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Johann Drumbl

Nachwort
Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt,
so bricht ihre ganze Funktion zusammen.
Wittgenstein

1969 wandte sich die Mutter eines Kindes mit Williams-Beuren Syndrom, der die
sprachlichen Eigenheiten ihres Kindes aufgefallen waren, an Noam Chomsky mit dem
Hinweis, diese Phänomene seien sicher von wissenschaftlichtlichem Interesse. Chomsky gab
den Fall an seine Schülerin Ursula Bellugi in La Jolla weiter, die sofort die außerordentliche
Bedeutung dieses Syndroms für die Sprachwissenschaft erkannte. So entstand ein erstes
Corpus an Untersuchungen und Veröffentlichungen zur Sprache der Williams Patienten im
Umkreis der generativen Transformationsgrammatik. Nach 20 Jahren hat Steven Pinker in
einem Artikel in Nature die Summe dieser Arbeiten und Erfahrungen gezogen.. Die
ungestörte Kompetenz auf dem Gebiet der Formen der regelmäßigen Verben gegenüber dem
gestörten Gebrauch der unregelmäßgen Verben verlange nach einem Modell der
Sprachverarbeitung, bei dem der Zugriff auf die Lexik (die unregelmäßigen Verben werden
nicht als „Grammatik“, sondern als eigene lexikalische Einheiten gespeichert und
aufgerufen) und der Zugriff auf die „Grammatik“ der Sprache in getrennten Bahnen
verlaufen. Der empirische Nachweis einer gesonderten Verarbeitung für die Grammatik hat
für Pinker den Status eines Kronzeugen für die Existenz eines autonomen Grammatik-
Moduls im Gehirn des Menschen, also auch für die grammatische Theorie der
Universalgrammatik, die in ihrer Eigenwertung einfach die komplementäre Seite des
spezifischen Funktionalitätsmoduls des Gehirns darstellt.
Diese Hypothesen haben weitreichende Folgen nicht nur für die Theoriediskussion, sondern
auch für viele Bereiche der angewandten Linguistik. Der empirische Nachweis eines
genetisch determinierten autonomen Grammatikmoduls impliziert – so lautet Pinkers
Folgerung – die Bestätigung der generativen Grammatik und ihrer Annahme einer
Universalgrammatik.
Vor dem Hintergrund so weit reichender Folgen, die auf einigen wenigen Aspekten des
Sprachverhaltens aus einer genetisch bedingten Behinderung basieren, scheint es notwendig,
die Grundlagen der wissenschaftlichen Erforschung des Williams Syndroms erneut zu
überprüfen. Diese Überprüfung leistet Grazia Vittigni in ihrer Diplomarbeit, indem sie den
Gang der Argumente und Gegenargumente genau verfolgt, dabei aber auch die jeweils
gewählten Untersuchungsbedingungen mitanalysiert. Das Ergebnis dieser Arbeit ist
eindeutig. Aus dem gegenwärtig vorliegenden Untersuchungsmaterial und seiner
Erforschung ist es nicht möglich, weit reichende Folgen der Art abzuleiten, wie dies Pinker
in seinem Forschungsüberblick getan hat, als einem breiten Publikum das missing link eines
überzeugenden Fundes darstellte.

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Die neu erwachte Vorsicht bei der Beurteilung der Daten, die wir aus dem Sprachverhalten
von Williams-Patienten herleiten, soll nicht dazu dienen, die von Pinker vertretene Position
grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern sie dient als Ausgangspunkt für weiteres Fragen
nach möglichen Blicken auf die Daten von Sprechern.
Die Arbeit von Grazia Vittigni entstand im Umkreis von Fragestellungen zum gesteuerten
Spracherwerb unter den in Italien üblichen Bedingungen in Schule und Universität. Massive
Misserfolge, rigides Verhalten, Angst, Stress, zwanghaftes Auswendiglernen,
Zurückdrängen individueller Kreativität, Trennung von Emotion, Intention und Sprechen,
negative Selbsteinschätzung und Hemmungen beim Schreiben und Sprechen, verfrühte
Fossilisierungserscheinungen im Bereich der Grammatik und der Prosodie. Positive Aspekte
wie unerklärliche Lernerfolge, die nicht auf bestimmte Merkmale der Schüler zurückgeführt
werden können.
Diese Erfahrungen im Bereich der Beobachtung des gesteuerten Spracherwerbs führen dazu,
die Stütze eines theoretischen Modells zu suchen. Das Sprachverhalten der Williams
Patienten schien in dieser Perspektive von besonderem Interesse, weil es auf den ersten Blick
gerade das Gegenteil des typischen Schülerverhaltens in unseren Klassenräumen darstellt:
übertriebene Kommunikationsbereitschaft und Eloquenz, großes Kommunikationsbedürfnis
und unbremsbare Redebereitschaft bei kaum merklichen Sprachfehlern, die im normalen
kommunikativen Rahmen kaum auffallen.
Diese in grober Annäherung feststellbare Antinomie war der Ausgangspunkt der
Untersuchung im umfassenderen Kontext der Untersuchung von Lernervariablen in
unterschiedlichen Momenten des Lernens und Sprechens.
Vielleicht stützen die Daten der Williams-Patienten tatsächlich die Theorie der
Universalgrammatik, aber das „Stützen“ hat überhaupt nur Sinn in Hinblick auf eine fertige
Theorie.
Was sagen aber Daten über das Verhalten von Lernern und Sprechern, wenn sie ohne eine
vorgegebene Theorie oder vor dem Hintergrund einer anderen Theorie befragt werden?
Kann eine Theorie gerade dann entstehen, wenn man die Daten nur zusammenstellt und
überblickt, wenn man eine Anschauung der Daten gewinnt, die in eine Theorie mündet?
Wittgenstein spricht an zentralen Stellen seines Werkes ab 1931 von einem Gegensatz
zwischen dem „Erklären“ und einer bloßen „Zusammenfassung der Daten“ in einer
„übersichtlichen Darstellung“ (Frazer, S. 8-9, Philosophische Untersuchungen Nr. 122; S. 82).
Die Stellen sind schwer verständlich und noch schwerer zu übersetzen, so dass ich sie für
meine Zwecke metaphorisch lese und verwende. Ich ordne die Daten zu einem Bild der
Sprachverarbeitung, das sowohl den normalen als auch den gestörten Verlauf zeigt. Aus den
Daten der Williams-Patienten können wir entnehmen, dass an irgendeiner Stelle im Lauf der
Sprachverarbeitung eine Passage – oder sagen wir ruhig Modul – existiert, das selektiv auf
„Grammatik“ anspricht. Es ist aber nicht notwendigerweise als Grammatikmodul angeboren,
das heißt, dieses Modul kann Teil einer umfassenden angeborenen „Werkzeugebene“ sein,
die eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen erfüllt, darunter auch die Feinsteuerung der
Motorik beim Sprechen.

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Zu diesem Bild der Multifunktionalität mit verschiedenen selektiv operierenden Funktionen
gehört die Vorstellung, dass wir überhaupt nur im Moment des gestörten Ablaufes Einblick
in den Aufbau dieses Organs gewinnen können. Das Sprachverhalten dieser Menschen lässt
Bahnen und Funktionen erkennen, die beim normalen Ablauf unsichtbar geblieben wären.
Auf dieser Grundlage werden solche Fälle systematisch im Rahmen der kognitiven
Psychologie untersucht, um die jeweils nachgewiesenen Störungen als Teile eines
umfassenden Systems hypothetisch zu einem Gesamtbild zu fügen.
Die bedeutende Arbeit von Missing the Meaning ist ein wegweisender Erfolg beim Versuch,
den hochkomplexen Ablauf der Sprachverarbeitung mit Hilfe einer multiplen Behinderung
nachzukonstruieren.
Ich will mich hier mit einer metaphorischen Darstellung begnügen, indem ich bei der
Metapher ansetze, die Wittgenstein für die differenzierten Funktionen der Wortarten
verwendet.

11. Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange,
eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. –
So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der
Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.)
Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns
gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht
nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!

12. Wie wenn wir in den Führerstand einer Lokomotive schauen: da sind Handgriffe, die alle
mehr oder weniger gleich aussehen. (Das ist begreiflich, denn sie sollen alle mit der Hand
angefaßt werden). Aber einer ist der Handgriff einer Kurbel, die kontinuierlich verstellt
werden kann (sie reguliert die Öffnung eines Ventils); ein anderer ist der Handgriff eines
Schalters, der nur zweierlei wirksame Stellungen hat, er ist entweder umgelegt, oder
aufgestellt. ; ein dritter ist der Griff eines Bremshebels, je stärker man zieht, desto stärker
wird gebremst; ein vierter, der Handgriff einer Pumpe, er wirkt nur, solange er in und her
bewegt wird. (S. 21-22).

Das ist ein Bild, das mehr aussagt, als den bloßen Unterschied zwischen den Wortarten. Ich
sehe in den „Handgriffe“, die zum Greifen da sind, aber ganz unterschiedliche Wirkungen
hervorbringen, ein Bild der Funktionalität der menschlichen Sprachkompetenz. Da ist eine
Ebene, die dazu dient, die Steuerung auszuführen. Der Mechanismus ist komplex und
charakterisiert von der Verteilung der Funktionen auf verschiedene Unterbereiche. Jeder
dieser Bereiche kann – um wieder auf die Sprache der Williams-Patienten zu kommen –
gestört sein. Nur hat die Störung je eines Unterbereiches ganz unterschiedliche Folgen für
die Gesamtleistung.
Um im Bild zu bleiben, kann die Kurbel an einer bestimmten Stelle der möglichen
Drehungen blockiert sein, auch bei Null oder beim Maximum, der Ein-Aus-Schalter ist an

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einer der beiden Positionen fixiert, der Bremshebel könnte auf der Nullposition unbeweglich
geworden sein, und der Handgriff der Pumpe ist in der Ruhestellung ohne Bewegung einfach
funktionslos geworden.
Stellen wir uns jetzt eine Fülle von Varianten selektiver Störung einzelner dieser Werkzeuge
in nicht vorhersehbaren Positionen vor und wir erhalten das Bild einer Vielzahl von mehr
oder weniger drastischen Störungen der Gesamtfunktion dessen, was mit Hilfe dieser Griffe
in Funktion gebracht und gehalten werden sollte.
Das Bild des Führerstands einer Lokomotive verlangt nach dem Lokomotivführer als Lenker
und Betätiger all jener Handgriffe, die für das reibungslose Funktionieren der Lokomotive
notwendig sind. Analog dazu setzen wir in unserem Modell der Sprachverarbeitung eine
Schichte an, die für die Steuerung der ausführenden Werkzeugschichte verantwortlich ist.
Die Steuerung erfolgt mit Hilfe von Informationen, die im Moment des Steuerns zur
Verfügung stehen und die bei normalem Ablauf zum Großteil über die Werkzeugschichte
vermittelt werden. Einige Aspekte der Steuerung können wir uns direkt ausgeführt
vorstellen, zum Beispiel die Steuerung, die zum Erröten führt, um nur ein ganz eindeutiges
Phänomen anzusprechen.

Sprechakt

Werkzeugebene

Steuerungsebene

Emotion, Prosodie, Lexik, Weltwissen, Inferenzen,

Störungen können aber auch die Steuerungsebene betreffen. Einen Extremfall dieser Störung
dokumentieren die sogenannten idiots savants. Bei dieser Behinderung, die sich durch
Sprechen ohne Sinnbezug äußert, ist die Steuerungsebene weitgehend ausgeschaltet und die
Verarbeitung der Daten aus der Enzyklopädie des Sprechers erfolgt allein über die
Werkzeugebene.
Das Sprachverhalten vieler Schüler beim Fremdsprachenlernen und beim Üben ist durch die
Konzentration auf die Werkzeugebene gekennzeichnet. Normale Steuerungsfunktionen
durch Emotion, Prosodie, Enzyklopädie, Inferenzen und das, was wir den gesunden
Menschenverstand nennen, sind dabei weitgehend ausgeschaltet. Ähnliche Ergebnisse
bewirkt der Einfluss von Stress auf die Verarbeitung von Sprache vor allem in Lern- und
Übungssituationen.
Die gegenteilige Dominanz zeigen Williams-Patienten, bei denen ein Teil der
Werkzeugebene nicht mit der Steuerungsebene verbunden ist. Die Steuerung einiger
kommunikativer Verhaltensaspekte trifft daher „ungebremst“ den Menschen im Moment des
Sprechens und führt zum übertriebenen Ausdruck der kommunikativen Absichten.
Typologisch nähert sich dieses Verhalten dem von Sprechern einer Zweitsprache mit hoher

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kommunikativer Kompetenz und ungenügender, fossilisierter Grammatikkompetenz.
Nachweisbare Störungen entstehen also, wenn die Steuerungsebene zu wenig Daten zur
Verarbeitung an die Werkzeugebene weitergibt.
Die „Steuerungsebene“ ist ein Bild im Bild. Wir haben uns keinen Lokomotivführer
vorzustellen, sondern ein Gleichgewicht von Sprache, Wissen, Emotion, Inferenzen, und
anderen Elementen, das im Moment des Sprechens ereicht wird. Sprache wird erst im
Moment der Verwendung zu dem, was sie ist. Sprache ist keine ontologische Entität, die von
einem Geist in Bewegung gesetzt wird. In Hinblick auf den Weg, auf dem die Gedanken
Wittgensteins in der weiteren Forschung weitergeführt wurden, können wir die zwei in
unserem Bild angeführten Bereiche der Steuerungsebene und der Impulse auch als
Pragmatische Ebene bezeichnen.
Zum Bild der Werkzeugebene gehört noch die Metapher der Feineinstellung der Maschinen,
die durch die Handgriffe betätigt werden. Im Rahmen des Bildes ist dies der Ort, an dem
Parameter gesetzt werden. Ich könnte auch die Metapher des Schmieröls wählen. Die
Benutzung eines Öls ist obligatorisch, aber die Sorte ist nicht vorbestimmt, sondern sie wird
im Moment des Anlaufens der Maschine ausgewählt. Bestandteil der Parameter oder des
Schmieröls sind auch jene Morpheme einer Sprache, die systematisch in grammatikalischer
Funktion verwendet werden.
Dieses Bild der Sprachverarbeitung ist imstande, den Daten der Williams-Patienten gerecht
zu werden, es widerspricht auch keineswegs den Grundannahmen der generativen
Transformationsgrammatik, nur lassen sich diese Grundannahmen weder aus dem Bild noch
aus den ihm zugrundeliegenden Daten beweisen. Daten von Behinderungen in der
Sprachverarbeitung sind keine Beweise, sie haben den Status von Indizien. Sie sind das
Primärmaterial für Hypothesen.
In dieser Sicht hat die Erforschung der Sprache von Williams-Patienten exemplarische
Bedeutung für die Sprachwissenschaft und speziell für die angewandte Sprachwissenschaft,
und wir tun gut daran, uns mit diesen Daten auseinanderzusetzen. Wir brauchen Hypothesen
und vorläufige Bilder der gestörten Sprachkompetenz, um mit iher Hilfe vielleicht auch
effiziente Strategien der Kompensation und der Rehabilitation zu finden.

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