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FESTSCHRIFT

ZUR

FEIER DES ZWEIHUNDERTjAHRIGEN BESTEHENS


DER

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN


IN GOTTINGEN

MATHEMATISCH-PHYSIKALISCHE KLASSE

SPRINGER- VERLAG
BERLIN . GaTTINGEN . HEIDELBERG
1951
ISBN 978-3-540-01540-6 ISBN 978-3-642-86703-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-86703-3

ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER üBERSETZUNG


IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1951 BY SPRINGER-VERLAGoHG. IN BERLIN, GÖTTINGEN AND HEIDELBERG
Inhalt.
Seite
SMEND, R, Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. (Ein-
gegangen am 11. Oktober 1951) . . . . . . . . . . . . . V
BORN, M., Die Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kri-
stalle und ihre überwindung. (Eingegangen am 10. Sep-
tember 1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
BRIX, P., und H. KOPFERMANN, Neuere Ergebnisse zum Isoto-
pieverschiebungseffekt in den Atomspektren. Mit 4 Figuren
im Text. (Eingegangen am 1. September 1951) . . . . . . 17
HEISENBERG, W., Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der
Elementarteilchen. Mit 3 Figuren im Text. (Eingegangen am
4. September 1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
STAUDINGER, H., Bedeutung der makromolekularen Chemie für
die Biologie. (Eingegangen am 3. September 1951). . . . . 65
STILLE, H., Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits
des Urkontinents Laurentia. Mit 2 Figuren im Text. (Ein-
gegangen am 4. September 1951) . . . . . . . . . . . . 71
WEIZSÄCKER, C. F. V., Anwendungen der Hydrodynamik auf Pro-
bleme der Kosmogonie. Mit 8 Figuren im Text. (Eingegangen
am 28. August 1951). . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
EULER, H. V., Chlorophylldefekte Mutanten. Mit 4 Figuren im
Text. (Eingegangen am 24. September 1951) . . . . . . . 123
HEDVALL, J. A., Mineralographie, ein relativ neues Gebiet
chemischer Forschung und technischer Anwendung. Mit
20 Figuren im Text. (Eingegangen am 30. August 1951) . . 141
SIEGEL, C. L., Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen
Algebra. (Eingegangen am 25. August 1951) . . . . . . . . 157
RELLICH, F., über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichun-
gen. (Eingegangen am 15. Oktober 1951). . . 168
NEVANLINNA, R, über den GAuss-BoNNETschen Satz. (Ein-
gegangen am 20. Oktober 1951) . . . . . . . 175
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften.
Von
RUDOLF SMEND, Göttingen.

Als die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen im Jahre


1901 das Fest ihres 150jährigen Bestehens beging, ordnete sie sich damit in
eine Folge von Jubiläen gelehrter Körperschaften ein, deren Reihe uns heute
im Rückblick wie eine einzige Feier der damaligen Lage der Wissenschaft
erscheint. Man wußte sich noch im vollen Glanz des neunzehnten als des
wissenschaftlichen Jahrhunderts - man überschaute die darin eingebrachte
wissenschaftliche Ernte, die unerhörte Ausdehnung gegenwärtiger Arbeits-
felder und Fragestellungen, und den Reichtum persönlicher und sachlicher
Mittel in ihrem Dienst. Der wissenschaftliche Niederschlag dieser Gesinnung
liegt heute vor uns in der wissenschaftsgeschichtlichen Festliteratur dieser
Jahrzehnte: von der stolzen Reihe der geschichtlichen Abhandlungen zum
Göttinger Jubiläum von 1901 über die Universitätsgeschichten bis hin zu
HARNACKS Geschichte der Preußischen Akademie von 1900.
TROELTSCH hat in einer berühmten Kritik der HARNAcKschenAkademie-
geschichte l deren Grenze und damit die Schwierigkeit wissenschaftgeschicht-
licher Arbeit überhaupt aufgewiesen, "eine bestimmte Leistung und Stellung
auszumitteln, die sie (die Akademie und die wissenschaftlichen Institutionen
überhaupt) für den großen Zusammenhang des geistigen Lebens gehabt hätte".
Er sah hier schärfer als das damalige naive Gesamtbewußtsein der gelehrten
Zunft. Uns ist nach allen Umbrüchen der Welt· und Geistesgeschichte diese
Problematik noch deutlicher geworden. So läßt die Göttinger Akademie auf
GÖTZ VON SELLES zum 200jährigen Universitätsjubiläum von 1937 erschienene
Geschichte der Georg-August- Universität nicht die entsprechende Darstellung
ihrer eigenen Geschichte folgen. Und die nachfolgenden Bemerkungen sollen
und können nur den besonderen Ort andeuten, den die Göttinger Societät
im Kreise der Schwesterkorporationen einnimmt.

Ihre Entstehung ist völlig anderer Art, als die aller verwandten Körper-
schaften. Ihre Entwicklung führt sie, im ersten Halbjahrhundert vermöge
der Natur der Sache, von da ab im großen gemeinsamen Strom des geistigen
Lebens, immer mehr in die Gleichheit des Wesens und schließlich sogar in
die Gemeinschaft der Arbeit mit den Genossinnen ihres Weges hinein.
1 TROELTSCH: Rist. Z. 86 (1901); jetzt Ges. Sehr. IV, 805.
VI RUDOLF SMEND:

Ihre Gründung ist durchaus eigener Art. Sie ist nicht hervorgegangen
aus irgendeiner Verzweigung jenes genossenschaftlichen Gefälles, aus dem
die gelehrten Körperschaften der Spätrenaissance hervorgegangen sind, deren
sich dann die staatliche Führung allenfalls nachträglich bemächtigte, so wie
aus der Londoner Society alsbald die Royal Society wurde - eines Gefälles,
das immerhin auch die Bildungen des 18. Jahrhunderts noch zum guten Teile
trägt. Sie ist auch nicht hervorgegangen aus jenem fürstlichen Bestreben,
dem LEIBNIZ seine Akademiepläne überall anregend einordnete, jener von
TRoELTscH nicht ganz gerecht als fürstliche Willkür gekennzeichneten Ten-
denz des barocken und spätbarocken Fürstentums, seine Repräsentation
politisch-geistlicher Totalität durch eine fürstliche Akademie abzurunden --
einem Bestreben, dessen klassisches Ergebnis die Berliner Gründung von
1700 ist. Sie ist nicht getragen von bestimmten politischen und kulturpoliti-
schen Absichten, wie die Akademie MAXIMILIAN JOSEPHS, und sie war umge-
kehrt nie der Gegenstand politischer Befürchtungen, wie die Akademiepläne
im METTERNIcHschen Österreich. Sie ist endlich auch nicht getragen von der
großartigen Universalität des Geistes, wie sie oich als LEIBNIzsches Erbe in ver-
schiedenen Brechungen anderswo auswirkte, jener Universalität, zu der etwa
das Berliner Gründungsdokument vom 11. Juli 1700 sich feierlich bekennt.
Zwar klingen alle diese vorgefundenen Motive in den für die Göttinger
Gründung anregenden oder gar maßgebenden Entwürfen an. Aber sie treten
in MÜNCHHAUSENS Händen alsbald unter das besondere Gesetz seiner Göt-
tinger Gründung überhaupt, der Universität, von der die Zeitgenossen mein-
ten, sie solle nicht in dynastischer Unwahrheit Georgia Augusta, sondern als
seine, wie es in Hannover hieß, "schöne Tochter" Gerlaca Adolfa heißen.
Die vierzehn Jahre nach der Universität begründete Königliche Societät der
Wissenschaften zu Göttingen sollte keine Trägerin monarchischen Prestiges
oder höfisch-gesellschaftlichen Pomps, aber auch nicht die Trägerin irgend-
eines allgemeineren geistigen Anspruchs sein. In MÜNCHHAUSENS Planung
ist die Societät ein Universitätsinstitut, freilich besonderer Art und ohne
jedes Vorbild in den älteren Hochschulgründungen. Der Societät sollte ein
ganz kleiner Ausschnitt aus dem Lehrkörper angehören, der in der gegen-
seitigen Anregung und Kontrolle der Societät wissenschaftlich arbeiten, for-
schen sollte, Decouverten machen, wie man gleichzeitig in Berlin von den
Akademikern sagte - eine Aufgabe, die damals grundsätzlich nicht die des
Professors, sondern die des grundsätzlich nicht eine Professur bekleidenden
Akademikers war - eine Aufgabe, die MÜNCHHAUSEN den Mitgliedern der
Societät zum allgem'einen Besten, vor allem aber zur Hebung des lustre der
Universität stellte.
So kümmer1ich die Anfänge der Societät, so trostlos ihre ersten Jahrzehnte
vielfach waren, so hat man doch alsbald in dieser, im persönlichen und sach-
lichen Aufwande unsäglich sparsamen Gründung den ~igentlichen Vorzug
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. VII

von Göttingen gesehen. "Sie (die Göttingischen Gelehrten Anzeigen und die
Societät) haben der Universität den größten Ruf und einen Vorzug vor allen
ihren Schwestern verschaffet", so urteilt GEORG BRANDES 17641, und dies
Urteil steigert sich bis zur vorbildlichen RoIIe Göttingens gerade unter diesem
Gesichtspunkt der Personalunion von Universität und Akademie in FRIED-
RICH AUGl:ST WOLFS Berliner Universitätsdenkschrift von 1807: "Daß nach
und nach auch einzelne tiefer gelehrte oder entdeckende Universitätslehrer
Academiciens werden, dagegen ließe sich wohl nichts einwenden, und hier
wäre bloß das Exempel von Göttingen (als das einzige in Europa) zu prüfen
und vielleicht zu befolgen. Denn die dort neben der Universität bestehende
Societät der Wissenschaften ist dasselbige nach HALLERS herrlichem Plane,
als was hier die Akademie nach LEIBNlzens war oder sein sollte". Dieselbe
RoIIe spielt Göttingen in seinem Reformplan für die Berliner Akademie,
deren "neues Leben" er sich "mehr nach Art der Göttinger Societät als der
ausländischen Akademien" denkt 2 •
Es ist aIIerdings nicht nur das Verdienst MÜNCHHAUSENS, dieses politi-
schen Merkantilisten und hochschulpolitischen Rationalisten, daß aus diesem
seinem Erziehungsinstitut für Professoren und Werbungsinstitut für die Uni-
versität eine Körperschaft wurde, die zumindest in einem so großen Sinne
verstanden werden und wirken konnte. Ein Größerer als er, ALB RECHT VON
HALLER, übernahm in seinem Auftrage das Präsidium der Societät. Zwar
hat er es nur zwei Jahre tatsächlich geführt, von der Gründung der GeseII-
schaft 1751 bis zu seiner Rückkehr nach Bern 175}. Und sachlich schien er
ihr nur sehr begrenzte und nüchterne Aufgaben zu stellen: "So eingeschränkt",
so faßt HEYNE noch einmal im Rückblick kurz vor seinem Tode zusammen,
"MÜNCHHAUSENS Absichten bei der Anlegung seiner neuen Universität Waren,
so sehr war es HALLER bei der Stiftung der Göttingischen Societät der Wissen-
schaften"3. Trotzdem verdankt die Gesellschaft ihm, bis auf die Gründung,
sozusagen alles. Der erste Gelehrte im damaligen Deutschland, gab er mit
seinem Namen und seinem formell bis zu seinem Tode 1777 fortdauernden
Präsidium der Gesellschaft den höchsten wissenschaftlichen Geltungsanspruch.
In der sachlichen Mächtigkeit seines an LEIBNIZ gemahnenden universalen
Gelehrtenturns gab er der GeseIIschaft sachlich eine Universalität und Tiefe
ihrer Zwecksetzung und ihres dauernden Gehaltes mit, wie sie ihr keine
1 FRENsDORFF, F.: Eine Krisis in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu
Göttingen. Nachrichten von der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen 1892: S. 43.
2 HARNACK, AD.: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften,
Bd. I/2, 1900, S. 566f. - Dieser Geltung der Göttinger Societät, nicht der 'WoLFschen An-
regung entsprach die Kommission für die Reform der Berliner Akademie, wenn sie 1810 ein
Gutachten von HEYNE über die Göttinger Verhältnisse erbat, das auf ihr eigenes Reform-
werk unverkennbar maßgebend eingewirkt hat, a. a. O. S. 601 Anm. 1, und FRIEDRICli LEO,
HEYNE, in der Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der KönigÜchen, C;;~~ellschaft
der Wissenschaften zu Göttingen , 1901, S. 205 ff. .'
3 Bei LEO a. a. Ü. S,; 206, abweichend von A. H. L. HEEREN, CHRISTI AN GOTTLOB HEYNE,
1813, S.119. '
VIII RUDOLF SMEND:

formelle Satzung hätte geben können. Und aus der zähen Wucht seiner un-
geheuren Arbeitsleistung, vermittelt durch viele Kanäle, seine Briefe, seine
Abhandlungen, die Erschließung des zeitgenössischen Gedankenguts in seinen
zahllosen Beiträgen zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen!, - einer im
ganzen rätselhaften Wirkungskraft rührte der Anstoß her, der sich in den
folgenden Jahrzehnten als zähe Lebenskraft der Gesellschaft bewährte, über
ihre Kinderkrankheiten akuter und chronischer Lebenskrisen hinweg.
An solchen Krisenzeiten fehlt es im ersten halben Jahrhundert der Göt·
tinger Akademiegeschichte nicht 2 • Der Kleinheit der Verhältnisse entspre-
chend verlaufen sie anders als in der Berliner oder der Münchener Akademie
des 18. Jahrhunderts: der Personalstand schmilzt gelegentlich verhängnis-
voll zusammen, die Sitzungen unterbleiben, die Veröffentlichungen der Ge-
sellschaft, abgesehen von den Anzeigen, erscheinen 1755 bis 1771 nicht mehr,
1798 und 1808 erklärt HEYNE die Societät für so gut wie aufgelöst oder in
der Auflösung begriffen 3. Hier bedeutete die Göttinger Sonderart besondere
Sicherung: die Anlehnung an die Universität erlaubte immer wieder die Er-
neuerung von dort her, und bei der Kleinheit der Verhältnisse konnte es der
Hingabe einer einzelnen bedeutenden und selbstlosen Persönlichkeit gelingen,
immer wieder die Nöte der persönlichen Konflikte, der geistigen Ermattung,
des Geldmangels zu überwinden - die stolze Leistung von HEYNES "bestän-
digem Secretariat" 1770 bis 1812. Freilich hatte er sich dabei als der Schwie-
gersohn des älteren, der Schwager des jüngeren BRANDES der auch persönlich
gewährleisteten zuverlässigen Stützung durch die Regierung in Hannover zu
erfreuen. Eben hier lag zugleich die organisatorische Schwäche des Systems.
Es ist erschütternd, in der Geschichte' der Georgia Augusta und der ihr an-
geschlossenen Societät zu verfolgen, wie ohnmächtig selbst die in der Ge-
schichte der gelehrten Organisationen und ihrer Verwaltung einzigartige,
ein Menschenalter hindurch wahrhaft väterlich fürsorgende Leitungsarbeit
MÜNCHHAUSENS gegenüber den inneren Schwierigkeiten des gelehrten Kör-
pers war - nur darum, weil diesem die heilende Kraft, die Lebensgewähr
der Selbstverwaltung und damit der korporativen Selbstverantwortung ver-
sagt war. Bei aller Lauterkeit der tragenden Persönlichkeiten sind auch im
Göttingen des 18. Jahrhunderts kollegialer Zank, Intrige und Denunziation,
Strebertum und Verbitterung die unvermeidlichen Schattenseiten autoritärer
Leitung gewesen, und hier liegen die tieferen Gründe der Schwierigkeiten
der Societät in ihrem ersten halben Jahrhundert, nicht so sehr in HALLERS
Abwesenheit oder in den Charakterfehlern von J OHANN DAVID MICHAELIS,
dem tatsächlichen Leiter der Akademie von 1753 bis 1770.

1 ROETHE, G.: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen, in der Göttinger Fest-
schrift S. 567ff.
a FRENsDoRFF a. a. O. S. 53ff., LEO a. a. O. S. 153ff., und die ältere Literatur.
3 LEO S. 202, 204.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. IX

Die sachliche Leistung der Societät im 18. Jahrhundert ist in ihrer Eigen-
art durch drei Merkmale bestimmt.
Einmal durch einen Grundzug praktischer Nüchternheit. Man hat den
Göttingischen Gelehrten Anzeigen damals nachgerühmt, sie hätten das Ihrige
dazu getan, die Studien der Deutschen mehr auf das Nützliche und Brauch-
bare in allen Wissenschaften zu richten!. Das kommt im wesentlichen auf
die Rechnung der Societät, von deren Mitgliedern MÜNcHHAusEN von vorn-
herein die Anzeigen ausschließlich bestritten wissen wollte. Damit hielten
sie sich in der Linie nüchterner Rationalität, die MÜNcHHAusEN seiner Schöp-
fung gewiesen hatte und die - unter Abstrich alles Utilitarischen -- eine
Komponente des Göttinger akademischen Wesens bis heute geblieben ist.
Darüber hinaus hat auch Göttingen einen großen Anteil an der Bildungs-
aufgabe der Zeit erfüllt. In Polyhistorie und Raison, späthumanistischem
Klassizismus und Aufklärung - HARNACK hat diese Welt unübertrefflich
geschildert - haben die Akademien in ihrer übernationalen Sprache, Berlin
französisch bis 1812, Göttingen lateinisch bis 1837 und 1840, ihr deutsches
Publikum in die geistige Weltlage hineingeführt und den Raum für die klas-
sische Philosophie und für die deutsche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
geradezu erst geschaffen.
Und endlich: die Hauptträger dieser Leistung sind in Göttingen nach
HALLER die Philologen gewesen, voran MICHAELIS und HEYNE. Auch sie
noch nicht im Sinne spezialisierter Disziplinen des 19. Jahrhunderts, sondern
überkommener universaler Wissenschaft. Aber sie sind die Wegbereiter der
großen philologisch-historischen Wissenschaft der Folgezeit gewesen, nicht
nur für Göttingen.
Damit ist zugleich die Frage beantwortet, ob in der Göttinger Societät
und ihrer organischen Eingliederung in die Georgia Augusta die HUMBOLDT-
sehe Universität der untrennbaren Verbindung von Forschung und Lehre
vorgebildet, ja vorweggenommen ist. Mit Recht hat man sich in Berlin von
1807 bis 1811 an dem Göttinger Vorbilde orientiert. Darum ist dieser neue
Lebenssinn der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts doch anderer Her-
kunft und anderen Wesens, als jene Göttinger Personalunion 2 • In Göttingen
eine Veranstaltung eines klugen rationalistischen Universitätsgründers, ist
sie hier schon im 18. Jahrhundert über diesen ihren Ursprung weit hinaus-
gewachsen. Aber sie blieb, was sie war: vermöge des HALLERschen Anstoßes
eine der eigenartigsten und bedeutendsten Institutionen des deutschen Geistes-
lebens des 18. Jahrhunderts. Aber eben doch des 18. Jahrhunderts - die
von der neuen Philosophie des Geistes getragene neue Universität und Aka-
1 ROETHE S. 580.
2 Dieser Abstand nicht deutlich genug bei LEO a. a. O. S. 199 und in seiner Festrede
zum 9. November 1901, Nachrichten von der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen. Geschäft-
liche Mitteilungen 1901, H.2. S.118f.
x RUDOLF SMEND:

demie der Berliner Reformzeit hat sich in Göttingen erst später und allmäh-
lich und nie ganz vollständig durchgesetzt.

Der Durchbruch des Neuen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die ent-
scheidende Krisis in der Geschichte der deutschen gelehrten Körperschaften.
Im philosophischen Begriff und in der geistigen Wirklichkeit wird die
Wissenschaft verstanden, ergriffen und realisiert als eine der obersten Lebens-
formen des Geistes, in bisher unerhörter innerer Einheit und Freiheit, Gültig-
keit und Lebensmächtigkeit. Die Lebenskräfte der alten Akademien, spät-
humanistisches und Nützlichkeitsdenken, Stoffgelehrsamkeit und Aufklärung
verloren ihre Geltl111g, und damit auch die gelehrten Köperschaften, sofern
sie vOn Aer~n Dienst den eigenen Daseins· und Geltungsanspruch herleiteten.
Dem entspricht das allgemeine Urteil dieser Zeit. So hat WILHELM GRIMM
geurteilt (an Goethe 20. September 1816): "Von Akademien kommt viel-
leicht auch Beistand (für den Plan der Monumenta Germaniae), nur ist
man an etwas erstarrtes und lebloses bei ihnen schon seit langen Zeiten
gewöhnt"l. Bestimmter lauten die Urteile im unmittelbaren Vergleich der
alten Akademie mit dem neuen Leben. Im Entwurf BOEcKHs für das
Corpus Inscriptionum 1815 heißt es: "Es ist leider nur zu wahr, daß die
deutschen Akademien noch gar nichts geleistet haben, und alle Fortschritte
der Wissenschaften durch die Kraft der einzelnen Gelehrten, wesentlich auf
Universitäten, gemacht worden sind"2. Und SAVIGNY bezeichnet 1818 die
Berliner Akademie, der er angehört, als eine "erzwungene Abhandlungs-
fabrik" 3.
Abgesehen vorn Schwund ihrer geistigen Grundlagen mußten die gelehrten
Gesellschaften nunmehr auch als technisch entbehrlich erscheinen. Wenn der
Universitätslehrer grundsätzlich aufhörte, nur Lehrer zu sein, und künftig
grundsätzlich nur als Forscher legitimiert sein sollte, dann wurden die Aka-
demien als Sitze der Forschung neben den Universitäten überflüssig, vollends
angesichts nunmehriger Universitätsgründungen neben ihnen am gleichen Ort
(Berlin 1811, München 1826)4. Auch die mit der Aufklärung und dem Poly-
historismus der Vergangenheit verbundene Sozialität der gelehrten Arbeit,
wie sie im gelehrten Gespräch der Akademien organisiert war, mochte an-
gesichts der fortschreitenden Spezialisierung und der damit gegebenen Iso-
lierung moderner kritischer Wissenschaft als eine vergangene Lebensform des
wissenschaftlichen Geistes .empfunden werden. Allerdings wurde auch die
neue Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gerade in ihren frühen Lebensstufen
von Arbeitsgemeinschaften höchsten Ranges und Gehalts getragen. Die Ge-
meinschaft wissenschaftlichen Lebens und Wirkens unter F. A. WOLF,
1 Bei HARNACK. Bd. 1/2. S. 677. Anm. 2.
2 Bei M:A:RNACK. Bd. 1/2, S. 668.
3 Bei) !;IAI.t.NACK. : Bd. 1/2. S. 687.
4 In dieser Richtung HUMBOLDTS Urteil 1810. HARNACK. S. 595, Anm.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XI

NIEBUHR, SCHLEIERMACHER, W. V. HUMBoLDTund SAVIGNyl kennt kaum ihres


gleichen in der Wissenschaftsgeschichte - aber sie bestand ohne Zusammen-
hang mit der Akademie, deren Mitglieder ihre Träger doch sämtlich waren.
Derselbe Vorgang wiederholt sich in bescheidenerem Maße im Göttingen der
dreißiger Jahre: was sich hier in der Gemeinschaft der Brüder GRIMM mit
OTFRIED MÜLLER und DAHLMANN, mit GERVINUS und den anderen Trägern
junger philologisch-historischer Wissenschaft zu entwickeln begann und dann
weithin durch die Vertreibung der Göttinger Sieben und die Zerstreuung
des bisherigen Kreises zerstört wurde, das hat sich ganz und gar außerhalb
der Societät abgespielt. Die Brüder GRIMM, DAHLMANN, EWALD, WEBER
waren ihre Mitglieder, aber ihre Namen erscheinen bis 1837 kaum in den
Schriften der Gesellschaft, und vielleicht hätte sich das auch ohne das Er-
eignis von 1837 nicht wesentlich geändert. Der wissenschaftliche Strom hatte
sein Bett von den Akademien in die Universitäten verlegt und allenfalls in
engere Kreise dortiger Zusammenarbeit, und daraus wurde von BOEcKH bis
MOMMsEN und WILAMOWITZ immer von neuem der Schluß gezogen, daß seit
dem Beginn des 19. Jahrhunderts in der Einleitung und Durchführung grö-
ßerer wissenschaftlicher Unternehmungen das einzige Daseinsrecht der wissen-
schaftlichen Akademien liege.
In Wahrheit verläuft auch die Geschichte des wissenschaftlichen Lebens
und seiner Formen und Organisationen in Übergängen und nicht in der Ab-
lösung schroff ausschließender Alternativen. Es lag nur zum Teil an der
neuen geistigen Lage, und mehr an den besonderen Göttinger Verhältnissen,
wenn die erste Hälfte des Jahrhunderts in der Göttinger Societät stille Zeit
war - von 1814 bis 1840 sind abgesehen von den Anzeigen nur sechs Bände
Societätsschriften erschienen, und in ihnen kommt weniger der seit 1837
und seit dem Tode OTFRIED MÜLLERS geschwundene Anteil Göttingens an
der Führung der philologischen Fächer zum Ausdruck, als der der in stärkerer
rückwärtiger geistiger Kontinuität aufsteigenden mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Disziplinen 2.
Und doch ist das Fortleben der Göttinger Societät in diesen Jahrzehnten
nicht lediglich eine Sache des trägen Herkommens gewesen. Wenn auch das
schöne Denkmal, das JACOB GRIMM den deutschen gelehrten Gesellschaften
in der Berliner Akademierede über Schule, Universität, Akademie 1849 ge-
setzt hat, im einzelnen überwiegend Berliner Züge trägt, so ist doch das Ge-
samtbild des organischen Aufbaus der drei Anstalten und damit die krönende
Rolle der Akademie für ihn tiefgewurzelte, offensichtlich schon von Göttingen
her begründete Überzeugung. Und ein anderer von den Göttinger Sieben,
WILHELM WEBER, hat nach seiner Verdrängung aus Göttingen ein eindrück-
1 HARNACK, Bd. 1/2, S. 629.
2 Hier und sonst bin ich GÖTZ VON SELLES persönlicher Mühewaltung und eindringender
Sachkunde für stoffliche Nachweisungen und sachliche Anregung verpflichtet.
XII RUDOLF SMEND:

liches praktisches Zeugnis für die Göttinger Societät abgelegt, in deren Schrif-
ten sein Name doch bisher kaum erschienen war: indem er 1854 seinen Anteil
an den von dem "Leipziger Komitee" zur Unterstützung der Göttinger
Sieben aufgebrachten Mitteln für die Zwecke einer künftigen Leipziger Aka-
demie der Wissenschaften zur Verfügung stellte, setzte er eine wichtige Be-
dingung für die erfolgreiche Weiterführung des gerade damals von endgül-
tigem Scheitern bedrohten Gründungsplanesi. Zwei stolze Zeugnisse für die
damalige Geltungskraft der Idee der Akademie und für die Lebendigkeit
der damaligen Göttinger Societät, von der JACOB GRIMM wie WILHELM WEBER
ausgingen.
Leben und Arbeit der Akademie gehen durch die Jahrzehnte des 19. Jahr-
hunderts ihren stillen Gang. An die überwältigend stolze Reihe der GAUSS-
schen Publikationen schließen sich die von RIEMANN, HAUSMANN und WÖH-
LER, RUDOLF WAGNER und HENLE, auf historisch-philologischer Seite die
methodische Arbeit von WAITZ und der eigentümlich leuchtende Klassizis-
mus von ERNST CURTIUS, um nur einige Namen aus den Bändereihen heraus-
zugreifen. Aber es ist stille Zeit, beendet durch die Forderungen einer neuen
Generation und die Reform von 1893.
Es hätte nicht so zu sein brauchen. Das wissenschaftliche Göttingen der
dreißiger Jahre, das mit seinem wissenschaftlichen und menschlichen Reich-
tum immer neue Untersuchungen und Quellenpublikationen herausfordert,
versprach eine große Geschichte und einen dauernden hohen Rang von Uni-
versität und Akademie über Jahrzehnte hinaus. Das Jahr 1837 hat dem ein
Ende gemacht, und Jahrzehnte lang werden auch die amtlichen Stellen nicht
müde, an diese Wurzel allen Übels in der seitherigen Göttinger Universitäts-
geschichte zu erinnern. Man braucht sich nur den Anteil der Brüder GRIMM
an den Berichten der Berliner Akademie zu vergegenwärtigen, um zu ermessen,
was auch die Göttinger Akademie verlor, indem sie genötigt wurde, mit der
Georgia Augusta aus der ersten Reihe der gelehrten Körperschaften Deutsch·
lands und der Welt zu weichen.
Als die Gesellschaft der Wissenschaften ihre erste Jahrhundertfeier be-
ging, konnte sie an diesem für ihr Schicksal und ihre damalige Lage grund-
legenden Ereignis nicht vorübergehen. In seiner Festrede 2 in der Aula der
Universität am 29. November 1851, auf den die Feier wegen des drohenden
Ablebens des Königs vom 10. November verlegt worden war, gedachte der
Physiologe RUDoLF WAGNER mit besonderem Nachdruck dieses Jahres und
"jener schmerzlichen Ereignisse, welche unser Land auf das tiefste erschütter-
ten und in ganz Deutschland, ja in Europa widerhallten". Ich gebe die
weiteren Worte wieder, nicht wegen ihres Tatsachengehaltes und ihrer Urteile,
1 Zur 50jährigen Jubelfeier der König!. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig
am 1. Juli 1896, S. IX, XII.
2 WAGNER, RUDOLF: Abh. kg!. Ges. Wiss. Göttingen 5 (1853).
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XIII

sondern zur Veranschaulichung - statt aller Versuche begrifflicher Defi-


nierung -, wie unsere Körperschaft damals ihren Öffentlichkeitsanspruch
und ihre Öffentlichkeitspflicht verstand. "Die Universität verlor sieben ihrer
ausgezeichnetsten Männer, von denen fünf unserer Societät der Wissenschaften
als ordentliche Mitglieder angehörten l . Und welche Mitglieder? Alle Akade-
mien und gelehrten Gesellschaften Europas rechnen sie zu den Ihrigen. Ihre
Namen gehören zu den geachtetsten der Welt. Es war ein Schlag für die
Universität, für die Societät, dessen Nachwirkung wir noch heute empfinden.
Jene Regierungshandlung, welche in unserem Lande das Bestehende um-
stürzte und das öffentliche Rechtsbewußtsein alterierte, hatte noch andere
schwere Folgen; es war ein mitwirkendes Moment zur Vorbereitung jener
ungeheuern Erschütterung, die uns die gähnenden Abgründe der Gesellschaft
geöffnet hat, an deren Rande wir uns heute noch befinden, und die alles, was
wir beschaffen, alle Kultur, alle Wissenschaft und Kunst in ewige Nacht zu
begraben drohen. Über diese Tatsache lassen Sie uns keine Schminke legen.
Und sollte ich nicht davon sprechen dürfen? Habe ich doch einst gegen
unseren König selbst, als ich ihm nahen durfte, der Wahrheit nichts vergeben,
wie ich ihm die Lage der Universität im Jahre 1845 schilderte und die trau·
rige Nachwirkung des Jahres 1837."

Die stillen Jahre der oft beschriebenen steifen und exklusiven Hofrats-
universität, bewegt allenfalls durch die Spannung zwischen dem großdeutsch
und dem preußisch gesonnenen Teil des Lehrkörpers, waren auch in der Ge-
sellschaft der Wissenschaften stille Zeit. Die Reihe der LAGARDESchen Gut-
achten zur Reform der Gesellschaft von 1885 bis 1889 läßt in ihrer Mischung
von Bedeutendem, Trivialem, Utopischem und Peinlichem doch die Schwächen
der Patientin erkennen: bei aller achtenswerten Leistung persönliche Über-
alterung und einen gewissen sachlichen Leerlauf. Freilich war auch im ganzen
die wissenschaftliche Lage eine andere, als die jenes wissenschaftlichen Früh-
lings der Berliner Reformjahre und der Göttinger Zeit ÜTFRIED MÜLLERS
und der Brüder GRIMM. Man näherte sich der Epoche, die MOMMSENS LEIB-
NIz-Rede von 1895 als die der "alternden Pallas Athene" bezeichnet hat.
"Unser Werk lobt keinen Meister und keines Meisters Auge erfreut sich an
ihm; denn es hat keinen Meister, und wir sind alle nur Gesellen": so charak-
terisiert er die nüchterne Unpersönlichkeit der damaligen Arbeit der Berliner
Akademie. Immerhin gab es in Berlin Aufgaben, im Gegensatz zu Göttingen.
"Wir leben Alle von Pflichten. Auch Institute leben von Pflichten. Gebe
man der Gesellschaft der Wissenschaften ... Aufgaben ... ": das ist der
gesunde Kern von LAGARDES Kritik 2.

1 Beide GRIMM, DAHLMANN, EWALD, WILHELM WEBER.


2 LAGARDE, P. DE: Die königliche Gesellschaft der Wissenschaften betreffend. Ein Gut-
achten (das erste, von 1885) Göttingen 1887, S.6.
XIV RUDOLF SMEND:

Lediglich mit der dafür erforderlichen Dotation wäre es allerdings nicht


getan gewesen, und die Ernennung LAGARDEs zum ständige!! Sekretär, die
er anfangs forderte, wäre weder ihm noch der Gesellschaft zum Guten aus-
geschlagen. Eine Erneuerung der Akademie konnte nur getragen werden von
einer neuen wissenschaftlichen Generation - eben der, die in diesen Jahren
nicht nur in Göttingen jene große Epoche des wissenschaftlichen Lebens
einleitete, die etwa das Menschenalter um die Jahrhundertwende umfaßt.
Ihren Beginn mag man für die Gesellschaft ansetzen mit dem Eintritt von
FELIX KLEIN und WILAMOWITZ als Ordentliche Mitglieder (1887 und 1892).
Nun wäre auch ohne formelle Reform die Akademie mindestens ein Teil-
schauplatz jenes reichen und stolzen Lebens geworden, dem Göttingen seine
Weltstellung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern verdankt,
das aber auch im philologisch-historischen Bereich zu den Höhepunkten der
Wissenschaftsgeschichte überhaupt gehört. Aber es war selbstverständlich,
daß diese Bewegung sich auch der offenen Frage der Gesellschaft annahm.
KLEIN und WILAMOWITZ entwarfen den Reformplan, und ihnen und ihrem
sich verjüngenden Kreise konnte ALTHOFF in den neuen Königlichen Statuten
von 1893 die Neuordnung erwirken. Die neue Organisation bedeutete gegen-
über der bisherigen Erstarrung in Bestand und Leitung neue Möglichkeiten
der Ergänzung und der inneren Belebung. Die bescheidene Dotation be-
deutete die Verpflichtung, entsprechende wissenschaftliche Aufgaben aufzu-
greifen und dauernd zu erfüllen - auch dies ein Stück verpflichtender Be-
lebung im LAGARDESchen Sinne. Damit war der Ort der Gesellschaft im
Ganzen der Organisation der 'Wissenschaft neu bestimmt. Sie stand nunmehr
endgültig ganz auf eigenen Füßen, vor allem der Universität gegenüber.
Erst jetzt trat sie als Korporation endgültig in ihre unabhängige Rechtslage
eigenen Rechts - erst jetzt hörten ihre Schriften, vor allem die Nachrichten,
aber auch die Anzeigen, endgültig auf, zugleich Organe der Universität zu
sein - erst jetzt verlor ihre Devise "fecundat et ornat" auch von Rechts
wegen endgültig ihre ausschließliche Ausrichtung auf den Dienst an der
Georgia Augusta, den seinerzeit HALLERS Eröffnungsrede in aller Schärfe
als den Sinn dieses Leitworts proklamiert hatte. Diese Emanzipation be-
gründete anderseits nunmehriges uneingeschränktes Einrücken in die Reihe
der Schwesterkorporationen, in gleicher Freiheit und gleicher, wenn auch
bescheidener, Fähigkeit zur Beteiligung an gemeinsamen Aufgaben. Ohne
die Reform von 1893 ist die Einordnung der Gesellschaft in das deutsche
Kartell und in die internationale Assoziation der Akademien (1892, 1900)
nicht zu denken. Diesen Eingliederungen und der damit in mancher Hin-
sicht gegebenen Angleichung hat die Gesellschaft fünfzig Jahre später noch
das Opfer ihres Namens und ihrer Amtsbezeichnungen gebracht, nicht
ohne schmerzliche Bedenken gegenüber dem technischen Gesichtspunkt, daß
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. xv

die alten Worte "Gesellschaft" und "Sekretäre" im geschäftlichen, auch im


internationalen Verkehr vielfach nicht verstanden wurden.

Dotation, eigene wissenschaftliche Unternehmungen, und Mitwirkung an


kartellierten und internationalen wissenschaftlichen Unternehmungen: das
war das in Göttingen augenfällig Neue. Es lag nahe, darin auch das Wesen
der Reform, zugleich die nunmehr wesentliche Aufgabe der Akademien,
endlich den Grund der neuen Blüte der Göttinger Gesellschaft zu finden. So
hat WILAMOWITZ in seiner Berliner Antrittsrede als das Ergebnis seiner
Göttinger Akademiejahre die Überzeugung ausgesprochen, "daß nur die
Organisierung wissenschaftlicher Arbeit in der Akademie und weiterhin in
der Verbindung der Akademien diesen Körperschaften das Existenzrecht ver-
leiht 1 ". In seiner Antwort fand VAHLEN WILAMOWITZens Verdienst um die
Göttinger Gesellschaft im wesentlichen in der Eröffnung der Möglichkeit
organisatorischer Leistung: "daß die in Enge der Verhältnisse schon fast ver·
kümmernde Anstalt unter dem Zufluß reicherer Mittel zu frischem Auf-
blilhen sich erhob 2 ". Und als WILAMOWITZ die Göttinger Gesellschaft bei
ihrem Jubiläum 1901 im Namen der Berliner Akademie begrüßte, setzte er
"das neue Hervortreten und den aufsteigenden Kurs der Gesellschaft" in
engste Beziehung mit der neuen Ära wissenschaftlicher" Weltpolitik" 3.
Gewiß lag hierin das Neue, ein entscheidender neuer Lebensantrieb
und eine neue Rechtfertigung gerade auch für die bisher in dieser Hinsicht
vernachlässigte Göttinger Gesellschaft. Aber darum sollte und konnte sie
doch nicht ihren eigentlichen Schwerpunkt aufgeben und damit ihr Wesen,
die eigentlichen Wurzeln ihrer Kraft verleugnen. Es war allerdings wohl
nicht ganz überflüssig, wenn LEOS Jubiläumsrede solchen Mißdeutungen
der neuesten Entwicklung und insbesondere der Göttinger Reform ent-
gegentrat. "Die persönliche Forschung ihrer Mitglieder ist doch das Le-
benselement jeder gelehrten Gesellschaft, die Bedingung, in der ihr inneres
Gedeihen ruht. Das gute Glück bewahre jede Akademie vor einer äußeren
Blüte und extensiven Wirksamkeit, die nicht durch intensive Arbeit ver-
ursacht ist. Die Tüchtigkeit unserer Existenz muß in unseren Nachrichten
und Abhandlungen zunächst zutage treten; das ist der Boden, auf dem
unsere Unternehmungen gedeihen sollen "4.
Die Geschichte der Gesellschaft selbst ist die beste Widerlegung solch
einseitigen Mißverständnisses. Wohl niemals während der 200 Jahre ihres
Bestehens sind ihre Verhandlungen so gewichtig, ihre Schriften so reich an
Abhandlungen und Werken hohen und höchsten Ranges und dauernder
1 WILAMOWITZ: Sitzgsber. Berlin 1900 I, 675.
2 a. a. O. S.677.
3 WILAMOWITZ: Nachrichten von der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen, Geschäftliche
Mitteilungen 1901, H.2, S.96.
4 a. a. O. S. 123.
XVI RUDOLF SMEND:

Bedeutung gewesen, wle 10 diesen Jahrzehnten. Mochten auch vielfach die


berühmten Göttinger Gelehrtenfreundschaften jener Tage und andere engere
Arbeitskreise die eigentlichen produktiven Träger wissenschaftlicher Gemein-
schaftsarbeit sein - ihre Ergebnisse mündeten doch weithin in den Sitzungs-
saal der Gesellschaft und in ihre Abhandlungen und Nachrichten. Nicht
Aufzählung von noch so viel Namen und Werken, nur persönliche Erinnerun-
gen, wie sie etwa in so manchem Nachruf der" Geschäftlichen Mitteilungen"
vorliegen, können ein Bild geben von Höhe und Reichtum des damaligen
Göttinger wissenschaftlichen Lebens und von dem Einschlage einer indivi-
duellen Totalität, den das Dasein, die Verhandlungen, die Schriftenreihen
der Gesellschaft für dieses Leben bedeuteten, dem die Kleinheit des Orts,
die Enge des Schauplatzes noch eine besondere anschauliche Intensität ver-
lieh. Die Älteren unter uns, die auch nur mittelbar Zeugen jener Tage ge-
wesen sind, wissen um den einzigartigen warmen Glanz jenes kleinen aber
stolzen geistigen Reiches.
Es folgten stillere Zeiten, in denen bemerkenswerterweise der erste Welt-
krieg und sein Ausgang keine starke fühlbare Erschütterung der Arbeit be-
deutet hat. Um so schwerer waren die Schicksale der Folgezeit: die Eingriffe
in den Bestand der Gesellschaft, und der Druck eines Regimes, das den wissen-
schaftlichen Geist verachtete und zu verfälschen suchte, seine Unabhängigkeit
bekämpfte, die grenzüberspringende Gemeinschaft der wissenschaftlichen Ar-
beit verleugnen mußte. Ob die Gesellschaft mit ihrer Art des Widerstandes
immer den rechten Weg gefunden hat, wird nur eine spätere Zeit entscheiden
können. Die Wunden jener Zeit sind vielfach noch nicht geheilt, und mit
dorther rührenden Hemmungen ihrer Arbeit hat die Akademie auch heute
noch zu ringen.

Die eigenartige Stellung der Göttinger Societät beruhte, von außen ge-
sehen, ursprünglich in ihrer ganz besonderen Einordnung in den Staat. Im
politischen Vakuum der hannoverschen Adelsrepublik entstanden, ist sie
niemals in irgendeine nähere Beziehung zum Staatsoberhaupt oder zur poli-
tischen Zentrale getreten. Ihr ist niemals ihre Sprache vorgeschrieben worden,
wie der Berliner Akademie, in ihr wurden keine Abhandlungen eines könig-
lichen Mitglieds verlesen, ihr wurde nie die Wahl eines Lessing verargt oder
eines GelIert verweigert, zu ihr hat nie ein Monarch eine persönliche Bezie-
hung gesucht, wie Friedrich der Große, wie Ludwig 1., wie Friedrich Wil-
helm IV. zu der ersten gelehrten Körperschaft ihrer Hauptstadt. Es war in
den Anfängen wohl unvermeidlich, daß man sich in dem Göttingen der
Grafenbänke in den Hörsälen wenigstens mit der dekorativen Mitgliedschaft
von "Standespersonen" noch irgendwie an die Gesellschaftsordnung des Spät-
barock anhängte. Letzte derartige Schnörkel waren die Ehrenmitgliedschaft
Ferdinands von Braunschweig 1768 bis 1780 und dessen Ehrenpräsidentschaft
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XVII

1780 bis 1792, und 1802 die Ehrenpräsidentschaft Adolf Friedrich Herzogs von
Cambridge, des später so beliebten Vizekönigs, der aber trotz seiner Göttinger
Studienjahre zur Societät ebenso wenig in innerer Beziehung stand, wie der
immerhin so viel geistigere Sieger von Minden, der Oheim der Anna Amalia.
Dann schloß das neue geistige Selbstgefühl derartige Zugeständnisse aus.
Die unverhältnismäßig starke Eingliederung in die Universität schützte
die Societät gegen alle Heteronomien politischer und gesellschaftlicher Art.
Unvermeidlich bestand die grundsätzliche Einordnung in den Staat,
inhaltlich bestimmt nach dem jeweiligen Staatsrecht. Das bedeutete im
Territorialstaat des 18. Jahrhunderts die Abhängigkeit von der Privilegien-
hoheit des Landesherrn, vermöge deren jeder Korporation ihre konkrete
Rechtslage besonders zugewiesen wurde. Sie bedeutete im rationalen Patri-
archialismus des MÜNCHHAUsENschen Systems eine oft geschilderte, bis ins
Kleinste gehende Fürsorge. In der fortschreitenden Lockerung der Staats-
aufsicht nach hannoverschem und schließlich preußischem Universitätsrecht
blieb die finanzielle Abhängigkeit als das stärkste Machtmittel der Regierung
übrig. Die empfindlichsten Übergriffe des Staats in der Geschichte der Ge-
sellschaft waren solche der westfälischen Fremdherrschaft und des Dritten
Reichs.
Die entscheidende Wurzel der Unabhängigkeit der Akademien besteht
darin, daß diese Unabhängigkeit eine organisatorische Folgerung aus dem
Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist. Ihre praktische Gewähr findet sie
heute nicht zuletzt in der internationalen Einordnung der Akademien und
dem internationalen Interesse an der Würde ihrer Unabhängigkeit. Selbst
gegenüber dem nationalsozialistischen Regime hat sich diese Unabhängigkeit
unverhältnismäßig länger und erfolgreicher verteidigen lassen, als die der
Hochschulen. Hier hat sich herausgestellt, daß die Rechtsstellung der Aka-
demien ein Eckstein der wissenschaftlichen, ja überhaupt der geistigen Frei-
heit ist. Mag im Alltage der Akademiearbeit die Autonomie ihrer wissen-
schaftlichen Unternehmungen als die wichtigste Folgerung ihrer Unabhän-
gigkeit erscheinen, so sollte doch nach den Erfahrungen im Dritten Reich
ihre grundsätzliche Bedeutung in den Stürmen der Gegenwart nicht ver-
gessen werden.

Manches von der Eigenart der Göttinger Akademie beruht auf ihren ört-
lichen Verhältnissen. Sie ist für ihre Ergänzung in besonderer Weise an den
Bestand der Georgia Augusta gewiesen. Der kleinstädtische Raum bedingt
einen anderen Rhythmus ihrer Arbeit, als der der Großstadtakademien sein
muß. Je begrenzter ihr Raum, um so mehr bestand und besteht in ihr die
Möglichkeit eines gewissen Personalismus: von ihren frühen Zeiten, in denen
ihre Geschichte beinahe zusammenfällt mit der ihrer Häupter, HALLER,
MICHAELIS, HEYNE, bis hin zu ihrer jüngsten Vergangenheit, in der
XVIII RUDOLF SMEND:

wenigstens ihr Stil noch von einzelnen bestimmt wurde, von ERNST EHLERS
und mehr noch nach ihm von EDwARD SCHRÖDER - in der in ihr besonders
gepflegten Übung, das geistige Bild ihrer verstorbenen Mitglieder sorgfältig
festzuhalten - in den wissenschaftlichen Unternehmungen, die dem Lebens-
werk eines ihrer Großen gewidmet sind, wie der Ausgabe der Werke von GAUSS,
oder die auf eine ganz besondere Persönlichkeit zugeschnitten sind, wie die
Ausgabe der älteren Papsturkunden auf die einmalige Persönlichkeit PAUL
KEHRS.

Das Problem der Akademie grundsätzlich zu stellen, wäre wohl nie Göt-
tinger Art gewesen. Weder im Sinne grundsätzlicher Kritik!, noch im Sinne
utopischer Überschätzung, in der LAGARDE die Neugestaltung Göttingens
nur von der Gesellschaft der Wissenschaften aus, von ihrer Erneuerung aber
einen wesentlichen Beitrag zur Neugeburt der Nation erwartete 2, oder roman-
tischer Überbewertung, wie in jACOB GRIMMS Akademierede von 1849. Man
hat in Göttingen wohl auch immer um die Grenzen der Akademie gewußt,
darum, daß ihre Sitzungen für Mitteilungen regelmäßiger Fortschritte der
Wissenschaft, ihre Unternehmungen für die Erfüllung übersehbarer Aufgaben
bestimmt sind, daß sie aber nicht der Schauplatz für die großen Würfe und
die radikalen Infragestellungen von Arbeitszielen und Methoden ist. Man
hat auch hier wie anderswo die sehr verschiedene Art der Einordnung der
Mitglieder in die Arbeit der Akademie beobachtet: von dem Falle so über-
wiegender Arbeitsorientierung eines Mitgliedes auf die Vorlage in der Aka-
demie hin, daß darüber seine übrigen wissenschaftlichen und Lehraufgaben
zu kurz kamen, bis zu dem entgegengesetzten Grenzfall, zu dem sich WILA-
MOWITZ in seiner Berliner Antrittsrede bekannte, "daß jemand, der also
arbeitet, für sich der organisierten akademischen Arbeit kaum bedarf" -
und die ganze Fülle möglicher Zwischenstufen.

Das Problem der Einordnung des einzelnen Mitgliedes in die Akademie


und damit zugleich die Sinnfrage der Akademie selbst ist im Grunde ein
sittliches Problem. Das wird in aller Naivität deutlich etwa in HEYNES
rasch hingeworfenem Gutachten von 1769 zur Frage, wie es möglich sei,
der völlig zerrütteten Societät "ein neues Leben, einen Stoß und Impulsion
zur Tätigkeit und zum Eifer, zu geben, ihr einen Esprit du Corps einzuflößen
und, mit Verbannung der Vucn, die sich jeder für sich machen könnte, ein
gemeinschaftliches Interesse und einen gemeinschaftlichen Ruhm zum Ge-
sichtspunkt aufzustellen" 3. '

Es würde eine reizvolle Aufgabe sein, in der Geschichte der Göttinger


Gesellschaft der Wissenschaften den Wandel der Fassung des Problems durch
1 Statt vieler: LUDWIG CURTIUS, Deutsche und antike Welt, 1950, S.324.
2 Gutachten 1887, S.6, 14.
3 LEO: HEYNE, Festschrift S. 178.
Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften. XIX

den Wandel ethischer Denkweisen hindurch zu verfolgen, von HEYNE über


eine verbreitete Denkweise der Art, wie sie die schlichte Anmut von GOETHES
Eröffnungsrede in der Freitagsgesellschaft von 1791 unübertrefflich ausdrückt,
bis hin zu den heute unter uns geläufigen Begründungsweisen der gegen-
seitigen Anregung und Kontrolle, der gegenseitigen Erinnerung an die Pflicht
zu strenger Methode und zur Arbeit im Sinne überfachlicher Einheit der
Wissenschaft. Manche Akademien fassen das Problem konkret, indem sie
sich regelmäßig eines bestimmten geistigen Erbes erinnern, wie die Berliner
Akademie an ihrem LEIBNIz-Tage, und zwar in dem Sinne, daß es nur in
Gemeinschaft verwaltet werden könne. So setzt MOMMsENs LEIBNIz-Rede
von 1895 von einem legitimen Mitgliede der Berliner Akademie voraus, daß
es "nur mit Inbegriff seiner Kollegen sich als Nachfolger LEIRNIZenS bezeich-
nen darf". In Göttingen ist sfit den Tagen HALLERS ein reiches und seitdem
vielfach gemehrtes Erbe anzutreten. Es ist die Meinung der Göttinger Aka-
demie, daß dies Erbe ihr Dasein und ihre Arbeit rechtfertigt und erfordert.

Eingegangen am 11. Oktober 1951.


Die Gültigkeitsgrenze der Theorie
der idealen Kristalle und ihre Uberwindung.-
Von
MAX BORN, F. R. S., Edinburgh.

Einleitung.
Die Theorie der idealen Kristalle, an der ich seit mehr als 40 Jahren
gearbeitet habe, ist trotz mancher Erfolge weder logisch noch empirisch
befriedigend. Die wichtigsten Einwände sind die folgenden:
Die Schwingungen des idealen Gitters stellen ein quantenmechanisches
System von makroskopischen Dimensionen dar; denn die Normalkoordinaten
sind die Amplituden von Wellen, die sich durch das ganze Gitter erstrecken.
Das scheint eine bedenkliche Annahme. Allerdings wird eine Milderung erzielt
durch DEBYES Theorie der Wärmeleitung [1], die darauf beruht, daß, die
durch Anharmonizität der Gitterkräfte bewirkte Streuung der Wellen berück-
sichtigt wird. Man kann eine freie Weglänge für den Energietransport defi-
nieren, die gewissermaßen eine Grenze setzt für die Idealität des Gitters und
die Kohärenz der Wellen. Neuere Abschätzungen dieser Weglänge durch
PEIERLS [2], POMERANCHUK [3] und KLEMENS [4] haben zu komplizierten
Formeln geführt, die die Erfahrungen über Wärmeleitung gut darstellen, aber
weder eine prinzipielle Lösung der genannten logischen Schwierigkeit, noch
eine Erkärung andrer Tatsachen liefern, nämlich jene Eigenschaften der
Festkörper, die man als strukturempfindlich bezeichnet. Es sind die praktisch
wichtigsten Eigenschaften, wie Plastizität, Reißfestigkeit, Versetzungen usw.
Zu ihrer Erklärung hat man eine Theorie der Realkristalle entwickelt, die
mit der Theorie der idealen Kristalle nur in lockerer Berührung steht und
ganz andre, semi-empirische Methoden benutzt. Dies ist eine unbefriedigende
Situation; man muß verlangen, daß die Gültigkeitsgrenzen der idealen Theorie
aufgewiesen werden und die Behandlung der Realkristalle logisch an sie
angeschlossen wird.
Diese Grenze der idealen Theorie glaube ich schon vor etwa 5 Jahren
gefunden zu haben [5]; es hat sich herausgestellt, daß sie strenggenommen
nur für submikroskopische Blöcke gilt, deren lineare Dimensionen kleiner
sind als etwa 1000 Atomabstände (entsprechend etwa 1000 A). Ich vermutete
damals, daß es eine Art Sub-Mosaikstruktur von dieser Größenordnung in
allen Festkörpern geben muß und daß bei der Bildung kleiner fester Teilchen
(Kolloide) dieselbe Länge eine ausgezeichnete Rolle spielt. Inzwischen sind
Göttinger Akademie·Festschrift.
2 MAX BORN:

Belege für diese Vermutung beigebracht worden. Die bei der Dehnung von
Metalldrähten eintretende plastische Deformation scheint auf der Bild ung
von Schichten dieser Dicke zu beruhen. R. POHLS Versuche über photo-
chemisehe Prozesse in Kristallen führen auf eine Sub-Mosaikstruktur.
R. FÜRTH hat durch indirekte Überlegungen [6] und durch direkte Ver-
suche [7] mit Lichtstreuung die Existenz dieser Struktur sehr wahrscheinlich
gemacht. Andrerseits ist die Existenz sehr großer, nahezu vollkommener
Einkristalle sichergestellt.
Um diese bei den Ergebnisse in Einklang zu bringen, kann man annehmen,
daß bis zur Grenze von etwa 1000 A die Kräfte zwischen den Teilchen im
Kristall von atomarer Größenordnung sind und die höchste Symmetrie der
Anordnung hervorbringen, daß aber für größere Aggregate die Molekular-
bewegung eine Schwächung der Kräfte bedingt, wodurch leicht Störungen
des regelmäßigen Baus eintreten 1 :
Im folgenden werde ich zeigen, daß man die kinetische Theorie der Fest-
körper so aufbauen kann, daß ihre Gültigkeit nicht durch die Größe der
Gebilde beschränkt ist. Die Annahme von Einkristall-Lösungen der Grund-
gleichungen führt zu keinem Widerspruch und die Parameter des Gitters
lassen sich aus wohldefinierten Bedingungen bestimmen. Die Grundglei-
chungen enthalten aber einen Parameter (den man als Länge von der Ordnung
1000 Atomabstände ansehen kann), und es scheint daher durchaus möglich,
daß es andre Lösungen gibt, die eine Struktur jener Lineardimension zeigen.
Doch ist es mir noch nicht gelungen, hierfür einen Beweis zu erbringen.

I. Die Grenze für die Gültigkeit der üblichen Gitterdynamik.


Ein Molekül oder ein Kristall, angesehen als Riesenmolekül, ist ein gesetz-
mäßiges Gefüge aus Exemplaren einiger weniger Kerntypen und zahlreicher
Elektronen. Das übliche Verfahren zur Beschreibung eines solchen Systems
besteht darin, daß man zuerst die Kernbewegung vernachlässigt und die
stationären Zustände der Elektronen für ruhende Kerne bestimmt. Der
niederste Eigenwert der Elektronenenergie V, der eine Funktion der gewählten
Kernkoordinaten X ist, spielt die Rolle der potentiellen Energie für die Kern-
bewegung, die man in zweiter Näherung in folgender Weise erhält: Man
bestimmt zunächst die idealen (klassischen) Gleichgewichtslagen XO der Kerne
aus der Forderung, daß V (X) für X =Xo stationär ist, d. h. man bringt
die linearen Terme VI in der Entwicklung von V nach Potenzen von X - XO
zum verschwinden; sodann erhält man die Kernschwingungen aus einer
1 Ich mochte hier einen Gesichtspunkt erwähnen, der aus dem Rahmen der Physik
heraustritt. Es ist bekannt, daß die Virusmoleküle, die eine Art Vorstufe des Lebens bilden,
von der linearen Größenordnung 1000 A sind. Mann kann dies durch obige Annahme ver-
ständlich machen: Für kleinere Gebilde herrscht starre, kristallir.e Ordnung; für größere sind
Prozesse mit kleinem Energieumsatz möglich. Leben, das auf solchen Vorgängen beruht,
braucht also als Träger Einheiten von wenigstens dieser Größenordnung.
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 3

SCHRÖDINGER-Gleichung, in der die höheren Terme U2 +.o3 +··· als poten-


tielle Energie erscheinen. U2 bestimmt die harmonischen Schwingungen, U3 +
U4+ ... bestimmen die Abweichungen, die berücksichtigt werden müssen,
um thermische Ausdehnung und andre Effekte zu erklären.
Daß dies Verfahren formal richtig i5t, haben OPPENHEIMER und ich
seinerzeit [8] mit Hilfe der quantenmechanischen Störungstheorie gezeigt,
indem wir die Lösung der exakten SCHRÖDINGER-Gleichung des Problems
durch Entwicklung in eine Potenzreihe nach einer (gebrochenen) Potenz des
Verhältnisses Elektronenrnasse zu Kernrnasse gewannen.
Es ist klar, daß dies Verfahren nur gültig sein kann, wenn die Schwingungs-
amplituden der Kerne klein sind, d. h. natürlich: klein relativ zum mittleren
Gleichgewichtsabstand. Aber diese Bedingung führt sofort zu einer Schwie-
rigkeit, wenn man mit Kristallen von beliebiger Größe zu tun hat.
Um das zu sehen, erinnern wir uns an die schon oben gemachte Bemerkung,
daß die quadratischen Terme U2 keine thermische Ausdehnung ergeben, und
daß man daher mindestens die kubischen Terme Ua heranziehen muß. Die
Unsymmetrie der Funktion U2 Ua + + ... erzeugt eine Verschiebung der
mittleren Gleichgewichtslage in der Richtung vergrößerter Abstände. Eine
elementare Abschätzung dieses Effekts führt zu der wohlbekannten Formel
von GRÜNEISEN, die ich folgendermaßen schreiben will
(jE IX.
T = k e(T), (1.1)
wo k BOLTZMANNS Konstante ist, e(T) die mittlere Energie, bezogen auf eine~
linearen Oszillator, als Funktion der Temperatur T, und oe. der gewöhnliche
lineare Ausdehnungskoeffizient für Zimmertemperatur. Da für hOhere Tem-
peraturen 13 (T) ---+ I? T, hat man in der Tat Mlt---+ oe. T.
Die absolute Verschiebung M nimmt danach in einem Gitter mit wach-
sendem Abstand l zu; nach n Abständen, l = 12 a, wird M gerade gleich der
Gitterkonstanten a sein; man erhält aus (1)

12 = -;em.
k
(1.2)
Dies ist offenbar die Grenze der Gültigkeit des oben beschriebenen Näherungs-
verfahrens.
Würde nun e (T) beliebig klein für T ---+ 0, so würde diese Konvergenz-
grenze beliebig hoch rücken, und die Theorie wäre für große Kristalle gerettet
wenigstens für genügend tiefe Temperaturen.
Nun geht aber bekanntlich e(T) nicht gegen Null für T ---+ 0, sondern
gegen einen endlichen Wert, die Nullpunktsenergie. Wenn man, als rohe
Abschätzung, mit unabhängigen Oszillatoren rechnet, hat man e (T) ---+ 1 h 1~
für T---+o; also wird, mit e=hvlk,
2
n ---+ n o = --;:65.
1*
4 MAX BORN:

Selbst beim absoluten Nullpunkt bleibt also eine Schranke der linearen
Dimension bestehen, oberhalb deren die übliche Theorie versagt. Wie groß
ist dies n o ?
Bekanntlich ist für alle Festkörper IX ' " 10- 5 grad -1 und e '" 102 grad
(DEBYES charakteristische Temperatur), woraus sich

(1.4)

ergibt, eben die in der Einleitung genannte Zahl. Wenn man die tatsäch-
lichen Werte von IX und e benutzt, kann man leicht eine Tabelle aufstellen,
die das summarische Ergebnis (1.4) bestätigt. Unter den Metallen findet man
den kleinsten Wert von n o für Na, 11 0 ,-...,200, den größten für Mo, n o ,-...,'1540;
Diamant fällt mit n o'"" 800 nicht aus der Reihe, trotz des abnorm großen
e-Wertes, der eben durch ein kleines IX kompensiert wird.
Durch eine theoretische Analyse der Größen IX und e kann man die
Größenordnung des Ausdrucks (3) tiefer verstehen; es zeigt sich (worauf ich
V
aber nicht eingehen will), daß n o '" Mim, wo Meine Kernrnasse, m die
Elektronenrnasse ist. Für Kerne vom Atomgewicht A hat man daher
n o",.y2000A, also z.B. für A =45,11 0 "-'300.
Die übliche Theorie ist also nur gültig für Kristallstückehen von sub-
mikroskopischen Dimensionen. Es handelt sich jetzt darum, eine Theorie
aufzustellen, die von dieser Beschränkung frei ist. Daß dies nicht ganz
einfach ist, erhellt aus folgender Betrachtung: Die thermische Ausdehnung
beruht auf der Verschiebung der mittleren Lagen X k der Kerne gegen die
angenommenen Gleichgewichtslagen X~. Diese Verschiebung aber hängt,
außer von der Anharmonizität (Faktor IX), von den Frequenzen v ab, die
anscheinend erst definiert werden können, wenn die X~ gegeben sind (und
damit die Entwicklung der potentiellen Energie für kleine Abweichungen
von ~). Man kann aber die frühzeitige Festlegung der X~ umgehen und die
Rechnung so führen, daß die zur Beschreibung der Wärmebewegung dienenden
Oszillatoren nicht von vornherein mit dem wirklichen Kernsystem gekuppelt
werden und ihre Wahl bis zum letzten Schritt frei bleibt.

2. Elimination der Elektronenbewegung.


Um dies Programm durchzuführen, kann man nicht der Methode von
BORN und OPPENHEIMER [8] folgen, sondern muß die Elimination der Elek-
tronenbewegung auf eine allgemeinere Weise vornehmen.
Die HAMILToNsche Funktion des Gesamtsystems von N Atomen ist mit
offensichtlicher Bezeichnung,

'H= ~ L ~;;P:+ ~ L ~ p~+U(x,X).


k I
(2.1)
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre überwindung. 5

Es wird angenommen, daß das Problem für feste Kerne mit der HAMILTON-
Funktion
11° = ~ L -;;-p~ +U(x, XO) (2.2)

gelöst ist, d.h. daß die Lösungen E,:, IPn(x,XO) der SCHRÖDINGERSchen
Gleichung
(J-i 0 - E~) IPn = 0 (2.3)
bekannt sind für einen geeigneten Bereich der 3N Parameter ~. Die Lösung
der vollständigen Wellengleichung
(l1-E)lP= 0 (2.4)
kann dann nach den IPn entwickelt werden:
rp (x, X, XO) = L "Pn(X, XO) IPn(x, XO), (2.5)
n

wo die Koeffizienten außer von den Kernkoordinaten X k auch von den


Parametern X~ abhängen. Indem man die IPn (x, XO) als normiert annimmt
für alle Werte der X~, erhält man aus (2.4) und (2.5) in bekannter Weise
L:n' '}fnn' "Pn' = E "Pn , (2.6)

wo l1nn , die Matrixelemente von 11 in der Darstellung sind, wo die Elek-


tronenenergie 110 und die ~ diagonal sind. Um sie einfach darzustellen,
definiere man
(2.7)
dann hat man
l1nn, = c5nn,(E~+ ~ ~ ~k P:)+Unn,(X,XO) - Unn,(XO,XO). (2.8)

Das Gleichungssystem (2.6) ist das gewünschte Resultat der Elimination der
Elektronenbewegung. Es gilt in jedem Falle, auch für Metalle, wo dann die
Summe über n' durch ein Integral über die kontinuierlichen Bereiche der
Elektronenenergie zu ersetzen ist. Die Theorie kann auch für diesen Fall
durchgeführt werden und mag für FRÖHLICHS Erklärung der Supraleitung
von Wichtigkeit sein. Hier aber wollen wir uns auf ideale Nichtleiter be-
schränken, definiert dadurch, daß die Kernenergie neben der aller Elektronen-
übergänge (n~ n') vom Grundzustand (n = 0) vernachlässigt werden kann.
In anderen Worten: Alle Matrixelemente UnO(X, XO) sind klein neben
U00 (X, XO), für das wir kurz U (X) schreiben. Indem wir ferner "P für "Po
schreiben und
e=E -Eg (2.9)
setzen, erhalten wir aus (2.6) mit (2.9) einfach
(H - e) "P(X, XO) = 0, (2.10)
6 MAX BORN:

wo
H= : L: ;k Pk2+ V (X) - V (XO) . (2.11 )
k

Das ist die übliche Schwingungsgleichung für die Kerne mit anharmonischer
Koppelung V (X) t.

3. Kernschwingungen und Anschlußbedingungen.


Das übliche Verfahren zur Lösung der GI. (2.11) besteht öarin, die poten-
tielle Energie in eine Potenzreihe nach Xk - X2 zu entwickeln,
(3.1)
wo Vn vom Grade n ist, so dann die X2 durch die Bedingung VI ~= 0 ein für
allemal festzulegen und dann die Normalschwingungen mit Hilfe von V 2 zu
bestimmen; Va, V4 , .,. werden dann als Störungen behandelt.
Das neue Verfahren bei dem die X2 zur freien Verfügung bleiben sollen,

I
damit sie am Ende als Koordinaten der mittleren Kernlagen bestimmt
werden können, besteht darin, 3N neue Variable ql durch eine lineare kano-
nische Transformation
X" - X2 =V~k~ekiqi
(3. 2)
Pk = VM k L ek i Pi
J

einzuführen, wo die ek } die Koeffizienten einer zunächst unbestimmten


orthogonalen Transformation sind:
L e"i ek'i = ökk"
J

Durch Einsetzen von (3.2) in V(X) erhält man eine Funktion V(q), und
wegen der Linearität der Transformation entspricht jedem homogenen An-
teil Vn der Entwicklung von V nach Potenzen der qJ'
V(q)-V(O)=v;.+V2 +···, (3.4)
der entsprechende homogene Anteil Vn in (3.1), so daß

V2 =+L: 11'
V;l,ql qj"
(3.5)

. J
tDie hier benutzte Lösung ist nicht dIe gewöhnlich beschriebene (wenn auch nie durch-
geführte) "adiabatische", wo als Hilfsfunktionen die Eigenfunktionen9?n (x,X) des Elektronen-
systems für die jeweiligen Kernkoordinaten X k genommen werden. Dann gilt eine Gleichung
der Form (2.11) nicht angenähert, sondern streng, wobei aber U durch einen Zusatzterm
zu ergänzen ist. Andrerseits sind die 9?n (x, X, für beliebige X k praktisch unbestimmbar,
während man bei dem im Text gegebenen Verfahren die XZ so wählen kann, daß dIe 9?n (x, XO)
wenigstens approximativ konstruierbar sind (z. B. indem man XZ als Gitterkoordinaten nimmt).
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 7

Hier bedeuten Uk , Ukk " .,. die partiellen Ableitungen von U(X) nach X k
an der Stelle XOk ; daher sind V,
1
V.J1 " ... ebenfalls Funktionen der X~. Sie
sind ferner symmetrisch in den Indizes j, j', ...
Die HAMILToNsche Funktion (2.11) wird nun
(3.6)

Gesucht wird diejenige Lösung der dazugehörigen SCHRÖDINGER-Gleichung,


die sich an die eines Oszillatorensystems
HO = ~ L pi + ~. L w: q; (3.7)
1 1

so gut wIe möglich anschmiegt. Man hat also das durch

H=Ho+f (3.8)
und
V= V(q) ~ V(o) ~tL
J
w; qj
gegebene Problem zu lösen und nachträglich die 3N Koordinaten die xt
t 3 N(3 N ~ 1)
Koeffizienten ekj der Transformation (3.2) und schließlich die
3N Frequenzen w J so zu bestimmen, daß der Anschluß der tatsächlichen
Bewegung an die Oszillatorbewegung möglichst eng ist. Die Gesamtzahl der
zur Verfügung stehenden Parameter X~, ekj , Ol, ist
3N +D N (3 N + 1) = ~N (1 + N) .
Die Forderung des engen Anschlusses bedeutet offenbar zunächst: Die X~
sollen stets mit den mittleren Lagen (X k ) übereinstimmen, oder wegen (3.2),
die Mittelwerte der ql sollen verschwinden:
(3. 10
Das sind 3 N Bedingungen. Die übrigen ~ 3 N (3 N +
1) erhält man durch die
Forderung, daß die qj im Falle der Vernachlässigung aller höheren als qua-
dratischen Glieder in V die zu V2 gehörigen Normalkoordinaten sein sollen:
(3.11)
wo der Strich die Mitte1ung über die Zustände des Oszillatorensystems be-
deutet. Die GI. (3.10), (3.11) sollen für alle Temperaturen gelten; also sind
die Mittelungen nicht nur als quantenmechanische Erwartungswerte aufzu-
fassen, sondern als thermische Mittelwerte entsprechend dem BOLTzMANN-
sehen Gewichtsfaktor.

4. Bestimmung der Dichtematrix.


Der direkte Weg, nämlich die Lösung der zu (3.8) gehörigen SCHRÖDINGER-
Gleichung durch ein Störungsverfahren und nachträgliche Bestimmung der
8 MAX BORN:

thermischen Mittel, führt zu äußerst verwickelten, praktisch undurchführ-


baren Rechnungen. Man erreicht aber eine verhältnismäßig einfache Lösung
mit Hilfe der DIRAcschen Dichtematrix
e(q, q' Iß) = L,"P! (q') e- Hß "Pn(q) , (4.1)
n

wo ß = 1jk T und "Pn (q) ein System von orthonormalen Funktionen ist. Diese
genügt bekanntlich der BLOcHschen Differentialgleichung
oe 1
ap=-2(He+e H) , (4.2)

sowie der Bedingung, daß für hohe Temperaturen (ß~O)

e(q, q'IO) = ~(q- q') (4·3)


gilt. Die Vorteile dieser Methoden beruhen darauf, daß erstens der thermische
Mittelwert einer Funktion f(q) sich aus der einfachen Formel
<f(q) = fe(q,qIß)/(q)dq
(4.4)
fe(q,qIß)dq
berechnen läßt, und daß zweitens für ein Oszillatorensystem der Ausdruck
von e wohl bekannt und einfach ist; man hat nach HUSIMI [9]

eO-II
-- . e·10 , (4.5)
1
wo
~i= qi+ qj, (4.6)
E.
J
= nWj
2' ti = tanh Ei ß. (4.7)
(4.5) zeigt, daß sich eO bei Differentiation nach qi und qj' einfach mit einem
Polynom multipliziert; darauf beruht die Möglichkeit (4.2) durch sukzessive

I
Approximation zu lösen.
Wenn man von der Operatorform der GI. (4.2) zu der Darstellung im
q-Raum übergeht, so erhält man

oe(q~f'ß) = - ~ 1- ~ ~(o~l + 0:;2)+ ~ ~wHq:+q?) +


l 1 _ 1 _ (4.8)
+ V(q) + V(q')} e(q, q' I ß),
oder bei Benützung der Variablen ~,n, definiert durch (4.6),

:p = l~B ~( o~l +o~r) - ~ ~w,(~, + nl) - ~ [V (~~17) + V (~~17)lJ (!. (4.9)

eO genügt der daraus durch Streichung von V entstehenden Gleichung.


Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 9

Es liegt nun nahe (4.9) durch den Ansatz


l]=(lg (4.10)
zu befriedigen; dann muß g (~, 171 ß) offenbar der Anfangsbedingung
g(~,OIO) = 1 (4.11 )
genügen, damit (j, ebenso wie (j0, für ß-+O in eine b-Funktion von q-q'
übergeht. Berücksichtigt man noch die aus (4.5) folgenden Relationen

(4.12)

so findet man für g die Differentialgleichung

(4.13 )

wo
(4.14)

Nach (3.9) sind die Glieder der Entwicklung von V dieselben wie die von V,
gegeben durch (3.5), ausgenommen das zweite, nämlich
V2 = V2 - tL wjqj, oder ~j' = ~j' - wj bij" (4.15 )
i

Entwickelt man W in derselben Weise, so verschwinden wegen der Sym-


metrie in q, q' alle ungraden Terme in 1J, und man findet
(4.16)
mit
W,l=_1_~v:~.
1!2L.J J 1

1f
(4.17)

Wa = 3 !123 L ~i'i" (~i ~i' ~i" + 3~i 1Jr 1Jd


jf 7"

Die Lösung von (4.13) wird die Form


00

(4.18)

haben, wo gn ein Polynom noten Grades in den ~,1J ist; man erhält die
Rekursionsformel
10 MAX BORN:

Man sieht leicht, daß die gn von den ~, 'YJ in derselben Weise abhängen wie die
vv",aber mit Koeffizienten, die Funktionen von ß sind. Wir schreiben:
gl = "" q;(l)
L.J 1
~.1

1 (4.20)

Die Koeffizienten q;, '1jJ, X' .. genügen einfachen Differentialgleichungen, die


sich aus (4.19) ablesen lassen; wegen der Randbedingung (4.11) zusammen
mit go = 1 müssen alle rp, '1jJ, X, ... für ß = 0 verschwinden.
Die erste dieser Differentialgleichungen ist
d'lPI 1
__ l_ -L B t m(l) = -- V; (4.21)
dß I j 1 't'1 2 l'

wo hier, wIe Im folgenden, die Abkürzungen (4.7) benutzt sind. Die für
ß = 0 verschwindende Lösung ist
(4.22)

(4.23 )

Die Lösungen lauten:


V..
q;j!'
(2) = (I)
q;1
(I) _
rp j'
~
4 11
sjlj - Si' I,'
15 2 - 15 2, I
)

. _._ 1;;:
• (2) _ _ _ TT 1 I 1 -15,1
151- 1 1-;1
1 1
'P, 7' - 4 j j' 15 2 - 15 2, ~ (4.24)

m(2)
't'
= h2. " "
8 L.J
~ {V
15 2
2'
1
Si ß
15 •
~Ii _L V.. [ß 2 11

1
(t
1
+r "
1) -1l}.1
.i 1 1 J
Von den Koeffizienten von g3 will ich nur die angeben, die im Schluß-
ergebnis auftreten (während die andern nur zur Berechnung höherer Nähe-
rungen nötig sind), nämlich
~(3!." = q;(I) q;(~)"
171 J 11
+ q;(~) q;(~) + q;(~) q;(2! _
J 1 I I 11
2 q;(I)
1
q;(~) q;!~) _
1 1

_.~ v,J'i" Sj],],' {tJ tj' tj" + S'S~'


1 1 1
15'" [(e: tj + e~ tj' +. e:.. t,") - (4.25)

- ~ (BJ + B~ + B:,,) (BI t1+ Br tj' + Bi" t,,,) l} ,


Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 11

wo
s . - ___ 4 ._ ____ _ cL ci' c j " _ _ _ ____ .
(4.26)
11']" - c14 + c1, + c14" - 2 (E 2, E2"
J]
+ cJ 2" cJ2 + 8 c 'l '
J
2 2
J
und

Das Verfahren läßt sich fortsetzen und scheint immer auf elementar auswert-
bare Integrale zu führen.

5. Berechnung von Mittelwerten. Auswertung der Anschlußbedingungen.


Nach (4.4) braucht man zur Berechnung von Mittelwerten die Funktion
e(q,q'!ß) nur für q=q', d.h. 'fJ=0. Nach (4.5) hat man für 'fJj=O

(5.1)

und nach (4.20) sind die gn für 'fJj =0 abbrechende Potenzreihen des Grades n
00

in den ~j. Wir ordnen die Summe g = L gn nun in


n~O

00
g= Lg(n) , (5.2)
H=O

wo g(n) ein Polynom des Grades n ist, nämlich


g(O) = 1+ cp(2) + cp(4) + .. .
g(l) = L (cp?) + cp?) + ...)~1
1

g(2) = J_ ~ (m(2) + m(4) + ...\~.~,


2!.L.J '11 '11 j J 1 (5.3 )
iJ'

g
(3)_
-
1_~( (3)
3!.L.J CPli'i"
+ ....)1: <;}
I:
<;j'<;J"
I:

i1' ]"

Definieren wir nun den ~Iittelwert einer Größe ! (~) gebildet mit ri durch

(5 A)
so hat man offenbar

(5.5)

Die Anschlußgleichungen (3.10) und (3.11) reduzieren sich daher (mit


'fJ1 = 0, ~i = 2qj) auf
g~i = 0, (5.6)
12 MAX BORN:

Da eo nach (5.1) ein Produkt von GAuss-Funktionen und g eine Potenzreihe


ist, so sind diese Mittelwerte leicht zu bilden.
Ich will von jetzt an nur die Glieder bis zur dritten Ordnung berück-
sichtigen und die höheren vernachlässigen; dann erhält man aus (5.6)

(rp(l) + rp(3) + ! L' rp(3! " ~) ~ + ! rp(3), ~ = ° )


J'
l
\ J J 11 1 J J 11J J

rp(2) (fJ _ ~2) = ° (5.7)


11 J
I
rp(21 ~ ~
JJ J J
= 0, j +j', J
wo
(5.8)

Die letzten beiden GI. (5.7) reduzieren sich auf


m(2!
TJJ
= ° (5.9)
gültig für j = j' und j + j'. Die erste Gleichung wird

m(l) +m(3) +~ ~m(3),,~= 0. (5.10)


2 .L.J TJJ c" t"
TJ TJ
r J
J J

(5.9) und (5.10) bestimmen, in der hier gewählten Annäherung die Schwin-
gungszentren X~ und die Schwingungsparameter cki' als Funktionen der w;
Temperatur (enthalten in tJ Außerdem werden in den Ausdrücken aber
auch noch molare Parameter, wie das Volumen, auftreten. Um diese zu be-
stimmen muß man die freie Energie
F = - k Tlog J e(q, qlß) dq
kennen, die (bis auf ein in k T lineares, daher unwesentliches Glied)
(5.11)
geschrieben werden kann. Das Integral kann auf dieselbe Weise, wie oben,
Glied für Glied berechnet werden. Sodann erhält man die Gleichgewichts-
bedingungen für die molaren Parameter und die Entropie durch Differenzieren,
z.B.
S=--"
oF
oT'

Die hier angedeutete Methode führt natürlich auf die gewöhnliche Theorie
der idealen Gitter zurück, sobald auch die Glieder dritter Ordnung vernach-
lässigt werden. Dann reduzieren sich die Bedingungen (5.9) und (5.10) auf
rp(l) = 0, m(2! =0
J TU '

und das ist, nach (4.22), (4.23), äquivalent mit

Vf= 0,
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 13

Die zweite dieser Gleichungen aber ist nach (4.15)


Vii' = co;b JJ ,. (5.12)

Berücksichtigt man hier die Bedeutung der ~, ~1" wie SIe In (3.5) ausge-
drückt ist, so sieht man, daß die eki die Koeffizienten der Hauptachsen-
transformation der Matrix Ukk , und co: die Quadrate der Eigenfrequenzen
sind, und daß ferner Uk = 0, d. h. die X~ eine Konfiguration darstellen, für
die U stationär ist.
Wenn man nun die Glieder dritter Ordnung berücksichtigt, wird man
(5.10), mit (4.22), so schreiben
(5.13)
wo
(5.14)

Da die f i als klein angesehen werden können, so darf man in den q;(3), die
explizite durch (4.25) und (4.27) gegeben sind, die Glieder mit q;Y) streichen,
und man sieht, daß alle Glieder in fi proportional Vfi'i" werden. Indem
man die Definition (3.5) benutzt, kann man (5.13) ersetzen durch

Uk=fk' (5.15)
wo
fk=~2:ekd7 (5.16)

die "thermischen Kräfte" sind.

6. Gitterlösung.
Die erste Frage ist nun, ob die Annahme, daß diese Gleichungen eIn
ideales Gitter als Lösung haben, zulässig ist.
Es ist ratsam hier die Bezeichnung zu ändern. Da die instantanen Kern-
koordinaten gar nicht mehr vorkommen, sondern nur ihre Mittelwerte xo,
°
kann man den Index weglassen; wir wollen ferner kleine Buchstaben für
die Kernkoordinaten gebrauchen. Wir schreiben für den Ortsvektor eInes
Gi tterpunktes
(6.1)

wo I = (11' 12 , ta) der Zellindex und k der Basisindex ist. Der Ortsvektor X (k)
in der Basiszelle ist ein Mikroparameter ; die Komponenten der Basisvektoren
GI, G 2 , Ga aber sind als molare Parameter anzusehen, da sie die Form und Größe
eines endlichen parallelepipedischen Stückes des idealen Gitters bestimmen.
An Stelle von Uk , Ukk " ••• hat man jetzt in leicht verständlicher Schreib-
welse
(lll)
Urzß kk' , ... ,

wo oe, ß= 1, 2, 3 die Koordinatenachsen andeuten.


14 MAX BORN:

Nun gilt aber für ein ideales Gitter der Satz, daß irgendeine Funktion f(l)
das Zellenindex, die eine physikalische Größe darstellt, im statistischen
Gleichgewicht in allen Zellen denselben Wert haben muß: f(Z) =/(0). Ebenso
gilt für eine Funktion zweier Zellen, daß sie nur von deren relativer Lag
e
abhängt: f(Z, I') =f(l-l', 0), oder kurz f(l-l'); usw. Daher hat man

UIX.{3
ll')
(kk' =UIX.{3
(l-l')
kk' , ... (6.2)

Daraus folgt in bekannter Weise, daß die Eigenvektoren der Normalschwin-


gungen (die bei unserer Annäherung mit denen der gewöhnlichen Theorie
übereinstimmen) durch

(kl ,J'h)' ____1/-


, 2ni
~_ ( h) - -;;- (h I)
e i
e k . e
I
zur Frequenz (6.3)
V N J

gegeben sind. Dabei haben wir zyklische Grenzbedingungen für einen Block
von N = n 3 Zellen angenommen; j kennzeichnet die Zweige der Frequenz-
funktion, h = (h 1 , h2 , h3 ) die einzelnen Frequenzen (hlX. = 1, 2, ... n), und es ist
(hZ) = ~hlX.llX.' Die e(kl:) sind die Eigenvektoren des reduzierten Schwin-
gungsproblems für den Zweig j.
Diese Eigenvektoren (und die zugehörigen Normalkoordinaten) sind aller-
dings komplex; aber da ich sie hier nur auf ein Beispiel anwenden will, wo
sie linear auftreten, so ist es nicht nötig, die umständliche Zerlegung im
realen und imaginären Teil vorzunehmen.
Ich betrachte zunächst die linke Seite von (5.13), die nach (3.5) jetzt so
zu schreiben ist:

VG) = L L1/~k e" (kl~) 1/~ e- 2:i (hl) U" (k). (6.4)
" kl V V

Hier kann man nun die Summation über l zuerst ausführen und erhält

wo b(h) für n-'?oo eine DIRAcsehe b-Funktion ist. Daher reduziert sich (6.4)
auf
(6.5)

und enthält nur noch die Eigenvektoren für den Nullpunkt des reziproken
Gitters (unendlich lange Wellen). Bei Vernachlässigung der Anharmonizität
(d.h. der thermischen Kräfte) reduziert sich also (6.5) auf die endlich vielen
Gleichungen
(6.6}
Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung. 15

und da die eIX (k \~) eine unitäre Matrix bilden, ist das equivalent mit
UIX(k) =0. (6.7)
Das sind gerade so viel Gleichungen, als es Komponenten der Basisvektoren
r (k) gibt, die daraus bestimmt werden können. [Tatsächlich nur ihre Dif-
ferenzen, da die Identitäten L: UIX (k) = 0 bestehen wegen der Invarianz der
k
potentiellen Energie gegen Translation des Gitters.]
Werden die thermischen Kräfte berücksichtigt, so folgt in derselben Weise,
daß t(;) eine o-Funktion in h ist, so daß (5.13) sich reduziert auf

(6.8)

oder aufgelöst
(6.9)

wo rechts die Komponenten der thermischen Kräfte stehen, die die relative
Lage der einfachen Gitter gegeneinander beeinflussen. Aus diesen Gleichungen
erhält man die Basisvektoren r Ih) als Funktionen der Temperatur.
Physikalisch bedeutet das Auftreten der o-Funktion in (6.5) natürlich
die wohlbekannte Tatsache, daß sich die wechselseitigen Kräfte in jedem
einfachen Gitter aus Symmetriegründen aufheben, ausgenommen für Teilchen
an der Obetfläche; daher sind die Gleichgewichtsbedingungen für alle außer
den längsten Wellen identisch erfüllt. Da sich die Gleichungen (6.9) auf die
(endliche) Basis beziehen, kann man sie durch sukzessive Approximationen
lösen. Man geht von den Lösungen rO(k) von (6.7) aus und ergänzt diese durch
kleine Zusatzvektoren U(k), r (k) = rO (k) + u (k); dann hat man Gleichungen
der Form
L:L:UIXß(kk') uß(k') =t~(k) (6.10)
k' ß

zu lösen, wo rechter Hand die Argumente rO (k) einzusetzen sind. Sind die
u (k) aus (6.10) gefunden, so bleiben noch die Zellvektoren 01' O 2 , 03 zu be-
stimmen. Da diese, wie schon betont, molare Parameter sind, so hat man
hierfür die freie Energie (5.11) zu benützen, nachdem in e die gefundenen
Werte der r(k) = rO(k) + u (k) eingesetzt sind.
Die tatsächliche Ausrechnung ist verwickelt und führt vermutlich zu
keinen andern Ergebnissen als die übliche Theorie. Der Zweck dieser Aus-
führungen ist der zu zeigen, wie die anfangs beschriebene prinzipielle Schwie-
rigkeit behoben werden kann.
Zugleich aber führt die neue Theorie auf andre Möglichkeiten, die der
Betrachtung lohnen. Es scheint nämlich keineswegs ausgemacht, daß die
GI. (5.13) oder (5.15) nur solche Lösungen haben, die durch ein unendliches,
16 MAX BORN: Gültigkeitsgrenze der Theorie der idealen Kristalle und ihre Überwindung.

zyklisches, "fehlerfreies" Gitter approximiert werden. Sobald man aber


endliche Systeme betrachtet, ist es unzulässig, die Lösung der GI. (5.15)
dadurch zu gewinnen, daß man in erster Näherung die rechte Seite fk ver-
nachlässigt; denn dann stößt man wieder auf die im ersten Abschnitt erläuterte
Schwierigkeit. Man muß daher von der Lösung der Gleichungen V,. = i~
ausgehen, wo der Index Null andeutet, daß T = 0, ß = 00 ist; dadurch ist
man sicher, daß die Differenzen X k - X~ und daher die qi klein sind. Diese
vollständigen Gleichungen enthalten aber die eingangs erörterte Länge von
der Größenordnung 1000 A als Parameter. Es scheint daher möglich, daß
es Lösungen gibt, die eine Sekundärstruktur von dieser Dimension zeigen.
Falls die Existenz einer solchen Struktur durch weitere Beobachtungen
bestätigt werden sollte, würde es sich lohnen, diese mathematische Frage
näher zu untersuchen.

Literatur.
[lJ DEBYE, P.: Vorträge über die kinetische Theorie der Materie und der Elektrizität,
S.46. Wien: J. B. Teubner 1914. - [2J PEIERLS, R: Ann. de Phys. (5) J, 1055 (1929). -
Helv. phys. Acta 7, Suppl. 24 (1934). - Ann. Inst. Henri Poincare 5, 177 (1935). - [3J POME-
RANCHUK, J.: J. Physics USSR. 4, 357 (1941); 6,237 (1942). - [4J KLEMENS, P. G.: Proc.
roy. Soc., Lond. 208, 108 (1951). - [5J BORN, M.: Proc. math.-phys. Soc. Egypt J, 35 (1947).-
[6J FÜRTH, R: Phil. Mag. (7) 21, 1227 (1949). - [7J FÜRTH, R, and S. P. F. HUMPHREYS-
OWEN: Nature, Lond. 167, 715 (1951). - [8J BORN, M., and R OPPENHEIMER: Ann. Phys.
84, 457 (1927). - [9J HUSIMI, K.: Proc. physico-math. Soc. Japan 22, 265 (1940).

Eingegangen am 10. September 1951.


Neuere Ergebnisse
zum Isotopieverschiebungseffekt
in den Atomspektren.
Von
PETER BRIX und HANS KOPFERMANN, Göttingen.
Mit 4 Figuren im Text.

I. Einleitung.
Die Untersuchung der Hyperfeinstruktur (Hfs.) der Atomspektrallinien
mit hochauflösenden optischen Spektralapparaten hat gezeigt, daß neben der
magnetischen Hfs., die nur an Isotopen mit ungerader Massenzahl A beob-
achtet l und durch die Existenz magnetischer und elektrischer Momente der
Atomkerne erklärt wird, die sog. Isotopieverschiebung (Is.V.) auftritt. Es
ist dies die Tatsache, daß in den Spektrallinien der Atome eines Elementes
die Schwerpunkte der Isotope nicht zusammenfallen, sondern nach Massen-
zahlen geordnet, mehr oder weniger eng nebeneinander liegen. Man hat
gelernt, zwei Typen dieses Phänomens zu unterscheiden:
1. den Isotopieverschiebungseffekt der leichten Elemente, der sich als Effekt
der endlichen Kernmasse deuten läßt (massenabhängiger Is.V.-Effekt) und
2. den Isotopieverschiebungseffekt der schweren Elemente, der aller Wahr-
scheinlichkeit nach in der endlichen Ausdehnung des Atomkerns seine Er
klärung findet (volumenabhängiger Is.V.-Effekt).
Beide Effekte zeigen ausgeprägte Gesetzmäßigkeiten.

1, I. Der massenabhängige Isotopieverschiebungseffekt.


Er tritt in reiner Form am Anfang des periodischen Systems in Erscheinung
und wird an allen Spektrallinien beobachtet. Auf die Spektral terme bezogen,
liegt, wenn man der Seriengrenze die Is.V. Null zuordnet, im allgemeinen
innerhalb jedes Feinstrukturterms das schwerste Isotop "am tiefsten". Die
Isotopenabstände innerhalb der Feinstrukturlinien sind in guter Näherung
äquidistant.
Als Erklärung für diese Tatsache dient allgemein die von BOHR erkannte
"Mitbewegung des Kerns", bei der in einer Feinstrukturlinie der Frequenz v
der Frequenzabstand .1 ~'B zweier Isotope mit den Kernmassen MI und M 2
1 Die wenigen stabilen Isotope wie 2H,6Li usw., die bei geradem A eine magnetische
Hfs. zeigen, interessieren für das Folgende nicht.
Göttinger Akademie-Festschrift. 2
18 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

gegeben ist durch:


A (M2 -M1 ) m !5A
LlVB=V (M1+m) (M2 +m) ~V A 1 A 2 '5,49.10- 4 (1 )

(t5A =A 2 -Al' m = Elektronenrnasse).


Darüber hinaus existiert bei Mehrelektronenproblemen nach HUGHES und
ECKART [HE 30] ein "Kopplungseffekt", der je nach Phasenbeziehungen
zwischen den einzelnen Elektronen den einfachen Mitbewegungseffekt (1) ver-
größern oder verkleinern kann. Bei einem Atom mit vielen Elektronen wird,
da nicht nur die Leuchtelektronen, sondern auch die Rumpfelektronen zur
Is.V. beitragen, eine Berechnung der Größe der Verschiebung sehr schwierig.
Selbst bei der Zwei- oder Dreielektronenhülle (He I, Li I) sind die Rech-
nungen bisher nur genähert durchgeführt. Eine Reihe von experimentellen
Tatsachen spricht aber dafür, daß der massenabhängige IS.V.-Effekt jenseits
der Masse 140 so klein geworden ist, daß er durch den Volumeneffekt völlig
überdeckt wird.

I, 2. Der Kernvolumeneffekt 1.
Er wird bevorzugt am Ende des periodischen Systems beobachtet, und
zwar fast ausschließlich bei Spektrallinien, deren einer Term eine Elektronen-
konfiguration mit einem oder zwei s-Elektronen in der äußersten Schale
besitzt. Wenn man den Termen ohne s-Elektron die Is.V. Null zuordnet,
liegt innerhalb eines Feinstrukturterms das leichteste Isotop "am tiefsten".
Die Abstände isotoper Terme sind auch nicht annähernd äquidistant. Die
Is.V. nimmt mit abnehmender Kernladungszahl ab und wird bei Z ,....,40
(A ""gO) von der Größenordnung des einfachen Mitbewegungseffektes.
Der Vorschlag, diesen Tatbestand durch Abweichungen der elektrischen
Kernfelder vom reinen COULoMB-Feld als Folge der endlichen Ausdehnung
der Kerne zu erklären, stammt von PAULI und PEIERLS [PP 31]. Im Kern-
innern hat man auf Grund der elektrostatischen Ladungsverteilung des Kerns
für ein in ihn eintauchendes s-Elektron mit einem vom COULoMB-Feld ab-
weichenden Potential V (r) zu rechnen, das für verschiedene Isotope eines
Elementes etwas verschieden ausfällt, wenn der Kernradius sich von Isotop
zu Isotop ändert. Man erhält daher für die durch ein einzelnes s-Elektron
erzeugte Is.V. zwischen zwei Isotopen eines Elementes die Störenergie :
00

~E = f ~V(r) IPs(r) 4n- r2 drt, (2)


o
wobei t5 V die Differenz der Potentiale V] und V2 für die betrachteten Isotope
und IPs (r) die elektrische Ladungsverteilung des s-Elektrons ist. IPs (r) läßt sich
1 Zuerst beobachtet von SCHÜLER und KEYSTON [SK 31 c] am Tl und unabhängig davon
von KOPFERMANN [Km 31] am Pb.
t Das Integral liefert natürlich nur innerhalb des Kernradius einen Beitrag.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 19

mit Hilfe der relativistischen Wellengleichung genähert angeben. Unter ge-


eigneten Voraussetzungen über die Anderung der Kernladungsverteilung beim
Übergang von einem Isotop zum anderen und über das dabei auftretende
Anwachsen des Kernradius kann man die Is.V.-Energie (jE ausrechnen.
RACAlI [Ra 32] und - in besonders eingehender Weise - BREIT und
ROSENTHAL [RB 321 haben solche Rechnungen durchgeführt. Danach ist I
!Ps (0) proportional zur unrelativistischen Ladungsdichte "p; (0) des s-Elektrons
an der Stelle r = o. Den Wert von "p; (0) für eine nicht wasserstoffähnliche
Elektronenhülle anzugeben, war längere Zeit das eigentliche Problem dieser
Rechnungen. Es ist das Verdienst von GOUDSMIT [Go 33] und FERMI-
SEGRE tF S 33], für alkaliähnliche Elektronenhüllen die halbempirische Formel
2 (0) ~ Z Z: (1- da/dn) t
"Ps na3H n3a

angegeben zu haben, die sich bei der Berechnung der magnetischen Kern-
dipolmomente aus dem empirisch gefundenen Aufspaltungsfaktor a s einer
durch ein einzelnes s-Elektron erzeugten Termhyperfeinstruktur wesentlich
besser bewährt hat als das "p;(0), das man nach der Methode von HARTREE
ermittelt. Unter Verwendung von (3) und plausiblen Annahmen über Ladungs-
verteilung des Kerns und Anwachsen des Kernradius konnte BREIT [Br 32]
zeigen, daß eine wenigstens größenordnungsmäßige Übereinstimmung zwi-
schen Theorie und Experiment besteht.
Für einen solchen Vergleich im einzelnen ist zu beachten, daß man im
Experiment unmittelbar nur die Is.V. in den Spektrallinien, d.h. die Dif-
ferenzen der Is.V. in den Termen mißt, und zwar unter günstigen Bedingungen
mit der Genauigkeit der optischen Interferometer (0,001 cm-I ). Wenn der
Beitrag des massenabhängigen Effektes, der ja von Feinstrukturterm zu Fein-
strukturterm variiert, in diesen Meßfehlern untergeht, stellen die gemessenen
relativen Is.V. in den Linien auch die relativen Is.V. in den Termen dar.
Was aber die absoluten Is. V. in den Termen anbelangt, so ist die Situation
erheblich komplizierter als etwa bei der Analyse der magnetischen Hfs.
Während man nämlich bei der Festlegung der magnetischen Hfs.-Aufspal-
tungen der Terme aus denjenigen der Spektrallinien fast immer Bezugsterme
findet, die nicht aufspalten können 2, besitzen alle Feinstrukturterme Is.V.,
und man hat nur die Möglichkeit, einem -- an sich willkürlich gewählten -
Feinstrukturterm als Bezugsterm die Is.V. Null zu geben 3. Dadurch ist
allerdings bei komplizierten Elektronenkonfigurationen noch wenig im Hin-
blick auf die eben skizzierte Theorie gewonnen, wie das experimentelle
1 Als Folge der Normierung der Eigenfunktionen_
t Z = Kernladungszahl, Za = effektive Kernladungszahl, da/dn =Änderung des Quanten-
defekts a mit der Hauptquantenzahl n, aH = erster BOHRscher Radius, n a = effektive Haupt-
quantenzahl.
2 Das sind Terme mit ] = o.
3 Wenn möglich der Seriengrenze der betrachteten Termserie.

2*
20 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Material, das aus der Analyse des Tl 1- und Pb I-Spektrums ermittelt worden
ist, allzu deutlich gezeigt hat l . Aber selbst wenn man die Is.V. eines alkali-
ähnlichen 2S,-Terms - etwa mit der Elektronenkonfiguration 5dIO 6s - in
~

bezug auf seine Seriengrenze - 5 dlO - festgestellt hat, ist diese nur genähert
die von der Theorie berechnete Is.V. eines einzelnen 6s-Elektrons, da ein
solches Leuchtelektron die Rumpfelektronen mehr oder weniger abschirmt.
Erst wenn es gelingt, die Abschirmungseffekte zwischen dem s-Leuchtelektron
einerseits und den inneren sowie den - bei nichtalkaliähnlichen Spektren -
noch vorhandenen äußeren Hüllenelektronen andererseits rechnerisch zu eli-
minieren, hat man den Beitrag des einzelnen s-Elektrons zur Is.V., der dann
allerdings sowohl wegen der Normierung auf die Seriengrenze als wegen der
Abschätzung der Abschirmungseffekte mit erheblicher Ungenauigkeit be-
haftet ist.
Über das bis zum Jahre 1940 gefundene empirische Material, das noch
recht dürftig und in dem eben diskutierten Sinne wenig systematisch aus-
gewertet war, wurde in der Monographie "Kernmomente" [Km 40J berichtet.
Bis Kriegsende hat sich an diesem Stande nichts Wesentliches geändert. Seit
'1945 beschäftigt man sich intensiver und auch systematischer mit dem Is.V.-
Effekt, und es sind bis heute vor alle!ll in experimenteller, in geringerem Maße
auch in theoretischer Hinsicht Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht worden,
über die im folgenden berichtet werden soll.

II. Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt


der leichten Elemente.
Eine Übersicht über den heutigen Stand der experimentellen Ergebnisse
gibt Tabelle 1. Die seit 1940 neu oder verbessert auf Is. V. untersuchten
Spektren sind durch einen Stern gekennzeichnet.
Für ein Einelektronenspektrum gibt GI. (1) die Möglichkeit, das Atom-
gewicht des Elektrons zu bestimmen. Aus diesem Grunde ist die Is.V. zwi-
schen der H,,- und D,,-Balmerlinie immer wieder Gegenstand möglichst ge-
nauer Messungen gewesen, Die neueste derartige Untersuchung stammt von
HsuEH [Hs 45J. Der derzeit genaueste Wert für die Is.V. der Feinstruktur-
komponenten 2p2P! -3d 2Dr, von Hund D beträg~2 +4144 '10- 3 ern-I. Es
sei noch erwähnt, daß an dem LAMB-RETHERFoRD-Ubergang des Wasserstoff-
atoms (2p 2p,t - 2s 2S,t) im Rahmen der bisherigen Meßgenauigkeit keine
1Siehe die Diskussion dieser Is.Y. von BREIT [Er 32J.
2Alle Isotopieverschiebungen und Hfs.-Aufspaltungen sind, auch wenn nicht ausdrück-
lich vermerkt, in 10- 3 cm-1 angegeben. Die Vorzeichen der Is.V. sind durch folgende Regeln
festgelegt: a) Für eine Linie bedeutet ein positives Vorzeichen, daß das Isotop mit der größeren
Massenzahl nach größeren Wellen zahlen verschoben ist. b) Ein positives Vorzeichen der Is.V.
für einen Term bedeutet, daß das Isotop mit der größeren Massenzahl im Termschema höher
liegt (schwächer gebunden ist), wenn im Bezugsterm alle Isotopenschwerpunkte zusammen-
gelegt wurden. Beide Definitionen sind unabhängig voneinander notwendig. Man erhält
die Is.V. einer Linie mit dem richtigen Vorzeichen, wenn man die Is.V. des unteren Terms
von der des oberen subtrahiert.
~euere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 21

Tabelle 1. tJbersicht über die experimentellen Ergebnisse zum I sotopieverschiebungseffekt der


leichten Elemente.
(Nur Elemente mit mindestens zwei in der Natur vorkommenden Isotopen.) Erläuterung:
A Is.V. der wichtigsten Terme gut bekannt. B, C Zwischenstufen. D Angaben nur über
einzelne Linien oder nur qualitative Angaben. * Seit 1940 neu oder besser untersucht.
Literatur siehe [BK 51J.

Spektrum Spektrum Spektrum


Ele- Ele- Ele-
Z Z Z
ment
I
I
II
I
III
ment
I
I
II Im
I
ment
I II 1111
1 H (A) - - 16 S 30 Zn C* C
2 He A* (A) - 17 Cl D 31 Ga C
3 Li C D (A) 18 A B 32 Ge
5 B D D 19 K C 34 Se D* D*
6 C D* D* 20 Ca 35 Br D* D*
7 N B* 22 Ti 36 Kr D*
8 0 24 Cr 37 Rb C C
10 Ne A C* 26 Fe 38 Sr C
12 Mg A* D* 28 Ni
14 Si I 29 Cu C* I

Is.V. gefunden wurde [LR 51]. In den Tabellen der "Atomic Energy Levels"
[Mo 49] findet man die nach (1) berechneten Is.v. für alle Einelektronen-
spektren bis 0 VII r.
Messungen der Is.V. an den Mehrelektronenspektren der leichten Elemente
sind hauptsächlich aus zwei Gründen von Nutzen:
1. Zur Prüfung der Theorie des massenabhängigen Effektes,
2. zur Abschätzung des massenabhängigen Anteils der Is.V. bei den
mittleren und schweren Elementen durch Extrapolation aus den leichten
Elementen, da Rechnungen für die ersteren vorläufig nicht möglich sind.

11, I. Prüfung der Theorie.


Bei drei aufeinanderfolgenden Isotopen mit A a-A 2 =A 2 - Al folgt aus
(1) für jede Spektrallinie eines Elementes:
L1 '1'1-2: L1 '1'2-3 =.'13 : Al. (4)
Dasselbe Abstandsverhältnis gilt auch für den Kopplungseffekt 1. GI. (4)
bietet daher die einfachste Möglichkeit, die Theorie des massenabhängigen
Is.V.-Effektes zu prüfen. In Tabelle 2 sind alle Linien aufgeführt, für die
eine derartige Prüfung bisher möglich ist. Die Abweichungen zwischen den
gemessenen und den theoretischen Werten für das Verhältnis der Isotopen-
abstände in Tabelle 2 liegen wohl überall noch innerhalb der experimentellen
Fehlergrenzen.
Die Absolutwerte der gemessenen Is.V. sind in letzter Zeit von VINTl
am B und Mg I mit der Theorie verglichen worden. Für die bei den B 1-
1 Siehe z. B. [Km 40J.
22 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Tabelle 2. Relative Isotopenlagen des massenabhängigen Effektes.

Spek- Wellen-
I A l '. A 2'. A 3 I LI VI-2 LI V2-3 LI vl-2 Aa
- Literatur
trum länge (A) (lO- S cm-l ) (lO- S cm-l ) LI V2-3 Al

CI 2478,5 12; 13; 14 -156 -138 1,13 1,17 Ho 50a,


Ho 50b,
I Bu50

)
MgI 8806,7 24; 25; 26 +42,3 +42,8 0,99 MM44
5711,1 +26,6 +27,9 0,95
5528,4 + 37.4 + 33,5 1,12 1,08 :
4703,0 + 38 +30 1,27 I
I
4351,9 +39 + 31 1,26
Zn I 3075,9 64; 66; 68 +23 +23 1,0 CGKS 50

)
Zn II 7478,8 -96 -92 1,04 I
SW 33a
!
6471,1 -77 -83 0,93 1,06
6214,6 -95 -94 1,01 i
5894,4 I -95 -94 1,01
, I I I

Linien 2p2Pk,1!-3s2S,} hat MROZOWSKI [Mr39] die Werte -175 und


-168 gemessen. Der normale Kernmitbewegungseffekt beträgt L1 VB = 198. +
Demnach resultieren für den Kopplungseffekt, der hier das Vorzeichen der
Is.V. umkehrt, die Werte -373 und -- 366. Der unter Verwendung von
radialen Eigenfunktionen nach MORSE, YOUNG und HAURWITZ berechnete
Wert [Vi 40b] von -366,5 stimmt damit ausgezeichnet überein. An der
B lI-Linie 2s 2p lJi - 2pZlD z [Mr 39] ist der berechnete Kopplungseffekt
um 23 % zu klein [Vi 40b], was wohl an der größeren Ungenauigkeit der
Eigenfunktionen liegt. Wesentlich unbefriedigender ist bisher der Vergleich
am Mg I-Spektrum, für das zuverlässige Messungen [MM 44, Fi 42, CKSG 49]
und ausführliche theoretische Berechnungen [Vi 39] vorliegen. Die gerech-
neten Werte sind, soweit prüfbar, etwa um einen Faktor 2 zu klein [MM 44].
Jedoch wird erst die Verwendung genauerer radialer Eigenfunktionen ent-
scheiden können, ob die quantenmechanische Theorie des massenabhängigen
Is.V.-Effektes auch am Mg eine ausreichende Beschreibung der beobachteten
Verschiebungen liefert.
Sehr geeignet für einen Vergleich zwischen Experiment und Theorie ist
das Zweielektronenspektrum des He 1. Das seltene He- Isotop mit der Masse 3,
das in der Natur nur mit einer Häufigkeit von 1,3 . 10- 4 % neben dem He 4
vorkommt, steht neuerdings in spektroskopisch ausreichenden Mengen zur
Verfügung. BRADLEY und KUHN [BKu 48] konnten das He 3 schon in einer
Verdünnung von 1: 700 mit zwei hintereinandergeschalteten Fabry-Perot-
Etalons nachweisen, was eine besondere experimentelle Leistung darstellt.
FRED, TOMKINS, BRODY und HAMERMEsH haben kürzlich [FT BH 51] die
Is.V. von 31 He I-Linien gemessen. Die Theorie von HUGHES und ECKART
gibt zwar die richtige Größenordnung der beobachteten Verschiebungen, im
einzelnen sind die Abweichungen jedoch noch ungeklärt.
Neuere ErgeBnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 23

Tabelle 3. 150topieverschiebungen in den Resonanzlinien alkaliähnlicher Spektren.


(Angaben in 10-3 cm-1 für t5A = 2.)

Spek- L1 v exp
A 1 -A. Linien L1 v exp L1vB Literatur
trum L1vB
I
LiI 6-7 2s 'Sl - 2P'P + 350 1 + 193 1 1,81 MMS48; JK39
Mg II I 24-26 35 'S! - 3P 'PI + 102 +62 1,65 CKSG 49; Fi 42
KI 39-41 4s 'Si - 4P'P +7,6 + 8,9 0,9 JK38
CU I 63-65 45'S! -4P'P + 18 +8,1 2,2 BH50
RbI 85-87 5s' S i - 5P'P + 1,3± 1 + 1,9 KK 36; Ho 37
Sr II 87-88 5s 'Sl - 5P 'Pl 01 ± 1 + 1,7 1 HK 38
AgI 107~1O9 5s'S! - 5P'P -15 +2,8 I BKMW51
Ball 135-137 !6S'Si- 6P'P -6 + 1,2 Ar50
Hg II 200-202 , 6s 'S! - 6P'P -226 I + 1,5 Mr42

Tabelle 4. Isotopieverschiebungen in den Bogenspektren der Edelgase (außer Helium.)


(Angaben in 10-3 cm-1 für t5A = 2.)

Spek- L1 vexp
AI-A. Linien L1 vexp L1 VB Literatur
trum
I I L1vB

NeI I 20-22 2ps 3s - 2ps 3Pt + 55 +40 1,38 '5c 39


AI I t (36-40) 3ps 45 - 3ps 4Pt + 10 + 10 1,0 KK37
KrI ' 82-84 14pi 55 - 4ps 5Ptt +2 + 1,9 1 KR 49
XeI I 134-136 5P' 6s - 5p5 6P ttt -3,3 +0,7 KR 50

11, 2. Systematik des massenabhängigen Isotopieverschiebungseffektes.


Die Tabellen 3 und 4 geben einen Vergleich der gemessenen Is.V. L1 vexp
mit dem berechneten BOHRschen Mitbewegungseffekt L1 VB für zwei Beispiele
einander ähnlicher Spektren. Man sieht, daß bis in die Gegend der Elemente
Rb bzw. Kr (A =85) die beobachteten Verschiebungen das Vorzeichen und
den Gang des einfachen Mitbewegungseffektes zeigen. Daraus kann empirisch
geschlossen werden, daß auch der Kopplungseffekt tür ähnliche Übergänge
größenordnungsmäßig mit 1/A1 A 2 geht. Es erscheint deshalb berechtigt, in
solchen Fällen den gesamten massenabhängigen Anteil der Is.V. für die
mittleren und schweren Elemente durch Extrapolation der an leichten
Elementen gemessenen Is.V. nach einem 1/A2-Gesetz abzuschätzen.
Leider ist dieses Verfahren auf die in den Tabellen angegebenen Fälle
sowie auf die erdalkaliähnlichen Spektren (vgl. [BS 50]) beschränkt. Für
kompliziertere Elektronenkonfigurationen läßt sich bei den mittle,ren Ele-
menten der massenabhängige Effekt bisher auch nicht größenordnungsmäßig
voraussagen. So betragen z. B. die an den Übergängen 3d9 4 S2- 3dlO 4p des
Cu I und Zn II (A ~65) beobachteten Is.V. das 15- bis 25fache des einfachen
Mitbewegungseffektes. Bisher bestand noch die Hoffnung, daß man hier den
Is.V.-Effekt der schweren Elemente (allerdings mit negativem Vorzeichen)
I t5A = 1!
t Mittelwert für die Linien 1ss-2P" 1s,-2ps' 1s s -2Po. 2Ps (Bezeichnungen nach
PASCHEN).
tt 15s -2p,.
ttt Mittelwert für die Linien 1s,-2ps. 1ss -2Po' 2Ps.
24 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

zur Deutung heranziehen könnte. Auf Grund der Untersuchungen von CRAW-
FORD, GRAY, KELLY und SCHAWLOW [CGKS 50] am Zn und von BRIX und
HUMBAcH [EH 50] am Cu muß es sich jedoch vorwiegend um massen-
abhängige Effekte handeln 1.
Beim Ag und Cd (A R:; 110) sind an den entsprechenden Linien die
massenabhängigen Anteile der Is.V. offensichtlich viel kleiner, als man nach
einer1/A2-Extrapolation aus Cu bzw. Zn erwarten würde [EKMW 51, ES 50].
Da auch in den Spektren mit komplizierteren Elektronenkonfigurationen wie
Se [MA 49] und Br [TT 40, Ra 51] mit Massenzahlen von A ",80 keine Is.V.
festgestellt werden konnte, so darf man wohl annehmen, daß von den Seltenen
Erden an (A ~ 140) die massenabhängige Is.V. gegenüber der volumen-
abhängigen Is.V. vernachlässigt werden kann 2.
Außer den im Text referierten Arbeiten sind der Vollständigkeit halber
noch die neueren Messungen am C II [Eu 50], am N I [Ho 43, Ho 48] und
am Ne II [MS 48] und ein Theorem von VINTI [Vi 40a] zu erwähnen, das
für die Berechnung des Is.V.-Effektes der leichten Elemente von Vorteil ist,
wenn die radialen Eigenfunktionen in Form von Tabellen und nicht als
analytische Funktionen vorliegen.

III. Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt


der schweren Elemente.
III, I. Experimentelle Ergebnisse.
Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die bisher auf Is.V. untersuchten
Spektren der schweren Elemente. Die wichtigsten experimentellen Arbeiten
der letzten 10 Jahre sind die folgenden:
Die schon früh qualitativ erkannte Tatsache [Er 32], daß die Is. V. der
schweren Elemente der Änderung der Ladungsdichte am Kernort proportional
ist, wurde durch Messungen von CRAWFORD und CONVEY (vgl. [eS 49]) am
Tl lU-Spektrum quantitativ bestätigt. MROZOWSKI [Mr 42] hat das Material
über das wichtige Hg II-Spektrum erheblich erweitert; einige Angaben über
das Hg III sind hinzugekommen 3 [Fa 50]. Das Hilfsmittel der künstlich
getrennten Isotope hat die Untersuchung der Is.V. einer Reihe von Elementen
(U, Ba, Xe, Ag, Mo) - zum Teil erstmalig - ermöglicht [ESA 49, Me 49,
Ar 50, KR 50, EKMW 51, Ar 51] und ist für das Studium der relativen Iso-
topenlagen am Pb [MAW 50, Ge 50] und W [VM 51] herangezogen worden.
1Dafür sprechen beim Zn II auch die relativen Isotopenlagen (s. Tabelle 2).
2Weitere sehr starke Argumente dafür sind: a) Nichtäquidistante relative Isotopenlagen
sind für verschiedene Linien innerhalb der Meßfehler konstant (s. Kapitel III, 1,d). b) Die
Is.V. ungestörter Terme hängt nur von der Elektronenkonfiguration, nicht von der Kopp-
lung ab. c) Der Isotopieverschiebungseffekt der schweren Elemente reicht allein zur Erklärung
der Beobachtung aus.
3 Zusatz bei der Korrektur: Über die Is.V. der 5d 9 6p- und 5d8 6s'-Terme des Hg III ist
in einer soeben erschienenen Arbeit [FosTER, E. W.: Proc. roy. Soc., Lond., Ser. A 208,
367 (1951)J ausführlicher berichtet worden.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 25

Tabelle 5. Ubersicht über die experimentellen Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt der


schweren Elemente.
(Nur Elemente mit mehr als zwei in der Natur vorkommenden Isotopen.) Erläuterung:
A Is.V. der wichtigsten Elektronenkonfigurationen und relative Isotopenlagen der spektro-
skopisch beobachtbaren Isotope gut bekannt. B, C Zwischenstufen. D Angaben nur über
einzelne Linien oder nur qualitative Angaben; Auswertung der Is.V.K. nicht möglich. * Seit
1940 neu oder besser untersucht. Literatur siehe [BK 51J.

Spektrum Spektrum
EIe- Ele-
Z Z
ment ment
I 11
I I III I IV I
I
11 111 IV

40 Zr D* I 64 Gd B* B* I
42 Mo C* (i6 Dy
I I
44 Ru 68 Er I
46 Pd C* I 70 Yb B I
47 Ag B* C* 71 Lu I
48 Cd C* C 72 Hf D I
!

49 In 74 W B* I
I
I

50 Sn D* D 75 Re C I

51 Sb D D D 76 Os C I
I
52 Te 77 Ir C* 1

54 Xe C* 78 Pt A
56 Ba D* B* 80 Hg B B* C*
57 La 81 Tl C B B*
58 Ce C* i 82 Pb B A B C
60 Nd C* I 90 Tl). * * I
62 Sm B* C* 92 U C* C*
63 Eu B i
I

KLINKENBERG [Kl 45] fand einen "Sprung" in den relativen Isotopenlagen


des Neodyms. Schließlich haben BRIX, KOPFERMANN und Mitarbeiter [KM47,
BK 49, Bx 49, BF 50, BS 50, BKS 50, BE 51, KW 51, BS 51] die noch
bestehenden Lücken in der Kenntnis des Is.V.-Effektes zwischen Z = 46 und
Z = 77 zum Teil geschlossen und zur rationellen Beschreibung des experi-
mentellen Materials eine "experimentelle Isotopieverschiebungskonstante
(Is.V.K.)" eingeführt [BK 49].

J II, 1, a. Proportionalität zwischen Is.v. und Ladungsdichte am Kernort.


Von d\!fTheorie wird gefordert (s. Kapitel I), daß die von einem s-Elektron
herrührende Is.V. proportional zu seiner Ladungsdichte am Kernort ist. Es
liegt nahe, zunächst einfach an den experimentell gemessenen, auf die Serien-
grenze bezogenen Is.V. einer s-Termserie zu prüfen, wie weit für niese eine
derartige Forderung empirisch erfüllt ist. Bis auf Faktoren, die nur von Z
und dem Kernradius, nicht aber vom betrachteten Elektronenterm abhängen,
läßt sich, wie bereits in Kapitel I angedeutet, für s-Elektronen die (wirkliche)
Ladungsdichte 11'5(0) am Kernort durch folgende Größen ausdrücken:
a) Durch das Quadrat der unrelativistisch gerechneten Eigenfunktion
1p;(0) am Kernort,
26 PETER BRIX und HANs KOPFERMANN:

Tabelle 6. Prüfung der Proportionalität zwischen Is. V. und Ladungsdichte am Kernort;

1_
Berechnung der experimentellen Is. V.K. für das Isotopenpaar Tl 203-205 1 •
1 2 4 5 6 7 8
I
3_ 1 I
Is.V. ! LI Texp LI Texp
Term LI Texp I a b as - - -_.p Fehlerquellen
as as
10-3 cm-1 1 10-3 cm-1 10- 3 cm-1 10-' cm-1

Tl III 6s I (340) 2 1,285 264 5880 0,058 256 Ermittlung von LI Texp 2
7s 90' 0,309 291 1348 0,067 296 Normierung der Is.V. auf die
Seriengrenze '
8s 46 3 0,126 365 565 0,081 361 Normierung der Is.V. auf die
Seriengrenze 3
7s-8s 44 0,183 240 I
I
783 0,056 249 Nur Meßfehler
Tl II 6s 7S-6S9S 44 4 574 0,077 340 Beseitigung der Störung 4
6s 7s-6s 54 4 I 760 0,071 315 Beseitigung der Störung 4
. Z~(1-da/dn) . b' - LI Texp n~
-~-~--
a.
n a3 '
. Z~(1-da/dn)
Wo in Spalte 1 zwei Terme aufgeführt sind, enthalten die Spalten 2, 3 und 5 die
Differenzen der Werte für beide Terme, z. B. steht in der letzten Zeile von Spalte 5 der
Wert (a 6S +a7S ) im 6s 7s '51 -Zustand des Tl II minus a6S im 2S!-Zustand des Tl III.

b) für alkaliähnliche Terme nach GOUDSMIT [Go 33] und FERMI-SEGRE


[FS 33] durch den Ausdruck Z!(1- daJdn)Jn!,
c) für ein s-Elektron oder zwei nichtäquivalente s-Elektronen durch den
Aufspaltungsfaktor as der Hfs., falls ein Isotop mit Kerndrehimpulsquanten-
zahl I > 0 vorhanden ist.
Wie ebenfalls in Kapitel I schon erwähnt, ist die direkte Berechnung von
1J!; (0) für schwere Elemente bisher nicht mit ausreichender Genauigkeit mög-
lich. Deshalb kommen für einen Vergleich mit den gemessenen Is.V. vor-
läufig nur die unter b) und c) aufgeführten Größen in Frage. Derartige Ver-
gleiche sind innerhalb einer s-Serie von KÖHLER [Kö 39] am Tl II-Spektrum
und MROZOWSKI [Mr 42] am Hg IJ-Spektrum durchgeführt worden_ Beide
Spektren sind jedoch wegen der in den höheren Seriengliedern auftretenden
Störungen weniger geeignet als das Tl III-Spektrum, das von tRAWFORD und
SCHAWLOW [es 49] in diesem Sinne diskutiert worden ist.
1 Literatur für Hfs.-Werte s. [BK 51J. Die Messungen stammen zur Hauptsache von
CRAWFORD und CONVEY (vgl. [eS 49J) und KÖHLER [Kö 39J. Die effektiven Quantenzahlen
und da/dn-Werte wurden nach den Termwerten von [eS 49J und [BG 32J ausgewertet.
2 LI Texp für das 6s-Elektron im Grundzustand 5dlO 6s des Tl III ist nicht direkt gemessen
worden, der angegebene Wert stammt aus Tabelle 7. Die dort angegebenen Fehlergrenzen
von ± 9% schließen die Unsicherheit in der Normierung auf die Seriengrenze mit ein. CRAW-
FORD und SCHAWLOW [eS 49J setzen für LI :z;,xp die Is.V. der Konfiguration 5d9 6s 6P ein,
was uns jedoch (vgl. Fig. 1) wegen der unterschiedlichen Abschirmungswirkung eines 6p
und 5d-Elektrons nicht ganz berechtigt erscheint.
, Bezugsterm ist 7 d 2Dfr; da ein 7 dfr- Elektron theoretisch eine extrem kleine Ladungs-
dichte am Kernort besitzt und der Term anscheinend ungestört ist [eS 49J, sollten die Is.V.
in guter Näherung auf die Seriengrenze normiert sein.
4 Nach einer Störungsrechnung von LUCAS [Lu 48J erhält man für den gestörten 6s 9s
150 - Term, auf den die Is.V. des Tl II experimentell bezogen sind, eine Is.V. von - 5 - 10-3 cm-l
gegenüber der Seriengrenze. Die Unsicherheit dieser Störungsrechnung geht in die angege-
benen Zahlenwerte ein.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 27

Spalte 2 von Tabelle 6 enthält in den ersten drei Zeilen die gCJ;Ilessenen
Is.V. für das Isotopenpaar Tl 203 - 205 im 6s, 7 sund 8s 2S,_ Telm des ]J

alkaliähnlichen Tl III-Spektrums. Bezugsterm ist die Seriengrenze 1 5 tP0


(Grundzustand des Tl IV). In Spalte 3 stehen die zugehörigen Werte für
Z! (1- da/dn)/n:t. Gegenüber dem großen Variationsbereich (10: 1) von LI T.xp
in Spalte 2 kann man den in Spalte 4 angegebenen Quotienten als an-
nähernd konstant bezeichnen. Der noch vorhandene Gang des Quotienten
mit der Quantenzahl könnte durch einen geringen Fehler in der Normierung
der Is.V. auf die Seriengrenze hervorgerufen sein, denn für die Differenz
7 s- 8s, bei der diese Nor-
mierung herausfällt, erge- gegenseitige Abschirmung
Abschirmung durch d-Elektrm der s' -Elektronen
ben sich in Zeile 4 gut __ ,~ ___
~AI... ~ ~_ _ _~AI..._ _~,

mit Zeile 1 übereinstim- 0.75 (:t0.09) 0. 79(:t 0.05 ) '1,60(:t 0. 11) (~11,46

mende Werte .. Entspre-


chend steht in Spalte 6
der Quotientaus Is.V. und Hg I
Hfs. -Aufspaltungsfaktor
asdes Tl205 (bzw. derQuo-
tient aus den Differenzen HgH
der beiden Größen für
zwei Terme). Auch diese
, 0.95(:t0.07) (~J 0.91
Quotienten können inner- ~-----~v'-----~/
halb der experimentellen Abschirmung durch p -Elektron
Unsicherheiten als kon- Fig. 1. Schematische übersicht über die Is.V. im Hg 1-
und Hg lI-Spektrum (Bezugsterm 5dlO Hg 111). Angaben
stant angesehen werden. in 10-3 cm-l für das Isotopenpaar Hg 200-Hg 202.

II 1,1, b. Abschirmungen.
Die Diskussion der Tabelle 6 bedarf einer Ergänzung, da die gemessenen
Is.V. LI T.xp wegen des Auftretens von Abschirmungseffekten noch nicht mit
den allein vom 6s-, 7 s- usw. Elektron herrührenden Is.V. identifiziert werden
dürfen. Die Bedeutung der Abschirmungen soll zunächst am Beispiel des
Hg-Spektrums erläutert werden.
Fig. 1 zeigt eine schematische Übersicht über die Is.V. in den wichtigsten
Elektronenkonfigurationen des Hg I und Hg 11. Bezugsterm 2 ist der Grund-
zustand des Hg III, 5 dlO • Die Messungen stammen von MROZOWSKI, SCHÜLER

1 Siehe hierzu die Fußnoten bei Tabelle 6.


t da/dn wird zweckmäßig nach der Formel da/dn= (da/dT)/(da/dT-n a/2T) ausgewer-
tet. Siehe z.B. [eS 49J.
2 Die Is.v. des Hg I wurde über die ungestörte [Wa 34J 5d lO 65n5 3Sc Serie an den
Grundzustand 5dlO 65 2S! des Hg 11 angeschlossen. Aus dem Vergleich der Aufspaltungs-
faktoren as von 65251 und 65 8s "51 [BK 51J sieht man, daß der 6585-Term nur noch eine
etwa + 5 • 10-3 cm-l größere Is.V. als die Seriengrenze haben sollte. Wegen der Kleinheit
dieser Korrektur ist der Anschluß praktisch hypothesenfrei.
28 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Tabelle i. Auswertung der Is. V. des TIIII-Grundzustandes 5d'0 6s, bezogen auf 5d lO •
Zahlenwerte in 10- 3 cm-I •
1 2 3 4 5
------
I

Is.V. 5 d 10 6s Tl III
Is.V. Is.V.
Konfiguration durch Ver- I durch Ver-
Hg 200-202 Tl 203-205
gleich mit Hg gleich mit Pb

Sd 9 6s 6p bezogen auf 5d'o 350 410 323 341


5d 9 6s' bezogen auf 5d'o 560 710 350 322
Sd 9 6s 2 6p bezogen auf 5d'o 65 (:::;.) 235 340 ( s)4oo 354
Bestwert 340± 30.

und anderen Autoren (Literatur siehe [EK 51J) und sind von MROZOWSKI
[Mr 42J diskutiert worden.
Für zwei durch einen Pfeil verbundene Elektronenkonfigurationen steht
das Verhältnis der gemessenen Is.V. am Pfeilende. Die dabei aufgeführten
Fehler sind aus den experimentellen Unsicherheiten abgeschätzt worden und
stellen nur einen Anhalt dar. Die durch eine Klammer zusammengefaßten
Zahlenpaare stimmen relativ gut überein, so daß sich folgende Aussagen
gewinnen lassen: Die Anwesenheit eines 6 p- bzw. 5 d-Elektrons erniedrigt
die Is.V. der 6s- und 6s 2 - Terme um '" 7 % 1 bzw. "-'23 % 2; eine 6s 2 -Kon-
figuration hat gegenüber der zugehörigen 6s-Konfiguration nicht die doppelte,
sondern nur die 1,55fache IS.V.3. Ähnliche Auswertungen am Pb [Ex 51J
ergeben in guter Übereinstimmung damit für die Abschirmung durch das
6p-Elektron "-'11 %, durch das 5d-Elektron "-'26% und für die 6s 2 -Kon-
figuration den Faktor "-' 1,64.
Unter der Annahme, daß die Abschirmungen im Hg- und Pb-Spektrum
auf das Tl-Spektrum übertragen werden können, ist in Tabelle 7 die Is.V. des
Tl III SdlO 6s-Terms ausgewertet worden. In Spalte 1 stehen die Elektronen-
konfiguration und der Bezugsterm, in den Spalten 2 und 3 die gemes-
senen Is.V. für die Isotopenpaare Hg 200-202 (vgl. Fig.1) und Tl 203-205
(Literatur bei Tabelle 6). Die Werte der Spalte 4 wurden mit der Is.V.276
für das 6s-Elektron des Hg II nach dem Schema 410·276: 350 =323 usw.
1 Der direkte Beitrag eines 6N-Elektrons zur Is.V. sollte für Z = 80 theoretisch [RH 32J
etwa 5% von dem eines 6s-Elektrons ausmachen; für 6p~- und5d-Elektronen sollte er ver-
nachlässigbar klein sein. Experimentell ist der Unterschied zwischen der Is.V. eines p!-
und PI-Elektrons bisher nicht mit Sicherheit feststellbar gewesen, so daß die direkten Bei-
träge schon der p}-Elektronen offenbar in den Meßfehlern und Störungen untergehen. Sie
werden deshalb im folgenden stets vernachlässigt.
• Die große abschirmende Wirkung des 5d-Elektrons ist verständlich, da sich nach den
Rechnungen von HARTREE [HH 35J die 5d-Elektronen hauptsächlich innerhalb der 65-
Elektronen aufhalten (s. z.B. [Dö 50J). An Hand von empirischen Daten läßt sich zeigen,
daß der Einfluß der Sd-Elektronen auf die 5s 2-Schale keine große Rolle spielt [Bx 51]. Be-
sonders große Abschirmungseffekte des noch tiefer liegenden 4f-Elektrons sollten bei den
Seltenen Erden auftreten; in der Tat lassen sich einige sonst unverständliche Beobachtungen
am Sm [Bx 49J zwanglos so verstehen [BK 49, BE 51].
3 Zum Vergleich: Das Verhältnis der entsprechenden nach HARTREE-FoCK gerechneten
1f'~(O)-Wer·te beträgt 1,43 beim Mg [BT 49J und Ca [HH 38J.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 29

berechnet. Die Angaben in Spalte 5 sind auf ähnliche Weise aus den Ab-
schirmungen im Pb-Spektrum gewonnen worden.
Ein schönes Beispiel für die Bedeutung der Abschirmungen liefert das
Tl I-Spektrum l , für das sich die gemessenen Is.V. [SK 31a] in Tabelle 8
finden. Bei Normierung auf die Seriengrenze bekommt der 7 s-Term gar
keine Is.V. und der 6p 2P-Term eine Is.V mit falschem Vorzeichen, was
unverständlich erscheint. BREIT [Er 32] hat jedoch bereits 1932 darauf hin-
gewiesen, daß man die beobachteten Is.V. als Abschirmungseffekte des Leucht-
elektrons auf die 6s2 -Schale deuten muß. Es läßt sich zeigen, daß diese
Deutung auch quantitativ durchgeführt
werden kann: Tabelle 8. Isotopieverschiebungen im
Tl I-Spektrum.
Für die Is.V. der Konfiguration 5 dlO 6s 2
läßt sich nach dem Muster der Tabelle 7 Term I Is.V. Tl 203-205
der ungefähre Wert 560 (bezogen auf 5tP°) 6s' 6p 2Pi o
auswerten. Nach den Angaben der Ta- 6s' 6p 2Pi o (Bezugsterml
6s 2 7 s oS! +60
belle 8 ist die Is.V. in der Konfiguration 6s' 6d "D I + 50
5dlO 6s2 6p um ",60 kleiner. Daraus folgt 6s" 8P, 9P, 10P" P I ~ +60
eine 6p-Abschirmung von ",60/560 = 10 %,
was gut zu dem Wert beim Hg ('" 7 %) und Pb ('" 11 %) paßt. Für das 7 s-
Elektron heben sich der eigene Beitrag zur Is.V. und die Abschirmungswirkung
auf die 6s2 -Schale in der Normierung auf die Seriengrenze annähernd auf.
Das 7s-Elektron wird jedoch nicht nur, wie eben gezeigt, auf die 6s 2 -
Schale, sondern auch auf die tiefer liegenden 5S2_ usw. Elektronen Abschir-
mungseffekte ausüben, und ähnliches muß z. B. auch für das Leuchtelektron
des Tl III gelten. Betrachtet man etwa den Vorgang der Ionisierung des 6s-
Elektrons im Tl III, so gilt folgende Bilanz für die Ladungsdichte am Kernort :
Li!p (0) !P6s (0) - [b!p5s' (0) + bq:5P' (0) + ... + lJ!Pls (0)] (5)
Gesamtänderung Ladungsdichte Änderung der Ladungsdichte am Kernort
(Abnahme) der am Kernort des für die inneren Schalen auf Grund der
Ladungsdichte 6s-Elektrons im geringeren Abschirmung
am Kernort 5dlO 6s-Term
y

Li Texp Li Tos- IX·LiT6s (6)

Wie durch Pfeile angedeutet, entspricht der linken Seite von GI. (5) die
experimentell gemessene (auf die Seriengrenze bezogene) Is.V. Li T.xp. Das
erste Glied auf der rechten Seite ist der direkt vom 6s-Elektron herrührende
Beitrag zur Is.V. Li Tos, wie er z. B. für einen Vergleich mit der Theorie be-
nötigt wird. Das dritte Glied läßt sich - formal - als IX • Li Tos schreiben.
Wenn noch der massenabhängige Effekt Li1~ hinzugefügt wird, folgt all-
gemein aus Gl. (6)
(7)
1 Ähnliche Verhältnisse liegen im Pb I-Spektrum vor [Er 32, Ex 51].
30 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

mit
ß=1-r:x.. (8)
(Es ist zu beachten, daß LI TM normalerweise negativ ist.)
Die Kenntnis der Größe ß = 1 - r:x. ist für die Auswertung von LI T. aus
den gemessenen Is.V. von entscheidender Wichtigkeit. CRAWFORD und
SCHAWLOW [CS 49J haben als erste versucht, ß an Hand von HARTREE-
Funktionen [RH 35] für das Hg abzuschätzen. Sie geben den Wert r:x.;::;;0,16
für das 6s-Elektron des Hg an. HUMBAcH [Hu 51] hat jedoch bei einer ein-
gehenderen Diskussion der Abschirmungswirkungen gezeigt, daß es nicht
genügt, die direkte Abschirmung der tiefen s2-Schalen durch das 6s-Elektron
zu betrachten, wie es bei [C S 49] geschehen ist. So tritt z. B. auf dem Umweg
über die 5dlo·Schale eine indirekte Abschirmungswirkung des Leuchtelektrons
auf die 5s2-Schale auf, die die direkte Abschirmung wahrscheinlich völlig
kompensiert. Wegen dieser indirekten Abschirmungen muß damit gerechnet
werden, daß ß unter Umständen sogar größer als 1 (r:x. < 0) werden kann.
Das erscheint zunächst nicht sehr wahrscheinlich, jedoch erhält man auch
bei dem Versuch, die Größe ß aus den Hfs.-Daten am Hg empirisch abzu-
leiten [Ex 51], einen etwas über 1 liegenden Wert.
Leider ist die Situation heute noch so, daß eine definierte Angabe des 11
für beliebige Spektren nicht möglich ist. Wir haben uns deshalb entschlossen,
bei der folgenden Diskussion des experimentellen Materials den Faktor ß
stets ohne Angabe eines Zahlenwertes mitzuführen.

I I I, 1, c. Experimentelle Isotopieverschiebungskonstante.
Für die schweren Elemente kann der massenabhängige Effekt nach Ka-
pitel II mit großer Wahrscheinlichkeit vernachlässigt werden, so daß nach
(7) LlI;xp R::1 ß LI T. ist. Unter der berechtigten Voraussetzung!, daß ß inner-
halb einer s-Termserie als annähernd unabhängig von der Quantenzahl an-
gesehen werden kann [Hu 51], gilt die in III, 1, a nachgewiesene empirische
Proportionalität zwischen der Ladungsdichte eines s-Elektrons und LlI;xp
auch für 2 LI T.. Das Verhältnis von LI T. zur Ladungsdichte des s-Elektrons
am Kernort ist dann - unabhängig vom betrachteten Feinstrukturterm -
eine für das betreffende Isotopenpaar charakteristische experimentelle Konstante.

1 Diese Bedingung ist nicht sehr kritisch, da wegen der experimentellen Fehlerquellen fJ
nur größenordnungsmäßig konstant zu sein braucht.
2 Es gibt zwei Betrachtungsweisen: 1. Stellt man sich auf den Standpunkt, daß die
theoretischen Grundlagen der GI. (2) richtig sind, so ist die Proportionalität zwischen LI Ts
und tp~ (0) eine Trivialität. Aus dem experimentellen Sachverhalt LI Texp -tp~ (0) folgt dann
die Konstanz von fJ als empirischer Befund. 2. Will man die Beschreibung des experimen-
tellen Materials ohne Verquickung mit einer speziellen Theorie durchführen, so folgt aus der
anderweitig rechnerisch begründeten Konstanz von fJ (innerhalb einer Termserie) die Pro-
portionalität von LI T, mit tp~ (0) als rein experimentelle Gesetzmäßigkeit. Wir haben uns
hier auf den zweiten Standpunkt gestellt.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 31

Wir haben die hierzu proportionale Größe

C LI Ts
exp = 'P~ (0) n ~k/Z (9)

als "experimentelle Is.V.K." cingeführt[BK 49]. Nach (3) ist dann


C LI Ts
(10)
exp R::! Z! (1 _ da/d~)/n~

Für die Bestimmung von 'lf;(0) aus as hat man nach BREIT [Br 31J und
FERMI [Fe 30, F 5 33J mit Korrekturen nach ROSENTHAL und BREIT [RB 32,
C549] und BOHR und WEISSKOPF [mV 50, Bo 51]:

(11 )
wobei 1
(12)
und 2
8 R (1.2
K = - _00_ = 8,486 . 10- 3 cm -1.
3 mp/me

Daraus folgt als dritte mögliche Form:

C LI~
exp R::! asiF . (14)

Für das Isotopenpaar Tl 203 -205 sind die in Spalte 4 von Tabelle 6
berechneten Quotienten wegen (10) bereits die Werte für ß· Cexp ' Aus den
Angaben der Spalte 6 ergibt sich ß Cexp durch Multiplikation mit dem
Faktor 3 F =4430' 10- 3 ern-I. Die Genauigkeit, mit der die Zahlcn in
Spalte 7 mit denen in Spalte 4 übereinstimmen, ist ein Zeichen für die
erstaunlich gute Äquivalenz 4 der Formeln (10) und ('14).
Als Bestwert wollen wir nach Tabcllc 4 für das Tl 203 -205
ßCexp = (280 ± 40) . 10- 3 cm-1
angeben.

11 I, 1, d. Relative Isotopenlagen.
Das wichtigstc ncucre Ergebnis über die relativcn Isotopenlagen ist dic
Beobachtung yon KLINKENBERG [Kl45], daß das Neodym genau wie das
Samarium (SCHÜLER und SCHMIDT [5534]) zwischen dcn Neutronenzahlen
1 Dabei bedeuten: g[ den Kern-g-Faktor; x die relatiVistische Korrektur: x = 3!(4a2 - 1) a

V
mit a = 1- (l.2Z2; 0 eine Korrektur, die den Einfluß des endlichen Kernvolumens auf die
Eigenfunktion des s-Elektrons berücksichtigt; 15 eine Korrektur, die die Verteilung des ma-
gnetischen Kernmoments auf das endliche Kernvolumen berücksichtigt.
2 R oo = RYDBERG-Konstante für unendlich große Kernmasse ; (I. = Feinstrukturkon-
stante; mplme = Verhältnis von Protonenmasse zu Elektronenmasse.
3 Benutzte Zahlenwerte: Z=81; g[=3,26; x=2,32; 0=0,12; 15=0,03.
4 Auch bei den übrigen schweren Elementen stimmen die Berechnungen nach (10) und
(14) sehr gut überein; vergleiche dazu die Werte für Z~(1-da!dn)!n~ und as!F bei den Ele-
menten Rb, Xe, Ba, Pt und Hg (Kapitel IH, 1, e). Weitere Daten zur Genauigkeit der
GOUDSMIT-FERMI-SEGRE-Formel bei [CS 49, SHC 49, ERC .50J und [PI50J.
32 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Tabelle 9. Relative Isotopievef'schiebungen beim Neodym und Samaf'ium.


Der Abstand zwischen den Isotopen mit 82 und 86 Neutronen wurde willkürlich gleich 2
gesetzt.

Neutronenzahl . I 82 1 83 84 85 86 87 88 90 92
Nd. Z = 60 . . . I 0 1 ? 1.03 ? 2 3.08 4.73
Sm.Z=62. . . 0 - ~ 1,41 2 ;;;;;;2.26 3.14 4.81 5.72

88 und 90 eine anomal große Is.V. zeigt. Es konnte nachgewiesen werden


[BK 48], daß die relativen Isotopenlagen im Sm und Nd - wenn man auf
gleiche Neutronenzahlen be-
Pb206 Pb 20 7 RJ208 zieht. _ innerhalb der Feh-
lergrenzen quantitativ über-
+1.0 einstimmen (s. Tabelle 9).
Es dürfte sehr lohnend sein,
Ij v (206-207) .
Ij v (206 -208) • diese Beziehung mit den
neuerdings in den USA. ge-
~~--~~--------~~~
- - - - - - - - 03 75 trennt verfügbaren Isotopen
genauer nachzuprüfen.
Der Frage, ob alle Linien
(und damit Terme) eines
Elementes dieselbe relative
Is.V. haben, ist merkwür-
digerweise erst in letzter
-2,0 Zeit experimentell erhöhte
Aufmerksamkeit gewidmet
Pb208 Pb207 Pb 206
worden. Dabei sind derar-
Fig. 2. Beeinflussung der relativen Isotopenlagen des
Pb durch eventuelle massenabhängige Effekte. LI" vom tige Messungen - abgesehen
Volumeneffekt herrührender Anteil; LI "M vom massen- yon anderen Gesichtspunkten
abhängigen Effekt herrührender Anteil für das Isotopen-
paar Pb 206 - Pb 208. Weitere Erläuterung im Text. [BAC 50] - sehr wichtig für
eine Nachprüfung, wie weit
bei den schweren Elementen noch der massenabhängige Is.V.-Effekt eine
Rolle spielt. Das soll an Hand der Fig. 2 für das Pb diskutiert werden.
Auf der waagerechten Linie in Fig. 2 sind in willkürlichem Maßstab vom
Pb 206 aus der Schwerpunkt der Hfs. des Pb 207 und die Lage der Isotopen-
komponente des Pb 208 markiert. Die schrägen Linien zeigen, wie sich die
Isotopenlagen verschieben, wenn ein massenabhängiger Effekt Ll '/IM addiert
oder subtrahiert wird. Dieser muß für das Pb 208 (c5A = 2) doppelt so groß
sein wie für das Pb 207 (c5A = 1). Mit dem Beitrag des massenabhängigen
Effektes ändert sich, wie man sieht, das Verhältnis Ll'/l (206-207): Llv
(206-208). Die experimentell an 10 Pb 1- und Pb lI-Linien gemessenen
Werte liegen nach neu esten Messungen von MURAKAwA und SUWA [MS 50]
zwischen den gestrichelten Linien der Fig. 2. Auch die Messungen der übrigen
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 33

Autoren [Km 32, SJ 32, RG 32, Ra 35, RS 36, MAW50J ergeben keine
wesentlich größere Schwankungsbreite. Nun werden sich bei der Mittel-
wertbildung über 10 verschiedene Pb-Linien eventuelle massenabhängige
Effekte in guter Näherung herausmitteln. Der Mittelwert LI'II (206-207) : LI '11
(206- 208) = 0,38 5 kann deshalb als charakteristisch für den IS.V.-Effekt der
schweren Elemente am Pb angesehen werden. Selbst wenn man die Streuung
der Meßwerte allein 1 auf massenabhängige Effekte schiebt, können diese
nach Ausweis der Fig. 2 höchstens ±9% des Is.V.-Effektes der schweren
Elemente ausmachen. Eine Nachprüfung am Hg [Mu 50J hat ebenfalls eine
Konstanz der relativen Isotopenlagen ergeben.
Die Fig.2 zeigt ferner 2, daß bei bestimmten Verhältnissen von LI'IIMILI 'IIs
die Isotope nicht mehr in der Reihenfolge der Massenzahlen geordnet liegen.
Derartige Verhältnisse kommen anscheinend an einigen Ba-Linien 3 vor [Ar 50].
Es darf daraus jedoch nicht auf eine falsche Reihenfolge der Isotope für den
Is.V.-Effekt der schweren Elemente am Ba geschlossen werden. Die am Xe 3
beobachteten relativen Isotopenlagen [KR 50] sind wahrscheinlich ebenfalls
noch durch den massenabhängigen Effekt verfälscht.
Eine ernste Schwierigkeit scheinen die am Uran gemessenen relativen
Is.V. [BSA 49J zu bereiten. Das Verhältnis ,1'11 (233-.235) : LI '11 (233--238)
schwankt für 12 Linien regellos zwischen 0,26 und 0,70. Das ließe sich durch
massenabhängige Is. V. nur dann erklären, wenn diese ein Mehrfaches des
Is.V.-Effektes der schweren Elemente ausmachen würden. Es scheint uns,
daß das vorliegende experimentelle Material bisher noch nicht genügend
gesichert ist, um derartig weittragende Schlüsse zu ziehen. Genauere Mes-
sungen am Uran sind deshalb dringend erwünscht.

111, 1, e. Zusammenstellung der wichtigsten experimentellen Daten.


In diesem Abschnitt werden die experimentellen IS.V.K. und die relativen
Isotopenlagen für diejenigen Elemente zusammengestellt, bei denen eine Aus-
wertung bisher möglich ist.
Die Is.V.K. geben wir in der Form ßCexp 4 (kurz: ßC) an, da sich nur
diese Größe direkt aus dem experimentellen Material auswerten läßt. Wir
haben die benu tzten Zahlenwerte aufgeführt 5 und den Gang der Aus\\'ertung
1 Die Streuung kann allein durch die unvermeidlichen Meßfehler erklärt werden.
2 Die Abbildung 1st auch für Elemente mit beliebigen anderen relativen Isotopenlagen
brauchbar, wenn drei Isotope sich um dasselbe oA unterscheiden. Dazu hat man nur die
ausgezogene waagerechte Linie nach oben oder unten zu verschieben und den Ordinaten-
maßstab zu ändern.
3 Für das Xe und Ba ist L1v s extrem klein und daher von derselben Größenordnung
wIe L(VM'
4 Früher [BK 1-9J haben wir mitß"" 1 gerechnet.
5DIC Größen n a und dajdn wurden aus dem Feinstrukturtermschema ausgewertet. Bei
der Berechnung von n a nach der Formel n~=Z~RoojT wurde für T nach Möglichkeit der
Schwerpunktsabstand der Terme bzw. Elektronenkonfigurationen mit und ohne s-Elektron
Gottlnger Akademle-Festschnft. 3
34 PETER BRIX und HANs KOPFERMANN:

kurz skizziert, im übrigen verweisen wir auf die ausführlichen Beispiele in


den Kapiteln III, 1, a, bund c. Die Einheit 10- 3 cm -1 wurde auch in dieser
Zusammenstellung meist der Einfachheit halber fortgelassen.
Bei den relativen Isotopenlagen wurde die Lage je eines Isotops will-
kürl~ch gleich 0 und 1 gesetzt und die Lage der übrigen Isotopenschwer-
punkte in diesem Maßstab angegeben.

A. Elemente, bei denen die Is.V.K. aus einem alkaliähnlichen


Spektrum ausgewertet werden kann.
Rb (Z= 37).
Rb 85-87. Nach KOPFERMANN und KRÜGER [KK 36J und HOLLENBERG [Ho 37J ist für
das Rb I: LI Texp(5s) = -1,3 ± 1.
LlTM =-2,7±1,1 (nach Tabelle 3 geschätzt); ßLlTss =+1,4±2,1.
n a =1,805; 1-da/dn=1,08; (1-da/dn)/n!=0,184.
F=194· ta- 3 cm-1 (mit gl=0,5414; ,,= 1,150; t5=0,01; E=O,OO);
a 5s =33,755; a 5s !F=0,174
ßC = (8 ± 12)· ta- 3 cm-l .

Pd (Z=46).
Pd 106-108. Nach unveröffentlichten Messungen von STEUDEL am Pd I [St 51, BS 51J ist:
ßC = (38 ± 8)· ta- 3 cm- l . (Vorläufiger Wert.)

Ag (Z=47).
Ag ta7-109. Nach BRIX, KOPFERMANN, MARTIN und WALCHER [BKMW 51J ist:
ßC = (38 ± 6)· ta- 3 cm-l .

Cd (Z = 48).
Cd 112-114. Nach BRIX und STEUDEL [BS 50J ist:
ßC = (34 ± 4)· 10- 3 cm- l •

Relative Isotopenlagen [BS50]. (114):0; (112):1; (110):~2,1.

Xe (Z= 54).
Xe 134-136. Nach KOCH und RASMUSSEN [KR 50J ist für das Xe I:
LI Texp (6s) = 3,3±0,5.
LlTM =-0,7±0,5 (nach Tabelle 4 geschätzt); ßLlT6s =4,0±1.
n a = 1,900; 1-da/dn= 1,08; (1-da/dn)/n!=0,157.
F=-923·ta- 3 cm-1 (mit g/=-1,545; "=1,37; t5=0,04; 1'=0,01);
a6s =-145 (jj-Kopplung); a6s /F=0,157.
ßC = (25 ± 6)· ta- 3 cm-l •

Relative Isotopenlagen ([KR 50J, nach Berücksichtigung des massenabhängigen Effektes).


(136) :0; (134): 1; (132): ~1,7.
Die Schwerpunkte der ungeraden Isotope 129, 131 liegen nahe bei den schwereren geraden
Isotopen 130, 132.

benutzt. Auf die Literaturangaben hierfür haben wir verzichtet. Die Größe t5 ist von CRAW-
FORD und Mitarbeitern für einige Elemente berechnet worden [CS 49, SHC 49, KRC 50,
CSKG 50J; zwischen diesen Werten wurde interpoliert. Die Berechnung von E erfolgte nach
BOHR und WEISSKOPF [BW 50J, wobei für ein unpaariges Proton gL = 1, gs = 5,59 und für
ein unpaariges Neutron gL = ° gesetzt wurde. Literaturangaben fur die den as-Werten zu-
grunde liegenden Hfs.-Messungen finden sich bei [BK 51J.
~euere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 35

Ba (Z= 56).
Ba 135-137. Nach ARRoE [Ar 50J ist für das Ba II: LI Texp (6s) = 6± 1,5. (Unsicher; KELLY
[unveröffentlichtJ findet etwa den doppelten Wert, s. auch [KW 51].)
LI TM = - 2 ± 1 (nach Tabelle 3 geschätzt); ßLI Tus = 8 ± 2,5.
na=2,332; 1-dajdn= 1,097; Z!(1-dajdn)jn!=O,346.
F=398'1O-s cm-1 (mitg l =O,624; :>e=1,41; 15=0,04; e=O,01);
ass = 135,5; aBsfF = 0,340.
(Vorläufiger Wert.)

Relative Isotopenlagen ([Ar 50J, nach Berücksichtigung des massenabhängigen Effektes).


(138):0; (137):""1,0; (136):1; (135):""2,1; (134):2,0. (Es ist experimentell nicht gesichert,
daß der Wert für das Ba 135 größer als der für das Ba 134 ist.)
Ce (Z=58).
Ce 140-142. Nach BRIX und FRANK [BF 50J ist für das Ce II: LI Texp (6s) = 54 ± 3.
In geringfügiger Abänderung der Auswertung von [BF 50J ist:
.1 TM = - 2 ± 5 (vorsichtig geschätzt); ßLI TBS = 56 ± 8.
Z!(1-da/dn)/n~=O,380 (nach dem von [BF50J angegebenen Verfahren 1 ausgewertet,
Fehler wahrscheinlich kleiner als ± 5 % ).
ßC = (147 ± 30)' 1O-S cm-1 •
Nd (Z=60).
ßC bisher unbekannt. Relative Isotopenlagen siehe Tabelle 9.
Sm (Z=62).
Sm 144-148 (halber Wert, somit t5A = 2 wie bei den anderen Elementen). Nach BRIX
und KOPFERMANN ([BK 49J, dort Tabelle 4 und Fig. 5) ist für das Sm II:
LI Texp (6s) ~ ßLI T6s = 0,610' 253 = 77 ± 8.
n a =2,208; 1-da/dn= 1,09; Z!(1-da/dn)/n~=O,406
für das Eu II; diese Werte sollten angenähert auch für das Sm II gelten [Al 36J. Die Un-
sicherheit der Übertragung auf das Sm II wird auf höchstens ± 10% geschätzt.
ßC = (190 ± 40)' 1O- S cm-1 •
Relative Isotopenlagen siehe Tabelle 9.
Eu (Z = 63), Gd (Z = 64), Yb (Z = 70).
Die Auswertung von ßC für diese Elemente soll in einer demnächst erscheinenden Arbeit
von BRIX diskutiert werden. Es handelt sich im folgenden um vorläufige Werte, die sich
jedoch voraussichtlich nicht wesentlich ändern werden.
Eu 151-153. Nach Messungen von SCHÜLER und SCHMlDT [5535J am Eu I ergibt sich:
ßC = (445 ± 65) '1O- S cm-1 •
Gd 158-160. Nach unveröffentlichten Messungen von BRIX und ENGLER [BE 51, En 51J
am Gd I und von BRIX [Bx 51J am Gd II ergibt sich:
ßC = (120 ± 25) . 10-3 cm-1 .
Relative Isotopenlagen [BE 51J. (160) :0; (158): 1; (156): ",,2,0.
Yb 171-173. Nach Messungen von SCHÜLER und KORSCHING [5K 38J am Yb I ergibt sich:
ßC = (138 ± 30)' 1O-S cm-1 •

Relative Isotopenlagen [5K38]. (171):0; (172):0,62; (173):1; (174):1,38; (176):2,10.

1 Ursprünglich (Fig.4 von [BF 50]) war näherungsweise mit 1-da/dn ~ na(7s) -n a (6s)
gerechnet worden. Mit dem differentiellen da/dn ergibt sich eine Korrektur von 3,5% für
das Ce II [En 51].
3*
36 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

W (Z= 74).
-----
W 182-184. Nach KOPFERMANN und MEYER [KM 47] zeigt das W I folgende Is.V.: Sd 5 6s:0
(Bezugterm); Sd'6s·:+73;Sd'6s6P:+16. Extrapolation vom Hg 11 (ähnlich wie in Ta-
belle S) ergibt für Sd 5 6s, bezogen auf Sd 5 : LI Texp (6s) R: ßLl16s = 70 ± 10.
n a = 1,329; 1-drJ/dn= 1,40±0,1St; (1-drJ/dn)/n!=0,596±0,06.
ßC = (117 ± 30)' lO-·cm-l .

Relative Isotopenlagen [KM 47, VM51]. (180):-0,91; (182):0; (184):1; (186):1,89.

Ir (Z= 77).
Ir 191~193. Nach unveröffentlichten Messungen von v. SIEMENS [Si 50, BKS 50] ist:
ßC = (130 ± 40) ·lO-·cm-l . (Vorläufiger Wert.)

Pt (Z = 78).
Pt 194-196. Nach JAECKEL und KOPFERMANN [fK 36, Ja 36] und TOLANSKY und LEE
°
[TL 37] lassen sich folgende Is.V. für das Pt I angeben (vgl. [BK 51]): Sd lO : (Bezugsterm) ;
5d 9 6s:+90±10tt; Sd 8 6s·:+203; Sd 8 6s6P:+112; 5d 9 7s:+12.
F=1490'1O-s cm-l (mit g/=1,212; "=2,1S; (J=0,11; e=0,027).
n a (6s) = 1,2S1; 1 - drJ/dn = 1,37; (1 - drJ/dn)/n! = 0,699.
a6s =1042 [Sc36]; a6s!F=0,700.
n a (7 s) =2,373; 1-drJ/dn=1,04; (1-drJ/dn)/n!=0,078.
a7s =200±80; a7s !F=0,134±0,05.
Auswertung von ßC:
1. Aus Sd 9 6s unter der Annahme, daß Sdlo und die Seriengrenze 5d9 praktisch dieselbe
Is.V. haben (LI Texp (6s) ""'ßLlT6S =90± 10): ßC= 129± 14.
2. Aus der Differenz der Is.V. von Sd) 6s und 5d' 7sund
a) der Differenz der as!F-Werte: ßC=138±30,
b) der Differenz der (1-drJ/dn)/n!-Werte: ßC = 126± 16.
Dabei geht als Unsicherheit die experimentell nicht gut gesicherte Is.V. von 5d 9 7s ein.
3. Mit ßLlTbS = 110± 1S. (Diesen Wert erhält man aus den Is.V. der Konfigurationen
5d 9 6s, Sd 8 6s' und Sd 8 6s6p durch Vergleich mit dem Hg 11): ßC=1S7±22.
Bestwert: ßC = (13S ± 2S)' lO- s cm-l •

Relative Isotopenlagen [fK 36, TL 37], vgl. [BK 51]. (194) :0; (19S) :0,44 (196): 1; (198) :2,04.

Hg (Z=80).
Hg 200-202. Nach MROZOWSKI [Mr 42] ist fur das Hg 11: LI Texp (6s) "'" ßLI T6s = 276 ± 30.
n a = 1,703; 1 -drJ/dn= 1,248; Z!(1-drJ/dn)/n!= 1,010.
F=1320'10-scm-l(mitgI=1,008; "=2,257; (J=0,12; e=0,03);
a 6s =13S8; a 6s /F=1,028.

Relative Isotopenlagen [Mu 50, Mr 40, Sc 38, SK 31b, vgl. BK 51]. (198): - 0,92; (199):
-0,80; (200):0; (201):0,30; (202):1; (204):1,99.

Tl (Z= 81).
Tl 203-205. Nach der ausführlichen Diskussion in Kapitel 111, 1, a, c ist:
ßC = (280 ± 40) . 10- 3 cm-1 •

t Abgeschätzt aus einem Vergleich der Spektren Cu I-Ag I-Au I mit Cr I-Mo 1-W I.
tt Nach Beseitigung der Störung [Lu 48] auch für 3D. und lD 2 •
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 37

Pb (Z=82).
Pb 206-208. Nach einer unveröffentlichten Diskussion der Hfs. im Pb IH-Spektrum geben
HUME und CRAWFORD [HC50] folgende Werte an: LI Texp (6s) =ßLlT6s = 500; a 6s =2600.
Mit F=1640·1O- 3 cm-1 (g/=1,176; ,,=2,38; <5=0,13; e=0,03) wird
ßC =(315 ± 35) .1O-3 cm-l •
Diese Is.V.K. ist auch mit den Is.V. im Pb 1-, Pb H und Pb IV-Spektrum sehr gut ver-
einbar, wenn dieselben Abschirmungswirkungen wie beim Hg zugrunde gelegt werden.
Relative Isotopenlagen ([RS 36, MAW 50, Ge 50, MS 50]; s. auch Kapitel IH, 1, d). (204):
-0,90; (206):0; (207):0,38; (208):1.

B. Elemente, bei denen die Is.V.K. aus einem erdalkaliähnlichen


Spektrum ausgewertet werden muß.
Für die Elemente Re und Os liegen bisher nur Messungen der Is.V. an 6s' - 6s6p-Über-
gängen vor. Eine Umrechnung der Is.V. auf alkaliähnliche Terme erscheint zu unsicher,
da keine Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind. In Tabelle 10 wurde deshalb geprüft, ob

Tabelle 10. Zur Berechnung der experimentellen Is. V.K. aus der an den Ubergängen 6s'- 6s 6p
gemessenen Is. V.
(LI '1'- und ßC-Werte in 10-3 cm-l .)
1 2 3 4 5 6 7
ßC aus ßC aus Verhältnis
Spektrum A1-A. Llv(6s'-6s6p) n~ (6s')
(3), (4) LI T(6s) (6) zu (5)

SmI t (144-148) 46 3,76 173 190 1,1


Eu I 151-153 116 3,63 421 445 1,06
YbI 171-173 43 3,23 139 138 0,99
WI 182-184 57 2,22 126 118 0,94
PtI 194-196 91 1,64 149 135 0,91
HgI 200-202 179 I 1,49 267 I 270 1,01

eine angenäherte Auswertung der Is.V.K. direkt aus den gemessenen Is.V. der Linien mög-
lich ist. Zu diesem Zweck ist für die Bogenspektren derjenigen Elemente, bei denen die
Is.V.K. aus Abschnitt A bekannt ist (Spalte 6), die an den 6s' - 6s6p-übergängen gemessene
Is.V. mit dem n!-Wert des 6s'-Terms multipliziert worden l (Spalte 5). Ein Vergleich der
Spalten 5 und 6 zeigt, daß diese theoretisch nicht ohne weiteres gerechtfertigte Art der Aus-
wertung überraschend gut die aus einem alkaliähnlichen Term berechnete Is.V.K.liefert. Die
nach Ausweis der Tabelle (Spalte 7) entstehenden Fehler von ± 10% bleiben im Rahmen der
experimentellen Unsicherheiten, und die übertragung auf das Re und Os erscheint zulässig.

Re (Z= 75).
Re"185-187. Nach SCHÜLER und KORSCHING [SK 37] ist LI v (6s' - 6s 6P) = 65. Mit
n! (6s') ~ 2,27 wird
ßC =(148 ± ,...,40) ·lO-'cm-l .

Os (Z= 76).
Os 190-192. Nach den Messungen von KAWADA [Ka 38] kann LI v (6s' - 6s 6P) zu ,...,65
angenommen werden. Mit n!(6s') R; 1,95 wird
ßC = (127 ± ,...,40) .1O-3 cm-l •

Relative Isotopenlagen [Ka38]. (192):0; (190):1; (188):,...,1,95; (186):""'2,86?

1 Die Größe 1 -da(dn wurde nicht berücksichtigt.


38 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

In Fig. 3 sind alle bisher bekannten ßCexp·Werte in Abhängigkeit von Z


dargestellt. Bei Elementen mit mehreren Isotopenpaaren erfolgte die Um-
rechnung mittels der relativen Isotopenlagen. Die Kreise gelten für (jA = 2,
und zwar die leeren Kreise für gerade Massenzahlen, die ausgefüllten für
ungerade Massenzahlen. Die Is.V.K. für ungerade Isotope gegenüber den
x10- 3 cm- 1
1000
~
80 0
60 v
~

V~ T l -
JEu
400
..c
G"'
~ 20 0
cesm~ Re-Ir-Hg- Pb_
ti
lift
a1
-Cl

J5
0.
Cth fur Ra - 1,5 ·10-1l:m ___
Ra -1,4 .1O- ßcm,
~~ +Gd
""-
~
~ 60
/00
80
~
// Yb
.
wl
Os
1 Pt

j V
B. 4 O~ , ~g

J
/"
Pd P~Cd
Xe Ba
~ 20
.~
:s-
C;
.!:2 10
8 Rb
6
40 50 60 70 80
Z~

Fig. 3. Isotopieverschiebungskonstanten der schweren Elemente. Meßpunkte: 2ßCexp !(jA.


Leere Kreise für (jA = 2 und A gerade, ausgefüllte Kreise für (JA = 2 und A ungerade,
+
Kreuze für (JA = 1 (A, gerade, A 2 = A, 1). Für Isotopenpaare desselben Elementes sind
die relativen Lagen innerhalb der Zeichengenauigkeit sicher (außer vielleicht beim Xe und
Ba) ~ die Fehlergrenzen gelten für die Absolutwerte, und zwar die obere Fehlergrenze für den
höchsten, die untere Fehlergrenze für den tiefsten Wert. Ausgezogene Kurve: C th für das
Modell der homogen geladenen Kugel (s. Kapitel III, 2, a).

vorhergehenden geraden ((jA = 1) sind durch Kreuze markiert; in diesen


Fällen wurde 2 ßCexp aufgetragen, damit alle Werte vergleichbar sind. Zur
besseren Übersicht sind für die Kreuze keine Fehlergrenzen einge7eichnet
worden.
III, 2. Theorie.
111, 2, a. Kernvolumeneffekt.
Die Theorie des Kernvolumeneffektes ist in der klassischen Arbeit von
ROSENTHAL und BREIT [RB 32] bereits erschöpfend behandelt. Neu sind
lediglich einige Feinheiten in der Art der Darstellung und der numerischen
Auswertung.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 39

Dividiert man GI. (2) durch 1p;(0):7: a~/Z (und durch h cl, so erhält man
in Analgie zu (9) und wegen 1 Cf!s (0) "'1p; (0) einen theoretischen Wert für die
wiederum vom betrachteten Elektronenterm unabhängige IS.V.K.:
00

C= KZ,g(r)' f r5 V (r) <PZ,Q(r) (r) r2 dr (15)


o
mit
<P (r) = Cf!s (r)/Cf!s (0) . (16)
C hängt ab von dem Modell, das man sich von den Atomkernen macht.
Das Modell geht auf zwei verschiedenen Wegen in die Berechnung von C ein.
A. r5 V (r) läßt sich deuten als das Potential der Anderung r5e(r) der
Ladungsverteilung des Atomkerns beim Übergang von einem Isotop zum
andern. An dieser Stelle wird vom Modell eine Aussage verlangt, wie sich
die Ladungsverteilung des Kerns bei Anlagerung von Neutronen ändert, die
Ladungsverteilung selbst geht nicht in das r5 V (r) ein.
B. Die Konstante K vor dem Integral und der Verlauf <P (r) des Quadrates
der Wellenfunktion des s-Elektrons hängen ab von der Kernladungszahl Z
und von der Ladungsverteilung e(r) des Atomkerns. Da sich bei Anlagerung
von Neutronen an einen schweren Atomkern das e(r) nur geringfügig ändert,
ist der Einfluß des r5e (r) auf Kund <P (r) praktisch stets so klein, daß mit ein-
heitlichen Werten für alle Isotope desselben Elements gerechnet werden darf.
Nach den heutigen Vorstellungen über den Aufbau der Atomkerne ist es,
was Punkt B anbetrifft, stets ausreichend, das Modell der homogen geladenen
Kugel mit einem passend gewählten Kernradius R zugrunde zu legen. Ein
Kernmodell mit z. B. einer noch sinnvollen Anreicherung der Ladung am Kern·
rand (z. B. [SD 50]) oder einer auslaufenden Ladungsverteilung (z. B. [We 37])
liefert praktisch dasselbe Kund <P [Hu 51]; mit Fehlern von einigen Pro·
zenten muß sowieso wegen der Unsicherheiten in der \Vahl des genauen Kern-
radius gerechnet werden.
Sehr viel schwieriger ist es, zu Punkt A ein vernünftiges Modell für die
Ladungsänderung r5e(r) der Atomkerne bei Neutronenanlagerung anzugeben,
da hierfür detaillierte Vorstellungen über den Aufbau der Kerne notwendig
sind. Bisher hat man stets mit einer proportionalen Änderung des Kerns im
+
Maßstab (R r5R)jR gerechnet und R = Ro Ak gesetzt.
Im Modell der homogen geladenen Kernkugeln mit Massenzahlen A und
+
A r5A sieht die Ladungsänderung dann so aus, daß die Ladung r5A Ze/
+
(A r5A) dem Kerninnern gleichmäßig entzogen und am Kernrand in einer
differentiell kleinen Zone neu angebracht wird. Dieses Modell ist sicher sehr
grob, es hat jedoch den Vorteil, daß es sich noch mit Z, Ro und A als Para-
meter allgemein rechnen läßt. Derartige Rechnungen mit den richtigen
Elektroneneigenfunktionen sind in letzter Zeit verschiedentlich durchgeführt
1 Siehe Kapitel I.
40 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

worden [Be 45, IT 48, BK 491, CS 49, Ru 51]. Die so berechneten theo-
retischen Is.V.K. haben wir mit Cth (lies: theoretisch für homogen geladenen
Kern) bezeichnet. Für R o = 1,4 . 10-13 cm und 1,5 . 10 -13 cm ist Cth in Fig. 3
eingezeichnet. Ausführliche Tabellen für Cth finden sich bei HUMBAcH [Ru51],
dort ist auch angegeben, wie sich C für ein beliebig anders gewähltes !5e(r)
bequem berechnen läßt.

I I I, 2, b. Andere Effekte.
Der Einfluß der Nicht-CouLOMBschen Wechselwirkung zwischen Elek-
tronen und Neutronen [HRR 51, 'FM 47] auf die Is.V. ist so klein, daß er
völlig vernachlässigt werden kann [Co 36, BK 49, WB 51].
BREIT, ARFKEN und CLENDENIN [BAC 50] haben untersucht, welchen
Beitrag eine Polarisation des Atomkerns durch die Hüllenelektronen zur
Is.V. liefert. Dieser Beitrag ist in dem Kernvolumeneffekt entgegengerichtet.
Er läßt sich nur unter sehr detaillierten Annahmen über die betreffenden
Kerne numerisch auswerten. Abschätzungen ergaben, daß er die Größen-
ordnung des Volumeneffektes erreichen kann. Wegen der Einzelheiten sei
auf die zitierte ausführliche Arbeit verwiesen.

III, 3. Bedeutung des Isotopieverschiebungseffektes


für die Physik des Atomkerns.
Der in Fig.3 dargestellte Vergleich zwischen ßCexp und Cth zeigt, daß
-abgesehen von den eine Sonderstellung einnehmenden Elementen Ce, Sm
und Eu - alle ßCexp um einen Faktor 2 bis; kleiner sind als die aus dem
Vergleichmodell errechneten Is.V.K. Cth • \Vie in Kapitel III, 1, b diskutiert
wurde, läßt sich zur Zeit der Absolutwert von ßfür die verschiedenen Elemente
nicht berechnen. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, daß die Abschirmungs-
effekte der tiefen Elektronenschalen groß genug sind, um die Cexp mit den
Cth in Einklang zu bringen. Dazu wären ß-Werte erheblich kleiner als 1 not-
wendig, während -- wie oben schon angedeutet - beim Hg empirische
Argumente sogar für ß ~ 1 sprechen. Auch die Tatsache der großen Unter-
schied~. der PCexp innerhalb eines Elementes (sehr deutlich beim Hg), Unter-
schiede, die ja ebenso für die Cexp selbst gelten, zeigt, daß durch entsprechende
Wahl von ß immer nur Cexp für ein Isotopenpaar eines Elementes mit Cth
in Übereinstimmung gebracht werden könnte. Wir möchten daher glauben,
daß die in Fig.3 vorgewiesenen Unterschiede zwischen ßCexp und Cth - unter
Umständen etwas weniger kraß - auch zwischen Cexp und Cth bestehen 2, daß
also ß ziemlich allgemein nicht wesentlich von 1 verschieden ist rBK 49],
1 Enthält anderweitig unveröffentlichte Resultate von A. BOHR.
2 Dafür spricht auch (5. Fig. 4). daß der grobe Gang der Absolutwerte von ßCexp/Cu. in
auffälliger Weise von dem Gang der gut gesicherten Relativwerte nachgezeichnet wird. Zum
Beispiel tritt der Gang von Ce über Eu nach Gd auch in den relativen Is.V. des Sm (und Nd)
auf.
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 41

während man auf die kleinen Schwankungen im Verlauf der ßCexp beim
augenblicklichen Stand uns('rer Kenntnisse über die Is.V. noch keinen großen
Wert legen sollte.
Der von BREIT diskutierte Polarisationseffekt (Kapitel III, 2, b) kann
wohl nur eine sekundäre Rolle spielen [Ra 51], worauf später noch· kurz ein-
gegangen werden soll.
Somit stellen nach unserer Meinung die in Fig. 3 wiedergegebenen ßCexp
angenähert auch die Cexp-Werte in ihrer Abhängigkeit von Z dar und geben
nach dem früher Gesagten ein Abbild der Ladungsänderung der Atomkerne
beim Einbau von Neutronen. Aus der Tatsache, daß die ßCexp in der Mehr-
zahl der Fälle so stark vom Cth abweichen, möchten wir schließen, daß die
Vorstellung der von Isotop zu Isotop gleichmäßig im Verhältnis der Massen-
zahlen anwachsenden Kernkugel zu grob ist. Es genügt auch nicht, die für
schwere Kerne wohl zutreffendere Vorstellung einer nach der Peripherie hin
zunehmenden, am Kernrand exponentiell abfallenden Ladungsverteilung an-
zunehmen, wenn man an der gleichmaßigen Ausdehnung der Kernladung mit
der Massenzahl festhält: Wie HUl\fBACH [Hu 51] gezeigt hat, wird dadurch
Cth nur unwesentlich geändert. Man muß aus dem Sinne der Abweichungen
zwischen Cexp und Cth vielmehr schließen, daß die "Verdünnung" der Kern-
ladung durch neu hinzukommende Neutronen nicht gleichmäßig vor sich geht,
sondern daß die zuletzt eingebauten Neutronen vorwiegend die äußeren Kern-
gebiete beeinflussen [BK 47, BK 49]. Im Sinne des Einteilchenmodells
[GM 50, HfS50] sollten das die Neutronen mit hohem Drehimpuls sein.
Doch weiß man heute über die Eigenfunktionen der Nukleonen zu wenig,
um mit ihrer Hilfe quantitative Aussagen über die Änderung der Kern-
ladungsdichten machen zu können.
Auch die Sonderstellung der drei Seltenen Erden Ce, Sm und Eu läßt
sich durch speziell mit den 4/-Elektronen verknüpfte Abschirmungseffekte
-- falls solche wirksam sind - wohl nicht beseitigen, da das Gd bereits wieder
annähernd das ßCexp seiner rechten Nachbarn hat. Der große Sprung zwischen
den Cexp von Gd und Eu (""' 1 : 4) bleibt jedenfalls bestehen, da die entspre-
chenden ßCexp aus Feinstrukturtermen (Gd II und Eu I) mit gleicher Elek-
tronenkonfiguration und speziell der gleichen Zahl von/-Elektronen gewonnen
sind [Bx 51].
Die extrem großen Is. V. zwischen Eu 151 und Eu 153 einerseits und
Sm 150 und Sm 152 andererseits lassen sich vielleicht als einen Quadrupol-
effekt der Is.V. verstehen [BK 47, BK 49]. Der Gedanke ist kurz der fol-
gende: Beim Übergang von Eu 151 zum Eu 153 ändert sich das Quadrupolmo-
ment Q der bei den Kerne von 1,2 '10- 24 cm 2 auf 2,5 . 10-- 24 cm 2 [SK 36]. Diese
Quadrupolmomente sind viel zu groß, um von einem einzigen Teilchen her-
zurühren. Setzt man, wie üblich, voraus, daß die beobachteten Abweichungen
der elektrostatischen Kernladungsverteilung von der Kugelsymmetrie als
42 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Abweichung der Kerngestalt von der Kugelform aufzufassen sind, so muß


eine Änderung von Q beim Einbau von zwei Neutronen einen zusätzlichen
Beitrag zum Is.V.-Effekt liefern.
Wenn man, um zu einer zahlenmäßigen Abschätzung zu kommen, solche
Kerne als gestreckte, homogen geladene Rotationsellipsoide schematisiert,
so läßt sich dieser Zusatzeffekt, der proportional der Differenz der Quadrate
von Q geht, berechnen [BK 49J. Unter Benutzung der gemessenen Q-\Verte
der Eu- Isotope erhält man damit einen Quadrupolbeitrag zur Is.V., der
größenordnungsmäßig den anomal großen Wert von ßCexp des Eu verständlich
macht.
Diese Überlegung läßt sich auf die Kerne Sm 150 - Sm 152 übertragen.
Wenn man diesen als den Kernrümpfen der beiden Eu-Isotope entsprechende
Abweichungen ihrer elektrischen Ladungsverteilung von der Kugelsymmetrie
zubilligt!, gelten die gleichen Überlegungen; und für Q- Werte von ungefähr
der Größe der zugehörigen Eu- Isotope erhält man eine ebenfalls größen-
ordnungsmäßig richtige Deutung des Sprunges in den Is.V.K. des Sm 2.
Möglicherweise läßt sich auf gleiche Weise auch der Sprung in den Re-
Quadrupolmomenten mit der Abnahme der Is.V. der zugehörigen W-Isotope
in Beziehung bringen [KM 47J.
Leider ist es bisher nicht möglich, den Sprung in der Is.v. des Nd zahlen-
mäßig zu fassen, da man für dieses Element die Absolutwerte der ßCexp noch
nicht angeben kann. Die Beobachtung, daß die relativen Is.V. von Sm und
Nd quantitativ übereinstimmen, wenn man auf gleiche Neutronenzahlen
bezieht (s. Kapitel III, 1, d), ist ein schönes Beispiel dafür, daß die Neutronen
in den tiefsten Kernzuständen ihre Individualität wahren. Speziell die anomal
große Is.V. im Eu, Sm und Nd zwischen den Neutronenzahlen 88 und 90
macht die Zahl 88 zu einer weiteren ausgezeichneten Neutronenzahl, die
bisher im Rahmen des Einteilchenmodells nicht verstanden werden kann.
Die in Kapitel III, 1, e zahlenmäßig festgelegte Tatsache, daß der Schwer-
punkt der ungeraden Isotope näher beim nächst leichteren Isotop liegt
(odd-even staggering) ist eine der hervorstechendsten Gesetzmäßigkeiten
der Is.v., die ohne irgendwelche theoretische Hilfestellung rein aus dem
Experiment abgelesen werden kann.
Die Deutung des Phänomens ist noch umstritten. BREIT [BAC 50] hat
versucht, dafür den Polarisationseffekt (Kapitel III, 2, b) verantwortlich zu
machen, der bei ungeraden Isotopen größer sein sollte als bei geraden, weil
die angeregten Kernzustände der ungeraden Isotope näher am Grundzustand
liegen als die der geraden Isotope. Ob eine solche Polarisation des Kerns
iür diesen relativ groben Effekt verantwortlich gemacht werden kann, ist
1 Was wegen eines fehlenden Drehimpulses nur in Form von "permanenten" Quadru-
polmomenten möglich ist.
2 Bedenken gegen diese Vorstellung s. [BAC 50].
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 43

schwer zu entscheiden. Eine recht naheliegende, allerdings nur sehr quali-


tative Erklärung wurde im Rahmen des Einteilchenmodells vorgeschlagen
[Fi 47, BK 47, BI' 50J: Jedes zn einem geraden Kern hinzugefügte einzelne
Neutron ist schwächer gebunden als ein zugefügtes Neutronenpaar gleicher
Konfiguration und könnte daher die Ladungsverteilung des Atomkerns
weniger beeinflussen als das fester gebundene Paar. Die große Vielfältigkeit
der Erscheinung wird damit aber keineswegs verständlich gemacht.
I
.Eu
2.0

r
1
)
1,5

i'" ~
Ce

Pd Gd
0.5
0 ~
H. TI
Ag "'-0 Cd Yb ~e g~b
i raa
Xe 0-.0

wl
~o-'O
Rb Os/~ pr
50 60 70 80 90 100 110 120 130
N-
Fig. 4. Verhältnis von ß Cexp zu C th für Isotopenpaare mit N - 2 und N Neutronen. (C th
für das Modell der homogen geladenen Kugel mit R o = A k. 1,4 . 10-13 cm.) Es sind nur die
Meßpunkte für gerade Neutronenzahlen eingetragen. Leere Kreise: KernladungszahlZ gerade,
ausgefüllte Kreise: Z ungerade. Fehlergrenzen s. Fig. 3. Die relative Lage der miteinander
verbundenen Meßpunkte ist von der Messung der relativen Isotopenlagen her gut bekannt.

Schließlich ist in Fig.4 das Verhältnis ßCexp/Cth als Funktion der Neu-
tronenzahl N aufgetragen, wodurch zusätzlich zu dem bisherigen Bild auf
den starken Sprung bei der Neutronenzahl 82 aufmerksam gemacht wird.
Ein entsprechender, allerdings nicht so betonter Sprung scheint bei N = 50
aufzutreten. Doch ist dieser noch nicht mit der gleichen zahlenmäßigen
Genauigkeit festzulegen, wie bei N = 82. In Fig. 4 ist dieser Sprung nur
durch die Meßpunktc von Rb und Pd, Ag belegt. Jedoch ist zu erwähnen,
daß die dicht vor N = 50 liegenden Elemente Kr! und Sr 2 wahrscheinlich
auch sehr kleine ßCexp/Cth-Werte haben, während das dicht hinter N=50
liegende Mo [Ar 51J relativ große Is.V. im Sinne des Volumeneffektes zeigt.
Diese offensichtliche Heraushebung der magischen Neutronenzahlen 50
und 82 durch die Is.V. ist an Hand der Nukleonenkonfigurationen des Ein-
teilchenmodells bisher nicht überzeugend zu deuten.
1 Siehe Tabelle 4.
2 Siehe Tabelle 3.
44 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

Wie die Darlegungen dieses Abschnittes zeigen, darf man beim heutigen
Stand unserer Kenntnisse von den Atomkernen nicht erwarten, daß aus dem
vorhandenen Material über die Is.V. das Kernaufbauprinzip des "richtigen"
Kernmodells abgeleitet werden kann. Man wird vielmehr, wie das ja auch
hier zum Teil versucht wurde, die experimentellen Daten der Is.V. von Fall
zu Fall henutzen, um Vorstellungen über die Änderung der Ladungsverteilung
der Atomkerne beim Einbau von Neutronen, die auf andere Weise nahegelegt
werden, zu prüfen.

III, 4. Bedeutung des Isotopieverschiebungseffektes


für die Physik der Elektronenhülle.
Der Is.V.-Effekt der leichten Elemente bietet, wie bereits in Kapitel II, 1
erwähnt, eine gute Möglichkeit, die Genauigkeit von gerechneten Elektronen-
eigenfunktionen zu prüfen. Hierzu sind die Is.V. wegen der größeren Meß-
genauigkeit oft besser geeignet als z. B. gemessene Oszillatorenstärken.
Der Is.V.-Effekt der schweren Elemente kann hauptsächlich bei kom-
plizierten Spektren für die Physik der Elektronenhülle von Nutzen sein,
nämlich! a) bei der Aufstellung und Kontrolle des Termschemas, b) bei der
Interpretation des Termschemas.

I I I, 4, a. Ordnung komplizierter Spektren.


Der erste Schritt bei der Analyse eines Spektrums ist die Anwendung
des RITzsehen Kombinationsprinzips, d.h. das Aufsuchen von konstanten
Wellenzahldifferenzen. Je linienreicher ein Spektrum ist, desto häufiger treten
jedoch zufällige Koinzidenzen auf. Diese auszuschließen, ist kein Problem,
wenn ausreichende ZEEMAN -Daten vorliegen. Ausführliche Messungen des
ZEEMAN-Effektes fehlen allerdings bisher vor allem bei vielen komplizierteren
Bogenspektren. Dann kann die Kenntnis der Is.V. der Spektrallinien sowohl
bei der Vorsortierung des Wellenlängenmaterials, als auch bei der Kontrolle
des Termschemas von Nutzen sein. Bei einem reellen quadratischen Schema
müssen nämlich außer den Wellenzahldifferenzen auch die Differenzen der
Is.V. konstant sein.
Tabelle 11 gibt als Beispiel einen kleinen Ausschnitt aus dem quadratischen
Schema für das Bogenspektrum des Samariums (nach ALBERTSON [Al 35]).
Die Linien in den mit 4 und 5 bezeichneten Spalten haben innerhalb der
Meßgenauigkeit paarweise die Wellenzahldifferenz 783,54 cm-!. Daraus wird
geschlossen, daß sie von einem jeweils gemeinsamen Term (24 bis 75) zu den
um 783,54 cm·-! auseinander liegenden Termen 4 und 5 gehen. Bei jeder
Linie ist in Klammern die später von BRIX [Ex 49, Pl49j gemessene Is.V.
des Isotopenpaars Sm 152-154 angegeben. Die Differenz der Is. V. in der
1 Natürlich kann man an der Is.V. z. B. auch die Abschirmungseffekte in der Hülle
studieren (s. Kapitel III, 1, b).
Neuere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 45

vorletzten Zeile unterscheidet sich von der in den übrigen Zeilen weit außer-
halb der Meßfehler. Der Term 67 ist also nicht reell, die scheinbar gut pas-
sende Wellenzahldifferenz 783,S5 kommt, wie die Is.V. zeigt, in diesem Fall
nur zufällig zustande.
Messungen der Is.V. an einer großen Zahl von Linien sind mit den nor-
malen interferometrisehen Methoden relativ mühsam, deshalb ist das eben
geschilderte Prinzip bisher nur in bescheidenem Maße bei der Einordnung
von Spektrallinien benutzt worden [B x 49]. Da sich bei Verwendung von
getrennten Isotopen die Is.V. in manchen Fällen noch bequem mit dem
Gitter messen lassen (s. z. B.
Tabelle 11. Ausschnitt aus dem quadratischen Term-
[SM 50b]), dürfte die Methode schema des Sm I mit Angabe der I sotopieverschiebung.
in Zukunft einige Bedeutung er- Wellen zahlen der Linien in ern-I.
langen. Eingeklammert: Is.V. in 10- 3 ern-I.
Term I 4 Differenz 5
111, 4, b. Zuordnung von Elektro-
nenkonfigurationen, Diskussion 24 16015.08 783.55 15231.53
(-43) (0) (-43)
von Störungen. 29 16341.26 783.53 15557.73
Die Is.V. in den Termen der (-41) (+1) (-42)
50 18011.73 783.56 17228.17
schweren Elemente hängen, wie (+ 34) (+2) (+ 32)
in KapitelllI, 1, a u. b dargelegt, 67 19818.95 783.55 * 19035.40
(+24) (-25) (+49)
von der Anzahl der s-Elektronen 75 21142.76 783.49 20359.27
und ihrer Ladungsdichte am (-23) (-1) (-22)
Kernort ab. Da diese Gesetz- * Zujallige übereinstimmung der Wellenzahl-
differenz.
mäßigkeiten durch ein großes
Erfahrungsmaterial an anderweitig gut bekannten Spektren gesichert sind,
können sie bei der Identifizierung von noch unbekannten Elektronenkonfi-
gurationen mit herangezogen \verden 1,2. Messungen des ZEEMAN-Effektes,
die unmittelbar Auskunft über die Drehimpulsquantenzahlen der Atom-
terme, jedoch nicht über die Elektronenkonfiguration geben können, werden
deshalb in idealer \Aleise durch Messungen cer Is.V. ergänzt.
Folgende neuere Arbeiten sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen:
RASMUSSEN [Ra 40] hat die \'on ihm am Ag gefundenen Terme oer Konfi-
guration 4d 8 5 S2 und 4d 9 5 S2 durch Messungen der Is.V. gesichert. Die
5 d8 6s 2 - und 5 d 9 Gs 6p-Terme des Hg III wurden auf Grund der Is.V. identi-
fiziert [Fo 50, ]037, s. auch Mi' 421. Am Gd II ließ sich auf Grund der
Termanalyse [Ru 50] nicht entscheiden, welche P·Terme zu 4j7 6s 6p und
welche zu 4j1 5 d 6p gehören; Messungen der Is.V. zeigten, daß zwar eine
starke Durchmischung der Konfigurationen vorliegt, der tiefe z 10 P jedoch
1 Zum erstenmal haben wohl SCHÜLER und WEST1\IEYER [SW 33] auf diese Weise eine
Elektronenkonfiguration zugeordnet (4d 9 55 2 2D-Term des Cd II).
2 Der Nachweis. daß die Gesetzmäßigkeiten des Isotopieverschiebungseffektes der schwe-
ren Elemente auch für die Seltenen Erden gelten [BK 49. BE 51]. ist in diesem Zusammen-
hang von besonderem Nutzen. denn gerade mit den Seltenen Erden beginnen die großen
Lücken in der Analyse der Atomspektren [Me 51].
46 PETER BRIX und HANS KOPFERMANN:

einwandfrei der Konfiguration 4/' 6s 6p zuzuordnen ist [Ex 511. Im Term-


schema des Sm I treten nach Größe und Vorzeichen so unterschiedliche Is. V.
auf, daß eine Zusammenfassung der bis dahin nur numerierten Energie-
niveaus [At 35] zu Termmultipletten allein auf Grund der Is.V. möglich war
[Ex 49, Pt 49].
In neuester Zeit haben vor allem McNALLY und Mitarbeiter in größerem
Maßstab begonnen, mit den ihnen verfügbaren getrennten Isotopen die Is.V.
komplizierter Spektren zu messen und daraufhin Elektronenkonfigurationen
zuzuordnen. Es wurde bisher kurz über Messungen am Sm [SM 50a.
SM 50bJ, Th [MSt 50J und U [Me 49] berichtet; die Resultate sind jedoch
noch nicht publiziert worden.
Beim Vorliegen von Termstörungen spricht die Is.V. nur auf Störterme
mit anderer Ladungsdichte am Kernort, d. h. mit verschiedener Elektronen-
konfiguration an. Deshalb kann man für die schweren Elemente den Grad
dieser Störungen oft unmittelbar an der gemessenen Is.V. ablesen. In den·
jenigen Fällen, in denen eine Abschätzung der Störung auch auf andere
Weise möglich war, ergab sich bisher stets, daß dieses Verfahren zulässig ist,
d.h. daß Abweichungen von einer einheitlichen Is.V. (oder von der erwarteten
Is.V.) für Terme derselben Elektronenkonfiguration quantitativ durch Stö·
rungen mit einer fremden Konfiguration erklärt werden können l . Am besten
ist wohl in dieser Hinsicht neuerdings von Hmm und CRAWFORD [HC 50]
das Pb IH-Spektrum diskutiert worden (bisher nur als kurze Mitteilung ver-
öffentlicht).
IV. Schluß.
Unabhängig von allen theoretischen Überlegungen besitzen die in Ka-
pitel IH, 1, e angegebenen und in Fig. 3 dargestellten ßCexp bereits eine so-
starke innere Geschlossenheit, daß es möglich ist, das unbekannte ßCexp eines
Elementes mit einiger Sicherheit vorauszusagen, wenn man die Werte der
rechten oder linken oder besser beider Nachbarn kennt. So mußte man z. B.
aus der Fig. 3 (in der noch der Ag-Punkt fehlte), auf eine Is.V. in den Ag 1-
Resonanzlinien schließen, die mit der bisherigen Hfs.-Analyse dieser Linien
[JK 37, CSKG 50J in krassem Widerspruch stand. Eine Nachprüfung der
Hfs.-Komponentenzuordnung zu den Ag-Isotopen mit getrennten IsotopE'n
lEKMW 51] entschied dann eindeutig für die Is.V.K., die die ßC-Systematik
verlangt und stellte die bisher falschen magnetischen Kerndipolmomente
dieser Kernarten richtig. In ähnlicher Weise konnten die früher angegebenen
Drehimpulse und magnetischen Dipolmomente der Ir- Isotope korrigiert
werden [EK S 50].

1 Zwei Beispiele sind von LUCAS [Lu 48J in diesem Sinne diskutiert worden: Die gestörte-
IP-Serie des Hg I [SK 31b, SR 32J und die Störung zwischen Sd 8 65 2 apo und Sd 9 6s 3D 2 _
ID 1 im Pt I Spektrum [JK 36, TL 37J. Siehe ferner z.B. [Km 40J.
~euere Ergebnisse zum Isotopieverschiebungseffekt in den Atomspektren. 47

Die Is.V. in den Spektren der schweren Elemente stellt also auch eine
bis heute nicht immer genügend beachtete Kontrolle für die Hfs.-Analyse
der Atomlinien dar.

Literatur.
Hinter jedem Zitat sind in Klammern die Abschnitte angegeben,
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[SW 33bJ SCHÜLER, H., u. H. WESTMEYER: Z. Physik 82, 685 (1933) (lU 4b).
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Die Atomkerne, S. 78. Leipzig 1937 (lU 2a.)

Eingegangen am 1. September 1951.

Gbttinger Akademie-Festschrift. 4
Paradoxien des Zeitbegriffs
in der Theorie der Elementarteilchen.
Von
w. HEISENBERG, Göttingen.
(Max-Planck-Institut für Physik.)
Mit 3 1;'iguren im Text.

In den letzten Jahren haben die atomphysikalischen Experimente, die


mit Elementarteilchen höchster Energie ausgeführt worden sind (unter Aus-
nu-t~ung der kosmischen Strahlung,oder großer Beschleunigungsapparaturen),
die, Entdeckung einer Reihe von neuen, unstabilen Elementarteilchen zur
Folge gehabt. Sie haben ferner gezeigt, daß beim Stoß zweier Elementar-
teilchen die überschüssige kinetische Energie häufig zur Erzeugung neuer
Elementarteilchen verwandt wird, und daß in dieser Weise offenbar alle
verschiedenen Elementarteilchen auseinander hervorgehen können. Diesen
Sächverhalt kann man am einfachsten durch die Annahme interpretieren,
daß. alle Eleme,ritarteilchen nur verschiedene stationäre Zustände ein und
derselben "Materie" sind. Danach erscheint als ein Grundproblem der heutigen
Atomphysik die Frage nach den Naturgesetzen, denen diese Materie unter-
worfen ist; aus diesen Gesetzen sollten sich die Massen und die sonstigen
Eigenschaften aller Elementarteilchen herleiten lassen.
Da man es bei den genannten Vorgängen häufig mit Elementarteilchen
zu tun hat, die sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, muß man
bei einem Versuch der Formulierung solcher Naturgesetze von vornherein
auf die Raum-Zeitstruktur der speziellen Relativitätstheorie achten. Da ferner
bei jenen Vorgängen die Anzahl der Elementarteilchen im allgemeinen nicht
erhalten bleibt, scheinen die Koordinaten der Teilchen kein besonders zweck-
mäßiges Hilfsmittel zur Formulierung der Theorie zu sein; vielmehr scheint
es der Natur des Problems angemessen, die Materie durch ein geeignetes
Wellenfeld darzustellen, wobei sich die Existenz der Elementarteilchen dann
als eine Folge der Quantentheorie ergeben muß.
Die Anwendung der Quantentheorie auf eine relativistische Wellentheorie
hat allerdings zu grundsätzlichen Schwierigkeiten geführt, die in den ver-
gangenen 20 Jahren in verschiedenen Theorien in mannigfachen Formen auf-
getreten sind. Die vorliegende Arbeit strebt eine Analyse dieser Schwierig-
keiten an sowie eine Diskussion der Paradoxien, die beim Versuch ihrer
Beseitigung auftreten.
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 51

I. Analyse der Schwierigkeiten.


a) Die spezielle Relativitätstheorie hat eine Struktur von Raum und Zeit
ans Licht gebracht, die sehr verschieden ist von der klassischen, die der
NEwToNschen Mechanik zugrunde gelegt worden war: Wenn man als "ver-
gangen" alle jene Ereignisse bezeichnet, von denen man - wenigstens grund-
sätzlich - etwas erfahren kann, als "zukünftig" alle jene Vorgänge, auf die
man - ebenfalls grundsätzlich - noch Einfluß nehmen kann, so schienen
in der klassischen Physik Vergangenheit und Zukunft nur durch einen un-
endlich kurzen Augenblick, die "Gegenwart", getrennt. Die Relativitäts-
theorie hat aber gezeigt, daß Vergangenheit und Zukunft durch ein endliches

Vergangenheit

\~\\,
Fig. 1. Raum-Zeitstruktur nach der klassi- Fig.2. Raum-Zeitstruktur nach der speziellen
sehen Theorie (t Zeit; x Raumkoordinate). . Relativitätstheorie.

Zeitintervall getrennt sind, dessen Ausdehnung vom räumlichen Abstand des


Ereignispunktes vom Beobachter abhängt; daß der Zeitraum der Gegenwart
also in ähnlicher Weise ausgedehnt ist wie Vergangenheit und Zukunft (vgl.
Fig. 1 und 2).
In der klassischen Theorie schließen sich also Vergangenheit und Zukunft
gewissermaßen kontinuierlich aneinander an, während sie in der Relativitäts-
theorie scharf durch ein endliches Intervall getrennt sind,. in: dem keine
Wirkungen übertragen werden. Die Relativitätstheorie enthält an dieser
Stelle also ein Element von Unstetigkeit, das der klassischen Theorie fehlt.
b) Die Quantentheorie hat den Anwendungsbereich der klassischen Vor-
stellungen weiter eingeschränkt durch die Erkenntnis, daß eine vollständige
Objektivierung der Vorgänge in Raum und Zeit unmöglich ist. Insbesondere
hat sich herausgestellt, daß die sehr scharfe Lokalisierung eines Vorganges
in Raum und Zeit stets eine sehr große Unsicherheit von Impuls unQ Energie
des Systems mit sich bringt, und umgekehrt (Unbestimmtheitsrelationen).
An dieser Stelle entstehen nun offenbar Schwierigkeiten, wenn man die
Forderungen der Quantentheo-ri"e mit der Raum-Zeitstruktur der Relativitäts-
theorie (Fig. 2) in Verbindung bringen will. Die scharfe Grenze zwischen
,den Bereichen von Gegenwart und Zukunft in Fig.2 bedeutet ja offenbar
4*
52 W. HEISENBERG:

etwas ähnliches wie eine völlig scharfe Lokalisierung der von 0 aus zu beein-
flussenden Vorgänge, sie muß also eine unendliche Unsicherheit der Impuls-
und Energiewerte zur Folge haben. Die unmittelbare Folge ist, daß in jeder
Quantentheorie einer relativistischen Wellentheorie mit Wechselwirkung
Divergenzen beim Energie- Impulsvektor auftreten, die einer geschlossenen
mathematischen Formulierung der Theorie im 'Hege stehen. Man erkennt
auch, warum die Schwierigkeiten gerade bei der speziellen Gruppe der rela-
tivistischen Wellentheorien mit Wechselwirkung erscheinen. In den unrela-
tivistischen Wellen theorien (z. B. denen von KLEIN, JORDAN und WIGNER)
treten sie nicht auf, weil ja dort die Vergangenheit gewissermaßen stetig in
die Zukunft übergeht. Auch in relativistischen Wellentheorien ohne Wechsel-
wir1wng kommen sie nicht vor, weil die genannte Unstetigkeit zwischen
Gegenwart und Zukunft nur dort auftritt, wo Wirkungen übertragen werden.
c) In der mathematischen Durchführung äußert sich die beschriebene
Schwierigkeit, wie von SCHWINGER und anderen [1] ausführlich dargestellt
worden ist, in der folgenden Weise:
Wenn man die Wellentheorie der Materie durch eine HAMILToN-Funk-
tion H festzulegen sucht, die von der Wellenfunktion 1p der Materie abhängt,
so kann man H einteilen in die kinetische Energie K "freier" Teilchen und
ihre Wechselwirkungsenergie W_
H=K+W. (1)
Diese Einteilung ist allerdings bis zu einem gewissen Grad willkürlich, da
die Massen der in K dargestellten "freien" Teilchen nicht notwendig identisch
sein müssen mit den Massen, die sich aus H für die wirklichen freien Teilchen
ergeben.
Man kann dann zunäcnst das einfachere System H = K behandeln und
für dieses, unter Voraussetzung eines konstanten Zustandsvektors P, die
Wellenfunktionen 1p(x) als Funktion der Raum- und Zeitkoordinaten x be-
rechnen. Die 1p (x) sind ja dann einfach Lösungen der zu K gehörigen linearen.
homogenen Wellengleichung. Für diese 1p (x) ergeben sich aus K die Ver-
tauschungsgrößen:
lji(x) 1p(x')± 1p(x' ) lji(x) = i LI (x, x'), (2)
wobei hier und im folgenden das obere Vorzeichen für Spinoren (FERMI-
Statistik), das untere für Skalare. Vektoren usw. (BüsE-Statistik) gilt. Die
Spinor- bzw. Vektorindizes sollen der Einfachheit halber bei den Koordinaten
x bzw. x' mit gemeint sein. Neben der Funktion LI (x, x') spielt iibrigens noch
eine ähnlich wichtige Rolle der Vakuumerwartungswert
(lji(x) 1p(x' ) =f 1p(x' ) lji(x) = LI (1) (x, x').
Die Funktionen LI (x, x') und LI (1) (x, x') genügen in x und x' der gleichen line-
aren, homogenen Wellengleichung wie 1p (x), und lassen sich aus K berechnen.
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 53

Benützt man die eben beschriebene Darstellung der lp(x) für das System (1)
mit Wechselwirkung, so spricht man von der "Wechselwirkungsdarstellung".
In dieser ist der Zustandsvektor jetzt nicht mehr zeitlich konstant, vielmehr
genügt er der HAMILToNschen Gleichung

15~~)=-iW(x)tp. (3)

a(x) bedeutet hier eine dreidimensionale Fläche, die nur raum artige Vektoren
enthält, lJI (0') den Zustandsvektor als Funktional der Wellenfunktionen auf
dieser Fläche. W(lp(x))=vV(x) ist relativistisch ein Skalar. Formal läßt
sich (3) integrieren durch [2J
(J'

lJI(a') = II (1- i W(x) dx) . lJI(a) , (4)


(J

wobei das Produkt als ein unendliches Produkt gemeint ist über alle raum-
zeitlichen Volumenelemente dx, die zwischen den Flächen 0' und 0" liegen.
Die Reihenfolge der Faktoren in JI ist dabei durch die Forderung festgelegt,
daß spätere Glieder W (x) links von früheren stehen müssen. Wegen der
Vertauschbarkeit der Wellenfunktionen '1J! (x) und 11' (x') bei raumartigen Ab-
ständen x-x' ist diese Definition relativistisch invariant; sie entspricht
übrigens gerade der Form des Kausalprinzips, das sich aus der Raum-Zeit-
struktur der speziellen Relativitätstheorie ergibt.
Bei der Auswertung des Produkts (4), etwa in Form einer Reihenent-
wicklung nach Potenzen von W, treten also Funktionen von x und x' auf,
die z. B. durch
<ip(x),lp(x')) für x später als x',
<11' (x'), ip (x)) für x früher als x'
definiert sind. Diese Funktionen genügen offenbar an der Stelle x= x' nicht
mehr der homogenen Wellengleichung ; sie sind vielmehr Lösungen der ent-
sprechenden inhomogenen Wellen gleichung, bei der die Inhomogenität die
Form einer c5-Funktion an der Stelle x= x' annimmt.
Man definiert zweckmäßig eine bestimmte Lösung J (x, x') der inhomo-
genen Gleichung, die sich im Rahmen der bisherigen Rechnungen von LI (x, x')
nur durch das Vorzeichen und den Faktor tunterscheidet:
LI (x, x') =-t E(X, x')· LI (x, x'), (5)
wobei
E(X x)
, {+=
1, wenn x später als x'
, - 1, wenn x früher als x'.

Bei der Auswertung von (4) tritt diese Funktion stets in der FEYNMANschen
Kombination [3J mit LI (1) auf
(6)
54 W. HEISENBERG:

Die Funktion J wird, ebenso wie LI, auf dem ganzen LichtkegelL'(x-x');=O
singulär nach Art der Funktion d(L'(x-x');). Da diese Funktion bei der
Auswertung von (4) in höheren Potenzen auftreten kann und da dann über x
integriert werden muß, divergieren die Integrale und man erhält für (4) keine
sinnvollen Resultate.
Allerdings auch keine unendlichen Resultate; denn der Operator II auf
der rechten Seite von (4) ist unitär, in ihm müssen sich also positiv und
negativ unendliche Glieder kompensieren. Es kann daher unter Umständen
gelingen, durch geeignete Summationsvorschriften der rechten Seite von (4)
einen Sinn zu geben.
Jedenfalls genügt also GI. (4) allein nicht zur Lösung des Problems; sie
muß, wenn man ihr überhaupt einen Sinn geben will, ergänzt werden durch
Summationsvorschriften, die die Unbestimmtheit der unendlichen Integrale
beseitigen.
In dieser mathematischen Situation spiegelt sich genau die in Abschn. Ib
erwähnte Unbestimmtheit der Impuls- und Energiewerte, die eine notwendige
Folge der scharfen Grenzen in Fig. 2, also der Raum-Zeitstruktur der spezirllen
Relativitätstheorie ist.

11. Ansätze zur Beseitigung der Schwierigkeiten.


a) Eine einfache Dimensionsbetrachtung lehrt, daß es in der Theorie der
Elementarteilchen neben den beiden fundamentalen Naturkonstanten c (Licht-
geschwindigkeit) und 1i (Wirkungsquantum) schließlich noch eine weitere
geben muß, die man z. B. als eine Länge ("kleinste Länge" lo von der Größen-
ordnung 10-13 cm) in die Gleichungen der Theorie einführen kann. Aus diesem
Grund muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß in kleinen Räumen
(;:;5 10-13 cm) und Zeiten (;:;5 10- 24 sec) neue Abweichungen von den Vor-
stellungen der bisherigen Physik auftreten. Es ist daher zweifelhaft, ob es
in der Theorie der Elementarteilchen einen echten HAMILToN-Operator geben
kann; denn dieser Operator entspricht ja einer infinitesimalen Verschiebung
in der Zeitrichtung, also einem Vorgang, der sich in sehr kleinen Zeiträumen
(< 10- 24 sec) abspielt.
Mit Sicherheit können nur Veränderungen des Zustandes beobachtet
werden, die sich in größeren Zeitintervallen (~1 0- 24 sec) vollziehen. Schreibt
man
(7)
so wird also der unitäre Operator S~: für 10"2- 0"11 ~ 10- 24 sec ein legitimer
Bestandteil der Theorie der Elementarteilchen sein, insbesondere der Grenz-
wert S~:.
Es lag daher der Versuch nahe, die Theorie durch Angabe nicht eines
HAMILToN-Operators, sondern des Operators S~: (der "S-Matrix") zu cha-
rakterisieren.
Paradoxien des Zeit begriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 55

In der Tat kann man dann sofort alle Divergenzschwierigkeiten ver.


meiden [5J. Zum Beispiel kann man eine hermitische, relativistisch invariante
f
+00

Matrix 'YJ= W(x) dx als Wechselwirkung einführen und


-00

(8)
setzen. Oder man kann, wIe es nach BEITLER In manchen Fällen zweck-
mäßig ist,
.. (9)

annehmen. Jedesmal tritt in der Auswertung nach dem Muster von GI. (4)
nicht mehr die FEYNMANsche Vertauschungsfunktion LI F(X, x') sondern nur
noch LI(l) (x, x') auf, und die Integrale über x konvergieren.
Der Unterschied zwischen den GI. (3) und (4) einerseits, (8) und (9)
andererseits läßt sich auch in folgender Weise beschreiben:
Wenn der Übergang vom Anfangs- zum Endzustand über irgendwelche
Zwischenzustände erfolgt, so muß auch für die Zwischenzustände bei Gültig-
keit von (8) und (9) der Energiesatz gelten - es ist sozusagen beliebig viel
Zeit verfügbar, um auch im Zwischenzustand den Energieinhalt zu kon-
trollieren; bei Gültigkeit von (3) und (4) dagegen kann im Zwischenzustand
der Energiesatz nicht angewendet werden; denn der Zwischenzustand existiert
nur so kurze Zeit, daß in ihm die Energie gar nicht gemessen werden kann.
Die Divergenzen bei Gültigkeit von (3) und (4) rühren gerade von den Zwischen-
zuständen beliebig hoher Energie her, sie fallen also bei Gültigkeit von (8)
und (9) fort.
b) Nun ist freilich der Eingriff, der am kanonischen Formalism.us vor-
genommen wird, wenn man die GI. (3) und (4) einfach durch (8) oder (9)
ersetzt, schon viel zu grob und gewaltsam, um noch eine Darstellung der
Erfahrungen zuzulassen. Denn dieser Eingriff zerstört schon in endlichen
Zeitintervallen - auch solchen die groß gegen 10- 24 sec sind - den Kausal-
zusammenhang.
STÜCKELBERG, RIVIER [6J und FIERZ [7J haben auseinandergesetzt, daß
der normale Kausalzusammenhang nur gewahrt ist, wenn in dem der GI. (4)
entsprechenden Ausdruck nur die Funktion LI F (x, x') auftritt. Das Wort
Kausalzusammenhang ist dabei hier und im folgenden stets gemeint im Hin-
blick auf die speziellen Aussagen über die Wirkungen von einem Raum-
Zeitpunkt zu einem anderen, die aus der Raum-Zeitstruktur der speziellen
Relativitätstheorie folgen. Die Abweichungen vom Kausalgesetz, von denen
hier die Rede ist, haben also nichts zu tun mit den ganz andersartigen Ab-
weichungen, die durch die Quantentheorie aufgedeckt worden sind und mit
den Unbestimmtheitsrelationen ausgedrückt werden können.
Die Funktion LI F (x, x') also stellt diesen aus der speziellen Relativitäts-
theorie stammenden Kausalzusammenhang richtig dar, indem LI F(X, x') für
56 w. HEISENBERG :

Emissionsprozesse in der Vergangenheit verschwindet und in der Zukunft


eine Kugelwelle bedeutet, die sich vom Punkt x = x' her ausbreitet, während
es für Absorptionsvorgänge in der Zukunft verschwindet und in der Ver-
gangenheit eine einlaufende Kugelwelle bedeutet, die sich konzentrisch auf
den Punkt x =x' zubewegt. Wenn in einer Theorie an Stelle von LI F (x, x')
eine andere Vertauschungsfunktion auftritt, so ist dies ein Zeichen dafür,
daß in ihr der normale Kausalzusammenhang unterbrochen ist, daß z. B. ein
Teilchen zuerst absorbiert und erst später erzeugt wird, während es ver-
nünftigerweise nur umgekehrt sein könnte.
Jedenfalls dürften solche Abweichungen von der normalen Zeitreiheniolge
nur vorkommen In sehr kleinen Raum-Zeitgebieten der Größenordnung
10-13 cm bzw. 10- 24 sec. Man kann an dieser Stelle
t eine dem BOHRschen Korrespondenzbetrieb ver-
wandte Forderung aussprechen:
Der Formalismus, der in der Theorie der Ele-
mentarteilchen die S-Matrix festlegt, muß so be-
---+---*--k-c-- x schaffen sein, daß er für Raum-Zeitgebiete, die
groß sind gegen 10-13 cm bzw. 10- 24 sec, in den
üblichen quantentheoretischen Formalismus über-
geht und dort dem Kausalzusammenhang der
speziellen Relativitätstheorie entspricht.
Fig.3. Dieser Korrespondenzforderung genugen jeden-
falls die GI. (8) und (9) nicht, und es entsteht
die Aufgabe, andere mathematische Formulierungen zur Bestimmung von S~:
zu suchen, die der Korrespondenzforderung genügen und trotzdem konver-
gente Resultate für S~: liefern.
c) Ein Blick auf die Fig. 2 lehrt auch, daß es solche Formulierungen geben
muß. Zur Vermeidung der Divergenzen genügt es ja offenbar, die Grenze
zwischen Gegenwart und Vergangenheit bzw. Zukunft in kleinen Gebieten
etwas unscharf zu machen. Die Ausdehnung des Gebiets der Unschärfe kann
man am einfachsten übersehen, wenn man etwa in Fig.2 die bei den Hyper-
boloide
L'(x- x')~ = ± I~ (10)
einzeichnet, wobei 10 = 10-13 cm ist; sie sind in der Fig. 3 als gestrichelte
Linien angedeutet. Etwa innerhalb dieser Hyperboloide kann die Grenze
zwischen Zukunft bzw. Vergangenheit und Gegenwart verwaschen werden.
Man erkennt, daß sich die Unschärfe nicht auf die unmittelbare Umgebung
von x=x' beschränkt. Gewisse Abweichungen von der normalen Zeitordnung
können auch in größeren Raum- oder Zeitabständen von diesem Punkt in
der Nähe des LichtkegEls L'(x-x'); = 0 auftreten. Es wird sich später zeigen,
daß die Größe dieser Raum- oder Zeitabstände noch von der Gesamtenergie
abhängt, die bei dem betreffenden Prozeß zur Verfügung steht. Nur bei
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 57

außerordentlich großen Gesamtenergien kann der Abstand etwa in der Zeit-


koordinate (im Schwerpunktsystem gemessen) erheblich größer als 10- 24 sec
werden.
In den letzten Jahren sind verschiedene mathematische Formalismen
angegeben worden, die dem eben geschilderten Programm entsprechen [8J.
Wir erörtern hier nur zwei von ihnen, deren Konsequenzen am deutlichsten
zu übersehen sind.
1. PAIS und UHLENBECK [9J haben vorgeschlagen, die Funktion LI(x, x')
durch eine etwas andere Funktion mit Hilfe der folgenden Überlegung zu
ersetzen: Wir nehmen an, daß zur kinetischen Energie K der Differential-
operator L (x) gehöre, so daß die Wellengleichung für 'IfJ lautet:
L'IfJ(x) = o. (11 )
Die inhomogene Gleichung für LI(x, x') wird dann

L(x) LI (x, x') = o(x - x'). (12)


Ersetzt man nun den Differentialoperator L (x) durch einen anderen, der
sich von ihm durch einen exponentiellen Faktor unterscheidet, z. B.
eMJ'L(x), (13 )
so ändert sich an der homogenen GI. (11) nichts, wohl aber tritt an die Stelle
von (12) die neue Gleichung:

eW ' L(x) 3(x, x') = 0 (x - x'),


oder
L(x) X(x, x') = e- w ' o(x - x'). (14)
Da die rechte Seite eine verwaschene o-Funktion bedeutet, wird auch LI (x, x')
in den entsprechenden Gebieten verwaschen, die Singularitäten von LI (x, x')
auf dem Lichtkegel verschwinden und die Integrale über Potenzen von LI (x, x')
konvergieren. Wenn man also die so definierte Funktion LI (x, x') bei der
Ausrechnung von (4) überall dort einsetzt, wo bei den Erwartungswerten
<Vi (x), 'IfJ (x') usw. eigentlich die ursprüngliche, der GI. (5) genügende Funktion
LI(x, x') stehen sollte, so erhält man konvergente Resultate. Diese Abände-
rung der Funktion LI (x, x') bedeutet natürlich eine grundsätzliche Abänderung
des HAMILToNschen Formalismus und der GI. (4) und ein Abweichen von dem
Kausalzusammenhang der speziellen Relativitätstheorie in kleinen Raum-
Zeitbereichen. Über die physikalische Bedeutung der Abweichungen wird später
noch gesprochen werden; eine genauere Ausarbeitung der Theorie mit Diskus-
sion des Energiebegriffs, der gebundenen Zustände usw. liegt noch nicht vor.
2. Eine etwas andersartige Ausführung des oben geschilderten Programms
erhält man, wenn man von den folgenden Voraussetzungen ausgeht [10J:
Die kinetische Energie K gehöre zu einem Differentialoperator L( x), dessen
58 W. HEISENBERG :

FOURIER-Transformierte
(15)
eine rationale (und relativistisch invariante) Funktion des Vierervektors k,o
sei. Die Nullstellen bestimmen dann die Massen der "freien" Elementar-
teilchen. Für die Vertauschungsfunktion LJ (x, x') kann man hier, in Analogie
zu den Verhältnissen bei der einfachen Wellengleichung 0"1'=0, annehmen

(16)

(Der Integrationsweg über k 4 wird in der komplexen k 4 -Ebene in einem Kreis


im positiven Drehsinn um alle Pole geführt; für die Funktionen LJ (1) (x, x'),
J(x, x') usw. gilt die gleiche Integraldarstellung mit anderen Integrations-
wegen.) Diese Vertauschungsfunktion wird, wenn L(k) mindestens vom
5. Grade in k v ist, auf dem Lichtkegel regulär; jedoch bedeutet die An-
nahme (16), daß Vi(x) nicht mehr einfach hermitisch konjugiert zu "I'(x) sein
kann. Teilt man nämlich die (durch den Index l numerierten) Nullstellen
von L(k) in zwei Gruppen, je nachdem BL/Bk4 an der Nullstelle positiv oder
negativ ist und schreibt
(17)

(die erste Summe ist über die Nullstellen der ersten Art, die zweite über die
der zweiten Art zu erstrecken), so muß man, um (16) zu erhalten, annehmen:
(18)
mit
(19)
("Pi ist hermitisch konjugiert zu "1'1)' Dann können nämlich die Singularitäten
+
in "I'i(x) "1'1 (x') "1'1 (x') "I'i(x), die von den Nullstellen mit negativem BL/Bk4
herrühren, gerade die Singularitäten der anderen Gruppe in (16) kompensieren,
wenn die IXI und ßI richtig gewählt werden. Diese Kompensation ist aber
nur möglich, wenn j2 = - 1 ist, d. h. wenn Vi nur bis auf die Vorzeichen umkehr
von j hermitisch konjugiert zu "I' ist.
Nimmt man nun weiter für Wirgendeinen aus Invarianzgründen nahe-
liegenden Ausdruck höherer Ordnung aus "I' (x) und Vi (x), so wird dieser
Ausdruck nicht hermitisch, er kann also keine Wechselwirkung im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes darstellen. Wohl aber kann man mit ihm in Analogie
zu (4) und (7) einen Operator 1a:' definieren
r:,:=II~: (1- i W (x) dx), (20)
der der S~:-Matrix nachgebaut und wegen der Regularität der Vertauschungs-
funktionen regulär, aber im allgemeinen nicht mehr unitär ist. Setzt man
nun weiter durch Definition fest:
(21)
Paradoxien des Zeit begriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 59

so erhält man einen unitären Operator, der die Korrespondenzforderung unter


gewissen Voraussetzungen befriedigt. Die Abweichungen der Definition (21)
vom kanonischen Schema rühren ja nur her von den Teilen von T:', die
den Faktor j enthalten, also von den Übergängen, bei denen ein "Tedchen"
der zweiten Gruppe (:~ <.0) entsteht oder verschwindet. Sofern also dafür
gesorgt ist, daß diese Teilchen nicht als stabile reelle Teilchen, sondern nur
als virtuelle, d.h. kurzdauernde Zwischenzustände existieren können, so
spielen sie in T,,~', wenn die Zeitdifferenz 102 -
01 i groß gegen die Existenz-
dauer dieser Zwischenzustände ist, keine Rolle. Wenn also z. B. die Masse
jedes Teilchens dieser zweiten Gruppe größer ist als die eines der leichtesten
Teilchen der ersten Gruppe und wenn die Gesamtenergie des Systems zu
klein ist, um die Erzeugung eines Teilchens der zweiten Gruppe zu ermög-
lichen, so wird 1~ 7 "-' 1i immer dann, wenn 1 0 2 - 01 ]:?> E der
LI"E' wobei LI
Energiebetrag ist, der zugefügt werden müßte, um die Erzeugung eines
Teilchens der zweiten Gruppe zu ermöglichen. \A,7enn ferner die Masse der
leichtesten Teilchen der zweiten Gruppe sogar so groß ist, daß diese radio-
aktiv zerfallen können in mehrere Teilchen der ersten Gruppe, so wird ganz
allgemein T_ i "-'1j, wenn i02-011 nur groß gegen die Zerfallszeit der Teilchen
der zweiten Gruppe ist.
In diesen Fällen wird also T_ i ,,-, 1j für größere Zcitdifferenzen bereits
selbst eine unitäre Matrix und nach der Definition (21) mit der S-Matrix
identisch. Die Korrespondenzforderung wird erfüllt, wenn die Lebensdauer
der Teilchen der zweiten Gruppe nicht größer als "-' 10- 24 sec ist, d. h. wenn
diese Teilchen praktisch nur als "virtuelle" Zwischenzustände in Erscheinung
treten.
Der eben geschilderte Formalismus hat mit dem PAIS- UHLENBEcKschen
die Annahme gemeinsam, daß die Abweichungen vom Kausalzusammenhang
der speziellen Relativitätstheorie beschränkt sind auf die Einflüsse von Feldern
kurzer Reichweite, denen keine stabilen Elementarteilchen entsprechen. Im
PAIS- UIILENBEcKschen Schema werden die Felder mathematisch durch die
Exponentialfunktion vor L( x) in GI. (14) hervorgebracht, während sie im
Formalismus (16) und (17) durch die Funktionen "PI der zweiten Gruppe
dargestellt sind.

III. Die auftretenden Paradoxien.


Obwohl die Abweichungen vom Kausalzusammenhang der speziellen
Relativitätstheorie in den unter IIc genannten Theorien auf kleine Gebiete
im Sinne der Fig. 3 beschränkt sind, so bringen diese Abweichungen doch
sehr merkwurdige Paradoxien hervor, die nun besprochen werden sollen. Wir
gehen dabei von den Vorstellungen des zweiten dieser Formalismen aus, doch
liegen die Verhältnisse beim ersten nicht wesentlich anders.
60 W. HEISENBERG:

Nehmen wir an, daß zwei Elementarteilchen (der ersten Gruppe) mit
hoher Energie zusammenstoßen. Diese Teilchen können ein oder mehrere
Teilchen der zweiten Gruppe beim Stoß erzeugen, die wiederum nach einer
kurzen Wegstrecke in Teilchen der ersten Gruppe zerfallen. Wenn man einen
solchen Vorgang in einer photographischen Platte beobachtete, so würde er
also das bekannte Bild eines "Doppelsterns" bieten: Ein Primärteilchen
erzeugt einen" Stern", dessen Sekundärteilchen wiederum einen oder mehrere
Sterne bilden. Verfolgt man jedoch den zeitlichen Ablauf des Ereignisses,
etwa durch Zählrohre, die die Sterne registrieren, so würde sich bei Gültig-
keit von (17) und (21) entgegen der Erwartung herausstellen, daß der zweite
(sekundäre) Stern schon zeitlich vor dem ersten gebildet worden ist.
Für dieses paradoxe Ergebnis gibt es dann drei verschiedene, aber letzten
Endes äquivalente Interpretationen, die die Struktur der Theorie in ver-
schiedener Weise beleuchten:
1. Für die (nur im Zwischenzustand vorhandenen) Teilchen der zweiten
Gruppe läuft die Zeit in der entgegengesetzten Richtung.
2. Noch bevor der "primäre" Zusammenstoß stattgefunden hat, geschieht
am Ort des "sekundären" Sterns ein Prozeß, bei dem einige Teilchen der
ersten Gruppe und ein Teilchen negativer Energie der zweiten Gruppe ent-
stehen. Dieses letztere läuft zu der Stelle, an der der "Primär"prozeß ge-
schieht, um dort gerade im richtigen Augenblick anzukommen und im Prozeß
absorbiert zu werden. Bei dieser Interpretation muß allerdings der Kausal-
zusammenhang im Sinne einer "causa finalis" gedeutet werden: Die Erzeugung
eines Teilchens negativer Energie ist nur möglich, weil später an der "rich-
tigen" Stelle die Energie vorhanden sein wird, um das Teilchen negativer
Energie wieder zu absorbieren.
3. Die Elementarteilchen (der ersten Gruppe) besitzen nicht nur eine
räumliche, sondern in gewissem Sinn auch eine zeitliche Ausdehnung; die
geschilderten Prozesse spielen sich alle innerhalb des Elementarteilchens ab.
Diese Deutung liegt besonders nahe bei den Annahmen von PAIS und UHLEN-
BECK, da dort der Operator e- A o' die räumliche und zeitliche "Verwaschung"
des Elementarteilchens hervorruft.
b) Ob eine unmittelbare Beobachtung der eben beschriebenen Paradoxien
möglich wäre, scheint allerdings fraglich, weil ja die Meßapparaturen selbst
auch aus Atomen bestehen und daher die Messung von Zeitdifferenzen der
Größenordnung 10- 24 sec nicht zulassen. An eine Messung wäre zunächst
nur zu denken bei Vorgängen sehr hoher Gesamtenergie, bei denen schon die
Teilchen der zweiten Gruppe mit so hoher Energie erzeugt werden, daß ihre
Zerfallszeit im Schwerpunktsystem des ganzen Prozesses durch Zeitdilatation
stark vergrößert und damit meßbar wird. Nur bei Prozessen so hoher Gesamt-
energie macht sich die Tatsache bemerkbar, daß die Verwaschung der Grenze
zwischen Vergangenheit bzw. Zukunft und Gegenwart in Fig. 3 auch über
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 61

größere räumliche oder zeitliche Abstände hinweg entlang dem Lichtkegel


erfolgt. Aber selbst bei diesen Prozessen ist es fraglich, ob die scheinbare
Zeitumkehr beobachtet werden könnte. Denn es ist durchaus möglich, daß
die Wechselwirkung bei hoher Primärenergie dafür sorgt, daß die Energie
auf viele Sekundärteilchen relativ geringer Energie verteilt wird; daß also
die Entstehung eines Teilchens der zweiten Gruppe mit einer Energie, die
groß gegen seine Ruhenergie ist, ein außerordentlich seltener Prozeß ist, ein
Prozeß, dessen Wahrscheinlichkeit mit der Energie des Teilchens exponentiell
abnimmt. Mit einer derartig geringen Wahrscheinlichkeit kommen aber auch
schon in der gewöhnlichen Quantenmechanik sehr paradoxe Vorgänge vor.
Im ganzen dürfte also die Tatsache, daß alle Meßapparaturen aus Atomen
zusammengesetzt sind, jedenfalls praktisch eine unmittelbare Beobachtung der
genannten Paradoxien verbieten. Eine indirekte Beobachtung sollte natürlich
stets insofern möglich sein, als ja der durch (13) und (14) bzw. (20) und (21)
dargestellte Zusammenhang sich aus den Experimenten muß ablesen lassen.
c) Gegen die in IIc dargestellten Formalismen kann noch eingewandt
werden, daß sie die Korrespondenzforderung nicht genau erfüllen, weil sich
in ihnen die Abweichungen von der Raum-Zeitstruktur der speziellen Rela-
tivitätstheorie auch in größeren Raum- und Zeitabständen (in der Nähe des
Lichtkegels) bemerkbar machen, also nicht nur in kleinen Raum-Zeitgebieten
::s: 10-13 cm bzw. ::s: 10- 21 sec. Diesem Einwand kann aber entgegengehalten
werden, daß aus Gründen der relativistischen Invarianz die (an dieser Stelle
nicht ganz genau formulierte) Korrespondenzforderung gar nicht anders
gemeint sein kann, als im Sinne etwa der GI. (10) oder der Fig. 3. Wenn
überhaupt Abweichungen von der relativistischen Raum-Zeitstruktur in
kleinen Dimensionen vorkommen, so müssen sie in den in Fig.3 angedeuteten
Bereichen auftreten.
d) Die Formalismen der in Hc dargestellten Art sind bisher noch nicht
bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet worden. Es sollen aber noch einige
ihrer allgemeinen Eigenschaften kurz besprochen werden.
Wenn die Wellenfunktion 1p(x) die Materie schlechthin darstellen soll,
wenn also alle Elementarteilchen sich z. B. aus Eigenlösungen für den T-
bzw. S-Operator ergeben sollen, so muß 1p(x) ein Spinor sein. Denn nur
dann können die stationären Zustände sowohl halbzahlige wie ganzzahlige
Drehimpulse besitzen. Dann ist der einfachste Ausdruck für W (x) übrigens
ein Ausdruck vierter Ordnung in 1p (x) von der gleichen Art, wie er etwa in der
FERMlschen Theorie des ß-Zerfalls vorkommt. Es mag aber sein, daß es andere,
noch unbekannte Kriterien von Einfachheit gibt, die W (x) anders festlegen.
Die Lichtquanten müssen in einer derartigen Theorie ebenfalls als (aus
einer geraden Anzahl von Spinorteilchen) zusammengesetzte Gebilde erschei-
nen, wie dies früher von DE BROGLIE, JORDAN und KRONIG [11] vorgeschlagen
worden ist, und dieser Umstand bringt eine charakteristische Schwierigkeit
62 w. HEISENBERG:

mit sich. Denkt man sich das Lichtquant aus zwei Teilchen, A und B,
zusammengesetzt, so könnte bei Annahme des üblichen relativistischen
Kausalzusammenhanges nur entweder A auf B wirken, oder B auf A, aber
nicht beides gleichzeitig, da sich ja sowohl A als auch B mit Lichtgeschwin-
digkeit bewegen. Denn entweder liegt B im Vergangenheitskegel von A
oder umgekehrt. Unter diesen Umständen könnte aber keine echte Wechsel-
wirkung zwischen A und B zustande kommen; man sieht also nicht, wie das
Lichtquant als gebundener Zustand möglich sein sollte. Wenn aber die
Abweichungen vom relativistischen Kausalzusammenhang berücksichtigt
wc,rden, die in I und II besprochen wurden, so ist eine echte Wechselwirkung
zwischen A und B jedenfalls im Prinzip möglich. Allerdings ist bisher auch
noch nicht untersucht worden, unter welchen Bedingungen für W (x) solche
Lichtquantenlösungen existieren, und wahrscheinlich ergibt sich an dieser
Stelle eine sehr starke Einschränkung für die möglichen Theorien; denn mit
der Ruhmasse 0 der Lichtquanten ist eine neue Invarianzforderung, die der
Eichinvarianz, verknüpft.

IV. Andere Methoden zur Lösung der Schwierigkeiten.


a) Den Schwierigkeiten, die von der Raum-Zeitstruktur und dem Kausal-
zusammenhang der Relativitätstheorie herrühren, kann nach den Erfahrungen
der letzten Jahre noch auf eine ganz andere Weise begegnet werden. Man
kann nämlich, wie es in der Quantenelektrodynamik geschieht [1], diesen
Kausalzusammenhang streng beibehalten, dafür aber die unendlichen Schwan-
kungen in Energie und Impuls in Kauf nehmen und einen divergenten Aus·
druck für die HAMILToN-Funktion an die Spitze der Theorie stellen. Dies
geschieht in der Weise, daß für die HAMILTON-Funktion ein mathematischer
Ausdruck angenommen wird, der einige zunächst unbestimmte Konstanten
enthält. Berechnet man damit nach GI. (4) die Matrix S:::: oder die Energie
von stationären Zuständen, so ergeben sich konvergente Resultate nur dann,
wenn man den eingeführten Konstanten in einer bestimmten Weise unendliche
Werte gibt und einfache Vorschriften für die Ausführung von zunächst un-
bestimmten Integralen hinzunimmt. Von den mathematischen Problemen,
die durch dieses Umgehen mit unbestimmten Integralen aufgeworfen werden,
soll hier abgesehen werden. Das Verfahren zur Elimination der unendlichen
Konstanten nennt man "Renormalisierung" [1]. Nur eine relativ beschränkte
Gruppe von mathematischen Ausdrücken für die HAMILToN·Funktion ge-
stattet den Prozeß der "Renormalisierung". Zu ihr gehört die Quantenelektro-
dynamik und die skalaren oder pseudoskalaren Mesonentheorien mit skalarer
oder pseudoskalarer Kopplung an das Nukleonenfeld. Die FERMlsche Theorie
des ß-Zerfalls dagegen gehört z. B. nicht zu dieser Gruppe.
Als Regel kann man nach den bisherigen Erfahrungen aufstellen: Theorien,
bei denen die Übergangselemente der Wechselwirkungsenergie mit wachsender
Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen. 63

Energie der beteiligten Teilchen anwachsen, lassen sich nicht renormalisieren;


Theorien, bei denen diese Elemente nicht mit wachsender Energie zunehmen,
sind dagegen renormalisierbar. Zum Verständnis dieser Regel muß man daran
denken, daß der Mechanismus der Wechselwirkung in sehr kleinen Raum-
Zeitgebieten nach der Quantentheorie nur an Elementarteilchen sehr hoher
Energie und Impulse in Erscheinung treten kann. Bei den Theorien der
zweiten Art, die renormalisiert werden können, spielt die Wechselwirkung in
sehr kleinen Gebieten also keine wichtigere Rolle als die in größeren Gebieten;
daher kann die Struktur der Wechselwirkung von den größeren Gebieten her
festgelegt werden, und die in noch kleineren Gebieten notwendig auftretenden
großen Schwankungen stören diese Struktur nicht. Bei den Theorien der
ersten Art dagegen steckt der entscheidende Teil der Wechselwirkung in den
kleinsten Raum-Zeitgebieten, daher läßt sich die Struktur der Wechselwirkung
nicht von den größeren Gebieten her festlegen. Bei Theorien dieser Art wird
sich der Kausalzusammenhang der speziellen Relativitätstheorie kaum bis zu be-
liebig kleinen Raum -Zeitgebieten hinab aufrechterhalten lassen, sie dürften also
nur im Zusammenhang mit Formalismen der in II besprochenen Art auftreten.
b) In den (nichtrenormalisierbaren) Theorien der ersten Art nimmt die
Wechselwirkung mit der Energie der beteiligten Teilchen zu; daher führt der
Stoß sehr energiereicher Elementarteilchen hier in der Regel zur Erzeugung
vieler Sekundärteilchen in einem einzigen Akt. Bei den (renormalisierbaren)
Theorien der zweiten Art dagegen kann die mittlere Zahl der Sekundärteilchen
auch bei sehr hohen Energien der stoßenden Teilchen klein (z.B. ~ 1) bleiben.
Die Experimente über den Stoß von Nukleonen in der kosmischen Strahlung
machen wahrscheinlich, daß bei einem energiereichen Stoß in der Regel viele
Sekundärteilchen erzeugt werden. Dieses empirische Ergebnis spricht für
die Bedeutung der nichtrenormalisierbaren Theorien.
Andererseits kann die Quantenelektrodynamik und wohl auch der Haupt-
teil der Wechselwirkung der :n;-Mesonen mit den Nukleonen re normalisiert
werden. Die Theorien der letzteren Art spielen also sicher in der Natur eine
wichtige Rolle. Eine Begründung für die Bedeutung der renormalisierbaren
Theorien kann man vielleicht in folgender Überlegung finden: Wenn in der
Theorie der Elementarteilchen eine universelle Länge Zo von der Größen-
ordnung 10-13 cm eine entscheidende Rolle spielt und die Grenze beschreibt,
bis zu der hinab der normale Kausalzusammenhang der Relativitätstheorie
gewahrt sein soll, so muß in dieser Theorie, wenn es überhaupt Teilchen
gibt, deren Ruhmasse viel kleiner als n/toe ist, für solche Teilchen bei kleineren
Energien von selbst eine Wechselwirkung als Näherung herauskommen, die
re normalisiert werden kann. Denn erst bei Energien der Größenordnung ne/lo
werden in ihr die verschiedenen Elemente der Wechselwirkungsenergie etwa
die gleiche Größenordnung besitzen. Da die nichtrenormalisierbaren Glieder
mit abnehmender Energie kleiner werden, die anderen aber nicht, wird man
64 w. HEl SEN BERG : Paradoxien des Zeitbegriffs in der Theorie der Elementarteilchen.

bei kleinen Energien ~ ~c die nichtrenormalisierbaren Anteile vernach-


o ..
lässigen können. Ob diese Uberlegung genügt, den Grad der Annäherung
zu erklären, mit dem die Quantenelektrodynamik und die Theorie der 'Tl-
Mesonen renormalisierbar sind, hängt vom genauen Wert der Konstanten 10
ab und kann daher einstweilen nicht entschieden werden.
c) Wenn man darüber hinausgehend annehmen wollte, daß der Kausal-
zusammenhang der speziellen Relativitätstheorie bis herab zu beliebig kleinen
Dimensionen erhalten bleiben muß, so würde daraus folgen, daß schon die
Grundgleichung der Materie zur Gruppe der renormalisierbaren Theorien
gehört. Gegen eine solche Annahme aber sprechen, abgesehen von der
mathematischen Problematik des Renormalisierungsprozesses, verschiedene
empirische Argumente, insbesondere die Mannigfaltigkeit der schon heute be-
kannten Elementarteilchen. Gerade die spezielle Einfachheit, die das Haupt-
merkmal der renormalisierbaren Theorien bildet: Die Existenz nur weniger
Sorten von Elementarteilchen, ist in der Wirklichkeit nicht vorhanden.
Außerdem wäre es im Rahmen der renormalisierbaren Theorien nicht
möglich, alle Elementarteilchen durch ein einheitliches Feld zu beschreiben.
Schon weiter oben wurde darauf hingewiesen, daß man in einer solchen
Theorie z. B. nicht die Möglichkeit hätte, die Lichtquanten als stationäre
Zustände des Spinorfeldes aufzufassen.
Aus diesen Gründen scheint dem Verfasser folgendes Bild von der Theorie
der Materie wahrscheinlicher: Die Materie wird durch ein einheitliches Spinor-
feId beschrieben, für das eine (nichtrenormalisierbare) Theorie von der in II be-
schriebenen Art, z.B. mit einer einfachen Wechselwirkung vom FERMIschen Ty-
pus oder ähnlicher Form, gilt. Für einige stationäre Zustände ergeben sich dabei
infolge der besonderen Struktur der Wechselwirkung Massen, die erheblich klei-
ner als n.jloc sind; für die Wechselwirkung dieser Massen bei Prozessen klei-
nerer Energie folgen dann automatisch renormalisierbare Näherungsausdrücke.
Eine derartige Theorie der Materie führt dann allerdings zwangsläufig zu
den in Absatz III geschilderten Paradoxien.
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Eingegangen am 4. September 1951.
Bedeutung der makromolekularen Chemie
für die Biologie.
Von
HERMANN STAUDINGER, Freiburg i. Br.
(353. Mitteilung über makromolekulare Verbindungen I
aus dem Forschungsinstitut für makromolekulare Chemie, Freiburg.)

Das Werden, Wachsen und Vergehen in der lebenden Natur ist mit der
Bildung, Umsetzung und Zersetzung komplizierter organischer Stoffe ver-
bunden. Dabei spielen die Proteine und Nukleinsäuren eine ganz wesentliche
Rolle. Dank den überraschenden Erfolgen, die die organische Chemie am An-
fang dieses Jahrhunderts durch die Synthese von Naturfarbstoffen, Zuckern,
Fetten, Alkaloiden usw. hatte, kam die Meinung auf, daß man sämtliche
Stoffe der Natur auf diese Weise darstellen, erforschen und damit in die
Lebensprozesse weiter eindringen könne. Dies geht z. B. aus dem bekannten
Vortrag von E. FISCHER 2 in der Deutschen Chemischen Gesellschaft aus dem
Jahre 1906 hervor, in dem er folgendes sagte:
"Ich möchte es deshalb geradezu als ein Glück ansehen, daß die Synthese genötigt ist,
zahlreiche neue Methoden des Aufbaues, der Erkennung und Isolierung zu schaffen, und
Hunderte von Zwischenprodukten genau zu studieren, bevor sie zu den Proteinen gelangen
kann. Denn diese Methoden werden schließlich nicht allein dazu dienen, alle Proteine der
Natur und noch viel mehr, als sie hervorbrachte, zu erzeugen, sie werden voraussichtlich
auch genügen für die Aufklärung der zahlreichen und merkwürdigen Umwandlungsprodukte
von Proteinen, die als Fermente, Toxine usw. eine so große Rolle spielen.
Kurzum, man darf erwarten, daß durch die tiefgehende und weit ausgedehnte synthetische
Arbeit das ganze, jetzt noch so dunkle Gebiet chemisches Kulturland wird, aus dem dip
Biologie einen großen Teil der Hilfsmittel beziehen kann, deren sie zur Lösung ihrer che-
mischen Aufgaben bedarf."
Die ungeheuer mannigfaltigen und komplizierten Lebensvorgänge konnten
allerdings nicht auf chemische Umsetzungen einfacher Moleküle zurück-
geführt werden; deshalb nahm man an, daß die stets veränderlichen kollo-
iden Zustände und Strukturen in der Zelle für die Lebensprozesse wesentlich
seien; denn einige einfache, übersichtlich gebaute Kolloide zeigen in ihrem
äußeren Aussehen und Verhalten manche Analogie zum Geschehen in der
lebenden Zelle. Bei dieser Sachlage war es verständlich, daß man über die
Bildung der lebenden Materie auf der Erde zu der Vorstellung kam, daß sie
sich in früheren Erdperioden aus anorganischer Materie gebildet habe, daß
also das Leben auf der Erde auf Urzeugung zurückzüführen sei 3.
I 352. Mitteilung. Vgl. Makromol. Chem. 7, H.2 (1951).
2 FISCHER, E.: Ber. dtsch. ehern. Ges. 39, 610 (1906).
3 Vgl. dazu HERTWIG, 0.: Allgemeine Biologie. Jena 1923. HARTMANN, M.: Allgemeine
Biologie. Jena 1947.
Göttinger Akademie-Festschrift.
66 HERMANN STAUDINGER:

Heute ergeben sich neue Gesichtspunkte zum Verständnis der biologischen


Prozesse aus der makromolekularen Chemie, dem jüngsten Zweige der organi-
schen Chemie. Nach den klassischen Methoden der organischen Chemie wurde
der Nachweis für die Existenz von Makromolekülen geführt, die die Größe
von Kolloidteilchen haben und die sich deshalb nur kolloid zu lösen vermögen.
Solche Makromoleküle, wie sie in Zellulose, Stärke, Glykogen, Kautschuk
und ebenso bei Proteinen und Nukleinsäuren vorliegen, besitzen somit ein
Molekulargewicht von 100000 und mehr. Sie sind wie die kleinen Moleküle
nach den Gesetzen der KEKuLEschen Strukturlehre aufgebaut: ,die Bindungs-
fähigkeit des Kohlenstoffs erlaubt es, daß sich viele Tausende von Atomen zu
Molekülen vereinigen. Die Existenz von Makromolekülen dieser erstaun-
lichen Größe wurde bei einer ganzen Reihe von Naturprodukten und syn-
thetischen makromolekularen Stoffen durch polymeranaloge Umsetzungen
nachgewiesen 1. So gelingt es bei den genannten Polysacchariden Umsetzungen
an den Hydroxylgruppen ihrer Makromoleküle vorzunehmen, ohne daß sich
bei derartigen Umsetzungen die Größe der "Makroradikale", also die Zahl
der Glukosereste, die die Makromoleküle der Polysaccharide aufbauen,
ändert. Es wurde also hier dasselbe Verfahren angewandt, das vor 130 Jahren
J. VON LIEBIG bei seinen Arbeiten über die Benzoesäure zu dem Radikal
Benzoyl führte, ein Ergebnis, das einen ersten Einblick in den Aufbau der
niedermolekularen organischen Stoffe lieferte.
Den makromolekularen Naturprodukten gehören nur wenige Gruppen
von organischen Verbindungen an: es sind dies die Polyprene (Kautschuk),
die Polysaccharide, die Proteine und die Nukleinsäuren. Die niedermole-
kularen Naturprodukte gehören dagegen sehr viel mannigfaltigeren Stoff-
klassen an. Infolge der Größe der Makromoleküle genügen nur wenige Stoff-
klassen für die Erfordernisse des biologischen Geschehens; dies ist verständlich,
da die Aufbaumöglichkeiten der Makromoleküle, also z. B. die Zahl der Iso-
meren eine unendlich viel größere ist, als die von niedermolekularen Stoffen.
Ein Pro tein vorn Molekulargewicht etwa 100000, das aus etwa 20 Amino-
säuren aufgebaut ist, hat in der Größenordnung 101000 Isomere, also eine un-
vorstellbar große Zahl, wenn man bedenkt, daß die Zahl sämtlicher Wasser-
moleküle auf der Erde "nur" 1046 ist. Wie in der niedermolekularen Chemie,
so wird es aber auch bei den makromolekularen Verbindungen der Fall sein,
daß jedes Isomere sich' in seinem physikalischen, chemischen und vor allem
auch in seinem physiologischen Verhalten von einern anderen Isomeren in
bestimmter Weise unterscheidet. Bei dieser unendlich großen Zahl von
Proteinmolekülen ist es daher möglich, daß jedes Lebewesen, das auf der Erde
heute existiert oder früher existiert hat, seine eigenen Proteine besitzt, die
sich in ihrer Konstitution von den Proteinen eines anderen Individuums und
1 Vg!. STAUDINGER, H.: Orgamsche Kolloidchemie, 3. Auf!. Braunschweig: F. Vieweg
& Sohn 1950.
Bedeutung der makromolekularen Chemie iur (he Biologie. 67

vor allem einer anderen Art unterscheiden. Diese Schlußfolgerung ist not-
wendig, da kein lebendes Wesen vollständig dem anderen gleicht; diese Unter-
schiede im Aufbau müssen aber letzten Endes auf solchen in der Konsti-
tution seiner Proteine und die dadurch bedingten etwas andersartigen Reak-
tionen beruhen.
Ein für die Biologie wesentliches Ergebnis der makromolekularen Chemie
besteht weiter darin \ daß die makromolekularen Stoffe in vieler Hinsicht
unerwartete Eigenschaften zeigen können, die bei niedermolekularen Stoffen
nicht anzutreffen sind. Vergleicht man die Moleküle der lebenden Substanz,
an deren Aufbau sich außer Kohlenstoff nur wenige Atome beteiligen, mit
Bauwerken, so ist es verständlich, daß bei kleinen Bauwerken aus 10 bis
100 Bausteinen sich keine besonderen Konstruktionen ausführen lassen. Mit
10000 oder 100000 Bausteinen lassen sich aber die verschiedenartigsten Ge-
bäude mit neuartigen Konstruktionen errichten, die bei kleinen Bauwerken
überhaupt nicht möglich sind. Aus diesem Vergleich ist auch ersichtlich, daß
in der makromolekularen Chemie die Gestalt der Moleküle eine viel größere
Rolle für das physikalische, chemische und biologische Verhalten spielt, als
bei niedermolekularen Verbindungen. Die linearmakromolekularen Stoffe,
wie Zellulose oder Myosin unterscheiden sich im festen Zustand durch ihr
Faserbildungs- und ihr Quellungsvermögen, ferner durch die hohe Viskosität
ihrer kolloiden Lösungen weitgehend von den makromolekularen Stoffen mit
kugelförmigen Molekülen, wie den Glykogenen und den Sphäroproteinen, die
dieses eigenartige Verhalten nicht zeigen. Dabei sind solche Vorgänge, wie
der auffallende Übergang von den unbegrenzt quellbaren Kolloiden in be-
grenzt quellbare, den man auch in der Proteinchemie häufig antrifft, auf eine
Verknüpfung langer Fadenmoleküle zurückzuführen, wobei bei der Größe
derselben die Mengen der brückenbildenden Substanzen so gering sind, daß
sie sich häufig dem Nachweis entziehen. In diese Gruppe von neuartigen Er-
scheinungen bei makromolekularen Stoffen, die durch ihre Molekülgestalt
bedingt sind, gehört ferner die Inklusion: es können zwischen die Fadenmole-
küle der linearmakromoleklliaren Stoffe niedermolekulare Stoffe eingeklemmt
werden, ohne irgendwie durch Nebenvalenzen gebunden zu sein. Durch diese
Erweiterung des Gefüges wird aber die Reaktionsfähigkeit solcher linear-
makromolekularer Stoffe wesentlich erhöht. Es wird eine Aufgabe der makro-
molekularen Chemie der Zukunft sein, solchem vielfach unerwarteten Ver-
halten nachzugehen, da dann die Hoffnung besteht, Verständnis für weitere
biologische Prozesse zu gewinnen.
Bei dieser Bedeutung der Molekülgestalt für das Verhalten der makro-
molekularen Stoffe kommt also ein Faktor in diesem Gebiet zur Geltung, der
sich nicht wie die Zahl der möglichen Isomeren rechnerisch erfassen läßt, da
er nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur ist. Die Zahl der Isomeren
1 Vgl. STAUDINGER, H.: Makromolekulare Chemie und BIOlogIe. Basel: Wepf 1947.
5*
68 HERMANN STAUDINGER :

der Proteine läßt schon die Schlußfolgerung zu, daß die Wahrscheinlichkeit
der Bildung eines bestimmten Proteins und somit auch die Wahrscheinlich-
keit einer Synthese desselben durch einen schrittweisen Aufbau außerordent-
lich gering ist: eine bestimmte Gestalt und ihre Eigenheiten können nicht
rein statistisch erfaßt werden. Somit bieten die Makromoleküle einen Über-
gang zwischen den niedermolekularen Verbindungen, deren Verhalten nach
physikalisch-chemischen Methoden zu erforschen ist, und den Objekten der
lebendigen Natur, bei der diese Methoden allein nicht ausreichen, da es hier
nicht nur um die Beherrschung chemischer und physikalischer Prozesse geht,
sondern auf die bestimmte Anordnung der Vorgänge im kleinsten Raum und
in den feinsten Einheiten der lebenden Zelle ankommt. Die einzelnen Makro-
moleküle z. B. in den Zellkernen und im Protoplasma haben dabei schon
Dimensionen, die sich im Zelleninhalt raum be stimmend auswirken können;
zum Verständnis dieser Vorgänge müssen daher außer statistischen noch
weitere Gesichtspunkte herangezogen werden, da sie sonst nicht voll erfaßt
werden können.
Die Lebensvorgänge sind an Makromoleküle geknüpft; man kann deshalb
die Frage stellen, welche Zahl von Makromolekülen und kleinen Molekülen
zusammenwirken muß, um eine kleinste lebendige Einheit, ein "atomos des
Lebendigen", zu ermöglichen. Wenn man eine Bakterienspore unter diesem
Gesichtspunkt betrachtet, so enthält diese nach einer ersten Abschätzung
107 bis 10 8 Atome, welche eine Zahl Makromoleküle und eine noch größere
Anzahl von kleineren und kleinsten Molekülen aufbauen, die alle in gesetz-
mäßiger und geordneter Weise zusammenwirken, um Lebenserscheinungen zu
ermöglichen. Vom Standpunkt der makromolekularen Chemie ist also der
Inhalt einer lebenden Zelle nicht eine beliebig veränderliche kolloide Masse,
sondern derselbe besteht aus Makromolekülen bestimmter Größe und Form,
die in geordneter Weise mit kleinen Molekülen in Beziehungen stehen. Bis
hinab zum Molekül ist alles durchstrukturiert, nur ist dieser Aufbau der
lebendigen Materie mit den heutigen Methoden noch nicht erfaßbar.
Bei dieser Kompliziertheit des Aufbaues der lebendigen Materie sind die
früheren Hypothesen über die Urzeugung, wie sie von C. NÄGEL! und anderen
Forschern ausgesprochen wurden \ zu einfach. Der Forscher wird sich heute
bescheiden müssen und diese Fragen zurückstellen, bis über den Aufbau der
lebenden Materie und die Lebensprozesse weitere Erfahrungen gesammelt sind.
Das Werden eines neuen Individuums wird sehr wesentlich von seinen
Chromosomen aus, also durch sehr kleine Einheiten dirigiert. Dieselben
sehen häufig so ähnlich aus, daß man aus ihrem mikroskopischen Bild nicht
ohne weiteres sagen kann, welchem Individuum sie angehören und was ent-
steht. Diese Unterschiede sind wohl in ihrem makromolekularen Aufbau
1 Vgl. dazu HERTWIG, 0.: Allgemeine Biologie. Jena 1923. HARTMANN, M.: Allgemeine
Biologie. Jena 1947.
Bedeutung der makromolekularen Chemie für die Biologie. 69
begründet, der sich heute noch der chemischen Kenntnis entzieht. Die Materie
der Keimanlagen stellt gleichsam Matrizen dar, die bei der Vermehrung ein
ganz bestimmtes Wachstum verursachen. Beim gleichen Individuum müssen
dabei von Zelle zu Zelle äußerst geringfügige Unterschiede sein; denn bei
einem Baum haben z. B. alle Blätter das gleiche Bauprinzip, aber kein Blatt
eines Baumes gleicht in allen Einzelheiten einem anderen.
Der Bau dieser Matrizenstoffe und die dadurch bedingten Reaktionen
sind so außerordentlich konstant, daß sich die Arten in Millionen Generationen
unverändert fortpflanzen können. Man war seit Jahrzehnten in der Biologie
gewohnt, auf die Veränderung der Arten und so auf das Entstehen neuer
Arten das Hauptaugenmerk zu richten. Viel wunderbarer vom Standpunkt
der makromolekularen Chemie ist aber die Konstanz der Arten, die zeigt,
daß eine einmal gebildete makromolekulare Struktur eine außerordentliche
Beständigkeit hat. Dies zeigt sich schon an dem einfachsten Beispiel, daß
z. B. die makromolekulare Zellulose nach Jahrtausenden und Jahrhundert-
tausenden in ihrem Aufbau unverändert erhalten bleiben kann. Allerdings
lassen sich, wie es auch die Strahlenbiologie nachweist, unter starken äußeren
Einflüssen gewisse Variationen erzeugen; aber diese sind im Grunde genommen
geringfügig, und bei intensiver Behandlung wird die Lebensfähigkeit eines
großen Teiles der Individuen zerstört.
Diese Konstanz im Aufbau der lebendigen Natur ist vom Standpunkt der
makromolekularen Chemie auffallend und nicht verständlich; denn bei der
ungeheueren Variationsmöglichkeit im Aufbau der Moleküle der Proteine und
Nukleinsäuren sollte erwartet werden, daß die verschiedenartigsten Keim-
anlagen möglich sind, so daß keine bestimmten Arten bestehen, sondern daß
alle Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, durch Übergänge verbunden sind. Das
Existieren von bestimmten Arten zeigt also, daß in den kleinsten Einheiten
der Individuen, dem "atomos des Lebendigen", ganz bestimmt gebaute
Makromoleküle mit niedermolekularen Stoffen gesetzmäßig zusammen-
wirken, und daß daran das Leben gebunden ist.
So gibt die makromolekulare Chemie neue Möglichkeiten für das Ver-
ständnis biologischer Vorgänge und der Fortpflanzung ganz bestimmter
Arten. Jedes Lebewesen ist in seinem chemischen Aufbau und seinen chemi-
schen Prozessen ein einmaliges Gebilde, das sich von einem anderen in seinem
Aufbau unterscheidet, da kein lebendes Individuum einem anderen äußerlich
vollkommen gleicht. Der makromolekulare Aufbau und die chemischen
Prozesse sind sich bei einer Art ähnlich und ändern sich sprungweise von einer
Art zur anderen.
Für die Biologie ist es in mancher Hinsicht zweckmäßig, zum weiteren
Eindringen in diese Probleme auf die Grundlagen zurückzugehen. Eine solche
ist z. B. der Aufbau aus Atomen; so kann man schätzungsweise von jedem
biologischen Objekt, dessen Größe man kennt, die Zahl der Atome angeben,
70 HERMANN STAUDINGER: Bedeutung der makromolekularen Chemie für die Biologie.

die dasselbe enthält, wenn man übersehlagsmäßig annimmt, daß 1 g lebendige


Substanz aus 1023 Atomen aufgebaut ist. Es tritt dann für die Biologie die
weitere Frage auf, wie diese Atome in den Objekten zu Molekülen und Makro-
molekülen gebunden sind und sich dieselben dann räumlich anordnen. Ein
kleines Beispiel mag zum Schluß die Zweckmäßigkeit dieser Betrachtung
erläutern 1:
Nach einer einmaligen Begattung einer Bienenkönigin beim Hochzeits-
flug vermag diese in 3 bis 4 Jahren 1/ 2 bis 1 Million Eier zu legen, so daß der
Samen zur Befruchtung dieser Eier ausreichen muß. Bei der Annahme, daß
die Königin bei der Begattung etwa 0,1 mg Samen erhält, so sind dies etwa
1019 Atome. Bei der weiteren Annahme, daß eine Samenzelle aus 10 9 Atomen
aufgebaut ist - Gebilde dieser Größe würden vollkommen ausreichen, um alle
Einzelheiten in einer "Matrize" solcher Größe niederzulegen - würde die
Königin 1010 solcher Spermien bei der Begattung 2 erhalten, was weitaus
für die Befruchtung von etwa 106 Eiern genügt.
Eingegangen am 3. September 1951.

1 Diese Überlegung wurde angeregt durch eine Unterhaltung mit Dr. h. c. Graf R. Dou-
GLAS, Langenstem.
2 Nach einer freundlichen Mitteilung von Herrn Prof. KOEHLER, Freiburg i. Br., ergeben
Auszählungen der Spermien in der Samen tasche der Bienenkönigip eine Anzahl von etwa 10 8 •
Einengungs- und Ausweitungsregionen
beiderseits des Urkontinents Laurentia.
Von
HANS STILLE, Hannover.
Mit 2 Figuren im Text.

I. Vorbemerkungen.
Zur Behandlung stehen Probleme der Breitenveränderung von Erdein-
heiten, wobei unter "Breite" die Erstreckung senkrecht zum Streichen der
tektonischen Elemente - der Faltensysteme, der Bruchsysteme usw. -- zu
verstehen ist. Diese Breitenveränderungen können von positiver und nega-
tiver Art sein. Die Hauptform der negativen Breitenveränderung, der Ein-
engung, ist die Faltung als das Ergebnis pressender Kräfte, die senkrecht
zum Faltungsstreichen wirksam gewesen sind. Sie bringt die das Faltungs-
feld umrahmenden Erdstücke einander näher. Ihr stehen andere Fälle der
Erdtektonik diametral gegenüber, die auf die Ausweitung (Zerrung) und da-
mit auf das Auseinanderrücken der Randräume des Ausweitungsfeldes (Zer-
rungsfeldes) hinauskommen.
Die Faltungen vollziehen sieh in solchen Räumen, in denen die Faltungs-
einengung mit einem Minimum von Arbeit erzielbar ist (Prinzip der kleinsten
Widerstände). Hieraus ist ohne weiteres begreiflich, daß sieh die großen Fal-
tungen der Erdkruste in die Orthogeosynklinalen verlagern. Denn diese haben
im Ablauf ihrer vorangegangenen epirogenen Entwicklung ein besonderes
Maß von Faltbarkeit erlangt, die zum Teil schon auf dem Materialzustande,
aber vor allen Dingen darauf beruht, daß die Sedimente eine Unzahl von
Schichtfugen, also von Flächen erhöhter innerer Gleitfähigkeit, aufweisen.
Die Orthogeosynklinalen bilden also die "mobilen", d. h. noch faltbaren
Zonen zwischen starreren ("kratonischen") Räumen, die nicht mehr faltbar
sind. Und im Zusammenhang damit, daß es zwei große Raumkategorien von
kratonischer Art gibt, nämlich die Kontinente (Hochkratone) und die Tief-
meere bzw. deren Untergrund (Tiefkratone), ergeben sich hinsichtlich der
Umrahmungsart zweierlei Orthogeosynklinalen, nämlich erstens die zwischen-
kontinentalen, die beiderseits von Hochkratonen umsäumt sind, und die neben-
kontinentalen, die auf der einen Seite eine hochkratonische und auf der
anderen Seite eine tiefrneerische Umrahmung besitzen. Das klassische Beispiel
der ersteren Art ist das die Peripherie des größten aller Urozeane unserer
Erde begleitende zirkumpazifische Geosynklinalsystem, das auf seinen vom
72 HANS STILLE:

Pazifik abgewandten Seiten von den amerikanischen bzw. australasiatischen


Kontinentalmassen eingefaßt ist. Demgegenüber ist das klassische Beispiel
eines zwischenkontinentalen Geosynklinalbereiches in der eine "Norderde"
von einer "Süderde" trennenden Tethys gegeben. Im Gegensatz zur "uni-
nuklearen" , d. h. nur einen einzigen, aber gewaltig ausgedehnten Urkern
(Gondwanaland) umschließenden Süderde ist die Norderde ein "multinukle-
ares" Gebilde, hervorgegangen aus mehreren, durch orthogeosynklinale Re-
gionen ("Urgeosynklinalen") zunächst voneinander getrennt gewesenen Ur-
kernen, die zur geschlossenen Norderde erst im Ablauf der nachurzeitlichen
Erdentwicklung dadurch verschweißt worden sind, daß die die Urkerne einst
trennenden Geosynklinalräume durch Faltungsvorgänge und deren Begleit-
erscheinungen in den kontinentalen Zustand, den die Urkerne schon von vorn-
herein besessen hatten, versetzt wurden. Von diesen orthogeosynklinalen
Urzonen haben zwei den Raum der Norderde quer zu dessen latitudinaler Er-
streckung durchschnitten, nämlich die kaledonische und die uralischei.
Erstere trennte, in sich das skandische Urmeer umschließend, in Nordeuropa
den Urkontincnt Laurentia als das in seinem Osten noch die Hebriden und den
Hauptteil Grönlands umfassende und im Südosten in den europanahen Be-
reichen mit "Klein-Laurentia" endigende Kernstück Nordamerikas von dem
Urkontinent Fennosarmatia (Russia), dem Kernstück Europas, um das sich
das übrige Europa später aufgebaut hat. Die zweite Urgeosynklinale, die
uralische, befand sich östlich von Fennosarmatia und erstreckte sich dort
vom heutigen Uralraum ostwärts bis zum Urkontinent Angaraland, dem
eigentlichen Kernstück des heutigen Asiens.

2. Die westlichen Randgebiete Laurentias.


a) Die vorneoidische Tektonik.
Nach der Urzeit hatte sich zwischen dem Urpazifik und dem laurenti-
schen Urkontinent die enorm breite Kordillerengeosynklinale entwickelt,
aus der später die nord amerikanischen Kordilleren hervorgegangen sind. Sie
ist in der kaledonischen Ära, wie auch schon vorher in der assyntischen, von
irgendwie beträchtlicheren Faltungen verschont geblieben, trotzdem die
geosynklinalen Räume sich damals, wie aus der Mächtigkeit der bis dahin ent-
standenen Sedimente ersichtlich, schon stark fortentwickelt hatten, also die
Geosynklinale an sich schon "reif" für Faltungen gewesen wäre. Erst ganz
im Norden des Kordillerenraumes, in Alaska, sind kaledonische Faltungen
erfolgt. Aber Alaska weist als ein ganz abweichend, nämlich west-östlich
gerichteter Teil des nordamerikanischen nebenpazifischen Faltensystems in
vielfacher Hinsicht eine andere geotektonische Entwicklung auf als der Haupt-
teil der Kordilleren, von dem im nachfolgenden allein die Rede ist.
1 Zur räumlichen Orientierung vgl. Fig.2.
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 73

In der dritten der großen neogäischen Ären, der variszischen, haben sich
wenigstens in einigen Teilen des nordamerikanischen Kordillerensystems
Faltungen, hier und da auch schon stärkere und von magmatischen Intru-
sionen begleitet gewesene, vollzogen, die "Prä-Nevadiden" schaffend. Etwas
größere Bedeutung haben sie, soweit zu übersehen, innerhalb ihrer immerhin
beschränkten Wirkungsräume speziell in den späteren Phasen der variszischen
Ära erlangt.
b) Die neoidische Tektonik.
Das kordillerische Faltungssystem Nordamerikas gehört im wesentlichen
erst in die jüngste, die neoidische Erdära. Zu unterscheiden sind in ihm die
westkordillerischen Nevadiden und das ostkordillerische Felsengebirge, die
Rockyidell. Durch ihr höheres Faltungsalter, den ungleich stärkeren Betrag
der Faltungen und deren plutonische und überhaupt magmatische Begleit-
erscheinungen charakterisieren sich die Nevadiden als die "Interniden" des
nordamerikanischen Kordillerensystems, denen dann später im zunächst
ungefaltet gebliebenen und relativ schmalen Ostraume der Gesamtkordilleren
die Rockyiden als die "Externiden" ostwärts angegliedert worden sind.
Hinsichtlich des speziellen Alters der nordamerikanischen Kordilleren-
faltungen nehme ich Bezug auf die von mir vor etwa einem Jahrzehnt ver-
öffentlichte "Einführung in den Bau Amerikas" (Berlin 1940).
Nach der paläozoischen Ära war ein sehr mächtiges System von Schichten
in dem nevadidischen Teiltroge zum Absatz gekommen, das mit seinen
hangendsten Teilen bis in den mittleren Weißen Jura, den Kimmeridge,
hineinreichte. Es unterlag dann der Faltung, mit und unmittelbar nach der
große Mengen granitischer Schmelzen in die Schichtverbände eindrangen.
Diskordant zu den gefalteten und zum Teil recht metamorphen und von
plutonischen Massen durchsetzten Gesteinsmassen, dem" Grundgebirge" der
Nevadiden, liegt das Knoxville, das Leitfossilien des Oberen Portland führt.
Damit muß sich die große Faltung der Nevadiden, die man in Amerika kurz-
hin als die "nevadische" zu bezeichnen pflegt, in der Zeitspanne zwischen
Kimmeridge und Oberem Portland vollzogen haben. Ihr ist nach Unter-
suchungen von TALIAFERRO, auf die ich schon 1940 kurz hinweisen konnte,
die inzwischen aber fortgesetzt und eingehender veröffentlicht worden sind,
noch eine schwache Nachphase nach Ablagerung des Oberen Portland (Knox-
ville-Serie) und vor Ablagerung der Unterkreide (Shasta- Gruppe) gefolgt.
TALIAFERRO hat sie nach dem Mount DiabIo als die "Diablan orogeny" be-
zeichnet. Etwas stärker hat sich dann die Faltung in einigen Teilen der
Nevadiden in der Zeit vor Ablagerung der Oberen Kreide, also in der austri-
schen Phase ("oregonische" Phase BLAcKwELDERs), wiederholt, und weitere
Nachwirkungen sind in der Grenzzeit von Kreide und Tertiär (laramische
Phase) eingetreten. Erst in der laramischen Phase ist östlich der Nevadiden
die Faltung der felsengebirgischen Teilgeosynklinale erfolgt.
74 HANS STILLE:

Die Nevadiden bilden eines der gewaltigsten Faltungssysteme unserer


Erde und dazu ein auf weiteste Erstreckung fast einphasiges. Mit ihrer durch-
schnittlichen Breite von etwa 500 km übertreffen sie etwa dreifach die Breite
der dazu erst in mehreren Phasen entstandenen Alpen Mitteleuropas. Die
Unterlagen zur Bestimmung der Breitenverminderung des ehemaligen Neva-
didentroges durch die nevadische Faltung sind noch keineswegs gegeben.
Aber nehmen wir an, daß die Faltung den ehemaligen Trograum etwa um die
Hälfte seiner ursprünglichen Breite reduziert haben mag, so würde eine Ein-
engung der pazifischen Randzone des nordamerikanischen Kontinents durch
die nevadische Faltung um etwa 250 km erfolgt sein.

3. Die östlichen Randgebiete Laurentias.


a) Die vorneoidische Tektonik.
Die kaledonische Geosynklinale, die den ganzen Raum zwischen Laurentia
und dem fennosarmatischen Urkontinent erfüllt hatte, soweit dieser nicht
vom skandischen Urozean eingenommen war, ist (vgl. Fig.2) in der kaie-
donischen Ära in ihrer ganzen Breite gefaltet und zugleich endgültig in den
kratonischen Zustand ("Paleuropa") gebracht worden, wodurch sich die Ver-
schmelzung von Laurentia und Fennosarmatia zur größeren, von der nord-
amerikanischen Kordilleren-Geosynklinale zur uralischen Geosynklinale rei-
chenden kontinentalen Einheit Laurussia vollzog. Das damals entstandene,
kaledonische Orogen ist als ein zwischenkontinental liegendes zweistämmig
gebaut, indem es in die Laurentia umgebenden und Laurentia erweiternden
Eriiden und die Fennosarmatia umsäumenden und dieses erweiternden Nor-
giden zerfiel.
Im kaledonisch konsolidierten Paleuropa haben die variszischen Oro-
genesen nur noch zu germanotypen Dislokationsformen, speziell zu Bruch-
bildungen, führen können, und erst weiter südlich beginnt auf mitteleuro-
päischem Boden der von der kaledonischen Faltung verschont gebliebene
bzw. bald nach ihr regenerierte Raum, in dem die variszischen Faltungen ihre
alpinotype Entwicklung erfuhren. Dieser Raum ist bis hin zu den jungen
europäischen Hochgebirgen im Ablauf der variszischen Faltungen zu "Meso-
europa" konsolidiert worden.

b) Die neoidische (saxonische) Tektonik in den östlichen Randgebieten


Laurentias.
Selbstverständlich ist im mesoeuropäischen Raume - ebenso wie im
schon früher konsolidierten Paleuropa - die neoidische Gebirgsbildung nur
noch in germanotyper Weise möglich gewesen. Sie wird seit Jahrzehnten als
die saxonische bezeichnet. Von Interesse ist sie nunmehr speziell in ihren
östlich und südöstlich des ehemaligen Laurentias liegenden Anteilen, und hier
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 75

erfordern aus bald ersichtlichen Gründen die dyadischen Salzvorkommen eine


besondere Behandlung.
Ein sehr bemerkenswertes Element der europäischen Tektonik ist die
l'dittelmeer-Mjösen-Zone (Fig.1) als eine relativ schmale, rheinisch - d. h.
nordnordöstlich -- gerichtete Zone, an die die rheinischen Dislokationen
Mitteleuropas ganz überwiegend gebunden sind. Auf ihrer Erstreckung
vom Mittelmeer bis zum Mjösen-See
nördlich Oslo umschließt sie neben
einer Unzahl sonstiger Krustenstö-
rungen altbekannte Grabenversen-
kungen, wie den Rhone-Saone-Gra-
ben, den Oberrheinischen Graben, die
hcssisch-südhannoverschen Gräben
und den Oslo- Graben. Hat sie auch
eine ganz große Bedeutung gerade in
der jüngeren mitteleuropäischen Ge-
birgsbildung gewonnen, so reichen
ihre Anlagen doch schon bis in die
Urzeiten der Erde zurück, wodurch
sie sich als ein altes "Lineament" der
Erdentwicklung erweist. Charakteri-
stisch ist z. B. in diesem Sinne, daß
in der nördlichen Fortsetzung der =+-::
-=-<t:.
Mittelmeer-Mjösen-Zone der nord-
westliche (skandinavische) Außen-
rand dcs urkratonischen Fennosar- 500 km
matiens verläuft. Wie nach Norden 10'
so scheint sich auch nach Süden bzw. Fig. 1. DIe Mittelmeer-Mjösen-Zone.
nach Südwesten noch eine weite Fort- DIe Punkherung im Raume Schleswig-Hol-
steins und Nordhannovers bezeichnet die
setzung der Mittelmeer-Mjösen-Zone ReglOn besonders starker Zerrungen von
anzudeuten, hier z. B. im Verlauf der uberwiegend jungkimmerischem Alter. Die
Punktlinie östlich der Mittelmeer-Mjösen-
westlichen Außenkontur des nord- Zone gibt die Moravosilesische Furche an.
afrikanischen Kontinentes l .
Die Mittelmeer-Mjösen-Zone ist nur ein Einzelfall der in unserer Erdkruste
sich häufig wiederholenden rheinisch bis nordöstlich gerichteten großen Bruch-
zonen, von denen noch diejenige genannt sei, die den Ostrand Afrikas nord-
wärts bis zu den jungen Ketten des Tethysraumes begleitet und diesen
bedingt hat und die die Süderde in ähnlicher Weise in zwei Hälften zerlegt,
wie in bezug auf die Norderde durch die Mittelmeer-Mjöscn-Zonc geschieht.
1 Eine räumlich bescheidene Parallelerscheinung zur Mittelmeer-Mjösen-Zone ist (siehe
Punktreihe in Fig. 1) im Sudentengebiete das moravosilesische Lineament, dessen Anlage
gleichfalls in frühe Erdzeiten zurückgeht, an das aber auch 1ll späteren Zeiten eine bedeut-
same Tektonik geknüpft gewesen ist.
76 HANS STILLE:

In bei den Fällen, denen sich noch andere des Erdbildes zugesellen, charak-
terisieren sich die rheinischen Dislokationszonen als solche der Zerrungs-
vorgänge.
Wir betrachten die speziellen Zeitverhältnisse der saxonischen Tektonik
unter besonderer Berücksichtigung der nordwestdeutschen Gebiete.
Schwache Andeutungen altkimmerischer Bewegungen, die man nach bis-
heriger Kenntnis wohl kaum als echt orogen, sondern als nur synorogen
anzusprechen hat, sind im deutsch-holländischen Grenzgebiete in zumeist
ziemlich weiträumigen ("regionalen") Heraushebungen gegeben.
Ganz anders ist die Sachlage hinsichtlich der jungkimmerischen Gebirgs-
bildung, die ich schon 1913 als die Hauptphase der saxonischen Tektonik
Deutschlands habe charakterisieren können. Die nachstehende Einteilung in
3 Unterphasen, wie sie DAHLGRÜN 1921 in einer Göttinger Dissertation geben
konnte, hat sich bis heute bewährt:
Neokom (zu unterst jüngeres Valendis),
Hilsphase
Wealden und jüngeres Portland (zu unterst Serpulit),
Osterwaldphase
Tieferes Portland (zu unterst Gigas- Schichten),
Deisterphase
Vorportlandischer Malm (Kimmeridge usw.).
Äußerst schwache Andeutungen von tektonischen Bewegungen austrischen
Alters, die man kaum anders als synorogen zu klassifizieren hat, erkennt man
hier und da im außeralpinen Mitteleuropa. Aber in vielen Fällen, in denen
das Cenoman oder auch schon das Alb einem gestörten Unterbau älterer
Schichten aufruht, gehen die Störungen des Unterbaues offensichtlich schon
auf die jungkimmerische und nicht erst auf die austrische Gebirgsbildung
zurück.
Schon recht lange kannte man im nordwestlichen Deutschland eine gewisse
Zahl von Salzpjeilern, d. h. von steil aus großen Tiefen aufgestiegenen, rund-
liche oder ovale oder gestreckte oder sonstige Querschnitte zeigenden Salz-
körpern. Aber in welch großer Menge sie vorhanden sind, weiß man erst,
seitdem der Untergrund Nordwestdeutschlands mit geophysikalischen Me-
thoden systematisch untersucht worden ist. Hierüber unterrichtet am besten
die im Jahre 1945 vom niedersächsischen Amt für Bodenforschung im Maß-
stab 1 :100000 herausgegebene geotektonische Karte von Nordwestdeutsch-
land, ein wissenschaftliches Werk von fundamentaler Bedeutung.
Die Zeitverhältnisse der Aufwärtsbewegung der Salzpfeiler sind viel dis-
kutiert worden. Neben der Auffassung, daß sie an die orogenen Phasen der
saxonischen Tektonik, wie sie sich in den salzfreien Räumen ergeben, gebunden
sei, steht diejenige der mehr kontinuierlichen Hochbewegung des Salzes. Eine
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 77

Überfülle von Material hat sich zu diesen Fragen neuerdings aus den nord-
westdeutschen Erdölbohrungen ergeben, und ziemlich allgemein scheint sich
jetzt die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß zwar der Hauptteil der Auf-
wärtsbewegungen der Salzkörper in die notorischen orogenen Phasen entfällt,
daß aber auch in den langen anorogenen Zwischenzeiten, aus denen abseits
von den Salzkörpern keine orogenen Ereignisse überliefert sind, sich Auf-
wärtsbewegungen von mehr "säkularer" Dauer ereignet haben. Es steht also
neben der, wie ich früher einmal sagte, "N ormalte.ktonik" des Untergrundes,
die vom Ologenen Zeitgesetz beherrscht ist, die Salztektonik, die auch außer-
halb der notorischen orogenen Zeitphasen Bewegungen aufweist, die man
ihrer Art nach (Änderung des Bodengefüges !) als "orogen" zu klassifi-
zieren hätte. Sie leitet über zu den Bewegungen des mobilsten Erdstoffes,
des Magmas, die noch ungleich wcniger an die orogenen Phasen gebun-
den sind.
Aus vorstehenden Darlegungen wird zunächst begreiflich, daß orogene
Phasen, die sich in der Normaltektonik bestimmter Gebiete kaum andeuten,
in der Salztektonik in verstärkter Weise zum Ausdruck kommen können,
und ich denke hier z. B. an die voralbischen (altaustrischen) Salzaufstiegc.
Aber darüber hinaus kann man sich sehr wohl vorstellen, daß in der Salz-
tektonik und im Zusammenhang damit auch in der Umgebung der Salz körper
Bewegungssteigerungen in Zeiten eintreten, in denen sich in der Normal-
tektonik keine Vorgänge von orogener Art ereignet haben. So ist zu ver-
stehen, daß sich in der Salztektonik zu den notorischen orogenen Phasen
noch einige rein "salinar-orogene" hinzufinden, zurückgehend auf eine epi-
sodische Steigerung der tektonischen Kräfte, die aber zu orogenen U mfor-
mungen der normalen Gesteine noch nicht ausgereicht hatte.
Wie nun die jungkimmerische Tektonik die Kardinaltektonik der saxo-
nischen Räume ist, so entfällt in sie auch der Hauptteil der Salzaufstiege Nord-
westdeutschlands, die eigentlich auch erst in dieser Phase eingesetzt zu haben
scheinen. Dieses jungkimmerische Alter der Salzaufstiege ist in einer Unzahl
von Fällen aus der Überdeckung der Salzpfeiler durch Unterkreide oder gar
schon durch Portland unmittelbar erweisbar. Doch auch in den vielen Fällen,
in denen über dem Salzspiegel jüngere transgredierende Serien liegen, ist
mindestens die Möglichkeit gegeben, daß der Salzkörper schon zur Zeit der
jungkimmerischen Tektonik aufgestiegen und bis zur Erdoberfläche durch-
gebrochen war und dann von Unterkreide bedeckt wurde, die er aber im
Anschluß an einen jüngeren und vielleicht nur geringfügigen Aufwärtsruck
wieder einbüßte. An solche Verhältnisse ist ganz besonders in den sehr zahl-
reichen Fällen zu denken, in denen zwar jüngere Transgressionen auf dem
Salzpfeiler liegen, neben diesem aber Unterkreide noch erhalten und dabei
diskordant von dem auch über dem Salz transgredierenden Schichtsystem
überlagert ist. Auf vielen Salzstöcken Nordwestdeutschlands liegt z. B. das
78 HANS STILLE:

Alb -- manchmal noch unter Zwischenschaltung eines Restes von Unterkreide,


zumeist aber unmittelbar. Auch in letzteren Fällen kann durchaus -
und das ist in der neueren Literatur schon mehrfach zum Ausdruck ge-
kommen - mit einem schon jungkimmerischen Salzaufstieg gerechnet
werden, dem dann nach dem Apt und vor dem Alb ein weiterer und vielleicht
nur geringer Aufwärtsruck gefolgt ist. Häufig haben Bohrungen auch Emscher
oder Senon unmittelbar auf einem Salzpfeiler festgestellt; aber wenn in solchen
Fällen die junge Kreide in der Peripherie des Salzkärpers auf dort erhalten
gebliebener Unterkreide diskordant aufruht und die Unterkreide wieder dis-
kordant auf einem noch älteren gestärten Gebirge liegt, so ergibt sich das
Bild, daß die jungkretazische Gebirgsbildung, mag sie unmittelbar über
dem Salz auch als einzige zum Ausdruck kommen, schließlich nur Bewegungs-
vorgänge fortgesetzt hat, die die jungkimmerische Gebirgsbildung schon
erzielt hatte.
Gering, so wird mancher zunächst vielleicht denken, mag die relative
Bedeutung des jungkimmerischen Salzaufstieges in solchen Gebieten sein, in
denen sich die Hochbewegung bis in ganz junge Zeiten fortgesetzt hat. Aber
in diesem Sinne braucht nur auf den Salzstock von Reitbrook bei Bergedorf
(Hamburg) verwiesen zu werden, über dessen Strukturverhältnisse man aus
einer Unzahl von Erdälbohrungen bestens unterrichtet ist. In diesem auf
den ersten Blick "jung" erscheinenden Salzpfeiler hat nämlich nach den
Darlegungen von R. BEHRMANN die gesamte nach-jungkimmerische Hoch-
bewegung, die sich zum Teil den nach-jungkimmerischen notorischen Phasen
einordnet, zum Teil aber auch mehr kontinuierlich erfolgt ist, nur etwa
750 m betragen gegenüber einer vorangegangenen jungkimmerischen, die mit
2000-3000 m anzusetzen ist.
Die nordwestdeutschen Salzpfeiler ordnen sich zum Teil nach bestimmten
Richtungen ("Salzlinien") an, wobei die rheinische (nordnordästliche) und
die herzynische (nordwestliche) Richtung vorherrschen. Aber in vielen Teilen
des Verbreitungsraumes der Salzpfeiler ergibt sich wenigstens einstweilen
noch eine ziemlich regellose Anordnung dieser.
Ein Aufsteigen von Salzmassen kann auf pressende Kräfte zurückgehen,
etwa auf die gleichen, die sich in den Deck- und Nebenschichten des Salz-
gebirges zu erkennen geben und diese z. B. sattelfärmig aufgewälbt haben.
Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß manche Gebilde Nordwest-
deutschlands, die in bezug auf die Schichtenanordnung als "Sättel" zu be-
zeichnen sind, nicht mit einer Pressungstektonik zusammenhängen, sondern
als domfärmige Aufwälbungen auf den Auftrieb mobilerer Tiefenmassen
zurückgehen und in diesem Sinne also keine" Sättel", sondern" Beulen" sind.
In den Fällen echter Sättel ist das Salz oft genug mit seinem Hangenden,
dem Buntsandstein, im normalen stratigraphischen Verbande verblicben,
Einengungs- und Ausweitungsregionen belderseits des Ur kontments Laurentia. 79

doch kann es auch, begünstigt durch seine gesteigerte Beweglichkeit, den


Flankenschichten vorangeeilt sein.
Nach den allgemeineren Erfahrungen über das Auftreten von Einengungs-
formen des Untergrundes gerade in der herzynisch gerichteten saxonischen
Tektonik könnte man die Mitwirkung pressender Kräfte bei der Hoch-
bewegung der Salzmassen noch am ehesten entlang den herzynisch gerich-
teten Salzkörpern und Salzlinien voraussetzen. Aber die herzynisch gerichtete
saxonische Gebirgsbildung ist nur zu einem Teile eine Einengungs-, zu einem
anderen und oft wesentlichen Teile aber eine Zerrungstektonik. Es sei ver-
wiesen auf das gleich südlich des Flechtinger Höhenzuges liegende obere
Allertal, wo ein sich auf rund 25 km von südlich EilsIeben bis östlich Fallers-
Ieben in ausgesprochen herzynischer Richtung erstreckender und dabei
durchschnittlich etwa 11/ 2 km breiter unterirdischer Salzkörper an eine Zer-
rungszone des Bodens gebunden ist.
Im Gegensatz dazu, daß die herzynisch gerichtete Tektonik Saxoniens
eine "Mischtektonik" ist oder wenigstens sein kann, ist die rheinisch gerichtete
Tektonik, wie sie sich besonders in der Mittelmeer-Mjösen-Zone findet - dort
allerdings vielfach und so auch im Raume der nordwestdeutschen Salzpfeiler
in Kombination mit der herzynisch gerichteten - immer mehr als einc so-
zusagen reine Zerrungstehtonik erkannt worden.
Das Phänomen der Salzpfeiler findet sich in seiner typischen Art in Nord-
westdeutschland vom Nordrande der Mittelgebirge bis in die Jütische Halb-
insel und ist dabei ganz überwiegend an die Mittelmeer-Mjösen-Zone gebunden.
Die etwa einen bis einige Kilometer betragende Breite der Salzpfeiler gibt
eine Vorstellung von dem Klaffen der Zerrungsrisse, in die das Salz einge-
drungen ist. Besonders gehäuft sind die rheinisch gerichteten Salzkörper,
gebunden an rund 1/ 2Dutzend einander paralleler Salzlinien, in Schleswig-
Holstein, und diese Salzlinien verlängern sich noch südlich der EIbe in die
hannoverschen Gebiete hinein, damit Gesamtlängen von vielleicht 100 km
erreichend. Legen wir in Schlcswig-Holstein ein Profil von der Halbinsel
Eiderstedt im Westen bis Bad Bramstedt im Osten, so schneidet die etwa
100 km lange Profillinie etwa 1/ 2Dutzend Salzpfeiler, die zusammen eine
Breite von 25 km und damit ein Viertel des gesamten Profiles einnehmen.
In diesem Beispielsfalle dokumentiert sich also die seitliche Ausweitung einer
Untergrundszone von ursprünglich 75 km Breite um 25 km, d. h. um rund
ein Drittel. Handelt es sieh in Schleswig-Holstein gewiß um extreme Aus-
weitungsbeträge, so nimmt doch auch in vielen anderen Schnitten durch den
Untergrund der niedersächsischen Teile der Mittelmeer-Mjösen-Zone das Salz
erhebliche Breiten ein. Gerade in Schleswig-Holstein häufen sich übrigens
die Fälle, in denen das schon jungkimmerische Aufstiegalter der dort rheinisch
gerichteten Salzmassen unmittelbar erweisbar ist.
80 HANS STILLE:

Das Ausmaß der saxonischen Zerrung nimmt in der Mittelmeer-Mjösen-


Zone von Niedersachsen aus nach Süden offenbar stark ab, und das gleiche
tut der Anteil, der speziell der jungkimmerischen Orogenese am Gesamt-
ausmaß der Zerrung des Untergrundes zukommt.
Außerhalb des Verbreitungsgebietes der Salzpfeiler ist ja außer aus der
Breite etwaiger vulkanischer Gänge, von denen gleich die Rede sein wird,
im wesentlichen nur aus dem Einfallswinkel der Verwerfungen ein Bild vom
Ausmaß der eingetretenen Ausweitungen zu gewinnen, doch wie wenig zuver-
lässige Aufschlüsse gibt es in dieser Hinsicht. Aber doch darf einstweilen
wohl noch die ältere Auffassung, daß in jenen südlicheren Teilen der Mittel-
meer-Mjösen-Zone die Raumausweitung in der Größenanordnung von nur
einigen Kilometern erfolgt sei, als einigermaßen zutreffend gelten.
In Süd- und Mitteleuropa sind nun speziell wieder an die Mittelmeer-
Mjösen-Zone im weiteren Sinne (Hessen und Eifel, Oberrheingebiet, west-
lichstes Französisches Zentralplateau) vulkanische Massen gebunden, denen
die Zerspaltung des Untergrundes - und ganz besonders wieder eine solche
von rheinischer Richtung - den Weg aufwärts gewiesen hat. Sie reichen mit
ihren allerletzten Ausläufern noch in die südlichen Randgebiete des Nieder-
deutschen Beckens hinein, in dem sich nun eine andere Art der Erfüllung
klaffender Risse, nämlich diejenige durch die Salzmassen, dokumentiert. In
beiden Fällen, sowohl beim Vulkanismus wie in der Salztektonik, haben wir
es mit der "ejektiven" Erfüllung der Erdrisse, also einer Erfüllung von unten
her, zu tun, wobei allerdings die Salze, verglichen mit dem Magma, aus rela-
tiv seichten Tiefen stammen. Dieser ejektiven Spaltenerfüllung steht die
"dejektive" durch von oben gekommene Grabenschollen gegenüber.
So erscheinen uns die nordwestdeutschen Salzkörper und insbesondere
diejenigen der rheinischen Richtung ebenso wie weiter südlich die vulkanischen
Phänomene als ausgezeichnete Zerrungsindikatoren.
Ich erwähnte oben die Zone der ostafrikanischen Gräben als das gleich-
gerichtete südhemisphärische Gegenstück der nordhemisphärischen Mittel-
meer-Mjösen-Zone. Dort liegt allerdings wegen Fehlens mächtiger Salzablage-
rungen die ejektive Spaltenerfüllung nur 'in Form vulkanischer Phänomene
vor, und ich verweise nun auf einen höchst bemerkenswerten Einzelfall,
der gerade als Indikator des schon hohen Alters eines im wesentlichen
sich erst in jüngeren Vorgängen darbietenden Zerspaltungsphänomens bei
vergleichender Betrachtung der Dinge auch für die Mittelmeer-Mjösen-
Zone von Interesse ist. Ich meine den schon der algonkischen Zeit ange-
hörigen, ausgesprochen rheinisch gerichteten Great Dike des südlichen Rho-
desiens, eine 3-5 km breite und gegen 500 km lange Spaltenerfüllung durch
basische Magmen. Wenn diese also in der Länge die schleswig-holsteinischen
Salzstreifen auch mehrfach übertrifft, so sind die Weiten der Zerrung doch
einigermaßen übereinstimmend.
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 81

4. West- und Ostrand Laurentias.


a) Die kaledonische Tektonik.
In der Peripherie Laurentias sind kaledonische Faltungen (vgl. Fig. 2) in
Grönland, auf den Britischen Inseln und im östlichen (appalachischen i. w. S.)
Nordamerika festzustellen, d. h. überall von Nordgrönland bis hin zum
südöstlichen Nordamerika, soweit die östlichen laurentischen Randgebiete
der Beobachtung zugänglich sind. Das ist heute z. B. nicht der Fall an
der Südseite Kleinlaurentias im Bereiche des Atlantik; aber, daß sich

:.:->:-1141"" v"§I'fllf<l,. .
. • . 61~
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Fig.2. Das Verteilungsbild der kaledonischen Faltungen um Laurentia und Fennosarmatia.


[Reproduktion nach Z . dtsch. geo!. Ges. 100,259 (1948).]
Die Pfeile veranschaulichen die von den Urkontinenten in Richtung auf den nordeuropäischen
kaledonischen Geosynklinalraum ausgeübte Pressung. "Vor" den Kontinenten erfolgte die
kaIe don ische Faltung, während auf der "Rückseite" die Faltllng unterblieb.

auch dort wenigstens die älteren kaledonischen Faltungen entlang dem


einstigen Außenrande Laurentias vollzogen haben, ist mit guten Gründen
anzunehmen.
Im Gegensatz zu diesen östlichen und südöstlichen Randgebieten Lauren-
tias fehlt die kaledonische Faltung im Westen Laurentias im nordamerikani-
schen Kordillerensystem.
Zu den zirkumlaurentischen Faltungen spiegelbildliche Verhältnisse be-
stehen in den Konturen Fennosarmatias, indem hier die westlichen Rand-
gebiete des Urkontinents in der kaledonischen Ära gefaltet wurden, während
die östlichen, die Räume des späteren Uralsystems, von irgendwie stärkeren
Faltungen damals unberührt blieben.
Im Verteilungsbilde der kaledonischen Faltungen kommt also ein sehr
betriichtliches Gegeneinander der bei den nördlichen Urkontinente Laurentia
und Fennosarmatia zum Ausdruck. Mit ihm korrespondiert, daß die Gegen-
ränder, d. h. der Westrand Lauren.tias und der Ostrand F ennosarmatiens, von
Gottinger Akademie-Festschnft 6
82 HANS STILLE:

Faltungell freigeblieben sind. Diese Verhältnisse habe ich kürzlich schon an


anderer Stelle behandelt 1 und ich reproduziere in Fig. 2 ein damals ge-
gebenes Bild.
Im Bereich der ehemaligen kaledonischen Geosynklinale haben sich in
der variszischen Ära die alpinotypen Faltungen nicht wiederholen können,
da der nunmehr zu Paleuropa gewordene Raum keine nachkaledonische
Regeneration zu erneuten geosynklinalen Zuständen erfahren hatte. Vielmehr
haben sich die Faltungen nach der kaledonischen Ära :auf die G~enseiten
ihrer kaledonischen Betätigungsfelder, nämlich in Fennosarmatien auf die
Ostseite des Urkontinents, hier die Uraliden schaffend, und in Laurentia auf
die urkontinentale Westseite, hier die Prä-Nevadiden schaffend, verlagert.
Es ist also eine völlige Umkehr der Drangverhältnisse der Urkontinente
von der kaledonischen zur variszischen Ära eingetreten, und wir haben, wenn
wir uns die variszische oder wenigstens spätvariszische Dynamik veranschau-
lichen wollen, die Pfeilrichtungen in Fig. 2 umzukehren.

b) Die neoidische Tektonik.


Die in der variszischen Ära eingeleitete Umkehr in der nordamerikanisch-
nordeuropäischen Geodynamik bleibt, wenigstens was den Westdrang Lau-
rentias betrifft, in der Folgezeit, und zwar bis zur endgültigen Erstarrung
auch der westlichen Randregion Laurentias, bestehen. Doch herrscht auch
östlich Fennosarmatias weiterhin noch der Ost drang, nur äußert er sich in
der neoidischen Ära infolge der mit der variszischen Faltung unter Konsoli-
dierung der uralischen Geosynklinale eingetretenen Verschweißung von Fenno-
sarmatia und Angaria erst in weiter östlich liegenden Räumen des heutigen
asiatischen Kontinents.
Nicht nur das Entstehen gewaltiger Faltungen an der von den kaledoni-
schen Faltungen noch unberührt gebliebenen Westseite Laurentias, während
die mit der kaledonischen Faltung konsolidierte Ostseite faltungstektonisch
tot ist, sondern noch eine andere Sachlage scheint ganz im Bilde dessen zu
liegen, daß sich nunmehr die Drangfront Laurentias im Westen und die
Rückfront im Osten befindet. Sie ergibt sich aus dem Vergleich dessen, was
sich in der neoidischen Ära gleichzeitig einerseits im Westen und anderseits
im Osten Lau~entias abgespielt hat.
In den Mit\elpunkt der Betrachtung drängt sich die jungkimmerische
orogene Phase. Denn sie ist ja nicht nur die ganz große alpinotype Gebirgs-
bildung der westrandlichen Räume Laurentias, sondern auch die Hauptphase
der östlich Laurentias und speziell Kleinlaurentias erfolgten saxonischen Tek-
tonik. Die genaueren Zeitverhältnisse, wie sie sich in den Vorkapiteln ergeben
haben, stelle ich einander gegenüber:
1 STILLE, HANS: Z. dtsch. geol. Ges. 100 (1948).
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 83
N evadiden Nordamerikas Saxonische Gebiete Europas
Unterkreide (Shasta) Unterkreide
Diablo-Nachphase Hilsphase
Jüngeres Portland (Knoxville) \Vealden und jüngeres Portlallcl

1
Osterwaldphase
Intervall mit nevadischer T f P tI d
Faltung le eres or an
Deisterphase
Kimmeridge Kimmeridge

Die älteren jungkimmerischen Orogenesen liegen also sowohl in den Neva-


diden wie im Saxonikum Europas zwischen Kimmeridge und jüngerem Port-
land. In Europa sind in diesem relativ kurzen Zeitintervalle sogar 2 Phasen
erkennbar, und welcher dieser die nevadische Faltung Amerikas entspricht,
ist einstweilen nicht zu sagen, da dort ein tieferes Portland bisher nicht bekannt
ist. Möglich ist auch, daß beide saxonischen Phasen in der nevadischen Faltung
vertreten sind. Die zeitliche Gleichsetzung der Diablo-Nachphase Nord-
amerikas mit der saxonischen Hilsphase erscheint ohne weiteres gegeben.
Der jungkimmerischen Tektonik sind weitere Orogenesen sowohl in den
nordamerikanischen KordilIeren wie in Saxonien gefolgt. Verwiesen sei spe-
ziell auf die laramische Faltung als die Hauptfaltung der Rockyiden, die
auch in Saxonien mancherlei Spuren hinterlassen hat.
Man halte sich nun folgendes vor Augen:
Seit Ende des Paläozoikums hat die orogene Tektonik in Mitteleuropa,
wenn wir von gänzlich unbedeutenden altkimmerischen Ansätzen absehen,
geruht. Dann hat sich die Hauptphase der saxonischen Tektonik, die jung-
kimmerische, ereignet, der nun wieder Zeiten folgen, in denen sich nichts
auch nur annähernd gleichartiges zugetragen hat. Und ausgerechnet gleich-
zeitig mit jenem Höhepunkt der saxonischen Tektonik vollzieht sich, auch
hier nach ganz langer Zeit der orogenen Ruhe und auch hier als ein Phänomen,
dem nichts Nachfolgendes sich an die Seite stellt, die Faltung der Nevadiden.
Ich glaube, daß eine so frappante zeitliche Übereinstimmung zwischen den
einerseits im Osten und anderseits im Westen Laurentias sich abspielenden
orogenen Ereignissen den Schluß auf genetische Zusammenhänge nahelegt,
wie wir auch in bezug auf die kaledonische Ära - und in diesem Falle aus
dem Gesamtbilde nicht nur deI zirkumlaurentischen, sondern auch der zirkum-
fennosarmatischen orogenen Vorgänge- zu genetischen Beziehungen zwischen
den geotektonischen Verhältnissen des Ostens und des Westens Laurentias
~ekommen sind.

5. Schluß.wort.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. leh bin weit davon entfernt,
sagen zu wollen, daß die rheinischen Spalten, die den Südostrand Laurentias
in einigem Abstand begleiten und dabei speziell an die Mittelmeer-Mjösen-
6*
84 HANS STILLE:

Zone gebunden sind, mit der nevadischen Faltung des Westrandes Laurentias
entstehungsmäßig etwas zu tun hätten. Denn erstens sind sie (s. Fig. 1) Teile
eines ganz Europa durchziehenden und damit auch außerhalb der etwa anzu-
nehmenden Wirkungssphären Laurentias liegenden Systems; und zweitens
ist dieses ganze System seiner Anlage nach viel, viel älter als die nevadische
Faltung. Vielmehr meine ich nichts anderes, als daß das gerade in der jung-
kimmerischen Phase eingetretene relativ weite Klaffen der saxonischen Nord-
Süd-Risse durch den in der nevadischen Faltung zum Ausdruck kommenden
Westdrang Laurentias begünstigt gewesen sein dürfte.
Ich wiederhole, daß mit den Pressungen, die sich auf der Westseite Lau-
rentias im Bereiche der Nevadiden vollzogen haben, die bedeutendste Auf-
lockerungsphase der Ostseite des großen Urkontinents zeitlich zusammen-
fällt. Dabei sind die besonders starken Auflockerungen (vgl. die Punktierung
in Fig. 1) speziell an denjenigen Teil der Mittelmeer-Mjösen-Zone geknüpft,
der dem Ostrande Laurentias nicht nur am stärksten genähert, sondern auch
im Gegensatz zu weiter nördlich und weiter südlich liegenden Teilen der
Zone gegen Auswirkungen von Laurentia her nicht durch zwischenliegende
subozeanische Tiefkratone abgeschirmt, vielmehr mit Laurentia hochkrato·
nisch über den Untergrund der Nordsee und der Britischen Inseln verbunden
ist und zu dem der Nord- und der Südrand Kleinlaurentias konvergieren.
Weiter ist zu unterstreichen, daß es sich bei den zeitlich zusammen-
fallenden geodynamischen Vorgängen einerseits des Westens und anderseits
des Ostens Laurentias, die zueinander in Beziehung gebracht werden, um
etwas quantitativ einmaliges handelt. Denn erstens ist die jungkimmerische
nevadische Faltung des Westrandes Laurentias in ihrer Großartigkeit ein
dort einmaliges Ereignis, demgegenüber alles zurücktritt, was später dort
noch an Faltungen gefolgt ist, gar nicht zu reden von dem, was an alt-
kimmerischen Faltungsansätzen vorangegangen war. Und ebenso sind die
jungkimmerischen Auflockerungsvorgänge im Osten Laurentias, verglichen
mit denen, die noch gefolgt sind oder schon vorangegangen waren, etwas
geradezu einmaliges.
Diese beiden geodynamisch einander gegensätzlichen geotektonischen Ein-
maligkeiten auf Grund ihrer zeitlichen Korrespondenz auch genetisch mitein-
ander in eine gewisse Verbindung zu bringen, erscheint zulässig speziell im
Hinblick auf einen schon vorangegangenen und besonders einleuchtenden
Fall der Beziehungen zwischen der geotektonischen Entwicklung einerseits
der östlichen und anderseits der westlichen Randregionen Laurentias. Er
betrifft die starke kaledonische Faltung an der Ostseite und ihr Unterbleiben
an der Westseite des Urkontinentes.
Von diesem älteren (kaledonischen) zu dem jüngeren (jungkimmerischen)
Falle haben sich, wie schon aus der wechselnden Lage der nebenlaurentischen
Faltungen ersichtlich ist, die geodynamischen Fronten vertauscht, und zwar
Einengungs- und Ausweitungsregionen beiderseits des Urkontinents Laurentia. 85

ist dieses im wesentlichen schon im Gefolge der kaledonischen Konsolidierung


des einstigen nordeuropäischen GeosynklinaJraumes zu PaJeuropa, d. h. also
im Gefolge der endgültigen Zusammenschweißung Laurentias und Fenno-
sarmatias, eingetreten. Es ereigneten sich dann in der jungkimmerisch-
nevadischen Phase auf der nunmehrigen geodynamischen Rückseite Lau-
rentias - gleichzeitig mit den Faltungen an Laurentias nunmehriger
geodynamischer Frontseite - die Auflockerungen des Bodengefüges, an
denen in besonders starker Weise die für solcherlei Vorgänge prädestinierten
rheinisch gerichteten Risse der Mittelmeer-Mjösen-Zone beteiligt waren.
Quantitativ bedeuten allerdings die Raumausweitungen im Osten Laurentias
eine nur schwache Kompensation der Einengungen, die sich gleichzeitig im
Westen Laurentias vollzogen haben.

Eingegangen am 4. September 1951.


Anwendungen der Hydrodynamik
auf Probleme der Kosmogonie.
Von
CARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER, Göttingen.
Mit 8 Figuren im Text.

I. Der Ursprung der heutigen kosmogonischen Fragestellung.


Kosmologie nennt der heutige naturwissenschaftliche Sprachgebrauch eine
theoretische Disziplin, welche den physischen Kosmos unter dem Gesichts-
punkt betra..chtet, daß er ein Ganzes ist. Es liegt nahe, als Kosmogonie
dann einen Zweig der Kosmologie zu bezeichnen, der sich mit der zeitlichen
Gestalt des Kosmos, mit seiner Herkunft und Entwicklung befaßt. Schon
aus ihrer Fragestellung ergibt sich eine methodische Schwierigkeit der Kos-
mologie, die sie zwar mit jeder Grundlagenwissenschaft teilt, die in ihr aber
besonders deutlich hervortritt. Wir kennen einige Teile des Kosmos, aber
den Kosmos als ein Ganzes, das eigentliche Forschungsgebiet der Kosmologie,
kennen wir nicht. Der Weg zur Kenntnis des Ganzen führt über die Teile:
das volle Verständnis der Teile würde aber erst durch ein Verständnis des
Ganzen eröffnet, dem sie angehören. Wir suchen uns dem Ganzen zu nähern,
indem wir Begriffe und Sätze benutzen, die wir aus den Teilen erschlossen
haben; wir müssen aber darauf gefaßt sein, daß die fortschreitende Kenntnis
des Ganzen eben diese Begriffe und Sätze als unzureichend erweist. Die
Schwierigkeit einer solchen Forschungsweise scheint oft nur die Wahl zwi-
schen phantastischen Entwürfen und voreiliger Resignation zu lassen; und
jedenfalls bedarf es einer ständigen Reflexion auf die Methode des Fort-
schreitens, um diese Fehler zu vermeiden.
Der vorliegende Bericht beschränkt sich auf Arbeiten, die ohne die An-
nahme "neuer" Naturgesetze auskommen. Er soll im wesentlichen schildern,
welche Ergebnisse durch die Einführung eines einzelnen, früher nicht genug
berücksichtigten Gesichtspunkts in die Kosmogonie erzielt werden können,
nämlich der hydrodynamischen Beschreibung der Bewegungen des kosmischen
Gases. Die Hydrodynamik gehört der klassischen Physik an. Ohne Zweifel
ist eine so eingeschränkte Fragestellung für die Grundprobleme der Kos-
mologie unzureichend. Man könnte es umgekehrt als ein Ziel der hier dar-
gestellten Arbeiten bezeichnen, nachzuweisen, daß man viele Probleme wie
das der Bildung von Sternsystemen, von Sonnen und Planeten schon mit
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 87

der heute verfügbaren Physik lösen kann, ohne auf die eigentlich kosmologi-
schen Fragen einzugehen. In ähnlicher Loslösung von unbeantworteten
Fragen von höherem Allgemeinheitsgrade sind ja wohl die meisten speziellen
Disziplinen der neuzeitlichen Wissenschaft entstanden. Im besonderen, hier
vorliegenden Fall scheint bei diesem Prozeß nicht einmal die Aufstellung
eines dem betrachteten Sachbereich eigentümlichen Gesetzesschemas nötig
zu sein; vielmehr scheint die Zurückführung auf die klassische Physik zu
gelingen. Da wir aber die allgemeine kosmologische Frage damit nicht aus-
schalten, sondern gleichsam nur die Operationsbasis ihr gegenüber vorschieben
wollen, ist es vielleicht erlaubt, unseren Bericht mit einer Betrachtung der
Entfaltung dieser Frage seit dem Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft
einzuleiten.
In den mythischen Kosmologien aller Völker kann man Vorstufen einiger
heutiger Auffassungen finden. Aber sie sind von der modernen Kosmologie
dadurch getrennt, daß in ihnen, wie überall im Mythos, die Scheidungen
von "Außen" und "Innen", von "Gegenstand" und "Bedeutung", von
"Objekt" und Subjekt", nicht oder doch nicht scharf vollzogen sind. Solange
die Gestirne göttlich sind und der Kosmos zu uns redet wie ein menschliches
Gesicht oder wie eine Schrift in vielleicht unverständlichen Zeichen. fehlt
die methodische Geschlossenheit, die der neuzeitlichen Naturwissenschaft die
Ausdauer im Stellen einer eingeschränkteren Art von Fragen verleiht. Die
naturwissenschaftliche Kosmologie beginnt mit einem Verzicht. Der "Kos-
mos" der neuzeitlichen Kosmologie ist eben nicht das Ganze der Wirklichkeit.
Er ist nicht Gott und er ist nicht Seele; oder zum mindesten betrachtet die
'Wissenschaft ihn so als wäre er bei des nicht. Gerade die räumlichen und
zeitlichen Grenzen unserer Kenntnis sind aber die Stellen, an denen diese
Scheidung am schwersten vollzogen wird. An ihnen erscheint es am zweifel-
haftesten, ob dieser Kosmos aus sich selbst heraus verstanden werden kann,
und die Meinungen über sie sind oft inmitten eines naturwissenschaftlichen
Denksystems noch bewußt theologisch oder philosophisch oder unbewußt
mythisch.
KOPERNIKUS lehrte ein neues 'Weltsystem, aber die kosmogonische Frage
entstand für ihn noch nicht. Die Frage, woher die Welt sei, ist durch den
Hinweis auf Gott beantwortet. Dabei ist der zwischen Gott und Welt ver-
mittelnde Begriff nicht so sehr der einer zeitlichen Schöpfung, wie der einer
wesensmäßigen Entsprechung zwischen der göttlichen Vollkommenheit und
der Harmonie des Weltbaus ; die menschliche Kategorie, in welche das
Geheimnis der göttlichen Schöpfung gefaßt wird, ist eher ästhetisch als kausal.
Vielleicht das erste konsequent "naturwissenschaftlich" gedachte Welt-
bild, das auch eine Kosmogonie enthält, stammt von DESCARTES. Sein Ur-
sprung ist charakteristischerweise nicht empirisch sondern spekulativ. DES-
CARTES entkleidet die Materie durch einen Akt prinzipiellen Denkens aller
88 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

Attribute außer der Ausdehnung. Damit läßt die Frage, warum die materielle
Welt die Gestalt habe, die wir an ihr sehen, nur noch eine kausal-genetische
Antwort zu. Die heutige Gestalt der Welt ist die mechanisch notwendige
Folge der Materiebewegungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben;
diese Antwort bleibt übrig, weil die Kategorien, in denen anders hätte gefragt
werden können, aus der Wissenschaft entfernt worden sind. Sogar die spezielle
Modellvorstellung der Wirbel, mit der DESCARTES das kosmische Geschehen
zu erklären sucht, folgt notwendig aus seiner Definition der Materie. Wenn
Materie und Ausgedehntheit gleichgesetzt sind, gibt es keinen leeren Raum,
und die einzige mögliche Bewegungsform ist diejenige, in welcher das von
einer Materiemenge verlassene Raumstück alsbald von einer anderen Materie-
menge eingenommen wird. Das heißt DESCARTES hat sich durch seinen Ansatz
gezwungen, die Mechanik der Materie, modern gesprochen, als Hydrodynamik
einer inkompressiblen Flüssigkeit zu beschreiben. Der Erfolg NEWTONS ließ
die kartesischen Wirbel in Verruf kommen, aber die Ergebnisse, von denen
in diesem Bericht die Rede sein soll, lassen erkennen, daß DESCARTES einen
bestimmten Zug des kosmischen Geschehens deutlicher gesehen hat als
NEWTON, und daß er nur gleichsam den zweiten Schritt vor dem ersten zu
tun versuchte.
Es handelt sich um die Erklärung der Planetenbewegung. Alle Planeten
laufen in derselben Richtung um die Sonne in nahezu kreisförmigen Bahnen,
die nahezu in derselben Ebene liegen. DESCARTES erklärte diese Bewegung
durch die Annahme, das ganze Planetensystem sei ein ungeheurer Wirbel
feiner Materie, in dem die Planeten schwimmen wie Korkstücke im Wasser.
Gegen diese Theorie ist zunächst einzuwenden, daß sie nicht quantitativ ist.
Sie erklärt KEPLERS Gesetze nicht. NEWTONS Theorie blieb siegreich, weil
sie dies vermochte. Aber schon NEWTON sah, daß er zwar das mathematische
Detail der KEPLERschen Gesetze, nicht aber die aus DESCARTES' Wirbeln
mühelos folgende allgemeine Gestalt des Sonnensystems erklären konnte.
Nach KEPLER sind die Planetenbahnen nicht genaue Kreise, sondern Ellipsen.
Letzteres erklärte NEWTON, aber er erklärt nicht, warum sie Ellipsen von
sehr kleiner Exzentrizität, also doch beinahe Kreise sind. Die Ellipse ist eine
ebene Kurve; aber warum alle Planetenbahnen nahezu in derselben Ebene
liegen, bleibt bei NEWTON unverstanden. KEPLERS drittes Gesetz verknüpft
schließlich den Abstand der Planeten von der Sonne mit ihrer Umlaufszeit.
Auch dies erklärt NEWTON; hingegen bleibt unklar, warum die Abstände
der Planeten selbst eine einigermaßen regelmäßige Folge bilden.
NEWTONS allgemeine Mechanik aber gab in der Unterscheidung zwischen
Naturgesetz und Anfangsbedingung einen Hinweis auf eine mögliche Lösung
dieses Problems. Die Grundgesetze der Mechanik (und überhaupt der bis-
herigen Physik) sind Differentialgleichungen nach der Zeit. Der zeitliche
Ablauf eines Geschehens ist nicht durch ein übergreifendes Gestaltgesetz
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 89

eindeutig festgelegt, sondern der Zustand eines materiellen Gebildes in einem


Augenblick determiniert seine eigene Veränderung im nachfolgenden Zeit-
intervall. Verschiedene Ausgangszustände führen zu verschiedenen weiteren
Verläufen. Am einfachsten sehen wir dies am Trägheitsgesetz. Die Geschwin-
digkeit eines Körpers, auf den keine äußeren Kräfte wirken, bleibt nach
Betrag und Richtung erhalten. Die Angabe, daß auf einen Körper keine
äußeren Kräfte wirken, bestimmt also seinen Bewegungszustand noch nicht
eindeutig; wir müssen außerdem seine Geschwindigkeit in irgendeinem Zeit-
punkt kennen. Das mathematische Naturgesetz bestimmt für uns das WeIt-
geschehen erst eindeutig, wenn das historische Faktum des "Anfangszu-
standes" außerdem bekannt ist.
NEWTON blieb nichts anderes übrig, als die unerklärte Gesamtgestalt des
Planetensystems explizite als Anfangszustand einzuführen. Hierin folgen
auch wir ihm, wenigstens in erster Annäherung. Der heutige Astronom glaubt,
daß das Planetensystem heute seine soeben geschilderte Gestalt hat, "weil"
es sie vor 2 Milliarden Jahren schon hatte; sind die Planeten einmal auf ihre
Bahnen "gesetzt", so laufen sie auf ihnen. Aber nun entstehen zwei weitere
genetische Fragen: Wie kam es zu diesem Anfangszustand ? und: Bleibt da~
System stabil?
Wir erledigen zunächst die zweite Frage, die im folgenden nicht mehr
auftreten wird. Jeder Planet allein würde nach der Mechanik ohne Ende
auf derselben Bahn um die Sonne laufen. Aber die Planeten ziehen sich auch
gegenseitig an und lenken sich dadurch aus ihren Bahnen ab. Nach NEWTONS
Ansicht paßte das nicht schlecht zu der Tatsache, daß die Gesamtgestalt
des Systems nicht durch strenge Gesetze, sondern nur durch bloß ungefähr
gültige Regeln beschrieben werden kann. Aber wird das System nicht mit
der Zeit in hoffnungslose Verwirrung kommen? NEWTON sah keinen anderen
Weg, als daß der göttliche Uhrmacher, der das System anfangs geschaffen
hat, es von Zeit zu Zeit wieder "aufzieht", es wieder in die reine Urgestalt
zurückführt. Wieviel tiefsinlllge Spekulation ließ sich an solche Gedanken
anknüpfen! Aber dies war für die neuzeitliche Naturwissenschaft ein Abweg.
LAPLACE bewies, daß die gegenseitigen Störungen sich im Mittel über lange
Zeiten aufheben, daß das System also auch ohne göttlichen Eingriff stabil ist.
Die Verfeinerung und teilweise Korrektur, die sich LAPLACES Gedankengang
im 19. Jahrhundert gefallen lassen mußte (POINCARE, BRUNS), blieb eine
mathematische Finesse. Für die empirische Astronomie (d. h. heute: für ein
paar Milliarden Jahre) ist das System stabil.
Tiefer führt die Frage nach der Entstehung des Systems. NEWTON konnte
sich eine mechanische Entwicklung des Systems nicht ausmalen, und mit der
Entschlossenheit im Verzicht auf vage Hypothesen, die ihn auszeichnete,
führte er den Anfangszustand auf Gottes "unmittelbares" SchöpferhandeIn zu-
rück. Im Gewebe der kosmischen Geschichte lassen sich, gemäß der Struktur
90 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

der Naturgesetzlichkeit, nun zweierlei Fäden unterscheiden: die menschlich


begreifliche (der Hoffnung, wenngleich nicht der Erfüllung nach sogar apriori
einsichtige) mechanische Notwendigkeit, ausgedrückt in der Differential-
gleichung, und der unbegreifliche Wille Gottes, der über das Kontingente
im Weltgeschehen verfügt, ausgedrückt in der Anfangsbedingung. Mit ver-
änderter Theologie stellt sich dasselbe Problem noch der heutigen kosmologi-
schen Spekulation.
NEwToN ließ sogar zu, daß die Unfähigkeit seiner Mechanik, den Anfangs-
zustand zu erklären, als Gottesbeweis benutzt wurde. Dieser seitdem an
wechselnden Stellen oft wiederholte" Gottesbeweis aus den Lücken der Natur-
wissenschaft" zeigt, wie weit die Spaltung von Innen und Außen schon ge-
gangen ist. Wird der Kosmos, wie noch von KEPLER, als eine Gebärde Gottes
erfahren, so ist die Lücke der Naturwissenschaft eine Stelle, wo Gott sich
der menschlichen Erkenntnis versagt; nun aber wird sie zum Fenster, das
noch den Ausblick auf Gott gestattet. Aber auf was für einen Gott! Indem
das Funktionieren des Kosmos wie das Funktionieren einer mechanischen
Apparatur begriffen wird, kann die Beziehung des Kosmos zu Gott nur noch
kausal, wie die des Werks zum Werkmeister gedacht werden. Die Trennung
von Subjekt und Objekt ergreift auch das Verhältnis Gottes zur Welt.
LEIBNIZ' Lehre von der besten der möglichen Welten ist ein Versuch,
den Gegensatz von Kontingenz und Notwendigkeit in einer den mathe-
matischen Extremalprinzipien nachgebildeten Struktur aufzuheben. Gott
hat sowohl die Naturgesetze wie den Anfangszustand "optimal" geschaffen.
Diese Lehre bleibt ein überall anregendes, aber nie inhaltlich voll erfüllbares
Programm. Sie hilft jedoch den geistigen Raum schaffen für die Frage-
stellung des jungen KANT, der einen Gott, welcher Naturgesetze und außerdem
ein Planetensystem jeweils unmittelbar erschaffen mußte, minder verehrungs-
würdig findet, als einen Gott, der Naturgesetze so schuf, daß nach ihnen das
Planetensystem mit Notwendigkeit entstehen mußte.
KANT verlegt die kartesischen Wirbel dahin, wohin sie gehören, in die
Vorgeschichte des Systems. Das Sonnensystem war einmal eine große, zu-
sammenhängende Masse eines Aggregatzustandes, den wir heute als gasförmig
bezeichnen würden. Diese Masse rotierte einheitlich um eine durch ihre zen-
trale Verdichtung gehende Achse. Die Planeten bildeten sich als Verdichtungen
in ihren äußeren Teilen und zeigen daher heute noch diejenige Umlaufs-
bewegung, welche damals die ganze Masse hatte.
Von dieser Hypothese an ist die Theorie der Entstehung des Planeten-
systems nicht mehr ein Teil der Rahmenwissenschaft, die wir Kosmologie
im strengen Sinn nennen. KANT übernimmt die Naturgesetze aus der eta-
blierten NEwToNschen Mechanik (genau so wie er es 30 Jahre später in seiner
kritischen Philosophie tut), und die postulierten Anfangsbedingungen macht
er plausibel durch die Bemerkung, daß das Sonnensystem nur ein Teil des
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 91

größeren Systems der Milchstraße ist, und daß es vermutlich viele Sonnen-
systeme und viele Milchstraßen im Kosmos gibt. Er vergleicht die abge-
plattete Rotationsfigur des Sonnensystems mit der analogen Figur der Milch-
straße und der damals neuentdeckten Nebel, die er richtig als ferne Milch-
straßen deutet. Er subsumiert damit die Geschichte des Sonnensystems
unter ein allgemeines Entwicklungsgesetz und macht sie so der Analyse nach
normalen physikalischen und astronomischen Methoden zugänglich. Eben
damit aber ist sie methodisch gesehen nicht mehr ein einmaliges Ge-
schehen, von dem nur im Singular und mit dem hcstimmten Artikel geredet
werden könnte.
Wir wollen hier die Weiterentwicklung der Theorien um die Planeten-
entwicklung nicht verfolgen. Das Problem hat sich als eines der komplizier-
testen in der Astronomie erwiesen, und seit der Entfaltung der Astrophysik
in unserem Jahrhundert wissen wir zum mindesten, daß ohne diese unsere
neuen Kenntnisse seine wirkliche Lösung hoffnungslos sein mußte. Im letzten
Kapitel der vorliegenden Arbeit werden einige Ansätze zur Lösung des
Problems besprochen, die heute gegeben werden können. Von diesen Ansätzen
aus erscheint unter allen früheren Theorien diejenige KANTS (die von der
späteren LAPLAcEschen zu unterscheiden ist) als die bei weitem beste. Dies
ist wohl kein Zufall, denn als erster Bearbeiter der Frage, und ausgestattet
mit dem philosophischen Blick für das Einfache und Allgemeine, vermochte
KANT diejenigen Schlüsse richtig zu ziehen, die sich aus den grundlegenden
Gestalteigenschaften des Systems heraus aufdrängen; während alle späteren
Autoren den vergeblichen Versuch machten, die für ihren Kenntnisstand
unübenvindbaren inneren Schwierigkeiten seiner Theorie durch ad hoc erfun-
dene kompliziertere Hypothesen zu lösen.
Hingegen müssen wir noch einen Blick auf den heutigen Stand des kos-
mologischen Problems werfen. Der Raum, den wir heute übersehen können,
ist ungefähr gleichförmig mit Sternsystemen erfüllt, die wir nach ihrem
Anblick extragalaktische Nebel nennen. Etwa 10 8 bis 10 9 solcher Objekte
sind unseren Fernrohren erreichbar. Aus der Rotverschiebung ihrer Spektral-
linien erschließen wir, daß sich dieses System von Sternsystemen ausdehnt.
Nehmen wir an, die Ausdehnung erfolge ungefähr mit zeitlich konstanter
Geschwindigkei t, so folgt, daß sie vor etwa 2 . 10 9 Jahren begonnen haben
muß. Ein Alter von ähnlicher Größenordnung ergibt sich aus einer Reihe
methodisch völlig verschiedener Abschätzungen für viele verschiedene Objekte
im Kosmos.
Die Erfahrung deutet also darauf hin, daß der Kosmos in der Gestalt,
in der wir ihn heute kennen, ein endliches Alter von einigen 10 9 Jahren hat.
Einen ebenso direkten Hinweis auf räumliche Grenzen gibt sie nicht. Immer-
hin ergibt sich etwa derselbe "Radius der Welt" von rund 3 . 1027 cm, wenn
man entweder vorschreibt, die HUBBLEsche lineare Beziehung zwischen
92 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

Entfernung und Radialgeschwindigkeit eines extragalaktischen Nebels solle bei


Erreichung der Lichtgeschwindigkeit abbrechen, oder wenn man im EINSTEIN -
schen Modell eines geschlossenen Raumes die Raumkrümmung aus der mitt-
leren Materiedichte im Kosmos berechnet. Das heißt die Erfahrung legt der
Annahme, der Kosmos sei räumlich und zeitlich von einer endlichen Er-
streckung, die nicht allzuweit über den unserer Erfahrung zugänglichen
Bereich hinausreicht, jedenfalls keinen Widerspruch in den Weg, ja sie scheint
eher ein wenig zu ihren Gunsten zu sprechen. Dies macht den Versuch einer
modernen Kosmologie im strikten Sinne verführerisch. Die zahlreichen
Modelle einer solchen Kosmologie, die in den letzten Jahrzehnten entworfen
worden sind, pflegen den Unterschied von Naturgesetz und Anfangsbedingung
dadurch zu vermindern oder aufzuheben, daß sie auch die Anfangsbedin-
gungen durch eine Forderung von besonders hoher mathematischer Einfach-
heit charakterisieren.
So interessant diese Versuche sind, so wenig eindeutig sind ihre Ergebnisse
hisher. Das methodische Prinzip der nachfolgenden Überlegungen kann daher
geradezu so bezeichnet werden: Es sollen diejenigen Fragen der kosmischen
Geschichte ausgewählt werden, die ohne eine Entscheidung über ein kos-
mologisches Modell untersucht werden können. Hiervon ist nur eine Aus-
nahme zu machen: die Annahme eines Alters des heutigen Kosmos von
einigen 109 Jahren und einer reellen Expansionsbewegung des Systems der
extragalaktischen Nebel dürfte notwendig sein, um einen definierten Rahmen
von Anfangs- und Randbedingungen abzugeben.
Diese Selbstbeschränkung soll keine prinzipielle Resignation gegenüber
der kosmologischen Frage, aber eine methodische Entscheidung ausdrücken.
Es scheint dem Verfasser, daß wir auf naturwissenschaftlich festem Boden
stehen, solange wir die kosmologische Frage ausklammern. Nach dem Kosmos
als Ganzem fragen heißt konsequenterweise auch nach den Grenzen der
Naturwissenschaft fragen, denn die Naturwissenschaft erfaßt, wie wir wissen,
nicht das Ganze der Wirklichkeit. Die Entwicklung der Physik in unserem
Jahrhundert macht es unwahrscheinlich, daß man eine raum-zeitliche Voll-
ständigkeit der Beschreibung des Kosmos erreichen kann ohne auf die
Kritik der Subjekt-Objektspaltung einzugehen. Freilich erweist sich damit
der naturwissenschaftliche Bereich schon im Ansatz als unabgeschlossen:
wenigstens in der Gestalt der Expansionshypothese müssen wir Kosmologie
voraussetzen, wenn wir unser engeres Problem definit machen wollen.

2. Hydrodynamische Grundlagen.
Empirisch erweist sich der kosmische Raum als erfüllt mit Materie in
dreierlei "Aggregatzuständen": Sterne, Staub und Gas. Wir beschränken
uns zunächst auf den Raum im rnnern unseres Milchstraßensystems. Hier
kann man etwa folgendes Bild geben [1].
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 93

Die Sterne sind heiße Gaskugeln, vergleichbar unserer Sonne. Ihre


Energiequelle dürfte im allgemeinen in Atomkernreaktionen im tiefen Innern
des Sternkörpers bestehen. Die Masse eines leuchtenden Sterns liegt etwa
zwischen 5 . 1032 und 1035 g; die kleineren Sterne sind häufiger als die großen.
Der mittlere Abstand zweier Sterne in der Nachbarschaft der Sonne ist
mehrere Lichtjahre (1 Lichtjahr = 1018 cm). Würde die Materie der Sterne
gleichmäßig über den Raum verteilt, so ergäbe sich rtlso eine Dichte von etwa
10- 23 gJcm 3 • Nichtselbstleuchtende Sterne sind uns in Gestalt der Planeten
und Monde unserer Sonne bekannt, sind also sehr viel kleiner als die Sonne.
In der Tat ist es sehr unwahrscheinlich, daß ein Stern von Sonnenrnasse kühl
sein kann; die Schwerkraft zerdrückt die Hüllen seiner Atome, wenn die
Temperatur sie nicht schon ionisiert hat und wenn keine andere Energiequelle
wirkt, muß wenigstens die Zusammenziehung unter dem Einfluß der Schwer-
kraft dem Stern einen gewissen Energiebetrag in Gestalt von Wärme zuführen.
Erst am Ende einer solchen Entwicklungsreihe würden vielleicht wieder
Sterne stehen, die sich nicht weiter zusammenziehen können und deshalb
nicht mehr leuchten. Die Anzahl solcher schweren dunklen Sterne, wenn sie
überhaupt existieren, kann nicht groß genug sein, um die angegebene durch-
schnittliche Materiedichte durch eine erheblich größere zu ersetzen, da die
beobachtete Rotationsbewegung der Milchstraße zu der Gravitationswirkung
der angegebenen Dichte paßt. Umgekehrt kann es keine dauernd selbst-
leuchtenden Sterne von Planetengröße geben, da sie die zur Fortführung von
Kernreaktionen erforderliche Temperatur durch Ausstrahlung verlieren wür-
den; sie sind gleichsam zu kleine Öfen mit zu dünnen Wänden.
Der Staub macht sich durch Absorption und Reflexion des Sternlichts be-
merkbar. Er besteht aus festen Teilchen von einem durchschnittlichen Durch-
messer von 10- 5 cm. Die Meteoriten gehören wohl nicht zur Kategorie des kos-
mischen Staubs, sondern scheinen ein dem Planetensystem eigentümliches
Phänomen zu sein. Die mittlere Dichte des Staubs kann auf 1O- 25 bis 1O- 26gJcm 3
geschätzt werden. Seine räumliche Verteilung ist sehr ungleichmäßig.
Das Gas nehmen wir durch seine Linienabsorption und -emission wahr.
Seine chemische Zusammensetzung erweist sich als im wesentlichen gleich-
artig derjenigen der Sterne. Wasserstoff ist das bei weitem häufigste Element.
Die schweren Elemente von Sauerstoff an aufwärts, welche den Körper
unserer Erde und sicherlich auch den kosmischen Staub aufbauen, dürften
weniger als 1 % der Gesamtmasse des Gases ausmachen. Das Gas befindet
sich im wesentlichen irr atomaren Zustand. In gewissen Regionen sind die
Atome durch das Sternlicht ionisiert. Die Dichte des Gases schwankt eben-
falls sehr stark von Ort zu Ort, kann aber im Mittel zu 10- 23 bis 10- 24 gJcm 3
angenommen werden.
Es fragt sich nun, welche mechanischen Gesetze die Bewegungen der
Materie in diesen drei Aggregatzuständen beherrschen [2]. Die Näherung,
94 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

die wir im folgenden benutzen wollen, ist in den Gleichungen der Hydro-
dynamik formuliert. Die Hydrodynamik setzt voraus, daß man den Zustand
eines durch den Raum ausgebreiteten Mediums beschreiben kann, indem man
an jedem Ort eine Materiedichte e und einen Geschwindigkeitsvektor tJ angibt
und die Veränderungen dieser Größen durch Differentialgleichungen bestimmt.
Bedingung für die Zulässigkeit dieser Näherung ist es, daß die mittlere freie
Weglänge Ader eimelnen Teilchen des Mediums klein ist gegen eine Länge l,
welche die Entfernung mißt, auf der die beiden Größen e, tJ sich merklich
ändern:
(1)
Diese Bedingung ist nicht erfüllt für das System der Sterne. Betrachtet
man formal die Sterne als "Moleküle" eines "Gases", so kann man eine freie
'vVeglänge definieren, indem man fragt, wie weit ein Stern läuft bis er einem
anderen Stern so nahe begegnet, daß er durch dessen Gravitationseinwirkung
um einen beträchtlichen Winkel aus seiner Bahn abgelenkt wird. Im Milch-
straßensystem ist diese Strecke erheblich größer als der Durchmesser des
Systems. Die Sterne durchlaufen also ihre individuelle Bahn mehrmals, ohne
durch nahe Begegnungen aus ihr abgelenkt zu werden. Ein System dieser
Art kann nur durch allgemeinere statistische Methoden (Stellardynamik)
beschrieben werden.
Die freie Weglänge von Staubteilchen für Stöße aufeinander ist ebenfalls
ziemlich groß. Für die Bewegung des Staubes kommt es aber mehr auf
seinen Impulsaustausch mit dem massereicheren Gas an, in das er eingebettet
ist. Abschätzungen [2g] zeigen, daß der Staub vielfach vom Gas mitgeführt
werden kann, aber doch auch zu einer eigenen Bewegung gegenüber dem
Gas fähig ist. Die Probleme des Staubes sind ziemlich kompliziert und sollen
im folgenden nicht ausführlich behandelt werden.
Kosmogonisch am wichtigsten ist die Frage der Anwendbarkeit der Hydro-
dynamik auf das Gas. Wir nehmen an, daß die Sterne und der Staub aus
dem Gas entstanden sind und daß daher die heutige Bewegung der Sterne
nicht "Verstanden werden kann, wenn man nur die Wechselwirkungen fertiger
Sterne miteinander berücksichtigt. Man wird vielmehr in den heutigen
Bewegungen der Sterne in weitem Umfang einfach den Überrest derjenigen
Bewegungen sehen müssen, die das Gas zur Zeit der Bildung der Sterne hatte.
Diese Überlegung ist eine VeraIIgemeincrung des im er~ten Teil besprochenen
Grundgedankens der Theorie von KANT.
Es zeigt sich nun, daß die Bewegung des Gases mit hinreichender Nähe-
rung durch die Hydrodynamik beschrieben werden kann. Ist n die Anzahl
von Gasatomen je Volumeneinheit und (J ihr Wirkungsquerschnitt für Zu-
sammenstöße, so ist die freie Weglänge durch die Formel
A= 1 (2)
na
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 95

gegeben. Für neutrale Atome ist 0" von der Größenordnung 10-15 bis 10-16 cm 2 .
Für ionisierte Atome muß man einen wesentlich größeren Wirkungsquerschnitt
einsetzen. Wenn man für 11. 1 cm- 3 wählt, so ergibt sich, daß Ä. stets kleiner
als 1016 cm, und in dichten oder ionisierten Gaswolken um mehrere Zehner-
potenzen kleiper als dieser Betrag ist. Die feinsten Einzelheiten, die man in
kosmischen Nebeln außerhalb unseres Planetensystems unterscheiden kann,
erstrecken sich über Bereiche in der Größenordnung 1015 bis 1016 cm. Im
allgemeinen haben \vir unsere Betrachtungen auf Wolken anzuwenden, die
entweder wenigstens 1018 cm groß oder, wie in der Theorie der Entstehung
des Planetensystems, etwa um den Faktor 1015 dichter sind als die inter-
stellare Materie. Die Bedingungen für die Anwendbarkeit der hydrodynami-
schen Näherung sind also praktisch überall gegeben.
In der Hydrodynamik werden die beiden wesentlich verschiedenen Be-
wegungsformen der laminaren und der turbulenten Strömung unterschieden.
Wir werden zeigen, daß die kosmischen Bewegungen fast durchweg turbulent
sein müssen. Wegen der Bedeutung dieses Ergebnisses für die Kosmogonie
seien ein paar Bemerkungen über die prinzipielle Bedeutung des Phänomens
der Turbulenz gestattet.
Man kann die laminare Strömung als geordnet, die turbulente als un-
geordnet bezeichnen. In der laminaren Strömung wird die Geschwindigkeit
durch eine glatte Funktion des Ortes und der Zeit dargestellt. In der turbu-
lenten Strömung überlagert sich einer wiederum durch glatte Funktionen
darstellbaren mittleren Geschwindigkeit eine räumlich und zeitlich unregel-
mäßig schwankende turbulente Zusatzgeschwindigkeit. Die scharfe Unter-
scheidung bei der Strömungsformen ist eingefuhrt worden an Hand der Beob-
achtung, daß ein unstetiger Übergang der laminaren in die turbulente
Strömung stattzufinden pflegt, wenn eine dimensionslose Größe, die REY-
NOLDsche Zahl, einen kritischen Wert überschreitet, der die Größenordnung
1000 hat. Der Aufbau der REYNoLDschen Zahl gibt einen Hinweis auf die
Gründe der Turbulenz. Die REYNoLDsche Zahl lautet:
R=_(!V~. (3)
It
Hier ist e die Dichte, v und l sind Werte der Geschwindigkeit und der Linear-
dimension, welche für das betreffende Strömungsbild charakteristisch sind;
schließlich ist ft die Zähigkeit. Die Strömung wird also turbulent, wenn der
Impuls der Strömung e v oder die durchströmte Strecke l groß ist; sie wird
laminar, wenn die Zähigkeit groß ist. Zähigkeit ist eine Kraft, welche be-
nachbarte Flüssigkeitsteilchen zu zwingen sucht, auf ungefähr gleichen Bahnen
zu laufen. Es ist also klar, daß große Zähigkeit die Tendenz hat, den Strö-
mungsverlauf zu glätten. Bei kleiner Zähigkeit ist ein glatter Strömungs-
verlauf mechanisch noch immer möglich. Die empirische Tatsache, daß er
schon bei kleinen Störungen in Turbulenz umzuschlagen pflegt, daß also die
96 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

laminare Strömung dann instabil ist, zeigt, daß man die turbulente Strömung
in gewissem Sinn als die für Flüssigkeiten geringer Zähigkeit natürliche
Strömungsform anzusehen hat. Diese Tatsache wird verdeckt, wenn man
von den Lösungen der klassischen Hydrodynamik für wirbelfreie Strömungen
ausgeht. Wegen der HELMHoLTzschen Wirbelsätze kann eine Strömung, die
keine vVirbel enthält, diese nicht spontan erzeugen. Geht man daher von
einer wirbelfreien Strömung aus, so kann Turbulenz in der Tat nur erzeugt
werden, indem etwa am Randc der Strömung durch Reibung an einer festen
Oberfläche \Virbel in die Flüssigkeit gebracht werden. Dies ist aber nicht
derjenige Fall, der in der freien Natur, also auch im Kosmos im allgemeinen
vorliegt. Dort enthalten die Strömungen im allgemeinen schon von ihrer
Entstehung her große Wirbelstärken (z. B. die ursprüngliche Rotation des
Planetensystems oder der Milchstraße), deren Verteilung in die kleineren
Wirbel, die die Turbulerlz ausmachen, kein Erhaltungssatz im Wege steht.
Die Frage des Ursprungs der kosmischen Turbulenz wird damit in die Anfangs-
bedingungen zurückverlegt. Bcim augenblicklichen Stand unserer Kenntnisse
scheint es, als sei diese Frage nicht ohne kosmologische Spekulation zu beant-
worten. Sie ist daher aus den vorliegenden Betrachtungen auszuschließen.
Die Behauptung, die Turbulenz sei die natürliche Bewegungsform der
Flüssigkeit mit geringer Reibung, kann dahin präzisiert werden, daß sie die
statistisch wahrscheinlichste Bewegungsform ist. Ein Medium, dessen Be-
wegungszustand durch eine kontinuierliche Funktion des Orts beschrieben
wird, hat streng genommen unendlich viele Freiheitsgrade. Man kann z. B.
als Anfangsbedingung eine beliebige Geschwindigkeitsverteilung im Raum
vorgeben. Nur wenige unter den möglichen Anfangsverteilungen "ind durch
einigermaßen glatte Funktionen beschrieben. Eine Geschwindigkeitsver-
teilung, über die nicht ausdrücklich bekannt ist, daß sie durch eine glatte
Funktion zu beschreiben ist, wird also mit großer a priori-'Wahrscheinlichkeit
ein kompliziertes Strömungsbild haben, das unter den allgemeinen Begriff
Turbulenz fallen wird.
Die Turbulenz ist aber keine Bewegungsform, die sich selbst unbegrenzt
aufrechterhalten kann. Die molekulare Reibung setzt ständig kinetische
Energie der Strömung in Wärme um. Wenn der Strömung nicht ständig
neue Energie zugeführt wird, so muß sie mit der Zeit erlöschen. Im strengen
Sinn stationäre turbulente Strömungen dürfte es im Kosmos kaum geben,
da uns keine Energiequelle bekannt ist, welche die verlorengehende kinetische
Energie ständig ersetzen würde. Als quasistationär kann man aber die feinere
Struktur eines Strömungsfcldes bezeichnen, dessen Turbulenz mit der Zcit
abfällt; denn es zeigt sich, daß die feineren Strukturen in einem turbulenten
Strömungsfeld sich mit der Zeit rascher verändern als dIe gröberen.
Wir beschreiben eine quasistationäre Strömung, indem wir den PRANDTL-
schen [3] Begriff des Turbulenzelernents benutzen. Wir verstehen darunter
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 97

ein Teilvolumen der Flüssigkeit, das für einige Zeit eine ungefähr gemein-
same Bewegung ausführt. Ein Turbulenzelement ist keine dauerhafte Ein-
heit, es löst sich vielmehr wieder auf, nachdem es den "Mischungsweg" 1
zurückgelegt hat, der von der Größenordnung seines eigenen Durchmessers
ist. Eine präzisere Beschreibung dieser Sachverhalte kann mit den Hilfs-
mitteln der FOURIER-Analyse [4J gegeben werden. Für eine anschauliche
kurze Mitteilung der Resultate bedienen wir uns aber weiterhin der Sprache
der Turbulenzelemente. Außer durch 1 kann ein Element durch seine Ge-
schwindigkeit v relativ zu seinen Nachbarn charakterisiert werden. Es gibt
Turbulenzelemente aller Größen 1 von einer mit den Dimensionen des ganzen
Strömungsfeldes vergleichbaren Größe bis zu einer Grenze, die durch die
molekulare Zähigkeit bestimmt ist. Die kleinen Elemente befinden sich
innerhalb der größeren; sie können als ihre Feinstruktur bezeichnet werden.
Die energetische Struktur dieser "Hierarchie von Turbulenzelementen" kann
beschrieben werden, indem man eine Funktion v (l) angibt. Diese Funktion
sagt aus, wie der mittlere Betrag der Relativgeschwindigkeit zweier Punkte
in dem Medium, die den Abstand 1 voneinander haben, von diesem Abstand
abhängt. Für Elemente mittlerer Größe ergibt sich theoretisch [5J
(4)
Dieser Funktionsverlauf ist für irdische Strömungen [6J und neuerdings auch
für den Orionnebel [7J mit einiger Genauigkeit bestätigt worden. Die physi-
kalische Vorstellung, die zur Ableitung dieses Gesetzes führt, betrachtet zu
den Turbulenzelementen jeder Größe die kinetische Energiedichte t (! v 2 ,
welche der Bewegung ihres Schwerpunkts relativ zu Nachbarelementen zu-
geschrieben werden kann. Die quasistationäre Tm bulenz wird aufrecht-
erhalten, indem die Energie aus den größten Elementen durch die Hierarchie
hindurch bis in die kleinsten Elemente strömt, aus denen sie dann in Wärme
übergeht. Dabei wirken die kleineren Turbulenzelemente in bezug auf die
größeren ebenso wie die Moleküle des Gases in bezug auf die hydrodynamische
Strömung überhaupt. Der durch sie vermittelte Impulstransport kann als
Zähigkeit dargestellt werden und diese Zähigkeit bewirkt die Energie-
dissipation.
Für die Bewegung kosmischer Gasmassen ist die wichtigste Wirkung der
Turbulenz eben diese Zähigkeit, durch die sie die mittlere Strömung sehr
viel stärker beeinflußt als es die molekulare Zähigkeit tun könnte. Die
Turbulenzzähigkeit oder die "Austauschgröße" ist gegeben durch
'Yj=(!vl. (5)
Hier bedeuten 1 und v Mischungsweg und Geschwindigkeit der größten am
Impulstransport beteiligten Turbulenzelemente.
Daß die kosmischen Bewegungen turbulent sein müssen, ist nach dem
bisher Gesagten gewährleistet, sofern ihre REYNoLDsche Zahl groß ist
Gottinger Akademie·Festschrift. 7
98 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

verglichen mit dem kinetischen Wert. Dabei ist zu beachten, daß nicht der
kritische Wert von etwa 1000 einzusetzen ist, der die Grenze für die Stabilität
einer laminaren Strömung angibt. Beim Übergang einer etwa durch ein
Druckgefälle in einem Rohr oder Kanal aufrechterhaltenen Strömung aus
dem laminaren in den turbulenten Zustand nimmt die effektive Zähigkeit
erheblich zu und die Geschwindigkeit entsprechend ab. Die REYNoLDsche
Zahl der resultierenden turbulenten Strömung ist also kleiner als die der
laminaren aus der si~ entstammt. Die REYNoLDsche Zahl, bei der eine
turbulente Strömung dadurch in eine laminare übergeht, daß ihre Wirbel
durch die Zähigkeit "erstickt" werden, ist [8] von der Größenordnung 10.
Setzen wir für die molekulare Zähigkeit die Formel
(6)
ein, in der vth die durchschnittliche thermische Geschwindigkeit der Moleküle
bedeutet, die wiederum größenordnungsmäßig gleich der Schallgeschwindig-
keit in dem betreffenden Medium ist, so ergibt sich als Grenze der Turbulenz
ungefähr
(7)

Empirisch liegen die Strömungsgeschwindigkeiten des kosmischen Gases zwi-


schen einigen 100 km/sec für die großen Bewegungen der Spiralnebel und
1 km/sec oder vielleicht noch etwas weniger für die kleinen Turbulenzelemente
von Gasnebeln. Die thermische Geschwindigkeit der Moleküle variiert stark,
da ihre Temperatur von Ort zu Ort zwischen etwa 50 und 10000° K schwankt.
Aber die zu dieser Temperatur gehörigen Werte von V th liegen immerhin in
der Umgebung von 1 km/sec, so daß v> vth der häufigere Fall ist. Unter
diesen Voraussetzungen ist die Bedingung (7) praktisch immer erfüllt, wenn
die Bedingung (1) erfüllt ist, d. h. wenn die Strömung in der hydrodynamischen
Näherung beschrieben werden kann, ist sie im allgemeinen auch turbulent.
Die Bedingung
_V_> 1 (8)
v th

ist in der Hydrodynamik unter dem Namen bekannt, daß die MAcHsehe
Zahl der Strömung größer als 1 sei. Sie gibt gleichzeitig die Grenze an,
oberhalb deren die Bewegung nicht mehr wie die einer inkompressiblen
Flüssigkeit beschrieben werden kann. Wir haben also im kosmischen Gas
mit Verdichtungen und Verdünnungen zu rechnen, die wegen des turbulenten
Charakters der Bewegungen unregelmäßig verteilt sind. Genau dies zeigen
die Photographien kosmischer Gasmassen. Hier tritt allerdings eine Schwie-
rigkeit für die Theorie auf. Denn eine Theorie, welche die Effekte der Tur-
bulenz und der Kompression gleichzeitig berücksichtigt, existiert in der Hydro-
dynamik noch nicht. Turbulenz in einer inkompressiblen Flüssigkeit erzeugt
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 99

eine Hierarchie von Turbulenzelementen, deren jedes eine kurzfristige kine-


tische Einheit, aber keine Verdichtung darstellt. Bewegungen, die sehr viel
schneller sind als die Schallgeschwindigkeit, erzeugen in einem im übrigen
nicht oder schwach turbulenten Medium scharfe Wellenfronten. Die Bewegung
des kosmischen Gases muß eine Mischung oder Verbindung dieser beiden
Bewegungstypen sein, die sich der mathematischen Analyse bisher entzogen
hat. Die Beobachtungen von ADAMS [9], welche zeigen, daß die interstellare
Materie weitgehend in einzelne Wolken von jeweils einheitlicher Geschwin-
digkeit aufgeteilt sind, dürften einen empirischen Hinweis auf die Struktur
solcher Bewegungen darstellen. Einen Versuch zu ihrer theoretischen Be-
handlung hat v. HOERNER [10] gemacht.
Ein weiterer Effekt, der bei der Bewegung des kosmischen Gases eine
Rolle spielen kann, ist die Gegenwart von Magnetfeldern. Daß solche Felder
vorhanden sind, wird durch die Beobachtungen über die Polarisation, welche
das Sternlicht bei seiner teilweisen Absorption durch kosmischen Staub
erleidet, sehr wahrscheinlich gemacht [11]. Man kann diese Polarisation kaum
anders erklären als durch eine räumliche Orientierung von Staubteilchen,
deren Gestalt von der Kugel abweicht. Eine solche Orientierung aber dürfte
kaum anders als durch ein Magnetfeld möglich sein. Auf die Frage der Ent-
stehung solcher Magnetfelder und ihren etwaigen Zusammenhang mit der
Erzeugung der kosmischen Strahlung soll hier nicht eingegangen werden [12].
Wenn sie die vermutete Größe von etwa 10- 6 Gß haben, so ist aber ihre
Energiedichte vergleichbar der Energiedichte der Turbulenz und sie werden
dann einen Einfluß auf die Bewegungsform des kosmischen Gases haben.
Diese Frage muß weiter erforscht werden.

3. Allgemeines Entwicklungsschema einer kosmischen Gasmasse.


Als Ausgangspunkt wählen wir die empirische Morphologie kosmischer
Massen. Wir vergleichen dabei Systeme sehr verschiedener räumlicher Größen-
ordnung. Die größten sind die extragalaktischen Nebel, die kleinsten sind
einzelne Sterne. Es scheint möglich zu sein, alle diese Gebilde, soweit sie einen
kontinuierlichen Zusammenhang ihrer Teile besitzen oder einmal besessen
haben, nach Gestaltgesichtspunkten in drei Gruppen einzuteilen: Kugeln,
Rotationsfiguren und Wolken.
Die Fig. 1- 5 zeigen Beispiele dieser Gestaltgruppen für große Stern-
systeme. Fig.1 zeigt einen kugelförmigen Sternhaufen. Der Ausdruck Kugel
besagt aber nicht, daß das System einen scharfen Rand hat; er drückt nur
die Symmetrie aus. Fig. 2 zeigt einen typischen Spiralnebel von oben gesehen.
Wir nennen dies eine Rotationsfigur, obwohl die Spiralgestalt ja keine volle
Drehsymmetrie um die Rotationsachse besitzt. Es mag aber erlaubt sein,
bei dieser Bezeichnung an das unmittelbare Empfinden des Beschauers zu
appellieren, dem sich der Eindruck aufdrängt, daß diese Gestalt etwas mit
7*
100 CARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER :

Fig. 1. Kugelförmiger Sternhaufen. (Nach C. F. V. WEIZSÄCKER, Die Geschichte der Natur.)

Fig. 2. Spiralnebel von der Achse aus gesehen. Spiralnebel M 51 in den Jagdhunden.
Aufnahme: Mt. Wilson.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 101

Fig. 3. Spiralnebel von der Kante aus gesehen. Aufnahme: Mt. Wilson.

Fig. 4. Spiralnebel, von der Kante gesehen, elliptischer Form sich nähernd.
Aufnahme: Mt. Wilson.

Fig. 5. Unregelmäßiger extragalaktischer Nebel. MAGELLANsche \Volke.


(Nach C. F . V. WEIZSÄCKER, Die Geschichte der NatuL)

Rotation zu tun habe. Fig. 3 u. 4 zeigen ähnliche Nebel, von der Kante
aus gesehen. Wir entnehmen aus den Figuren, daß zur Rotationsgestalt
102 eARL FRIEDRICH V . WEIZSÄCKER:

eine ausgezeichnete Ebene und eine senkrecht zu dieser stehende Symmetrie-


achse sowie eine Abplattung des Gebildes gehört. Fig. 4 nähert sich der
Gestalt der elliptischen Nebel, denen die Spiralstruktur fehlt und die am
ehesten etwa mit dem Kern eines Spiralnebels verglichen werden können.
Auch sie werden wir unter die Rotationsfiguren einreihen. Fig. 5 zeigt einen
sog. unregelmäßigen extragalaktischen Nebel als Beispiel einer Wolke.
Zur Wolkengestalt gehört nicht nur der unregelmäßige Umriß, sondern
eine wolkige Innenstruktur. Wolken setzen sich aus kleineren \Volken

Fig. 6. Milchstraßengaswolke; Trifidnebel. Aufnahme: Mt. Wilson.

zusammen, welche unmittelbar den Eindruck einer Hierarchie von Turbulenz·


elementen machen. Einen Blick in die innere Struktur von Milchstraßen-
gaswolken bietet Fig. 6. Rotationsfiguren zeigen empirisch oft, aber nicht
immer, eine wolkige Innenstruktur. Bei kugelförmigen Objekten ist keine
innere Wolkigkeit bekannt.
Wir können diese Einteilung auf Gebilde der Sterngrößenordnung über-
tragen. Ein Stern wie unsere Sonne ist eine Kugel. Allerdings rotiert die
Sonne, aber ihre Rotation ist zu langsam, um sich in der Gestalt fühlbar zu
machen. An rotierenden Planeten wird eine Abplattung meßbar. Als eigent-
liche Rotationsfiguren sollten wir aber eher den Saturnring oder die Mond-
systeme der Planeten und das Planetensystem der Sonne (das System jeweils
als ein Ganzes betrachtet) bezeichnen. Wenn wir den Begriff ein wenig
dehnen, werden wir auch einen Doppelstern als eine Rotationsfigur auffassen
dürfen. Wolken, deren Gesamtmassen der eines Sternes vergleichbar sind,
sind uns in den kleineren Gasnebeln (vgl. Fig. 6) bekannt.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 103

Diesen allgemeinen morphologischen Regeln dürfte ein allgemeines Ent-


wicklungsschema kosmischer Objekte zugrunde liegen. Wir versuchen, dieses
Schema zunächst zu beschreiben, ohne auf die besonderen Eigenschaften
einzugehen, durch welche sich die verschiedenen Arten und Größenord-
nungen von Objekten voneinander unterscheiden.
Als Anfang wählen wir versuchsweise eine große, turbulent bewegte Gas-
masse, aus der sich das betrachtete System als Teilmasse herausentwickeln
soll. Die erste Frage ist, wodurch sich eine solche Teilmasse von ihrer Um-
gebung dauerhaft absondern kann. Sie muß sich dazu verdichten. Eine
stabile Verdichtung ist nur möglich unter dem Einfluß der Gravitation.
Man kann daher im Anschluß an JEANS [13] die Bedingung hinschreiben,
daß die potentielle Gesamtenergie des Systems größer sein muß als seine
innere kinetische Energie:
GM2 M
-_>_v 2
(9)
R 2

Hier bedeutet G die NEWToNsche Gravitationskonstante, M die Masse des


Teilsystems und R, insofern wir das Teilsystem der Einfachheit halber als
ungefähr kugelförmig beschreiben, seinen Radius, v = die Geschwindigkeit
seiner inneren Bewegungen. Diese Geschwindigkeit wurde in früheren kos-
mogonischen Überlegungen meist mit der thermischen Geschwindigkeit der
Moleküle identifiziert. Wir halten es für wahrscheinlicher, daß man für sie
die Turbulenzgeschwindigkeit einsetzen muß.
Die JEANssche Bedingung gibt an, wann eine Verdichtung stabil sein kann,
sie gibt aber nicht an, wodurch eine Verdichtung erstmalig entsteht. Man
wird sich dafür nicht wie in früheren kosmogonischen Überlegungen auf
zufällige, nicht weiter erklärte Dichteschwankungen verlassen müssen, denn
die Turbulenz erzeugt bei hinreichend hoher MAcHscher Zahl von selbst
Verdichtungen. Allerdings kann sich jede Masse, welche durch die Ver-
dichtung einer vorher dünneren Materie zustande gekommen ist, nach dem
Energiesatz auch wieder verdünnen, wenn sie nicht beim Verdichtungs·
prozeß einen Teil ihrer inneren Energie los wird. Turbulenzenergie wandelt
sich ständig in Wärme um, aber auch die Wärme würde die Masse durch
den Gasdruck wieder auseinandertreiben. Ein Teil der Wärme muß daher
vermutlich durch Ausstrahlung verloren werden.
Wenn sich eine Tetlmasse in dieser Weise abgesondert hat und wenn sie
einen Mechanismus des Energieverlustes besitzt, so wird sie sich zunächst
immer weiter zusammenziehen. Die anfangs vorhandene Turbulenz erlischt
in einem Zeitraum, dessen Größenordnung gegeben ist durch
(10)
Hier mag der Zahlfaktor rt. einen Wert der Größenordnung 5 haben. Die
Innenbewegung kann aber nicht ganz und gar erlöschen wegen des Satzes
104 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

von der Erhaltung des Drehimpulses. Wenn die Masse aus einer turbulenten
Gesamtmasse entstanden ist, wird sie einen Gesamtdrehimpuls besitzen und
wenn alle übrigen Turbulenzbewegungen erloschen sind, so muß deshalb eine
reine Rotationsbewegung übrigbleiben. Diese Bewegung verhindert ein un-
begrenztes Zusammensinken in der Richtung auf die Rotationsachse. Hin·
gegen können die Bewegungskomponenten parallel zur Rotationsachse weit-
gehend erlöschen und daher wird die Materie eine abgeplattete Gestalt
annehmen. Während die Wolkengestalten unserer Morphologie entweder
innere Teile eines größeren turbulenten Systems oder junge abgesonderte
Systeme darstellen müssen, dürften die Rotationsfiguren das zweite Ent-
wicklungsstadium bedeuten, dessen Entstehung wir soeben beschrieben haben.
Die Turbulenz kann aber nicht ganz erlöschen; wenn nicht eine ganz
spezielle Massenverteilung vorliegt, kann die Gasmasse nicht wie ein starrer
Körper rotieren. In großem Abstand vom Mittelpunkt wird die Rotation stets
dem dritten KEPLERschen Gesetz folgen. Nichtstarre Rotation ist aber eine
Quelle immer neuer Turbulenz. Diese Turbulenz wird z.B. dafür sorgen, daß
die rotierende Scheibe eine endliche Dicke senkrecht zur Hauptebene behält.
Dieser Zustand ist aber wiederum nicht streng stationär möglich. Die
Masse entwickelt sich weiter, indem ein Teil von ihr dem Mittelpunkt zu-
strebt und hierdurch Energie freimacht, welche durch turbulente Reibung
den äußeren Teilen der Masse zugeführt wird. Diese können sich nunmehr
vom Mittelpunkt weiter entfernen. Die Masse strebt also einem Endzustand
zu, indem ein stark verdichteter Zentralkörper mit geringem Drehimpuls
einer im Grenzfall unendlich verdünnten Hülle gegenübersteht, die praktisch
den ganzen Drehimpuls des Systems enthält. Diese Hülle wird sich schließlich
mit dem Medium, aus dem sich unsere Teilmasse abgesondert hat, wieder in
irgendeiner Weise mischen und dadurch dem Zentralkörper verlorengehen.
Diese Entwicklung ist in einer Reihe von Arbeiten analytisch und numerisch
nachgerechnet worden [14J.
Die Zeitskala des Verlustes des Drehimpulses wird im Prinzip wiederum
durch die Formel (10) gegeben. Der dimensionslose Faktor oc nimmt jetzt
aber einen Wert an, der um so größer ist, je weiter die Konzentration des
Zentralkörpers und die Auflösung der Hülle getrieben werden kann.
Die Körper, die in unserer Morphologie als Kugeln auftreten, werden auf
diese \Veise entstanden sein. Die Entwicklung kann aber dadurch ein vor-
zeitiges Ende nehmen, daß die Masse nicht im Zustand des kontinuierlich
verteilten Gases bleibt. Wenn sich in einem Milchstraßensystem Sterne bilden,
so sind diese der weiteren Einwirkung des turbulenten Gases entzogen.
Ähnliches gilt für die Entstehung von Planeten im Sonnensystem. Von einem
solchen Augenblick an kann die Entwicklung des Systems nicht mehr nach
einem hydrodynamischen Schema verstanden werden, sondern bedarf zu-
sätzlicher stellardynamischer Überlegungen.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 105

4. Die Entwicklung von Sternsystemen.


Wir versuchen nun, den Entwicklungsgang der wichtigsten kosmischen
Objekte in historischer Folge zu betrachten. Wir müssen dabei mit Not·
wendigkeit an einem der unsichersten Punkte beginnen, nämlich bei der Frage
nach der Entstehung der großen galaktischen Systeme.
Die Bewegungen, die wir heute an den extragalaktischen Nebeln fest·
stellen können (nur Radialgeschwindigkeiten sind beobachtbar) können in
zwei Komponenten zerlegt werden: eine systematische und eine statistisch
schwankende. Die erste läßt sich durch das HUBBLEsche Gesetz
V ex =a r (11)
darstellen. vex nennen wir die Expansionsgeschwindigkeit. Wir definieren sie
als Relativgeschwindigkeit zweier Punkte im Kosmos, welche den Abstand r
haben. a ist die HVBBLEsche Konstante, deren reziproker Wert etwa das
Alter der Welt ist. Die unregelmäßige Zusatzgeschwindigkeit, die sich als
eine Streuung der Geschwindigkeiten um die HUBBLEsche Gerade herum
darstellen läßt, hängt nicht merklich vom Abstand ab. Für Systeme, die
einander nahe benachbart sind, ist sie von derselben Größenordnung wie
die Relativgeschwindigkeit, die für solche Systeme aus dem HUBBLEschen
Gesetz folgt.
Diese empirischen Tatsachen gestatten vielleicht die folgende Deutung:
Ohne kompliziertere Theorien ausschließen zu wollen, lesen wir um des ein·
fachen Ausdruckes willen das HUBBLEsche Gesetz als Zeichen einer nach
dem Trägheitsgesetz verlaufenden Expansion des Systems der Spiralnebel
in der unseren Fernrohren erreichbaren Umgebung der Milchstraße. Wir
verfolgen diese Bewegung zurück bis zu einem Zeitpunkt to , zu dem sich die
Systeme gerade berührten. Wenn sich in der Zwischenzeit die Geschwindig.
keiten nicht erheblich geändert haben, so bestanden auch damals die beiden
Bewegungskomponenten der systematischen Expansion und einer unregel·
mäßigen Zusatzbewegung, die für den Zeitpunkt to als turbulente Bewegung
eines zusammenhängenden Mediums erscheint. Diese Deutung wird viel·
leicht gestützt durch die Tatsache, daß auch die heutigen Rotationsgeschwin·
digkeiten der Systeme von derselben Größenordnung sind wie ihre unregel-
mäßigen Eigengeschwindigkeiten. Es fragt sich nun, warum dieses zusammen-
hängende Medium in einzelne Milchstraßen zerriß und wodurch die Größe
der Bruchstücke bestimmt war. Nehmen wir an, daß die damalige Turbulenz
dem Spektralgesetz (4) folgte, so wäre ihre Geschwindigkeit also durch
Vtu = br} (12)

mit dem Abstand verknüpft. Die Konstante b ist so groß, daß für den
Abstand, den damals benachbarte Systeme voneinander hatten vtu = vex war.
Natürlich braucht (12) n:cht als streng richtig angenommen zu werden. Für
106 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

unsere Überlegung genügt es, daß vtu schwächer als linear mit dem Abstand
anwuchs. Dann folgt, daß für Abstände, die kleiner waren als der damalige
Abstand der heutigen Systeme die Turbulenzgeschwindigkeit größer war als
die Expansionsgeschwindigkeit, während sich für größere Abstände das Ver-
hä.ltnis umkehrte. Bleiben wir ferner bei der Meinung, daß die Anfangs-
verdichtungen, aus denen sich dauernde Systeme bildeten, durch die Tur-
bulenz hervorgebracht wurden, so folgt, daß dies gegen den auflösenden Ein-
fluß der Expansion nur für Gasmassen möglich war, deren Durchmesser
kleiner war als jener kritische Abstand, d. h. es ergibt sich eine obere Grenze
für die Größe der entstehenden Nebel. Den Zahlenwert dieser oberen Grenze
haben wir hier nicht abgeleitet, da wir die Konstanten a und b aus der
Erfahrung entnommen haben. Dabei ist zu beachten, daß für diese Über-
o
legung a das reziproke damalige Weltalter, also t 1 ist. Der Versuch, diese
Konstanten noch theoretisch zu bestimmen, würde uns in die kosmologischen
Fragen nach der Herkunft der Expansion und der Turbulenz verwickeln, die
wir hier vermeiden wollen.
Wir versuchen nun die Weiterentwicklung eines einmal gebildeten Systems
zu beschreiben. Gemäß den Überlegungen von Abschnitt 3 sollten die un-
regelmäßigen Nebel als jung gelten. Die Worte jung und alt erweisen sich
alsbald als zweideutig. Es fragt sich, ob wir sie in der dem einzelnen System
eigentümlichen Entwicklungszeitskala oder verglichen mit dem Alter der
Welt meinen. Die Zeitskala der Entwicklung eines extragalaktischen Nebels
sollte nach (10) ein kleines Vielfaches seiner Rotationsperiode sein. Für die
größeren Systeme, wie unsere Milchstraße und den Andromedanebel ergibt
dies eine Zeitskala, die mit dem Alter der Welt vergleichbar ist. Diese Systeme
können also in ihrer eigenen Zeitskala oder, wie wir sagen wollen, genetisch
jung und trotzdem in der Zeitskala des Kosmos oder, wie wir sagen wollen,
absolut alt sein. Anders steht es mit den unregelmäßigen Nebeln, die im
allgemeinen wesentlich kleiner sind. ·Wenn sie heute noch die Zeichen gene-
tischer Jugend zeigen, so müssen sie auch absolut jung sein; es müssen sich
also auch heute noch extragalaktische Nebel bilden können. Bedenkt man,
daß vielleicht nicht alle Materie von vornherein in die großen Teilsysteme
einging und daß diese ferner durch den in Abschnitt 3 geschilderten Vorgang
wieder Materie abstoßen, so erscheint diese Neubildung von Systemen nicht
überraschend. Daß unregelmäßige Systeme jung sein müssen, folgt schon
aus der Überlegung, daß eine irreguläre Gestalt dynamisch nicht allein auf-
rechterhalten werden kann, unabhängig von den Einzelheiten der hier vor-
getragenen Theorie.
Als das Zwischenstadium der Entwicklung betrachten wir die Spiralnebel.
In ihnen ist im Gegensatz zu den elliptischen Nebeln noch interstellare
Materie und Turbulenz sichtbar. Das Problem ihrer Gestalt führt uns bereits
auf die schwierige Frage des Zusammenwirkens von Sternen und Gas. Es
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 107

scheint aber, daß gerade die Spiralstruktur ein hydrodynamischer Effekt ist,
der nach einer zuerst von WILCZYNSKI [15] vorgeschlagenen Theorie erklärt
werden kann. Empirisch ist die Spiralstruktur stets mit dem Auftreten ven
Staub verbunden, den wir, indem wir voraussetzen, daß er nicht in weiten
Gebieten völlig getrennt von Gas vorkommen dürfte, als einen Indikator
für die Gegenwart von Gas nehmen. In derselben Richtung weist die Beob-
achtung, daß Spiralarme stets mit "jungen" Sterntypen verbunden sind.
Nun muß jede turbulent rotierende Gasmasse spiralige Strukturen zeigen,
sofern die Rotation nicht gleichförmig ist. Rotieren z. B. die inneren Teile
schneller als die äußeren, so bleiben in jeder Wolke, die sich durch die Tur-
bulenz bildet, die äußeren Teile gegen die inneren zurück und es bildet sich
ein Spiralarm. Man kann das Phänomen beobachten, wenn man in einer
Kaffeetasse rührt und dann Milch hineingießt.
Die Theorie hat sich früher nicht durchgesetzt, weil nicht bekannt war,
wie sich das System weiter entwickeln soll. Nach mehreren Umläufen müßte
jeder Spiralarm sich um den Kern herumwickeln wie der Faden um eine
Garnrolle. Die Erfahrung zeigt diesen Vorgang nicht. Die Turbulenztheorie
hebt die Schwierigkeit auf. Die Turbulenz, welche die Wolken geschaffen
hat, zerstört sie auch wieder, ehe sie mehrfach um den Kern herumgewickelt
sein können.
In dieser Form ist die Theorie wohl am geeignetsten für die sehr auf-
gelösten Spiralen vom HUBBLEschen Typ Sc [16]. Die Tatsache, daß in den
meisten Fällen gerade zwei einander gegenüberliegende Spiral arme auftreten,
dürfte nicht mit Turbulenz sondern mit Gravitation zu tun haben. Als ex-
tremes Beispiel betrachten wir die sog. Balkenspiralen (vgI. Fig. 7). Der
an den Kern anschließende gradlinige Balken wäre einerseits ohne Rotation
instabil, andererseits zeigt das Fehlen spiraliger Verzerrung, daß er starr
rotiert. Man wird ihn den JACoBlschen verlängerten Rotationsellipsoiden
in der Theorie der Gleichgewichtsfiguren rotierender inkompressibler Flüssig-
keiten vergleichen müssen. Daß eine solche Figur vom Standpunkt der
Gravitationstheorie stabil ist, zeigt die folgende Überlegung: Betrachten
wir zunächst eine rotierende, symmetrisch mit Masse belegte Scheibe
und fragen wir, ob durch eine Verschiebung der Materie auf dieser Scheibe
noch Gravitationsenergie zu gewinnen wäre. Eine radiale Verschiebung
der Materie wäre nur möglich bei Abgabe oder Aufnahme von Dreh-
impuls. Hingegen kann man die ganze Scheibe in einen Balken zusam-
menschieben, ohne daß irgendein Volumenelement seinen Abstand vom
Mittelpunkt ändert. Die Gravitationsenergie des Systems nimmt dadurch
aber sicher einen tieferen Wert an. Im Fall der inkompressiblen Flüssigkeiten
ist dies einfache Zusammenschieben wegen der Inkompressibilität nicht mög-
lich. Deshalb sind dort die JAcoBIschen Ellipsoiden nur für hohe Rotations-
geschwindigkeiten Gleichgewichtsfiguren. Für kompressible Materie, möge
108 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

sie nun aus Sternen oder aus isolierten Gasatomen bestehen, müssen die
Balken also unter allen Umständen die tiefste Gravitationsenergie ergeben;
soweit sie nicht auftreten, dürfte dies auf die inneren Bewegungen in der
Masse zurückzuführen sein.
An das Ende der Balken schließt sich meistens eine Spirale oder ein Ring
an. Dies ist nach unserer Deutung der Bereich, in dem die Rotation nicht
mehr gleichförmig ist und ein Balken sich daher nicht halten kann . Die

Fig.7. Spiralnebel vom Typ der Balkenspiralen. Aufnahme: Yerkes Observatory.

normalen zweiarmigen Spiralen wären demnach als durch ungleichförmige


Rotation verzerrte Balken aufzufassen. Dazu paßt der empirische Befund,
daß in den zwei Spiralnebeln, deren Rotationsgesetz gut bekannt ist, M 31
und M 33, die Spiralstruktur in denjenigen Gebieten auftritt, in denen die
Rotation nur wenig vom Gesetz der starren Rotation abweicht. Im Gebiet
der KEPLERschen Bewegung sind größere zusammenhängende Spiral arme
nicht zu sehen. Aus dieser Bemerkung ist übrigens zu folgern, daß man in
unserem Milchstraßensystem in der Nachbarschaft unserer Sonne keine
großen zusammenhängenden Spiralarme erwarten sollte. Trotzdem wird
natürlich auch in diesem Gebiet jede Wolke, die nicht dynamisch fest in sich
zusammenhängt, durch die differentielle Rotation spiralig verzerrt werden.
Es ist daher nicht überraschend, wenn B-Sterne spiralarm-ähnlich ange-
ordnet sind.
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 109

Entgegen der ursprünglichen Vermutung von HUBBLE würde aus unseren


Überlegungen folgen, daß die elliptischen Nebel, die weder Turbulenz noch
interstellare Materie in nennenswertem Maß heigen, alt sind. BAADE [17]
hat gefunden, daß elliptische Nebel, Spiralnebel kerne und kugelförmige Stern-
haufen eine andere Sorte von Sternen (Population II) enthalten als die
äußeren Teile der Spiralnebel (Population I). Die Population I tritt in Ver-
bindung mit interstellarer Materie auf und dürfte daher jüngere Sterne ent-
halten. Wir werden damit auf die Betrachtung der Sternentwicklung geführt.

5. Die Entwicklung von Sternen.


Das Problem der Sternentstehung bietet eine besondere Schwierigkeit.
Schätzen wir aus (10) die Zeitskala für die Zusammenziehung einer Masse
von der Größenordnung einer heutigen Sternmasse aus einem Raum von
1018 bis 1019 cm Durchmesser ab, so erhalten wir 106 bis 10 7 Jahre, also eine
Zeit, die sehr kurz ist verglichen mit dem Alter der Milchstraße. Man sollte
also annehmen, daß die Bildung von Sternen aus der interstellaren Materie,
wenn sie überhaupt möglich war, rasch stattgefunden hat und längst beendet
ist. Andererseits gibt es heute noch große Mengen interstellarer Materie.
Wenn man folgert, daß diese Materie aus irgendwelchen Gründen überhaupt
nicht zu Sternen vereinigt werden kann, so scheint es wiederum umgekehrt
unverständlich, warum dann überhaupt Sterne entstehen konnten. Fragt
man, welcher Unterschied in den Bedingungen zwischen der heutigen Zeit
und der Zeit vor der Entstehung der heute existierenden Sterne bestand, so
ist wohl die nächstliegende Antwort, daß es damals eben noch keine Sterne
gab. Man wird also auf die Frage geführt, ob die Gegenwart von Sternen
die Bildung neuer Sterne verhindert. Dies könnte nun in der Tat der Fall
sein. Es ist bekannt, daß die interstellare Materie durch die Sternstrahlung
aufgeheizt wird und mindestens 50° K heiß ist. Benutzt man die JEANssche
Bedingung (9) in der Form, die sich durch Einsetzen der Temperaturbewegung
für vergibt:
M>(KGT)ie-il, (13)

so ergibt sich, daß z.B. für e=10- 23 gJcm 3 und T=100° K kleinere Massen
als 1037 g nicht stabil sind. Unter heutigen Bedingungen können sich also
Sterne von etwa Sonnenmasse (1033,5 g) nicht bilden. Sehr viel schwerere
Sterne können sich andererseits anscheinend auch nicht bilden, da die Er-
fahrung uns niemals Sterne von mehr als etwa 100 Sonnenmassen zeigt.
Alle sehr schweren Sterne haben einen großen Strahlungsdruck an der Ober-
fläche und scheinen Materie abzublasen. Also ist vermutlich der große
Strahlungsdruck der Effekt, der die Sternmassen nach oben begrenzt [18].
Nur wenn diese Grenze nicht in Konflikt kommt mit der JEANsschen Bedin-
gung, können Sterne entstehen. Für die Dichte 10- 23 g/cm 3 tritt dies erst
110 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

bei Temperaturen von der Größenordnung 10 K ein. Diese Temperaturen


mögen vor der Bildung von Sternen anwesend gewesen sein; heute sind sie
es nicht.
Weitere Einzelheiten der Theorie der Sternentstehung zu verfolgen ist
wohl nicht sinnvoll, ehe wir über den Zustand des Milchstraßensystems in
jener weit zurückliegenden Zeit besser Bescheid wissen. Hingegen soll ver-
sucht werden, die heute vorhandenen Sterntypen zu diskutieren. Fig.8 zeigt
Speldralldasse
o ,81 8s 88 8$ Ao Al AJ As Fo fi fi Ii 60 Os ~ K; Ks 11
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- $ 10000
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... +7 . ,
" +8
+9
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+11 . .
+12 w~;lJe Zwerge
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""~
+ 15 {),QOOI
~--~M~~~----~~~O~~-8~O~M~~~~~'-~6~W~O~5WO~'~C--~
Temperolvr
Fig. 8. RUSsELL-Hertzsprung-Diagramm nach O. STRUVE, Stellar Evolution.

das RussELL-Hertzsprung-Diagramm [19], in dem nach oben der Logarithmus


der absoluten Leuchtkraft L und nach links der Logarithmus der Oberflächen-
temperatur T aufgetragen ist, so daß jeder Punkt im Diagramm einen durch
L und T charakterisierten Zustand eines Sterns repräsentiert.
Wir betrachten zunächst die von links oben nach rechts unten das Dia-
gramm durchziehende "Hauptreihe". Der innere Aufbau dieser Sterne ist
seit den Arbeiten von EDDINGTON [18], [20] im wesentlichen bekannt. Sie
haben Mittelpunktstemperaturen in der Umgebung von 20 Millionen Grad
und mittlere Dichten von der Größenordnung der Dichte des Wassers. Sie
bestehen aus gasförmiger Materie, die zum großen Teil ionisiert ist und
beziehen die Energie, die sie an der Oberfläche ständig ausstrahlen, aus
Atomkernreaktionen in der Zentralregion [21]. Der Parameter, durch den
sich Sterne an verschiedenen Stellen der Hauptreihe voneinander unter-
scheiden, ist die Masse, die mit der Leuchtkraft durch eine von EDDINGTON
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 111

gefundene Beziehung verknüpft ist. Vom Typus F an nach rechts unten


befindet sich ein solcher Stern in einem Zustand, der über das Alter der
Welt hinweg als stabil gelten kann. Der subatomare Energievorrat reicht zur
Aufrechterhaltung seiner gegenwärtigen Strahlung für mehr als 3.10 9 Jahre
aus. Wegen ihrer Stabilität geben diese Sterne kaum einen Hinweis auf
ihre Vorgeschichte. Derjenige von ihnen, den wir am genauesten kennen,
ist unsere Sonne. Sie zeigt in der Gestalt des Planetensystems allerdings
ein Phänomen, das einige Rückschlüsse auf ihre Vorgeschichte zuläßt. Wir
behandeln diese Frage im letzten Teil des Berichts.
Die massereichsten und hellsten Sterne der Hauptreihe sind hingegen in
mehrfacher Hinsicht von zweifelhafter Stabilität. Berechnet man den Energie·
vorrat eines extrem hellen 0- oder B-Sterns, so zeigt sich, daß er die heutige
Ausstrahlung nur für etwa 107 oder 108 Jahre decken kann [22]. Im heu tigen
Zustand kann der Stern also nicht so alt sein wie das Milchstraßensystem.
Für die Jugend dieser Sterne spricht auch die Tatsache, daß sie so gut wie
immer in der Nachbarschaft interstellarer Materie aufgefunden werden [23].
Schließlich zeigen die Hauptreihensterne bis zum Typus F in vielen Fällen
sehr starke Rotation mit einer Geschwindigkeit, die bis an die durch das
Gleichgewicht von Gravitation und Zentrifugalkraft definierte Stabilitäts-
grenze herankommt. Alle anderen Sterntypen zeigen keine unserer Beoh-
achtung zugängliche Rotation. An der Sonne sehen wir eine langsame
Rotation von 2 km/sec am Äquator, die, wenn die Sonne so weit wie die
anderen Sterne von uns entfernt wäre, nicht wahrgenommen werden könnte.
Die Annahme, die hellen Hauptreihensterne seien absolut jung, stößt auf
die Schwierigkeit, daß die Entstehung von Sternen im gegenwärtigen Zustand
der Milchstraße theoretisch nicht zu verstehen ist. Man kann aber annehmen,
daß sie verjüngte alte Sterne seien. Befindet sich ein Stern der Masse M
inmitten interstellarer Materie der Dichte e und hat er eine Relativgeschwin-
digkeit v gegen die umgebende Materie, so kann er aus ihr so viel Masse
an sich ziehen, daß sein Massenzuwachs je Zeiteinheit nach HOYLE und
LYTTLETON [24] gegeben ist durch

oM l'G2M21}
------
(14)

wobei G die Gravitationskonstante und yeine reine Zahl ist. Für e= 1O- 23 g/cm 3 ,
v = 3 . 104 ern/sec und eine Anfangsmasse von 10 Sonnenrnassen ergibt sich
eine Verdoppelung der Masse des Sterns in 109 Jahren. Wählt man v=
104 ern/sec so ergibt sich schon für einen Stern von Sonnengröße eine Masse-
verdopplung in 3 . 108 Jahren. Wenn es also geschehen kann, daß ein Stern
durch Zufall relativ zu dem ihn umgebenden Gas eine sehr kleine Geschwin-
digkeit hat, so kann er möglicherweise sehr stark anwachsen.
Diese Deutung der hellen Hauptreihensterne würde auch die bei ihnen
häufige Sternrotation verständlich machen. Das Gas, das in den Stern fällt,
112 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

wird schwerlich seinen ganzen Drehimpuls los werden und wird daher im
allgemeinen dem Stern eine erhöhte Winkelgeschwindigkeit übertragen. Es
muß als wahrscheinlich gelten, daß alle Sterne, die sich aus kosmischem Gas
gebildet haben, zunächst sehr stark rotieren und daher ergibt sich nun das
umgekehrte Problem, wie sie ihre Rotation verloren haben können. Wir
behandeln auch dieses Problem im letzten Teil des Berichts.
Links unter der Hauptreihe liegen die weißen Zwerge, welche hohe Ober-
flächentemperaturen mit geringer Leuchtkraft vereinigen. Sie haben Dichten
von der Größenordnung 106 und müssen durch die Gleichungen des ent-
arteten Gases beschrieben werden [25]. Daß sie trotz hoher Dichten und
Mittelpunktstemperaturen nur wenig Energie freimachen, weist darauf hin,
daß sie den für die energieliefernden Kernreaktionen notwendigen Wasser-
stoff in ihrem Inneren verbraucht haben. Sie müssen also als genetisch alte
Sterne gelten. Da ihre Massen von der Größenordnung der Sonnenrnasse
sind, scheint sich eine Schwierigkeit zu bieten, denn wir haben gesehen, daß
Sterne vom Sonnentypus während des Alters der \Velt kaum Zeit gehabt
haben können, ihren Wasserstoff zu verbrauchen. Vielleicht verliert ein
massereicher Stern bei seiner Entwicklung so viel Masse durch Abblasen an
der Oberfläche, daß er, wenn der Wasserstoff aufgebraucht ist und die darauf-
folgende notwendige Kontraktion stattgefunden hat, in vielen Fällen nur
noch etwa Sonnenrnasse hat.
Ein noch immer nicht befriedigend gelöstes Problem stellt die Natur der
Riesen dar, die sich im Diagramm rechts oberhalb der Hauptreihe befinden.
Sie haben bei geringer Oberflächentemperatur große Leuchtkraft und folglich
große Oberfläche. Es gibt Riesen, deren Radius dem Radius der Erdbahn
um die Sonne gleicht. Früher meinte man, sie seien junge Sterne, die sich
noch nicht bis zur Hauptreihe zusammengezogen hätten. Die Zeitskala dieser
HELMHOLTZ-KELvINschen Zusammenziehung beträgt aber nur einige Millionen
Jahre. Eine Reihe von Gründen, insbesondere das Vorkommen von Riesen
in beiden B.<\ADEschen Populationen zeigt, daß die Riesen älter sein müssen.
Die Riesen der Population II unterscheiden sich von denen in I in bezug
auf die Lage im RussELL-Hertzsprung-Diagramm. Jedenfalls aber wird man
diese Riesen von II als absolut alte Sterne ansehen müssen und damit ist
bewiesen, daß es alte Riesen gibt; also müssen wir ein Modell für die Riesen
finden, das ihnen ein hohes Alter gestattet.
Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist wohl die nach den
Energiequellen der Riesen. Die Kernreaktionen, die in der Hauptreihe wirk-
sam sind, können für die Riesen schwerlich ausreichen. Baut man einen
Riesenstern nach dem EDDlNGToNschen Modell auf, so sind die Temperaturen
dicht an seinem Mittelpunkt zu gering, um nennenswerte Kernreaktionen
auszulösen. Neben den Kernreaktionen ist uns als einzige ergiebige Energie-
quelle die Kontraktion unter dem Einfluß der Schwerkraft bekannt. Diese
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 113

liefert aber große Em'rgiemengen nur, wenn der Stern sich zu einem Radius
zusammenzieht, der kleiner ist als derjenige eines Hauptreihensterns. Die
Gravitationsenergie ist ja umgekehrt proportional zum Radius. Die negative
Gravitationsenergie der Sonne entspricht dem Energiebetrag, den die Sonne
in 4.10 7 Jahren ausstrahlt. Zusammenziehung zu einem 100mal kleineren
Radius würde also der Sonne eine für das bisherige Alter der Welt ausreichende
Lebensdauer garantieren. Hellere Sterne brauchen, da die Leuchtkraft mit
einer hohen Potenz der Masse anwächst, noch kräftigere Zusammenziehung
für eine ebenso große Lebensdauer. Diese Überlegungen führen zu der Frage,
ob die Riesen vielleicht einen mit einem weißen Zwerg vergleichbaren über-
dichten Kern haben. Der sichtbare Stern wäre dann nur eine ungeheuer
ausgedehnte Atmosphäre eines solchen Kerns. Auch auf dem Wege dieser
Annahme liegen aber noch zahlreiche Probleme.
Zunächst ist zu fragen, was denn dann die Riesen von den weißen Zwergen
unterscheidet. Empirisch sind sie zunächst unterschieden durch die völlig
verschiedene Leuchtkraft. Diese Leuchtkraft mag auch für den Unterschied
in der Größe verantwortlich gemacht werden, denn ein Stern von der Größe
eines weißen Zwerges, dessen Oberfläche von einem Strahlungsstrom durch-
gesetzt würde, welcher der Leuchtkraft eines Riesen entspricht, würde diese
Oberfläche keinesfalls gegen den Strahlungsdruck festhalten können. Es liegt
also nahe anzunehmen, sie werde zu einer großen Atmosphäre aufgeblasen.
Warum aber sollen die Riesen eine so viel größere Leuchtkraft haben als
die weißen Zwe.rge? Eine mögliche Antwort ist,' die Riesen seien Sterne,
die sich noch auf dem Wege zum Stadium des weißen Zwerges befinden.
GAMOW [26] hat das Modell eines Sterns diskutiert, der in seiner Mittel-
punktsregion den Wasserstoff aufgebraucht hat und' nun einen verhältnis-
mäßig dichten isothermen Kern besitzt, an dessen Oberfläche weiterhin Kern-
reaktionen verlaufen. Ein Modell dieser Art könnte vielleicht einige Riesen-
typen darstellen. Die Lebensdauer der Riesen wäre dann beschränkt und
es fragt sich, ob man nicht zum mindesten für absolut alte und für sehr helle
Riesen ein anderes Modell braucht.
Hier müssen wir vielleicht eine Rechnung von CHANDRASEKHAR [27]
benutzen, aus der sich ergibt, daß für einen überdichten Stern je nach seiner
Masse zwei sehr verschiedene Modelle in Betracht kommen. Sie beruhen
auf der Verschiedenheit der Zustandsgleichungen eines entarteten Gases für
unrelativistische und für relativistische Geschwindigkeiten der Elektronen.
Vernachlässigen wir in einem entarteten Gas die Temperatur, so ergibt sich
sein Druck einfach aus der Unbestimmtheitsrelation. Beschränke ich ein
Elektron auf einen Raum von der Lineardimension ,,1 x, so muß ich ihm einen
Impuls ,,1 p von der Größenordnung hJL1 x zuführen. Diesem Impuls entspricht
.im unrelativistischen Grenzfall eine zu (,,1 p)2 proportionale Energie, während
die entsprechende Energie für Teilchen, die nahezu mit Lichtgeschwindigkeit
Gottinger Akademie·Festschrift. 8
114 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

bewegt sind, zu L1 p proportional ist. Nun ist der Druck, oder was bis auf
einen Zahlfaktcr dasselbe ist, die Dichte der kinetischen Energie propor-
tional zum Produkt aus der Massendichte e und der soeben angegebenen
Energie des einzelnen Teilchens. Da L1 x zum Radius des Sterns und dieser
zu e-~ proportional ist, ergibt sich schließlich für den nicht relativistischen
Grenzfall die Zustandsgleichung
P"" e§ (15)
und für den relativistischen Grenzfall die Gleichung
P"" e~ . (16)
Dieser kinetischen Energie muß die potentielle Energie der Gravitation das
Gleichgewicht halten, deren Dichte zu elR, also zu ei proportional ist. Man
sieht, daß im unr('lativistischen Grenzfall die potentielle Energie mit wach-
sender Dichte langsamer zunimmt als die kinetische; daher wird sich hier
ein Grenzwert der Dichte herausstellen, über den hinaus keine weitere Kon-
traktion möglich ist. Dieser Fall ist für die weißen Zwerge realisiert, die
eben darum nur eine sehr kleine Leuchtkraft haben. Im relativistischen
Grenzfall hingegen sind kinetische und potentielle Energie zur sei ben Potenz
der Dichte proportional. Wenn also die potentielle Energie für irgendeine
Dichte die kinetische überwiegt, d. h. wenn überhaupt ein Stern möglich ist,
so bleibt dieses Übergewicht für jede Dichte erhalten. Der Stern kann also
unbegrenzt kontrahieren, bis Effekte eintreten, die in unserer Überlegung
nicht berücksichtigt sind, z.B. die Wirkung der Kernkräfte, wenn der Stern
die Dichte eines Atomkerns erreicht. Auf dem Weg bis zu dieser Dichte wird
ein Energiebetrag frei, der auch für die hellsten Überriesen ausreichen sollte.
In der Nähe der Kerndichte wird es schließlich energetisch günstig, daß die
Sternmaterie sich in ein Neutronengas verwandelt [28]. Denn das Neutron
hat zwar eine höhere Energie als das Wasserstoffatom und ist daher im
freien Zustand instabil. Unter sehr hohem Druck wird aber schließlich der
Effekt der Verminderung der Anzahl der Freiheitsgrade durch die Ver-
einigung eines Elektrons und eines Protons zu einem Neutron überwiegen.
Ob derartige Neutronenkerne wirklich vorkommen, läßt sich wohl heute
noch nicht entscheiden.
Ob die relativistische Zustandsgleichung eintritt oder nicht, hängt von
der Masse des Sterns ab. Nach CHANDRASEKHAR sind die zwei Zustands-
gleichungen durch eine Grenzrnasse getrennt, die in der Größenordnung von
zwei Sonnenrnassen liegt. Auf den ersten Blick scheint also nichts im Wege
zu stehen, die Riesen mit Stcrnen oberhalb dieser Grenzrnasse zu identifizieren.
Es hat sich aber gezeigt, daß es keine stationären Sternmodelle mit über-
dichtem Kern, Riesenleuchtkraft und einer Atmosphäre von der bei den
Riesen beobachteten Ausdehnung gibt. Die Antwort liegt vielleicht darin,
daß die Atmosphäre der Riesen nicht als streng stationär angesehen werden
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 115

darf. Doch wird diese Frage nur durch Modellrechnungen entschieden werden
können, die noch nicht ausgeführt sind. Wir müssen also das Problem der
Riesen noch einer zukünftigen endgültigen Entscheidung überlassen.
Es ist nicht das Ziel des vorliegenden Berichts, die Fülle von Hypothesen
zu mustern, die für die außergewöhnlichen Sterntypen, vor allem für ver·
änderliche Sterne ulld für die auffallendsten unter diesen, die sog. Novae
und Supernovae aufgestellt worden sind. Es sei nur darauf hingewiesen,
daß die planetarischen Nebel, die man heute wohl allgemein als Folgeprodukte
von Supernova-Ausbrüchen ansieht, eine Struktur haben, die sich zwar
quantitativ, aber nicht qualitativ von dem soeben diskutierten Modell der
Riesen unterscheidet. Sie haben einen überdichten, sehr heißen Kern und
eine Hülle, für deren dynamisches Gleichgewicht die Strahlung dieses Sterns
eine entscheidende Rolle spielt. Im Gegensatz zu den Riesen ist die Hülle
für Licht durchsichtig und in einer Expansion von meßbarer Geschwindigkeit
begriffen. Sie gibt abe~ jedenfalls ein Beispiel dafür ab, daß unter Preisgabe
der Forderung der Stationarität ein Gebilde der geschilderten Art existenz-
fähig ist.
Ein kosmogonisches Problem, das mit den Fragen der Turbulenz und
Rotation eng verbunden ist, stellen die Doppelsterne dar. Man wird heute
wohl weniger dazu neigen, die Doppelsterne als das Ergebnis eines Zerreißens
eines rasch rotierenden Einzelsterns anzusehen; vielmehr liegt die Vermutung
nahe, daß enge Paare aus Materie entstanden sind, deren Drehimpuls von
vornherein zu groß war, um in einem einzelnen Sternkörper untergebracht
zu werden. Die Entstehung weiter entfernter Paare, die wir als visuelle
Doppelsterne kennen, ist vielleicht nur im Zusammenhang mit der Theorie
der Entstehung des Planetensystems zu erklären.
Die Bildung des kosmischen Staubs ist von ÜORT [29J und seinen Mit-
arbeitern ausführlich diskutiert worden. Wir wollen uns hier mit dem Hin-
weis auf seine Arbeiten begnügen.

6. Die Entwicklung des Planetensystems.


Im ersten Teil unseres Berichts sind die Gestalteigenschaften aufgezählt
worden, die das Planetensystem als ein Ganzes charakterisieren und die mit
der NEWToNschen Mechanik vereinbar, aber nicht direkt aus ihr ableitbar
sind. Wir haben sie nur noch zu präzisieren, indem wir bemerken, daß auch
die Mondsysteme ausgezeichnete Ebenen haben, welche, außer für die äußer-
sten Planeten, mit der Ebene des Gesamtsystems nahezu übereinstimmen und
daß sowohl der Umlaufssinn der Monde um die Planeten wie der Rotations·
sinn der Planeten selbst dem Umlaufssinn des ganzen Systems gleichgerichtet
ist. Eine Regel, welche die Folge der Abstände der Planeten von der Sonne
quantitativ formuliert, ist im 18. Jahrhundert von TITIUS und BODE ange·
geben worden. Sie lautet
(17)
8*
116 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

Hier ist r n der Anstand des n-ten Planeten von der Sonne, a und b sind
Konstanten. Obwohl diese Formel das Vorhandensein eines Planeten (der
sich nach der Entdeckung als die Schar der Asteroiden herausstellte) zwischen
Mars und jupiter richtig voraussagte, hat sie große Fehler. Merkur fügt
sich ihr nur scheinbar, denn man muß ihm die Nummer 1t=-oo zuschreiben,
d. h. die Regel würde eigentlich zwischen Merkur und Venus noch unendlich
viele Planeten fordern. Ferner fügt sich zwar Uranus, der auch zur Zeit der
Aufstellung der Regel noch nicht bekannt war, gut in sie ein; Neptun aber
fällt völlig aus dem Rahmen. Pluto steht etwa an der Stelle, an der nach
der Regel der auf Uranus folgende Planet stehen sollte; rechnet man so, so
wird Neptun überzählig. Eine bescheidenere Formulierung der Regel ist es
vielleicht, wenn man sagt, daß von Mars bis Uranus jeder Planet etwa doppelt
so weit von der Sonne entfernt ist wie der vorangehende, während weiter
innen und weiter außen Abweichungen eintreten.
Ein wichtiger Bestandteil des Systems sind die Kometen und die Me-
teoriten. Nach neuen Vntersuchungen von OORT [30] bilden die Kometen
ein tief in den Weltraum hineinreichendes etwa kugelsymmetrisches System,
in welches das flache Planetensystem in ähnlicher Weise eingebettet ist, wie
das flache Milchstraßensystem in die etwa kugelsymmetrische Wolke der
kugelförmigen Sternhaufen. Die Kometen, die ins Innere des Planetensystems
eindringen und für uns dadurch sichtbar werden, sind nur ein kleiner, durch
Störungen aus der ursprünglichen Bahn geworfener Teil des Kometensystems.
Die Gesamtmasse aller Kometen scheint übrigens die Masse eines kleineren
Planeten nicht zu überschreiten.
Die Meteoriten scheinen sich nach neueren Bahnbestimmungen [31] durch-
weg auf elliptischen Bahnen zu bewegen, also dem Sonnensystem anzugehören.
Ihre bemerkenswerteste Eigenschaft ist die Einteilung in Stein- und Eisen-
meteoriten, d.h. die Tatsache, daß bei ihrer Bildung offenbar eine chemische
Sonderung der schweren Elemente voneinander stattgefunden hat. Es ist
schwer zu sagen,. wo eine solche Sonderung hätte stattfinden sollen, wenn
nicht in einem Planetenkörper. Daher ist das Vorkommen der Meteoriten
vielleicht das stärkste Argument dafür, daß ein Planet oder mehrere Planeten
einmal durch Zusammenstoß zertrümmert worden sind. Doch ist dieser
Schluß wohl heute noch nicht als zwingend anzusehen.
Wir versuchen nun, die Entstehung des Systems nach unserem allge-
meinen Entwicklungsschema zu verstehen [2a]. Die schon von KANT her-
vorgehobene Gestaltanalogie mit den großen Sternsystemen wie unserer
Milchstraße, springt ins Auge. Der Gedanke liegt nahe, den Ursprung der
Planeten in einer Rotationsfigur zu suchen, die bei der Bildung der Sonne
vorübergehend entstanden ist und sich schließlich in den Sonnenkörper und
eine wieder in den Kosmos entweichende Hülle gespalten hat. Obwohl diese
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 117

Vorstellung wahrscheinlich eine erste Annäherung an die Wahrheit enthält,


muß sie wohl doch noch modifiziert werden.
Die Analogie mit einem Spiralnebel wird nämlich unvollkommen, sobald
wir versuchen, sie quantitativ durchzuführen. Im Spiralnebel ist der Durch-
messer des Kerns nur um einen Faktor 10 oder höchstens 100 kleiner als
der Durchmesser des ganzen Nebels. Der äußerste Planet ist etwa 1015 cm
von der Sonne entfernt, während die Sonne selbst einen Radius von nur
7X 1010 cm hat. Das Verhältnis ist hier also größer als 104 . Vielleicht noch
wichtiger ist der Unterschied, daß die Spiralnebel kerne offensichtlich rasch
rotieren und demgemäß abgeplattete Gestalt haben, während die Sonne eine
Rotation zeigt, deren Geschwindigkeit um einen Faktor von mehr als 100
kleiner ist als die Rotationsgeschwindigkeit rasch rotierender Sterne. Es ist
unverständlich, wie ein so langsam rotierender Stern als Zentralkörper einer
durch Rotation abgeplatteten Gasmasse entstehen kann. Auf diese Schwie-
rigkeit hat vor allem TER HAAR [32] hingewiesen. Selbst wenn die in den
Mittelpunkt sinkende Masse nur noch einen sehr kleinen Drehimpuls hat, so
zeigt sich doch bei allen Lösungen der hydrodynamischen Gleichung für solche
rotierende Nebel, daß das Gas in jedem Abstand vom Mittelpunkt noch
ungefähr diejenige Umlaufsgeschwindigkeit hat, die ein Gleichgewicht zwi-
schen Gravitation und Zentrifugalkraft gewährleistet. Dies wird erst anders,
wenn der Druck eine überwiegende Rolle spielt; in unserem Falle also erst
im Inneren des Sonnenkörpers. Die Masse müßte also auf der Sonnenober-
fläche mit einer Rotationsgeschwindigkeit ankommen, die etwa der Umlaufs-
geschwindigkeit eines Planeten an dieser Stelle entspricht, d. h. mit ungefähr
450 km/sec.
Da andererseits nicht nur die Sonne, sondern, wie in Abschnitt 5 bemerkt,
alle Sterne mit Ausnahme derjenigen Hauptreihensterne, die wir für jung
oder verjüngt zu halten Anlaß haben, frei von rascher Rotation sind, müssen
wir vermuten, daß es einen Mechanismus gibt, durch den die Rotation ver-
lorengehen kann. Das Problem der Planetenentstehung wird dann mit diesem
Mechanismus eng verknüpft sein. Eine Arbeit von LÜST [33] hat zu den
folgenden Vorstellungen über diesen Mechanismus geführt.
Löst man die hydrodynamischen Gleichungen einer um die Sonne rotie-
renden abgeplatteten Gasmasse analytisch, so ergeben sich 2 Typen von
Lösungen: Solche mit konstanter Masse und solche mit konstantem Dreh-
impuls. Die Lösungen mit konstantem Drehimpuls geben ständig Masse
nach innen auf den Sonnenkörper ab. Die Lösungen mit konstanter Masse
transportieren Masse und Drehimpuls immer weiter nach außen und können
nur aufrechterhalten werden, wenn die Sonne ständig auf den innersten Teil
des Nebels Drehimpuls überträgt. Falls eine solche Drehimpulsübertragung
stattfindet, führt sie in einer Zeit der Größenordnung 108 Jahre den über-
tragenen Drehimpuls in eine Entfernung von der Sonne, die der mittleren
118 eARL FRIEDRICH v. WEIZSÄCKER:

Entfernung der großen Planeten entspricht. Diese Lösung würde also den
für die Planetenentstehung notwendigen Nebel im richtigen Abstand von
der Sonne liefern. Die Frage ist aber, welcher Kopplungsmechanismus die
Drehimpulsübertragung von der Sonne auf den innersten Teil der Gasmasse
leisten kann.
ALFvEN [34J hat darauf hingewiesen, daß die Sonne durch die Einwirkung
eines ihr eingeprägten Magnetfeldes Drehimpuls auf ein umgebendes ionisiertes
Gas übertragen kann. Die Größe des Magnetfeldes der Sonne ist bis heute
ein strittiger Punkt. Direkte Messungen [35] und der Anblick der Corona [36]
sind am besten vereinbar mit der Annahme, daß die Sonne heute ein Dipol-
feld hat, das auf ihrer Oberfläche eine Feldstärke von ein paar Gauß besitzt.
Wenn die Sonne früher schneller rotierte, so hatte sie vielleicht auch ein
stärkeres Magnetfeld. Ein etwa 10mal stärkeres Magnetfeld würde sicher
ausreichen, um die Drehimpulsübertragung in einer Zeit von etwa 108 Jahren
zu leisten. Dabei müßte sich in der Nachbarschaft der Sonne ein Raum
befinden, in dem die Bewegungsverhältnisse durch das Magnetfeld bestimmt
sind. Dieser Raum würde starr mit dem Sonnenkörper mitrotieren. Die
Grenze zwischen ihm und der durch dif' turbulente Reibung beherrschten
äußeren abgeplatteten Gashülle liegt dort, wo die Energiedichte des Magnet-
feldes vergleichbar ist mit der Energiedichte der Turbulenz. Die Entfernung
dieser Grenze von der Sonne hängt natürlich vom Magnetfeld und von der
Dichte der umgebenden Materie ab. Eine Abschätzung ergibt einen Wert
in der Größenordnung von 1012 cm, d. h. eine Entfernung die um einiges
kleiner ist als der Radius der Merkurbahn. Die Sonne kann durch diesen
Mechanismus bis auf eine Rotationsperiode abgebremst werden, die gleich
ist der Umlaufsperiode eines Planeten, der an der Stelle des Übergangs
zwischen den bei den Bereichen um die Sonne lief. Wie KUIPER gesprächs-
weise hervorgehoben hat, stimmt dies gut überein mit der Tatsache, daß die
Rotationsperiode der Sonne von etwa 27 Tagen sich in die Folge der Umlaufs-
periode der Planeten, die bei 88 Tagen für Merkur endet, einfügt.
Nehmen wir an, daß die KANTsche Gasmasse sich auf diese Weise aus
der nächsten Nachbarschaft der Sonne in den Raum des heutigen Planeten-
systems ausgebreitet habe, so folgen nun die zwei weiteren Fragen, wie sich
die Planeten gebildet haben und wie die ursprüngliche Gasmasse verschwunden
ist. Diese Fragen waren für KANT nahezu identisch, da er annahm, daß
sich die Masse ganz in die Planetenkörper zusammengezogen habe. Wir
wissen aber, daß zum mindesten die inneren Planeten fast ausschließlich aus
schweren Elementen bestehen, die in der Zusammensetzung der Sonne und
der interstellaren Materie nur etwa 1 % der Gesamtmasse ausmachen. Dies
läßt wohl nur die Folgerung zu, daß die Planett"n nicht durch gravitative,
sondern durch chemische Aussonderung aus der ursprünglichen Masse ent-
standen sind. Der Schluß wird noch bestärkt durch die Seltenheit der Edel-
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 119

gase auf der Erde. Im Kosmos liegt z. B. die Häufigkeit von Neon zwischen
den Häufigkeiten seiner geradzahligen Nachbarelemente Sauerstoff und
Magnesium; ähnliches gilt für die anderen Edelgase. Auf der Erde sind die
Edelgase mit Ausnahme von Argon, das sekundär aus K40 entstanden sein
dürfte [37], etwa um den Faktor 105 seltener als ihre Nachbarelemente. Die
Erde kann diese Gase schwerlich sekundär verloren haben. Denn selbst wenn
man annimmt, sie seien bei der Bildung des Erdkörpers vollständig in einer
Atmosphäre versammelt worden und diese Atmosphäre sei nachträglich etwa
durch sehr hohe Temperaturen entwichen, so ist es dann unverständlich,
warum das Wasser, das ebenso schwer ist wie Neon, nicht entwichen ist.
Die Annahme einer Entstehung der Planetenkörper durch chemische Aus-
sonderung dürfte aber auch keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Staub-
körner können durch Aufsammlung von Molekülen oder kleineren Staub-
körnern weiter wachsen. Die Zeitskala dieses Wachstums läßt sich wie folgt
abschätzen: Die jetzige Gesamtmasse aller Planeten ist etwa ein Tausendstel
der Sonnenmasse. Schätzt man die Gesamtmasse des KANTschen Nebels zu
etwa dem 100fachen der heute in den Planeten vereinigten Masse, also zu
etwa 1/10 der heutigen Sonnenmasse, so ergibt sich eine mittlere Dichte jenes
Nebels von ungefähr 10- 9 g/cm 3 . Man kann nun ausrechnen, wie häufig in
einer Masse dieser Dichte Zusammenstöße der Moleküle und Staubkörner
stattfinden und bekommt für das Wachstum bis zur Planetengröße 107 bis
108 Jahre. Sollte das Wachstum in "Protoplaneten" (s. unten) stattgefunden
haben, so war es noch rascher. Allerdings müßte noch gezeigt werden, daß
die Zusammenstöße wirklich eine Tendenz zum Wachstum und nicht zur
Zertrümmerung der Staubkörner ergeben. Dies dürfte in einer nicht leicht
übersehbaren Weise von den Stoßgeschwindigkeiten, also von Turbulenz und
Temperatur, abhängen und stellt ein noch ungelöstes physikalisches und
chemisches Problem dar.
Wenn die Planeten durch chemische Aussonderung entstanden sind, so
war die Masse, in der sie entstanden, zunächst nicht allzu heiß. Die Annahme,
die Planeten hätten sich aus Sonnenmaterie bei Sonnentemperatur gebildet
und nachträglich abgekühlt, ist ein Relikt älterer nach-kantischer Ent-
stehungstheorien, für die sich heute schwerlich eine Rechtfertigung wird
finden lassen. Der KANTsche Nebel dürfte an jeder Stelle eine Temperatur
gehabt haben, die nicht allzu weit von der Oberflächen temperatur eines heute
an derselben Stelle stehenden Planeten abwich. Allerdings gibt es genug
Anlässe zur sekundären Erwärmung: Die Gravitationsverdichtung von Teil-
massen, die kinetische Energie der auf andere treffenden Materiebrocken und
schließlich die Radioaktivität im Inneren der entstandenen Planetenkörper.
Die Radioaktivität reicht bekanntlich allein aus, um heute das Erdinnere
auf einer hohen Temperatur zu halten und es scheint noch immer schwieriger
zu sein zu verstehen, daß die Erde sich nicht laufend erwärmt, als daß sie
120 eARL FRIEDRICH V. WEIZSÄCKER:

sich nicht abkühlt. Diejenigen Temperaturen, welche für die chemischen


Prozesse bei der Entstehung der Erdkruste und etwaiger Gliederungen des
Erdinneren notwendig gewesen sein mögen, waren also sicher verfügbar [38].
Die bisherigen Überlegungen erklären noch nicht die TITIUs-BüDEsche
Abstandsregel. Ein früher vom Verfasser zu diesem Zweck entworfenes
Wirbelmodell [2a] scheint vom heutigen Stand der Kenntnisse aus die
turbulenten Bewegungen zu sehr als regelmäßige Strömung idealisiert zu
haben. Der Grundgedanke dieses Modells wird wohl am besten in der von
TUÜMINEN [39] gegebenen Form ausgesprochen, daß die mittlere Größe eines
Turbulenzelements im KANTschen Nebel nach hydrodynamischen Gesetzen
proportional zu seinem Abstand von der Sonne sein muß. Rechnet man den
Abstand zweier sukzessiver Planeten voneinander etwa gleich dieser mittleren
Größe eines Turbulenzelements, so ergibt sich eine exponentielle Folge von
Abständen, also die Formel (17) unter Weglassung der Konstante a. Daß
die Ba~is des exponentiellen Faktors gerade den Wert 2 hat, ist nicht un-
plausibel, wird aber nicht quantitativ erklärt. KUIPER [40] hat empirisch
festgestellt, daß die Abstandsregel genauer formuliert werden kann, wenn
man die Massen der Planeten berücksichtigt. Massereiche Körper bean-
spruchen gleichsam mehr Einzugsgebiet für ihre Bildung.
Es bleibt aber noch die Frage, was die Größe von Turbulenzelementen
eigentlich mit dem Ort, an dem sich Planeten bilden, zu tun hat. KUIPER [40]
hat hierfür ein Modell angegeben, das sich noch enger als das ursprüngliche
Modell des Verfassers an die Ideen von KANT anlehnt. Wenn die Dichte im
KANTschen Nebel oberhalb einer von RÜCHE gegebenen Grenze liegt, so
überwiegt die Gravitationswirkung des Nebels auf sich selbst die Wirkung
der von der Sonne ausgehenden Gezeitenkräfte. Dann ist die Bildung pla-
netenartiger Körper in der von KANT ursprünglich angenommenen Art einer
gravitativen Zusammenballung möglich. KUIPER hat nun abgeschätzt, daß
die Dichte bei den heute plausibelsten Zahlen in allen Abständen von der
Sonne nur etwa um einen Faktor 10 unter der RücHEschen Grenze bleibt.
Wenn man bedenkt, daß die Turbulenz Dichteschwankungen hervorruft, liegt
es nahe anzunehmen, daß gelegentlich Turbulenzelemente gebildet wurden,
die gravitativ stabil blieben. Solche Gebilde nennt KUIPER Protoplaneten.
Die Vorstellung der Protoplaneten bietet eine verhältnismäßig unge-
zwungene Erklärung des Umlaufssinnes der Monde und der Planetenrotation.
Ein Protoplanet wird sich unter dem Einfluß seiner eigenen Schwere zusam-
menziehen. Das Tempo seiner Kontraktion wird davon abhängen, wie rasch
er die erzeugte Wärme loswerden kann. Zunächst muß er wegen der sehr
großen Gezeitenkräfte gebundene Rotation zeigen, d. h. er muß der Sonne
immer dieselbe Seite zuwenden. Dieses Gesetz kann er beim Zusammen-
schrumpfen nur beibehalten, wenn er Drehimpuls abgibt. Dies mag eine
Zeitlang durch turbulente Reibung möglich sein. Wenn er zu dicht geworden
Anwendungen der Hydrodynamik auf Probleme der Kosmogonie. 121

ist, wird es nicht mehr möglich sein und er wird nun mit dem Drehsinn des
Gesamtsystems, aber rascher als dieses, rotieren.
Die Entstehung der Planetenkörper und der Monde denkt sich KUIPER
in Analogie zur Entstehung des Sonnenkörpers und der Planeten. Der Proto-
planet übernimmt dabei die Rolle des KANTschen Nebels. Im einzelnen ist
die Theorie noch nicht durchgeführt. Wir wollen hier auf alle weiteren
Betrachtungen dieses Vorgangs, die notwendigerweise noch sehr spekulativ
sein müßten, verzichten. Nur der Hinweis sei gestattet, daß die Mondkrater,
die man ja wohl als Einschußspuren deuten muß, ein Argument für die
Entstehung des Mondkörpers aus Brocken im Sinne der soeben geschilderten
Theorie liefern. Das Fehlen analoger Strukturen auf der Erdoberfläche wäre
dann nur dem umgestaltenden Einfluß der Erosion zuzuschreiben.
Schließlich stellt sich die Frage, wie der K~NTsche Nebel bzw. in der
KUIPERschen Theorie auch der Protoplanet, soweit er nicht in die Körper
von Planeten und Monden eingefangen wird, sich auflöst. Die turbulente
Reibung führt zu einer immer größeren Ausdehnung des Nebels und dabei
nimmt seine Dichte ständig ab. Wenn die Dichte nicht mehr sehr viel größer
ist als im umgebenden interstellaren Raum, so dürfte sich der Nebel mit der
Umgebung vermischen; er wird dann gleichsam weggefegt. Nach einer Ab-
schätzung von LÜST ist anzunehmen, daß dies etwas mehr als 108 Jahre nach
der Entstehung der Sonne geschehen sein sollte.

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Eingegangen am 28. August 1951.


Chlorophylldefekte Mutanten.
Von
HANS VON EULER, Stockholm.
Mit 4 Figuren im Text.

Die Vererbung einer Eigenschaft muß an chemisch definierte Stoffe ge-


knüpft sein. Bevor in einem sich entwickelnden Individuum diejenige Eigen-
schaft bzw. der sie bestimmende Stoff zutage tritt, nach welchem wir die
Zugehörigkeit zu einer reinen Linie beurteilen, muß sich eine zu diesem Stoff
führende Entwicklungsreihe ausgebildet haben. Solche chemischen Ent-
wicklungsreihen mit den nach genetischen Methoden festgestellten Tatsachen
in möglichst direkte Beziehung zu setzen war ein wesentliches Ziel unserer
Untersuchungen.
Wir haben als erstes Versuchsmaterial Gerste, Hordeum distichum, gewählt
und haben versucht, durch vergleichendes Studium chlorophyllnormaler und
chlorophylldefekter Mutanten Stoffe zu ermitteln, welche in der Entwick-
lungsreihe des Chlorophylls liegen.
Wie bereits 1929 an NILSSON-EHLES Gerstenmutanten vom Albina-Typus
gezeigt werden konnte (EULER und H. NILSSON 1 ), findet man bei der Mendel-
spaltung dieser Pflanzen in den grünen Keimblättern zwei- bis dreimal so hohe
Katalasewirkungen als in den weißen Blättern. Damit war zum erstenmal ein
Zusammenhang einer speziellen quantitatiz' meßbaren Enzymwirkung mit einer
Mendelspaltung nachgewiesen worden.
Die Chlorophyll bildung ist im Vergleich zu normalen Individuen gehemmt:
1. In chlorophylldefekten Mutanten (z. B. von Hordeum distichum, Zea
Mays (LINDSTROM), Antirrhinum majus (STUBBE 2 ),
2. in Panachüren z. B. Tradescantia jluminensis,
3. bei infektiöser Chlorose der Malvaeeen z. B. bei Abutilon striatum
(FINDEMUTH und ERWIN BAUR, 1906), HERTzscH 3 .
Artifiziell können solche Hemmungen hervorgerufen werden:
a) Durch kurzwellige Strahlen, besonders Röntgenstrahlen (DEMEREC 4;
GUST AFSSON 5),
1 EULER U. H. NILSSON: Svenska Vet.-Akad. Ark. Kern., Mineral. Geol., Sero BIO,
Nr. 6 (1929).
2 STUBBE, H.: Z. Abstammgslehre 70, 200 (1935).
3 HERTZSCH, W.: Z. Bot. 20 (1929). - EULER u. HERTZSCH: Svenska Vet.-Akad. Ark.
Kern., Mineral. Geol., Sero BIO, Nr. 13 (1930).
• DEMEREC, M.: Cold Spring Harbor Symp. quant. Bio!. 3, 1 (1935).
5 GUSTAFSSON, A.: Lunds Univ. Arsskr., N. F. avd. 2, 36, Nr. 11 (1940).
124 HANS VON EULER:

b) durch chemische Einflüsse bei der Keimung z. B. durch Streptomycin!.


Viele dieser Chlorophylldefekte sind mit Katalasedefekten verknüpft!.
Die Chlorophylldefekte in den von NILSSON-EHLE beschriebenen Albina-
Typen der Gerste sind nach diesem Forscher 2 durch sechs voneinander un-
abhängige Gene verursacht. Welche Wirkstoffe in denselben vorliegen oder
sonst mit den Chlorophylldefekten verknüpft sind, ist noch nicht bekannt,
und deswegen kann man auch noch nicht mit Bestimmtheit sagen, inwieweit
diese Effekte mit den in Panachüren und in infektiösen Chlorosen vorhan-
denen und den durch Streptomycin erzeugten wesensgleich sind.
Der Umstand, daß in unserem Gerstenmaterial gleichzeitig mit dem
Chlorophylldefekt ein Katalasedefekt eintritt, legt die Annahme einer gemein-
samen Ursache nahe, die entweder darin zu suchen ist, daß die Synthese
eines gemeinsamen Ausgangsproduktes gehemmt ist, oder aber daß die Syn-
thesen der beiden Stoffe gleichzeitig (durch den gleichen Inhibitor) gehemmt
werden. Im ersteren Fall käme als gemeinsames Ausgangsprodukt das Por-
phyrin 3, und zwar das Protoporphyrin in Betracht.
Auf welchem Weg die Pflanzenzelle ihr Porphyrin bildet, ist trotz der
eingehenden Untersuchungen von WILLSTÄTTER und STOLL, HANS FISCHER,
H. FINK, K. ZEILE und D. KEILIN ganz unerforscht. Als Ausgangsmaterial
kommen unter anderen in Betracht Ornithin, Succinimid, Glykokoll. Schon
in den ersten Tagen der Keimung von Gerstensamen vermehrt sich der Por-
phyringehalt. Den Weg der Porphyrinbildung im keimenden Samen zu er-
mitteln ist zunächst eine entwicklungschemische Aufgabe. Da aber die Merk-
male "Grün" bzw. "Katalasenormal" erblich sind und nach dem MENDEL-
schen Gesetz spalten, da also Stoffe, welche die Chlorophyllbildung bzw. die
Katalasebildung in den untersuchten Mutanten katalysieren, in die Erbein-
heiten eingehen müssen, stellt der Entwicklungsvorgang von Chlorophyll und
Katalase auch ein wesentliches genetisches Problem dar.
Die chlorophyllbedingenden Faktoren (Gene) in den Chromosomen der
Gerste müssen sich jedenfalls beim Wachsen der Gerste fortpflanzen (neu-
bilden). Man kann die Annahme kaum umgehen, daß für jede Reaktionsphase
dieser Neubildung ein besonderer enzymatischer Katalysator erforderlich ist.
Dies würde in unserem Fall für die Entstehung des Merkmals "Grün" eine

1 EULER: Kem. Arb., N. F. II 9 (1947). - BRACCO, M., u. EULER: Kem. Arb., N. F. II


10 (1947). - EULER, M. BRACCO u. L. HELLER: C. r. Acad. Sei. Paris 227, 16 (1948).-EuLER:
Svenska Vet.-Akad. Ark. Kem., Mineral. Geol., Ser. A 26, Nr.6 (1948).
2 NILSSON-EHLE, H.: Hereditas (Lund) 3, 191 (1922).
3 Vgl. EHLER u. D. RUNEHJELM: Svenska Vet.-Akad. Ark. Kem., Mineral. Geol., Sero A
10, Nr. 10 (1930).
Der Menge nach macht der Porphyrinkern des Chlorophylls mit den aliphatischen Seiten-
gruppen etwa 70% des Chlorophylls aus. Per Gramm frische Keimblätter fanden wir [Here-
ditas (Lund) 18, 225 (1933)] einen Chlorophyllgehalt der Größenordnung 5 mg Chlorophyll,
entsprechend 3,5 mg Porphyrin. Die Porphyrinmenge in den weißen Albina-Mutanten ent-
spricht nur etwa ihrem Katalasegehalt.
Chlorophylldefekte Mutanten. 125
Vielzahl katalytisch wirkender Stoffe, unter anderem auch die an der Por-
phyrinbildung beteiligten, bedingen 1.
HANS FISCHER und Mitarbeiter 2 haben schon 1926 in verschiedenen
Pflanzen teilen, in jungem Saatgetreide, Mais, BrennesseIn usw., besonders in
Gerste Porphyrin nachgewiesen. Sie fanden, wie KEILlN, in ungekeimter
Gerste nach Sstündiger Extraktion mit Pyridin ein deutliches Hämochromo-
genspektrum.
Auch die an der Alge Chlorella gewonnenen Ergebnisse 3 sprechen dafür,
daß in grünen Pflanzen das Protoporphyrin als intermediäres Produkt der
Chlorophyllbildung auftritt.
Der Porphyrinaufbau im Tierkörper bzw. im Menschen ist in Zusammenhang mit Studien
über Porphyriekrankheiten sehr häufig behandelt worden, wie aus Monographien von SCHUMM,
BORsT und KÖNIGSDORFFER und GÜNTHER sowie aus der neue ren übersicht von W. STICH 4
hervorgeht. Wesentliche Beiträge zur Kenntnis der Porphyrinsynthese verdankt man
SHEMINS und RITTENBERGS 5 Isotopenforschung.
In biochemischer Hinsicht sind die Befunde bemerkenswert, daß Lakto-
flavin die Bildung von Protoporphyrin 9 zu fördern scheint 6 ; zweifellos geht
diese Wirkung über die laktoflavinhaItigen Co-Enzyme, besonders über
Flavindinukleotide, die Co-Enzyme bzw. die prosthetischen Gruppen der
Xanthinoxydase (BALL), der Diaphorasen (ADLER, EULER und GÜNTHER;
STRAUB; HAAS), der d-Aminosäure-Oxydase (DAS; ABRAHAM; KARRER und
FRANK), der Zytochrom-Oxydase und der Histaminase (ZELLER).
Laktoflavin soll auch die Eiseneinlagerung in den Porphyrinkern und
damit die Hämbildung fördern. In Pflanzen kann dieser Effekt hinsichtlich
der Hämderivate Katalase, Peroxydase 7 und Zytochrom in Betracht kommen.

Material.
Über das Gersten-Material, an dem wir den größten Teil unserer Unter-
suchung ausgeführt haben, mag unter Hinweis auf frühere Publikationen 8
folgendes erwähnt werden:
NILSSON-EHLE hat 1914-1922 bei einer Reihe von Kreuzungen zwischen
verschiedenen Chlorophyllmutanten der Gerste festgestellt, daß diesen Chloro-
phyllmutationen verschiedene Erbeinheiten zugrunde liegen. Die folgenden,
1 Statt in den Chromosomen die entsprechende Vielzahl von einzelnen Enzymen anzu-
nehmen, hat Verf. (11. Congres internat. de Path. comp., Paris 1932) die Wirkung von
"Enzymoiden" (Enzymkomplexen) in Betracht gezogen, also von Katalysatoren, in welchen
die in einem Molekülkomplex vereinigten Enzyme 1ll der Weise zusammenwirken, daß ein
Enzym sein Reaktionsprodukt unmittelbar an eine benachbarte Enzymgruppe abgibt. Stoffe
dieser Art dürften bei der Zellteilung die Selbstreproduktion der Gene vermitteln.
2 FISCHER, HANS, u. HILGER: Z. physiol. Chem. 138, 289 (1924). - FISCHER, HANS, U.
F. SCHWERDTEL: Z. physio!. Chem. 159, 120 (1926).
3 GRANICK, S.: J. of bio!. Chem. 172, 717 (1948).
4 STICH, W.: Naturwiss. 9, 212 (1950).
5 SHEMIN, D., U. D. RITTENBERG: J. of bio!. Chem. 166, 621 (1946).
6 VANOTTI: Helv. med. Acta 7,639 (1939). - STICH, W.: Dtsch. rned. Wschr. 1950, 1217.
7 EULER, H. HELLSTRÖM U. D. RUNEHJELM: Z. physio!. Chern. 182, 205 (1929).
8 NILSSON-EHLE: Z. Abstarnmgslehre 9, 239 (1913).
126 HANS VON EULER:

von NILSSON-EHLE und von C. HALLQVIST 1 genetisch charakterisierten Typen


von Gerstenmutanten wurden in unserem Arbeitskreis untersucht:
Albina (= NILSSON-EHLES Weiß) 1-7 (Albina 1 besonders eingehend),
Xantha (= NILSSON-EHLES "Gelb"), Alboxantha, Virescens und Chlorina.
In den Mutanten von Xantha und Alboxantha ist die Chlorophyllmenge
nur vermindert, nicht, wie bei Albina, = 0.
Im Herbst 1934 erhielten wir von Prof. H. NILSSON-EHLE drei neue, mit
"Primus" bezeichnete Mutantensippen, nämlich
Gelbweiß 1934 -333/26
Primus II {
Xanthalba 1934 333/52
Primus IV Xanthaurea 1934 --333/60
Chemisch sind diese Sippen, Primus II in erster Linie, dadurch gekenn-
zeichnet, daß sowohl die normalen wie die chlorophylldefekten Mutanten die
Indolbase Gramin, Cn H 14N 2 , enthalten 2. Dieselbe ist bisher nur in den grünen
Gerstenmutanten von Albina 1 und 3 gefunden worden.
Die Keimblätter von Albina sind, wie erwähnt, ganz weiß, ohne jede Spur
von grüner Farbe. Sie sind über den Keimlingszustand hinaus nicht lebens-
fähig. (Läßt man aber die Samen auf Zuckerlösung statt auf Wasser keimen,
so steigt die Lebensdauer von 2 bis 3 Wochen auf 5 bis 8 Wochen.)

Zur Methodik.
Die Keimung der Samen erfolgte nach einleitender Quellung in Wasser
(unter Zusatz von 0,1% H 2 0 2) bei Zimmertemperatur (17 bis 21°) in per-
forierten Blechkästen zwischen Filtrierpapier, das durch mehrmaligen täg-
lichen Wasserzusatz auf konstanter Feuchtigkeit gehalten wurde.
Die Keimung begann im Dunkeln; nach 3 bis 5 Tagen wurden die Pflänz-
chen dem diffusen Tageslicht ausgesetzt.
Bestimmung des Katalasegehaltes wurde vom 2. oder 3. Keimungstag an
ausgeführt. Dazu wurden die Keimblätter oder die Samenkörner mit Sand
unter Zusatz von Phosphatpufferlösung verrieben 3. Der Katalasegehalt,
genauer die Katalasewirkung 4, wurde festgestellt, indem, mit 0,01 n H 2 0 2
als Substrat, die Reaktionsgeschwindigkeit erster Ordnung, und zwar bei 0°,
gemessen wurde. Wegen Ausführung und Berechnung der Versuche sowie
HALLQVIST, C.: Hereditas (Lund) 5, 49 (1924); 8, 229 (1926).
1
EULER u. H. HELLSTRÖM: Z. physiol. Chem. 217, 23 (1933). - Katalasebestimmungen
2
von EULER u. RUTH WEICHERT: Svensk kern. Tidskr. 46, 301 (1934).
3 Auch bei gründlichem Verreiben mit Sand geht die Katalase keineswegs ganz in Lösung,
sondern ist zum Teil fest an Pflanzenteile gebunden; man darf also weder filtrieren noch
zentrifugieren, sondern muß die Emulsion als solche zur Wirkung bringen. Da die Katalase-
emulsion (selbst bei 0°) rasch ihre Wirksamkeit verliert, muß die Reaktionsgeschwindigkeit
unmittelbar nach dem Zerreiben des Materiales gemessen werden.
4 Wir bestimmen also die durch Aktivatoren und Inhibitoren beeinflußte Wirkung des
Enzyms. Bei keimender Gerste scheinen die Verhältnisse insofern günstig zu liegen, als
Inhibitoren der Katalase bisher nicht nachgewiesen werden konnten.
Chlorophylldefekte Mutanten. 127
bezüglich der Konstanz und der Reproduzierbarkeit der Reaktionskonstanten
kann auf frühere Mitteilungen 1 verwiesen werden.
Die Peroxydasewirkung wurde im wesentlichen nach WILLSTÄTTER und
STOLL 2 gemessen. [Siehe auch EULER, H. HELLSTRÖM und D. RUNEHJELM:
Z. physio!. Chem. 182, 217 (1929).]

Chlorophyllgehalt und Katalasewirkung in den Keimblättern


der normalen Gerste ("Goldgerste" und "Brage").
Die früheren Bearbeitungen unserer Gerstenmutanten bezogen sich fast
ausschließlich auf die Keimblätter (mit oder ohne Coleoptile). An Samen-
körnern (Albina 1) sind erst in letzter Zeit systematische (noch unpuhlizierte)
Katalasebestimmungen von Fr!. ELIANE GYLLING ausgeführt worden (Bul!.
Soc. Chim. Bio!. 34). Die Wurzeln von Gerstenpflanzen enthalten zwar meß-
bare aber relativ kleine Chlorophyllmengen. (Wurzeln von 7 normal grünen
5 Tage alten Albina-Pflanzen, Frischgewicht 118 mg, ergaben die Katalase-
wirkung k = 42.)
Chlorophyllgehalt. An Albina 1, Xantha 1 und 2 sowie an Goldgerste
(SVALÖV) haben wir viele Individuen auf ihren Chlorophyllgehalt untersucht,
und haben die Einzelbestimmungen in Kurven zusammengestellt (mittlerer
Gehalt rund 0,5 mg Chlorophyll je 1 g Frischgewicht der Keimblätter von
Goldgerste). Bis dahin war an einer chemisch definierten Eigenschaft, be-
sonders am Chlorophyllgehalt unseres Wissens weder die Konstanz noch die
Variationsbreite untersucht worden. Unsere experimentellen Kurven schließen
sich sehr nahe an die durch den Binomialsatz gegebene ideale Verteilungskurve
an. Bei Gerste scheint eine Beziehung zwischen dem Chlorophyll- und dem
Xanthophyllgehalt zu bestehen 3. Mit steigender Entwicklung nimmt etwa
zwischen dem 7. und 14. Keimungstag der Chlorophyllgehalt der Keimlinge
zu [HELLSTRÖM: Z. physioI. Chem. 183 (1929)].
Was den Mittelwert des Chlorophyllgehaltes der untersuchten Blätter be-
trifft, so muß schon hier betont werden, daß die Chlorophyllkonzentration
im wachsenden Keimblatt von der Blattbasis bis zur Blattspitze zunimmt,
und zwar für das in vier gleiche Abschnitte geteilte Blatt folgendermaßen:
Blattviertel oberst 2 3 unterst
Relativer Chlorophyllgehalt 0,75 0,62 0,55 0,27

Bekanntlich besteht das Chlorophyll der höheren Pflanzen aus einer


Mischung von Chlorophyll a und Chlorophyll b, denen WILLSTÄTTER und
1 EULER: Hereditas (Lund) 13. 61 (1929). - EULER. A. FORSSBERG. D. RNUEHJELM u.
H. HELLSTRÖM: Z. Abstammgslehre 59. 131 (1931); 60. 1 (1931).
2 WILLSTÄTTER. R.. u. A. STOLL: Liebigs Ann. Chem. 416. 21 (1918).
3 EULER. BURSTRÖM u. H. HELLSTRÖM: Hereditas (Lund) 18. 225 (1933). In grünen
Keimlingen von Albina fand HELLSTRÖM folgende Xanthophyllkonstanz: 107. 78. 67. 98.
124. 70. 98. während die Werte in den weißen Keimlmgen unmeßbar klein waren.
128 HANS VON EULER:

STOLL die Bruttoformeln CssH72üsN4Mg bzw. CssH7oü6N4Mg gegeben haben.


Durch Alkali werden sie verseift in die entsprechenden Chlorophylline und
in die Alkohole Methanol und Phytol.
Lichtelektrische Messungen von HELLSTRÖM und BURSTRÖM 1 zeigten folgen-
des: In Albina 1,2,3 normal, Alboxantha 1 normal und defekt, ist das Ver-
hältnis alb annähernd = 3 übereinstimmend mit dem von WILLSTÄTTER
und STOLL allgemein festgestellten Verhältnis. Die defekten Mutanten der
Xanthapflanzen enthielten
fast nur Chlorophyll a.
In chlorophyllfreien Keim-
blättern von Albina 1 ist
auch der normale Karo-
tinoidgehalt verschwunden.
Wie KARRER 1932 gezeigt
8
hat, bestehen Beziehungen
zwischen der Polyenkette der
Karotinoide und dem Phytol.
12,33 l.p5 1~35 15,35 16;35 17,35 18,35 1~35
a re/(Jlive Ch/oropby//werfe
Es ist nicht unwahrschein-
lich, daß in den chlorophyll-
freien Mutanten auch die
Phytolsynthese eine Hem-
mung erfährt.
Die verschiedenen Ger-
'I,5S 5,05 5,55 ~OS 6;55 ,?OS 7,55 8,05 ~S5 stenmutanten(Albina1, Xan-
b re/(J/tve C"/orophyl/werfe tha 1 und 2 usw.) unter-
Fig. 1 a u. b. Variationsbreiten des Chlorophyllgehaltes scheiden sich stark hinsicht-
bei X~ntha 2 (a) und Albina 1 (b).
lich des Chlorophyllgehal-
tes 2 ihrer Keimblätter. Über die Variationsbreiten von Albina 1 und Xantha 2
geben die folgenden Kurven (Fig. 1 a, b) Auskunft, die wir den Arbeiten von
EULER, B. BERGMAN, BURSTRÖM und HELLSTRÖM 3 entnehmen.
Bei diesen Versuchen waren zwar Verschiedenheiten der äußeren Bedin-
gungen möglichst ausgeschaltet; immerhin sollen eventuell bestehende phäno-
typische Einflüsse, besonders der Azidität und der Wuchsstoffkonzentrationen,
noch untersucht werden.
Wir haben im Anschluß an diese Versuche die Frage diskutiert, ob Stoffe
wie Chlorophyll innerhalb gewisser Grenzen in Mengen gebildet werden, welche
zu den Chloroplasten in einem konstanten Verhältnis stehen, ob also der
Chloroplast einer Zelle in gewisser Zeit eine konstante Anzahl Chlorophyll-
moleküle bildet.
1 HELLSTRÖM, H., U. D. BURSTRÖM: Bioehern. Z. 258, 221 (1933).
2 EULER, H. HELLSTRÖM U. D. BURSTRÖM: Z. physiol. Chern. 218, 241 (1933).
3 EULER, B. BERGMAN, D .. BuRSTRÖM U. H. HELLSTRÖM: Hereditas (Lund) 18 (1933);
21 (1934).
Chlorophylldefekte Mutanten. 129

In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, daß die weißen Albina-


Mutanten nicht nur kein Chlorophyll, sondern auch keine oder ganz anormale
Chloroplasten enthalten [Ber. dtsch. bot. Ges. 51, 283 (1933)]. Wenn also
der Chlorophylldefekt eigentlich ein Chloroplastendefekt bzw. eine Chloro-
plastendegeneration ist, und wenn der normale Chloroplast eine Einheit dar-
stellt, so wird ohne weiteres verständlich, daß zwischen der Chlorophyll-
konzentration normal und der Chlorophyllkonzentration 0 bei Albina keine
Übergänge auftreten, so daß also "grün" dominant ist.
Bei den defekten Mutanten von Xantha 1 hingegen ist die mittlere
Chlorophyllkonzentration 1/3 der Konzentration der normalen grünen Keim-
blätter. Der Chloroplast ist hier auch in den Blättern der defekten Mutanten
vorhanden, und es kann sich also hier nur um den Aufbau des Chlorophylls
selbst handeln, während bei Albina die Synthese oder die Vermehrung des
Chloroplasten selbst gehemmt zu sein scheint.
Der prinzipielle Unterschied zwischen Albina und Xantha kommt auch
hinsichtlich der Katalase zum Ausdruck: Bei Albina, dessen weiße Mutanten
keine normale Chloroplasten enthalten, ist der Katalasegehalt auf 1/3 des
Normalwertes erniedrigt (2/3 der Zellkatalase scheinen sich im Chloroplasten,
der Rest im Zellsaft zu befinden). Bei Xantha ist hingegen der Katalase-
gehalt der defekten Mutanten unverändert (vgl. Tabelle 3).

Katalaseverhältnis KV.
Katalasewirkung normaler und chlorophylldefekter Gerstenkeimlinge.
Bei den ersten, von EULER und H. NILSSON untersuchten Mutanten der
Sippe Albina 1 1622 bis 1927 hatte sich für den 10. Keimungstag das Katalase-
verhältnis (= Verhältnis der Reaktionskonstanten k der grünen und der
weißen Mutanten) KV = 2,8 ergeben. Der Wert von KV ist abhängig von
zahlreichen äußeren Einflüssen, von denen die wichtigsten hier erwähnt seien:
Keimungsdauer. KV steigt zunächst mit der Anzahl der Keimungstage,
etwa (je nach Temperatur) bis zum 6. bis 8. Keimungstag und nimmt dann
wieder ab, in manchen (seltenen) Fällen bis KV = 1.
Belichtung (Etiolierung). Für Albina 1 fanden EULER und RUNEHJELM
(H. 185, 74 1 ) die Katalasewirkung der nach Keimung im Dunkeln gelben
(normal grünen) Linie angenähert doppelt so groß als die der weißen Pflanzen.
Homozygoten und Heterozygoten. Bei der Sippe Albina 1 1622 bis 1927
wurde [Arkiv BIO, Nr. 6 (1929)1] die Katalasewirkung der Heterozygoten
ebenso groß gefunden als die der Homozygoten. In anderen Albina-Sippen
erwies sich später bei einigen Versuchsreihen die Katalasewirkung der Hetero-
zygoten ein wenig kleiner als die der Homozygoten.
1 Abkürzungen: Arkiv = Svenska Vetenskaps-Akademiens Arkiv für Kemi, Mineralogi
och Geologi. - H = Hoppe-Seylers Zeitschrift für physiologische Chemie.
Göttinger Akademie-Festschrift. 9
130 HANS VON EULER:

Temperatur. Auf einige Mutanten scheint die Temperatur insofern einen


Einfluß zu haben, als in mehreren Versuchsserien der Chlorophylldefekt der
bei 5 bis 8° gewachsenen Pflanzen gräßer gefunden wurde als der bei 18 bis
20° entwickelten. Dieser Temperatureffekt entspricht dem bei Panachüren
beobachteten.
Wuchsstoffe und Inhibitoren. Die Gerstensamen enthalten als wirksamen
Wuchsstoff in der Schaale den Faktor Z [EULER u. Mitarb.: H. 140, 146
(1924); 208, 281 t1932)].
Hemmungen der Wurzelentwicklung durch Malzextrakt, Eidotter usw.
treten gleichermaßen bei den grünen und weißen Albina-Mutanten auf!.
Konstanz der K ata-
Tabelle 1. Katalaseverhältnis der Albina-Sippen.
lasewirkung bei einer
Albina- Beobachter und Literaturhinweise 2 Sippe. Um diese Kon-
KV
Sippen
stanz kennenzulernen
Albina 1 2,8 EULER u. H. NILSSON: ArkivB 10, Nr.6 wurden in je einer Serie
Albina 1 3,3-5,5 STEFFENBURG, S.: H. 183, 113 (1929)
Albina 2 2,2 DAVIDSON, D., u. RUNEHJELM: H. 190, die grünen und die wei-
247 (1930) ßen Keimblätter gewo-
Albina 3 2,2 RUNEHJELM, D.: H. 185, 74 (1929)
Albina 4 1,75 HELLSTRÖM, H., U. RUNEHJELM: H. gen, zerrieben und zu
183, 205 (1929) der Substratiäsung ge-
Albina 5 3,3 STEFFENBURG u. HELLSTRÖM: H. 183,
113 (1929)
setzt. Für jeden Keim-
Albina 6 1,6 ling wurde eine Reak-
Albina 7 1,4 DAVIDSON u. RUNEHJELM: H. 190,247 tionskurve aufgenom-
(1930)
men und eine Reak-
tionskonstante berechnet. Man kann einen Vergleich je Keimblatt oder je g
Keimblatt anstellen. Als Beispiel für die Konstanz der Katalasewirkung
gleichheitlich gekeimter Samen sei die folgende Versuchsreihe (Albina 1928
Nr.1254; 7. Keimungstag) angegeben:
Grüne Mutanten k . 103 29,1 35,1 32,7 29,9 34,3 31,0
Weiße Mutanten k . 103 13,8 11,2 10,3 14,1 8,9 10,0
Mittelwerte k . 103 Grün: 31,5 Weiß: 11,3
Die KV-Werte der Tabelle 1 beziehen sich auf 7 Tage Keimungsdauer
bei 18°.
S. 128 wurde angegeben, wie stark der Chlorophyllgehalt der grünen
Albina-Keimblätter von der Basis zur Spitze hin zunimmt. Obere Hälfte:
untere Hälfte verhalten sich wie 76: 33. Bei den chlorophylldefekten, weißen
Albina-Mutanten geht das entsprechende Verhältnis der Katalasewirkung k
kaum über die Versuchsfehler hinaus: Obere Hälfte: untere Hälfte = 11,8: 10,3.
Die Verteilung der Katalase auf die Blatteile ist indessen nicht an das
fertige Chlorophyll gebunden; an einem etioliert gekeimten AJbina-Blatt war
1 EULER, D. BURSTROM u. G. GÜNTHER: Svensk kern. Tldskr. 46, 250 (1933).
• Abkürzungen: Arkiv = Svenska Vetenskaps-Akademiens Arkiv für Kemi, Mineralogi
och Geologi. - H = Hoppe-Seylers Zeitschrift für physiologische Chemie.
Chlorophylldefekte Mutanten. 131

am 9. Keimungstag die Katalaseverteilung : Oberstes Drittel 69; mittleres


Drittel 22; unterstes Drittel 15.

Andere stoffliche Unterschiede zwischen grünen und weißen Albina-Mutanten.


Zwischen den grünen und weißen Gerstenmutanten vom Albina-Typus
besteht eine Verschiedenheit bezuglich der Chlorophyllsynthese, welche als
genetisch bedingt erkannt ist. Außer dem ungleichen Chlorophyllgehalt der
grünen und weißen Keimblätter treten in diesen Mutanten noch andere
Verschiedenheiten auf, von welchen die den Katalasegehalt betreffende bereits
erwähnt ist.
Sonstige Komponenten der Chlorophyllmutanten sind in der genetischen
Literatur selten in Betracht gezogen worden. Untersucht sind die folgenden:
Eisen. Nach kolorimetrischen Messungen besteht weder hinsichtlich des
Totaleisengehal tes noch hinsichtlich des von HELLSTRÖM spektrophotometrisch
untersuchten Hämochromogengehaltes grüner und weißer Albina-Keim-
blätter ein Unterschied [Arkiv 10, Nr.11 u. Biochem. Z. 224, 481 (1930)].
Der Totalmagnesiumgehalt der grünen Keimblätter wurde in einer Serie
40% höher gefunden als derjenige der weißen [Arkiv, A 10, Nr.10; nicht
bestätigt in Z. physiol. Chem. 212, 53 (1932)].
Die Peroxydasewirkung wurde in den weißen Blättern ein wenig stärker
gefunden als in den grünen.
Kohlenhydrate. Frühere Versuche aus diesem Institut (STEFFENBURG,
r. GERNOW) zeigten, daß die chlorophylldefekten Albina-Mutanten geringere
Mengen löslicher Kohlenhydrate enthalten als die grünen und zwar im Ver-
hältnis 18: 26 am 6. Keimungstag. Durch Keimung in Glukoselösung nahm
der Zuckergehalt in den weißen Blättern um etwa 8 % zu 1.
Der natürliche Zuckergehalt der grünen Keim blätter ist nicht nur das Pro-
dukt der Photosynthese, wie ein Vergleich der grünen und etiolierten Blätter
zeigt. Der mit Phosphorylierung gekoppelte oxydative Zuckerumsatz muß die
Energie liefern für die mit der Chlorophyllbildung verbundene Synthese.
Die aus den Zuckerarten entstehenden Ketosäuren sind - mit Imino-
säuren als Zwischenprodukte - Ausgangspunkte der Aminosäuren, die dann
zum Teil der Umaminierung unterliegen [EULER, ADLER, GÜNTHER und
DAS: H. 254, 61 (1938)].
Der Umstand, daß die Atmung (Sauerstoffzehrung je g Frischgewieht)
in den weißen Mutanten erheblich erniedrigt ist, kann nur zum kleinen Teil
auf ihren geringen Zuckergehalt zurückgeführt werden; er dürfte vielmehr
auf den mit der Chloroplastendegeneration verbundenen Enzymsch~idigungen
beruhen. Niedrige Atmungsgrößen findet man auch bei den weißen Teilen
panachierter Blätter.
1 Zuckerbestimmung der mit Alkohol extrahierten Blatter nach SHAFFER-HARTMAN oder
nach G. BERTRAND. Siehe auch EULER, U. GARD u. G. RISLUND: Z. nhysiol. ehern. 203,
165 (1931).
132 HANS VON EULER:

Total-N-Gehalt, Proteine und ihre Spaltprodukte; Nukleinsäuren.


Für den Total-N-Gehalt der Albina-1-Mutanten der Gerste (analysiert
nach KJELDAHL; 1. LOEPER) wurden die Werte der Tabelle 2 erhalten.

00
Man kann annehmen, daß der Protein-
stoffwechsel, der im Wachstum der Pflan-
-0,83
zen zum Ausdruck kommt, auch den Auf-
bau der Plastiden regelt, und somit einer
Tabelle 2.

~0 9
I % N des
Trocken-
-0,66 Lellc!n I gewichtes
-0,60 Gnine Keimblätter} derselben 5,30
-0,57 ~Weiße Keimblätter Albina-Mutante I 4,67

0 -0,51 der Vorgänge ist, welche primär an der


anormalen Entwicklung der chlorophyll-
CJ D -0.'17 fyrosin
a A -0,'1'1 Tryptophan
defekten Mutanten beteiligt sind.
, I \
I I, I
\
\
I -0.'1-0
Wie die obigen analytischen Resultate
,~J \
... "'/ zeigen, ist der Unterschied des N-Gehaltes
der grünen und weißen Keimblätter nicht
sehr groß. Für die Chloroplastenbildung
tJ CJ-0,30 6Maminsäure

_0,23 Glycin
kommt übrigens wohl weniger die Menge
der anwesenden Proteine als ihre Zu-


-~2 Serin sammensetzung in Betracht.
- ,21
-0.18 Asparagin Zur weiteren Charakterisierung der

0
Proteine der Keimblätter ist die Methode
p -0.09 Cysfein
der fraktionierten Hitzekoagulation von
MENcKE [Z. Bot. 32, 273 (1938). - H.
~ 0 - 0 .05 257, 43 (1939) 1 besonders geeignet, auf
---9-8-=0,006 die wir an anderer Stelle zurückkommen
w. g-r. Rf werden.
Fig.2. Chromatogramme von grünen Es wurde nun versucht, Unterschiede
(gr.) und weißen (w.) Keimblättern. zwischen den Proteinen der grünen und
Versuchstemperatur bei der Chromato-
graphierung 22°. Die angegebene Wan- der weißen Mutanten durch Papierchro-
derung der Aminosäuren entsprach matographierung der bei der Hydrolyse
derjenigen der danebenstehenden
Flecken. der Blätter auftretenden Aminosäuren
zu finden (Fig. 2).
Zur Technik dieser Versuche sei folgendes mitgeteilt:
Je 3 Stück gleich große und gleich alte grüne bzw. weiße Keimblätter wurden fein zer-
schnitten und mit 0,5 ml konzentriertem HCl im siedenden Wasserbad 6 Std erwärmt. Nach
Zusatz von 0,5 ml Wasser wurde die Lösung filtriert und das Filtrat eingedunstet, wobei die
überschüssige Salzsäure entfernt wurde. Dann wurde der Rest mit 0,2 ml ~Wasser vollständig
in Lösung gebracht und mit wenig NaAc versetzt.
Chlorophylldefekte Mutanten. 133
Verwendet wurde Munkthells OB schnellfiltrierendes Papier. Lösungsmittel: 80 ml
n-Butanol + 20 ml Eisessig + 20 ml Wasser. Zur Entwicklung 0,5%ige Ninhydrinlösung +
NaAc. Entwicklungstemperatur 40° während 15 min im Wärmeschrank.
Wie man sieht sind die Chromatogramme der grünen und der weißen
Blätter einander sehr ähnlich.
Auch durch rein chemische Bestimmungen einzelner Aminosäuren wie
Tyrosin und Tryptophan [EULER u. Mitarb.: H. 212, 53 (1932). - LÖVGREN]
sind keine erheblichen Unterschiede zwischen den in weißen und grünen
Keimblättern enthaltenen Proteinen festgestellt worden.
Die Aminosäuren der Blätter stammen zum Teil aus den Reserveproteinen
der Samen, die dort einer enzymatischen Spaltung unterliegen. Unsere
Kenntnisse über den Aminosäurenstoffwechsel in Samen gehen zurück auf
die Arbeiten von RITTHAUSEN, SCHULZE und OSBORNE und die neueren
Untersuchungen von A. C. CHIBNALL\ dem man auch eine sehr bemerkens-
werte Monographie über den Eiweißstoffwechsel in Pflanzen verdankt.

Katalaseverhältnis anderer chlorophyllmutierender Sippen.


Auf den wesentlichen Unterschied der KV-Werte der Tabelle 1 und 3 sei
besonders hingewiesen.
Tabelle 3.
Sippen KV Beobachter und Literaturhinweise

Primus 11, Xanthalba . 1,2 } WEICHERT, R.: Svensk. kern. Tidskr. 46, 301
Primus IV, Xanthaurea 0,93 (1934)
Xantha 3 . . 1,0 EULER u. MORITZ: Arkiv, A 10, Nr. 11 (1930)
Virescens 6. . . 1,4 DAVIDSON u. RUNEHJELM: H. 190,247 (1930)
Alboxantha 1. .
1,1 } HELLSTRÖM, H. u. BURSTRÖM: H. 218, 241 (1933)
Xantha 1 0,85
Chlorina 1060/25 homozygot HELLSTRÖM, H. u. RUNEHJELM: H. 182, 205 (1929)

Bei den chlorophyllarmen Mutanten der in Tabelle 3 angegebenen Sippen


ist da~ Katalaseverhältnis nicht so klein, als dem niederen Chlorophyllgehalt
entspricht, es schwankt (mit einer Ausnahme) zwischen 1,1 und 0,85. Der
Chlorophylldefekt dieser Sippen scheint also zu der Katalase und vermutlich
auch zu ihrer Hämingruppe in keiner Beziehung zu stehen. Dagegen ist bei
jeder der Albina-Mutanten, die alle als genetisch verschieden erwiesen sind,
ein Erbmerkmal mit dem Fehlen von Katalaseeinheiten verknüpft.
Bei dieser Überlegung wird mit BATEsoN angenommen, daß das Merkmal
der rezessiven Mutation (in obigem Fal1 weißes Keimblatt) durch das Fehlen
eines Genes der normalen Allele veranlaßt ist. Eine solche Annahme ist aller-
dings nicht zwingend, vielmehr ist es möglich, daß bei Albina ein "weiß"
bedingendes Gen die Synthese eines Hemmungsstoffes für Chlorophyll und
Katalase enzymatisch vermittelt.
1 CHIBNALL, A. C.: Protein Metabolism in the Plant. Yale Univ. Press 1939. - CHIBNALL,
A. C. u. SCHRYVER: Biochemic. J. 15, 60 (1921).
134 HANS VON EULER:

Der an Albina-Sippen von Gerste nachgewiesene Zusammenhang zwischen


Chlorophylldefekt und verminderter Katalasewirkung tritt auch an anderen
chlorophyllmutierenden Pflanzen hervor.
Panachüren.
Wie schon erwähnt zeigen manche - keineswegs alle - Panachüren
abnorm niedere Katalasewirkung. Man findet deutliches Parallelgehen von
Chlorophylldefekt und Katalasedefekt, z. B. bei Antirrhinum-Sippen (EULER
und GARD, H. 203) und bei Tradescantia jluminensis.
Tradescantia fluminensis ganz weißes Blatt ganz grünes Blatt
k·10 3 1,2 6,2
Daneben findet man auch Fälle, wo trotz völligen Fehlens von Chlorophyll
eine Katalaseverminderung nicht festgestellt werden konnte. So wurde für
Pelargonium-Panachüren 1 der von SCHUHMACHER gefundene Katalasedefekt
später durch Versuche von Mo RITZ nicht bestätigt. Bei Brassica oleracea
kann man, wenigstens bei älteren Pflanzen, auf eine funktionelle oder gene-
tische Beziehung zwischen Katalase und Chlorophyll schließen. Deutliche
Beziehungen zwischen Ergrünungsfähigkeit und katalatischer Wirkung be-
stehen bei Cotelydonen von Cucurbita.
Bei einer künftigen systematischen Prüfung der Beziehung zwischen
Chlorophyllgehalt und Katalasewirkung ist der Gehalt an Chlorophyll und
an Eisenporphyrinen der weißen Blatteile genauer zu prüfen als bisher meist
geschehen ist.
Eine allgemeine Parallelität zwischen Chlorophyllgehalt grüner Blätter
unter ihrer Katalasewirkung ist natürlich nicht zu erwarten, da die Katalase
nicht nur am Enzymsystem der Chlorophyllsynthese, sondern auch an anderen
Enzymsystemen beteiligt ist.
Abutilonblätter bei infektiöser Chlorose.
Abutilon striatum, und zwar frisches und infiziertes Material, von Prof.
ERWIN BAUR aus seinem Institut in Müncheberg übergeben, wurde von
Dr. W. HERTZSCH in Stockholm weiter geimpft. Seinen Tabellen 2 silld die
folgenden Werte für k· 103 (Katalasewirkung) entnommen:
Gleichzeitig die } grüne Blatteile 240, 190, 260
gleiche Pflanze gelbe Blatteile 99, 105, 97
Gleichzeitig die
gleiche Pflanze,
1 grüne Blatteile 180, 185
gelbe Blatteile 42, 40
altes Blatt
1 Über die in verschiedener Weise vererbbaren Formen von Pelargonium zonale s. K. L.
NOACK [Jb. Bot. 61, 459 (1922)]. Die Mehrzahl der hier untersuchten chlorophyllfreien
Blatteile von Pelargonium zonale sind katalasedefekt.
2 EULER, W. HERTZSCH, S. MYRBÄCK u. D. RUNEHJELM: Svenska Vet.-Akad. Ark. Kern.,
Mineral. Geol., Sero BIO, Nr. 13 (1930).
Chlorophylldefekte Mutanten. 135

Auch hier zeigt sich der Katalasemangel der chlorophyllarmen Blatteile


am deutlichsten in den alten Blättern.
In diesem Abutilonmaterial konnte auch festgestellt werden, daß in den
chlorophylldefekten Blättern die gleichen Beziehungen zwischen Chlorophyll-
defekt und anormalen Konzentrationen von Xanthophyll, Karotin und
Tryptophan gelten, wie zwischen den Gerstenmutanten vom Albina-Typus.
Die von E. BAUR nachgewiesene Tatsache, daß der Chlorophylldefekt nur
in solchen Blättern zutage tritt, welche sich nach der Infektion entwickelt
haben, macht es wahrscheinlich, daß auch bei der infektiösen Chlorose die
Infektion durch das Virus in ein sehr frühes Stadium der Chlorophyllsynthese
eingreift.
Während im Gehalt des Tabelle 4.
Total-N je g Trockengewicht Trocken-! mg Total-N '[ mg Amino-N
zwischen grünen und weißen Blatteile gewicht je g Trocken- je g Trocken-
% I gewicht gewicht
Blatteilen kein wesentlicher
Unterschied besteht, wirdin den Grüne 27,8 I 40,2 I 4,15
weißen Blatteilen prozentisch Gelbe 23,0 38,4 6,33
mehr Amino-N gefunden.
Tryptophan wurde bestimmt (D. RUNEHJELM) nach E. KOMM (H. 156 und
161) und nach TILLMANNS (Biochem. Z. 198). Die absoluten Tryptophan-
gehalte (Prozent im Trockengewicht) betrugen:
grüne Teile 1,66 % gelbe Teile 1,29 %.

Chemische Einflüsse auf die Chlorophyllbildung und die Katalasewirkung_


Dem Studium chemischer Einflüsse auf die Chlorophyllbildung wurde
besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weil hier die spezifische Wirkung defi-
nierter Stoffe Aufklärung bringen kann über die chemische Natur der an
der Chlorophyllbildung beteiligten Enzyme und Substrate.
Streptomycin.
Versuche über den Einfluß des Streptomycins (S. A. WAKSMAN, 1944) auf
die Samenkeimung haben folgendes ergeben: Läßt man Getreidekörner, z. B.
von Gerste, 20 Std in Wasser quellen und dann in verdünnter Streptomycin-
lösung weiter keimen, so fällt außer der unspezifischen Verdickung und
Krümmung der Wurzeln noch eine spezifische Wirkung auf:
Schon am 4. bis 5. Keimungstag zeigen sich die Coleoptile verdickt und
das daraus hervortretende Keimblatt ist nur im oberen Teil grün, der untere
Teil erweist sich chlorophylljrei und rein weiß. Das zweite Blatt ist entweder
ganz weiß oder enthält nur eine kleine grüne Spitze. Steigert man bei der
Vorbehandlung die Streptomyeinmenge, so wird der weiße Blattanteil immer
größer, gleichzeitig nimmt aber auch der gesamte Blattzuwachs ab. Läßt
man Streptomycin schon während der Quellung zur Wirkung kommen, so
136 HANS VON EULER:

erhält man bereits mit niedrigerer Streptomycinkonzentration Blätter, welche


in ihrer ganzen Länge chlorophyllfrei sind.
Bereits gebildetes Chlorophyll kann in den Blättern durch Streptomycin
nicht zum Verschwinden gebracht werden.
Die Annahme liegt nahe, daß das Streptomycin vorzugsweise auf ein an
der Bildung einer Chlorophyllvorstufe beteiligtes Enzymsystem einwirkt.
Wie mit den meisten bisher bekannt gewordenen Chlorophylldefekten ist
auch mit dem durch Streptomycin hervorgerufenen eine Erniedrigung der
Katalasewirkung 1 verbunden.
Isolierte Katalasen und alkalische Phosphatase werden durch Strepto-
mycin nicht gehemmt.
Die an Streptomycin beobachtete chlorophyllhemmende Wirkung 2 wurde
noch (schwach) mit Dioxynaphtalin und mit Streptidin erhalten, dem Spalt-
produkt des Streptomycins, welches 2 Guanidylreste enthält 3. An anderen
Stoffen wurde dieser Effekt nicht gefunden, obwohl in dieser Hinsicht
zahlreiche Versuche angestellt wurden. Für das Verständnis der Chemie
der Streptomycinwirkung ist die Tatsache von besonderem Interesse, daß
Streptomycin unter gewissen Bedingungen imstande ist, Nukleinsäure und
Nukleoproteide zu fällen. M. BRAcco und Verfasser (Kern. Arb_ Oktober
1947) beschrieben diese Fällungen und stellten fest, daß auch Chloroplastin,
der Chlorophyllkomplex, zu dessen chemischer Aufklärung A. STOLL wesent-
lich beigetragen hat, durch Streptomycinlösungen geeigneter Konzentration
gefällt werden. Als Fällungsmittel für Ribo- und Desoxyribo-Nukleinsäuren
übertrifft Streptomycin das früher verwendete Kalziumchlorid und Sublimat 4
(s. Tabelle 5).
Tabelle 5.
Konzentration M/50 M/500 M/5000
Effekt nach Stunden 1 I 2 I 14 1 2 14 14
I
Streptomycin + ++ ++ + ++ ++ -
Kalziumchlorid + ++ - - - -
Sublimat. ++ ++ ++ - I - I - -
+ bedeutet starke Zunahme der Trübung; ++ Ausflockung.
1 EULER: Kem.-Arb., N. F. H. 9 (1947). - EULER u. M. JAARMA: Svenska Vet.-Akad.
Ark. Kem., Mineral. Geol., Sero A 25, Nr. 7 (1947).
2 Diese Wirkung ist keineswegs auf Gerste beschränkt, sondern zeigt sich ebenso deutlich
an anderen Pflanzen, wie z. B. an Phleum pratense, Lolium perenne, Raphanus radicicola und
Spinacia glabra. Wie die weißen Gersten-Mutanten vom Albina-Typus sind auch die mit
Streptomycin erzeugten weißen Pflanzen letal. Ihre Lebensdauer kann bis auf 6 Wochen
verlängert werden, wenn man sie statt in Wasser in verdünnter Rohrzuckerlösung + Am-
moniumnitrat keimen läßt.
3 EULER u. L. HELLER: Ark. Kem. I, Nr. 35 (1949). Die Beobachtungen des Verf.
über die Antichlorophyllwirkung des Streptomycins auf Gerste wurde neuerdings bestätigt
durch die Untersuchung von LUIGI PROVASOLO, S. H. HUTNER und ALBERT SCHATZ an
einem einzelligen Material, der Flagellate Euglena gracilis [Proc. Soc. exper. Biol. a. Med.
69, 279 (1948)].
, EULER u. L. HELLER: Ark. Kem., Mineral. Geol., Sero A 26, Nr.14 (1948).
Chlorophylldefekte Mutanten. 137

Die nach der Streptomycinbehandlung weißen Gerstenpflanzen (Brage-


gerste, Siegergerste) variieren bezüglich der Katalasewirkung der Keim-
blätter auffallend stark, wie folgende für je 1 Keimblatt erhaltenen k-Werte
zeIgen:
k· 103 = 280, 115, 212, 308, 140, 95, 281, 188.
60 dieser weißen Keimblätter wurden morphologisch untersucht. Fixiert mit Pikrinsäure
und Sublimat in absolutem Alkohol. Die in Paraffin eingebetteten Schnitte 12 Std mit
Eisenalaun gebeizt. Färbung 50 min mit Hämatoxylin.
Nur etwa 1/4der weißen Keim-
blätter zeigte die typische Degene-
ration der sehr kleinen Chromo-
plasten (ain Fig. 3). Etwa l / lO hatten
normale aber kleinere Chloropla-
sten (b in Fig. 3). Bei den übrigen
war die Degeneration nicht so stark
wie in a. Auch hier trat die früher
an Albina 1 beobachtete Vakuoli-
sierung auf (Ber. dtsch. bot. Ges.
51, 283).
Eine mikroskopische Unter- a b
Fig. 3 a u. b. Mesophyllzellen mit Chromatopho-
suchung zeigte, daß die chloro- ren. Bragegerste nach Streptomycinbehandlung.
phylldefekten Keimblätter nur Vergr. 1000 X .
wenig Chloroplasten, sondern fast
nur Leukoplasten enthalten 1. Streptomycin hemmt somit keine Teilreaktion,
die von einer nahe verwandten Vorstufe zum fertigen Chlorophyll führt,
sondern seine Wirkungen liegen in der Entwicklungsreihe weiter zurück 2 .
Unser Gerstenmaterial vom Albina-Typus mendelt, wie erwähnt, in re-
zessiv weiße und dominante grüne Mutanten (2/ 4 Heterozygoten, 1/4 Homo-
zygoten). Es war nun zu untersuchen, wie sich dieses Albina-Material gegen
Streptomycin verhält, ob also dessen Empfindlichkeit gegen Streptomycin
gegenüber der entsprechenden normalen Gerste verändert ist.
Um zu einem deutlichen Ergebnis zu gelangen, muß man die Samen mit
solchen Streptomycinkonzentrationen und nach solchen Quellungszeiten be-
handeln, daß wenigstens die Spitzen der Keimblätter noch deutlich grün
bleiben; nach einer Keimungsdauer von 10 Tagen werden die (heterozygoten)
Keimblätter 70 bis 125 mm lang und die Spitzen wurden in einer Länge von
5 bis 32 mm grün mit ziemlich scharfer Abgrenzung.
An 2 Versuchsreihen, A und B, waren die Ergebnisse 3 mit je 80 Samen
die folgenden (s. Tabelle 6).
1 Nach A. GUILLERMOND (Traite de Cytologie vegetale, Paris 1933) werden die ver-
schiedenen Plastiden durch Differenzierung von Chondriosomen gebildet.
2 Siehe hierzu auch EULER, M. BRACCO u. L. HELLER: C. r. Acad. Sei. Paris 227,16 (1948).
3 EULER: Z. Naturforschg. 56, 448 (1950).
138 HANS VON EULER:

Den bisher ausgeführten Untersuchungen zufolge reagieren die hetero-


zygoten, grünen Pflanzen der untersuchten Albina-Mutanten auf den Strepto-
mycineinfluß wesentlich stärker als die entsprechenden chlorophyllnormalen
Homozygoten, aber schwächer als die entsprechenden normalen Gersten-
sippen Siegergerste und Brage.
Bei dem an den untersuchten Heterozygoten beobachteten Streptomycin-
effekt superponiert sich eine chemisch bedingte Inaktivierung eines an der
Chlorophyllsynthese beteiligten Enzymes über die an den unbehandelten
Mutanten vorliegenden
Tabelle 6. (genetisch bedingten)
Anzahl Pflanzen Einflüsse.
A B
Antibiotika
20 weiße 21 weiße und Wuchsstoffe.
{
Albina 1
39 teilweise grüne 37 teilweise grüne
75 Y Strepto- 19 grime 19 grüne Durch Untersu-
mycinjml
2 ungekeimt 3 ungekeimt chung einer großen
16 weiße Reihe von Stoffen wur-
{
18 weiße
Albina I
59 grüne 61 grüne
unbehandelt
3 ungekeimt 3 ungekeimt de an Gerste wie auch
an Lepidium sativum
{
Siegergerste 65 teilweise grüne
75 Y Strepto- 16 grüne festgestellt, daß diesel-
mycinjml 3 ungekeimt
ben eine dem Strepto-

{
Bragegerste 61 teilweise grüne
63 y Strepto- 16 grüne mycin analoge Anti-
mycinjml 3 ungekeimt chlorophyllwirkung
nicht hervorrufen 1.
Unter diesen unwirksam befundenen Stoffen sind zu nennen:
Die Mitosegifte: Colchicin, Akridin, Digitonin; die Reduktionsmittel:
Hydrochinon, Floroglucin, Adrenalin und Arterenol; die Saponine: Chol-
säure und Glycyrrhicin.
Diese Stoffe, sowie Kobaltsalze zeigen zum Teil unspezifische Wirkungen
wie Streptomycin, besonders Verkürzung der Wurzeln (Bildung von "Klauen")
und infolgedessen verzögertes Wachstum der Keimblätter. Damit steht
zweifellos in Zusammenhang die Erniedrigung der Katalasewirkung der Keim-
blätter. In einigen Fällen waren die Chloroplasten deutlich verkleinert.

Die Entwicklung der Katalasewirkung in den Samen der Gerste.


Die Samen von chlorophylldefekten Mutanten sind nur gelegentlich, nie
systematisch untersucht worden. Auch nachdem der Zusammenhang zwischen
Chlorophyllgehalt und Katalasewirkung in den Keimblättern von Albina ent-
deckt war, sind die Vorgänge in den Samen noch nicht berücksichtigt worden.
1 Diese negativen Ergebnisse beruhen zum Teil wohl darauf, daß bei den Chlorophyll-
unwirksamen Stoffen die zur Chlorophyllhemmung notwendigen Konzentrationen bereits
über der Toxizitätsgrenze liegen und also eine allgemeine Hemmung des Stoffwechsels her-
vorrufen, bevor die Chlorophyllbildung bzw. der Chloroplast spezifisch angegriffen wird.
Chlorophylldefekte Mutanten. 139
In den normalen grünen Weizensamen hatten BACH, OPARIN und WÄHNER 1
unregelmäßige und sprunghafte Veränderungen des Katalasegehaltes ge-
funden. Oft wurde versucht, Brauereigerste durch ihren Katalasegehalt zu
charakterisieren. RHINE und GRACANIN beobachteten ein Maximum des
Katalasegehaltes während der Keimung.
Hinsichtlich des Katalasegehaltes in grünen und weißen Mutanten während
der Keimung ist ein Befund von E. GVLLING von Interesse: Läßt man
Albina 1 keimen und untersucht, etwa am 6. oder 8. Keimungstag, die grünen
und weißen Keimblätter, so ergibt sich, wie schon mitgeteilt, das Verhältnis
3: 1. In den Samen der gleichen'
500
Pflanzen besteht aber dieses Ver-
~~
hältnis nicht. Je nach der Anzahl 950
Keimtage (also je nach dem Alter "~
'" ,
900
der Pflanzen) findet man in den ~
grünen und weißen Gerstensamen ~ 350
~ \
das Katalaseverhältnis 1: 1 bis ~ 300
,
1\
........... -.!:..e!!...
1: 1,2.
Der Chlorophyllmangel der Blät-
~
'"
~ 250
\
ter ist begleitet von einer tiefen
Veränderung des Plasmas. Bezüg-
lich der Alternative, ob dieselbe
200

1503 9 5 G 7 8 9 10
-
....... grün

11
eine Folge oder Ursache des Chloro- Tage
Fig.4. Katalasewirkung in Abhängigkeit von
phyllmangels ist, können wir noch der Entwicklungszeit bei Samen von Albina 1.
keine Entscheidung treffen.
Man kann nun fragen: Bildet sich in den Samen eine Vorstufe des Chloro-
phylls aus, und in welchen Mengen kommt dieser Vorstufe in den Samen
der grünen und weißen Mutanten vor? Darauf kann geantwortet werden,
daß kleine Mengen von Hämatochromogen und Zytochrom c in den Gersten-
samen nachweisbar sind, und also eine Bildung von Porphyrin angenommen
werden muß, das ja als Chlorophyllvorstufe gelten kann.
Macht sich in den Samen ein Vorgang bemerkbar, welcher der in den
defekten Keimblättern auftretenden Chromatophorendegeneration entspricht?
Darüber liegen bis jetzt noch kei:Q.e entscheidenden Beobachtungen vor.
Besonders auffallend ist hinsichtlich der Samen von Albina 1 folgende
Tatsache: Während die chlorophylldefekten (weißen) Keimblätter, wie schon
einleitend erwähnt, schwache Katalasewirkung äußern, zeigen, nach Ver-
suchen von E. GVLLING, die Samen der entsprechenden Pflanzen keinen
Katalasedefekt, sondern erhöhte Katalasewirkung, und zwar nimmt die Dif-
ferenz gegen die Samen der gleich großen und gleich alten grünen Mutanten
mit der Entwicklungszeit und der Länge der Keimblätter zu (Fig.4).
1 BACH, A., OPARIN u. WÄHNER: Biochem. Z. 180, 363 (1927).
140 HANS VON EULER: Chlorophylldefekte Mutanten.

Zusammenfassung.
Bei den Gerstenmutanten, in welchen hinsichtlich des Chlorophyllgehaltes
eine MENDEL-Spaltung nachgewiesen ist, lassen sich 2 Gruppen unterscheiden:
1. Bei den Mutanten von Albina- Typus findet man in den rein weißen
Keimblättern nur 1/2bis 1/3der in den grünen Blättern beobachteten Katalase
(Katalasewirkung). In diesen weißen Blättern erweisen sich die Chloroplasten
weitgehend degeneriert.
Gleichzeitig mit dem Gehalt an Chlorophyll und Katalase ist in diesen
Blättern der Gehalt an Karotinoiden erniedrigt.
2. In den übrigen hier untersuchten Chlorophyllmutanten, nämlich denen
der Typen Xantha, Virescens, Alboxantha, Chlorina, Primus II Xanthalba
und Primus IV Xanthaurea, in welchen das Chlorophyll nicht vollständig
verschwunden ist und in welchen die Chloroplasten nicht oder ganz wenig
degeneriert sind, erweist sich die Katalase weitgehend unabhängig vom Chloro-
phyllgehalt der Keimblätter.
Die grünen und weißen Keimblätter der Gerstenmutanten vom Albina-
Typus unterscheiden sich wesentlich nur hinsichtlich solcher chemisch defi-
nierter Eigenschaften, welche direkt mit den Chloroplasten der Zellen zu-
sammenhängen. Demgemäß ist ihr Unterschied hinsichtlich des Protein-
gehaltes und der Proteinzusammensetzung (s. S. 132 und Chromatogramm)
gering. Der Schluß scheint gerechtfertigt, daß in den genannten Albina-
Mutanten die Degeneration der Chloroplasten die primäre Ursache des Chloro-
phylldefektes ist.
Auch in den Panachüren und in den weißen Blatteilen von Abutilon bei
infektiöser Chlorose ist der Katalasegehalt gleichzeitig mit dem Chlorophyll-
gehalt erniedrigt.
Neben der in den Chloroplasten von Albina enthaltenen mendelnden
Katalase findet sich im Zellsaft ein Teil der Katalase, welcher vom Chloro-
phyllgehalt der Blätter unabhängig ist.
Durch Keimen von Samen der Gerste in verdünnten Lösungen von
Streptomycin kann man Pflanzen mit chlorophyllfreien Keimblättern er-
zeugen. Auch in diesen weißen Keimblättern ist die Katalasewirkung relativ
gering. In einem Teil der nach Streptomycinbehandlung weißen Blätter
zeigt die morphologische Untersuchung· Degeneration der Chloroplasten
(Fig.3).
In den Samen der untersuchten Gersten von Albina-Typus, in denen eine
Chloroplastendegeneration nicht in Betracht kommt und die höchstens Spuren
von Chlorophyll und nur ganz geringe Mengen anderer Eisen-Porphyrinderi-
vate enthalten, ist die Katalasewirkung nicht kleiner als in den Samen nor-
maler grüner Gerstenpflanzen, sondern sogar noch etwa 15 % größer.
Eingegangen am 24. September 1951.
Mineralographie,
ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung
und technischer Anwendung.
Von
J. ARVID HEDV ALL.
Mit 20 Figuren im Text.

Wenn wir heute zurücksehen auf die Anfänge und die Entwicklung der
Chemie des festen Aggregatzustandes ist es schwer zu verstehen, daß der
Tatsache einer wirklich chemischen Reaktivität der festen Stoffe ein solches
Mißtrauen entgegengestellt wurde. Auch der klassisch Gebildete scheint unbe-
grenztes Vertrauen dem Lehrvater Aristoteles und seinem Sterilitäts dogma
"corpora non agunt nisi fluida" entgegengebracht zu haben. Ein junger
Realist im Anfang des 20. Jahrhunderts war dagegen entschieden weniger
orthodox. Vielleicht war es allerdings auf seine geringe Kenntnis der klassi-
schen Sprachen zurückzuführen, daß er, ohne wörtliche Übersetzung, die
aristotelische These als eine wohlmotivierte Bedingung einer gewissen Be-
weglichkeit der Partikeln auffaßte - einer Beweglichkeit ohne welche eben
eine chemische Reaktion nicht stattfinden kann. Es störte ihn keineswegs,
daß ARISTOTELES in lateinischer Sprache zitiert wurde, aber dies ist zu ver-
stehen, da auch die Philologen kein Erstaunen darüber zeigten.
Erst vor kurzem ist es Professor DÜRING gelungen herauszufinden, was
ARISTOTELES eigentlich gesagt hat. "Ta vyea flBl'XTa floJ.lGTa TWV GW{-lfJ.7:WV"
lautet die ursprüngliche These und sie sagt eigentlich nur, daß es vor allem
die flüssigen Stoffe sind, die zu chemischer Umsetzung geneigt sind. Über
Gase hatte man damals recht vage Vorstellungen, sonst würde sich der Satz
natürlich auch auf diese bezogen haben.
Auch ohne gründlichere klassische Bildung konnte man sich aber sagen,
daß ARISTOTELES' Regel eigentlich nur die Bedingung einer ge\vissen Be-
weglichkeit, und nicht nur der Vibration, der Partikeln in den Kristallen
beinhalten konnte. Hatte man außerdem ein besonderes Interesse für kri-
stallographische Umwandlungen so war es naheliegend anzunehmen, daß ein
fester Stoff gerade in diesem Zustand die Möglichkeit zur chemischen
Attacke haben könne; vielleicht sogar zur Umsetzung mit anderen festen
Stoffen. Tatsächlich war es nach einer Reihe vielseitiger Versuche möglich
die allgemeingültige Regel zu formulieren: feste Stoffe zeigen relative Maxima
der Reaktionsfahigkeit mit anderen festen, flüssigen oder gasförmigen Stoffen
142 J. ARVID HEDV ALL:

im Zusammenhang mit jeder Art von Umwandlung, rein strukturell oder ener-
getisch [1].
Viel früher jedoch sind schon andere Versuche ausgeführt worden, deren
Ergebnis eine der Metallographie analoge Forschung für die nichtmetalli-
schen, festen Stoffen forderte, nämlich eine Mineralographie.
Zuerst waren es die bei der Lötrohranalyse angewandten Reaktionen der
Kobaltsalze auf Zink, Aluminium, Magnesium und Zinn welche zur Unter-
suchung kamen (1912 bis 1915) [2]. Das Resultat war - außer einer Defi-
0/.0 nition der lange bekannten aber in ihrem Auf-
6'0 ~........ / bau unbekannten Produkte -, daß diese Verbin -
l/. , I
dungen und festen Lösungen zweifelsohne durch
I

reine Pulverreaktionen bei 800-- 900 0 mit er-


qO
I/~ , , I
I'

staunlicher Geschwindigkeit gebildet werden.


,
I
Dies waren die ersten, eindeutig nachgewiesenen
~
I
Umsetzungen zwischen nichtmetallischen, festen
l ,,=/ Stoffen. Daß dabei auch feste Lösungen gebildet
l)'/j' werden können zeigte, daß Pulverumsetzung
10

.-?rt ...
~

osoo 6'00 700 1100 9()0·C 10M


auch in Systemen ohne große Affinitätskräfte
möglich sind.
kmperotur Bei der Fortsetzung der Untersuchungen war
Fig. 1. Unterschiede in der es von nicht geringerem Interesse zu finden,
Reaktivität von Fe2 0 a bei der daß die Reaktivität der Oxyde in hohem Grad
Umsetzung mit CaO. Die aus-
gezogene Kurve gilt für Fe2 0 a von der \Vahl des Rohmaterials und von deren
hoher, irreversibler Fehlord- Herstellungsweise abhängig ist [3]. Es war beim
nung. Die gestrichelte Kurve
für normalgebautes Fe 20 a . damaligen Stand unsrer Kenntnisse von der
Struktur fester Stoffe (1915 bis 1916) noch nicht
möglich näher zu bt'stimmen was jetzt als Erbstruktur und irreversible
Gitterfehler bezeichnet wird, aber es waren die genannten Untersuchungen,
welche zusammen mit KOHLscHüTTERs topochemischen Arbeiten den Weg
zeigten.
Ohne Zweifel spielten dabei einige mit Fe 2 0 a durchgeführte Versuche eine
für diese Vorstellung wichtige Rolle. Diese bildeten auch die erste Brücke
zwischen Forschung und Technik auf diesem Gebiet. Beim Versuch der Dar-
stellung der bekannten schwedischen Rotfarbe durch direktes Rösten von
FeS 2 statt durch Erhitzen des durch Verwitterung in Oxysulfat übergeführten
Kieses ist festgestellt worden, daß die Bildung von Sulfat als Zwischenstufe
notwendig ist um den gewünschten Lüster zu erhalten und daß dieser gebunden
war an das Auftreten stark deformierter Eisenoxydrhomboeder, welche jedoch
keine andere kristallographische Modifikation als normales F e20a zeigen.
Bald nach dieser Untersuchung wurde festgestellt, daß die deformierten
Rhomboeder bei etwa 900 0 spontan in normal gebaute übergehen - bei
der gleichen Temperatur also, bei der die Rekristallisation des Eisenoxydes
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 143

eintritt. Gleichzeitig geht auch die schöne rote Farbe in caput mortuum-
Farbe über.
Ein solches Verhalten konnte nicht anders erklärt werden als durch das
Auftreten von Strukturrelikten des Ausgangsstoffes (Fe-Sulfat), wodurch
offenbar das Eisenoxyd in ein energiereiches Unvollkommenheitsstadium ver-
setzt wird. Eine entsprechend höhere Reaktivität wurde auch bald bei
Pulverreaktionen nachgewiesen [4] (Fig. 1) und FRICKE konnte einige Jahre
später den Energieüberschuß bei den in ihrem Gitterbau gestörten Oxyden
messen [5]. Die irreversiblen Gitterfehler, die von so unerhört großer

% ,..,
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o 7Z0 16"0 ZOO &"1(/ Z80 oe .JZO 0.03080 87 .93 .9.1 .9'1 .95 8• .97 .98 ggoC
kmperotur Tem/lerufur
Fig.2. Fig.3.
Fig.2. Reaktivitätsmaxima während der Umwandlung von Ag] bei der Umsetzung
BaO+2Ag] -->- Ba]2 2Ag t02. + +
Fig. 3. Einfluß der Umwandlung von Schwefel auf dessen Oxydation in einer KMn0 4 -
Lösung. Kurve 1 gilt für steigende Temperatur, Kurve 2 für die außerordentlich langsame
Umwandlung bei sinkender Temperatur.

Bedeutung sind für die verschiedenartige Aktivität eines festen Stoffes, sind
damit in die Forschung eingeführt worden. Damit ist auch die Grundlage
geschaffen worden für eine "Metallographie der Nichtmetalle" oder eine
Mineralographie. Die Bedeutung einer derartigen Mineralographie kann keines-
falls kleiner sein als die der Metallographie, nachdem die nichtmetall ischen
Stoffe nicht nur viel zahlreicher sind als die metallischen, sondern auch diese
in ihrer Struktur und ihrer Strukturempfindlichkeit viel mannigfaltiger sind
als die Metalle.
Der Zusammenhang zwischen der erhöhten Reaktivität und der nicht im
Gleichgewicht befindlichen Gitterausbildung war also bewiesen und damit
auch die Tatsache, daß die Reaktivität in statu nascendi nicht nur bei festen
Stoffen ebenfalls vorhanden ist, sondern auch noch dazu in Variationsmöglich-
keiten auftritt, welche bei den anderen Aggregationszuständen nicht ihres
gleichen haben. Mit besonderer Deutlichkeit ist dies bei kristallographischen
Umwandlungen und beim thermischen Zerfall hervorgegangen (vgl. Fig. 2, 3,
4, 5 und 6).
144 J. ARvlD HEDVALL:

Eine Änderung der Reaktionsfähigkeit tritt auch auf, wenn ein Teil der
Gitterbausteine durch fremde ersetzt wird, wie aus dem Unterschied der
BO
% l:~
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0/1 x
L ~
~ 11 1---+--f-+----1

0'170 1/20 'lJ0 111/0 °C lI5Q


Temperulur
Fig.4.
Fig.4. Reaktivitätsmaxima bei der Oxydation von AgCd im Zusammenhang mit seiner
Umwandlung.
Fig. 5. Einfluß der Umwandlung und des thermischen Zerfalles auf die Reaktionen zwischen
SiOz und NiO (untere Kurve), bzw. CoJO, (obere Kurve). Die große Ausbeute auf der
oberen Kurve ist durch das Zusammenfallen der Cristobalitbildung und des thermischen
Zerfalls von CoaO, zu erklären. In beiden Fällen beginnen die Reaktionen im
Zusammenhang mit der ß -+ ex-Umwandlung von Quarz.

Reaktivität von Mineralen und entsprechenden reinen chemischen Verbin-


dungen hervorgeht (vgl. Fig. 7 und 8) [6].
Die Regel von den relativen Akti-
vitätsmaxima bei derartigen Unvoll-
kommenheitszuständen gilt auch für
katalytische Prozesse, wie aus Fig. 9
hervorgeht.
Besonders die metallurgische und
silikatchemische Technik interessierte
° 08 .93 911 9S 08 .97 .98°e 99 sich bald für diese Laboratoriumsresul·
Temp9rutur tate. Für beide war es klar, daß sich
Fig.6. Maximum der Vulkanisierungs- dadurch einerseits ein großer Teil der
geschwindigkeit von Gummi während der
Umwandlung von Schwefel (Minimum an alten Erfahrungen über das Verhalten
freiem Schwefel). des Rohmaterials bei verschiedenartiger
Zusammensetzung und Vorbehandlung
erklären läßt und daß andererseits für alle festen Stoffe einer der bei den
Extremfälle gilt: Entweder will man ein dauerhaftes Produkt herstellen, welches
also so stabil als möglich gebaut sein muß, oder aber will man den hergestellten
festen Stoff als Reaktionskomponente anwenden, in welchem Fall dieser in so
reaktiver Form als möglich zur Anwendung kommen soll.
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 145

Direkte und indirekte Anwendungen zeigten sich hier bald vom Wert für
die Industrie. So wurde es ermöglicht durch Vorerhitzung von Ofenmaterial,
GO
%
,,
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10
50
% , x
,
8 '10
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oGOO
_e_ f-e~ -~..-J ~e-

700 800 .900


0
e 'hoB 2J8 21/8 258 2GB 278 288 &18
kmpef'ofuf' Temperotvr oe
Fig. 7. Reaktion zwischen CaC03 und Si02 • Fig.8. Einwirkung von in PbCl2 gelöstem
Kurve 1 entspricht einem Si02-Präparat wel- BaCl 2 auf die Umsetzung des Bleichlorids mit
ches geringe Mengen Fe 20 3 in fester Lösung BaO (-x- PbCI 2 ; --o--PbCI2 +O,1 Mol-%
enthält. BaCI2)·

welches Quarz oder Sillimanit enthält, den gefährlichen, reaktiven Umwand-


lungsprozessen der Cristoba,lit- bzw. Mullitbildung vorzubeugen und dadurch
das Material gegen den Angriff von Schmel-
7,G-r----,----,-----,---,
zen und Gasen zu schützen. Dies ist mög- "/0
lich, da eine Rückumwandlung der einmal
gebildeten Hochtemperaturmodifikationen
nur sehr langsam erfolgt. Es war auch von
methodischer Bedeutung die schon in Pul-
verform eingetretenen Umsetzungen zu
kontrollieren, da diese durch ihre Reak-
1,0r-----~--~----_+----~
tionsprodukte auf die bei höheren Tempe-
raturen verlaufenden Prozesse einwirken.
Auch die direkten Anwendungen waren
sehr vielfältig. Man konnte z.B. hochfeuer- Tempef'ofuf'
feste oder chemisch beständige Spezialziegel Fig. 9- SOa-Bildung über Quarz als
Katalysator im Gebiet der
durch Pulverreaktion herstellen, d. h. ohne ß ~ <x-Umwandlung_
die Anwesenheit von verunreinigenden oder
sonst störenden Schmelzen [8]. Im Ausland, besonders in Amerika und in
Deutschland kamen derartige Methoden hald zur Anwendung. Von ganz
besonderem Interesse sind solche Verfahren natürlich für die noch junge
und wenig entwickelte Sinterkeramik.
Die Versuche, den Grund zu einer Reaktionslehre der festen Stoffe zu
legen, führten auch zur Entdeckung einer Reihe vorher unbekannter
Gbttmger Akademie·Festschrift. 10
146 J. ARvID HEDVALL:

Reaktionstypen, welche bei geeignet gewählten Systemen unter äußerst leb-


hafter, manchmal sogar explosionsartiger Umsetzung schon bei niedrigen
Temperaturen erfolgen [9]. Folgende Beispiele seien angeführt:
M'O + M"XO n --+ M'XO n + M"O + Q (Reaktionswärme) ;
wie unter anderen:
CaO + Cu so, --+ CaSO, + CuO;
BaO + CaSiOa --+ BaSiOa + CaO
oder
MgO + FeO' Crpa--+ MgO' Crpa + FeO.

Der Beginn solcher Reaktionen kann bereits bei etwa 200° bemerkbar sein,
aber rasch verlaufen sie erst bei Temperaturen, die von der Art des Zusatz-
oxydes (M'O) bestimmt werden - mit BaO liegen sie bei etwa 350° und mit
CaO bei kurz oberhalb 500°. Hat aber das Salz eine Umwandlungstemperatur,
dann wird die rasche Umsetzung von dieser bestimmt [10]. So reagieren
z. B. alle geeigneten Oxyde mit Ag 2 S04 bei 325° entsprechend beispielsweise:
CaO +Ag2SO, --+ CaSO, + 2 Ag + ! °2 ,
Wird statt CaO metallisches Magnesium zugesetzt, so tritt bei der gleichen
Temperatur, wegen der stark reduzierenden Wirkung des Metalls, eine heftige
Explosion auf. Andere Typen und Beispiele sind folgende:
M'O + M"X --+ M'X + M"O + Q [l1J
und
M'O + M"X + 02 --+ M'XOn + M"O [12J,
wie z.B.
CaO + PbC1 2 --+ CaC1 2 + PbO,
BaO + NiJ 2 --+ BaJ2 + NiO;
oder
CaO + FeaC + 02 --+ CaCOa + Fe20 a '
MgO + FeP + 02 --+ Mga (PO')2 + Fepa.
BaO + FeSi + 02 --+ BaSiOa + Fepa.
CaO + PbS + 02 --+ CaSO, + PbO,
CaO + CuSn + 02 --+ CaSnOa + CuO.
Auch diese Reaktionstypen waren vorher nicht bekannt und ihre Wir-
kungen, besonders bei metallurgischen Prozessen, konnten jetzt erklärt werden.
Ein Besuch in einer Glashütte und die dabei gemachte Beobachtung, daß
die Arbeiter brennenden Schwefel in den Kühlofen werfen "um die richtige
Haut auf den Flaschen zu erhalten" gab den Anstoß zur Untersuchung des
bis dahin ebenfalls unbetretenen Gebietes über das eigentliche Verhalten
fester Stoffe gegen ihre Umgebung. In der Metallographie war es schon lange
bekannt, daß sich Gase in Metallen auflösen können und dadurch deren
"body" verändern. Den nichtmetallischen Stoffen aber war in dieser Hinsicht
keine Aufmerksamkeit geschenkt worden.
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 147

Es zeigte sich aber, daß auch diese sehr empfindlich sind gegen eine der-
artige Einwirkung von Gasen. Zum Beispiel reagierte Quarz mit anderen
Oxyden mit einer ganz anderen llS
Geschwindigkeit wenn dieser in "Ja
Sauerstoff oder in Stickstoff vor- /.,
ZO
erhitzt worden war. Dieser Gas- / ; /
einfluß kann nur durch eine Auf- ~
~ 75 """;,'""" " ..;
lösung der Gase erklärt werden =
[13]; wodurch nicht nur der Ver- ~
lauf der Rekristallisation und 70
/...:;
.......
/..-:,
~ V / '

~
damit die Reaktionsoberfläche,
~
~
sondern auch die Oberflächenakti- 5 700
750 BOO BSO .900 .96"0 C 7000
0

vität rein qualitativ und energe- Temperotvr


tisch verändert werden [14]. Fig.lO. Umsetzung von CaO mit Si0 2 nach Vor-
In einer Arbeit auf diesem erhitzungbei in Luft (0) bzw. in Sauerstoff (Kurve 1
600°, Kurve 2 bei 900° C).
Gebiet ist auch zum erstenmal
gezeigt worden, daß ein z. B. durch Erhitzen eines Salzes hergestelltes Oxyd
je nach der Atmosphäre bei der Vorerhitzung eine verschiedene Oberflächen-
aktivität erhält [15]. Uno in diesem Zusam- 1/
menhang ist auch die Aufmerksamkeit darauf ~
gerichtet worden, daß sowohl Technik wie
Forschung bei der Verwendung von Präpa- \ C+H
raten nicht nur deren chemische Analyse ~
sondern auch auf deren Struktur zu kontrol- ~ \
J~
lieren hat. Versuche zeigten die Bedeutung ~
~ .'j{
t
dieser Kontrolle z. B. in der Farbenindustrie, ~
wo der Trocknungsprozeß des Leinöls sich so-
wohl qualitativ als auch quantitativ ändert mit .~
z . . .,1'
der Struktur des verwendeten Pigments [16J. :s::: \.
Vor kurzem führte SANDFORD im hiesigen "'-§ \
Institut die ersten technischen Versuche über <.> 7 ". ~"
die Einwirkung gelöster, in gewöhnlicher Hin- _x~i\

I
X~i
I
i
sicht chemisch inaktiver Gase auf die Ober-
flächenaktivität fester Stoffe aus [17]. Bei
diesen Untersuchungen über keramische Scher- o 300 qOO 6'00 800 WO oe
Temperotur
ben wurde konstatiert, daß sich die für die I/mwontllunu
Haftfestigkeit der Glasur so wichtige Wasser- Fig. 11. Einfluß der Umwandlung
absorption stark ändert mit den atmosphäri- zwischen Anatas und Rutil auf die
Oxydation von Leinöl.
schen Verhältnissen im Brennofen.
Ähnliches gilt für alle festen Stoffe unter entsprechenden Bedingungen
und hat bereits zu einer besseren Überwachung des Kühlprozesses in Glas-
hütten geführt.
10*
148 J. ARvID HEDVALL:

Die Chemiker haben, wenn sie die Reaktivität eines Stoffes ändern wollten,
sich bisher nur einer Variation deren termischen Zustandes bedient. Wenn
man durch die Tradition nicht all zu verblindet war lag es nahe auch zu
untersuchen ob nicht elektrische, magnetische oder durch Bestrahlung her-
vorgerufene Zustände eine ähnliche Wirkung ausüben könnten. Theoretisch

I x_I-
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310 330 &10 NO 35Q .!6'0 oe .110 JJ() 350 .170 3.90 1110
Temperotur
Fig. 12. Änderung im katalytischen Effekt Fig.13. Änderung der katalytischen Wir-
von reinem Nickel beim Durchgang durch den kung (2 CO -+ COz +
C) und Entmagneti-
+
Curiepunkt für die Reaktion N 20 -+ N z t 02 . sierungskurve von unreinem Nickel.

gesehen ist es selbstverständlich, daß es einen derartigen Einfluß geben muß,


denn jede Störung eines Kristallgitters, ob materiell oder energetisch, muß
auf die Oberflächenaktivität von Einfluß sein. Die Frage war nur ob diese
30 Effekte so groß sind, daß sie beobachtet werden
!;I, 0/.
§3D
1/~ / können. Manche Gittertheoretiker haben sich
§g /x ,.."... in dieser Hinsicht zweifelnd verhalten. Der Ver-
~
~ 70 - . / such erschien jedoch nicht all zu abschreckend,
1 denn es war ja klar, daß bei komplizierten Fällen
o 19 303132 6'3·0311 verläßlichere theoretische Berechnungen nicht
Temperotur
Fig. 14. Änderung der Auf-
gemacht werden konnten. Noch heute wissen
lösungsgeschwindigkeit von wir viel zu wenig über die Deformationen im
Seignettesalz am elektrischen Gitterbau um genaue Berechnungen dieser Art
Curiepunkt.
durchführen zu können. Überhaupt sind unsere
Kenntnisse über die Gitterstruktur bei höheren Temperaturen recht unvoll-
ständig. Schon die Begriffe Gitterloch und Störstelle an sich werden oft
sehr schablonenmäßig aufgefaßt.
Tatsächlich zeigten Versuche, daß Änderungen im magnetischen wie auch
im elektriscnen Zustand fester Stoffe durchgreifende Änderungen der Ober-
flächenaktivität sogar in solchen Fällen hervorrief, wo keine eigentlichen
Strukturänderungen auftreten (vgl. Fig. 12 und 13). Nickel, Eisen, Ferrite,
Heuslerlegierungen und andere ferromagnetische Stoffe zeigten beim Übergang
in den paramagnetischen Zustand so abrupte Änderungen von z. B. ihrer
Katalysatorwirkung oder ihrer Oxydierbarkeit, daß es durch Beobachtung
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 149

.rtiger chemischer Effekte sehr wohl möglich ist Curiepunkt oder Curie-
~vall zu bestimmen [18J. Das gleiche gilt für spontane elektrische Um-
risationen (vgl. Fig. 14). So ändert sich die Auflösungsgeschwindigkeit
Seignettesalz z. B. plötzlich beim Durchgang durch den elektrischen
epunkt [19].
~s würde zu weit führen für alle diese neuen Effekte auch quantitative
lltate anzuführen. Es mag genügen hier ein Bild über den kinetischen
Verlauf des katalytischen Ameisen-
säurezerfalles über einer ferromagne-
tischen Co-Pd-Legierung im CURIE-
Intervall zu geben (vgl. Fig. 15). Die
Versuche zeigen, daß die größere kata-
lytische Aktivität des paramagneti-
schen Zustandes zurückzuführen ist
o
0/0 l\
70 x . - - - - , - - - - - , - - - - - ,

~6'0 \
~
::;,: x

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1:
~
1/0 x
r-..... -x x
{5
"'" 80 f - - - - f - - - - + - - - - I
o
Curie-
interv{lI/ Temp. oe Zeit
Fig.15. Fig. 16.
5. Änderung des Ameisensäurezerfalls an einer Co-Pd-Legierung am Curiepunkt (Kinetik).
6. Aktivierung der Adsorption im System Zinksulfidphosphor Lanasollösung; die +
~Kurve gilt tür Dunkeladsorption, die obere im Licht. Rückgang vom Gleichgewicht
bei Belichtung zum Dunkelwert.

'ine weitaus größere Konzentration der aktiven Zentren als beim ferro-
letischen Zustand. Diese Ergebnisse stimmen mit ähnlichen Erfahrungen
IÄCKERS überein [20]. Eingehende Untersuchungen über den Einfluß der
tronenzustände in den bei den Fällen sollen natürlich ausgeführt werden
sind schon von E. JUST! in Braunschweig begonnen.
[an konnte aber noch weiter gehen: Auch eine Erregung der Atome durch
tabsorption kann in diesem Aktivitätszusammenhang nicht ohne Einfluß
Tatsächlich mu,ß jeder lirhtabsorbierende Stoll eine Chemie im Licht und
andere im Dunkeln haben.
:s war naheliegend derartige Effekte durch Anwendung von Phosphoren
dsorbens zu untersuchen. Fig.16 zeigt beachtliche Zunahmen der Menge
~bierten Farbstoffs bei Belichtung. Natllrlich wurden bei diesen wie bei
150 J. ARVIN HEDVALL:

allen anderen angeführten Versuchen sämtliche Faktoren außer den absicht-


lich variierten konstant gehalten [21].
In diesem Zusammenhang ist es interessant zu erfahren, daß sich auch
die Auflösungsgeschwindigkeit bei Belichtung mit absorbierbarem Licht
ändert [22], [23], und daß bei ein und demselben Stoff die Photoempfindlich-
keit variiert mit den kristallographisch ungleichwertigen Oberflächen. Bei
CdJ2 beispielsweise werden die Prismenflächen, nicht aber die Basisflächen
bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht 5
geschwärzt [24]. Std
a. b
Bei Prozessen, bei welchen die Ober- q.
flächen aktivität eine Rolle spielt - und
3 Beo/roll/uno
1'1' .'
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~

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J~ .""
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70 11m!n
I
28
3502GO 370 380
Zeit 26'5
Fig.17. Fig.18.
Fig. 17. Einwirkung von Ultraschallwellen auf die Anlaufgeschwindigkeit von Kupfer in
Joddampf. Die obere Kurve (2) zeigt den Einfluß bei fester Kuppelung an den Generator
(yB = 0,29 • x); Kurve 1 bei lockerer Kuppelung (ya = 0,63 . x) und die unterste Kurve den
Anlauf ohne Einwirkung von Ultraschall (x Anlaufzeit, y Schichtdicke).
Fig.18. Änderung der Katalysatorwirkung von Nickelpulver mit und ohne Bestrahlung mit
elektromagnetischen Wellen. Kurve a ist die Temperaturkurve, Kurve b die Ausbeutekurve
des N 20-Zerfalles, aufgenommen durch das Schreibwerk des Gasanalysenapparats.

das ist bei allen festen Stoffen und deren Anwendungen der Fall
spielt die Entstehung und das Wachstum von Reaktionskeimen sowie die
Konzentration und der Charakter der ungesättigten Teilchenanhäufung,
welche TAYLoRsche Spitzen oder aktive Zentren genannt werden, eine große
Rolle. Wir wissen noch recht wenig darüber [25], aber es war anzunehmen,
daß Ultrabeschallung auf diese Prozesse nicht ohne Einfluß sein würde.
Versuche in dieser Richtung bestätigten die Annahme. Wie aus Fig.17
hervorgeht ist die Anlaufgeschwindigkeit von Metallstäben im beschallten
Zustand wesentlich größer als die im unbeschallten [26]. Durch eine be-
sonders empfindliche Anordnung war es bei diesen Versuchen möglich exakte
mathematische Ausdrücke für den Reaktionsverlauf bei verschiedenen Tem-
peraturen zu erhalten und damit auch zu zeigen, daß ein reiner Ultraschall-
Mineralographie, ein relativ neues Gebiet chemischer Forschung. 151

effekt vorliegt und daß andere Gleichungen gelten, wenn, wie z. B. beim
Anlauf von Eisen in Sauerstoff, verschiedene Oxydationsstadien durchschrit-
ten werden [27].
Es wurden auch Versuche mit einer Kohareranordnung, wie sie in den
Anfängen der drahtlosen Telegraphie verwendet wurde, in Form einer Kata-
lysatorkammer durchgeführt. Nickelpulver zeigte, wie zu erwarten war, in
seiner katalytischen Wirksamkeit eine deutliche Empfindlichkeit für die elek·
tromagnetischen Wellen einer Funkenstrecke (vgl. Fig. '18) [28].
Die Mineralographie, der Name ist neu aber recht passend, hat schon vor
einigen Jahren das bloß orientierende Stadium durchschritten. Ihre Er-
forschung und Anwen- 70(J,
dung verlangte weitere
so
11 i i
Vertiefung. Vieles liegt in . - . CuCL+BaD
dieser Hinsicht schon vor. (JO - . - . CuBr+ "
I 11
~CI1J+ " I 11
I
Einige wenige Beispiele '10
-I / i
oder wenigstens Literatur- ZO
angaben sind oben gege-
ben worden. Einen festen
I=t~ p ..-. - .=~ ~~ ~ .- 11
°7Z0 7'10 76'0 780 zoo %ZO %'10 Z6'O %8iJ .JOO .JZO .J'IO .J6'0 °C
7empel'{J/ul'
Grund bildet natürlich die Fig. 19. Ausbeutekurven für die Umsetzung von BaO mit
Kristallchemie, wenn man Cu], CuBr, bzw. CuCI; der Temperaturanstieg der Aus-
beute erfolgt konform mit dem Anstieg der Leitfähigkeit
auch, wie schon erwähnt, der Halogenide.
nur allzu wenig weiß über
die Gitterstrukturen bei erhöhten Temperaturen und über die Art der da-
durch verursachten Gitterfehler, und zwar der reversiblen wie noch mehr
der für praktische Anwendungen noch wichtigeren irreversiblen Fehler
im Kristallbau.
Es ist schon lange her seit die ersten Versuche gemacht wurden, um den
Zusammenhang zwischen der elektrischen Leitfähigkeit und der Reaktivität
fester Stoffe zu finden. Es zeigte sich dabei, daß bei einer Reihe einfach
gebauter Salze ein derartiger Zusammenhang existiert, z. B. bei gewissen
Halogeniden [29]. Fig. 19 veranschaulicht diesen Zusammenhang bei der
Umsetzung von BaO und Kupferhalogeniden.
\VAGNER, der sich große Verdienste um die Untersuchung des Reaktions-
mechanismus der Umsetzung fester Stoffe erworben hat, glaubte eine Zeit
an die Möglichkeit einer ganz einheitlichen Erklärung dieser Prozesse durch
Ionenwanderung [30]. Später gab er diese Anschauungen auf, da der Einwand
erhoben wurde, daß dies einerseits unmöglich sei, nachdem die meisten bis
dahin beobachteten raschen Umsetzungen in Mischungen von hochisolierenden
Stoffen erfolgen, und andererseits dies apriori nicht zu erwarten sei, weil
auch das elektrische Leitvermögen fester Stoffe zwischen Ionen- und Elek-
tronenleitung wechselt je nach der Temperatur, und dies in einer Weise,
152 J. ARVID HEDVALL:

welche abhängig von der Herstellungsart sogar variiert bei ein und demselben
Stoff [31].
Um auch die Anwendung, d. h. die absichtliche Modifizierung oder Selek-
tivierung der Oberflächenaktivität und damit der Reaktivität eines festen
Stoffes vollkommen zu beherrschen und so die Katalyse, die Adsorption und
alle die vielen Fälle bei welchen die Stoffe mit anderen zur Umsetzung gebracht
werden leiten zu können, müssen folgende Fragen beantwortet werden:
\Velche Teilchen besorgen den Materietransport ?
Auf welche Weise erfolgt die ·Wanderung, d. h. welche Rolle spielen Gitter-
bzw. Phasengrenzdiffusion ?
Welche Art von Gitterfehlern liegt vor und welche Bedeutung haben
sie für die Teilchenwanderung ?
Welcher Art sind die stöchiometrischen und strukturellen Fehler in dem
gebildeten Reaktionsprodukt und welche Bedeutung haben diese für das Be-
stehen des Diffusionsgradienten ?
Derartige Arbeiten sind in verschiedenster Richtung seit mehreren Jahren
im hiesigen Institut im Gang. Mathematische Ausdrücke wurden aufgestellt,
welche den verschiedenen Vorgängen bei der Umsetzung Rechnung tragen
und die Versuchsresultate werden mit diesen Formeln verglichen (ZIMEN [32]).
Die verschiedensten Methoden wurden zur Untersuchung der Umsetzungen
herangezogen. Direkte Diffusionsmessungen mit oder ohne "tracers", d. h.
radioaktive Spurenelemente, Röntgenuntersuchung der Reaktionsschicht,
Messung der elektrischen Leitfähigkeit usw. Durch die gewonnenen Resul-
tate ist es gelungen etwas Licht auf diese intrikaten und stark wechselnden
Phänomene zu werfen. Es ist festgestellt worden, daß große Molekeln natür-
lich nicht in dicht gepackten Kristallgittern wandern können, während Wan-
derungen von sogar bedeutender Geschwindigkeit entlang inneren Oberflächen
irgendwelcher Art durchaus möglich ist (JAGITscn). Die Wanderungsrich-
tung konnte in einer Reihe von Fällen bestimmt und energetisch motiviert
werden [33].
In den letzten Jahren sind ferner Selbstdiffusionskonstanten gemessen
worden in Stoffen (wie Ag2 S0 4 , ZnO, ZnO· FC203, CaO, Ca 2 Si0 4 , PbO,
PbSi03, Pb 2 Si04) die an technisch oder wissenschaftlich besonders interes-
santen Reaktionen teilnehmen (LINDNER). Dabei konnte durch Konzen-
trationsanalyse und radioautographische Aufnahmen nach der Diffusion die
Verteilung der wandernden Partikel auf Gitter und Grenzflächen nachge-
wiesen werden [34]. Darüber und überhaupt über den jetzigen Stand dieses
Forschungsgebiets wird in dem im Druck befindlichen neuen Buch des
Verfassers: Einführung in die Chemie der Feststoffe berichtet.
Im Falle der Bleisilikate wurden bei gewissen Temperaturen relative
Maxima für den Selbstdiffusionskoeffizienten beobachtet, die möglicherweise
im Zusammenhang stehen mit kristallographischen Umwandlungen.
Mineralographie, ein relativ neu es Gebiet chemischer Forschung. 153

Fig.20 zeigt den radioautographischen Nachweis der lokalen Anhäufung


radioaktiver Substanz nach der Diffusion in gesinterten Bleisilikattabletten.
Der homogenen Schwärzung einer frisch aufgedampften Tablette (A) stehen
die Inhomogenitäten nach der Diffusion gegenüber (B), die nach Abschleifen-
bis über die "Reichweite" der Gitterdiffusion hinaus - klar hervortreten (C).

Es ist bereits oben auf eine Reihe technischer Anwendungen mineralo·


graphischer Forschungsresultate hingewiesen worden, wenn auch vielleicht
nur in vor allem prinzipieller Hinsicht. Es sei daher im folgend en auf einige

A B c
Fig. 20. Autoradiographien von Bleisilikattabletten. A entspricht einer frisch aufgedampften
Tablette; B zeigt die Inhomogenitäten nach der Diffusion, die nach dem Abschleifen (C)
deutlich hervortreten.

wenige mehr konkrete Beispiele eingegangen und 1m Zusammenhang damit


auch die wahrscheinliche Entwicklung skizziert. Es würde der Erfahrung der
Ideengeschichte der Technik widersprechen, wenn nicht diese große Anzahl
neuer Effekte und Beobachtungen praktische Ergebnisse in der Verbesserung
älterer Verfahren mit sich bringen und zu neuen Herstellungswegen noch
mehr führen würden.
Es war wohl kein Zufall, daß es gerade die Silikatchemie war, die den
schwedischen Staat zur Zusammenarbeit für den Aufbau und die Erhaltung
des jetzt einige Jahre alten und gerade in starker Entwicklung befindlichen
Silikatforschungsinstitutes in Göteborg angeregt hat. Der Nutzen einer Zu-
sammenarbeit war da besonders ins Auge fallend, wie aus dem oben gezeigten
Richtlinien hervorgehen dürfte. Das Arbeitsprogramm des Instituts zielt
aber innerhalb der in Frage kommenden Marginale auf eine allgemeine
materialographische Forschung (d. h. Metallographie +
Mineralographie) des
so lange vergessenen festen Aggregationszustandes.
Die gewonnenen Erfahrungen über die Einwirkung z. B. der strukturellen
Unfertigkeitszustände verschiedenster Art, der Beimengung gitterfremder Be-
standteile, der Auflösung von Gasen in festen Stoffen, der Veränderung des
magnetischen, elektrischen und Bestrahlungszustandes, der Ultrabeschallung
154 J. ARVID HEDVALL:

und der Behandlung mit elektromagnetischen Wellen sind Probleme, die für
die Metallographie ebenso interessant sind wie für die Mineralographie.
Gerade so alte Industrien, wie die Produktion keramischer Produkte,
die Herstellung von Glas und die Gewinnung der Metalle, in welchen die
Erzeugung guter Durchschnittsprodukte schon seit so langer Zeit möglich
war, die neue Zeit aber besondere Forderungen stellt hinsichtlich Spezial-
produktion, sowie Zeit- und Materialersparnis, bieten eine Unzahl von Pro-
blemen, die noch ihrer vollständigen Lösung harren. Die geschilderten Ar-
beiten auf dem Gebiet der Mineralographie haben den Nutzen einer derartigen
Arbeit gezeigt. Einige Beispiele dafür:
Die rote, bzw. gelbe Farbe der Mauerziegeln ist nicht, wie man früher
glaubte, auf freies Fe 20 a oder Kalziumferrit zurückzuführen. Das Fe 2 0 a liegt
vielmehr in fester Lösung mit Al 2 0 a vor und bedeutend kompliziertere Ver-
bindungen als die vermuteten Ferrite - die übrigens nicht gelb gefärbt sind -
entstehen beim Ziegelbrennen [35]. Eine genauere Kontrolle der Brennofen-
atmosphäre hat hierbei, wie auf anderen Gebieten, gute Ergebnisse gezeigt.
Die Bedeutung der Feuchtigkeit für die Homogenisierung bei der Be-
reitung des Glasgemenges wurde aufgezeigt und damit auch die Bedeutung
der Tatsache, daß schon in diesem frühen Stadium der Glaserzeugung für
eine Einheitlichkeit der Zusammensetzung gesorgt werden kann, welche ihrer-
seits das Niederschmelzen in der Wanne und den Verlauf der Reaktionen, die
tatsächlich, wie beim Zementbrennen [36], schon bei einigen hundert Graden
in den noch trockenen Pulvermengen beginnen, wesentlich fördern [37].
Durch Beachtung der Regeln für die Oberflächenaktivierung ist die
Fabrikation von feuer- und säurefesten Massen überall verbessert worden.
Durch Ausnützung der angeführten statu-nascendi-Effekte ist eine Plasti-
zierung gewisser magerer Tone gelungen und damit ist deren Anwendbarkeit
gestiegen bzw. konnte der Ausschuß herabgesetzt werden [38].
Zusätze kleiner Mengen gewisser Fremdoxyde haben das Intervall zwischen
Sinterung und Schmelzung bei der Fabrikation keramischer Produkte in ge-
wünschter Weise vergrößert. Es werden heute Spezialziegel auf Grund der
erwähnten Additions- oder Platzwechselreaktionen in oxydischen Pulver-
gemischen erzeugt [39]. Für die Sinterkeramik spielt dies eine ausschlag-
gebende Rolle. Verschiedene Methoden, Kali und reines Aluminiumoxyd aus
Schieferasche, Tonen oder Flugasche herzustellen, wurden ausgearbeitet [40].
Während des Krieges und der damit verbundenen Rohmaterialkrise sind
ferner sodaersparende Methoden, die auch weiterhin in Verwendung sind,
ausgearbeitet worden; dabei zeigte der Zusatz von Feldspat bei der Glas-
erzeugung wie wenig berechtigt das alte Mißtrauen ist, welches der Ver-
wendung von alkalihaItigen Mineralen und Gesteinen bei der Glaserzeugung
entgegengebracht wurde [41]. In einer einzigen schwedischen Glashütte
werden jetzt 5000 Tonnen schwedischer Feldspat im Jahr verbraucht.
Mineralographie, ein relativ neu es Gebiet chemischer Forschung. 155

Ein anderes während der Kriegszeit wichtiges Problem war die Regenerie-
rung von Gußgips der Porzellanfabriken. Mißlungene Patente gab es Dutzende.
Erst eine Kombination von Entwässerungsgrad und der Ausbildung von Kri-
stallen geeigneten Habitus' bei der Rehydratisierung brachte die Lösung [42].
Das Problem den Mullitgehalt in Porzellanmassen ohne Anwendung allzu
hoher Temperaturen zu vergrößern wird durch Zusatz von festen Kataly-
satoren versucht zu einer Lösung zu bringen. Bald abgeschlossen ist eine
Arbeit über das Zustandekommen von Poren und über die Bedeutung ihrer
Form und Größe (CARLSSON). Auf Grund dieser Arbeit werden neue Methoden
für Backsteinkontrolle vorgeschlagen (Frostbeständigkeit der Ziegeln und
Haftfestigkeit von Mörtel).

Und nun zuletzt einige, 1m Prinzip schon vorher erwähnte Zukunfts-


perspektiven.
Durch mineralographische Untersuchungen wird es möglich werden die
Voraussetzungen für die Herstellung hocheffektiver Katalysatoren zu schaffen
und zwar in der Weise, daß man durch die oben beschriebenen Faktoren die
Wirkungsweise der Katalysatoren selektiviert und so nicht gewünschte Neben-
reaktionen ausschließt. Elektronenmikroskopische und besonders feldelek-
tronenmikroskopische zusammen mit anderen Untersuchungsmethoden werden
sicherlich gute Resultate geben. Irgendwelche Schwierigkeiten den Katalysa-
tor in ununterbrochene kristallographische Umwandlung zwischen Hoch- und
Tieftemperaturmodifikation zu versetzen oder diesen durch Ultraschall oder
elektrische bzw. magnetische Felder zu beeinflussen dürften kaum bestehen.
Die Pulvermetallurgie kann ohne Zweifel in viel größerem Maße als bis-
her die gewonnenen Erfahrungen ausnützen, und zwar durch eine Variation der
für diese Herste11ungsverfahren fundamental wichtigen Oberflächenaktivität.
Dasselbe gilt für die erst in ihren Anfängen stehende Pulverkeramik. In
USA sind Anwendungen auf dem Gebiet der Herstellung von Re;ractories, ganz
besonders für gewisse Apparatteile in den sog. jet-planes versucht worden.
Auch für die Teletechnik, die in so hohem Ausmaß von den oberflächen-
aktiven Eigenschaften der festen Stoffe abhängig ist, ergeben sich auf der
Hand liegende Anwendungen.
Ein den Problemen der Meta110graphie analoges Gebiet sind die nicht-
meta11ischen "Legierungen", d. h. die Herstellung nichtmetallischer, ;ester Lö-
sungen oder ähnlicher Systeme mit spezifischen Eigenschaften. Abgesehen
von der Herstellung künstlicher Edelsteine, von Produkten mit besonderen
elektrischen, thermischen oder magnetischen Eigenschaften und von Spezial-
gläsern liegt dieses Gebiet praktisch unberührt.
Abschließend mag noch unterstrichen werden, daß die beschriebenen, neuen
magnetischen, elektrischen und Bestrahlungseffekte den Weg zu einer M agneto-
chemie, einer Elektrochemie und einer Photochemie von einem ganz anderen
156 J. ARVID HEDVALL: Mineralographie, em relativ neues Gebiet chemischer Forschung.

Umfang als bisher unter diesen Begriffen verstanden wurde, eröffnen. Mit diesen
Zeilen wurde versucht die Aufmerksamkeit auf ein Arbeitsgebiet zu lenken,
welches bereits interessante Resultate gebracht hat, aber bei einer weiteren
Bearbeitung noch reiche Ernten verspricht. Das gilt für die theoretische
Forschung nicht weniger als für die technischen Anwendungen.
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Die Modulgruppe
in einer einfachen involutorischen Algebra.
Von
eARL LUDWIG SIEGEL.

1. Durch die Untersuchungen von GAUSS, DEDEKIND und KLEIN gehört


die elliptische Modulgruppe zum klassischen Bestande der Mathematik. Die
Übertragung der Theorie auf algebraische Zahlkörper wurde nach HILBERTS
Vorarbeiten von BLUMENTHAL und HECKE durchgeführt, während eine andere
Verallgemeinerung, die Modulgruppe n-ten Grades, erst in neuerer Zeit be-
handelt wurde. Die folgende Betrachtung faßt den Begriff der Modulgruppe
in möglichster Allgemeinheit und klärt damit auch die Grundlagen, auf
denen die früheren Ergebnisse beruhen. Von Wichtigkeit ist hierbei der Zu-
sammenhang mit der entsprechenden Verallgemeinerung der von MINKOWSKI
begründeten Reduktionstheorie der positiven quadratischen Formen von n
Veränderlichen.
2. Es sei A eine einfache Algebra von endlichem Range r über dem Körper
der rationalen Zahlen P. Dann ist A der Ring von Matrizen! = (~kl) eines
gewissen Grades n, deren Elemente ~ = ~kl (k, l = 1, ... , n) einem Schiefkörper Ll
über P entnommen sind. Das Zentrum Z von A ist ein algebraischer Zahl-
körper. Bedeutet h den Grad von Z über P, so ist r=h (ns)2 mit einer natür-
lichen Zahl s.
Durch Erweiterung von P zum Körper der reellen Zahlen P gehen A
und Ll über in halbeinfache Algebren .Ir und LI, und es gilt eine direkte
Zerlegung LI= Ll l + ...
+Ll t von LI in Matrixalgebren Ll l , ... , Ll t . Sind (Xkl ) =
X =Xl , ... , X t die Matrizen aus ,;11, ... , Ll t , so gehören ihre Elemente x= X kl
je einem Schiefkörper .1 =.1 1 , ... , At über P an. Für diesen hat man die
bekannten drei Möglichkeiten; es ist nämlich entweder Li der reelle Körper P
oder der komplexe Körper Q der zweireihigen Matrizen

(1)

mit reellen Xl, x 2 oder die Quaternionen-Algebra r der vierreihigen Matrizen

X=
( x,2
-X

- Xa
x2
Xl
X4
-:: ::)
Xl - X2
(2)

- X4 - Xa X2 Xl
158
mit reellen Xl, X2, X a, X 4 . Treten die einzelnen Fälle je hl , h2 , h 3 mal auf, so
ist hl +h 2 +h3 =t, h1 +2h 2 +h3 =h und 2h 2 die Anzahl der komplexen Kon-
jugierten von Z; ferner hat X in den Elementen X k1 den Grad s, s, S/2 ent-
sprechend den drei Fällen.
Infolge (1) und (2) ist die Transponierte x' jeweils die Konjugierte von X
in.Q und T. Daher ist die Abbildung (xkZ ) = X -+X' = (X;k) ein involutorischer
Antiautomorphismus, kürzer eine Involution, von LI. Es wird weiterhin vor-
ausgesetzt, daß es außerdem eine Involution von A selbst gibt. Die Theorie
der Involutionen ist im zehnten Kapitel von ALBERTs "Structure of algebras"
behandelt worden, und wir werden einige Sätze daraus benutzen. Die Existenz
einer Involution I-+I* von A hat zunächst die Existenz einer Involution
von LI zur Folge. Bedeutet nun andererseits r~l irgendeine fest gewählte
Involution von LI, so ist I-+I= (~Zk) eine Involution von A und es gilt

8 = ±1
mit einem geeigneten konstanten umkehrbaren Element 2 von A. Die In-
volution ~-+~ von LI führt eindeutig durch Grenzübergang zu einer Involution
von LI, wobei das Bild von X wieder mit X bezeichnet werde. Vermöge (3)
wird dann auch die Involution I-+I* von A zu einer Involution von A er-
weitert.
3. Wir behandeln zunächst die sog. Involutionen zweiter Art. Bei diesen
ist Z eine quadratische Erweiterung eP(e) eines elementweise bei der Invo-
lution fest bleibenden Unterkörpers eP und e*=-e. Ist 8=-1 in (3), so
ersetzen wir 2 durch e2 und gelangen zu dem anderen Falle e = 1, auf den
wir uns also weiterhin beschränken können. Es gebe genau q reelle Konju-
gierte von eP, in denen e2 < 0 ist, und diesen mögen Ll l , ... , Ll q zugeordnet sein.
Die Differenz t - q ist eine gerade Zahl 2w ~ o.
Da die Abbildung X -+X' ein Automorphismus von LI ist, so folgt
X= C-lX'C (4)
für ein geeignetes konstantes umkehrbares Element C von LI, wenn X =
Xl' ... , X t eine gewisse Permutation von Xl' ... ' X t bedeutet. Durch Be-
trachtung des Zentrums ergibt sich aus (1) bei geeigneter Anordnung der
Indizes
~=Xk (k=1, ... ,q);
Ersetzt man X durch X in (4), so folgt
X= C-IX'
- C, X'=
- C XC-I.,
andererseits ist aber
X' = CX C-I.
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 159
Also ist C-I C' mit X vertauschbar und demnach ein Element z des Zentrums
von J. Aus- f..' = z C folgt C = E.' f' und zE.' = 1. In (4) kann man nun C
durch y C mit einem beliebigen umkehrbaren Zentrumselement y ersetzen
und dann tritt y-li z an die Stelle von z. In L1 k wähle man jetzt

dann ist entsprechend


y;;:l y~ = z;;:i (zl)' , Z-l
k '

und folglich y-l y' z = 1. Also kann man


C'=C (5)
voraussetzen.
4. Bei einer sog. Involution erster Art bleiben alle Elemente des Zen-
trums Zungeändert. Dann ist s= 1 oder 2, also entweder L1 =Z und g=~
oder L1 ist eine Quaternionen-Algebra lJI über Z und gläßt sich darin als kon-
jugiert zu ~ erklären, so daß ~l die Quaternionennorm wird.
Im Falle s=1 ist X=X=x, "3=0 und etwa

(6)
Im Falle s= 2 sei analog

Für A = P oder Q ist dann

mit xu, x12 , x 21 , X 22 in A. Setzt man noch

so ist also
X = V-I X' V (A = P) , X = V-I X' V (A = Q) , (7)
wenn jetzt durch den Querstrich der Übergang zur konjugierten Größe x= x'
in (1) ausgedrückt wird. Für A =r
ist schließlich

X=x, X=X'=x' (8)


mit x aus (2).
5. Es bedeute A(2) die Algebra der zweireihigen Matrizen

(9)
160 eARL LUDWIG SIEGEL:

mit Elementen ~r, 58, <r, '!J


aus A. Bei der Erweiterung von P zu P mögen A
und A(2) in A und A(2) übergehen. Durch

IDl* =(:: ~:)


wird dann eine Involution in A(2) und Ä(2) erklärt. Wir definieren jetzt die
symplektische Gruppe E in A durch die Bedingung

IDl* ~ IDl = ~= ( 0 ~) (10)


-~ 0

mit der Einheitsmatrix ~. Vermöge (3) geht (10) über in

@@IDl=@=(
--2
0 2),
0
(11)

Wir wollen nun irgendeine kompakte Untergruppe K von E betrachten. Es


gibt bekanntlich eine positive symmetrische Matrix ~=~' in Ä(2), so daß

für alle IDl aus K gilt.


Weiterhin sei in diesem und dem folgenden Abschnitt die gegebene Invo-
lution X.-+ x* von zweiter Art. Wir bezeichnen zur Abkürzung das Produkt
aus der mit n Diagonalelementen C gebildeten Diagonalmatrix und 2 mit
C 2 und erlauben uns eine solche Freiheit der Bezeichnung auch in ähnlichen
Fällen, wenn die Bedeutung evident ist. Wegen (3), (4), (5) ist dann
C2 = 2'C= (C2)'
und

IDl' ~ IDl = ~ = C @ = (_ ~ 2~ 2) = - Q:' . ( 12)

Insbesondere ist
IDl;'+w~kIDlk= ~k = - ~;'+w (q< k ~ q+w),
so daß man bereits
(13)
vorschreiben kann.
Für k ~ q ist ferner
IDl~ ~k IDlk = ~k= -~~
und IDl k mit ~kl ~k vertauschbar. Wählt man dann ffi in A(2) mit

ffi~ ~k ffik= (_ ~ ~) = ~, ffi~ ~k ffi k= (:k '!J:) = %k (k~ q), (14)

wobei '!J eine Diagonalmatrix mit positiv reellen Diagonalelementen bedeutet,


k
so wird ffik1 IDl k ffi k vertauschbar mit ~ %k und mit (~%k)2 = -- %i und mit %k
selbst. Daher ist wek vertauschbar mit ffi k ffi~ ~k' und aus we~ ~k wek= ~k
folgt auch
we~ (ffik ffi~)-1 wek = (ffik ffi~t1,
so daß die Wahl
~k = (ffik ffi~t1
zulässig ist. Dann ist aber
• ~k ~kl ~~ = (ffi~ ~k)' ffi~ ~k = (~ffikl)' ~ ffik1 = (ffik ffi~t1 = ~k (k;:;;; q).
Zufolge (13) kann man also

(15)
vorschreiben.
Umgekehrt sei nun eine positive symmetrische Matrix ~ in A(2) vorgelegt,
welche die Bedingungen (15) erfüllt. Wegen (14) folgt dann
:t~=~=:tk' ~k=(ffikffi~)-1, ffi~~kffik=~ (k:;;;'q).
Auf Grund von (15) kann man außerdem ffi k für k> q derart wählen, daß
~k = (ffik ffi;')-\
gilt. Dann ist aber
~ = (ffi ffi')-1,
Ist auch
~o = (ffio ffi~)-\ ~~ ~ ffio = ~
mit einer anderen Lösung ~o von (15), so wird ffio ffi-1=we nach (12) ein
Element von E und
we' ~owe =~.
Wir haben damit gezeigt, daß für jede feste Lösung ~ = ~o von (15) durch
die Forderung we' ~o we = ~o eine maximale kompakte Untergruppe K o von E
definiert wird und daß alle diese Untergruppen in E konjugiert sind. Ferner
ist bei jedem festen symplektischen we die Rechtsklasse K o we durch die Matrix
~ = we' ~o we = ~o [we] eindeutig festgelegt. Der Raum P der Lösungen ~
von (15) läßt sich also mit dem Raum dieser Rechtsklassen identifizieren.
Die Abbildungen ~_~ [we] für symplektische we tühren P in sich über und
sind darin transitiv; d. h. P ist ein Wirkungsraum der symplektischen Gruppe.
6. Es handelt sich nunmehr um eine Parameterdarstellung von P im
Großen. Mit der Abkürzung C 2 = C = 0' folgen aus (9) und (12) die Be·
dingungen
2(10-1 ~' = ~ n- 1 ~', @;n-1~' = ~ n-1~', 2(10-1~' - ~ n-1~' = 10-1
für we in E. Zerlegt man analog

( U- ~)
1

~= ~' ~,'
Gottmger Akademie-Festschrift. 11
162 eARL LVDWIG SIEGEL:

so ergibt (15) insbesondere die Bedingungen


U-I 0-1 ~' = ~ O-IY-I , U-I 0- 1 m5' - ~ 0-1 ~ = 0', U=U'>o.
Daher ist für Sf = - U ~ die Matrix

IDl =
o
(~0 Sf)
~
symplektisch und
U-l 0 )
~o = ~ [IDloJ = ( 0 m5 0
in P gelegen, also auch
U-l 0-1 m5~ = 0',
Dies ergibt die gewünschte Parameterdarstellung

~= (U;I Y~O]) I~ -:], OSf= ~'O (16)

von P mit variabeln U und Sf in Ä.


Das Verhalten der Parameter U und Sf bei beliebigen Abbildungen
~~~ lIDl-I] mit symplektischem IDlläßt sich nun am einfachsten beschreiben,
indem man noch einen neuen Parameter .8 einführt, welcher für den klassi-
schen Fall r= 1 gerade die komplexe Veränderliche in der oberen Halbebene
bedeutet. Zur Abkürzung sei noch S die Matrix der Permutation X ~ X,
so daß also X = SX Sund S= S' = S-l wird. Sind dann I o, IDo zwei Variable
in Ä, die der Bedingung
(17)
genügen, so gilt
~ [~:] = U-I[Io - SPIDoJ + U[SO IDol
und
(US 0 IDo)' U-l (Io - SP IDo) = (Io - SP IDo)' U-I (US 0 IDo).
Nach Erweiterung des Zentrums durch Adjunktion von i= P folgt hieraus

~ [~:] = (Io - SPIDo + iUSO IDo)' U-I (Io - SPIDo - iUSO IDo)
= U-I{I o - (SP + iUSO) IDo}.
Wir definieren jetzt
.8 = SP + iUSO, 3= SP -, iUSO,
also
1 -
SP ="2 (.8 +.8), U= 1
2i (.8 -:m 0- 1 S.
Dann lassen sich die Bedingungen in (16) für U und SP durch
1, -
0' S .8=.8' SO, 2i0 S(.8-.8»O (18)
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 163

ersetzen und bestimmen einen Raum H der Variablen 3: welcher durch die
Beziehung
~ [~:] = U-1 {3 Wo - I o} (19)

umkehrbar eindeutig auf P abgebildet wird.


Wegen
~~ 0 Wo ~ ~~ 0 I o= (~:r ~ (~:)
bleibt (17) bei der Substitution

(VoIo) -+ im-I (IVoo)


mit symplektischem im erhalten. Andererseits gilt dabei

0(3 Wo - I o) = ~' 0 Wo - 0 I o= :r
(~)' ~ (~:) -+ (:~! ~ (~:)
= (<f 3 + '1))' 0 Um: 3 + m) (<f 3 + '1))-1 Wo - I o)·
Folglich entspricht der Abbildung ~ -+ ~ [im-1J in P die Abbildung
3-+ (m: 3+ m) (<f3+ '1))-1 (20)
in H. Da U-l [0-1 5] in U-l [0-1 5] {(<f 3 + '1))'} übergeht,
so ist tatsächlich
+
<f 3 '1) umkehrbar.
Wir haben damit eine Darstellung der symplektischen Gruppe durch die
gebrochenen linearen Transformationen (20) erhalten, welche den durcn (18)
definierten Raum H in sich überführen. Es bleibt noch festzustellen, wann
zwei Elemente imo und im von E dieselbe Transformation ergeben. Dies ist
dann und nur dann der Fall, wenn die Gleichung ~ [9)(0 1 ] = ~ [im-I] identisch
auf P erfüllt ist. Ist ~o irgendein Punkt von P, so muß also im~1 im mit
~01 ~ vertauschbar sein. Nimmt man für ~o und ~ die Parameterdar-
stellung (16) und setzt darin zunächst ~ = ~o = 0, so folgt

im-I im = (u~
o 0
0)
v~

mit u und v im Zentrum von LI, und bei variablem ~ ergibt sich dann u = v.
Es ist also im=uim o, u=1!:., uu' = 1. Daher liefern die gebrochenen linearen
Transformationen (20) im Wirkungsraum H eine treue Darstellung der Faktor-
gruppe von E in bezug auf die invariante Untergruppe der Zentrumselemente
"vom Betrage 1 ",
Man sieht noch leicht ein, daß H dann und nur dann eine komplexe
Mannigfaltigkeit im Sinne der Funktionentheorie ist, wenn 5 die Identität
ist, also w = O. Diese Forderung besagt, daß ,p total reell und Z total
komplex ist.
G6ttinger Akademie-Festschrift. Ha
164 eARL LUDWIG SIEGEL:

7. In diesem Abschnitt übertragen wir unsere Ergebnisse auf die Involu-


tionen erster Art. Die Untersuchung verläuft im wesentlichen wie bei den
Involutionen zweiter Art, und wir können uns daher kurz fassen. Jetzt
liefert die Beziehung 2 = 82 in (3) die bei den Möglichkei ten 8= 1 und 8= _.- 1.
Außerdem sind die bei den Fälle L1 = Z und L1 = 1JI zu unterscheiden.
Wir behandeln zunächst den Fall L1 =Z. Zufolge (6) ist 1:k (k = 1, ... , t)
eine n-reihige Matrix (x pq ) aus Elementen xpq (p, q= 1, "', n) in P oder Q und
I k die Matrix (xqp ), während 1:~ gemäß der bisher verwendeten Bezeichnung
die Matrix (x;p) bedeuten möge. Für alle Elemente sm
einer kompakten
Untergruppe K von }; sei wieder S,ß [sm
J = S,ß. In (11) ist jetzt @= - dM,
und an die Stelle von (14) tritt

mit geeignetem ffi in .4(2) und einer Diagonalmatrix 'Il mit positiven reellen
Diagonalelementen. Dann ergibt sich aber wieder die Vertauschbarkeit von
sm
ffi -1 ffi mit (.~.;r)2 = - 8%2 und mit % selbst, also auch die Zulässigkeit
der Bedingung .
~P;ß-l @' = ~ . (21)
An die Stelle von (16) tritt dann

S,ß = 0
0) l~ -sr]~'
(U-l ll[2J 0
U=U'>O, (22)
Mit

gilt I= 5 1:' 5. Der Parameter 3 wird jetzt durch

j=V- 8

erklärt und unterliegt den Bedingungen

2'53=3'52, 21i2'5(3-,ö»0 (8=1),


2'53+3'52>0 (8=-1).
Unter der Voraussetzung

wird dann
(23 )

und man erhält wieder die Darstellung von}; durch die gebrochenen linearen
Transformationen (20).
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 165

Endlich betrachten wir den Fall L1 = lJI. Zufolge (7) und (8) kann man
diesmal m
in A(2) so wählen, daß
- _ {Vij_. (k:;:;' h1 +h 2)
m m k @k k - ij. (k > h2 +h2)

und m'~m= (: ~)=:t wird; dabei ist zu berücksichtigen, daß Valter-


nierend ist. Es folgt die Zulässigkeit von (21) und die Parameterdar-
stellung (22).
Mit

Sk
-w 0
= ( 0W) und W= (0 1) (h1< k -;;;;;, h1+ h2),
1 0
Sk = 1 (k> h1 + h2 )
gilt I= S I' S'. Definiert man diesmal j durch

jk = VB (k:;:;' h1 +h 2 ),
und wieder
,8=~+jUS~,
so erhält man sinngemäß (23) und die Darstellung von 1: durch (20).
Der Raum der ,8 ist eine komplexe Mannigfaltigkeit, wenn im Falle
= =
L1 =Z die Bedingungen B 1 und h2 0 erfüllt sind und im Falle L1 lJI =
=
die Bedingungen B 1 und h1 h2 0 oder B = = =-
1 und h2 ha o. Insbeson- = =
dere muß dann also Z total reell sein.
8. Die bisherigen Ergebnisse liefern nun das analytische Werkzeug zur
Untersuchung der Modulgruppe. Es sei 0 eine Ordnung in A und 0(2) die
entsprechende Ordnung in A(2), die also aus allen Matrizen

mit Elementen 21:, ~,[, 'l) aus 0 besteht. Ferner sei E die Gruppe der
Einheiten in 0(2); sie besteht aus allen im in 0(2), für die auch im-I in 0(2)
liegt. Die Modulgruppe M in 0 wird jetzt als der Durchschnitt von E und 1:
erklärt. Er wird von allen symplektischen Einheiten gebildet. Es ist eine
wichtige Aufgabe, in den WirkungsräumenP und H einen für die Anwendungen
geeigneten Fundamentalbereich von M zu konstruieren. Hierzu kann man
sich der Lösung der entsprechenden Aufgabe für die volle Einheitengruppe E
bedienen, welche in meiner Arbeit über diskontinuierliche Gruppen in den
Annals of Mathematics vom Jahre 1943 gegeben wurde.
In der regulären Darstellung von L1 und LI möge dem Element ~ die Ma-
trix § mit g=hs 2 Reihen entsprechen. Für eine geeignet gewählte konstante
reelle Matrix y zerfällt dann y§ y-l = Yo in Kästchen Xl> ... , X u und zwar
tritt das Kästchen X dabei genau s-mal auf, wenn A =F ist, und sonst r
166 eARL LUDWIG SIEGEL:

genau s/2-mal. Das Element X = (~,'d) von A oder A wird jetzt durch X = (~kl)
~ ~

dargestellt. Wir setzen noch (Y~kly-l)=yxy-l=XO=(~klO) und analog für


A (2) oder A(2).

Bei festem natürlichen m betrachten wir den Raum der positiven sym-
metrischen Matrizen 6 mit m Reihen und beliebigen reellen Elementen.
Mittels der JAcoBIschen Transformation haben wir eindeutig die Zerlegung
m
6[!J = ~qk (Xk+ ~dklXl)2
k= I 1> k

mit positiven qk und reellen dk1 . Wir verstehen für jedes positive a unter Ra
das Gebiet aller 6, die den m (m + 1) - 1 Ungleichungen
2

qk<aqk+1, -a<dk1<a (1::;;,k<l::;;'m)


genügen. Speziell sei m=2ng=2nhs2 und 6=\,ß0, wobei \,ß in jf(2) gelegen
und positiv symmetrisch ist. Nacll einem wichtigen Satze der Reduktions-
theorie gibt es dann zu der gegebenen Ordnung Q(2) endlich viele feste umkehr-
bare Elemente SJC1 , ... , SJC, und eine nur von 0 abhängige positive Konstante a
mit den folgenden drei Eigenschaften. Für mindestens eine Einheit m5 in
0(2) und ein SJC = SJC k (k = 1, ... ,j) liegt die Matrix

%0 = \,ßo[(m5SJC)oJ
in Ra. Ist ß irgendeine reelle umkehrbare Matrix mit g Reihen und setzt
man %=(Tk1 ) mit k, l=1, ... , 2n, so liegt %o[ßJ=(ß'TkIOß) in Rb' wo b nur
von 0 und den Schranken der Elemente von ß und ß- 1 abhängt. Bedeutet 3
die Matrix der Permutation k--+2n-k+1 (k=1, ... , 2n), so liegt auch
%0 1 [ß31 in Rb·
Um die beiden Fälle der Involutionen zusammenzufassen, setze man
noch C = 1 und ~ = @ für die Involutionen erster Art. Dann ist der Wirkungs-
raum P der symplektischen Gruppe stets durch die Gleichung ~ \,ß-l~' = S' \,ß S
festgelegt, mit der früheren Bedeutung von S. Da X aus Xo dadurch hervor-
geht, daß man die verschiedenen irreduziblen Bestandteile genau einmal auf-
nimmt, so gilt auch
~o \,ßö1~~ = S' \,ßoS.
Mit den Abkürzungen m5SJC=>B, ~~S~o~o=~ wird daher
~'%Ö1~ = %0.
Für beliebiges ~ in jf(2) ist andererseits
(SC 2) ~* =~' (SC 2),
so daß mit 2 ~* = ID die Beziehung
SC y ID = ~~ SC 20 y
besteht. Wegen ~o=C 20~ folgt daraus
~~S~o = SCyID~y-l, ~ = SCyID~~i'5y-l.
Die Modulgruppe in einer einfachen involutorischen Algebra. 167

Setzt man noch

so gilt also
(24)
Da y und SC y fest sind, so liegen ~1 und ~2 beide in einem Gebiete Rb,
wobei die Zahl b nur von 0 abhängt. Ferner ist
~IDiS ~ = ~ 2 ilc* ~*iS ~in

und folglich hat die Matrix 0 rationale Elemente. Erst an dieser Stelle
wird wirklich davon Gebrauch gemacht, daß die Abbildung I -+ P nicht
bloß A sondern auch A in sich überführt. Da ~ in E liegt, so ist die Deter-
minante 1?iß 1= ± 1 und es existiert eine nur von 0 und 2 abhängige natür-
liche Zahl p, so daß p ~* und p ~* -1 in 0(2) liegen. Außerdem sind noch
~,iS, 2 konstant, während in einer festen endlichen Menge in 0(2) angehört.
Hieraus folgt, daß die Determinante und der Hauptnenner der Elemente von
o beschränkt sind. Nach einem weiteren grundlegenden Satze der Reduk-
tionstheorie zeigt dann (24), daß für 0 nur endlich viele Möglichkeiten be-
stehen, und dasselbe folgt hiernach für ~*iS~. Es seien sr1 , ... , src die sämt-
lichen Werte dieses Ausdrucks und srl=~iiS~1 (l=1, ... ,c). Aus der An-
nahme ~* iS ~ = ~iiS ~l erhält man aber, daß ~ ~11 = ill'C der Modulgruppe
angehört, und umgekehrt. Wir bezeichnen schließlich die fc Produkte ~link
wieder mit in = in1 , in 2 , ... und haben folgenden Satz bewiesen.
Zu jedem Punkte ~ des Wirkungsraumes der symplektischen Gruppe gibt
es ein Element W~ der Modulgruppe und eines der festen endlich vielen Elemente in
aus 0(2), so daß die M atrix ~o [ill'C o inol in Ra gelegen ist.
Aus diesem Satz ergibt sich weiter mit bekannten Methoden, daß M
in I: eine sog. Untergruppe erster Art ist, indem nämlich die Modulgruppe
auf dem symplektischen Gruppenraum einen abgeschlossenen Fundamental-
bereich F mit den folgenden drei Eigenschaften besitzt: Jeder kompakte
Teil von I: wird von endlich vielen Bildern von F überdeckt; nur endlich
viele Bilder von F haben mit F einen Punkt gemeinsam; der Inhalt von F
in dem invarianten Maß auf I: ist en.dlich. Insbesondere läßt sich also auch M
durch endlich viele Elemente erzeugen. Schließlich macht die explizite Her-
stellung von F keine Schwierigkeiten, wenn man sich der entsprechenden
Konstruktion für E bedient.
Unser Satz über die Reduktion von ~ bezüglich M ist von Bedeutung
für die Theorie der Thetafunktionen, welche sich mit den quadratischen
Formen in einer involutorischen Ordnung bilden lassen. Hierüber wll bei
anderer Gelegenheit berichtet werden.
Eingegangen am 25. August 1951.
Uber Lösungen
nimtlinearer DifferentiaIgIeimungen.
Von
FRANZ RELLICH.

Solange man sich in der Theorie gewöhnlicher oder partieller Differential-


gleichungen auf Fragen im Kleinen beschränkt, z. B. indem man bei einem
Anfangswertproblem die Lösung nur in einer hinreichend kleinen Umgebung
der Anfangsdaten betrachtet, findet man naturgemäß bei nichtlinearen Pro-
blemen dieselben Verhältnisse wie bei linearen Problemen. Sobald man aber
versucht, diese Lösung in einen größeren Bereich der unabhängigen Variabeln
fortzusetzen, zeigt sich ein prinzipieller Unterschied zwischen linearem und
nichtlinearem Problem. Eine Lösung der linearen Differentialgleichungen
n-ter Ordnung
+ ... +
y(n) = a 1 (x) y(n-l) +
an (x) y an+! (x),
welche in der Umgebung von x = X o erklärt ist, läßt sich über diese Umge-
bung hinaus in einen größeren x-Bereich fortsetzen, solange die Koeffizienten
~ (x), ... , an+! (x) in diesem Bereich regulär bleiben. Diese fundamentale Tat-
sache ist richtig sowohl für reelle als auch für komplexe x. Sind etwa ~ (x), ... ,
an +1 (x) Funktionen der komplexen Variabeln x, welche für alle (endlichen)
komplexen x regulär, d. h. ganze Funktionen von x sind, dann sind auch
alle Lösungen y (x) ganze Funktionen von x. Für eine nichtlineare Differen-
tialgleichung
y(n) = j(x, y, y', ... , y(n-l))
ist das nicht mehr richtig. Es kann z. B. die rechte Seite eine für alle (kom-
plexen) Werte der Argumente konvergente Potenzreihe d. h. eine ganze Funk-
tion ihrer Argumente sein, ohne daß auch nur eine einzige ganze Lösung
existierte, wie man an dem Beispiel y' = eY sieht.
Diese Tatsachen haben mich vor längerer Zeit veranlaßt als ein Prinzip
auszusprechen, daß eine nichtlineare Differentialgleichung ohne Singularitäten
im allgemeinen keine ganzen Lösungen besitzt. Dabei sind die Worte "Sin-
gularität" und "ganz" im Sinne der Funktionstheorie im Komplexen gemeint.
Ich zähle im Abschnitt I die Fälle auf, in welchen dieses Prinzip sich
bisher hat bestätigen lassen. Im Abschnitt II mache ich einige Bemerkungen
über Fortsetzbarkeit im Reellen.
1. Ein befriedigendes Resultat liegt bisher nur für den Fall einer gewöhn-
lichen Differentialgleichung erster Ordnung y'=j(x, y) vor: Wenn j(x, y)
über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen. 169

eine ganze Funktion von x, Y und wenn j (x, y) in Y nicht linear ist, dann gibt
es höchstens abzählbar viele ganze Lösungen. Die ganzen Lösungen lassen
sich in gewisser Weise sogar alle angeben. Wenn es nämlich mehr als zwei
ganze Lösungen gibt, so lassen sich alle ganzen Lösungen Yl(X), Y2(X), Ya(x), ...
aus zwei ganzen Lösungen Yl(X), Y2(X) in der Form
Yn(x) = Yl(X) + (Y2(X) - Yl(X)) c"
gewinnen, wobei die cn geeignete Konstante sind, für die übrigens lim cn = 00
n->oo

gilt, falls es unendlich viele ganze Lösungen gibt. Speziell muß jede ganze
Lösung von y' = j (y) eine Konstante sein, wenn j (y) eine ganze nicht lineare
Funktion von Y ist.
Für die allgemeine Differentialgleichung zweiter Ordnung y" = j (x, y, y')
entsprechende Sätze zu beweisen ist bisher nicht gelungen. Für den Spezial-
fall y" = j(y) wurde bewiesen, daß jede ganze Lösung eine Konstante ist,
wenn j(y) eine ganze aber nicht lineare Funktion ist 1 .
Durch H. WITTICH 2 sind Fälle von Differentialgleichungen höherer Ord-
nung erledigt worden. Es seien drei Resultate angeführt: 1. Jede ganze
Lösung von y(nl = j (y) ist eine Konstante, wenn j (y) eine ganze nichtlineare
Funktion ist. 2. Es sei P(x, y, Yl' ... , Yn) ein Polynom in x, y, Yl' ... , Yn
und j (y) eine ganze transzendente Funktion. Dann ist jede ganze Lösung
der Differentialgleichung n-ter Ordnung P(x, y, y', ... , y(nl)=j(y) eine Kon-
stante. 3. In dem Polynom
P(X, y, Yl' ... ' Yn) = L a"o ... "n y"o Y~l, ... , y~n
gebe es nur ein Glied maximaler "Dimension" U o + + ... + un .
U1 Dann ist
jede ganze Lösung der Differentialgleichung
P( x, y, y,, ... , Y (nl) -- 0
em Polynom.
Nach dem letzten Satz gibt es z.B. keine ganzen Lösungen der PAIN-
+
LEvEschen Gleichung y" = 6 y 2 x, weil Polynomlösungen offenbar unmöglich
sind. Ebenso hat die Grenzschichtgleichung y'" +
2 Y y" = 0 danach nur die
ganzen Lösungen y=ax+b. Für diese Gleichung hat H. WEYL 3 gezeigt,
daß die durch Y (0) = y' (0) = 0, y" (0) = 1 festgelegte Lösung in ihrer Potenz-
reihenentwicklung um x = 0 herum einen Konvergenzradius besitzt, der
zwischen V9 und 00 liegt.
1 RELLICH, F.: über die ganzen Lösungen einer gewöhnlichen Differentialgleichung
erster Ordnung. Math. Ann. 117 (1940). - Elliptische Funktionen und die ganzen Lösungen
von y"=f(y). Math. Z. 47 (1941).
2 WITTICH, H.: Ganze Lösungen der Differentialgleichung w"=f(w). Math. Z. 47 (1941).-
Ganze transzendente Lösungen algebraischer Differentialgleichungen. Nachr. Akad. Wiss.
Göttingen 1946 und Math. Ann. 122 (1950).
3 WEYL, H.: Concerning the differential equations of some boundary layer problems.
Froc. nato Acad. Sci., Wash. 27 (1941).
170 FRANZ RELLICH:

Für partielle Differentialgleichungen wird das oben ausgesprochene Prin-


zip für die Differentialgleichung der Minimalflächen durch das berühmte
Ergebnis von S. BERNSTEIN 1 bestätigt, wonach jede für alle (reellen, end-
lichen) x, y zweimal stetig differenzierbare Lösung z = z (x, y) der Gleichung
+ z~) Zxx - 2zx zyz + (1 + z!) Zyy = 0
(1 XY

eine lineare Funktion z = a x + by + c ist. Da jede zweimal stetig differenzier-


bare Lösung analytisch ist, kann man den Satz auch so aussprechen: jede längs
aller reellen (endlichen) x, y regulär analytische Lösungist eine lineare Funktion.
Erst recht ist also auch jede ganze Funktion von x, y eine lineare Funktion.
Im Sinne des allgemeinen Prinzips möchte ich vermuten, daß alle ganzen
Lösungen z=z(x, y) von zxx+Zyy=j(z) Konstante sein müssen, wenn j(z)
eine ganze nichtlineare Funktion ist. Hier muß "ganze Lösung" wieder so
verstanden werden, daß z(x, y) regulär analytisch für alle komplexen Werte
von x, y sei. Es würde nicht ausreichen (wie im Falle der Gleichung der
Minimalflächen) zu verlangen, daß z (x, y) regulär analytisch längs aller reellen
Werte von x, y sei. In der Tat hat die Gleichung zxx+zyy=sinz Lösungen,
die längs aller reellen x, y regulär analytisch sind (ohne konstant zu sein).
Man setze nämlich z=u(x) wo u(x) eine längs aller reellen x regulär analy-
tische aber nicht konstante Lösung von u" = sinu ist, die durch ein ellip-
tisches Integral bekanntlich explizit angegeben werden kann. Die Vermutung
ist aber, daß es keine Lösung (außer der Konstanten) von zxx+zyy=sinz
gibt, die für alle komplexen x, y regulär analytisch wäre.
Unter starken zusätzlichen Voraussetzungen über j(z) (Positivität, Kon-
vexheit und genügend starkes Anwachsen für reelle z --+ 00) ist die Nicht-
existenz von Lösungen von zxx+Zyy=j(z) durch H. WITTICH 2 , für mehr
unabhängige Variable durch E. K. HAVILAND 3 bewiesen worden. Dabei han-
delt es sich aber bereits um Sätze im Reellen.
11. Die Frage nach der Fortsetzbarkeit im Reellen hat einen anderen Cha-
rakter als die eben besprochene. Zwar wird auch hier die Lösung einer nicht-
linearen Differentialgleichung im allgemeinen nicht über alle reellen Werte
der unabhängigen Veränderlichen fortsetzbar sein, aber es werden gerade die
Ausnahmefälle, wo die Fortsetzbarkeit gegeben ist, besonders interessieren. Hier
ist es also eine Aufgabe umgekehrt Kriterien für Fortsetzbarkeit anzugeben.
Wir sprechen im folgenden nur von gewöhnlichen Differentialgleichungen
und erklären "Fortsetzbarkeit" so: eine in einer (rechtsseitigen) Umgebung
1 BERNSTEIN, S.: Über ein geometrisches Theorem und seine Anwendung auf die par-
tiellen Differentialgleichungen vom elliptischen Typus. Math. Z. 26 (1927). Vgl. auch E.
HOPF, On S. BERNSTEINS Theorem on surfaces z(x, y) of nonpositive curvature, Proc. Amer.
math. Soc. I (1950) und J. MICKLE, Aremark an a theorem of SERGE BERNSTEIN, Proc. Amer.
math. Soc. I (1950).
2 WITTICH, H.: Ganze Lösungen der Differentialgleichung LI u = eU • Math. Z. 49 (1944).
3 HAVILAND, E. K.: A note on unrestricted solutions of the differentialequation LI u=! (u).
J. Lond. Math. Soc. 26 (1951).
Über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen. 171

von x o, also in xo;;:;;;x<cx. erklärte Lösung u(x) ist in das Intervall xo;;:;;;x<a
fortsetzbar (a=oo wird zugelassen), wenn es eine in xo;;:;;;x<a erklärte Lö-
sung (eine "Fortsetzung") gibt, die in xo;;:;;;x<cx. mit u(x) identisch ist. (Bei
Systemen bedeute u (x) den Lösungsvektor. )
Das folgende Kriterium für Fortsetzbarkeit ist nützlich. Wir sprechen
es zunächst für Systeme gewöhnlicher Differentialgleichungen erster Ord-
nung aus.
Die Funktionen
oli. . k
und 0Pk' ~, = 1,2, ... , n
seien m
xo ;;:;;; x< a, - 00 < Pi<oo, i = 1,2, ... , n

stetig (a=oo zugelassen) und es sei Yi=U,(X) i=l, 2, ... , n eine in xo;;:;;;x<cx.
erklärte Lösung des Systems

dy· ( ) i = 1, 2, ... , n.
dx'=/i x'Yl'Y2,···,Yn;

Dann und nur dann ist diese Lösung Yi=Ui(X) in das Intervall xo;;:;;;x<a
fortsetzbar, wenn zu jedem ß (mit xo<ß<a) zu welchem es eine in xo;;:;;;x<ß
erklärte Fortsetzung Yi=U,(X) gibt, eine Zahl M existiert (die natürlich
von ß abhängen darf), mit der :U;(x)];;:;;;M gilt für i=l, 2, ... , n und alle x
I ,

aus xo;;:;;;x<ß.
Die Notwendigkeit dieses Kriteriums ist klar wegen des Eindeutigkeits-
satzes. Um einzusehen, daß es hinreicht, betrachten wir die obere Grenze ß
aller Zahlen b mit cx.~b <a für welche die (in xo;;:;;;x<cx.) gegebene Lösung
Yi = U, (x) in das Intervall x o;;:;;; x< b fortgesetzt werden kann. Offenbar gibt
es dann (wieder wegen der Eindeutigkeit) eine in xo;;:;;;x<ß erklärte Fort-
setzung Yi = U, (x). Wir müssen ß= a beweisen. Wir tun es, indem wir
ß < a widerlegen. Da nach Voraussetzung in xo;;:;;; x< ß die Ungleichungen
i u, (x) I;;:;;; M gelten, gibt es eine Schranke C, so daß auch I d ~,;x) I, ;;:;;; C in
xo;;:;;;x <ß gilt (i = 1,2, ... , n). Also sind die n in dem rechts offenen Intervall
xo;;:;;;x<ß stetigen Funktionen U,(x) dort auch gleichmäßig stetig, so daß
lim U,(x) =ci existiert. Nun sei Yi=V,(X) diejenige in ß;;:;;;x <ß' <a erklärte
x-->ß

Lösung für welche Vi (ß) = Ci gilt. Definiert man also V; (x) = U, (x) in x o;;:;;; x< /J
und V,(x)=vi(x) in ß;;:;;;x<ß', so stellt Yi=V,(X) eine Fortsetzung in das
Intervall xo;;:;;;x<ß' mit ß'>ß dar, was zu der Bedeutung von ß als obere
Grenze im Widerspruch steht.
Für eine Differentialgleichung n-ter Ordnung lautet das Kriterium so:
Es seien /(x, PI, P2, ... , Pn) und O//OPi stetig m
xo ;;:;;; x< a, -00 <Pi<oo, i = 1,2, ... , n
172 FRANZ RELLICH:

(a=oo zugelassen) und es sei y=u(x) eine in xo;;;;;x<a; erklärte Lösung von
dny ( dy dn- 1y )
dxn = t ,x, y, di' ... , dxn-1 . (1)

Dann und nur dann ist diese Lösung in das Intervall xo;;;;; x< a fortsetzbar,
wenn zu jedem ß (mit xo<ß<a), zu welchem es eine in xo;;;;;x<ß erklärte
Fortsetzung y= V (x) gibt, eine Zahl M existiert (die natürlich von ß ab-
hängen darf), mit der entweder I d n -n1 ~ I;;;;;M oder I d n Un I;;;;;M gilt für alle x
dx - dx
aus xo;;;;;x<ß.
Beispiele. 1. Die in einer Umgebung von x= 0 durch die Anfangsbe-
dingungen y (0) = y' (0) = 0, y" (0) = c erklärte Lösung der Grenzschicht-
gleichung y'" +
2 Y y" = 0 ist in das Intervall 0;;;;; x< 00 fortsetzbar, falls c~ 0
gilt. Beweis: Sei y(x) eine in o;;;;;x<ß erklärte Fortsetzung. Dann ist dort
x
y"(x)=ce-l 2YdX , also y"(x)~o, also wegen y'(O)=O auch y'(x)~O und
wegen y (0) = 0 auch y (x) ~ O. Daraus aber folgt y" (x) ;;;;; c, also auch
Iy"(x) I;;;;;c in o;;;;;x<ß· Nach obigem Kriterium (n= 3) ist y(x) in das Inter-
vall 0;;;;; x< 00 fortsetzbar. Die Konstante M = c des Kriteriums ist hier sogar
von ß unabhängig.
2. Jede in einer Umgebung von x= 0 erklärte Lösung der VAN DER
POLschen Differentialgleichung y" + s (- y' +! y' 3) + y = 0 läßt sich in das
Intervall 0;;;;; x < 00 fortsetzen, falls s~o ist. Beweis (mit einem Kunstgriff
von Herrn SCHILLEMEIT): Liegt eine Fortsetzung in das Intervall O;;;;;x<ß
vor, so gilt dort
x
y' 2 (x) + y2 (x) +s J (- 2 y'2 + ! y'4) d x = y'2 (0) + y2 (0) ,
o
oder
x
y' 2 (x) + y2 (x) + i s J (y'2 - ~)2 d x = y' 2 (0) + y2 (0) +! s x ;;;;; M2,
o
also auch y'2(x);;;;;M2, wenn man M2=y'2(0)+y2(0)+!Sß, M~O wählt.
Mit diesem M, das diesmal von ß abhängt, gilt ly'(x)I;;;;;M in O;;;;;x<ß,
also ist nach obigem Kriterium (n = 2) die Fortsetzbarkeit in das Intervall
0;;;;; x < 00 gesichert.
Wenn hier auch die Frage nach der Fortsetzbarkeit an erster Stelle steht,
so ist es doch gelegentlich angebracht, sich für gewisse Lösungen der Nicht-
fortsetzbarkeit zu vergewissern. Kriterien für Nichtfortsetzbarkeit liegen in
der Literatur vor, naturgemäß sind sie von speziellem Charakter. Für ge-
wöhnliche Differentialgleichungen n-ter Ordnung kann man die Nichtfort-
setzbarkeit gelegentlich aus folgender Bemerkung schließen, deren Beweis
auf der Hand liegt und weggelassen werde: Es sei u (x) in xo;;;;; x< y n-mal
stetig differenzierbar und u(xo)~O, u'(xo)~O, "" u(n-l)(xo)~O, Ferner
u(n)(x)~p(u(x)) für xo;;;;;x<y,
Über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen. 173
wobei rp(p) eine in -00 <p < 00 stetige und positive Funktion ist. Dann muß

sein, wenn

f
p
(p_t)k-l
rpk(P) = (k-1)! rp(t) dt für k = 1,2 ...
u(x.)
und
rpo(p) =rp(p)
gesetzt wird.
Beispiel: Die in einer Umgebung von X o = durch die Anfangsbedin- °
gungen y(o) =y'(O) =0, y"(O) =c erklärte Lösung der Grenzschichtgleichung
°
y'" +2y y"= ist nicht in das Intervall 0;:;;;; x < 00 fortsetzbar, falls c < °
gilt. Beweis: Sei y=y(x) eine Fortsetzung in das Intervall O;:;;;;x<y. Dann
x
genügt u = - 2 j Y d x der Gleichung u'" = - 2 c eU und es ist u (0) = 0,
o
u'(o) =0, u"(o) =0. Setzt man rp(p)=-2ceP so folgt aus dem eben mit-
00

geteilten Kriterium die Abschätzung y;:;;;; - 2cK, wenn K = j[rp2(p)]-ldp mit


p 0
rp2(p)=j(p--t)rp(t)dt=--2c(eP -1-p) gesetzt wird; offenbar ist Keine
o
positive Zahl. Also gibt es rechts von x =0 keine Fortsetzung über das
Intervall o;:;;;;x;:;;;; - 2c K hinaus.
Wenn eine Differentialgleichung (oder ein System von solchen) die Be-
wegung eines Massenpunktes nach der klassischen Mechanik beschreibt und
wenn die Differentialgleichung selbst keine Singularitäten besitzt, dann be-
deutet die Nichtfortsetzbarkeit einer Lösung über alle Werte der Zeit, daß
Lage- oder Impulskoordinaten in einem endlichen Zeitintervall beliebig große
Werte annehmen. Wir betrachten die DUFFINGsche Gleichung x 2 x -4 x3= 0, +
welche die Bewegung eines Punktes der Masse 1 auf der x-Achse unter dem
Einfluß einer Kraft beschreibt, die sich aus dem Potential V (x) = x 2- x4
herleitet. Aus dem Energiesatz
tx2+X2_X4=E oder -~x2=(x2-!)2+E-l

folgt, daß z. B. die Lösungen mit der Gesamtenergie E > t nicht für alle
Werte der Zeit fortgesetzt werden können. Die zugehörigen Bahnkurven
x=x(t), y=x(t) der Phasenebene werden (obwohl sie in der x, y-Ebene nicht
geschlossen sind) in endlicher Zeit durchlaufen, genau wie die Bahnkurven
der periodischen Lösungen. Es ist reizvoll zu sehen, wie sich dieses Ver-
halten in der quantenmechanischen Beschreibung desselben Vorganges
widerspiegelt.
Man hat jetzt das Eigenwertproblem des anharmonischen Oszillators
_ y" + (x 2 _ y4) Y = E Y , -oo<x<oo
174 FRANZ RELLICH: Über Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen.

(die unabhänggige Variable heißt wieder x). Aus der Gestalt des Potentials
V = x 2- x4 (aufgezeichnet in einer x, V-Ebene) folgt leicht der Wellen-
charakter der Lösungen und zwar für jeden Wert des Eigenwertparameters E.
Es wäre aber falsch daraus zu schließen, daß dieses Eigenwertproblem ein
rein kontinuierliches Spektrum von - 0 0 bis +
00 besitzt. Wir betrachten

den Charakter der Lösungen etwas sorgfältiger.


Es gibt ein Fundamentalsystem y = U 1 (x), y = U 2 (x), das in der Nähe
von x = -I- 00 die Gestalt
u1(x) =+{COS(~3 - ~)+Rl(X)}
U2(x) = : {sin(~3 - ~)+R2(X)}
hat mit R1(x)--+o, R2(x)--+o für x--++oo (und ein analoges Fundamental-
system für x-->- -00). Die "Amplituden" der Lösungen gehen also mit jxl--+ 00
f
+00

so stark gegen Null, daß für alle Lösungen y 2 dx endlich ausfällt. Das be-
-00

deutet, wie H. WEYL gezeigt hat!, daß sich das Eigenwertproblem verhält
wie im regulären Fall eines endlichen Intervalles (Grenzkreisfall) . Es muß
also bei x = +00 und bei x= - 00 eine Randbedingung gestellt werden,

genau wie im regulären Fall. Das dann entstandene Eigenwertproblem hat


ein reines Punktspektrum. Die Eigenwerte häufen sich nicht nur bei E = 00, +
sondern auch bei E = - 0 0 . Das letztere folgt sofort aus der Tatsache , daß
2

die Differentialgleichung für jeden (reellen) Wert von E (reelle) Lösungen


besitzt, die unendlich viele Nullstellen haben (aber nicht identisch ver-
schwinden); eine solche Lösung ist offenbar die Funktion u1(x).
Eingegangen am 15. Oktober 1951,
1 WEYL, H.: Über gewöhnliche Differentialgleichungen mit Singularitäten und die zuge-
hörigen Entwicklungen willkürlicher Funktionen. Math. Ann. 68 (1910).
2 HARTMAN, PH., u. A. WINTNER: On the orientation of unilateral spectra. Amer. J.
Math. 70, insb. S. 313 (1948) und F. RELLICH, Halbbeschränkte gewöhnliche Differential-
operatoren zweiter Ordnung, Math. Ann. 112 (1951), Satz 2b.
Dber den Gauss-Bonnetschen Satz.
Von
ROLF NEVANLINNA, Helsinki.
(Akademie Finnlands.)

§ J. Die Grundformel.
1. Im folgenden soll die GAuss-BoNNETsche Formel in einer allgemeinen
Form gegeben werden, in welcher sie für gewisse Zwecke der Funktionen-
theorie auf RIEMANNschen Flächen verwendet werden kann.
Wir betrachten eine RIEMANNsche Fläche R, dic entweder geschlossen
oder offen ist. Zu einer solchen Fläche läßt sich stets eine abzählbare Menge
von kreishomäomorphen Umgebungen U angeben, deren Kreisbilder Uz in
der komplexen z-Ebene direkt konform zusammenhängen. Es sei auf Rein
kompaktes Teilgebiet G gegeben, mit einer analytischen Berandung r. Wir
nehmen an, dieses Gebiet sei trianguliert: G = L Gi' so daß die drei Kanten
,
ri des Dreiecks Gi analytisch sind; eine solche Triangulierung kann leicht
konstruiert werden, wenn man R vermittels des Grenzkreistheorems unifor-
misiert, und sie kann so fein angenommen werden, daß jede8 Dreieck Gi in
je einer Parameterumgebung U liegt.
+
2. \Vir betrachten auf G r zwei posItive Gräßen u und v, die auf den
r:
Kanten als zweimal stetig differenzierbare Gräßen definiert sind, so daß sich
u kovariant, v kontravariant bei einer Vertauschung des lokalen Parameters z
transformiert; es sind also die Differentiale u!I dz I und E:1
v
invariant.
Setzt man dann
ai = ! -----an
ologu
ds , b, =!OlOgV
on d S,
r, r,
wo ds= I dz I und on die Richtung der äußeren Normale angibt, so hat man,
wegen der Invarianz des Produkts u v,

~ a·
L.J'
+ L.J'
~ b· =J~10g (~ ds
an' , (1 )
r

und für eine geschlossene Fläche (R= G)

Lai + L bi =. 0 . ( 1')
i
176 ROLFNEVANLINNA:

3. Wir wählen die Größen u und v insbesondere in der folgenden Weise.


Die Größe u möge auf der ganzen Fläche G +r
erklärt sein als eine zweimal
stetig differenzierbare Kovariante, mit Ausnahme von endlich vielen Null-
stellen ~ und Polen ß, in denen
log u = ,u log I z - ~I + U l1 logu=-vloglz-ßI +u2 (,u,v>ü),
sei, wo die Restglieder Ul bzw. U2 in z= ~ bzw. z= ß so regulär sind, daß die
Flächenintegrale
JJilukdxdy (k=1,2;z=x+iy)
an jenen Stellen konvergieren. Nach dem GAussschen Satz wird dann
Lai = JJ illogudxdy + 2n L (,u-1').
G

4. Die kontravariante Größe v definieren wir als v= I~~ I auf der analyti-
schen Kante k, wo t ein fester, positiver Parameter des Bogens k ist; wachsen-
den Werten von t möge hierbei die positive Richtung auf k in bezug auf das
e
betreffende Dreieck entsprechen. Dann wird, falls = arg dz bezeichnet wird,
bi =Jde=2n-L{},
r.
wo L {} die
Summe der Außenwinkel von Gi ist.
Die Summation gibt nun

wo X die topologische Charakteristik der Fläche G + r ist und Lei die Summe
der Außenwinkel des Randes r angibt.
5. Zusammenfassend hat man

X=-1
2n
ff illogudxdy+ L (,u-1')--- f -on- d s - -f deo
2n
1 0 log U 1
2n
G r r
Eine differentialgeometrische Deutung dieser Identität ist bekanntlich die
+
folgende. Führt man auf G reine RIEMANNsche Metrik mit dem Linien-
element da = uds ein, so hat man für die Krümmung den Ausdruck
x = - LI~; U , und das nichteuklidische Flächenelement wird d 0 = u 2 d x d y,
so daß
J J illog u d x d Y = - J x d 0 = - K,
G G

wo K die Curvatura integra von G ist. Der Ausdruck d.= ol;:U ds+de
gibt dann dös Differential der geodätischen Krümmung der Randkurve r
an. Man findet so:
X +_1 K + -~fdr: = ~ (,u -v) (2)
2n 2n ~ •
r
Über den GAuss-BoNNETsehen Satz. 177
und für eine geschlossene Fläche G - R

(2')

mit X= 2 (p- 1), wo p das Geschlecht der Fläche Rist.


Das ist die Formel von GAuss-BoNNET 1 .

§ 2. Anwendung auf Abelsche Integrale.


6. Es soll jetzt kurz angedeutet werden, wie man die GAuss-BoNNETschc
Formel für die Theorie der ABELschen Integrale auf offenen RIEMANNschen
Flächen R verwerten kann. In Analogie mit einem bekannten Vorgang in
der Theorie der eindeutigen analytischen Funktionen in der Zahlenebene,
empfiehlt es sich die Formel zu integrieren, was im vorliegenden Fall z. B.
auf folgende Weise geschehen kann. Man approximiere die gegebene FlächeR
durch eine kompakte Fläche G + r,
aus der man noch einen kompakten in G
+
enthaltenen Teil Go r o entfernt. Auf der Restfläche G - Go führe man die-
+ y
jenige eindeutige Potentialfunktion z= x i ein, die auf o verschwindet r
und auf r einen solchen konstanten Wert X(>O) annimmt, daß

j:= ds= jdY=2n,


I'o ro

wobei on die Richtung der äußeren Normale angibt. Die Anwendung der
Formel (2) im Gebiete Gx (0< Re (z) < x:;:;; X) ergibt dann, nach Integration
im Intervalle 0:;:;; x:;:;; Ä.:;:;; X:

Ä Ä
j(/1(X)-v(x))dx= jX(x)dx+ 21njK(x)dx+
Ä 1
0 0 0
(3 )
+ 2~lIOgU(X+iY)dY+O(X)' J
Hierbei gibt das Argument x ip den Anzahlen /1 und v der Nullstellen bzw. Pole,
in der Charakteristik X und in der Curvatura integra K an, daß allE' diese
Größen in bezug auf das Gebiet Gx zu nehmen sind.
7. Diese Formel enthält bei geeigneter Wahl des Maßtensors u als Spezial-
fälle diejenigen Integralformeln, die in der Theorie der in der Ebene ein-
deutigen meromorphen Funktionen den sog. ersten Hauptsatz aussprechen.
Bei der Anwendung der Beziehung (3) auf ABELsche Differentiale auf einer
offenen RIEMANNschen Fläche R kommt als neues Moment vor allem die
"mittlere" Charakteristik vor, die eine monoton wachsende Funktion von x
1 In dieser Form ist die Formel von AHLFoRs [Acta Soe. Sei. Fenn., Nova Sero II (1937) J
angegeben und für die Theorie der meromorphen Funktionen verwendet worden.
178 ROLF NEVANLINNA: Über den GAuss-BoNNETschen Satz.

ist und bei einer Approximation von R mittels des Gebietes G im allgemei-
nen ins Unendliche wachsen wird, falls die Fläche R von unendlichem Ge-
schlecht p ist.
Was die Wahl der Metrik (u) betrifft, so hat man in erster Linie folgende
Möglichkeiten zu berücksichtigen.
a) Man setzt u = Icpll, wo CPl dz ein eindeutiges analytisches Differential
auf R ist, das in jedem Punkt von R rationalen Charakter hat (ABELsches
Differential). In diesem Fall ist K = o.
+
b) Man definiert u 2 = ICPll2 u~, wo ({Jl wie oben eine ABELsche Kovariante
ist und U o (::;;~ 0) eine reguläre Metrik U o ds auf R erklärt. Wichtige solche
Metriken sind z. B. Uo = Icp21, wo CP2 eine ABELsche Kovariante erster Gattung
ist (d.h. CP2 ist überall auf R regulär), oder allgemeiner UO=Vi~2Icp,12, wo
cp;(i=2,), ... ) ein System von solchen speziellen Kovarianten ist. Für die
Krümmung hat man in diesen Fällen den Wert
L; I'Pi 'Pi - 'Pj 'P~ ;2
',1
X = - (~I'PiI2r

Speziell kann man für U o ds die von BERGMAN eingeführte Metrik wählen.
Zu dieser gelangt man, wenn man für CP2, ••• ein vollständiges Orthogonal-
system von Kovarianten erster Gattung nimmt, wobei das innere Produkt
von cP; und CPj durch das Integral
(CPi' CP1) = JJ
R
CPiCPj dxdy

definiert wird. Dabei sind die Kovarianten cP als quadratisch integrierbar


vorausgesetzt, d. h. das DIRICHLET-Integral (cp, cp) ist endlich.
8. Eine einigermaßen befriedigende Theorip der ABELschen Integrale auf
offenen Flächen R ist im Laufe der letzten zehn Jahre für die Integrale erster
Gattung entwickelt worden. Eine solche Erweiterung ist bis jetzt für die
Integrale zweiter oder dritter Gattung nicht gelungen, und dasselbe ist für
eine natürliche Abgrenzung des Begriffes einer "rationalen Funktion" zu
sagen. Die Schwierigkeit einer solchen Verallgemeinerung beruht darauf, daß
man für eine Fläche R vom Geschlecht p=oo eine unendliche Anzahl von
Polen zulassen muß. Die obigen Bemerkungen sind vielleicht nicht ohne
Bedeutung für die Entwicklung einer Theorie der ABELschen Integrale
höherer Gattung; wir werden auf diese Frage später zurückkommen.

Eingegangen am 20. Okto her 1951.

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