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Fremdheit Kultur
Fremdheit Kultur
Differenztheoretische Perspektiven
Author(s): Andreas Hetzel
Source: KulturPoetik , 2004, Bd. 4, H. 2 (2004), pp. 235-244
Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)
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Andreas Hetzel
Das Projekt der Moderne bindet sich eng an die Suche nach einer letztgültigen O
sowohl der Natur als auch des Sozialen.2 Uneindeutigkeit, Ambivalenz, Rands
und Nichtidentisches werden als Bedrohungen empfunden und dieser Suche g
Der Affekt der Moderne richtet sich dabei insbesondere gegen das Fremde in all
Erscheinungsformen. So bezieht sich bereits die Gründungsunterscheidung de
nalstaaten im 17. Jahrhundert auf das Drinnen und das Draußen, das Eigene
Fremde. Eine prominente Rolle in der Bewältigungsgeschichte des Fremden spi
das moderne Konzept der Kultur; diese gilt seit der Aufklärung als Inbegriff
Eigenen, dessen, was nicht weiter in Frage steht. Kultur umschreibt den Horizon
vorgängigen Erschlossenheit von Welt, einer geteilten Sphäre gemeinsamer Wert
bole und Traditionen. Indem sie das soziale Leben gegenüber allem Fremden ab
garantiert Kultur die Selbsttransparenz der Gemeinschaft; sie harmonisiert W
und standardisiert Handlungsmuster.
Doch das moderne Projekt einer Bewältigung und Ausgrenzung von Frem
erliegt, wie uns eine von Hegel bis Derrida reichende Philosophie der Differen
zeugend zeigen konnte, einer eigentümlichen Dialektik. In ihrem Versuch, es
wältigen, wird die Moderne immer wieder vom Fremden eingeholt. Aus der S
differenztheoretischen Tradition produziert gerade die Unterscheidung zw
Drinnen und Draußen das Fremde. Hegel gibt dieser geheimen Tragik erstma
reflektierten Ausdruck; er leistet den Nachweis, dass jeder Versuch, den Ber
Eigenen konstitutiv abzuschließen, vom Fremden, Anderen und Differenten
laufen wird. Seine Phänomenologie des Geistes rekonstruiert eine »Vermittlu
Sichanderswerdens mit sich selbst«,3 die alle Bereiche des modernen Leben
4 Jacques Derrida,
1987, S. 446.
5 Vgl. Gerd-Günt
Alltag der Gesellsch
6 Vgl. Zygmunt B
formen. Übers, v.
7 Vgl. Giorgio Ag
v. H. Thüring. Fran
8 Julia Kristeva, F
2001.
9 Vgl. Michel Maffesoli, Le Temps des Tribus. Le Déclin de l'individualisme dans les sociétés
de masse. Paris 1988.
10 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread
of Nationalism. London, New York 1983.
eine so hohe Attraktivität zu, weil sie eine leere Projektionsfläche für unsere Phantas-
men bilden und nicht länger über positive Qualitäten bestimmt werden können. Eine
»deutsche Leitkultur« etwa bliebe unter spätmodernen Bedingungen ein Nullsignifi-
kant,11 ein bedeutungsloses Zeichen, kann aber gerade deshalb so inflationär verwen-
det und für verschiedenste tagespolitische Zwecke dienstbar gemacht werden. Die na-
tionalistische und fundamentalistische Gewalt, die sich heute an allen Enden der Welt
entlädt, lässt sich vielleicht gerade als ohnmächtiger Ausdruck der Unmöglichkeit in-
terpretieren, auftragfähige kulturelle Fundamente zu rekurrieren: Ethnisch motivier-
te Gewalt entlädt sich im Namen von Nullsignifikanten und ist insofern immer auch
der Versuch, die Leere genau derjenigen Werte, für die sie einzustehen vorgibt, zu
verdecken. Die religiösen und ethnischen Fundamentalismen unserer Zeit können
insofern eher als Effekte der Globalisierung denn als eine Gegenbewegung zu ihr ver-
standen werden.
Im Folgenden möchte ich zunächst der Frage nachgehen, welche Konsequenzen
aus der Veralltäglichung des Fremden für den Begriff der Kultur erwachsen. In einem
zweiten Schritt diskutiere ich dann drei philosophische Perspektiven, die als Reaktio-
nen auf das Fremdwerden des Kulturellen betrachtet werden können: Hermeneutik,
Dekonstruktion und postanalytische Philosophie. Alle drei Traditionen bemühen sich
um eine differenztheoretische Heuristik, die das Konzept des Kulturellen von objek-
tivistischen Konnotationen befreit und somit einen Kulturbegriff vorbereitet, der
auch unter den Vorzeichen universalisierter Fremdheit eine gewisse Erschließungs-
kraft bewahrt.
11 Das Lacansche Theorem des Nullsignifikanten wird von Slavoj Zizek für eine Analyse
(post-) moderner Nationalismen stark gemacht: »Die nationale Identifizierung wird defini-
tionsgemäß von einer Beziehung gegenüber der Nation als Ding getragen. [...] >Ich glaube an
das (nationale) Ding< wird gleichgesetzt mit >ich glaube, dass andere (Mitglieder meiner Ge-
meinschaft) an das Ding glauben<. Der tautologische Charakter des Dings - seine semantische
Leere, die Tatsache, dass alles, was wir darüber sagen können, darin besteht, dass es >das wirk-
liche Ding< ist etc. - ist genau in dieser paradoxen reflexiven Struktur begründet«; Slavoj Zizek,
Mehr-Genießen. Lacan in der Popularkultur. Wien 1992, S. 86-88.
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Insbesondere theoretische Strömungen im angelsächsischen Sprachraum haben
den Begriff der Kultur in den letzten Jahren von seinen identitätslogischen Belastun-
gen befreit; in Amerika sind das vor allem die Debatten im Rahmen einer zunehmen-
den Reflexivierung und Selbstkritik der Ethnologie seit den sechziger Jahren, die sich
teilweise mit der späteren Postkolonialismus-Diskussion überschneiden; Autorinnen
und Autoren wie James Clifford, Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak wer-
fen hier die Frage nach den Grenzen der Repräsentation von Kultur auf. Wer spricht
im kulturwissenschaftlichen Diskurs zu wem und über wen? Wer hat demgegenüber
kein Recht, zu repräsentieren oder repräsentiert zu werden? In den britischen Cultural
Studies bemüht man sich ebenfalls etwa seit der Mitte der 60er Jahre um einen ideo-
logiekritischen Blick auf Kultur und kulturwissenschaftliche Repräsentationen. So-
wohl im Kontext der Postkolonialismus-Diskussion als auch der Cultural Studies nä-
hert man sich dem Problem der Kultur nicht mehr definitorisch. Kultur und Kultur-
theorie gelten vielmehr als Schauplätze eines »Kampfes um Bedeutungen«,13 der sich
12 Vgl. Andreas Hetzel, Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der
Kultur. Würzburg 2001.
13 Vgl. Lawrence Grossberg, Was sind Cultural Studies? Übers, v. M. Kirisch u. N. Räthzel.
In: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als He-
rausforderung. Frankfurt/M. 1999, S. 43-83.
niemals in einer letzten Ordnung stillstellen lässt. Kultur wird zum Namen eines Wi-
derstreits; als ihr Träger gelten nicht mehr primär überindividuell verbindliche Nor-
men und Sinnmuster, sondern die Handlungsfähigkeit und Kreativität individueller
Akteure, die kritisch mit diesen Normen und Sinnmustern umgehen. In diesem Sinne
möchte auch ich Kultur weniger als Antwort denn als Frage, weniger als Leit- denn
als Problembegriff verstanden wissen, nicht als neue große Legitimationserzählung
sondern als Chiffre oder Platzhalter für eine Selbstverständigung nach dem Ende der
großen Erzählungen.
Die Kulturtheorie fand hierzulande bisher keinen wirklichen Anschluss an die Ent-
wicklung im angelsächsischen Sprachraum und steht zu weiten Teilen in einer neu-
kantianischen, von Ernst Cassirer geprägten Tradition. Kulturen werden hier als ho-
mogene symbolische Ordnungen, implizite Wissensformen, Schemata oder Texte be-
schrieben, welche das Verhalten des Individuums hinter seinem Rücken steuern.
Individuelle Praxis erschöpft sich dann in der Befolgung codierter Regeln. Als Code
standardisiere Kultur, so können wir allerorten nachlesen, das Verhalten Einzelner; sie
fungiere als transzendente Bedingung der Möglichkeit von sinnhaften Handlungen
und Äußerungen.
Gegen diese Transzendentalisierung möchte ich ein komplexeres Verhältnis von
Handlung und kulturellen Sinnmustern einfordern, wie es sich etwa bei Hegel und
Simmel vorgedacht findet. Für beide Autoren wäre Kultur nicht weiter als transzen-
dentale Voraussetzung unserer alltäglichen Weltverhältnisse gegeben, sondern aktua-
lisierte sich erst in der je individuellen Handlung. Diese setzt (und ent-setzt) rückwir-
kend ihre objektiven Voraussetzungen. Statt mit einem transzendentalen Bedingungs-
verhältnis haben wir es bei Hegel und Simmel also mit einer verwickelten Hierarchie
wechselseitiger Konstitution und Dekonstitution von Praxis und Struktur zu tun; für
diese verwickelte Hierarchie prägt Hegel die zunächst paradox anmutende Figur eines
Setzens der eigenen Voraussetzungen.14 Subjektive Äußerungen wären von hier aus
nicht länger als Emanationen eines Kulturallgemeinen zu begreifen, sondern als ei-
gensinniger Umgang mit einem kulturellen Code. Das Individuum subjektiviert sich
nicht einfach dadurch, dass es sich einer symbolischen Ordnung unterwirft. Indivi-
dualität erscheint dagegen überhaupt nur in den Rissen und Verwerfungen der sym-
bolischen Ordnung, dort also, wo ein Bedeutungsgefüge zu sich selbst in Widerspruch
gerät.15 Im Zentrum der Kultur stünde also nicht die Regelbefolgung, sondern die
Abweichung, nicht die Funktion, sondern die Störung.
Der Eigensinn alltäglicher menschlicher Praxis zeigt uns immer wieder, dass Kultur
mit einem Moment des Entsetzens ihrer einmal etablierten Voraussetzungen einher-
geht. Sie erschöpft sich nicht im Inhalt eines Archivs, sondern steht für die kritische
Arbeit an dessen Grenzen. Erläutern ließe sich das auch am Beispiel von philosophi-
schen Theorien. Ein neuer philosophischer Theorieentwurf fügt sich nicht einfach
nur in die Theoriegeschichte ein, sondern installiert rückwirkend eine neue Geschich-
te: Er befindet neu über die Kriterien, die darüber entscheiden, was eine philosophi-
14 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Hg. v. E. Moldenhauer u.
K. M. Michel. Bd. 2. Frankfurt/M. 1986, S. 25-28.
15 Slavoj Zizek kann deshalb behaupten, »that the >subject< is nothing but the failure of sym-
bolization, of its own symbolic representation - the subject is nothing >beyond< this failure, it
emerges through this failure«; Slavoj Zizek, Class Struggle or Postmodernism? Yes, please! In:
Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Zizek (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality. Con-
temporary Dialogues on the Left. London, New York 2000, S. 90-135, hier: S. 120.
16 Vgl. hierzu Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer
politischen Philosophie. Übers, v. H. Brühmann. Frankfurt/M. 1990, S. 311.
17 Vgl. etwa Homi K. Bhabha, »The Postcolonial and the Postmodern. The Question of
Agency«. In: Ders., The Location of Culture. London, New York 1994, S. 171-197.
18 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Ubers. v. R. Voullié. Berlin 1988.
19 Zum Konzept des Othering vgl. Johannes Fabian, Präsenz und Repräsentation. Die Ande-
ren und das anthropologische Schreiben. In: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, sozia-
le Praxis, Text. Frankfurt/M. 1993, S. 335-364.
20 Gegenüber der latent eurozentrischen Rede von dem Fremden wäre darauf zu bestehen,
dass sich von jedem konkreten Fremden her das Problem der Fremdheit neu und anders stellt;
so macht es häufig einen Unterschied ums Ganze, ob man als Frau oder Mann fremd ist, als
Afrikanerin oder Europäer, Christ oder Muslima, ob man fremd ist in der Fremde oder im
eigenen Land. Das Problem des Fremden hat sich immer schon multipliziert und verweist
letztlich auf eine Ethik der Alterität, auf die unendliche Verantwortung gegenüber der irredu-
ziblen Andersheit des je singulären Anderen. Die philosophische Frage nach dem Anderen
müsste vor diesem Hintergrund supplementiert werden um ein ganzes Bündel ethnologischer
Fragen: Fragen nach den Namen, Sprachen und Praktiken, mit denen andere den Fremden
begegnen.
21 Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister. In: Ders., Kritische Ausgabe in 35 Bänden. Hg.
v. Ernst Behler. Paderborn, Darmstadt, Zürich 1958 ff. Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I
(1796-1801), S. 126-146, hier: S. 126.
23 Ulrich Oevermann u. a., »Die Methodologie einer >objeküven Hermeneutik< und ihre
allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«. In: Hans-Georg
Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart 1979,
S. 352-434.
24 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern. Hamburg 1970, S. 144.
25 Vgl. zu diesem Motiv auch Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Frankfurt/M. 1998.
26 Wilhelm von Humboldt, Paralipomena. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. d. Kgl.
Preuß. Akad. d. Wiss., Abt. 1. Werke. Hg. v. A. Leitzmann. Bd. VII.2. Berlin 1908, S. 374.
27 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt/M. 1992, S. 12 f.
besser: sich selbst als fremde). Erst im Moment ihrer Selbstüberschreitung zeichnen
sich ihre Konturen rückwirkend ab.
Eine wichtige Inspirationsquelle der Derridaschen Dekonstruktion liegt in Georges
Batailles Konzept einer heterologischen Kulturwissenschaft.28 Bataille bemühte sich
in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts um die Ausformulierung einer nachme-
taphysischen Philosophie. Metaphysik begreift er dabei als Suche nach einem außer-
kulturellen Punkt, von dem aus das Ganze der Kultur in den Blick genommen werden
könnte. Dieser exorbitante Punkt - etwa Gott, das Subjekt, die Natur - hat in der
Moderne an Verbindlichkeit eingebüßt. Die moderne Kultur kennt kein Außerhalb
mehr, gegenüber dem sie abgegrenzt und von dem aus sie verobjektiviert werden
könnte. Jeder Beobachter der Kultur steht nun immer schon mitten in der Kultur.
Bataille sucht insofern nach Rissen im Kontinuum, die es ermöglichen, der Immanenz
der Kultur zu entkommen, ohne auf ein Transzendentes zurückgreifen zu müssen. Er
widmet sich der Untersuchung des sozial Verfemten in all seinen Erscheinungsfor-
men, so insbesondere den Spuren von Tod und Gewalt in der Kultur. Tod und Gewalt
können weder eindeutig als das Andere der Kultur begriffen werden, noch lassen sie
sich widerspruchsfrei in kulturelle Symbolsysteme integrieren. Sie haben keinen fes-
ten Ort in der Kultur und hindern diese immer wieder neu daran, sich in einer be-
stimmten Gestalt abzuschließen. Tod und Gewalt sind insofern mit Kontingenz und
Freiheit verschwistert. Als Ethnologie des Todes und der Gewalt lässt die Bataillesche
Heterologie ab vom Anspruch, unvermittelt auf das Zentrum einer Kultur zugreifen
zu können. Sie interessiert sich vielmehr für die Zwischenräume und Reste, für das
Anachronistische, Vergessene und Verdrängte, die Bataille als Bedingungen der Mög-
lichkeit und Unmöglichkeit von Kultur begreift.
Die Dekonstruktion systematisiert und radikalisiert die Bataillesche Heterologie;
Derrida zeigt überzeugend, dass das kulturell Eigene immer nur ausgehend von einer
ihm vorausgehenden und es unterlaufenden Fremdheit gedacht werden kann; das
Eigene wäre dann nichts anderes als das gegenüber dem Fremden Fremde. Derrida
richtet unsere Aufmerksamkeit auf das Uneins-Sein jeder Kultur mit sich selbst, auf
ihre konstitutive Unvollständigkeit. Kritisch ließe sich gegenüber Derrida anmerken,
dass seine Dekonstruktion textualistisch verengt ist. Er liest Kultur als einen, sich frei-
lich notwendig widersprechenden, Text und blendet so andere wichtige Dimensionen
des Kulturellen aus. Außerdem schwebt er manchmal in der Gefahr, die Dimension
der Fremdheit zu hypostasieren und das je konkrete Fremde einem abstrakten Ande-
ren zu opfern, welches unsere Selbst- und Weltverhältnisse (im Modus des apriori-
schen Perfekts:) »immer schon« heimgesucht habe.
Eine dezidierte Kritik am kulturwissenschaftlichen Objektivismus findet sich auch
in der postanalytischen Philosophie, insbesondere bei Robert Brandom.29 Stärker als
Hermeneutik und Dekonstruktion berücksichtigt Brandom den Anteil der Handlung
an der Kultur und betreibt Kulturtheorie (freilich ohne dass der Begriff der Kultur bei
ihm explizit würde) als eine Theorie diskursiver Praxis. Im Gefolge von Peirce und
Wittgenstein klärt er kulturelle Bedeutungen unter Verweis auf ihren Gebrauch. Wir
verstehen den Gehalt einer Äußerung erst dann, wenn wir sie kompetent als Prämisse
oder Konklusion in einem Urteil zu gebrauchen wissen. Brandom beschreibt Diskurse
28 Vgl. Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität.
Übers, v. R. Bischof, E. Lenk u. X. Rajewsky. München 1997, S. 14 ff.
29 Vgl. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskur-
sive Festlegung. Übers, v. E. Gilmer u. H. Vetter. Frankfurt/M. 2000.
30 Ebd., S. 74.