endzustand
zu, indem ein stark verdichteter Zentralkörper mit geringem Drehimpuls
einer im Grenzfall unendlich verdünnten Hülle gegenübersteht, die praktisch
den ganzen Drehimpuls des Systems enthält. Diese Hülle wird sich schließlich
mit dem Medium, aus dem sich unsere Teilmasse abgesondert hat, wieder in
irgendeiner Weise mischen und dadurch dem Zentralkörper verlorengehen.
Diese Entwicklung ist in einer Reihe von Arbeiten analytisch und numerisch
nachgerechnet worden [14J.
Die Zeitskala des Verlustes des Drehimpulses wird im Prinzip wiederum
durch die Formel (10) gegeben. Der dimensionslose Faktor oc nimmt jetzt
aber einen Wert an, der um so größer ist, je weiter die Konzentration des
Zentralkörpers und die Auflösung der Hülle getrieben werden kann.
Die Körper, die in unserer Morphologie als Kugeln auftreten, werden auf
diese \Veise entstanden sein. Die Entwicklung kann aber dadurch ein vor-
zeitiges Ende nehmen, daß die Masse nicht im Zustand des kontinuierlich
verteilten Gases bleibt. Wenn sich in einem Milchstraßensystem Sterne bilden,
so sind diese der weiteren Einwirkung des turbulenten Gases entzogen.
Ähnliches gilt für die Entstehung von Planeten im Sonnensystem. Von einem
solchen Augenblick an kann die Entwicklung des Systems nicht mehr nach
einem hydrodynamischen Schema verstanden werden, sondern bedarf zu-
sätzlicher stellardynamischer Überlegungen.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 105
mit dem Abstand verknüpft. Die Konstante b ist so groß, daß für den
Abstand, den damals benachbarte Systeme voneinander hatten vtu = vex war.
Natürlich braucht (12) n:cht als streng richtig angenommen zu werden. Für
106 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:
unsere Überlegung genügt es, daß vtu schwächer als linear mit dem Abstand
anwuchs. Dann folgt, daß für Abstände, die kleiner waren als der damalige
Abstand der heutigen Systeme die Turbulenzgeschwindigkeit größer war als
die Expansionsgeschwindigkeit, während sich für größere Abstände das Ver-
hä.ltnis umkehrte. Bleiben wir ferner bei der Meinung, daß die Anfangs-
verdichtungen, aus denen sich dauernde Systeme bildeten, durch die Tur-
bulenz hervorgebracht wurden, so folgt, daß dies gegen den auflösenden Ein-
fluß der Expansion nur für Gasmassen möglich war, deren Durchmesser
kleiner war als jener kritische Abstand, d. h. es ergibt sich eine obere Grenze
für die Größe der entstehenden Nebel. Den Zahlenwert dieser oberen Grenze
haben wir hier nicht abgeleitet, da wir die Konstanten a und b aus der
Erfahrung entnommen haben. Dabei ist zu beachten, daß für diese Über-
o
legung a das reziproke damalige Weltalter, also t 1 ist. Der Versuch, diese
Konstanten noch theoretisch zu bestimmen, würde uns in die kosmologischen
Fragen nach der Herkunft der Expansion und der Turbulenz verwickeln, die
wir hier vermeiden wollen.
Wir versuchen nun die Weiterentwicklung eines einmal gebildeten Systems
zu beschreiben. Gemäß den Überlegungen von Abschnitt 3 sollten die un-
regelmäßigen Nebel als jung gelten. Die Worte jung und alt erweisen sich
alsbald als zweideutig. Es fragt sich, ob wir sie in der dem einzelnen System
eigentümlichen Entwicklungszeitskala oder verglichen mit dem Alter der
Welt meinen. Die Zeitskala der Entwicklung eines extragalaktischen Nebels
sollte nach (10) ein kleines Vielfaches seiner Rotationsperiode sein. Für die
größeren Systeme, wie unsere Milchstraße und den Andromedanebel ergibt
dies eine Zeitskala, die mit dem Alter der Welt vergleichbar ist. Diese Systeme
können also in ihrer eigenen Zeitskala oder, wie wir sagen wollen, genetisch
jung und trotzdem in der Zeitskala des Kosmos oder, wie wir sagen wollen,
absolut alt sein. Anders steht es mit den unregelmäßigen Nebeln, die im
allgemeinen wesentlich kleiner sind. ·Wenn sie heute noch die Zeichen gene-
tischer Jugend zeigen, so müssen sie auch absolut jung sein; es müssen sich
also auch heute noch extragalaktische Nebel bilden können. Bedenkt man,
daß vielleicht nicht alle Materie von vornherein in die großen Teilsysteme
einging und daß diese ferner durch den in Abschnitt 3 geschilderten Vorgang
wieder Materie abstoßen, so erscheint diese Neubildung von Systemen nicht
überraschend. Daß unregelmäßige Systeme jung sein müssen, folgt schon
aus der Überlegung, daß eine irreguläre Gestalt dynamisch nicht allein auf-
rechterhalten werden kann, unabhängig von den Einzelheiten der hier vor-
getragenen Theorie.
Als das Zwischenstadium der Entwicklung betrachten wir die Spiralnebel.
In ihnen ist im Gegensatz zu den elliptischen Nebeln noch interstellare
Materie und Turbulenz sichtbar. Das Problem ihrer Gestalt führt uns bereits
auf die schwierige Frage des Zusammenwirkens von Sternen und Gas. Es
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 107
scheint aber, daß gerade die Spiralstruktur ein hydrodynamischer Effekt ist,
der nach einer zuerst von WILCZYNSKI [15] vorgeschlagenen Theorie erklärt
werden kann. Empirisch ist die Spiralstruktur stets mit dem Auftreten ven
Staub verbunden, den wir, indem wir voraussetzen, daß er nicht in weiten
Gebieten völlig getrennt von Gas vorkommen dürfte, als einen Indikator
für die Gegenwart von Gas nehmen. In derselben Richtung weist die Beob-
achtung, daß Spiralarme stets mit "jungen" Sterntypen verbunden sind.
Nun muß jede turbulent rotierende Gasmasse spiralige Strukturen zeigen,
sofern die Rotation nicht gleichförmig ist. Rotieren z. B. die inneren Teile
schneller als die äußeren, so bleiben in jeder Wolke, die sich durch die Tur-
bulenz bildet, die äußeren Teile gegen die inneren zurück und es bildet sich
ein Spiralarm. Man kann das Phänomen beobachten, wenn man in einer
Kaffeetasse rührt und dann Milch hineingießt.
Die Theorie hat sich früher nicht durchgesetzt, weil nicht bekannt war,
wie sich das System weiter entwickeln soll. Nach mehreren Umläufen müßte
jeder Spiralarm sich um den Kern herumwickeln wie der Faden um eine
Garnrolle. Die Erfahrung zeigt diesen Vorgang nicht. Die Turbulenztheorie
hebt die Schwierigkeit auf. Die Turbulenz, welche die Wolken geschaffen
hat, zerstört sie auch wieder, ehe sie mehrfach um den Kern herumgewickelt
sein können.
In dieser Form ist die Theorie wohl am geeignetsten für die sehr auf-
gelösten Spiralen vom HUBBLEschen Typ Sc [16]. Die Tatsache, daß in den
meisten Fällen gerade zwei einander gegenüberliegende Spiral arme auftreten,
dürfte nicht mit Turbulenz sondern mit Gravitation zu tun haben. Als ex-
tremes Beispiel betrachten wir die sog. Balkenspiralen (vgI. Fig. 7). Der
an den Kern anschließende gradlinige Balken wäre einerseits ohne Rotation
instabil, andererseits zeigt das Fehlen spiraliger Verzerrung, daß er starr
rotiert. Man wird ihn den JACoBlschen verlängerten Rotationsellipsoiden
in der Theorie der Gleichgewichtsfiguren rotierender inkompressibler Flüssig-
keiten vergleichen müssen. Daß eine solche Figur vom Standpunkt der
Gravitationstheorie stabil ist, zeigt die folgende Überlegung: Betrachten
wir zunächst eine rotierende, symmetrisch mit Masse belegte Scheibe
und fragen wir, ob durch eine Verschiebung der Materie auf dieser Scheibe
noch Gravitationsenergie zu gewinnen wäre. Eine radiale Verschiebung
der Materie wäre nur möglich bei Abgabe oder Aufnahme von Dreh-
impuls. Hingegen kann man die ganze Scheibe in einen Balken zusam-
menschieben, ohne daß irgendein Volumenelement seinen Abstand vom
Mittelpunkt ändert. Die Gravitationsenergie des Systems nimmt dadurch
aber sicher einen tieferen Wert an. Im Fall der inkompressiblen Flüssigkeiten
ist dies einfache Zusammenschieben wegen der Inkompressibilität nicht mög-
lich. Deshalb sind dort die JAcoBIschen Ellipsoiden nur für hohe Rotations-
geschwindigkeiten Gleichgewichtsfiguren. Für kompressible Materie, möge
108 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:
sie nun aus Sternen oder aus isolierten Gasatomen bestehen, müssen die
Balken also unter allen Umständen die tiefste Gravitationsenergie ergeben;
soweit sie nicht auftreten, dürfte dies auf die inneren Bewegungen in der
Masse zurückzuführen sein.
An das Ende der Balken schließt sich meistens eine Spirale oder ein Ring
an. Dies ist nach unserer Deutung der Bereich, in dem die Rotation nicht
mehr gleichförmig ist und ein Balken sich daher nicht halten kann . Die
so ergibt sich, daß z.B. für e=10- 23 gJcm 3 und T=100° K kleinere Massen
als 1037 g nicht stabil sind. Unter heutigen Bedingungen können sich also
Sterne von etwa Sonnenmasse (1033,5 g) nicht bilden. Sehr viel schwerere
Sterne können sich andererseits anscheinend auch nicht bilden, da die Er-
fahrung uns niemals Sterne von mehr als etwa 100 Sonnenmassen zeigt.
Alle sehr schweren Sterne haben einen großen Strahlungsdruck an der Ober-
fläche und scheinen Materie abzublasen. Also ist vermutlich der große
Strahlungsdruck der Effekt, der die Sternmassen nach oben begrenzt [18].
Nur wenn diese Grenze nicht in Konflikt kommt mit der JEANsschen Bedin-
gung, können Sterne entstehen. Für die Dichte 10- 23 g/cm 3 tritt dies erst
110 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:
~ + 1I
"S! +-5
~ +6
1l
... +7 . ,
" +8
+9
+10 0.01
+11 . .
+12 w~;lJe Zwerge
""3
""~
+ 15 {),QOOI
~--~M~~~----~~~O~~-8~O~M~~~~~'-~6~W~O~5WO~'~C--~
Temperolvr
Fig. 8. RUSsELL-Hertzsprung-Diagramm nach O. STRUVE, Stellar Evolution.
oM l'G2M21}
------
(14)
wobei G die Gravitationskonstante und yeine reine Zahl ist. Für e= 1O- 23 g/cm 3 ,
v = 3 . 104 ern/sec und eine Anfangsmasse von 10 Sonnenrnassen ergibt sich
eine Verdoppelung der Masse des Sterns in 109 Jahren. Wählt man v=
104 ern/sec so ergibt sich schon für einen Stern von Sonnengröße eine Masse-
verdopplung in 3 . 108 Jahren. Wenn es also geschehen kann, daß ein Stern
durch Zufall relativ zu dem ihn umgebenden Gas eine sehr kleine Geschwin-
digkeit hat, so kann er möglicherweise sehr stark anwachsen.
Diese Deutung der hellen Hauptreihensterne würde auch die bei ihnen
häufige Sternrotation verständlich machen. Das Gas, das in den Stern fällt,
112 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:
wird schwerlich seinen ganzen Drehimpuls los werden und wird daher im
allgemeinen dem Stern eine erhöhte Winkelgeschwindigkeit übertragen. Es
muß als wahrscheinlich gelten, daß alle Sterne, die sich aus kosmischem Gas
gebildet haben, zunächst sehr stark rotieren und daher ergibt sich nun das
umgekehrte Problem, wie sie ihre Rotation verloren haben können. Wir
behandeln auch dieses Problem im letzten Teil des Berichts.
Links unter der Hauptreihe liegen die weißen Zwerge, welche hohe Ober-
flächentemperaturen mit geringer Leuchtkraft vereinigen. Sie haben Dichten
von der Größenordnung 106 und müssen durch die Gleichungen des ent-
arteten Gases beschrieben werden [25]. Daß sie trotz hoher Dichten und
Mittelpunktstemperaturen nur wenig Energie freimachen, weist darauf hin,
daß sie den für die energieliefernden Kernreaktionen notwendigen Wasser-
stoff in ihrem Inneren verbraucht haben. Sie müssen also als genetisch alte
Sterne gelten. Da ihre Massen von der Größenordnung der Sonnenrnasse
sind, scheint sich eine Schwierigkeit zu bieten, denn wir haben gesehen, daß
Sterne vom Sonnentypus während des Alters der \Velt kaum Zeit gehabt
haben können, ihren Wasserstoff zu verbrauchen. Vielleicht verliert ein
massereicher Stern bei seiner Entwicklung so viel Masse durch Abblasen an
der Oberfläche, daß er, wenn der Wasserstoff aufgebraucht ist und die darauf-
folgende notwendige Kontraktion stattgefunden hat, in vielen Fällen nur
noch etwa Sonnenrnasse hat.
Ein noch immer nicht befriedigend gelöstes Problem stellt die Natur der
Riesen dar, die sich im Diagramm rechts oberhalb der Hauptreihe befinden.
Sie haben bei geringer Oberflächentemperatur große Leuchtkraft und folglich
große Oberfläche. Es gibt Riesen, deren Radius dem Radius der Erdbahn
um die Sonne gleicht. Früher meinte man, sie seien junge Sterne, die sich
noch nicht bis zur Hauptreihe zusammengezogen hätten. Die Zeitskala dieser
HELMHOLTZ-KELvINschen Zusammenziehung beträgt aber nur einige Millionen
Jahre. Eine Reihe von Gründen, insbesondere das Vorkommen von Riesen
in beiden B.<\ADEschen Populationen zeigt, daß die Riesen älter sein müssen.
Die Riesen der Population II unterscheiden sich von denen in I in bezug
auf die Lage im RussELL-Hertzsprung-Diagramm. Jedenfalls aber wird man
diese Riesen von II als absolut alte Sterne ansehen müssen und damit ist
bewiesen, daß es alte Riesen gibt; also müssen wir ein Modell für die Riesen
finden, das ihnen ein hohes Alter gestattet.
Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist wohl die nach den
Energiequellen der Riesen. Die Kernreaktionen, die in der Hauptreihe wirk-
sam sind, können für die Riesen schwerlich ausreichen. Baut man einen
Riesenstern nach dem EDDlNGToNschen Modell auf, so sind die Temperaturen
dicht an seinem Mittelpunkt zu gering, um nennenswerte Kernreaktionen
auszulösen. Neben den Kernreaktionen ist uns als einzige ergiebige Energie-
quelle die Kontraktion unter dem Einfluß der Schwerkraft bekannt. Diese
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 113
liefert aber große Em'rgiemengen nur, wenn der Stern sich zu einem Radius
zusammenzieht, der kleiner ist als derjenige eines Hauptreihensterns. Die
Gravitationsenergie ist ja umgekehrt proportional zum Radius. Die negative
Gravitationsenergie der Sonne entspricht dem Energiebetrag, den die Sonne
in 4.10 7 Jahren ausstrahlt. Zusammenziehung zu einem 100mal kleineren
Radius würde also der Sonne eine für das bisherige Alter der Welt ausreichende
Lebensdauer garantieren. Hellere Sterne brauchen, da die Leuchtkraft mit
einer hohen Potenz der Masse anwächst, noch kräftigere Zusammenziehung
für eine ebenso große Lebensdauer. Diese Überlegungen führen zu der Frage,
ob die Riesen vielleicht einen mit einem weißen Zwerg vergleichbaren über-
dichten Kern haben. Der sichtbare Stern wäre dann nur eine ungeheuer
ausgedehnte Atmosphäre eines solchen Kerns. Auch auf dem Wege dieser
Annahme liegen aber noch zahlreiche Probleme.
Zunächst ist zu fragen, was denn dann die Riesen von den weißen Zwergen
unterscheidet. Empirisch sind sie zunächst unterschieden durch die völlig
verschiedene Leuchtkraft. Diese Leuchtkraft mag auch für den Unterschied
in der Größe verantwortlich gemacht werden, denn ein Stern von der Größe
eines weißen Zwerges, dessen Oberfläche von einem Strahlungsstrom durch-
gesetzt würde, welcher der Leuchtkraft eines Riesen entspricht, würde diese
Oberfläche keinesfalls gegen den Strahlungsdruck festhalten können. Es liegt
also nahe anzunehmen, sie werde zu einer großen Atmosphäre aufgeblasen.
Warum aber sollen die Riesen eine so viel größere Leuchtkraft haben als
die weißen Zwe.rge? Eine mögliche Antwort ist,' die Riesen seien Sterne,
die sich noch auf dem Wege zum Stadium des weißen Zwerges befinden.
GAMOW [26] hat das Modell eines Sterns diskutiert, der in seiner Mittel-
punktsregion den Wasserstoff aufgebraucht hat und' nun einen verhältnis-
mäßig dichten isothermen Kern besitzt, an dessen Oberfläche weiterhin Kern-
reaktionen verlaufen. Ein Modell dieser Art könnte vielleicht einige Riesen-
typen darstellen. Die Lebensdauer der Riesen wäre dann beschränkt und
es fragt sich, ob man nicht zum mindesten für absolut alte und für sehr helle
Riesen ein anderes Modell braucht.
Hier müssen wir vielleicht eine Rechnung von CHANDRASEKHAR [27]
benutzen, aus der sich ergibt, daß für einen überdichten Stern je nach seiner
Masse zwei sehr verschiedene Modelle in Betracht kommen. Sie beruhen
auf der Verschiedenheit der Zustandsgleichungen eines entarteten Gases für
unrelativistische und für relativistische Geschwindigkeiten der Elektronen.
Vernachlässigen wir in einem entarteten Gas die Temperatur, so ergibt sich
sein Druck einfach aus der Unbestimmtheitsrelation. Beschränke ich ein
Elektron auf einen Raum von der Lineardimension ,,1 x, so muß ich ihm einen
Impuls ,,1 p von der Größenordnung hJL1 x zuführen. Diesem Impuls entspricht
.im unrelativistischen Grenzfall eine zu (,,1 p)2 proportionale Energie, während
die entsprechende Energie für Teilchen, die nahezu mit Lichtgeschwindigkeit
Gottinger Akademie·Festschrift. 8
114 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:
bewegt sind, zu L1 p proportional ist. Nun ist der Druck, oder was bis auf
einen Zahlfaktcr dasselbe ist, die Dichte der kinetischen Energie propor-
tional zum Produkt aus der Massendichte e und der soeben angegebenen
Energie des einzelnen Teilchens. Da L1 x zum Radius des Sterns und dieser
zu e-~ proportional ist, ergibt sich schließlich für den nicht relativistischen
Grenzfall die Zustandsgleichung
P"" e§ (15)
und für den relativistischen Grenzfall die Gleichung
P"" e~ . (16)
Dieser kinetischen Energie muß die potentielle Energie der Gravitation das
Gleichgewicht halten, deren Dichte zu elR, also zu ei proportional ist. Man
sieht, daß im unr('lativistischen Grenzfall die potentielle Energie mit wach-
sender Dichte langsamer zunimmt als die kinetische; daher wird sich hier
ein Grenzwert der Dichte herausstellen, über den hinaus keine weitere Kon-
traktion möglich ist. Dieser Fall ist für die weißen Zwerge realisiert, die
eben darum nur eine sehr kleine Leuchtkraft haben. Im relativistischen
Grenzfall hingegen sind kinetische und potentielle Energie zur sei ben Potenz
der Dichte proportional. Wenn also die potentielle Energie für irgendeine
Dichte die kinetische überwiegt, d. h. wenn überhaupt ein Stern möglich ist,
so bleibt dieses Übergewicht für jede Dichte erhalten. Der Stern kann also
unbegrenzt kontrahieren, bis Effekte eintreten, die in unserer Überlegung
nicht berücksichtigt sind, z.B. die Wirkung der Kernkräfte, wenn der Stern
die Dichte eines Atomkerns erreicht. Auf dem Weg bis zu dieser Dichte wird
ein Energiebetrag frei, der auch für die hellsten Überriesen ausreichen sollte.
In der Nähe der Kerndichte wird es schließlich energetisch günstig, daß die
Sternmaterie sich in ein Neutronengas verwandelt [28]. Denn das Neutron
hat zwar eine höhere Energie als das Wasserstoffatom und ist daher im
freien Zustand instabil. Unter sehr hohem Druck wird aber schließlich der
Effekt der Verminderung der Anzahl der Freiheitsgrade durch die Ver-
einigung eines Elektrons und eines Protons zu einem Neutron überwiegen.
Ob derartige Neutronenkerne wirklich vorkommen, läßt sich wohl heute
noch nicht entscheiden.
Ob die relativistische Zustandsgleichung eintritt oder nicht, hängt von
der Masse des Sterns ab. Nach CHANDRASEKHAR sind die zwei Zustands-
gleichungen durch eine Grenzrnasse getrennt, die in der Größenordnung von
zwei Sonnenrnassen liegt. Auf den ersten Blick scheint also nichts im Wege
zu stehen, die Riesen mit Stcrnen oberhalb dieser Grenzrnasse zu identifizieren.
Es hat sich aber gezeigt, daß es keine stationären Sternmodelle mit über-
dichtem Kern, Riesenleuchtkraft und einer Atmosphäre von der bei den
Riesen beobachteten Ausdehnung gibt. Die Antwort liegt vielleicht darin,
daß die Atmosphäre der Riesen nicht als streng stationär angesehen werden
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 115
darf. Doch wird diese Frage nur durch Modellrechnungen entschieden werden
können, die noch nicht ausgeführt sind. Wir müssen also das Problem der
Riesen noch einer zukünftigen endgültigen Entscheidung überlassen.
Es ist nicht das Ziel des vorliegenden Berichts, die Fülle von Hypothesen
zu mustern, die für die außergewöhnlichen Sterntypen, vor allem für ver·
änderliche Sterne ulld für die auffallendsten unter diesen, die sog. Novae
und Supernovae aufgestellt worden sind. Es sei nur darauf hingewiesen,
daß die planetarischen Nebel, die man heute wohl allgemein als Folgeprodukte
von Supernova-Ausbrüchen ansieht, eine Struktur haben, die sich zwar
quantitativ, aber nicht qualitativ von dem soeben diskutierten Modell der
Riesen unterscheidet. Sie haben einen überdichten, sehr heißen Kern und
eine Hülle, für deren dynamisches Gleichgewicht die Strahlung dieses Sterns
eine entscheidende Rolle spielt. Im Gegensatz zu den Riesen ist die Hülle
für Licht durchsichtig und in einer Expansion von meßbarer Geschwindigkeit
begriffen. Sie gibt abe~ jedenfalls ein Beispiel dafür ab, daß unter Preisgabe
der Forderung der Stationarität ein Gebilde der geschilderten Art existenz-
fähig ist.
Ein kosmogonisches Problem, das mit den Fragen der Turbulenz und
Rotation eng verbunden ist, stellen die Doppelsterne dar. Man wird heute
wohl weniger dazu neigen, die Doppelsterne als das Ergebnis eines Zerreißens
eines rasch rotierenden Einzelsterns anzusehen; vielmehr liegt die Vermutung
nahe, daß enge Paare aus Materie entstanden sind, deren Drehimpuls von
vornherein zu groß war, um in einem einzelnen Sternkörper untergebracht
zu werden. Die Entstehung weiter entfernter Paare, die wir als visuelle
Doppelsterne kennen, ist vielleicht nur im Zusammenhang mit der Theorie
der Entstehung des Planetensystems zu erklären.
Die Bildung des kosmischen Staubs ist von ÜORT [29J und seinen Mit-
arbeitern ausführlich diskutiert worden. Wir wollen uns hier mit dem Hin-
weis auf seine Arbeiten begnügen.
Hier ist r n der Anstand des n-ten Planeten von der Sonne, a und b sind
Konstanten. Obwohl diese Formel das Vorhandensein eines Planeten (der
sich nach der Entdeckung als die Schar der Asteroiden herausstellte) zwischen
Mars und jupiter richtig voraussagte, hat sie große Fehler. Merkur fügt
sich ihr nur scheinbar, denn man muß ihm die Nummer 1t=-oo zuschreiben,
d. h. die Regel würde eigentlich zwischen Merkur und Venus noch unendlich
viele Planeten fordern. Ferner fügt sich zwar Uranus, der auch zur Zeit der
Aufstellung der Regel noch nicht bekannt war, gut in sie ein; Neptun aber
fällt völlig aus dem Rahmen. Pluto steht etwa an der Stelle, an der nach
der Regel der auf Uranus folgende Planet stehen sollte; rechnet man so, so
wird Neptun überzählig. Eine bescheidenere Formulierung der Regel ist es
vielleicht, wenn man sagt, daß von Mars bis Uranus jeder Planet etwa doppelt
so weit von der Sonne entfernt ist wie der vorangehende, während weiter
innen und weiter außen Abweichungen eintreten.
Ein wichtiger Bestandteil des Systems sind die Kometen und die Me-
teoriten. Nach neuen Vntersuchungen von OORT [30] bilden die Kometen
ein tief in den Weltraum hineinreichendes etwa kugelsymmetrisches System,
in welches das flache Planetensystem in ähnlicher Weise eingebettet ist, wie
das flache Milchstraßensystem in die etwa kugelsymmetrische Wolke der
kugelförmigen Sternhaufen. Die Kometen, die ins Innere des Planetensystems
eindringen und für uns dadurch sichtbar werden, sind nur ein kleiner, durch
Störungen aus der ursprünglichen Bahn geworfener Teil des Kometensystems.
Die Gesamtmasse aller Kometen scheint übrigens die Masse eines kleineren
Planeten nicht zu überschreiten.
Die Meteoriten scheinen sich nach neueren Bahnbestimmungen [31] durch-
weg auf elliptischen Bahnen zu bewegen, also dem Sonnensystem anzugehören.
Ihre bemerkenswerteste Eigenschaft ist die Einteilung in Stein- und Eisen-
meteoriten, d.h. die Tatsache, daß bei ihrer Bildung offenbar eine chemische
Sonderung der schweren Elemente voneinander stattgefunden hat. Es ist
schwer zu sagen,. wo eine solche Sonderung hätte stattfinden sollen, wenn
nicht in einem Planetenkörper. Daher ist das Vorkommen der Meteoriten
vielleicht das stärkste Argument dafür, daß ein Planet oder mehrere Planeten
einmal durch Zusammenstoß zertrümmert worden sind. Doch ist dieser
Schluß wohl heute noch nicht als zwingend anzusehen.
Wir versuchen nun, die Entstehung des Systems nach unserem allge-
meinen Entwicklungsschema zu verstehen [2a]. Die schon von KANT her-
vorgehobene Gestaltanalogie mit den großen Sternsystemen wie unserer
Milchstraße, springt ins Auge. Der Gedanke liegt nahe, den Ursprung der
Planeten in einer Rotationsfigur zu suchen, die bei der Bildung der Sonne
vorübergehend entstanden ist und sich schließlich in den Sonnenkörper und
eine wieder in den Kosmos entweichende Hülle gespalten hat. Obwohl diese
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 117
Entfernung der großen Planeten entspricht. Diese Lösung würde also den
für die Planetenentstehung notwendigen Nebel im richtigen Abstand von
der Sonne liefern. Die Frage ist aber, welcher Kopplungsmechanismus die
Drehimpulsübertragung von der Sonne auf den innersten Teil der Gasmasse
leisten kann.
ALFvEN [34J hat darauf hingewiesen, daß die Sonne durch die Einwirkung
eines ihr eingeprägten Magnetfeldes Drehimpuls auf ein umgebendes ionisiertes
Gas übertragen kann. Die Größe des Magnetfeldes der Sonne ist bis heute
ein strittiger Punkt. Direkte Messungen [35] und der Anblick der Corona [36]
sind am besten vereinbar mit der Annahme, daß die Sonne heute ein Dipol-
feld hat, das auf ihrer Oberfläche eine Feldstärke von ein paar Gauß besitzt.
Wenn die Sonne früher schneller rotierte, so hatte sie vielleicht auch ein
stärkeres Magnetfeld. Ein etwa 10mal stärkeres Magnetfeld würde sicher
ausreichen, um die Drehimpulsübertragung in einer Zeit von etwa 108 Jahren
zu leisten. Dabei müßte sich in der Nachbarschaft der Sonne ein Raum
befinden, in dem die Bewegungsverhältnisse durch das Magnetfeld bestimmt
sind. Dieser Raum würde starr mit dem Sonnenkörper mitrotieren. Die
Grenze zwischen ihm und der durch dif' turbulente Reibung beherrschten
äußeren abgeplatteten Gashülle liegt dort, wo die Energiedichte des Magnet-
feldes vergleichbar ist mit der Energiedichte der Turbulenz. Die Entfernung
dieser Grenze von der Sonne hängt natürlich vom Magnetfeld und von der
Dichte der umgebenden Materie ab. Eine Abschätzung ergibt einen Wert
in der Größenordnung von 1012 cm, d. h. eine Entfernung die um einiges
kleiner ist als der Radius der Merkurbahn. Die Sonne kann durch diesen
Mechanismus bis auf eine Rotationsperiode abgebremst werden, die gleich
ist der Umlaufsperiode eines Planeten, der an der Stelle des Übergangs
zwischen den bei den Bereichen um die Sonne lief. Wie KUIPER gesprächs-
weise hervorgehoben hat, stimmt dies gut überein mit der Tatsache, daß die
Rotationsperiode der Sonne von etwa 27 Tagen sich in die Folge der Umlaufs-
periode der Planeten, die bei 88 Tagen für Merkur endet, einfügt.
Nehmen wir an, daß die KANTsche Gasmasse sich auf diese Weise aus
der nächsten Nachbarschaft der Sonne in den Raum des heutigen Planeten-
systems ausgebreitet habe, so folgen nun die zwei weiteren Fragen, wie sich
die Planeten gebildet haben und wie die ursprüngliche Gasmasse verschwunden
ist. Diese Fragen waren für KANT nahezu identisch, da er annahm, daß
sich die Masse ganz in die Planetenkörper zusammengezogen habe. Wir
wissen aber, daß zum mindesten die inneren Planeten fast ausschließlich aus
schweren Elementen bestehen, die in der Zusammensetzung der Sonne und
der interstellaren Materie nur etwa 1 % der Gesamtmasse ausmachen. Dies
läßt wohl nur die Folgerung zu, daß die Planett"n nicht durch gravitative,
sondern durch chemische Aussonderung aus der ursprünglichen Masse ent-
standen sind. Der Schluß wird noch bestärkt durch die Seltenheit der Edel-
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 119
gase auf der Erde. Im Kosmos liegt z. B. die Häufigkeit von Neon zwischen
den Häufigkeiten seiner geradzahligen Nachbarelemente Sauerstoff und
Magnesium; ähnliches gilt für die anderen Edelgase. Auf der Erde sind die
Edelgase mit Ausnahme von Argon, das sekundär aus K40 entstanden sein
dürfte [37], etwa um den Faktor 105 seltener als ihre Nachbarelemente. Die
Erde kann diese Gase schwerlich sekundär verloren haben. Denn selbst wenn
man annimmt, sie seien bei der Bildung des Erdkörpers vollständig in einer
Atmosphäre versammelt worden und diese Atmosphäre sei nachträglich etwa
durch sehr hohe Temperaturen entwichen, so ist es dann unverständlich,
warum das Wasser, das ebenso schwer ist wie Neon, nicht entwichen ist.
Die Annahme einer Entstehung der Planetenkörper durch chemische Aus-
sonderung dürfte aber auch keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Staub-
körner können durch Aufsammlung von Molekülen oder kleineren Staub-
körnern weiter wachsen. Die Zeitskala dieses Wachstums läßt sich wie folgt
abschätzen: Die jetzige Gesamtmasse aller Planeten ist etwa ein Tausendstel
der Sonnenmasse. Schätzt man die Gesamtmasse des KANTschen Nebels zu
etwa dem 100fachen der heute in den Planeten vereinigten Masse, also zu
etwa 1/10 der heutigen Sonnenmasse, so ergibt sich eine mittlere Dichte jenes
Nebels von ungefähr 10- 9 g/cm 3 . Man kann nun ausrechnen, wie häufig in
einer Masse dieser Dichte Zusammenstöße der Moleküle und Staubkörner
stattfinden und bekommt für das Wachstum bis zur Planetengröße 107 bis
108 Jahre. Sollte das Wachstum in "Protoplaneten" (s. unten) stattgefunden
haben, so war es noch rascher. Allerdings müßte noch gezeigt werden, daß
die Zusammenstöße wirklich eine Tendenz zum Wachstum und nicht zur
Zertrümmerung der Staubkörner ergeben. Dies dürfte in einer nicht leicht
übersehbaren Weise von den Stoßgeschwindigkeiten, also von Turbulenz und
Temperatur, abhängen und stellt ein noch ungelöstes physikalisches und
chemisches Problem dar.
Wenn die Planeten durch chemische Aussonderung entstanden sind, so
war die Masse, in der sie entstanden, zunächst nicht allzu heiß. Die Annahme,
die Planeten hätten sich aus Sonnenmaterie bei Sonnentemperatur gebildet
und nachträglich abgekühlt, ist ein Relikt älterer nach-kantischer Ent-
stehungstheorien, für die sich heute schwerlich eine Rechtfertigung wird
finden lassen. Der KANTsche Nebel dürfte an jeder Stelle eine Temperatur
gehabt haben, die nicht allzu weit von der Oberflächen temperatur eines heute
an derselben Stelle stehenden Planeten abwich. Allerdings gibt es genug
Anlässe zur sekundären Erwärmung: Die Gravitationsverdichtung von Teil-
massen, die kinetische Energie der auf andere treffenden Materiebrocken und
schließlich die Radioaktivität im Inneren der entstandenen Planetenkörper.
Die Radioaktivität reicht bekanntlich allein aus, um heute das Erdinnere
auf einer hohen Temperatur zu halten und es scheint noch immer schwieriger
zu sein zu verstehen, daß die Erde sich nicht laufend erwärmt, als daß sie
120 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:
ist, wird es nicht mehr möglich sein und er wird nun mit dem Drehsinn des
Gesamtsystems, aber rascher als dieses, rotieren.
Die Entstehung der Planetenkörper und der Monde denkt sich KUIPER
in Analogie zur Entstehung des Sonnenkörpers und der Planeten. Der Proto-
planet übernimmt dabei die Rolle des KANTschen Nebels. Im einzelnen ist
die Theorie noch nicht durchgeführt. Wir wollen hier auf alle weiteren
Betrachtungen dieses Vorgangs, die notwendigerweise noch sehr spekulativ
sein müßten, verzichten. Nur der Hinweis sei gestattet, daß die Mondkrater,
die man ja wohl als Einschußspuren deuten muß, ein Argument für die
Entstehung des Mondkörpers aus Brocken im Sinne der soeben geschilderten
Theorie liefern. Das Fehlen analoger Strukturen auf der Erdoberfläche wäre
dann nur dem umgestaltenden Einfluß der Erosion zuzuschreiben.
Schließlich stellt sich die Frage, wie der K~NTsche Nebel bzw. in der
KUIPERschen Theorie auch der Protoplanet, soweit er nicht in die Körper
von Planeten und Monden eingefangen wird, sich auflöst. Die turbulente
Reibung führt zu einer immer größeren Ausdehnung des Nebels und dabei
nimmt seine Dichte ständig ab. Wenn die Dichte nicht mehr sehr viel größer
ist als im umgebenden interstellaren Raum, so dürfte sich der Nebel mit der
Umgebung vermischen; er wird dann gleichsam weggefegt. Nach einer Ab-
schätzung von LÜST ist anzunehmen, daß dies etwas mehr als 108 Jahre nach
der Entstehung der Sonne geschehen sein sollte.
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Material.
Über das Gersten-Material, an dem wir den größten Teil unserer Unter-
suchung ausgeführt haben, mag unter Hinweis auf frühere Publikationen 8
folgendes erwähnt werden:
NILSSON-EHLE hat 1914-1922 bei einer Reihe von Kreuzungen zwischen
verschiedenen Chlorophyllmutanten der Gerste festgestellt, daß diesen Chloro-
phyllmutationen verschiedene Erbeinheiten zugrunde liegen. Die folgenden,
1 Statt in den Chromosomen die entsprechende Vielzahl von einzelnen Enzymen anzu-
nehmen, hat Verf. (11. Congres internat. de Path. comp., Paris 1932) die Wirkung von
"Enzymoiden" (Enzymkomplexen) in Betracht gezogen, also von Katalysatoren, in welchen
die in einem Molekülkomplex vereinigten Enzyme 1ll der Weise zusammenwirken, daß ein
Enzym sein Reaktionsprodukt unmittelbar an eine benachbarte Enzymgruppe abgibt. Stoffe
dieser Art dürften bei der Zellteilung die Selbstreproduktion der Gene vermitteln.
2 FISCHER, HANS, u. HILGER: Z. physiol. Chem. 138, 289 (1924). - FISCHER, HANS, U.
F. SCHWERDTEL: Z. physio!. Chem. 159, 120 (1926).
3 GRANICK, S.: J. of bio!. Chem. 172, 717 (1948).
4 STICH, W.: Naturwiss. 9, 212 (1950).
5 SHEMIN, D., U. D. RITTENBERG: J. of bio!. Chem. 166, 621 (1946).
6 VANOTTI: Helv. med. Acta 7,639 (1939). - STICH, W.: Dtsch. rned. Wschr. 1950, 1217.
7 EULER, H. HELLSTRÖM U. D. RUNEHJELM: Z. physio!. Chern. 182, 205 (1929).
8 NILSSON-EHLE: Z. Abstarnmgslehre 9, 239 (1913).
126 HANS VON EULER:
Zur Methodik.
Die Keimung der Samen erfolgte nach einleitender Quellung in Wasser
(unter Zusatz von 0,1% H 2 0 2) bei Zimmertemperatur (17 bis 21°) in per-
forierten Blechkästen zwischen Filtrierpapier, das durch mehrmaligen täg-
lichen Wasserzusatz auf konstanter Feuchtigkeit gehalten wurde.
Die Keimung begann im Dunkeln; nach 3 bis 5 Tagen wurden die Pflänz-
chen dem diffusen Tageslicht ausgesetzt.
Bestimmung des Katalasegehaltes wurde vom 2. oder 3. Keimungstag an
ausgeführt. Dazu wurden die Keimblätter oder die Samenkörner mit Sand
unter Zusatz von Phosphatpufferlösung verrieben 3. Der Katalasegehalt,
genauer die Katalasewirkung 4, wurde festgestellt, indem, mit 0,01 n H 2 0 2
als Substrat, die Reaktionsgeschwindigkeit erster Ordnung, und zwar bei 0°,
gemessen wurde. Wegen Ausführung und Berechnung der Versuche sowie
HALLQVIST, C.: Hereditas (Lund) 5, 49 (1924); 8, 229 (1926).
1
EULER u. H. HELLSTRÖM: Z. physiol. Chem. 217, 23 (1933). - Katalasebestimmungen
2
von EULER u. RUTH WEICHERT: Svensk kern. Tidskr. 46, 301 (1934).
3 Auch bei gründlichem Verreiben mit Sand geht die Katalase keineswegs ganz in Lösung,
sondern ist zum Teil fest an Pflanzenteile gebunden; man darf also weder filtrieren noch
zentrifugieren, sondern muß die Emulsion als solche zur Wirkung bringen. Da die Katalase-
emulsion (selbst bei 0°) rasch ihre Wirksamkeit verliert, muß die Reaktionsgeschwindigkeit
unmittelbar nach dem Zerreiben des Materiales gemessen werden.
4 Wir bestimmen also die durch Aktivatoren und Inhibitoren beeinflußte Wirkung des
Enzyms. Bei keimender Gerste scheinen die Verhältnisse insofern günstig zu liegen, als
Inhibitoren der Katalase bisher nicht nachgewiesen werden konnten.
Chlorophylldefekte Mutanten. 127
bezüglich der Konstanz und der Reproduzierbarkeit der Reaktionskonstanten
kann auf frühere Mitteilungen 1 verwiesen werden.
Die Peroxydasewirkung wurde im wesentlichen nach WILLSTÄTTER und
STOLL 2 gemessen. [Siehe auch EULER, H. HELLSTRÖM und D. RUNEHJELM:
Z. physio!. Chem. 182, 217 (1929).]
Katalaseverhältnis KV.
Katalasewirkung normaler und chlorophylldefekter Gerstenkeimlinge.
Bei den ersten, von EULER und H. NILSSON untersuchten Mutanten der
Sippe Albina 1 1622 bis 1927 hatte sich für den 10. Keimungstag das Katalase-
verhältnis (= Verhältnis der Reaktionskonstanten k der grünen und der
weißen Mutanten) KV = 2,8 ergeben. Der Wert von KV ist abhängig von
zahlreichen äußeren Einflüssen, von denen die wichtigsten hier erwähnt seien:
Keimungsdauer. KV steigt zunächst mit der Anzahl der Keimungstage,
etwa (je nach Temperatur) bis zum 6. bis 8. Keimungstag und nimmt dann
wieder ab, in manchen (seltenen) Fällen bis KV = 1.
Belichtung (Etiolierung). Für Albina 1 fanden EULER und RUNEHJELM
(H. 185, 74 1 ) die Katalasewirkung der nach Keimung im Dunkeln gelben
(normal grünen) Linie angenähert doppelt so groß als die der weißen Pflanzen.
Homozygoten und Heterozygoten. Bei der Sippe Albina 1 1622 bis 1927
wurde [Arkiv BIO, Nr. 6 (1929)1] die Katalasewirkung der Heterozygoten
ebenso groß gefunden als die der Homozygoten. In anderen Albina-Sippen
erwies sich später bei einigen Versuchsreihen die Katalasewirkung der Hetero-
zygoten ein wenig kleiner als die der Homozygoten.
1 Abkürzungen: Arkiv = Svenska Vetenskaps-Akademiens Arkiv für Kemi, Mineralogi
och Geologi. - H = Hoppe-Seylers Zeitschrift für physiologische Chemie.
Göttinger Akademie-Festschrift. 9
130 HANS VON EULER:
00
Man kann annehmen, daß der Protein-
stoffwechsel, der im Wachstum der Pflan-
-0,83
zen zum Ausdruck kommt, auch den Auf-
bau der Plastiden regelt, und somit einer
Tabelle 2.
~0 9
I % N des
Trocken-
-0,66 Lellc!n I gewichtes
-0,60 Gnine Keimblätter} derselben 5,30
-0,57 ~Weiße Keimblätter Albina-Mutante I 4,67
_0,23 Glycin
kommt übrigens wohl weniger die Menge
der anwesenden Proteine als ihre Zu-
~§
-~2 Serin sammensetzung in Betracht.
- ,21
-0.18 Asparagin Zur weiteren Charakterisierung der
0
Proteine der Keimblätter ist die Methode
p -0.09 Cysfein
der fraktionierten Hitzekoagulation von
MENcKE [Z. Bot. 32, 273 (1938). - H.
~ 0 - 0 .05 257, 43 (1939) 1 besonders geeignet, auf
---9-8-=0,006 die wir an anderer Stelle zurückkommen
w. g-r. Rf werden.
Fig.2. Chromatogramme von grünen Es wurde nun versucht, Unterschiede
(gr.) und weißen (w.) Keimblättern. zwischen den Proteinen der grünen und
Versuchstemperatur bei der Chromato-
graphierung 22°. Die angegebene Wan- der weißen Mutanten durch Papierchro-
derung der Aminosäuren entsprach matographierung der bei der Hydrolyse
derjenigen der danebenstehenden
Flecken. der Blätter auftretenden Aminosäuren
zu finden (Fig. 2).
Zur Technik dieser Versuche sei folgendes mitgeteilt:
Je 3 Stück gleich große und gleich alte grüne bzw. weiße Keimblätter wurden fein zer-
schnitten und mit 0,5 ml konzentriertem HCl im siedenden Wasserbad 6 Std erwärmt. Nach
Zusatz von 0,5 ml Wasser wurde die Lösung filtriert und das Filtrat eingedunstet, wobei die
überschüssige Salzsäure entfernt wurde. Dann wurde der Rest mit 0,2 ml ~Wasser vollständig
in Lösung gebracht und mit wenig NaAc versetzt.
Chlorophylldefekte Mutanten. 133
Verwendet wurde Munkthells OB schnellfiltrierendes Papier. Lösungsmittel: 80 ml
n-Butanol + 20 ml Eisessig + 20 ml Wasser. Zur Entwicklung 0,5%ige Ninhydrinlösung +
NaAc. Entwicklungstemperatur 40° während 15 min im Wärmeschrank.
Wie man sieht sind die Chromatogramme der grünen und der weißen
Blätter einander sehr ähnlich.
Auch durch rein chemische Bestimmungen einzelner Aminosäuren wie
Tyrosin und Tryptophan [EULER u. Mitarb.: H. 212, 53 (1932). - LÖVGREN]
sind keine erheblichen Unterschiede zwischen den in weißen und grünen
Keimblättern enthaltenen Proteinen festgestellt worden.
Die Aminosäuren der Blätter stammen zum Teil aus den Reserveproteinen
der Samen, die dort einer enzymatischen Spaltung unterliegen. Unsere
Kenntnisse über den Aminosäurenstoffwechsel in Samen gehen zurück auf
die Arbeiten von RITTHAUSEN, SCHULZE und OSBORNE und die neueren
Untersuchungen von A. C. CHIBNALL\ dem man auch eine sehr bemerkens-
werte Monographie über den Eiweißstoffwechsel in Pflanzen verdankt.
Primus 11, Xanthalba . 1,2 } WEICHERT, R.: Svensk. kern. Tidskr. 46, 301
Primus IV, Xanthaurea 0,93 (1934)
Xantha 3 . . 1,0 EULER u. MORITZ: Arkiv, A 10, Nr. 11 (1930)
Virescens 6. . . 1,4 DAVIDSON u. RUNEHJELM: H. 190,247 (1930)
Alboxantha 1. .
1,1 } HELLSTRÖM, H. u. BURSTRÖM: H. 218, 241 (1933)
Xantha 1 0,85
Chlorina 1060/25 homozygot HELLSTRÖM, H. u. RUNEHJELM: H. 182, 205 (1929)
{
Bragegerste 61 teilweise grüne
63 y Strepto- 16 grüne mycin analoge Anti-
mycinjml 3 ungekeimt chlorophyllwirkung
nicht hervorrufen 1.
Unter diesen unwirksam befundenen Stoffen sind zu nennen:
Die Mitosegifte: Colchicin, Akridin, Digitonin; die Reduktionsmittel:
Hydrochinon, Floroglucin, Adrenalin und Arterenol; die Saponine: Chol-
säure und Glycyrrhicin.
Diese Stoffe, sowie Kobaltsalze zeigen zum Teil unspezifische Wirkungen
wie Streptomycin, besonders Verkürzung der Wurzeln (Bildung von "Klauen")
und infolgedessen verzögertes Wachstum der Keimblätter. Damit steht
zweifellos in Zusammenhang die Erniedrigung der Katalasewirkung der Keim-
blätter. In einigen Fällen waren die Chloroplasten deutlich verkleinert.
1503 9 5 G 7 8 9 10
-
....... grün
11
eine Folge oder Ursache des Chloro- Tage
Fig.4. Katalasewirkung in Abhängigkeit von
phyllmangels ist, können wir noch der Entwicklungszeit bei Samen von Albina 1.
keine Entscheidung treffen.
Man kann nun fragen: Bildet sich in den Samen eine Vorstufe des Chloro-
phylls aus, und in welchen Mengen kommt dieser Vorstufe in den Samen
der grünen und weißen Mutanten vor? Darauf kann geantwortet werden,
daß kleine Mengen von Hämatochromogen und Zytochrom c in den Gersten-
samen nachweisbar sind, und also eine Bildung von Porphyrin angenommen
werden muß, das ja als Chlorophyllvorstufe gelten kann.
Macht sich in den Samen ein Vorgang bemerkbar, welcher der in den
defekten Keimblättern auftretenden Chromatophorendegeneration entspricht?
Darüber liegen bis jetzt noch kei:Q.e entscheidenden Beobachtungen vor.
Besonders auffallend ist hinsichtlich der Samen von Albina 1 folgende
Tatsache: Während die chlorophylldefekten (weißen) Keimblätter, wie schon
einleitend erwähnt, schwache Katalasewirkung äußern, zeigen, nach Ver-
suchen von E. GVLLING, die Samen der entsprechenden Pflanzen keinen
Katalasedefekt, sondern erhöhte Katalasewirkung, und zwar nimmt die Dif-
ferenz gegen die Samen der gleich großen und gleich alten grünen Mutanten
mit der Entwicklungszeit und der Länge der Keimblätter zu (Fig.4).
1 BACH, A., OPARIN u. WÄHNER: Biochem. Z. 180, 363 (1927).
140 HANS VON EULER: Chlorophylldefekte Mutanten.
Zusammenfassung.
Bei den Gerstenmutanten, in welchen hinsichtlich des Chlorophyllgehaltes
eine MENDEL-Spaltung nachgewiesen ist, lassen sich 2 Gruppen unterscheiden:
1. Bei den Mutanten von Albina- Typus findet man in den rein weißen
Keimblättern nur 1/2bis 1/3der in den grünen Blättern beobachteten Katalase
(Katalasewirkung). In diesen weißen Blättern erweisen sich die Chloroplasten
weitgehend degeneriert.
Gleichzeitig mit dem Gehalt an Chlorophyll und Katalase ist in diesen
Blättern der Gehalt an Karotinoiden erniedrigt.
2. In den übrigen hier untersuchten Chlorophyllmutanten, nämlich denen
der Typen Xantha, Virescens, Alboxantha, Chlorina, Primus II Xanthalba
und Primus IV Xanthaurea, in welchen das Chlorophyll nicht vollständig
verschwunden ist und in welchen die Chloroplasten nicht oder ganz wenig
degeneriert sind, erweist sich die Katalase weitgehend unabhängig vom Chloro-
phyllgehalt der Keimblätter.
Die grünen und weißen Keimblätter der Gerstenmutanten vom Albina-
Typus unterscheiden sich wesentlich nur hinsichtlich solcher chemisch defi-
nierter Eigenschaften, welche direkt mit den Chloroplasten der Zellen zu-
sammenhängen. Demgemäß ist ihr Unterschied hinsichtlich des Protein-
gehaltes und der Proteinzusammensetzung (s. S. 132 und Chromatogramm)
gering. Der Schluß scheint gerechtfertigt, daß in den genannten Albina-
Mutanten die Degeneration der Chloroplasten die primäre Ursache des Chloro-
phylldefektes ist.
Auch in den Panachüren und in den weißen Blatteilen von Abutilon bei
infektiöser Chlorose ist der Katalasegehalt gleichzeitig mit dem Chlorophyll-
gehalt erniedrigt.
Neben der in den Chloroplasten von Albina enthaltenen mendelnden
Katalase findet sich im Zellsaft ein Teil der Katalase, welcher vom Chloro-
phyllgehalt der Blätter unabhängig ist.
Durch Keimen von Samen der Gerste in verdünnten Lösungen von
Streptomycin kann man Pflanzen mit chlorophyllfreien Keimblättern er-
zeugen. Auch in diesen weißen Keimblättern ist die Katalasewirkung relativ
gering. In einem Teil der nach Streptomycinbehandlung weißen Blätter
zeigt die morphologische Untersuchung· Degeneration der Chloroplasten
(Fig.3).
In den Samen der untersuchten Gersten von Albina-Typus, in denen eine
Chloroplastendegeneration nicht in Betracht kommt und die höchstens Spuren
von Chlorophyll und nur ganz geringe Mengen anderer Eisen-Porphyrinderi-
vate enthalten, ist die Katalasewirkung nicht kleiner als in den Samen nor-
maler grüner Gerstenpflanzen, sondern sogar noch etwa 15 % größer.
Eingegangen am 24. September 1951.
Mineralographie,
ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung
und technischer Anwendung.
Von
J. ARVID HEDV ALL.
Mit 20 Figuren im Text.
Wenn wir heute zurücksehen auf die Anfänge und die Entwicklung der
Chemie des festen Aggregatzustandes ist es schwer zu verstehen, daß der
Tatsache einer wirklich chemischen Reaktivität der festen Stoffe ein solches
Mißtrauen entgegengestellt wurde. Auch der klassisch Gebildete scheint unbe-
grenztes Vertrauen dem Lehrvater Aristoteles und seinem Sterilitäts dogma
"corpora non agunt nisi fluida" entgegengebracht zu haben. Ein junger
Realist im Anfang des 20. Jahrhunderts war dagegen entschieden weniger
orthodox. Vielleicht war es allerdings auf seine geringe Kenntnis der klassi-
schen Sprachen zurückzuführen, daß er, ohne wörtliche Übersetzung, die
aristotelische These als eine wohlmotivierte Bedingung einer gewissen Be-
weglichkeit der Partikeln auffaßte - einer Beweglichkeit ohne welche eben
eine chemische Reaktion nicht stattfinden kann. Es störte ihn keineswegs,
daß ARISTOTELES in lateinischer Sprache zitiert wurde, aber dies ist zu ver-
stehen, da auch die Philologen kein Erstaunen darüber zeigten.
Erst vor kurzem ist es Professor DÜRING gelungen herauszufinden, was
ARISTOTELES eigentlich gesagt hat. "Ta vyea flBl'XTa floJ.lGTa TWV GW{-lfJ.7:WV"
lautet die ursprüngliche These und sie sagt eigentlich nur, daß es vor allem
die flüssigen Stoffe sind, die zu chemischer Umsetzung geneigt sind. Über
Gase hatte man damals recht vage Vorstellungen, sonst würde sich der Satz
natürlich auch auf diese bezogen haben.
Auch ohne gründlichere klassische Bildung konnte man sich aber sagen,
daß ARISTOTELES' Regel eigentlich nur die Bedingung einer ge\vissen Be-
weglichkeit, und nicht nur der Vibration, der Partikeln in den Kristallen
beinhalten konnte. Hatte man außerdem ein besonderes Interesse für kri-
stallographische Umwandlungen so war es naheliegend anzunehmen, daß ein
fester Stoff gerade in diesem Zustand die Möglichkeit zur chemischen
Attacke haben könne; vielleicht sogar zur Umsetzung mit anderen festen
Stoffen. Tatsächlich war es nach einer Reihe vielseitiger Versuche möglich
die allgemeingültige Regel zu formulieren: feste Stoffe zeigen relative Maxima
der Reaktionsfahigkeit mit anderen festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffen
142 J. ARVID HEDV ALL:
im Zusammenhang mit jeder Art von Umwandlung, rein strukturell oder ener-
getisch [1].
Viel früher jedoch sind schon andere Versuche ausgeführt worden, deren
Ergebnis eine der Metallographie analoge Forschung für die nichtmetalli-
schen, festen Stoffen forderte, nämlich eine Mineralographie.
Zuerst waren es die bei der Lötrohranalyse angewandten Reaktionen der
Kobaltsalze auf Zink, Aluminium, Magnesium und Zinn welche zur Unter-
suchung kamen (1912 bis 1915) [2]. Das Resultat war - außer einer Defi-
0/.0 nition der lange bekannten aber in ihrem Auf-
6'0 ~........ / bau unbekannten Produkte -, daß diese Verbin -
l/. , I
dungen und festen Lösungen zweifelsohne durch
I
.-?rt ...
~
eintritt. Gleichzeitig geht auch die schöne rote Farbe in caput mortuum-
Farbe über.
Ein solches Verhalten konnte nicht anders erklärt werden als durch das
Auftreten von Strukturrelikten des Ausgangsstoffes (Fe-Sulfat), wodurch
offenbar das Eisenoxyd in ein energiereiches Unvollkommenheitsstadium ver-
setzt wird. Eine entsprechend höhere Reaktivität wurde auch bald bei
Pulverreaktionen nachgewiesen [4] (Fig. 1) und FRICKE konnte einige Jahre
später den Energieüberschuß bei den in ihrem Gitterbau gestörten Oxyden
messen [5]. Die irreversiblen Gitterfehler, die von so unerhört großer
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o 7Z0 16"0 ZOO &"1(/ Z80 oe .JZO 0.03080 87 .93 .9.1 .9'1 .95 8• .97 .98 ggoC
kmperotur Tem/lerufur
Fig.2. Fig.3.
Fig.2. Reaktivitätsmaxima während der Umwandlung von Ag] bei der Umsetzung
BaO+2Ag] -->- Ba]2 2Ag t02. + +
Fig. 3. Einfluß der Umwandlung von Schwefel auf dessen Oxydation in einer KMn0 4 -
Lösung. Kurve 1 gilt für steigende Temperatur, Kurve 2 für die außerordentlich langsame
Umwandlung bei sinkender Temperatur.
Bedeutung sind für die verschiedenartige Aktivität eines festen Stoffes, sind
damit in die Forschung eingeführt worden. Damit ist auch die Grundlage
geschaffen worden für eine "Metallographie der Nichtmetalle" oder eine
Mineralographie. Die Bedeutung einer derartigen Mineralographie kann keines-
falls kleiner sein als die der Metallographie, nachdem die nichtmetall ischen
Stoffe nicht nur viel zahlreicher sind als die metallischen, sondern auch diese
in ihrer Struktur und ihrer Strukturempfindlichkeit viel mannigfaltiger sind
als die Metalle.
Der Zusammenhang zwischen der erhöhten Reaktivität und der nicht im
Gleichgewicht befindlichen Gitterausbildung war also bewiesen und damit
auch die Tatsache, daß die Reaktivität in statu nascendi nicht nur bei festen
Stoffen ebenfalls vorhanden ist, sondern auch noch dazu in Variationsmöglich-
keiten auftritt, welche bei den anderen Aggregationszuständen nicht ihres
gleichen haben. Mit besonderer Deutlichkeit ist dies bei kristallographischen
Umwandlungen und beim thermischen Zerfall hervorgegangen (vgl. Fig. 2, 3,
4, 5 und 6).
144 J. ARvlD HEDVALL:
Eine Änderung der Reaktionsfähigkeit tritt auch auf, wenn ein Teil der
Gitterbausteine durch fremde ersetzt wird, wie aus dem Unterschied der
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Direkte und indirekte Anwendungen zeigten sich hier bald vom Wert für
die Industrie. So wurde es ermöglicht durch Vorerhitzung von Ofenmaterial,
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oGOO
_e_ f-e~ -~..-J ~e-
Der Beginn solcher Reaktionen kann bereits bei etwa 200° bemerkbar sein,
aber rasch verlaufen sie erst bei Temperaturen, die von der Art des Zusatz-
oxydes (M'O) bestimmt werden - mit BaO liegen sie bei etwa 350° und mit
CaO bei kurz oberhalb 500°. Hat aber das Salz eine Umwandlungstemperatur,
dann wird die rasche Umsetzung von dieser bestimmt [10]. So reagieren
z. B. alle geeigneten Oxyde mit Ag 2 S04 bei 325° entsprechend beispielsweise:
CaO +Ag2SO, --+ CaSO, + 2 Ag + ! °2 ,
Wird statt CaO metallisches Magnesium zugesetzt, so tritt bei der gleichen
Temperatur, wegen der stark reduzierenden Wirkung des Metalls, eine heftige
Explosion auf. Andere Typen und Beispiele sind folgende:
M'O + M"X --+ M'X + M"O + Q [l1J
und
M'O + M"X + 02 --+ M'XOn + M"O [12J,
wie z.B.
CaO + PbC1 2 --+ CaC1 2 + PbO,
BaO + NiJ 2 --+ BaJ2 + NiO;
oder
CaO + FeaC + 02 --+ CaCOa + Fe20 a '
MgO + FeP + 02 --+ Mga (PO')2 + Fepa.
BaO + FeSi + 02 --+ BaSiOa + Fepa.
CaO + PbS + 02 --+ CaSO, + PbO,
CaO + CuSn + 02 --+ CaSnOa + CuO.
Auch diese Reaktionstypen waren vorher nicht bekannt und ihre Wir-
kungen, besonders bei metallurgischen Prozessen, konnten jetzt erklärt werden.
Ein Besuch in einer Glashütte und die dabei gemachte Beobachtung, daß
die Arbeiter brennenden Schwefel in den Kühlofen werfen "um die richtige
Haut auf den Flaschen zu erhalten" gab den Anstoß zur Untersuchung des
bis dahin ebenfalls unbetretenen Gebietes über das eigentliche Verhalten
fester Stoffe gegen ihre Umgebung. In der Metallographie war es schon lange
bekannt, daß sich Gase in Metallen auflösen können und dadurch deren
"body" verändern. Den nichtmetallischen Stoffen aber war in dieser Hinsicht
keine Aufmerksamkeit geschenkt worden.
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 147
Es zeigte sich aber, daß auch diese sehr empfindlich sind gegen eine der-
artige Einwirkung von Gasen. Zum Beispiel reagierte Quarz mit anderen
Oxyden mit einer ganz anderen llS
Geschwindigkeit wenn dieser in "Ja
Sauerstoff oder in Stickstoff vor- /.,
ZO
erhitzt worden war. Dieser Gas- / ; /
einfluß kann nur durch eine Auf- ~
~ 75 """;,'""" " ..;
lösung der Gase erklärt werden =
[13]; wodurch nicht nur der Ver- ~
lauf der Rekristallisation und 70
/...:;
.......
/..-:,
~ V / '
~
damit die Reaktionsoberfläche,
~
~
sondern auch die Oberflächenakti- 5 700
750 BOO BSO .900 .96"0 C 7000
0
I
X~i
I
i
sicht chemisch inaktiver Gase auf die Ober-
flächenaktivität fester Stoffe aus [17]. Bei
diesen Untersuchungen über keramische Scher- o 300 qOO 6'00 800 WO oe
Temperotur
ben wurde konstatiert, daß sich die für die I/mwontllunu
Haftfestigkeit der Glasur so wichtige Wasser- Fig. 11. Einfluß der Umwandlung
absorption stark ändert mit den atmosphäri- zwischen Anatas und Rutil auf die
Oxydation von Leinöl.
schen Verhältnissen im Brennofen.
Ähnliches gilt für alle festen Stoffe unter entsprechenden Bedingungen
und hat bereits zu einer besseren Überwachung des Kühlprozesses in Glas-
hütten geführt.
10*
148 J. ARvID HEDVALL:
Die Chemiker haben, wenn sie die Reaktivität eines Stoffes ändern wollten,
sich bisher nur einer Variation deren termischen Zustandes bedient. Wenn
man durch die Tradition nicht all zu verblindet war lag es nahe auch zu
untersuchen ob nicht elektrische, magnetische oder durch Bestrahlung her-
vorgerufene Zustände eine ähnliche Wirkung ausüben könnten. Theoretisch
I x_I-
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1~
L_x- f'-
x- x___ -~.+·fI
"/a ~
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70
...-~._- ~)("'\
o3(J(}
Jler/ustkflrre
I
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1
lIC-x-x
310 330 &10 NO 35Q .!6'0 oe .110 JJ() 350 .170 3.90 1110
Temperotur
Fig. 12. Änderung im katalytischen Effekt Fig.13. Änderung der katalytischen Wir-
von reinem Nickel beim Durchgang durch den kung (2 CO -+ COz +
C) und Entmagneti-
+
Curiepunkt für die Reaktion N 20 -+ N z t 02 . sierungskurve von unreinem Nickel.
.rtiger chemischer Effekte sehr wohl möglich ist Curiepunkt oder Curie-
~vall zu bestimmen [18J. Das gleiche gilt für spontane elektrische Um-
risationen (vgl. Fig. 14). So ändert sich die Auflösungsgeschwindigkeit
Seignettesalz z. B. plötzlich beim Durchgang durch den elektrischen
epunkt [19].
~s würde zu weit führen für alle diese neuen Effekte auch quantitative
lltate anzuführen. Es mag genügen hier ein Bild über den kinetischen
Verlauf des katalytischen Ameisen-
säurezerfalles über einer ferromagne-
tischen Co-Pd-Legierung im CURIE-
Intervall zu geben (vgl. Fig. 15). Die
Versuche zeigen, daß die größere kata-
lytische Aktivität des paramagneti-
schen Zustandes zurückzuführen ist
o
0/0 l\
70 x . - - - - , - - - - - , - - - - - ,
~6'0 \
~
::;,: x
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1:
~
1/0 x
r-..... -x x
{5
"'" 80 f - - - - f - - - - + - - - - I
o
Curie-
interv{lI/ Temp. oe Zeit
Fig.15. Fig. 16.
5. Änderung des Ameisensäurezerfalls an einer Co-Pd-Legierung am Curiepunkt (Kinetik).
6. Aktivierung der Adsorption im System Zinksulfidphosphor Lanasollösung; die +
~Kurve gilt tür Dunkeladsorption, die obere im Licht. Rückgang vom Gleichgewicht
bei Belichtung zum Dunkelwert.
'ine weitaus größere Konzentration der aktiven Zentren als beim ferro-
letischen Zustand. Diese Ergebnisse stimmen mit ähnlichen Erfahrungen
IÄCKERS überein [20]. Eingehende Untersuchungen über den Einfluß der
tronenzustände in den bei den Fällen sollen natürlich ausgeführt werden
sind schon von E. JUST! in Braunschweig begonnen.
[an konnte aber noch weiter gehen: Auch eine Erregung der Atome durch
tabsorption kann in diesem Aktivitätszusammenhang nicht ohne Einfluß
Tatsächlich mu,ß jeder lirhtabsorbierende Stoll eine Chemie im Licht und
andere im Dunkeln haben.
:s war naheliegend derartige Effekte durch Anwendung von Phosphoren
dsorbens zu untersuchen. Fig.16 zeigt beachtliche Zunahmen der Menge
~bierten Farbstoffs bei Belichtung. Natllrlich wurden bei diesen wie bei
150 J. ARVIN HEDVALL:
7GOO ./
J~ .""
2,/ ~" 3 Klopf'en
.,;
7'100
~ ,~
JI'
/
Besfl'ohlUIIfI
~ 7300 .r ."
~ 7000
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1/
I l-'~
Ii-r;;-t..' .' 2'1
K/opf'en
~ ZI--
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6'00 r - r---f 7"'
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o
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7 2 .J 'I 5 G
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I
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I I
70 11m!n
I
28
3502GO 370 380
Zeit 26'5
Fig.17. Fig.18.
Fig. 17. Einwirkung von Ultraschallwellen auf die Anlaufgeschwindigkeit von Kupfer in
Joddampf. Die obere Kurve (2) zeigt den Einfluß bei fester Kuppelung an den Generator
(yB = 0,29 • x); Kurve 1 bei lockerer Kuppelung (ya = 0,63 . x) und die unterste Kurve den
Anlauf ohne Einwirkung von Ultraschall (x Anlaufzeit, y Schichtdicke).
Fig.18. Änderung der Katalysatorwirkung von Nickelpulver mit und ohne Bestrahlung mit
elektromagnetischen Wellen. Kurve a ist die Temperaturkurve, Kurve b die Ausbeutekurve
des N 20-Zerfalles, aufgenommen durch das Schreibwerk des Gasanalysenapparats.
das ist bei allen festen Stoffen und deren Anwendungen der Fall
spielt die Entstehung und das Wachstum von Reaktionskeimen sowie die
Konzentration und der Charakter der ungesättigten Teilchenanhäufung,
welche TAYLoRsche Spitzen oder aktive Zentren genannt werden, eine große
Rolle. Wir wissen noch recht wenig darüber [25], aber es war anzunehmen,
daß Ultrabeschallung auf diese Prozesse nicht ohne Einfluß sein würde.
Versuche in dieser Richtung bestätigten die Annahme. Wie aus Fig.17
hervorgeht ist die Anlaufgeschwindigkeit von Metallstäben im beschallten
Zustand wesentlich größer als die im unbeschallten [26]. Durch eine be-
sonders empfindliche Anordnung war es bei diesen Versuchen möglich exakte
mathematische Ausdrücke für den Reaktionsverlauf bei verschiedenen Tem-
peraturen zu erhalten und damit auch zu zeigen, daß ein reiner Ultraschall-
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 151
effekt vorliegt und daß andere Gleichungen gelten, wenn, wie z. B. beim
Anlauf von Eisen in Sauerstoff, verschiedene Oxydationsstadien durchschrit-
ten werden [27].
Es wurden auch Versuche mit einer Kohareranordnung, wie sie in den
Anfängen der drahtlosen Telegraphie verwendet wurde, in Form einer Kata-
lysatorkammer durchgeführt. Nickelpulver zeigte, wie zu erwarten war, in
seiner katalytischen Wirksamkeit eine deutliche Empfindlichkeit für die elek·
tromagnetischen Wellen einer Funkenstrecke (vgl. Fig. '18) [28].
Die Mineralographie, der Name ist neu aber recht passend, hat schon vor
einigen Jahren das bloß orientierende Stadium durchschritten. Ihre Er-
forschung und Anwen- 70(J,
dung verlangte weitere
so
11 i i
Vertiefung. Vieles liegt in . - . CuCL+BaD
dieser Hinsicht schon vor. (JO - . - . CuBr+ "
I 11
~CI1J+ " I 11
I
Einige wenige Beispiele '10
-I / i
oder wenigstens Literatur- ZO
angaben sind oben gege-
ben worden. Einen festen
I=t~ p ..-. - .=~ ~~ ~ .- 11
°7Z0 7'10 76'0 780 zoo %ZO %'10 Z6'O %8iJ .JOO .JZO .J'IO .J6'0 °C
7empel'{J/ul'
Grund bildet natürlich die Fig. 19. Ausbeutekurven für die Umsetzung von BaO mit
Kristallchemie, wenn man Cu], CuBr, bzw. CuCI; der Temperaturanstieg der Aus-
beute erfolgt konform mit dem Anstieg der Leitfähigkeit
auch, wie schon erwähnt, der Halogenide.
nur allzu wenig weiß über
die Gitterstrukturen bei erhöhten Temperaturen und über die Art der da-
durch verursachten Gitterfehler, und zwar der reversiblen wie noch mehr
der für praktische Anwendungen noch wichtigeren irreversiblen Fehler
im Kristallbau.
Es ist schon lange her seit die ersten Versuche gemacht wurden, um den
Zusammenhang zwischen der elektrischen Leitfähigkeit und der Reaktivität
fester Stoffe zu finden. Es zeigte sich dabei, daß bei einer Reihe einfach
gebauter Salze ein derartiger Zusammenhang existiert, z. B. bei gewissen
Halogeniden [29]. Fig. 19 veranschaulicht diesen Zusammenhang bei der
Umsetzung von BaO und Kupferhalogeniden.
\VAGNER, der sich große Verdienste um die Untersuchung des Reaktions-
mechanismus der Umsetzung fester Stoffe erworben hat, glaubte eine Zeit
an die Möglichkeit einer ganz einheitlichen Erklärung dieser Prozesse durch
Ionenwanderung [30]. Später gab er diese Anschauungen auf, da der Einwand
erhoben wurde, daß dies einerseits unmöglich sei, nachdem die meisten bis
dahin beobachteten raschen Umsetzungen in Mischungen von hochisolierenden
Stoffen erfolgen, und andererseits dies apriori nicht zu erwarten sei, weil
auch das elektrische Leitvermögen fester Stoffe zwischen Ionen- und Elek-
tronenleitung wechselt je nach der Temperatur, und dies in einer Weise,
152 J. ARVID HEDVALL:
welche abhängig von der Herstellungsart sogar variiert bei ein und demselben
Stoff [31].
Um auch die Anwendung, d. h. die absichtliche Modifizierung oder Selek-
tivierung der Oberflächenaktivität und damit der Reaktivität eines festen
Stoffes vollkommen zu beherrschen und so die Katalyse, die Adsorption und
alle die vielen Fälle bei welchen die Stoffe mit anderen zur Umsetzung gebracht
werden leiten zu können, müssen folgende Fragen beantwortet werden:
\Velche Teilchen besorgen den Materietransport ?
Auf welche Weise erfolgt die ·Wanderung, d. h. welche Rolle spielen Gitter-
bzw. Phasengrenzdiffusion ?
Welche Art von Gitterfehlern liegt vor und welche Bedeutung haben
sie für die Teilchenwanderung ?
Welcher Art sind die stöchiometrischen und strukturellen Fehler in dem
gebildeten Reaktionsprodukt und welche Bedeutung haben diese für das Be-
stehen des Diffusionsgradienten ?
Derartige Arbeiten sind in verschiedenster Richtung seit mehreren Jahren
im hiesigen Institut im Gang. Mathematische Ausdrücke wurden aufgestellt,
welche den verschiedenen Vorgängen bei der Umsetzung Rechnung tragen
und die Versuchsresultate werden mit diesen Formeln verglichen (ZIMEN [32]).
Die verschiedensten Methoden wurden zur Untersuchung der Umsetzungen
herangezogen. Direkte Diffusionsmessungen mit oder ohne "tracers", d. h.
radioaktive Spurenelemente, Röntgenuntersuchung der Reaktionsschicht,
Messung der elektrischen Leitfähigkeit usw. Durch die gewonnenen Resul-
tate ist es gelungen etwas Licht auf diese intrikaten und stark wechselnden
Phänomene zu werfen. Es ist festgestellt worden, daß große Molekeln natür-
lich nicht in dicht gepackten Kristallgittern wandern können, während Wan-
derungen von sogar bedeutender Geschwindigkeit entlang inneren Oberflächen
irgendwelcher Art durchaus möglich ist (JAGITscn). Die Wanderungsrich-
tung konnte in einer Reihe von Fällen bestimmt und energetisch motiviert
werden [33].
In den letzten Jahren sind ferner Selbstdiffusionskonstanten gemessen
worden in Stoffen (wie Ag2 S0 4 , ZnO, ZnO· FC203, CaO, Ca 2 Si0 4 , PbO,
PbSi03, Pb 2 Si04) die an technisch oder wissenschaftlich besonders interes-
santen Reaktionen teilnehmen (LINDNER). Dabei konnte durch Konzen-
trationsanalyse und radioautographische Aufnahmen nach der Diffusion die
Verteilung der wandernden Partikel auf Gitter und Grenzflächen nachge-
wiesen werden [34]. Darüber und überhaupt über den jetzigen Stand dieses
Forschungsgebiets wird in dem im Druck befindlichen neuen Buch des
Verfassers: Einführung in die Chemie der Feststoffe berichtet.
Im Falle der Bleisilikate wurden bei gewissen Temperaturen relative
Maxima für den Selbstdiffusionskoeffizienten beobachtet, die möglicherweise
im Zusammenhang stehen mit kristallographischen Umwandlungen.
Mineralographie, ein relativ neu es Gebiet chemischer Forschung. 153
A B c
Fig. 20. Autoradiographien von Bleisilikattabletten. A entspricht einer frisch aufgedampften
Tablette; B zeigt die Inhomogenitäten nach der Diffusion, die nach dem Abschleifen (C)
deutlich hervortreten.
und der Behandlung mit elektromagnetischen Wellen sind Probleme, die für
die Metallographie ebenso interessant sind wie für die Mineralographie.
Gerade so alte Industrien, wie die Produktion keramischer Produkte,
die Herstellung von Glas und die Gewinnung der Metalle, in welchen die
Erzeugung guter Durchschnittsprodukte schon seit so langer Zeit möglich
war, die neue Zeit aber besondere Forderungen stellt hinsichtlich Spezial-
produktion, sowie Zeit- und Materialersparnis, bieten eine Unzahl von Pro-
blemen, die noch ihrer vollständigen Lösung harren. Die geschilderten Ar-
beiten auf dem Gebiet der Mineralographie haben den Nutzen einer derartigen
Arbeit gezeigt. Einige Beispiele dafür:
Die rote, bzw. gelbe Farbe der Mauerziegeln ist nicht, wie man früher
glaubte, auf freies Fe 20 a oder Kalziumferrit zurückzuführen. Das Fe 2 0 a liegt
vielmehr in fester Lösung mit Al 2 0 a vor und bedeutend kompliziertere Ver-
bindungen als die vermuteten Ferrite - die übrigens nicht gelb gefärbt sind -
entstehen beim Ziegelbrennen [35]. Eine genauere Kontrolle der Brennofen-
atmosphäre hat hierbei, wie auf anderen Gebieten, gute Ergebnisse gezeigt.
Die Bedeutung der Feuchtigkeit für die Homogenisierung bei der Be-
reitung des Glasgemenges wurde aufgezeigt und damit auch die Bedeutung
der Tatsache, daß schon in diesem frühen Stadium der Glaserzeugung für
eine Einheitlichkeit der Zusammensetzung gesorgt werden kann, welche ihrer-
seits das Niederschmelzen in der Wanne und den Verlauf der Reaktionen, die
tatsächlich, wie beim Zementbrennen [36], schon bei einigen hundert Graden
in den noch trockenen Pulvermengen beginnen, wesentlich fördern [37].
Durch Beachtung der Regeln für die Oberflächenaktivierung ist die
Fabrikation von feuer- und säurefesten Massen überall verbessert worden.
Durch Ausnützung der angeführten statu-nascendi-Effekte ist eine Plasti-
zierung gewisser magerer Tone gelungen und damit ist deren Anwendbarkeit
gestiegen bzw. konnte der Ausschuß herabgesetzt werden [38].
Zusätze kleiner Mengen gewisser Fremdoxyde haben das Intervall zwischen
Sinterung und Schmelzung bei der Fabrikation keramischer Produkte in ge-
wünschter Weise vergrößert. Es werden heute Spezialziegel auf Grund der
erwähnten Additions- oder Platzwechselreaktionen in oxydischen Pulver-
gemischen erzeugt [39]. Für die Sinterkeramik spielt dies eine ausschlag-
gebende Rolle. Verschiedene Methoden, Kali und reines Aluminiumoxyd aus
Schieferasche, Tonen oder Flugasche herzustellen, wurden ausgearbeitet [40].
Während des Krieges und der damit verbundenen Rohmaterialkrise sind
ferner sodaersparende Methoden, die auch weiterhin in Verwendung sind,
ausgearbeitet worden; dabei zeigte der Zusatz von Feldspat bei der Glas-
erzeugung wie wenig berechtigt das alte Mißtrauen ist, welches der Ver-
wendung von alkalihaItigen Mineralen und Gesteinen bei der Glaserzeugung
entgegengebracht wurde [41]. In einer einzigen schwedischen Glashütte
werden jetzt 5000 Tonnen schwedischer Feldspat im Jahr verbraucht.
Mineralographie, ein relativ neu es Gebiet chemischer Forschung. 155
Ein anderes während der Kriegszeit wichtiges Problem war die Regenerie-
rung von Gußgips der Porzellanfabriken. Mißlungene Patente gab es Dutzende.
Erst eine Kombination von Entwässerungsgrad und der Ausbildung von Kri-
stallen geeigneten Habitus' bei der Rehydratisierung brachte die Lösung [42].
Das Problem den Mullitgehalt in Porzellanmassen ohne Anwendung allzu
hoher Temperaturen zu vergrößern wird durch Zusatz von festen Kataly-
satoren versucht zu einer Lösung zu bringen. Bald abgeschlossen ist eine
Arbeit über das Zustandekommen von Poren und über die Bedeutung ihrer
Form und Größe (CARLSSON). Auf Grund dieser Arbeit werden neue Methoden
für Backsteinkontrolle vorgeschlagen (Frostbeständigkeit der Ziegeln und
Haftfestigkeit von Mörtel).
Umfang als bisher unter diesen Begriffen verstanden wurde, eröffnen. Mit diesen
Zeilen wurde versucht die Aufmerksamkeit auf ein Arbeitsgebiet zu lenken,
welches bereits interessante Resultate gebracht hat, aber bei einer weiteren
Bearbeitung noch reiche Ernten verspricht. Das gilt für die theoretische
Forschung nicht weniger als für die technischen Anwendungen.
Literatur.
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U. J. A. HEDVALL: Kungl. Vetensk. Akad. Ark. Kern., Mineral. Geol., Sero A 19, Nr. 14
(1)
X=
( x,2
-X
- Xa
x2
Xl
X4
-:: ::)
Xl - X2
(2)
- X4 - Xa X2 Xl
158
mit reellen Xl, X2, X a, X 4 . Treten die einzelnen Fälle je hl , h2 , h 3 mal auf, so
ist hl +h 2 +h3 =t, h1 +2h 2 +h3 =h und 2h 2 die Anzahl der komplexen Kon-
jugierten von Z; ferner hat X in den Elementen X k1 den Grad s, s, S/2 ent-
sprechend den drei Fällen.
Infolge (1) und (2) ist die Transponierte x' jeweils die Konjugierte von X
in.Q und T. Daher ist die Abbildung (xkZ ) = X -+X' = (X;k) ein involutorischer
Antiautomorphismus, kürzer eine Involution, von LI. Es wird weiterhin vor-
ausgesetzt, daß es außerdem eine Involution von A selbst gibt. Die Theorie
der Involutionen ist im zehnten Kapitel von ALBERTs "Structure of algebras"
behandelt worden, und wir werden einige Sätze daraus benutzen. Die Existenz
einer Involution I-+I* von A hat zunächst die Existenz einer Involution
von LI zur Folge. Bedeutet nun andererseits r~l irgendeine fest gewählte
Involution von LI, so ist I-+I= (~Zk) eine Involution von A und es gilt
8 = ±1
mit einem geeigneten konstanten umkehrbaren Element 2 von A. Die In-
volution ~-+~ von LI führt eindeutig durch Grenzübergang zu einer Involution
von LI, wobei das Bild von X wieder mit X bezeichnet werde. Vermöge (3)
wird dann auch die Involution I-+I* von A zu einer Involution von A er-
weitert.
3. Wir behandeln zunächst die sog. Involutionen zweiter Art. Bei diesen
ist Z eine quadratische Erweiterung eP(e) eines elementweise bei der Invo-
lution fest bleibenden Unterkörpers eP und e*=-e. Ist 8=-1 in (3), so
ersetzen wir 2 durch e2 und gelangen zu dem anderen Falle e = 1, auf den
wir uns also weiterhin beschränken können. Es gebe genau q reelle Konju-
gierte von eP, in denen e2 < 0 ist, und diesen mögen Ll l , ... , Ll q zugeordnet sein.
Die Differenz t - q ist eine gerade Zahl 2w ~ o.
Da die Abbildung X -+X' ein Automorphismus von LI ist, so folgt
X= C-lX'C (4)
für ein geeignetes konstantes umkehrbares Element C von LI, wenn X =
Xl' ... , X t eine gewisse Permutation von Xl' ... ' X t bedeutet. Durch Be-
trachtung des Zentrums ergibt sich aus (1) bei geeigneter Anordnung der
Indizes
~=Xk (k=1, ... ,q);
Ersetzt man X durch X in (4), so folgt
X= C-IX'
- C, X'=
- C XC-I.,
andererseits ist aber
X' = CX C-I.
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 159
Also ist C-I C' mit X vertauschbar und demnach ein Element z des Zentrums
von J. Aus- f..' = z C folgt C = E.' f' und zE.' = 1. In (4) kann man nun C
durch y C mit einem beliebigen umkehrbaren Zentrumselement y ersetzen
und dann tritt y-li z an die Stelle von z. In L1 k wähle man jetzt
(6)
Im Falle s= 2 sei analog
so ist also
X = V-I X' V (A = P) , X = V-I X' V (A = Q) , (7)
wenn jetzt durch den Querstrich der Übergang zur konjugierten Größe x= x'
in (1) ausgedrückt wird. Für A =r
ist schließlich
(9)
160 eARL LUDWIG SIEGEL:
@@IDl=@=(
--2
0 2),
0
(11)
Insbesondere ist
IDl;'+w~kIDlk= ~k = - ~;'+w (q< k ~ q+w),
so daß man bereits
(13)
vorschreiben kann.
Für k ~ q ist ferner
IDl~ ~k IDlk = ~k= -~~
und IDl k mit ~kl ~k vertauschbar. Wählt man dann ffi in A(2) mit
(15)
vorschreiben.
Umgekehrt sei nun eine positive symmetrische Matrix ~ in A(2) vorgelegt,
welche die Bedingungen (15) erfüllt. Wegen (14) folgt dann
:t~=~=:tk' ~k=(ffikffi~)-1, ffi~~kffik=~ (k:;;;'q).
Auf Grund von (15) kann man außerdem ffi k für k> q derart wählen, daß
~k = (ffik ffi;')-\
gilt. Dann ist aber
~ = (ffi ffi')-1,
Ist auch
~o = (ffio ffi~)-\ ~~ ~ ffio = ~
mit einer anderen Lösung ~o von (15), so wird ffio ffi-1=we nach (12) ein
Element von E und
we' ~owe =~.
Wir haben damit gezeigt, daß für jede feste Lösung ~ = ~o von (15) durch
die Forderung we' ~o we = ~o eine maximale kompakte Untergruppe K o von E
definiert wird und daß alle diese Untergruppen in E konjugiert sind. Ferner
ist bei jedem festen symplektischen we die Rechtsklasse K o we durch die Matrix
~ = we' ~o we = ~o [we] eindeutig festgelegt. Der Raum P der Lösungen ~
von (15) läßt sich also mit dem Raum dieser Rechtsklassen identifizieren.
Die Abbildungen ~_~ [we] für symplektische we tühren P in sich über und
sind darin transitiv; d. h. P ist ein Wirkungsraum der symplektischen Gruppe.
6. Es handelt sich nunmehr um eine Parameterdarstellung von P im
Großen. Mit der Abkürzung C 2 = C = 0' folgen aus (9) und (12) die Be·
dingungen
2(10-1 ~' = ~ n- 1 ~', @;n-1~' = ~ n-1~', 2(10-1~' - ~ n-1~' = 10-1
für we in E. Zerlegt man analog
( U- ~)
1
~= ~' ~,'
Gottmger Akademie-Festschrift. 11
162 eARL LVDWIG SIEGEL:
IDl =
o
(~0 Sf)
~
symplektisch und
U-l 0 )
~o = ~ [IDloJ = ( 0 m5 0
in P gelegen, also auch
U-l 0-1 m5~ = 0',
Dies ergibt die gewünschte Parameterdarstellung
~ [~:] = (Io - SPIDo + iUSO IDo)' U-I (Io - SPIDo - iUSO IDo)
= U-I{I o - (SP + iUSO) IDo}.
Wir definieren jetzt
.8 = SP + iUSO, 3= SP -, iUSO,
also
1 -
SP ="2 (.8 +.8), U= 1
2i (.8 -:m 0- 1 S.
Dann lassen sich die Bedingungen in (16) für U und SP durch
1, -
0' S .8=.8' SO, 2i0 S(.8-.8»O (18)
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 163
ersetzen und bestimmen einen Raum H der Variablen 3: welcher durch die
Beziehung
~ [~:] = U-1 {3 Wo - I o} (19)
0(3 Wo - I o) = ~' 0 Wo - 0 I o= :r
(~)' ~ (~:) -+ (:~! ~ (~:)
= (<f 3 + '1))' 0 Um: 3 + m) (<f 3 + '1))-1 Wo - I o)·
Folglich entspricht der Abbildung ~ -+ ~ [im-1J in P die Abbildung
3-+ (m: 3+ m) (<f3+ '1))-1 (20)
in H. Da U-l [0-1 5] in U-l [0-1 5] {(<f 3 + '1))'} übergeht,
so ist tatsächlich
+
<f 3 '1) umkehrbar.
Wir haben damit eine Darstellung der symplektischen Gruppe durch die
gebrochenen linearen Transformationen (20) erhalten, welche den durcn (18)
definierten Raum H in sich überführen. Es bleibt noch festzustellen, wann
zwei Elemente imo und im von E dieselbe Transformation ergeben. Dies ist
dann und nur dann der Fall, wenn die Gleichung ~ [9)(0 1 ] = ~ [im-I] identisch
auf P erfüllt ist. Ist ~o irgendein Punkt von P, so muß also im~1 im mit
~01 ~ vertauschbar sein. Nimmt man für ~o und ~ die Parameterdar-
stellung (16) und setzt darin zunächst ~ = ~o = 0, so folgt
im-I im = (u~
o 0
0)
v~
mit u und v im Zentrum von LI, und bei variablem ~ ergibt sich dann u = v.
Es ist also im=uim o, u=1!:., uu' = 1. Daher liefern die gebrochenen linearen
Transformationen (20) im Wirkungsraum H eine treue Darstellung der Faktor-
gruppe von E in bezug auf die invariante Untergruppe der Zentrumselemente
"vom Betrage 1 ",
Man sieht noch leicht ein, daß H dann und nur dann eine komplexe
Mannigfaltigkeit im Sinne der Funktionentheorie ist, wenn 5 die Identität
ist, also w = O. Diese Forderung besagt, daß ,p total reell und Z total
komplex ist.
G6ttinger Akademie-Festschrift. Ha
164 eARL LUDWIG SIEGEL:
mit geeignetem ffi in .4(2) und einer Diagonalmatrix 'Il mit positiven reellen
Diagonalelementen. Dann ergibt sich aber wieder die Vertauschbarkeit von
sm
ffi -1 ffi mit (.~.;r)2 = - 8%2 und mit % selbst, also auch die Zulässigkeit
der Bedingung .
~P;ß-l @' = ~ . (21)
An die Stelle von (16) tritt dann
S,ß = 0
0) l~ -sr]~'
(U-l ll[2J 0
U=U'>O, (22)
Mit
j=V- 8
wird dann
(23 )
und man erhält wieder die Darstellung von}; durch die gebrochenen linearen
Transformationen (20).
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 165
Endlich betrachten wir den Fall L1 = lJI. Zufolge (7) und (8) kann man
diesmal m
in A(2) so wählen, daß
- _ {Vij_. (k:;:;' h1 +h 2)
m m k @k k - ij. (k > h2 +h2)
Sk
-w 0
= ( 0W) und W= (0 1) (h1< k -;;;;;, h1+ h2),
1 0
Sk = 1 (k> h1 + h2 )
gilt I= S I' S'. Definiert man diesmal j durch
jk = VB (k:;:;' h1 +h 2 ),
und wieder
,8=~+jUS~,
so erhält man sinngemäß (23) und die Darstellung von 1: durch (20).
Der Raum der ,8 ist eine komplexe Mannigfaltigkeit, wenn im Falle
= =
L1 =Z die Bedingungen B 1 und h2 0 erfüllt sind und im Falle L1 lJI =
=
die Bedingungen B 1 und h1 h2 0 oder B = = =-
1 und h2 ha o. Insbeson- = =
dere muß dann also Z total reell sein.
8. Die bisherigen Ergebnisse liefern nun das analytische Werkzeug zur
Untersuchung der Modulgruppe. Es sei 0 eine Ordnung in A und 0(2) die
entsprechende Ordnung in A(2), die also aus allen Matrizen
mit Elementen 21:, ~,[, 'l) aus 0 besteht. Ferner sei E die Gruppe der
Einheiten in 0(2); sie besteht aus allen im in 0(2), für die auch im-I in 0(2)
liegt. Die Modulgruppe M in 0 wird jetzt als der Durchschnitt von E und 1:
erklärt. Er wird von allen symplektischen Einheiten gebildet. Es ist eine
wichtige Aufgabe, in den WirkungsräumenP und H einen für die Anwendungen
geeigneten Fundamentalbereich von M zu konstruieren. Hierzu kann man
sich der Lösung der entsprechenden Aufgabe für die volle Einheitengruppe E
bedienen, welche in meiner Arbeit über diskontinuierliche Gruppen in den
Annals of Mathematics vom Jahre 1943 gegeben wurde.
In der regulären Darstellung von L1 und LI möge dem Element ~ die Ma-
trix § mit g=hs 2 Reihen entsprechen. Für eine geeignet gewählte konstante
reelle Matrix y zerfällt dann y§ y-l = Yo in Kästchen Xl> ... , X u und zwar
tritt das Kästchen X dabei genau s-mal auf, wenn A =F ist, und sonst r
166 eARL LUDWIG SIEGEL:
genau s/2-mal. Das Element X = (~,'d) von A oder A wird jetzt durch X = (~kl)
~ ~
Bei festem natürlichen m betrachten wir den Raum der positiven sym-
metrischen Matrizen 6 mit m Reihen und beliebigen reellen Elementen.
Mittels der JAcoBIschen Transformation haben wir eindeutig die Zerlegung
m
6[!J = ~qk (Xk+ ~dklXl)2
k= I 1> k
mit positiven qk und reellen dk1 . Wir verstehen für jedes positive a unter Ra
das Gebiet aller 6, die den m (m + 1) - 1 Ungleichungen
2
%0 = \,ßo[(m5SJC)oJ
in Ra. Ist ß irgendeine reelle umkehrbare Matrix mit g Reihen und setzt
man %=(Tk1 ) mit k, l=1, ... , 2n, so liegt %o[ßJ=(ß'TkIOß) in Rb' wo b nur
von 0 und den Schranken der Elemente von ß und ß- 1 abhängt. Bedeutet 3
die Matrix der Permutation k--+2n-k+1 (k=1, ... , 2n), so liegt auch
%0 1 [ß31 in Rb·
Um die beiden Fälle der Involutionen zusammenzufassen, setze man
noch C = 1 und ~ = @ für die Involutionen erster Art. Dann ist der Wirkungs-
raum P der symplektischen Gruppe stets durch die Gleichung ~ \,ß-l~' = S' \,ß S
festgelegt, mit der früheren Bedeutung von S. Da X aus Xo dadurch hervor-
geht, daß man die verschiedenen irreduziblen Bestandteile genau einmal auf-
nimmt, so gilt auch
~o \,ßö1~~ = S' \,ßoS.
Mit den Abkürzungen m5SJC=>B, ~~S~o~o=~ wird daher
~'%Ö1~ = %0.
Für beliebiges ~ in jf(2) ist andererseits
(SC 2) ~* =~' (SC 2),
so daß mit 2 ~* = ID die Beziehung
SC y ID = ~~ SC 20 y
besteht. Wegen ~o=C 20~ folgt daraus
~~S~o = SCyID~y-l, ~ = SCyID~~i'5y-l.
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 167
so gilt also
(24)
Da y und SC y fest sind, so liegen ~1 und ~2 beide in einem Gebiete Rb,
wobei die Zahl b nur von 0 abhängt. Ferner ist
~IDiS ~ = ~ 2 ilc* ~*iS ~in
und folglich hat die Matrix 0 rationale Elemente. Erst an dieser Stelle
wird wirklich davon Gebrauch gemacht, daß die Abbildung I -+ P nicht
bloß A sondern auch A in sich überführt. Da ~ in E liegt, so ist die Deter-
minante 1?iß 1= ± 1 und es existiert eine nur von 0 und 2 abhängige natür-
liche Zahl p, so daß p ~* und p ~* -1 in 0(2) liegen. Außerdem sind noch
~,iS, 2 konstant, während in einer festen endlichen Menge in 0(2) angehört.
Hieraus folgt, daß die Determinante und der Hauptnenner der Elemente von
o beschränkt sind. Nach einem weiteren grundlegenden Satze der Reduk-
tionstheorie zeigt dann (24), daß für 0 nur endlich viele Möglichkeiten be-
stehen, und dasselbe folgt hiernach für ~*iS~. Es seien sr1 , ... , src die sämt-
lichen Werte dieses Ausdrucks und srl=~iiS~1 (l=1, ... ,c). Aus der An-
nahme ~* iS ~ = ~iiS ~l erhält man aber, daß ~ ~11 = ill'C der Modulgruppe
angehört, und umgekehrt. Wir bezeichnen schließlich die fc Produkte ~link
wieder mit in = in1 , in 2 , ... und haben folgenden Satz bewiesen.
Zu jedem Punkte ~ des Wirkungsraumes der symplektischen Gruppe gibt
es ein Element W~ der Modulgruppe und eines der festen endlich vielen Elemente in
aus 0(2), so daß die M atrix ~o [ill'C o inol in Ra gelegen ist.
Aus diesem Satz ergibt sich weiter mit bekannten Methoden, daß M
in I: eine sog. Untergruppe erster Art ist, indem nämlich die Modulgruppe
auf dem symplektischen Gruppenraum einen abgeschlossenen Fundamental-
bereich F mit den folgenden drei Eigenschaften besitzt: Jeder kompakte
Teil von I: wird von endlich vielen Bildern von F überdeckt; nur endlich
viele Bilder von F haben mit F einen Punkt gemeinsam; der Inhalt von F
in dem invarianten Maß auf I: ist en.dlich. Insbesondere läßt sich also auch M
durch endlich viele Elemente erzeugen. Schließlich macht die explizite Her-
stellung von F keine Schwierigkeiten, wenn man sich der entsprechenden
Konstruktion für E bedient.
Unser Satz über die Reduktion von ~ bezüglich M ist von Bedeutung
für die Theorie der Thetafunktionen, welche sich mit den quadratischen
Formen in einer involutorischen Ordnung bilden lassen. Hierüber wll bei
anderer Gelegenheit berichtet werden.
Eingegangen am 25. August 1951.
Uber Lösungen
nimtlinearer DifferentiaIgIeimungen.
Von
FRANZ RELLICH.
eine ganze Funktion von x, Y und wenn j (x, y) in Y nicht linear ist, dann gibt
es höchstens abzählbar viele ganze Lösungen. Die ganzen Lösungen lassen
sich in gewisser Weise sogar alle angeben. Wenn es nämlich mehr als zwei
ganze Lösungen gibt, so lassen sich alle ganzen Lösungen Yl(X), Y2(X), Ya(x), ...
aus zwei ganzen Lösungen Yl(X), Y2(X) in der Form
Yn(x) = Yl(X) + (Y2(X) - Yl(X)) c"
gewinnen, wobei die cn geeignete Konstante sind, für die übrigens lim cn = 00
n->oo
gilt, falls es unendlich viele ganze Lösungen gibt. Speziell muß jede ganze
Lösung von y' = j (y) eine Konstante sein, wenn j (y) eine ganze nicht lineare
Funktion von Y ist.
Für die allgemeine Differentialgleichung zweiter Ordnung y" = j (x, y, y')
entsprechende Sätze zu beweisen ist bisher nicht gelungen. Für den Spezial-
fall y" = j(y) wurde bewiesen, daß jede ganze Lösung eine Konstante ist,
wenn j(y) eine ganze aber nicht lineare Funktion ist 1 .
Durch H. WITTICH 2 sind Fälle von Differentialgleichungen höherer Ord-
nung erledigt worden. Es seien drei Resultate angeführt: 1. Jede ganze
Lösung von y(nl = j (y) ist eine Konstante, wenn j (y) eine ganze nichtlineare
Funktion ist. 2. Es sei P(x, y, Yl' ... , Yn) ein Polynom in x, y, Yl' ... , Yn
und j (y) eine ganze transzendente Funktion. Dann ist jede ganze Lösung
der Differentialgleichung n-ter Ordnung P(x, y, y', ... , y(nl)=j(y) eine Kon-
stante. 3. In dem Polynom
P(X, y, Yl' ... ' Yn) = L a"o ... "n y"o Y~l, ... , y~n
gebe es nur ein Glied maximaler "Dimension" U o + + ... + un .
U1 Dann ist
jede ganze Lösung der Differentialgleichung
P( x, y, y,, ... , Y (nl) -- 0
em Polynom.
Nach dem letzten Satz gibt es z.B. keine ganzen Lösungen der PAIN-
+
LEvEschen Gleichung y" = 6 y 2 x, weil Polynomlösungen offenbar unmöglich
sind. Ebenso hat die Grenzschichtgleichung y'" +
2 Y y" = 0 danach nur die
ganzen Lösungen y=ax+b. Für diese Gleichung hat H. WEYL 3 gezeigt,
daß die durch Y (0) = y' (0) = 0, y" (0) = 1 festgelegte Lösung in ihrer Potenz-
reihenentwicklung um x = 0 herum einen Konvergenzradius besitzt, der
zwischen V9 und 00 liegt.
1 RELLICH, F.: über die ganzen Lösungen einer gewöhnlichen Differentialgleichung
erster Ordnung. Math. Ann. 117 (1940). - Elliptische Funktionen und die ganzen Lösungen
von y"=f(y). Math. Z. 47 (1941).
2 WITTICH, H.: Ganze Lösungen der Differentialgleichung w"=f(w). Math. Z. 47 (1941).-
Ganze transzendente Lösungen algebraischer Differentialgleichungen. Nachr. Akad. Wiss.
Göttingen 1946 und Math. Ann. 122 (1950).
3 WEYL, H.: Concerning the differential equations of some boundary layer problems.
Froc. nato Acad. Sci., Wash. 27 (1941).
170 FRANZ RELLICH:
von x o, also in xo;;:;;;x<cx. erklärte Lösung u(x) ist in das Intervall xo;;:;;;x<a
fortsetzbar (a=oo wird zugelassen), wenn es eine in xo;;:;;;x<a erklärte Lö-
sung (eine "Fortsetzung") gibt, die in xo;;:;;;x<cx. mit u(x) identisch ist. (Bei
Systemen bedeute u (x) den Lösungsvektor. )
Das folgende Kriterium für Fortsetzbarkeit ist nützlich. Wir sprechen
es zunächst für Systeme gewöhnlicher Differentialgleichungen erster Ord-
nung aus.
Die Funktionen
oli. . k
und 0Pk' ~, = 1,2, ... , n
seien m
xo ;;:;;; x< a, - 00 < Pi<oo, i = 1,2, ... , n
stetig (a=oo zugelassen) und es sei Yi=U,(X) i=l, 2, ... , n eine in xo;;:;;;x<cx.
erklärte Lösung des Systems
dy· ( ) i = 1, 2, ... , n.
dx'=/i x'Yl'Y2,···,Yn;
Dann und nur dann ist diese Lösung Yi=Ui(X) in das Intervall xo;;:;;;x<a
fortsetzbar, wenn zu jedem ß (mit xo<ß<a) zu welchem es eine in xo;;:;;;x<ß
erklärte Fortsetzung Yi=U,(X) gibt, eine Zahl M existiert (die natürlich
von ß abhängen darf), mit der :U;(x)];;:;;;M gilt für i=l, 2, ... , n und alle x
I ,
aus xo;;:;;;x<ß.
Die Notwendigkeit dieses Kriteriums ist klar wegen des Eindeutigkeits-
satzes. Um einzusehen, daß es hinreicht, betrachten wir die obere Grenze ß
aller Zahlen b mit cx.~b <a für welche die (in xo;;:;;;x<cx.) gegebene Lösung
Yi = U, (x) in das Intervall x o;;:;;; x< b fortgesetzt werden kann. Offenbar gibt
es dann (wieder wegen der Eindeutigkeit) eine in xo;;:;;;x<ß erklärte Fort-
setzung Yi = U, (x). Wir müssen ß= a beweisen. Wir tun es, indem wir
ß < a widerlegen. Da nach Voraussetzung in xo;;:;;; x< ß die Ungleichungen
i u, (x) I;;:;;; M gelten, gibt es eine Schranke C, so daß auch I d ~,;x) I, ;;:;;; C in
xo;;:;;;x <ß gilt (i = 1,2, ... , n). Also sind die n in dem rechts offenen Intervall
xo;;:;;;x<ß stetigen Funktionen U,(x) dort auch gleichmäßig stetig, so daß
lim U,(x) =ci existiert. Nun sei Yi=V,(X) diejenige in ß;;:;;;x <ß' <a erklärte
x-->ß
Lösung für welche Vi (ß) = Ci gilt. Definiert man also V; (x) = U, (x) in x o;;:;;; x< /J
und V,(x)=vi(x) in ß;;:;;;x<ß', so stellt Yi=V,(X) eine Fortsetzung in das
Intervall xo;;:;;;x<ß' mit ß'>ß dar, was zu der Bedeutung von ß als obere
Grenze im Widerspruch steht.
Für eine Differentialgleichung n-ter Ordnung lautet das Kriterium so:
Es seien /(x, PI, P2, ... , Pn) und O//OPi stetig m
xo ;;:;;; x< a, -00 <Pi<oo, i = 1,2, ... , n
172 FRANZ RELLICH:
(a=oo zugelassen) und es sei y=u(x) eine in xo;;;;;x<a; erklärte Lösung von
dny ( dy dn- 1y )
dxn = t ,x, y, di' ... , dxn-1 . (1)
Dann und nur dann ist diese Lösung in das Intervall xo;;;;; x< a fortsetzbar,
wenn zu jedem ß (mit xo<ß<a), zu welchem es eine in xo;;;;;x<ß erklärte
Fortsetzung y= V (x) gibt, eine Zahl M existiert (die natürlich von ß ab-
hängen darf), mit der entweder I d n -n1 ~ I;;;;;M oder I d n Un I;;;;;M gilt für alle x
dx - dx
aus xo;;;;;x<ß.
Beispiele. 1. Die in einer Umgebung von x= 0 durch die Anfangsbe-
dingungen y (0) = y' (0) = 0, y" (0) = c erklärte Lösung der Grenzschicht-
gleichung y'" +
2 Y y" = 0 ist in das Intervall 0;;;;; x< 00 fortsetzbar, falls c~ 0
gilt. Beweis: Sei y(x) eine in o;;;;;x<ß erklärte Fortsetzung. Dann ist dort
x
y"(x)=ce-l 2YdX , also y"(x)~o, also wegen y'(O)=O auch y'(x)~O und
wegen y (0) = 0 auch y (x) ~ O. Daraus aber folgt y" (x) ;;;;; c, also auch
Iy"(x) I;;;;;c in o;;;;;x<ß· Nach obigem Kriterium (n= 3) ist y(x) in das Inter-
vall 0;;;;; x< 00 fortsetzbar. Die Konstante M = c des Kriteriums ist hier sogar
von ß unabhängig.
2. Jede in einer Umgebung von x= 0 erklärte Lösung der VAN DER
POLschen Differentialgleichung y" + s (- y' +! y' 3) + y = 0 läßt sich in das
Intervall 0;;;;; x < 00 fortsetzen, falls s~o ist. Beweis (mit einem Kunstgriff
von Herrn SCHILLEMEIT): Liegt eine Fortsetzung in das Intervall O;;;;;x<ß
vor, so gilt dort
x
y' 2 (x) + y2 (x) +s J (- 2 y'2 + ! y'4) d x = y'2 (0) + y2 (0) ,
o
oder
x
y' 2 (x) + y2 (x) + i s J (y'2 - ~)2 d x = y' 2 (0) + y2 (0) +! s x ;;;;; M2,
o
also auch y'2(x);;;;;M2, wenn man M2=y'2(0)+y2(0)+!Sß, M~O wählt.
Mit diesem M, das diesmal von ß abhängt, gilt ly'(x)I;;;;;M in O;;;;;x<ß,
also ist nach obigem Kriterium (n = 2) die Fortsetzbarkeit in das Intervall
0;;;;; x < 00 gesichert.
Wenn hier auch die Frage nach der Fortsetzbarkeit an erster Stelle steht,
so ist es doch gelegentlich angebracht, sich für gewisse Lösungen der Nicht-
fortsetzbarkeit zu vergewissern. Kriterien für Nichtfortsetzbarkeit liegen in
der Literatur vor, naturgemäß sind sie von speziellem Charakter. Für ge-
wöhnliche Differentialgleichungen n-ter Ordnung kann man die Nichtfort-
setzbarkeit gelegentlich aus folgender Bemerkung schließen, deren Beweis
auf der Hand liegt und weggelassen werde: Es sei u (x) in xo;;;;; x< y n-mal
stetig differenzierbar und u(xo)~O, u'(xo)~O, "" u(n-l)(xo)~O, Ferner
u(n)(x)~p(u(x)) für xo;;;;;x<y,
Über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen. 173
wobei rp(p) eine in -00 <p < 00 stetige und positive Funktion ist. Dann muß
sein, wenn
f
p
(p_t)k-l
rpk(P) = (k-1)! rp(t) dt für k = 1,2 ...
u(x.)
und
rpo(p) =rp(p)
gesetzt wird.
Beispiel: Die in einer Umgebung von X o = durch die Anfangsbedin- °
gungen y(o) =y'(O) =0, y"(O) =c erklärte Lösung der Grenzschichtgleichung
°
y'" +2y y"= ist nicht in das Intervall 0;:;;;; x < 00 fortsetzbar, falls c < °
gilt. Beweis: Sei y=y(x) eine Fortsetzung in das Intervall O;:;;;;x<y. Dann
x
genügt u = - 2 j Y d x der Gleichung u'" = - 2 c eU und es ist u (0) = 0,
o
u'(o) =0, u"(o) =0. Setzt man rp(p)=-2ceP so folgt aus dem eben mit-
00
folgt, daß z. B. die Lösungen mit der Gesamtenergie E > t nicht für alle
Werte der Zeit fortgesetzt werden können. Die zugehörigen Bahnkurven
x=x(t), y=x(t) der Phasenebene werden (obwohl sie in der x, y-Ebene nicht
geschlossen sind) in endlicher Zeit durchlaufen, genau wie die Bahnkurven
der periodischen Lösungen. Es ist reizvoll zu sehen, wie sich dieses Ver-
halten in der quantenmechanischen Beschreibung desselben Vorganges
widerspiegelt.
Man hat jetzt das Eigenwertproblem des anharmonischen Oszillators
_ y" + (x 2 _ y4) Y = E Y , -oo<x<oo
174 FRANZ RELLICH: Über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen.
(die unabhänggige Variable heißt wieder x). Aus der Gestalt des Potentials
V = x 2- x4 (aufgezeichnet in einer x, V-Ebene) folgt leicht der Wellen-
charakter der Lösungen und zwar für jeden Wert des Eigenwertparameters E.
Es wäre aber falsch daraus zu schließen, daß dieses Eigenwertproblem ein
rein kontinuierliches Spektrum von - 0 0 bis +
00 besitzt. Wir betrachten
so stark gegen Null, daß für alle Lösungen y 2 dx endlich ausfällt. Das be-
-00
deutet, wie H. WEYL gezeigt hat!, daß sich das Eigenwertproblem verhält
wie im regulären Fall eines endlichen Intervalles (Grenzkreisfall) . Es muß
also bei x = +00 und bei x= - 00 eine Randbedingung gestellt werden,
§ J. Die Grundformel.
1. Im folgenden soll die GAuss-BoNNETsche Formel in einer allgemeinen
Form gegeben werden, in welcher sie für gewisse Zwecke der Funktionen-
theorie auf RIEMANNschen Flächen verwendet werden kann.
Wir betrachten eine RIEMANNsche Fläche R, dic entweder geschlossen
oder offen ist. Zu einer solchen Fläche läßt sich stets eine abzählbare Menge
von kreishomäomorphen Umgebungen U angeben, deren Kreisbilder Uz in
der komplexen z-Ebene direkt konform zusammenhängen. Es sei auf Rein
kompaktes Teilgebiet G gegeben, mit einer analytischen Berandung r. Wir
nehmen an, dieses Gebiet sei trianguliert: G = L Gi' so daß die drei Kanten
,
ri des Dreiecks Gi analytisch sind; eine solche Triangulierung kann leicht
konstruiert werden, wenn man R vermittels des Grenzkreistheorems unifor-
misiert, und sie kann so fein angenommen werden, daß jede8 Dreieck Gi in
je einer Parameterumgebung U liegt.
+
2. \Vir betrachten auf G r zwei posItive Gräßen u und v, die auf den
r:
Kanten als zweimal stetig differenzierbare Gräßen definiert sind, so daß sich
u kovariant, v kontravariant bei einer Vertauschung des lokalen Parameters z
transformiert; es sind also die Differentiale u!I dz I und E:1
v
invariant.
Setzt man dann
ai = ! -----an
ologu
ds , b, =!OlOgV
on d S,
r, r,
wo ds= I dz I und on die Richtung der äußeren Normale angibt, so hat man,
wegen der Invarianz des Produkts u v,
~ a·
L.J'
+ L.J'
~ b· =J~10g (~ ds
an' , (1 )
r
Lai + L bi =. 0 . ( 1')
i
176 ROLFNEVANLINNA:
4. Die kontravariante Größe v definieren wir als v= I~~ I auf der analyti-
schen Kante k, wo t ein fester, positiver Parameter des Bogens k ist; wachsen-
den Werten von t möge hierbei die positive Richtung auf k in bezug auf das
e
betreffende Dreieck entsprechen. Dann wird, falls = arg dz bezeichnet wird,
bi =Jde=2n-L{},
r.
wo L {} die
Summe der Außenwinkel von Gi ist.
Die Summation gibt nun
wo X die topologische Charakteristik der Fläche G + r ist und Lei die Summe
der Außenwinkel des Randes r angibt.
5. Zusammenfassend hat man
X=-1
2n
ff illogudxdy+ L (,u-1')--- f -on- d s - -f deo
2n
1 0 log U 1
2n
G r r
Eine differentialgeometrische Deutung dieser Identität ist bekanntlich die
+
folgende. Führt man auf G reine RIEMANNsche Metrik mit dem Linien-
element da = uds ein, so hat man für die Krümmung den Ausdruck
x = - LI~; U , und das nichteuklidische Flächenelement wird d 0 = u 2 d x d y,
so daß
J J illog u d x d Y = - J x d 0 = - K,
G G
wo K die Curvatura integra von G ist. Der Ausdruck d.= ol;:U ds+de
gibt dann dös Differential der geodätischen Krümmung der Randkurve r
an. Man findet so:
X +_1 K + -~fdr: = ~ (,u -v) (2)
2n 2n ~ •
r
Über den GAuss-BoNNETsehen Satz. 177
und für eine geschlossene Fläche G - R
(2')
wobei on die Richtung der äußeren Normale angibt. Die Anwendung der
Formel (2) im Gebiete Gx (0< Re (z) < x:;:;; X) ergibt dann, nach Integration
im Intervalle 0:;:;; x:;:;; Ä.:;:;; X:
Ä Ä
j(/1(X)-v(x))dx= jX(x)dx+ 21njK(x)dx+
Ä 1
0 0 0
(3 )
+ 2~lIOgU(X+iY)dY+O(X)' J
Hierbei gibt das Argument x ip den Anzahlen /1 und v der Nullstellen bzw. Pole,
in der Charakteristik X und in der Curvatura integra K an, daß allE' diese
Größen in bezug auf das Gebiet Gx zu nehmen sind.
7. Diese Formel enthält bei geeigneter Wahl des Maßtensors u als Spezial-
fälle diejenigen Integralformeln, die in der Theorie der in der Ebene ein-
deutigen meromorphen Funktionen den sog. ersten Hauptsatz aussprechen.
Bei der Anwendung der Beziehung (3) auf ABELsche Differentiale auf einer
offenen RIEMANNschen Fläche R kommt als neues Moment vor allem die
"mittlere" Charakteristik vor, die eine monoton wachsende Funktion von x
1 In dieser Form ist die Formel von AHLFoRs [Acta Soe. Sei. Fenn., Nova Sero II (1937) J
angegeben und für die Theorie der meromorphen Funktionen verwendet worden.
178 ROLF NEVANLINNA: Über den GAuss-BoNNETschen Satz.
ist und bei einer Approximation von R mittels des Gebietes G im allgemei-
nen ins Unendliche wachsen wird, falls die Fläche R von unendlichem Ge-
schlecht p ist.
Was die Wahl der Metrik (u) betrifft, so hat man in erster Linie folgende
Möglichkeiten zu berücksichtigen.
a) Man setzt u = Icpll, wo CPl dz ein eindeutiges analytisches Differential
auf R ist, das in jedem Punkt von R rationalen Charakter hat (ABELsches
Differential). In diesem Fall ist K = o.
+
b) Man definiert u 2 = ICPll2 u~, wo ({Jl wie oben eine ABELsche Kovariante
ist und U o (::;;~ 0) eine reguläre Metrik U o ds auf R erklärt. Wichtige solche
Metriken sind z. B. Uo = Icp21, wo CP2 eine ABELsche Kovariante erster Gattung
ist (d.h. CP2 ist überall auf R regulär), oder allgemeiner UO=Vi~2Icp,12, wo
cp;(i=2,), ... ) ein System von solchen speziellen Kovarianten ist. Für die
Krümmung hat man in diesen Fällen den Wert
L; I'Pi 'Pi - 'Pj 'P~ ;2
',1
X = - (~I'PiI2r
Speziell kann man für U o ds die von BERGMAN eingeführte Metrik wählen.
Zu dieser gelangt man, wenn man für CP2, ••• ein vollständiges Orthogonal-
system von Kovarianten erster Gattung nimmt, wobei das innere Produkt
von cP; und CPj durch das Integral
(CPi' CP1) = JJ
R
CPiCPj dxdy