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»Sanctuary trauma« –
Stationäre psychiatrische Behandlung
als sekundär traumatisierende Umwelt
Stefan Gunkel*)
Präliminarien
*) Anschrift des Autors: Dipl.-Psych. Stefan Gunkel, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Hannover, Rohdehof 3, D-30853 Lan-
genhagen, (0511) 7300-520 / -501 (Sekr.) / Fax: -518; email: Stefan.Gunkel.Langenhagen@Klinikum-Hannover.de
und eine Einweisung verfügt. Wenn Krankheitseinsicht fehlt und Eigen-
oder Fremdgefährdung besteht, wird mitunter die Unterbringung erzwun-
gen, wobei man notfalls auch Gewalt anwendet. Die Umstände der Ver-
bringung in eine Behandlungseinrichtung sind nicht selten dramatisch.
Während eines Krankenhausaufenthaltes kann es zu Fixierungen, Isolie-
rung, Zwangsmedikation usw. kommen. Somit kann auch eine Behand-
lung, die eigentlich Besserung oder Heilung anzielt, traumatische Qualität
gewinnen.
(3) Drittens resultieren aus dem weiteren Verlauf meist zahlreiche psycho-
soziale Einbußen, wie Arbeitsplatz- und Wohnungsverlust sowie das Ab-
brechen zwischenmenschlicher Beziehungen. Dies sind schwer belastende
Ereignisse, die zur Verminderung der subjektiven Lebensqualität der Be-
troffenen beitragen.
Für psychiatrisch Tätige ist unmittelbar evident, dass auch und gerade die
schizophrene Psychose wegen ihrer desintegrierenden Qualität eine
schwerwiegende Erkrankung darstellt. Vom Verlauf her ist sie unkalkulier-
bar, meist chronisch. Sie erfordert eine langwierige sozial- und pharmako-
therapeutische Behandlung und ist von daher subjektiv ausgesprochen
belastend.
Der betroffene Mensch gerät quasi aus der Bahn seines Lebens. Ohne
Übertreibung ist eine paranoide Schizophrenie als das non plus ultra des
Herausgeschlagenseins aus normalen Alltagsbezügen zu beschreiben. Die
Erkrankung bringt oft einen Fortfall des gesamten mentalen Orientie-
rungsrahmens der Person mit sich. Nicht zuletzt zeigt sich das zerstöreri-
sche Potential der Psychose an einer sukzessiven Zerrüttung familiärer Be-
ziehungen.
Die These, dass das Erkranken an einer Psychose bzw. das Leben mit dieser
Krankheit, besonders auch das Behandeltwerden in einer psychiatrischen
Institution, vielschichtig traumatisierende Umstände sind – man könnte
sagen ein »Multitrauma« darstellen –, wurde in der Literatur seit ca. 15 Jah-
ren vereinzelt vertreten. Eine wissenschaftliche Untermauerung erfolgte
durch eine begrenzte Anzahl empirischer Studien.
1) Damit sind Reaktionsweisen gemeint, wie sie in Items des Peritraumatic Dissoziative Experiences Questionaire
(PDEQ von Marmar et al., 1997) konkretisiert werden: „Ich hatte Momente, in denen ich nicht mehr wusste, was
vor sich ging. Ich fühlte mich so, als ob ich nicht Teil von dem war, was passierte. / Ich fühlte mich so, als ob ich
automatisch handelte. Ich habe Dinge gemacht, zu denen ich mich gar nicht bewusst entschlossen habe, wie ich
später merkte / Mein Zeitgefühl war verändert - alles schien wie im Zeitlupentempo zu passieren. / Es gab
Momente, in denen mein Gefühl für meinen Körper verändert oder gestört zu sein schien. Ich fühlte mich wie
abgetrennt von meinem Körper oder als ob mein Körper außergewöhnlich groß oder klein sei. / Was geschah,
erschien mir wie unwirklich, als ob ich in einem Traum sei oder einen Film oder ein Theaterstück sehe / u.a.“
z Marmar, C.R., Weiss, D.S. & Metzler, T. (1997). The Peritraumatic Dissociative Experiences Questionaire. In: J.P.
Wilson & T.M. Keane (Eds.), Assessing psychological trauma and PTSD: A Practioners handbook. New York:
Guilford Press.
4) In einer polnischen Langzeituntersuchung hatten binnen 12 Jahren mehr als die Hälfte der schizophrenen
Patienten einer Krakauer Behandlungseinrichtung ihren Job verloren (von 90% bei Ersthospitalisierung auf 40%
im Follow-Up) (A. Chechnicki, 2004).
Zu erwähnen ist auch die Fieber- und die Infektionstherapie, d.h. Malaria-
impfung oder Infusion von Lämmerblut (mit anaphylaktischem Schock),
das Einreiben der Kopfhaut mit Brechweinstein (was schmerzhafte Ge-
schwüre verursachte), das Zwangsstehen und die sog. Schlaftherapie,
womit eine Dauernarkose von einer Woche mit Somnifen gemeint ist(6).
6) vgl. „Die Seele ist ein weites Land“ [Internetpublikation: http://www.apotheker.or.at] sowie „Historisches: Vom
Hospital zum Krankenhaus – Haina im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert“ [Internetpublikation:
http://www.psych-haina.de/historisches/18-19-jhd.htm]; Luderer, H.J. (1999). Geschichte der Psychiatrie: Von
Aderlässen, Brechkuren und Sturzbädern zur Pharmako-, Psycho- und Soziotherapie am Ende des 20. Jahrhun-
derts. [Internetpublikation: http://www.lichtblick99.de/historisch1.html].
Abb. 15: Bedrückende Bilder aus einer südserbischen psychiatrischen Anstalt aus dem Jahre 1994, die im Rahmen ei-
ner Reportage entstanden. Während des damaligen Embargos im Winter ’94 herrschten dort katastrophale Zu-
stände. Täglich starben mehr als 10 Insassen, Krankheiten grassierten, bei Minusgraden war keine Heizung vorhan-
den und Patienten mussten sich im Bett gegenseitig wärmen.
In der amerikanischen Literatur habe ich einen treffenden Begriff zur Be-
zeichnung psychischer Schädigungen gefunden, die innerhalb einer ei-
gentlich sicheren Institution der Gesundheitsförderung geschehen, und
zwar den Terminus „sanctuary trauma“ (Silver, 1986), also Schon- oder
Schutzraum-Trauma. Ein solches ereignet sich dort, wo man psychisch Ge-
störten unter der Überschrift psychiatrischer Behandlung bzw. Psychothe-
rapie mit Gewalt, Zwang, Ignoranz und Unmenschlichkeit begegnet (Frueh
et al., 2002)(7).
Heute ist Klinik-Psychiatrie deutlich besser, was Behandlungskonzepte,
bauliche Standards, personelle Voraussetzungen und die gesamte Versor-
gungsqualität betrifft. Trotz Fachpersonal und besserer Medikamente sind
7) z Frueh, B.C., Dalton, M.E., Johnson, M.R., Hiers, T.G., Gold, P.B., Magruder, K.M. & Santos, A.B. (2000). Trauma
within the psychiatric setting: Conceptual framework, research directions, and policy implications. Administra-
tion and Policy in Mental Health, 28(2), 147-154.
8) z Barton, R. (1966). Institutional neurosis. Bristol: John Wright (dtsch.: "Hospitalisierungsschäden in psychiatri-
schen Krankenhäusern", in: A. Finzen (Hg.), Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern: Ur-
sachen, Behandlung, Prävention, S. 11-79, München: Piper, 1997).
„Wieder geht die Tür auf, noch mehr Männer und Frauen kommen
herein, alle stürzen sich auf mich, drücken meinen Körper fest aufs
Bett, halten mich eisern umklammert an den Händen und Beinen
fest, einer kniet auf meinem Unterarm. Kommandos werden ausge-
tauscht. Ich habe nackte Angst. Sie werden mich töten, das weiß ich.
Die Menschen kennen kein Erbarmen, sie reagieren überhaupt nicht
auf mich, sie werden mich foltern und vergewaltigen. Einige haben
weiße Kittel an. Sind es Organdiebe oder aber bösartige Wissen-
schaftler, die mir einen Chip ins Gehirn einpflanzen, um mich fortan
als Marionette durchs Leben gehen zu lassen? Ich kann kaum atmen.
(...) Bitte, Gott, mach dass es schnell vorbeigeht. Lass sie mich um-
bringen, ohne mich vorher zu vergewaltigen. Ich denke an meine
Kinder. Ich werde sie nie wiedersehen. Ich weine und bete.“ (Klein-
sorge, 2004, S. 28)(9)
9) z Kleinsorge, M. (2004). Und bist du nicht willig ... Sozialpsychiatrische Informationen, 33(2), 27-29.
10) z Gallop, R., McCay, E., Guha, M. & Khan, P. (1999). The experience of hospitalization and restraint of women
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Psychiatrica Scandinavica, 103(1), 60-65.
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Die medikamentösen Effekte irritieren und beängstigen viele Patienten.
Auch hier tritt das ein, was die bereits genannten invasiven Maßnahmen
erzeugen, und wodurch eine existentielle psychologische Erschütterung
hervorgerufen wird. Ich meine den sog. „Kontrollverlust“ (Shaw et al.,
2002)(13), ein Gesichtspunkt der die Traumaforschung als Kernfaktor
durchzieht.
Eine Schizophrenieerfahrene schrieb nach jahrelanger stationärer psych-
iatrischer Behandlung kürzlich in einem autobiografischen Buch: »Haldol
durchwühlt den Geist und die Seele wie ein Tiefflug. (...) Man altert in zwei
Stunden um 20 Jahre.« (Bauer, 2004, S. 37f)(14).
Ich habe selber eine umfangreiche Befragung von 110 chronisch schizo-
phren Erkrankten durchgeführt (Gunkel et al., 1996)(15), die sich in teilsta-
tionärer oder ambulanter psychiatrischer Behandlung befanden. Ich
möchte Ihnen daraus einige Ergebnisse zeigen.
12) z Smolka, M., Klimitz, H., Scheuring, B. & Fähndrich, E. (1997). Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie aus der Sicht
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15) z Gunkel, S., Bröker, M. & Priebe, S. (1996). Psychiatrische Behandlung aus der Sicht chronisch schizophrener
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z Priebe, S., Bröker, M. & Gunkel, S. (1998). Involuntary admission and posttraumatic stress disorder symptoms in
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Über desinteressierte Therapeuten klagen knapp ein Drittel und 20% der
Patienten fanden es belastend, wenn die Vertrauensbeziehung zum Thera-
peuten schlecht war und ähnlich viele (18%) fanden die Behandlung viel zu
lang.
(Abb. 23) Hinsichtlich der Neuroleptika und anderer Medikamente ist zu
sagen, dass Psychopharmaka generell von 42% als traumatische Erfahrung
gesehen werden, wobei 29% die Dosis oder das Präparat unangemessen
fanden. Schwer belastende allgemeine und spezielle Nebenwirkungen be-
richteten jeweils zwischen 22% und 32%. Die Befragung wurde 1993 durch-
geführt.
Bei den invasiven Maßnahmen ragte die geschlossene Unterbringung mit
51% negativ hervor. Auch Reglementierungen wurden sehr häufig genannt.
Zwangseinweisung, Fixierung und Gewalt, insbes. bei der Unterbringung,
wurden jeweils von einem Viertel erwähnt. Zwangsmedikationen wurden
seltener (15%) als traumatischer Vorgang berichtet, noch seltener Isolier-
maßnahmen (5%).
16) z Kolb, L.C., Burris, B.C. & Griffiths, S. (1984). Propranolol and clonidine in the treatment of the chronic post-
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