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Philosophie Als Medizin Für Die Seele: Bernhard Koch
Philosophie Als Medizin Für Die Seele: Bernhard Koch
Philosophie als
Medizin für die Seele
Untersuchungen zu Ciceros
Tusculanae Disputationes
Schriftenreihe für
Klassische Altertumswissenschaft
SEVERIN KOSTER
––––
Band 90
Bernhard Koch
ISBN-10: 3-515-08951-9
ISBN-13: 978-3-515-08951-7
vorwort .................................................................................................................13
1. Grundlegendes ................................................................................................15
1.1. Einleitung .................................................................................................15
1.2. Cicero als Klassiker .................................................................................17
1.3. Die Interpretation der Tusculanae Disputationes ....................................18
1.3.1. Die ‚eklektische’ Cicerointerpretation...........................................19
1.3.2. Ciceros rednerisches Philosophieren .............................................19
1.3.3. Ciceros Skepsis und das probabile ................................................21
1.3.4. Übernahme – Entscheidung – verantwortung ...............................21
1.3.5. Philosophie als therapie ...............................................................24
1.4. textstreitigkeiten und neuere kommentierte Übersetzungen ...................27
1.5. Eloquentia und akademische Skepsis als methodische Säulen des
Ciceronischen Philosophierens ...............................................................29
1.5.1. Die Platonische Akademie zur Zeit des Hellenismus....................30
1.5.2. Das Problem des Lucullus .............................................................31
1.5.3. Invention........................................................................................32
1.5.4. Stufen der probabilitas ..................................................................34
1.5.5. Evidenzmangel, Autorität und Erfahrung......................................35
1.5.6. Die nota veri der Stoiker ...............................................................37
1.5.7. therapeutische Philosophie und Freiheit ......................................41
1.5.8. Die Rede ........................................................................................44
1.5.9. Cicero und das stoische Denken in De fato...................................45
1.6. Cicero und Philon von Larisa ...................................................................50
1.6.1. Cicero und Philon: Formale Nachfolge in den Tusculanae
Disputationes. Die Gliederung Philons und ihre Anwendung
auf die Struktur der tusculanen ....................................................50
1.6.2. Cicero und Philon: Inhaltliche Nachfolge und Absetzung
in den Tusculanae Disputationes...................................................55
1.7. Die Tusculanae Disputationes im biographischen Kontext .....................58
5. Schlussbemerkungen.......................................................................................194
Anhang 1 .............................................................................................................198
Anhang 2 .............................................................................................................199
English Summary ................................................................................................199
Kurzinformationen zu erwähnten antiken Autoren und Persönlichkeiten ..........200
verwendete Abkürzungen ...................................................................................202
12 Inhaltsverzeichnis
Werturteile stellt: das glückliche leben, mein glückliches leben, habe ich selbst in
der Hand, indem ich mich beim Handeln an ethischen normen ausrichte (Buch V).
Gerade indem ich mein Handeln an objektiven Werten orientiere, diene ich mir auch
selbst. die volle Akzeptanz dieses satzes, die ihre Ausprägung in meinem Handeln
findet, bewahrt meine Seele in Harmonie.
Cicero hat keine dieser einsichten ‚erfunden‘. die Bedeutung des sittlich rich-
tigen Handelns für das eigene glückliche leben ist altes sokratisches erbgut. dass
emotionen weitestgehend zu vermeiden sind, ist in östlichen religionen weit ver-
breitet und wird zu Ciceros Zeit vor allem von der Philosophenschule der stoiker
vertreten. Über die Bedeutung des todes schrieb schon Platon seinen berühmten
dialog Phaidon, und was die erträglichkeit des schmerzes betrifft, so kann Ci-
cero auf die Mentalität der Römer und anderer antiker Völker zurückgreifen. Also
doch alles nur eklektik? Abgesehen davon, dass derjenige, der diese Frage bejaht,
versuchen sollte, selbst eine neuartige Antwort auf die themen der tusculanen zu
geben – die Originalität eines philosophischen denkers liegt (ähnlich wie bei einem
großem symphoniker) oft nicht in den themen oder Überschriften, sondern in der
durchführung. diese durchführung ist aber nicht ohne durchgang durch den ge-
samten text zu erhalten. in diesem sinne versteht sich die folgende untersuchung
als ‚philosophischer Kommentar‘ zu Ciceros Tusculanae Disputationes. so folgen
ihre Hauptabschnitte den fünf Büchern der schrift, allerdings in einer Anordnung,
die die emotionspsychologische systematik des vierten Buches an den Anfang stellt
und über die Bücher iii und i bis zum zweiten zurückgeht, in dem auch die Grenzen
der angewendeten ‚logos-therapie‘ aufgezeigt werden. dabei ergeben sich auch
Wiederholungen und wechselseitige Verweise und Bezüge. Freilich hat für die
Gesamtlinie der interpretation nicht jedes detail gleiches Gewicht. Aber es bleibt
die Hoffnung, dass hier gezeigt werden kann, mit welchen Mitteln und mit welcher
argumentativen Kraft Cicero einen Weg beschreitet, den er als heilsam für sich, für
den einzelnen leser und auch für die res publica roms angesehen hat. dabei bringt
Cicero sein bestimmtes talent ein, nämlich das des redners. das heißt nicht, dass
sich der text in bloße rhetorik verlieren würde, sondern es bedeutet bei Cicero das
genaue Gegenteil: sachbezug in der rede.
Wie aber kann sich ein – dem selbstbekenntnis nach – dem skeptizismus nahe
stehender denker wie Cicero auf ‚die sache‘ beziehen, die er doch als solcher für
unerkennbar halten müsste? die Antwort ist: Gerade durch die rede selbst gelingt es,
die sache ans licht zu bringen. nicht als neuschöpfung, sondern als das erkennen
des probabile. das probabile gibt sich aber nicht als Bestand, sondern als Anzuneh-
mendes, zu Akzeptierendes, und – bei begründeter Widerrede – auch zu Prüfendes
und zu revidierendes. Auch das jeweilige redeziel der tusculanenbücher besteht in
einer Annahme der zu belegenden these durch ein – freies – subjekt. Ex negativo ist
der Zusammenhang geläufig: Ohne einen gewissen Willen zur Erkenntnis kann es zu
keiner erkenntnis kommen. es lässt sich aber zeigen, dass Cicero auch die positive
sichtweise vertritt: Zur erkenntnis gehört das erkennen-wollen, das Akzeptieren,
allerdings kein willkürliches, sondern ein begründetes. in diesem spielraum von
Gebundenheit an rationale norm und – ‚freier‘ – entscheidung vollzieht sich der
erkenntnisprozess und mit ihm die Bildung der seele.
1.2. Cicero als Klassiker 17
1 Allerdings bedarf diese Behauptung einer einschränkung, denn Bruno Weil (Weil 1962, 142 ff.)
zeigt, dass beispielsweise Otto von Freising ein guter Cicerokenner war.
2 Vgl. Zielinski 1912; Walter rüegg: Cicero und der Humanismus. Formale untersuchungen über
Petrarca und erasmus, Zürich 1946; Classen 1968, 198–245 (konzentriert sich auf die rezeption
von Ciceros reden und stil).
das Faktum und das datum entnehme ich Weil 1962, 170. erasmus hat auch die maßgebliche
lateinische Ausgabe des 16. Jahrhunderts ediert.
Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Band 5, Fünftes Buch, der letzte Kampf der rö-
18 1. Grundlegendes
20. Jahrhundert als überwunden gelten. Bestes Zeugnis dafür liefert die Aufsatz-
sammlung von Karl Büchner aus dem Jahre 1971.5 es ist Büchner gelungen, durch
die Zusammenstellung unterschiedlichster internationaler Beiträge der Forschung
den eigenwert Ciceronischen Philosophierens aufzuzeigen.
mischen Republik, München 62001, 283–288. Mommsens Tiraden sind heute wortwörtlich
‚lächerlich‘, d. h. durchaus vergnüglich zu lesen.
5 Büchner 1971.
Narducci 199, 5–, hier 22. Vgl. auch den Abschnitt „La filosofia come terapia dell’anima“
17–19. narducci ist auch Veranstalter des jährlichen Cicero-symposiums in Arpino, der Ge-
burtsstadt des großen römers, dessen Vorträge dokumentiert sind: emanuele narducci (Hrsg.):
Cicerone prospettiva 2000. Atti del i symposium Ciceronianum Arpinas, Florenz 2001. ders.
(Hrsg.): interpretare Cicerone. Percorsi della critica contemporanea. Atti del ii symposium Ci-
ceronianum Arpinas, Florenz 2002. ders. (Hrsg.): Aspetti della fortuna di Cicerone nella cultura
latina. Atti del iii symposium Ciceronianum Arpinas, Florenz 200. ders. (Hrsg.): eloquenza
e astuzie della persuasione in Cicerone. Atti del V symposium Ciceronianum Arpinas, Florenz
2005. – das Jahrbuch Ciceroniana, das die tagungen des Centro di studi Ciceroniani in rom
dokumentierte, wurde nach dem Tod des Herausgebers Scevola Mariotti mit Band XI (2000)
eingestellt.
Vgl. auch Alberto Medina González’ introducción in: Cicerón: Disputaciones Tusculanas, Ma-
drid 2005, –88, bes. 3–, wo unter dem Titel „La filosofía como terapia del alma“ nur Ciceros
eigene Bekenntnisse zum therapeutischen Ziel der tusculanen zusammengestellt sind.
1.. die interpretation der Tusculanae Disputationes 19
8 Hirzel 188, Pohlenz 1906 und 1909, Pohlenz 1911, Philippson 192 und 197.
9 Max Pohlenz: Ciceronis Tusculanae Disputationum libri V, stuttgart 51912, nd 1957, Band 1
und 2, texteinführungen, 26.
10 Vgl. Gawlick/Görler 1994, 1026–1028.
11 Michel 190. An Michel orientiert sich auch Alberto Medina González’ introducción in: Cicerón:
Disputaciones Tusculanas, Madrid 2005, –88, bes. –82.
12 Michel 191.
1 Michel 191, 11.
14 ebd.
20 1. Grundlegendes
werden. Michel bemüht die Unterscheidung Blaise Pascals von raison und coeur.15
Der Redner appelliert an das Herz. So gibt es für Michel auch keine Einheit von
rednerischem und philosophischem Zugang im Begriff des probabile bei Cicero:
„le probabilisme des rhéteurs n’est pas celui des philosophes.“16 die rolle von
Ciceros skeptischen Voraussetzungen für die Verwendung rednerischer Mittel wird
bei Michel nicht beleuchtet, weil er ohnehin davon ausgeht, dass oratio und ratio
verschiedene ‚teile‘ der seele ansprechen.17 Cicero aber äußert sich im Hinblick auf
eine seelenlehre, die klar umrissene ‚teile‘ unterscheiden würde, recht unbestimmt.
die tusculanen beanspruchen eine seelische therapie bieten zu können, ohne über
die ‚internen‘ details der seele genau Bescheid wissen zu müssen. in eine ähnliche
Richtung wie Alain Michel geht auch Woldemar Görlers Verhältnisbestimmung von
rhetorik und Philosophie. in den „untersuchungen zu Ciceros Philosophie“ nimmt
er an, dass sich die erste („materialistische“) Argumentation gegen den tod als Übel
in Tusc. i „an den Verstand“ wendet, der „platonische Beweisgang“ hingegen „an
das Gemüt“18. Michel und Görler haben einerseits zweifellos recht: Cicero will nicht
argumentieren, ohne den ‚ganzen Menschen‘ zu einer Zustimmung zu bewegen, oder
anders gesprochen, ohne eine ‚ganzheitliche‘ Zustimmung zu erreichen, und dazu
15 Vgl. ebd. 168. Vgl. Ciceros unterscheidung von lingua und cor in de orat. ,61.
16 ebd. 162.
17 In einem späteren Aufsatz Michels von 1983 (Michel 1983) werden die Emotionen zwar mit
Bezug auf die Tusculanen, aber nicht besonders textnah, als seelische Fehler „sous l’influence
du corps“ (11, vgl. auch 15; dagegen aber 1) und der Kummer (aegritudo) als Quelle (source)
der passions (1 unten) dargestellt. die Frage, ob Cicero für emotionslosigkeit eintritt, verneint
Michel mit Verweis auf die Rede Pro Murena (vgl. 14). es ist aber ein heikles interpretatorisches
unterfangen, die philosophischen schriften Ciceros gegen seine reden auszuspielen und um-
gekehrt. Man kann hier mit einer Stelle aus Ciceros Reden selbst argumentieren, nämlich Pro
Cluentio 19, wo Cicero deutlich macht, dass der Advokat für den Klienten, nicht aus eigener
Überzeugung, spricht: „doch der irrt sich gewaltig, der da meint, er besitze in unseren reden,
wie wir sie vor Gericht gehalten haben, unsere verbrieften Überzeugungen. Alle diese reden
sind nämlich durch die Sachverhalte und Umstände bedingt, nicht durch die Menschen selbst
und durch die Anwälte. denn wenn die sachverhalte für sich selbst sprechen könnten, würde
niemand einen redner zuziehen. nun zieht man uns zu, damit wir das sagen – nicht was sich
auf unsere Überzeugungen gründet, sondern was sich aus dem Gegenstand selbst und aus den
Sachverhalten ableiten lässt.“ (Übers. Fuhrmann). Interessant ist Michels Idee zur Therapie der
emotionen bei Cicero: Zwar würde Cicero zugeben, dass nur über Wahrheit die leidenschaft
besiegt werden kann, aber eine zerrüttete seele sei nicht mehr in der lage, die Wahrheit aufzu-
nehmen. deshalb trete hier die rhetorik auf den Plan. ihre Aufgabe sei es, „par toute la chaleur
de la parole humaine“ (17) die Bereitschaft für die Aufnahme der Wahrheit in der seele zu er-
zeugen. Michel lässt aber völlig offen, auf welche Texte er sich bei seiner Interpretation stützt.
Cicero jedenfalls scheint in den tusculanen durchaus davon auszugehen, dass auch in einer mit
emotionen belasteten seele bei wahren sätzen angeknüpft werden kann, um von diesen aus die
falschen zu wenden. Michel baut das Verhältnis von rednerischer und rationaler Fähigkeit zu
einem Cicero nicht gerecht werdenden dualismus auf. – Gegen ende des Aufsatzes versucht
Michel das skeptische Bekenntnis Ciceros einzubinden und glaubt, Ciceros Glücksvorstel-
lung sei nicht die stoische, sondern die Freude am erkenntnisfortschritt. diese these sei zwar
nicht in den Tusculanen zu finden, „mais il semble qu’elle était plus largement exprimée dans
l’Hortensius“ (17 f.).
18 Görler 1974, 24.
1.. die interpretation der Tusculanae Disputationes 21
muss auch die Gefühlswelt einbezogen werden. Aber der Grund für die notwendig-
keit des Zusammenspiels von rationalität und rednerischer ‚Überrationalität‘ liegt
wohl noch etwas tiefer oder ist erkenntnistheoretisch basaler: es ist die reaktion auf
seine skeptische Überzeugung und seine sicht der erkenntnistheoretischen condicio
humana.
Cicero erläutert in den tusculanen zwar den therapeutischen rahmen, innerhalb des-
sen seine reden zu verstehen sind, er erläutert aber nicht den erkenntnistheoretischen
rahmen. dafür ist auf den dialog lucullus zurückzugreifen.19 nun ist natürlich zu
sehen, dass im lucullus der streit zuvorderst um die Geltung von sinneserkenntnis
ausgetragen wird, die aus der sicht des Antiochos von Askalon (dargelegt von der
Figur des lucullus) ein evidenzmoment bei sich führen kann, was der skeptiker
bestreitet. die Fragen der Tusculanae Disputationes sind ja gewiss nicht auf der
ebene der sinnlichkeit zu beantworten, aber Cicero grenzt seinen – Karneades
verpflichteten – Ansatz im lucullus nicht auf sinnlichkeit ein. es geht um „Wissen
unter der Bedingung kognitiver ungewissheit“20 und um die entwicklung eines
Kriteriums, das der menschlichen Bedingtheit des erkennens gerecht wird: das pro-
babile. Woldemar Görler hat in einem Aufsatz21 trefflich beschrieben, wie es Cicero
durch das ergreifen einer sprachlichen Chance gelingt, aus dem Begriff des Wahr-
scheinlichen, wie er z. B. in der griechischen rhetorik verwendet wurde – nämlich
als piqanov", das durch seine Verbindung mit peivqesqai ein „passives Verhalten, ein
Gehorchen, ein ‚Mit-sich-geschehen-Lassen‘“22 nahe legt – das aktive und positive
probabile, das Billigenswerte, zu konstituieren. Mit diesen Begriffen des probare
und der probatio kann Cicero die karneadeische Wahrscheinlichkeitslehre über den
Bereich „simpler ‚Vorstellungen‘, also sinnlicher eindrücke“2 hinaus ausweiten auf
die Fragen, die ihn in den tuskulanischen Gesprächen interessieren.
zu. sie widmen sich ausdrücklich Ciceros späten Werken, allerdings unter nicht gerade ‚philo-
sophisch‘ zu nennender Perspektive. „untersucht wird vielmehr Folgendes: die Beziehungen
zwischen der lebenssituation Ciceros und dem Charakter seiner Werke oder, anders ausgedrückt,
die komplizierte Verbindung von bivo" qewrhtikov" und bivo" praktikov"“ (5, vgl. auch 9). Zwar
sammelt Bringmann als Historiker eine Fülle von Material, wie er aber in einer Anmerkung
deutlich macht, hält er bereits Büchners Bemühungen um eine neuanerkennung Ciceros als
Philosophen für eine Überschätzung von dessen philosophischer Originalität (105, Anm. 52).
die Tusculanae Disputationes sind für ihn ein „moralphilosophisches“ Werk (110), eine bloße
Fortsetzung von De finibus mit dem Anspruch zu zeigen, dass das Glück „in der Macht des
Menschen liege“ (15). Das ist zweifellos alles richtig, übersieht aber die eigene, therapeutische
Absicht der schrift.
25 in ruchs dissertation le préambule dans les oeuvres philosophiques de Cicéron, Paris 1958
gibt es allerdings eine Besprechung der Vorreden der tusculanen (281–289).
26 ruch 1969.
27 ruch 1969, 11.
28 ebd. 10.
29 ebd. 10. Wörtlich heißt es: „… étant affaire d’invention, non de découverte“. und weiterhin
(2): „ …la vérité est bien plus invention et construction que découverte; elle ne préexiste
pas quelque part.“ Vgl. ac. 2,7: „Veri esse aliquid non negamus, percipi posse negamus.”
0 Während der Weise in der idealkonzeption der stoa eine Handlung aus vollständigem Wissen
beschließen kann, bleibt für Cicero unter den Bedingungen der realität immer eine lücke,
die in der entscheidung nicht ohne ein ‚restrisiko‘ geschlossen werden kann. insofern könnte
Cicero für sich in Anspruch nehmen, er betreibe ‚stoische Philosophie unter den Bedingungen
der Wirklichkeit‘.
1 Vgl. fin. 1,: die inventio ist die Weise (modus) des erforschens und entdeckens der Wahr-
heit.
2 ac. 2,7; vgl. unten ab seite 1.
ruch aber scheint Cicero als Konstruktivisten zu verstehen: „la vérité est bien plus invention
et construction que découverte; elle ne préexiste pas quelque part.“ (2; Kursivschreibung von
ruch). Zwar sprechen auch andere Autoren von einem ‚konstruktiven Vorgehen‘ Ciceros (wie
z. B. Gawlick/Görler 1994, 1097), meinen aber damit nicht einen Konstruktivismus Ciceros,
sondern sein Verfahren der disputatio in utramque partem, die nicht als destruktive dialektik
1.. die interpretation der Tusculanae Disputationes 2
besagt diese Phrase durchaus richtiges und Wichtiges. Aber auch hier besteht die
Gefahr des Missverständnisses, nämlich in Richtung eines bloßen Pragmatismus, der
den Begriffen nur Geltung in ihrem Bezug auf Handlung zubilligt. Cicero dagegen
besteht, wie in diesen untersuchungen vertreten werden soll, durchaus auf einem
anspruchsvollen Begriff der Wahrheit, die nicht in der Willkür des Menschen liegt
und relativistisch zu konstruieren wäre, aber sein skeptizismus macht Vorbehalte
hinsichtlich der erkennbarkeit dieser Wahrheit.
unter diesen Vorzeichen lässt sich im Folgenden am stärksten bei Woldemar Gör-
ler anknüpfen. Mit seinen „Untersuchungen zu Ciceros Philosophie“4 hat er 1974
eine Arbeit vorgelegt, die die Ciceroforschung insofern auf eine neue ebene brachte,
als er als erster einen wirklich eigenständigen philosophischen Ansatz bei dieser
Persönlichkeit des Altertums aufzuzeigen wusste. „die sogenannten Widersprüche
in Ciceros theoretischen schriften“5 werden in einem stufenmodell ciceronischen
Argumentierens aufgelöst. das erste Buch der tusculanen dient fast als Paradigma:
Auf einem ersten niveau wird die schülerthese vom tod als Übel widerlegt, weil
dieser als ende des seins auch jede Qualität des seins – ob gut oder schlecht – zu
ende bringe. Auf einer zweiten stufe wird „dargelegt, dass wahrscheinlich die seele
mit dem tode gar nicht zugrunde geht, sondern sich in höhere regionen erhebt.“6
eine mittlere Position von einem begrenzten Weiterleben – wie sie die stoa vertritt
– ist denkbar.7 Dieses Modell von tiefster, evtl. mittlerer und höchster Stufe wird auf
Ciceros schrifttum insgesamt angewandt. es liegt am denkenden und das Problem
des Todes bedenkenden Menschen selbst, an die in den höheren Stufen formulierten
thesen zu „glauben“.8 nun hat die Verallgemeinerung möglicherweise den Preis
mancher Gewaltsamkeit dort, wo das schema vielleicht nicht so klar zuzuordnen
ist wie im ersten Buch der tusculanen.9 eine bemerkenswerte Generalthese bleibt
dieses Modell allemal, und Görler hat so auf den wesentlichen Punkt, der hier aus-
gefaltet werden soll, hingearbeitet, nämlich den entscheidungscharakter, den jede
kognitive Überzeugung bei Cicero in sich trägt. Wo keine völlige sicherheit zu
gewinnen ist, dort muss der – freie – Mensch sich für das rational Plausibelste ent-
scheiden. insofern sind die Argumentationsziele der „höchsten stufen“ tatsächlich
„in einem ganz eigentümlichen sinne ‚gewollt‘“.40 Auch in einem späteren Aufsatz
von 1996, der ganz den tusculanen gewidmet ist, zeigt Görler, wie von „zwei ver-
schiedenen standpunkten“ ausgegangen wird, von denen aus das Beweisziel der
jede Überzeugung rauben soll, sondern gerade im Abwägen zu einem positiven ergebnis führen
darf.
4 Görler 1974.
5 so Görlers Kapitelüberschrift zum Abschnitt ii.
6 Görler 1974, 20.
7 Vgl. die Übersicht in Gawlick/Görler 1994, 1101.
8 Vgl. Görler 1996a, besonders 108 f.
9 Günther Patzig findet die ganze Stufentheorie „etwas künstlich wirkend“ (Patzig 199, hier
11).
40 Görler 1974, 21. Vgl. Gawlick/Görler 1994, 1104: „Cicero wusste …, welchem Vorwurf er sich
aussetzen würde [nämlich des billigen Wuschdenkens]; und doch werden in seinen schriften
immer wieder bestimmte Überzeugungen ‚gewünscht‘“.
24 1. Grundlegendes
wie das Leben zu führen sei, einfließen lassen.47 ‚Wie das leben zu führen sei‘ ist
die ethische Frage, und dementsprechend versteht nussbaum – wie der untertitel
anzeigt – ihr Buch als eine untersuchung über ethik. dabei trifft sie eine dreifache
unterscheidung von ethischen Ansätzen, die in der Antike bereits vertreten wurden,
von ihrer Aktualität aber nichts verloren haben und somit auch zur Klassifikation der
neuesten ethiktheorien noch tauglich sind:
a) Das platonische Modell: „Platonisch“ („Platonic“) ist hier der Name für eine
Begründungsform von ethik, die nussbaum nicht auf Platon beschränken will,
sondern als eine, deren urheberschaft in gewisser Weise zwar bei Platon liegt,
die aber als Denkfigur weit über ihn hinausreicht und heute vor allem in Wissen-
schaft und Religion vertreten ist. Die ethischen Normen sind in diesem Modell
unabhängig von den konkreten Menschen, ihren Bedürfnissen und Wünschen.
„the good is out there“48, und das ganz unabhängig davon, ob es überhaupt
Menschen gibt. Die richtige Norm des Handelns ist nicht von Menschen zu
schaffen oder zu erzeugen, sondern sie ist als vorgefundene zu betrachten und
zu befolgen. in der religion wird diese sichtweise auf die ethik dahingehend
aufgegriffen, dass die normen eben als von Gott gesetzte und möglicherweise
auch verkündete in einen Raum gestellt sind, den der Mensch bloß erblicken,
nicht aber verändern kann. Die wissenschaftliche Version des ethischen Modells
begreift Ethik in Analogie zur physikalischen Untersuchung als Auffindung
vermeintlich objektiver sachverhalte.
b) Das Modell der „gewöhnlichen Meinung“ („ordinary belief“): Dieses manchmal
(aber von Nussbaum nur eingeschränkt) Aristoteles zugeschriebene Modell
bestimmt die normen des richtigen Handelns und lebens an den sozialen Kon-
ventionen, die über Handeln und leben getroffen worden sind. diese Konven-
tionen haben ein Korrektiv in der Praktizierbarkeit und vielleicht auch in der
langfristigen Verbesserung der lebensumstände der Gesamtheit.
c) Das medizinische Modell: An ihm ist Nussbaum vor allem interessiert. Vom
platonischen Modell grenzt sich das medizinische in der These ab, dass nicht aus
einer Position ‚über‘ den Menschen eine Ethik für Menschen gefunden werden
kann, mithin also die Menschen zu befragen sind nach Wünschen, Bedürfnissen
und Intuitionen, wenn handlungsleitende Maßstäbe entwickelt werden sollen.
Vom Modell der „gewöhnlichen Meinung“ grenzt sich das medizinische Modell
darin ab, dass es solche handlungsleitenden Maßstäbe nicht ungeprüft aus den
Wünschen, Bedürfnissen und Intuitionen, so wie sie von Menschen geäußert
werden, übernimmt, sondern methodisch auf ihre Wahrheit hin untersucht.
Als Kriterien für Wahrheit dienen dabei die Konsistenz der Äußerungen, ihre
Kohärenz und ihre Korrespondenz mit der ‚natur‘.49 dieser naturbegriff ist
nun selbst ein normativer und empirischer zugleich.50 die erforschung der em-
47 Vgl. ebd. 6.
48 ebd. 17.
49 Vgl. ebd. 2 f.
50 Vgl. ebd. 24.
26 1. Grundlegendes
pirischen natur richtet sich auf die „tiefsten schichten“ unserer Persönlichkeit
und der unserer Mitmenschen. Damit will Martha Nussbaum offenbar einerseits
dem expertenurteil raum geben, andererseits aber nicht eine Betrachtungsweise
des Menschen (z. B. die medizinische oder biologische) als die umfassende
feststellen, obgleich das Ziel der erforschung doch so etwas wie eine ‚theorie
des Menschen‘ ist.
Aber inwiefern kann dieser naturbegriff normativ sein, ohne in den naturalis-
mus zu führen? nussbaum sieht den naturbegriff des Hellenismus von vornher-
ein wertbesetzt („value-laden“):
Ancient accounts of ‚nature‘ “select some aspects of human beings and their lives as especially
important or valuable, deciding only then that a certain element should be counted as part of
our nature.”51
So wird bei den Stoikern die Natur des Menschen als Vernunfttätigkeit bestimmt
und damit gleichzeitig die Vernunfttätigkeit als ‚gesollte‘ Betätigung des Men-
schen aufgefasst. Philosophie ist dann die tätigkeit, die zu zeigen vermag, worin
die natur – je nach philosophischer schulrichtung – zu sehen ist.
Das medizinische Modell, so Nussbaum, verbindet die kritische Kraft des Platonis-
mus mit der „Weltimmanenz“ oder ‚Diesseitigkeit‘ des „Modells der gewöhnlichen
Meinung“.52 dabei füge es noch „a commitment to action“5 hinzu, indem der
Handlungsimpuls schon selbst in den Begriffen angelegt sei.
Martha C. Nussbaum sieht die hellenistische Philosophie in einer gesellschafts-
kritischen Funktion, weil es vor allem kulturelle Vorbehalte und Werturteile seien,
die die natur, auch die menschliche natur, an ihrem „Aufblühen“ hinderten.54 des-
halb frage die hellenistische Philosophie häufig nach dem vorkulturellen Zustand des
lebens, wie er sich bei tieren und Kleinkindern äußert. Philosophie impliziert also
für Nussbaum ein permanentes „Misstrauen“ den faktischen sozialen Verhältnissen
gegenüber.55
Nussbaums Unterscheidungen können helfen, Ciceros therapeutisches Modell
in den Tusculanae Disputationes klarer zu verorten. Zunächst einmal steht das „me-
dizinische Modell“ der Stoiker als ‚Binnensystem‘ des therapeutischen Konzeptes
Ciceros außer Frage. Aber es ist hineingestellt in einen rahmen der skepsis und
bringt so wieder etwas von dem zurück, was nussbaum als „platonisch“ bezeichnet,
nämlich Orientierung an Überindividuellem, das zwar nicht in völliger Klarheit und
Richtigkeit vom Menschen erkannt werden kann, das der Mensch aber in Annahme
und Übernahme sich zu eigen machen kann und muss. Auch Cicero will Kritik und
Selbstkritik des Menschen, die ihren Ausgang in und an seiner Rationalität nimmt
– auch Gesellschaftskritik. Aber er teilt nicht den erkenntnistheoretischen Opti-
mismus, der uns vollständige Aufklärung über uns selbst und die natur der natur
gewährleisten könnte. Wenn der Mensch nicht in sich selber stecken bleiben soll,
51 ebd. 0.
52 ebd. 2
5 ebd. .
54 Vgl. Tusc. ,2 ff.
55 Vgl. nussbaum 1994, 1.
1.4. textstreitigkeiten und neuere kommentierte Übersetzungen 27
was ja die Gefahr bedeutet, dass das falsche selbstverständnis sich selbst noch als
richtiges auffasst, dann muss er entscheidungsfähig bleiben auch auf ein Gutes hin,
das „out there“ ist, wie nussbaum für den Platonismus konstatiert.
der text der Tusculanae Disputationes ist seit über vierzig Jahren Gegenstand eines
Streits unter Philologen. Die beiden Protagonisten sind Michelangelo Giusta56 und
sven lundström.57 dabei geht es zum einen um „die Frage, ob die Überlieferung
der tusculanen, wie die meisten Überlieferungen lateinischer texte, auf zwei Hand-
schriftenklassen, X und Y, aufgeteilt ist.“58 Während Giusta und Hans drexler59 eine
verlorene Klasse ‚Y’ annehmen, glaubt Lundström, dass es zu keinem Zeitpunkt eine
solche Handschriftenklasse Y gab. Zum anderen richtet sich der Streit auf gegebene
oder vermeintliche interpolationen, die mittelalterliche Abschreiber dem Cicerotext
hinzugefügt haben sollen. lundström geht davon aus, dass die Zahl solcher ‚Glos-
seme‘ denkbar gering ist. Giusta dagegen hat eine Fülle von Konjekturen in seine
textausgabe60 aufgenommen. in der philosophischen interpretation der tusculanen
spielen diese schwierigkeiten kaum eine rolle. Für die hier vorgelegte Arbeit wa-
ren die beiden lateinisch-deutschen Ausgaben von Olof Gigon61 und ernst Alfred
Kirfel62 grundlegend. Gigon verwendet den lateinischen text in der einrichtung
von Max Pohlenz6, auch Kirfel stützt sich auf diese Ausgabe aus der Bibliotheca
Teubneriana, nimmt aber um die sechzig Konjekturen von Giusta in seinen latei-
nischen text auf.
ernst Alfred Kirfel fügt an seine Übersetzung in der gegenwärtigen reclam-
Ausgabe der Tusculanae Disputationes nützliche Anmerkungen an.64 umfangreicher
ist die Kommentierung von Olof Gigon in dessen tusculanen-Ausgabe65, die er aber
nicht ‚Kommentar‘, sondern „Ausführliche Anmerkungen“ nennt. Gigons sicht
auf Cicero lässt sich ganz summarisch seiner einleitung zu Boethius’ Consolatio
Philosophiae entnehmen, wo es heißt, Boethius habe sich zu seinen griechisch-neu-
platonischen Quellen
56 Giusta 1969 und 1991. Vgl. die in turin 1984 von Giusta herausgegebene textausgabe.
57 lundström 1964 und 1986. Vgl. lévy 1995 und 200, 672.
58 lundström 1986, 7.
59 drexler 1961.
60 M. Tulli Ciceronis Tusculanae disputationes, hrsg. von M. Giusta, Turin 198.
61 Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes, lateinisch-deutsch,
mit ausführlichen Anmerkungen neu herausgegeben von Olof Gigon, düsseldorf/Zürich 1951,
71998 (sammlung tusculum).
62 M. Tullius Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum, lateinisch/deutsch,
übersetzt und herausgegeben von ernst Alfred Kirfel, stuttgart 1997 (reclam).
6 M. Tullius Cicero: Tusculanae disputationes, hrsg. von Max Pohlenz, Leipzig 1918 (ND Stutt-
gart 1965 und 1982) (Bibliotheca teubneriana).
64 Auf den seiten 489–52.
65 Auf den seiten 457–586 [fortan: Gigon (Komm.)].
28 1. Grundlegendes
„nicht anders verhalten […] als 550 Jahre zuvor Cicero zu seinen griechischen Quellen. Was die
Griechen schulmäßig exakt, auf logische stringenz bedacht und nicht ohne Pedanterie vortra-
gen, erhält bei den römern eine urbane großzügige Gestaltung. An Feinheiten des Gedankens
ist bei einem Cicero wie bei einem Boethius sicherlich viel verloren gegangen. doch dies wird
wettgemacht durch eine geschichtliche Ausstrahlungskraft, die gerade bei diesen römischen
schülern weit größer ist als bei ihren griechischen lehrmeistern.“66
Gigon bleibt insgesamt dem eklektiker-Bild Ciceros verhaftet. die Anmerkungen
zum text sind dementsprechend auch nicht aus einer selbständigen interpretation des
Werkes heraus formuliert, sondern versuchen, Mutmaßungen über Quellen Ciceros
anzustellen, zeigen aber auch die internen Querverweise auf und sammeln eine Fülle
von Material, das im Zusammenhang mit dem von Cicero Dargelegten steht.
Zuletzt muss noch auf Margaret Gravers englische Übersetzung und Kommen-
tierung der Bücher iii und iV der Tusculanae Disputationes hingewiesen werden.67
sie füllt damit die lücke, die die etwas unzureichende Arbeit von Alan edward
douglas68 hinterlassen hatte. dieser glaubte, Ciceros Philosophieren in den tuscula-
nen auch dann gerecht werden zu können, wenn man sich nur mit den ersten beiden
Büchern und dem fünften ausführlicher befasst, denn nach Douglas’ Meinung „be-
trachtete Cicero sie [sc. die themen der Bücher iii und iV] als weniger wichtig wie
die Herausforderung der todesfurcht und das ertragen physischen schmerzes.“69
Margret Graver bündelt die Ergebnisse der umfassenden angloamerikanischen Stoi-
kerforschung und nimmt Cicero als die älteste Quelle für die stoische emotionslehre
ernst (vii). neben den nützlichen Kommentar stellt sie in vier Anhängen eine Fülle
fragmentarischer Vergleichstexte von Krantor und der tradition der trostliteratur,
von epikur und den Kyrenaikern, von Chrysipp und den frühen stoikern sowie von
Poseidonios vor. das größte Verdienst gebührt ihr aber aufgrund ihrer luziden Über-
setzung, der es immer darum zu tun ist, die Argumentationsstruktur aufzudecken.70
Graver geht es insgesamt darum, einen Beitrag zur emotionsdebatte und zu den
66 Boethius: Trost der Philosophie, lat./dt., hrsg. und übers. von ernst Gegenschatz und Olof Gigon,
düsseldorf/Zürich 62002, 69.
67 Cicero on the Emotions: Tusculan Disputation 3 and 4. Translated by Margaret Graver, with
Commentary by Margaret Graver, Chicago/London 2002 [fortan: Graver].
68 Tusculan Disputations, edited with translation and notes by A. e. douglas, 2. Bde. (Bd. 1: Buch
i, Bd. 2: Bücher ii und V, „with a summary of iii and iV“), Warminster 1985–1990.
69 Tusculan Disputations ii & iV, Warminster 1990, 77. Vgl. Görler 1992a. – douglas’ Beitrag
zum Band „Cicero the Philosopher“ von J. G. F. Powell (douglas 1995) ist informativ und
anregend. Bemerkenswert sind vor allem die Überlegungen zur Bezeichnung scolhv (199 ff.),
mit der Cicero seine geschilderten Gespräche versieht (Tusc. 1,8). Aber obwohl douglas die
tusculanen als „symphonie in fünf sätzen“ (208) bezeichnet, bleibt er doch bei der einschät-
zung, dass vor allem das erste und fünfte Buch von Gewicht seien. Wenn dann von ihm gesagt
wird, Cicero folge bei der Frage nach dem tod und dem schmerz Platon, bei der emotionslehre
den stoikern (209) und zwischen den Büchern würde kein Zusammenhang sichtbar, so leistet
douglas damit dem eklektiker-Bild von Cicero Vorschub und übersieht das Gesamtanliegen
des texts. – Wie douglas sieht auch seng 1998 „doppelte Höhepunkte“ in den Büchern i und
V, allerdings innerhalb einer „ringkomposition“ (42).
70 Gerade in den verschiedenen deutschen Übersetzungen ist die Argumentationsstruktur häufig
allein dadurch völlig verstellt, dass aus vermeintlicher sprachgefälligkeit heraus ein und derselbe
lateinische terminus auf engem raum verschieden übersetzt wird.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 29
emotionslehren der Antike zu leisten, nicht so sehr darum, einen Beitrag zum Philo-
sophieren Ciceros zu erbringen. deshalb bleiben seine skeptischen und rhetorischen
Voraussetzungen in ihrer Arbeit ohne große Berücksichtigung. Wie allerdings in der
hier vorgelegten interpretation gezeigt werden soll, gehören diese skeptischen und
rhetorischen Voraussetzungen mit zu Ciceros therapeutischem Ansatz.71
Ciceros schriften gehören zu den wichtigsten Quellen für die lehren der helle-
nistischen Philosophenschulen. Vor allem in seinen literarischen Gesprächen zur
praktischen Philosophie stellt er die Konzeptionen der einzelnen schulrichtungen
in umfassenden reden (orationes) dar, die er fiktive Dialogpersonen, seine eigene
eingeschlossen, vortragen lässt. Bemerkenswert ist, dass Ciceros referat der lehr-
meinungen nicht – zumindest nicht nur – in dozierender Absicht geschieht, also zur
unterrichtung von schülern oder lesern oder zur historischen dokumentation. im
Gegenteil: Wenn Cicero beispielsweise stoische und epikureische lehre konfrontiert,
dann darum, um sich selbst in der vorgefundenen situation zu verorten und dem le-
ser diese Verortungsmöglichkeit zu geben. Cicero sucht keine standpunkte außerhalb
dessen, was er situativ vorfinden kann. Mit einem Vergleich aus der Politik könnte
man auch für sein Philosophieren sagen: Wie sich ein Politiker mit den vorliegenden
Interessenkonflikten, Strömungen oder Tendenzen seiner ‚Polis‘ auseinandersetzen
muss und aus ihnen eine tragfähige res publica zu formen hat, so will Cicero auch
als Philosoph nicht die Zahl der ‚interessengruppen‘ vermehren, sondern sich im
Geschehen, das hier ein denkgeschehen ist, verorten. die Wahl des Ortes geschieht
im Bezug auf schon vorliegende Plätze, und Cicero beteuert in seinem spätwerk
immer wieder, dass er seinen philosophischen Platz gefunden hat, und zwar in der
Platonischen Akademie.
nun ist gerade die Akademie diejenige schulrichtung, die für die deutlichsten
Positionswechsel einer schule überhaupt steht. Versuchten offenbar ihre ersten
schulhäupter nach dem tod des Gründers Platon (47 v. Chr.) dessen lehrinhalte
‚dogmatisch‘ weiterzuvermitteln, so tritt spätestens mit Arkesilaos von Pitane im
dritten Jahrhundert v. Chr. ein ganz neues, erkenntniskritisches denken auf den Plan,
das offenbar in Auseinandersetzung mit sokratesüberlieferungen, wahrscheinlich
aber auch in solcher mit dem ‚skeptiker‘ Pyrrhon von elis (ca. 65 – 275) entwickelt
worden ist. der wichtigste schulleiter des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts ist
der Philosoph Karneades von Kyrene, der in rom 155 großes Aufsehen erregte, als
er, um seine erkenntniskritische Position zu belegen, an einem tag für die Gerech-
tigkeit, am folgenden tag gegen die Gerechtigkeit gesprochen haben soll.72 Cicero
lernte die Akademie in Athen unter der leitung von Philon von larisa und Antiochos
von Askalon kennen, die er auch immer wieder ausdrücklich als zwei seiner lehrer
hervorhebt.7
Zwischen Philon und Antiochos liegt aber wiederum ein bedeutsamer inhalt-
licher Wechsel der lehre: Gehört der erste noch zur ‚skeptischen‘ richtung, so muss
augenscheinlich Antiochos die erkenntniskritische Position seiner Vorgänger wieder
verlassen haben und eine integrative Annäherung an die schule des von Aristoteles
gewissermaßen als Abspaltung aus der Akademie gegründeten Peripatos und an die
stoiker gesucht haben. Cicero aber bekennt sich zur Position des Karneades, die,
wie er selbst einräumt, in seiner, Ciceros, Zeit nur noch marginal eine rolle spielt.74
Wenn also oben gesagt wurde, dass sich Cicero in den vorliegenden Positionen ver-
ortet, so bedarf das insofern einer Präzisierung, als damit nicht gemeint sein kann,
dass er nur die Übernahme einer zeitgeistigen strömung vollzieht, sondern so wie
er in den schulen seiner Zeit nach einem passenden Ort sucht,75 so sucht er nach
diesem passenden Ort auch innerhalb der schule, in der er seinen Platz sieht.
eine nahe liegende Kritik könnte Cicero dieses Vorgehen schon deshalb philoso-
phisch verübeln, weil es einen Mangel an Kreativität zu offenbaren scheint. Schließ-
lich schafft er ja keinen neuen philosophischen standpunkt, wie es scheint. nichtsde-
stoweniger ist Cicero aber innovativ. Was das heißt, kann an dem als einzigen ganz
erhalten gebliebenen dialog aus den academici libri, nämlich dem lucullus, gezeigt
werden. Cicero hat diese ausdrücklich ‚seiner‘ schulrichtung gewidmeten Bücher
etwa zur gleichen Zeit wie die Tusculanae Disputationes verfasst.
der einzige verbliebene dialog aus Ciceros erster Fassung der akademischen Bücher
wurde – auch zurecht – meist als Quellensammlung für die antike skepsis verwendet
und ergänzte dann das Material, das beispielsweise von Sextus Empiricus (2. Jh. n.
Chr.) hinterlassen worden ist. Hier dagegen kommt es ganz darauf an, Ciceros eigene
Perspektive auf das erkenntnistheoretische Problem, so wie es sich aus dem lucullus
erschließen lässt, zu rekonstruieren.77
in den Proömien von Ciceros schriften werden die Fragestellungen des Haupt-
textes oft indirekt eingeführt, nämlich so, dass Cicero auf einer ersten textebene
andere Fragen oder einwände gegen sein Philosophieren überhaupt zu behandeln
scheint. Beispielhaft praktiziert er diese Vorgehensweise im Proömium des lucullus.
da stellt er sich verschiedenen Kritikern und zuletzt denjenigen, die die academiae
ratio nicht gutheißen könnten. das lateinische Wort für ‚gutheißen‘, probare, hat
Cicero so raffiniert als den zentralen Terminus seiner Erkenntnistheorie eingeführt.
die Antwort auf diese Kritiker ist eine programmatische Vorwegnahme der Voraus-
setzungen seines Philosophierens insgesamt. sie verdient es, hier ganz wiederge-
geben zu werden:
„Da wir selbst indes gegen alle, die ein Wissen für sich beanspruchen, vorzubringen pflegen,
was uns ‚scheint‘, können gerade wir keinen einspruch dagegen erheben, dass andere unsere
Auffassung nicht teilen. unser eigener Fall freilich bereitet keine schwierigkeiten: völlig frei
von verkrampfter Streitsucht wollen wir die Wahrheit finden (verum invenire), und nach ihr
forschen wir mit einem Höchstmaß an Hingabe und eifer. denn es ist zwar alles erkennen
(cognitio) mit vielen schwierigkeiten verbaut, und solche dunkelheit (obscuritas) liegt über
den dingen selbst, eine solche schwäche kennzeichnet unsere urteile (iudicia) über sie, dass
mit gutem Grund die ältesten und gelehrtesten Männer an der Möglichkeit verzweifelten, das zu
finden, wonach sie strebten. Trotzdem sind sie nicht abtrünnig geworden, und auch wir werden
unseren Forschungseifer (studium exquirendi) nicht aus ermüdung preisgeben.
76 die folgenden Ausführungen schildern nicht deduktiv ein Konzept von einem Ausgangspunkt
über Folgerungen zur Konklusion oder zur Klimax, sondern skizzieren eher kreisend Ciceros
Ansatz, der das hermeneutische Gerüst für die deutung der tusculanen bilden soll.
77 Womit die in dieser Untersuchung verwendete Methode angezeigt wird: Es geht immer um die
Philosophie Ciceros, und so ist es auch angelegen, diese zuerst und zunächst aus seinen eigenen
schriften heraus zu verstehen. Wenn hilfreiche weitere Quellen beigestellt werden können, so
soll das geschehen. Problematisch wäre es aber, wenn eine Cicero kommentierende Arbeit von
vorneherein mit einem Primat der griechischen Philosophie in der Weise anträte, dass sie eine
sachposition (beispielsweise eine des Karneades) aus einer späteren Quelle (beispielsweise
sextus empiricus) erschließen wollte (was ja für eine Karneades gewidmete untersuchung
richtig ist), um damit zu zeigen, was und wie Cicero alles missverstanden oder unglücklich ge-
handhabt hat. ein solches Vorgehen verleitet nämlich in besonderer Weise dazu, die eigenartige
Weise von Ciceros Verständnis der Probleme zu übersehen. – Zum dialog lucullus ist noch
hervorzuheben, dass Cicero zunächst seine Akademischen Bücher in zwei Bänden (Catulus und
lucullus) abgefasst hat, dann aber das ganz Werk zu einer Ausgabe in vier Büchern umarbeitete
(vgl. att. 1,24–27, fam. 9,8). Von der zweiten Fassung (academica posteriora) ist das Meiste
verloren, ebenso wie der erste teil der ersten Version. Vgl. die einleitung von Andreas Graeser
und Christoph Schäublin in die Ausgabe Marcus Tullius Cicero: akademische abhandlungen.
lucullus, Lat.-Dt., Hamburg 1995, XLIV ff.
2 1. Grundlegendes
in der tat verfolgen unsere untersuchungen nur gerade ein Ziel: indem sie beide seiten berück-
sichtigen (in utramque partem) – in der darlegung wie in der Anhörung –, wollen sie etwas
hervorlocken (elicere) und gleichsam herauspressen, das entweder wahr ist oder der Wahrheit
doch möglichst nahe kommt. Andererseits besteht zwischen uns und denen, die ein Wissen
für sich in Anspruch nehmen, nur insofern ein unterschied, als sie nicht an der Wahrheit des-
sen zweifeln, was sie vertreten, während wir über viel Glaubhaftes verfügen (nos probabilia
multa habemus), nach dem wir uns ohne weiteres richten (sequi), das wir aber schwerlich mit
sicherheit behaupten können (adfirmare vix possumus). deswegen sind wir freier (liberiores)
und unabhängiger (solutiores), weil unsere Möglichkeit, selbst zu urteilen (potestas iudicandi),
unangetastet bleibt; uns zwingt keinerlei notwendigkeit, alles zu vertreten, was uns vorgegeben
und gleichsam auferlegt ist.“ (ac. 2,7 f.; Übers. schäublin)
Cicero beschreibt die ontologische Grundlage der erkenntnisoperation in einem
bildhaften Gegensatz: Grundsituation ist eine dunkelheit in den dingen (obscuritas
in rebus), aus der aber durch menschliches Zutun etwas ans licht gebracht werden
kann. licht ist eine Bedingung für die erkenntnis des Gesichtssinns. Cicero spielt
hier also auf den Primat des Gesichtssinns als Paradigma des erkennens überhaupt
an. Nicht nur im Altertum hat das Sehen als das Muster für Erkenntnis schlechthin
gegolten. Cicero bleibt soweit konventionell. etwas unkonventioneller ist es aber,
einen Grundzustand der ‚dunkelheit‘ anzunehmen, wie er das tut. in dieser dun-
kelheit muss jedoch der Mensch nicht orientierungslos irren, so Cicero, sondern
er kann etwas ans licht bringen: dieses „etwas“ ist aliquid, aut verum aut ad id
quam proxime accedat, also entweder etwas Wahres selbst oder zumindest etwas,
das sehr nahe an das Wahre heranreicht. Aber wie kann der Mensch diese Leistung
vollbringen? Cicero spart auch hier seine Antwort nicht auf: in utramque partem
dicendo et audiendo nennt er die Methode, wie das Wahre oder das dem Wahren ganz
nahe aus dem dunkel ans licht gebracht werden kann. nun könnte man einwenden:
Wofür das alles? Weshalb darf die dunkelheit nicht in den dingen bleiben? Cicero
entgegnet: Weil wir „in der Welt“ nicht tappen, sondern gezielt vorankommen wol-
len. Wir brauchen Wahres oder dem Wahren sehr nahe Kommendes als – sichtbare
– richtmarken, an denen wir uns orientieren (sequi) können.
1.5.. invention
Wenn jemand im dunkeln eine Kerze anzündet und dabei ein Gegenstand sichtbar
wird, so nimmt derjenige, der die Kerze angezündet hat, nicht für sich in Anspruch,
den jetzt sichtbaren Gegenstand geschaffen zu haben. und wenn Cicero davon
spricht, dass Wahres oder der Wahrheit sehr nahe Kommendes ans licht gebracht
werden soll, so heißt das nicht, dass dieses Wahre erst erschaffen werden müsste.78
Cicero sieht zwar die Aufgabe im verum invenire oder substantiviert ausgedrückt:
in der invention des Wahren.79 Aber der Begriff der invention ist doppeldeutig.
‚Philosoph der invention‘ ist Cicero nicht im sinne eines Erfinders, sondern als
auffinder.
78 Mein Bild ist inspiriert von Sextus Empiricus (ls 70A6 = sVF 2,6), hat aber weiter keinen
Bezug zu dessen text.
79 Vgl. nat.deor. 1,1.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis
Cicero kennt die invention natürlich als erste Aufgabe des redners in der rheto-
rischen theorie. in seinem erstlingswerk De inventione (1,) gibt er eine Definition
für „das Auffinden des Stoffes“ (wie meist übersetzt wird):
„inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant.“80
(Übers. Nüßlein: „Die Auffindung des Stoffes ist das Ersinnen wahrer oder wahrscheinlicher
tatsachen, die den Fall glaubwürdig machen sollten.“)
Man findet hier wichtige Schlagworte von Ciceros Philosophieren versammelt: Ne-
ben veri simile und probabile eben auch inventio. Aber der übergeordnete Gattungs-
begriff ist excogitatio, was ein recht freies ‚Ausdenken‘ oder ‚Erfinden‘ bedeuten
kann, und damit in eine richtung lenkt, die Cicero, wenn er vom philosophischen
verum invenire spricht, gerade nicht im sinn hat. insofern kann der Begriff der inven-
tion auf ein Problem bei Cicero aufmerksam machen: Die rhetorische Begrifflichkeit
bleibt auch für seine philosophische sprache von großer Bedeutung, und Cicero ist
beständig bemüht, von der Allgemeinsprache abweichende Fachterminologie – die
er den stoikern gerade zum Vorwurf macht – zu vermeiden. das bedeutet dann aber
auch, dass sich für ihn der sinn eines Ausdrucks wie invenire nicht in einen der
disziplin ‚rhetorik‘ zugehörigen und einen der disziplin ‚Philosophie‘ zugehörigen
aufspalten lässt. in der philosophischen Verwendung eines auch in der rhetorik
benutzten Wortes schwingt dessen rhetorische Bedeutung stets mit.81 dennoch dür-
fen differenzen, die Cicero im sprachgebrauch artikuliert, nicht verwischt werden.
der rhetor mag sich auch tatsachen, die dem Wahren ähnlich sind, ausdenken, der
Philosoph darf dies nicht.
im dialog lucullus (ac. 2,2) finden wir eine Bestimmung der inventio aus dem
Munde der Titelfigur des Dialogs, die die Auffassung des Antiochos wiedergibt:
„Quaestio autem est adpetitio cognitionis quaestionisque finis inventio.“ (Übers. Schäublin:
„Forschen ist aber nichts anderes als streben nach erkenntnis; und sein ende und Ziel erreicht
das Forschen im Finden.“)
Kurz vor dieser Stelle wird die Metapher von der Dunkelheit aufgegriffen und be-
hauptet, dass die ratio gewissermaßen das licht des lebens sei (ac. 2,26). Kurz nach
dieser stelle heißt es, dass dasjenige, das stets unsicher bleibt, nicht als ‚gefunden‘
(inventus) gelten könne, sondern nur dasjenige ‚gefunden‘ genannt werden kann, was
sich nach Enthüllung als ‚eröffnet‘ zeigt. Die geradezu dem Stoizismus verpflichtete
Lehre des Antiochos nimmt endgültige Resultate des Prozesses des Auffindes an.
in diesem Punkt folgt Cicero dem Antiochos nicht. der Prozess ist niemals abge-
schlossen. Mithilfe der Vernunft wird ‚Licht‘ in die Dunkelheit der Dinge getragen,
und dieser Vorgang des Aufdeckens ist das Finden, auch wenn man sich nach Cicero
mit dem Gefundenen nicht zufrieden geben darf, da es sich im lichte neuer entde-
ckungen nochmals neu darstellen kann.
82 Möglicherweise nimmt schon Karneades die piqanh; fantasiva als für beide Bereiche geeignet
an. Vgl. Bett 1989, 82: “While sextus does introduce the pithanon as a criterion for the conduct
of life, he later (Math. . 13) refers to it as a criterion of truth.”
8 Vgl. nat.deor. 1,14.
84 unter ganz anderer methodischer Anlage wurde dieser sachverhalt erkannt von leonhardt
1999, 48 f. und 7–76. leonhardt erzielt dieses ergebnis anhand einer Analyse der – literarisch
festgehaltenen – Apodiktizität, mit der in Ciceros texten für eine Position stellung genommen
wird.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 5
wie ethische. damit diskreditieren sie aber in der Öffentlichkeit (und Philosophie
ohne Öffentlichkeitsbezug verdient für Cicero den namen nicht85) die ethik, weil
die aus dem faktischen Pluralismus der gleichgewichtigen86 naturphilosophischen
Auffassungen sich ergebende skepsis, möglicherweise sogar urteilsenthaltung,
ihre Übertragung auf den Bereich des verantwortungsvollen Handelns findet, der
augenscheinlich inlustrior, also durchsichtiger und somit entscheidbarer ist. Anders
gesagt: Aus der nahezu gänzlichen unentscheidbarkeit bestimmter Bereiche der
Physik – das Beispiel im lucullus ist die Frage, ob die Zahl der sterne eine gerade
oder ungerade sei87 – darf nicht eine unentscheidbarkeit im Bereich der Frage nach
dem verantwortungsvollen Handeln abgeleitet werden, die dann als Ausrede für
willkürliches Handeln diente.
Behauptet der skeptiker in der skeptischen ‚these‘, dass nichts irreversibel erkenn-
bar sei, nicht selbst etwas ‚erkanntes‘, und begeht er damit nicht einen performativen
Widerspruch zwischen seinem Akt des Behauptens und dem inhalt des Behaupteten,
dass nichts definitiv zu behaupten oder zu setzen sei? Dieser antiskeptische Einwand
ist nicht neu, sondern gerade im lucullus aufs deutlichste formuliert (ac. 2,28/29
und 109). Ciceros Antwort ist eindeutig: Die Erkenntnistheorie, die ein definitives
Urteil ablehnt, ist selbst natürlich nicht als definitive zu behaupten, sondern nur als
„glaubhafte“ oder „zustimmungswerte“ (ac. 2,110).88 Allerdings ist sie in weit hö-
herem Maße „glaubhaft“ als eine naturphilosophische These von der Art, die Zahl
der sterne sei ungerade – eine these, die so gut wie keine besondere Glaubhaftig-
keit für sich hat, vor allem nicht gegenüber der Gegenthese, die Zahl der sterne sei
gerade. Wenn Cicero aber von veri simile (als synonym von probabile) spricht – so
die Weiterführung des einwands –, dann nimmt er doch Bezug auf ein verum, das
für sich definitiv ist und das derjenige, der das „Wahrähnliche“ bestimmen will, doch
anscheinend kennen muss, um die Ähnlichkeitsbeziehung, das simile, konstatieren
zu können. Cicero aber geht konsequent weiter: Auch dieses simile kann nicht defi-
85 in De finibus unterzieht er sowohl die epikureische wie die stoische lehre dem gedanklichen
test, ob sie jeweils in und vor großer Öffentlichkeit dargeboten werden können. dabei scheitern
die epikureer am individualismus ihres Hedonismus (fin. 2,74), die stoiker an ihrer esoterischen
sprachregelung (fin. 4,21). Weder würde ein Politiker, der sich auf sein individuelles luststre-
ben beruft, Vertrauen in der Gesellschaft erwerben können noch einer, der der Bevölkerung
zu erklären versuchte, die dinge des Alltags seien keine Güter. Ähnlich hatte ja auch sokrates
im Euthydemos (04a/b) gegen die eristiker ins Feld geführt, sie sollten sich lieber hüten, ihre
Kunst allzu öffentlich zu betreiben, weil sie sich dann bald auflösen müßte. Vgl. Kants „trans-
zendentales Prinzip der Publizität“ aus der schrift Zum ewigen Frieden, Anhang ii.
86 Vgl. ac. 2,122 und bes. 124: „ita sunt in plerisque contrariarum rationum paria momenta“.
87 Vgl. ac. 2,2 und 110.
88 Vgl. auch leonhardt 1999, 51: „Vor allem aber ... muss berücksichtigt werden, dass die Frage
der erkenntnistheorie selbst wiederum in Form gegenübergestellter reden und somit nach dem
Prinzip der disputatio in utramque partem untersucht wird. indem Cicero dies tut, gibt er näm-
lich zu erkennen, dass er den skeptischen standpunkt nicht einfach voraussetzt, sondern selbst
wieder dem skeptischen Zweifel aussetzt.“
6 1. Grundlegendes
nitiv behauptet werden, und obwohl das verum in seiner existenz von Cicero nicht
bestritten wird, ist es gleichwohl dem menschlichen erkennen nicht gegeben – schon
gar nicht unmittelbar, und auch mittelbar nur, insofern als eine gewisse Annäherung
möglich ist, die in verschiedenen ‚themenbereichen‘ in unterschiedlichem Grade
zu verwirklichen ist:
„nicht ebenso nämlich, wie wenn man ihn fragt, ob die Zahl der sterne gerade oder ungerade sei,
dürfte er [der Weise] sein nichtwissen dann bekennen, wenn es um das angemessene Verhalten
oder um viele andere Bereiche geht, in denen er heimisch und geübt ist (versatus exercitatus[que
sit]).“ (ac. 2,110; Übers. schäublin)
das verum ist nicht nur eine ‚regulative idee‘ des Verstandes, sondern es liegt durch-
aus vor, aber die Annäherung ist keine unmittelbare. Cicero beschreibt vielmehr eine
anthropologische Situation: Nirgendwo ist ein definitiver und unzerbrechlicher An-
halt für das menschliche erkennen. deshalb ist es kein Zufall, dass Cicero gerade an
dieser stelle Bezug nimmt auf die Bedeutung der Übung und der erfahrung. Vieles
wird im aktiven praktischen Vollzug gelernt und in diesem sinne erkannt, und so
wie es Grade des probabile gibt, so gibt es Grade des erfahren-seins mit praktischen
und theoretischen Gegenständen. darin liegt auch die rechtfertigung dafür, dass
Cicero in den tusculanen der auctoritas so großes Gewicht gibt. diese Autoritäten
– in philosophischen dingen für ihn immer wieder ganz besonders Platon89 – sind
gewissermaßen viri probati, ‚erprobte Menschen‘, deren Erfahrung durch die Tä-
tigkeit des probare selbst gekennzeichnet ist: einerseits als Prüfen und erproben,
andererseits als Beurteilen, Anerkennen und Billigen.
Dass es keinen definitiven Anhaltspunkt für das Erkennen gibt, heißt also für
Cicero nicht, dass jeder Anhaltspunkt fehlte und dass mithin erkennen willkürlich
wäre. der umgang mit konkreten Gegenständen macht ‚erfahren‘ und auch bei
‚geistigen Gegenständen‘ gibt es Anhaltspunkte, die der ‚erfahrene‘ und ‚Geübtere‘
besser zu entwickeln in der lage ist. Auch die disputatio in utramque partem, die
einen Kardinalsweg zur ermittlung des Zustimmungswürdigen darstellt, kann
eingeübt und erlernt werden. letztlich bleibt jeder Ausgangspunkt aber beständig
prüfungsbedürftig, allerdings darf und muss unter Abwägung der Gründe und Ge-
gengründe auch gehandelt werden. Auf einer bestimmten Reflexionsstufe wird also
jede praktische Überlegung an ein ende kommen und die entscheidung getroffen
werden müssen. dann spielen auch Gesichtspunkte wie die Autorität eines selbst im
Prüfen erfahrenen Menschen eine Rolle. Cicero kann daher über die Autorität sagen,
dass sie in der tugend am größten ist90 und dass man denen glaubt, die erfahrung
besitzen.91 in diesem sinne ist nämlich auch tugend nicht ohne erfahrung zu haben.
das richtige Handeln setzt erfahrung mit den Gegenständen des Handelns, aber auch
mit der Weise des Abwägens zum richtigen Handeln, voraus. Falsche Autorität (z. B.
bei jemand, der durch reichtum Geltung beansprucht, vgl. top. 7) entsteht gerade
89 Vgl. Tusc. 1,22; 9; 49. ich kann, so muss man Cicero verstehen, einem brillanten denker wie
Platon Glauben schenken, weil er versatus und exercitatus im denken ist.
90 top. 7: „naturae auctoritatis in virtute inest maxima.“ (Übers. Bayer: „natürliche Autorität
wohnt in hohem Maße der Tugend inne.“)
91 top. : „Plerumque enim creditur eis, qui experti sunt.“ (Übers. Bayer: „Meistenfalls nämlich
glaubt man denen, die erfahrung besitzen.“)
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 7
durch die fälschliche Zuschreibung von tugend, also der fälschlichen Annahme,
jemand sei wirklich erfahren.
Bezugnahme auf Autorität oder erfahrung ist für den philosophischen Puristen
freilich problematisch, scheint hier doch ein Bruch der rationalen Argumentation
vorzuliegen, der durch außerrationale elemente – selbst vermeintlich nicht recht-
fertigungsfähige – ‚gekittet‘ wird. Bezugnahme auf Autorität oder erfahrung gilt als
rhetorische Vorgehensweise, die auf Meinung statt auf Wissen setzt. Aber Cicero
würde Hans Blumenberg recht geben, wenn dieser schreibt: „evidenzmangel und
Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen situation“92, und man
müsste ergänzen: evidenzmangel und Handlungszwang sind Konstituenten unserer
situation.
„der Hauptsatz aller rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes (principium rationis
insufficientis). Er ist das Korrelat der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt.
Entspräche die Welt des Menschen dem Optimismus der Metaphysik von Leibniz ..., so gäbe
es keine Rhetorik, denn es bestände weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit, durch sie zu
wirken.“9
Was Blumenberg für leibniz beschreibt, ist für Cicero der stoizismus: die Behaup-
tung durchgängiger Begründbarkeit und die setzung eines Weisen, der in der lage
ist, diese Begründbarkeit in den elementen zu durchschauen. Cicero bestreitet die
metaphysische seite dieser these nicht, macht aber immer wieder deutlich, dass die
menschliche situation nicht diejenige des so gesetzten Weisen sei. deshalb ist für
ihn eine in gewisser Weise ‚rhetorisch‘ (oder vielleicht besser ‚rednerisch‘) zu nen-
nende Form der Philosophie die Konsequenz seines skeptischen Ansetzens.94 schon
in De oratore gipfelte Ciceros Kritik an den stoikern darin, dass sie zwar für das
urteilen Vorgaben hätten, nicht aber für die invention (quo modo verum inveniatur)
(de orat. 2,157 und top. 6), wobei freilich unter ‚invention‘ kein bloßes Ausdenken
verstanden werden darf.
92 Hans Blumenberg: anthropologische annäherung an die aktualität der Rhetorik. in: Josef
Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik, darmstadt 1991, 297 (deutsche erstveröffentlichung in: Hans
Blumenberg: Wirklichkeiten, in denen wir leben, stuttgart 1981, 104–16).
9 Hans Blumenberg: anthropologische annäherung an die aktualität der Rhetorik. in: Josef
Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik, darmstadt 1991, 0.
94 die rhetorik, die Cicero meint, kann also nicht dasjenige sein, was Blumenberg Cicero in einer
(vor)schnellen Bemerkung zuschreibt, nämlich eine Vermittlungstechnik, in der bereits um das
Wahre gewusst oder möglicherweise gewusst ist und deren Ziel darin besteht, „die Mitteilung
dieser Wahrheit zu verschönen, sie eingängig und eindrucksvoll zu machen.“ (Hans Blumenberg:
anthropologische annäherung an die aktualität der Rhetorik. in: Josef Kopperschmidt (Hrsg.):
Rhetorik, darmstadt 1991, 286).
8 1. Grundlegendes
Antiochos. damit rückt Cicero auch in der Frage der erkenntnistheorie nicht von
seinem üblichen Verfahren ab, philosophische Positionen in der entgegensetzung zu
kontrastieren – eine Praxis, die an die Vorgehensweise vor Gericht angelehnt, mithin
also gewissermaßen rhetorisch ist. Freier gesprochen kann man sagen, im lucullus
soll die causa der (skeptischen) Akademiker um Arkesilaos und Karneades, zu deren
Anwalt sich Cicero selbst ernennt, gegen die causa des Antiochos, vertreten durch
den Advokaten lucullus, verteidigt werden. der Gang der Geschichte hat Antiochos
scheinbar über seine Vorgänger in der leitung der Akademie obsiegen lassen.95 das
‚Gerichtsverfahren‘, das Cicero mit dem dialog eröffnet, ist öffentlich, was zum
einen bedeutet, dass das Publikum – hier die leser – selbst in der Position des rich-
ters ist, und was es zweitens nötig macht, die diskussion auf die dreh- und Angel-
punkte zu konzentrieren, damit die breite Menge der Geschworenen auch tatsächlich
imstande ist, selbst zu optieren ohne sich in die Fülle der details einzuarbeiten.96
Cicero kann seiner leserschaft immer nur unvollständige Argumentation („ratio
insufficiens“ nach Blumenberg) bieten, weil die Unterteilungs- und Fortführungs-
möglichkeiten im Argumentieren unendlich sind.
Man kann an Ciceros Vorgehen noch Folgendes bemerken: In gewisser Weise
sind seine erkenntnistheoretischen Vorgaben die Basis für jedweden umgang mit
philosophischer thematik. Wenn nun jedwede philosophische thematik bei ihm
eine Art ‚rednerischer Behandlung‘ erfährt, dann sollte doch zumindest diejenige
darlegung, in der die notwendigkeit oder besser unumgänglichkeit einer solchen
rednerischen Behandlung aufgezeigt werden soll, nicht selbst schon auf rhetorische
Mittel zurückgreifen, um eine Zirkularität zu vermeiden. Cicero aber geht diese
Zirkularität ganz entschieden ein. nur so kann er auf den anthropologischen Grund
springen, auf dem er bereits steht, nämlich der situation von „evidenzmangel und
Handlungszwang“. die Vollständigkeit des Wissens – wie im stoizismus angezielt
– ist als Ziel fruchtbar, als Situationsbeschreibung des Menschen aber absolut un-
tauglich. Mit den begrenzten Mitteln des Menschen das Beste erreichen, darin sieht
Cicero seine – als platonisch und akademisch verstandene – Aufgabe.97
Worin liegen nun die oben erwähnten dreh- und Angelpunkte des lucullus?
Zunächst einmal in der Frage, ob es ein Moment an einem sinnlichen Eindruck
gibt, das dem eindruck selbst evidenz verleiht. die existenz einer veri et falsi nota
(ac. 2, und 69; 6 insigne veri) wird von den stoikern prinzipiell bejaht und im
idealfall des Weisen sogar für jede erkenntnis als leitend für die Zustimmung zu
einer aus dem sinnlichen eindruck erwachsenden Proposition angesehen.98 der
sinnliche eindruck ‚evoziert‘ eine Proposition im Geist des erkennenden und lie-
fert das Kriterium für ihre Wahrheit und Falschheit gleich mit. 99 Man mag also das
vollkommene erkennen des stoischen Weisen sogar dahingestellt lassen – es bleibt
für die stoiker und Antiochos in ihrem Gefolge ohne Zweifel, dass es prinzipiell
evidente erkenntnisse gibt. der Akademiker – in Ciceros darstellung – bestreitet
dagegen, dass ein solches mitgeliefertes Kriterium für das erkennen von Wahrheit
und Falschheit, also ein evidenzmoment am visum, d. h. dem sinnlichen eindruck
selber, in irgendeiner Weise existiere. Cicero lässt lucullus sagen: „Wer etwas erfasst
(percipit), stimmt auf der stelle zu (adsentitur statim)“ (ac. 2,8). dieses erfassen
versteht Cicero als ein unmittelbares, ohne Reflexion einsichtiges Erkennen des
Wahr- oder Falschseins der Proposition, die sich im sinnlichen eindruck nahe legt.
Wer so erkennt, kann nicht anders als „auf der stelle“ seine Zustimmung erteilen.100
Aber genau dieses unmittelbare erfassen gibt es nicht, wie Cicero im zweiten teil
des dialogs (ac. 2,65–97) vorrangig zu belegen101 versucht, und es ist sogar höchst
gefährlich, eine solche Möglichkeit einzuräumen, weil sie zu voreiligen Zustimmun-
gen veranlasst (ac. 2,68):
„ich freilich bin zunächst der Auffassung, selbst wenn etwas erfasst werden könne, sei doch
bereits die Gewohnheit, dass man seine Zustimmung gibt, gefährlich und führe leicht zum sturz.
da also die Zustimmung zu etwas Falschem oder nicht-erkanntem eindeutig eine beträchtliche
Fehlerquelle bildet, gilt es vielmehr jede Zustimmung zurückzuhalten, damit sie nicht zu Fall
kommt, wenn sie sich blindlings (temere) vorwagt.“ (ac. 2,68; Übers. schäublin)
Cicero plädiert nicht für apodiktische urteilsenthaltung, sondern für eine pragma-
tische regel zur Fehlervermeidung. Zustimmung wird nicht rundweg verworfen,
aber es wird bescheinigt, dass sie immer in Gefahr steht, zu voreilig gegeben zu
werden (temeritas opinandi; ac. 2,87102). Cicero selbst charakterisiert sich ja als
jemanden, der durchaus Zustimmungen gibt, unglücklicherweise auch zuweilen zu
Falschem (ac. 2,66). nicht die Ausschaltung von Zustimmung und dem mit ihr ver-
bundenen Meinen ist Ciceros Absicht, sondern die Ausschaltung des Sich-verlassens
auf eine trügerische evidenz.10
99 da Cicero sich so sehr auf die Frage nach dem Kriterium verlegt, bleibt notgedrungen seine
darstellung des erkenntnisvorgangs als Prozess sowohl für die stoiker als auch für die Akade-
miker ganz unbefriedigend ausgeführt.
100 Bächli und Graeser weisen darauf hin, dass Cicero nicht die ‚normale‘ stoische Auffassung, nach
der das erfassen der Akt der Zustimmung selbst sei, darstellt, sondern eine (zeitliche) Abfolge
von erfassen und Zustimmen nahe legt (Cicero: akademische abhandlungen. lucullus, Ham-
burg 1995, Kommentierende Anmerkungen 110, seite 222). die stelle zeigt also, dass Cicero
seinen Gegner auch in einer gewissen Weise ‚zurechtlegt‘, um ihn mit den eigenen Argumenten
eher packen zu können. Erst recht nicht mehr zu passen scheint dieses Modell der instantanen
Zustimmung für die spätere stoa, z. B. bei epiktet, wie Forschner 2001 (bes. 49–51) überzeu-
gend darlegt.
101 „Belegen“ ist hier im Sinne Ciceros verstanden, nämlich unter Aufbietung rednerischer Mittel
wie die Anrufung der Autorität der Vorsokratiker, der von sokrates und Platon (ac. 2,72–76).
102 Vgl. schon Ciceros erste schrift inv. 2,9 f. – später greift sogar seneca ausnahmsweise in Bezug
auf die menschliche erkenntnis der Götter Ciceros Verbot der temeritas auf (naturales quaes-
tiones 7,0,1).
10 Vgl. Görler 199. Görler zeigt, dass es für Cicero keinen Fehler darstellt, eine Meinung zu haben,
40 1. Grundlegendes
solange man sich bewusst bleibt, dass sicherheit nicht erreicht werden kann (56). Karneades‘
Begriff des Weisen scheint allerdings zwei interpretationen erfahren zu haben: die strenge des
Kleitomachos, die Karneades die Auffassung zuschreibt, dass es zum ideal des Weisen gehöre,
keine Meinungen zu haben, und eine gelockerte von Metrodor (und Ciceros Lehrer Philon), die
dem Weisen dieses der Unsicherheit bewusste Meinen zubilligt (ebd.).
104 Vgl. Tusc. 1,78, auch ,69.
105 in diesem sinne versteht Cicero die stoa (und Antiochos) sensualistisch, weil die sinne das
Kriterium für die Zustimmung mitliefern und Zustimmung – in Ciceros sicht – so instantan,
ohne rationale Komponente, erfolgt (vgl. lucullus’ lob der sinne in ac. 2,19 f.).
106 in fin. 2,6 f. behandelt Cicero das Problem von Ansprüchen der sinnlichkeit und Ansprüchen der
Vernunft im Zusammenhang mit dem sensualismus der epikureer ausdrücklich in forensischen
Begriffen: richter über eine Frage wie die nach dem höchsten Gut können nicht die sinne sein,
sondern die ratio wird das urteil (sententia) zu sprechen haben unter einbeziehung ihres Wis-
sens (scientia). die ratio ist es aber auch selbst, die sich auf den richterstuhl setzt und um ihre
Berechtigung dazu weiß. Vgl. Tusc. 5,87.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 41
Größe der sonne (ac. 2,82), die dem sinneseindruck nach für viel kleiner gehalten
werden würde als sie tatsächlich ‚ist‘, wird anders entschieden als das Beispiel vom
schnee, der zwar in einer schlüssigen rationalen Argumentation von Anaxagoras
als schwarz behauptet wird (ac. 2,100), wobei dieser Befund so eklatant vom sin-
neseindruck abweicht, dass eher die Argumentation überprüft werden muss als das
visum selbst. – der Fehler im Beispiel vom schnee liegt allerdings in einer falschen
Prämisse (‚Wasser ist schwarz‘), und so wird auch in diesem Fall schlussendlich ein
Fehler der sinneswahrnehmung (im weiteren sinn) durch vernünftiges Überlegen
korrigiert. insgesamt lässt sich Cicero weder als sensualist noch als bloßer ratio-
nalist einordnen.
Für Cicero steht aber noch mehr auf dem spiel als die Frage von sensualismus und
rationalismus, wenn er sich überzeugt zeigt, dass es
„bereits als gewaltige Handlung zu gelten hat, wenn man erscheinungen Widerstand leistet,
gegen Meinungen angeht und Zustimmungen (die doch leicht zum Sturz führen) zurückhält;
und ich glaube dem Kleitomachos, wenn er schreibt, Karneades habe gleichsam eine herkulische
Tat vollbracht, weil er die Zustimmung, das heißt Meinen und mangelnde Vorsicht (temeritas),
wie ein wildes und ungeheures tier aus unsern seelen herausgezerrt habe.“ (ac. 2,108; Übers.
schäublin)
Von einer ‚Herkulestat‘ ist die rede, aber das Ziel dieser leistung ist nicht ein
bloß negatives, die Abwendung von Fehlurteilen, sondern es ist ebenso ein posi-
tives, nämlich die schaffung dessen, was überhaupt erst ein urteil heißen kann.
der sensualismus, den Cicero bei Antiochos und den stoikern erkennt, bedeutet
ein reflexionsunfähiges und auch reflexionsunbedürftiges sofortiges Zustimmen
zu einer ebenso sofort gebildeten Proposition. der Vorgang des erkennens ist dort
– immer von Ciceros zugegebenermaßen verkürzten Warte im lucullus aus gese-
hen – ein unweigerlicher Vorgang, ein Vorgang, der durch durchgehend zwingende
Momente gekennzeichnet ist. Zwang ist das Gegenteil von Freiheit, und Freiheit
ist die Voraussetzung für Verantwortung. es widerspricht Ciceros verantwortungs-
orientierter Gesinnung zutiefst, wenn in einer Philosophie die Rolle des Menschen
auf die Ebene eines Mechanismus zurückgeschraubt wird.107 seine schrift De fato
ist eine große Auseinandersetzung mit dem stoischen determinismus, der nach Ci-
ceros Auffassung geeignet ist, jede Verantwortung aus dem leben zu nehmen. Bei
den stoikern folgt die Zustimmung zu einer Proposition nach den reiz-reaktion-
schemen der triebwesen:
„Wenn aber die ursache für den triebimpuls nicht in unserer Verfügungsmacht liegt (si causa
adpetitus non est sita in nobis), ist auch der triebimpuls selbst nicht in unserer Verfügungsge-
walt; und wenn dies zutrifft, liegt auch das, was durch den triebimpuls bewirkt wird, nicht in
unserer Macht.
Folglich sind weder die ‚Zustimmungen‘ (adsensiones) noch die Handlungen (actiones) in
unserer freien Macht (in nostra potestate) gelegen.
107 Vgl. auch die Hinweise auf die Freiwilligkeit der emotionen unten seiten 117 f. und 1–16.
42 1. Grundlegendes
und daraus ergibt sich, dass weder lob noch tadel, weder Auszeichnung noch strafe gerecht
ist.“ (fat. 40; Übers. Bayer)108
die stoisch-antiocheische erkenntnistheorie verlegt die ursache für die Zustim-
mung in eine nota veri et falsi, die – wie ein reiz – außerhalb unserer selbst liegt
und die die Zustimmung nicht in unserer Verantwortungsmacht belässt, sondern
diese Zustimmung deterministisch erzwingt. Cicero unterstellt also den stoikern
einen Zustimmungsbegriff, wie ihn später sextus empiricus als den der Pyrrhoneer
in Gegensatz zu demjenigen der Akademiker formulieren wird.109 Freilich weiß er
darum, dass die stoiker expressis verbis die Freiheit der Zustimmung betonen. in der
zweiten Fassung der akademischen Bücher lässt Cicero die Figur des Varro Zenons
erkenntnistheorie in Kurzform darlegen:
„er war der Ansicht, sie [die sinneswahrnehmungen] kämen zustande durch eine Art Anstoß von
außen, den er fantasiva nennt und was wir mit ‚sinneseindruck‘ (visum) wiedergeben können
(...); mit dem aber, was gesehen und durch die sinneswerkzeuge gewissermaßen aufgenommen
wird, verbindet er die Zustimmung durch die Vernunft, von der er behauptet, dass sie in der
Macht unseres freien Willens liege (... assensionem ..., quam esse vult in nobis positam et vo-
luntariam).“ (ac. 1,40 f.; Übers. Gigon)
Bemerkenswert ist hier die Weise, wie Cicero das ‚Freiheitspostulat‘ Zenons in Be-
zug auf die Zustimmung als bloße, d. h. uneingelöste, Behauptung charakterisiert:
„die Zustimmung, von der Zenon will, dass sie in unserer Verfügung liege“. De
facto, so kann man in Ciceros sinne fortdenken, wird durch den sensualismus diese
Verfügungsmacht und damit das Freiheitsmoment ausgeschaltet.
Für Cicero ist aber die ‚Zustimmung‘ – die er im stoischen sinne, also unter
dem Begriff adsensio gar nicht ansprechen mag – immer ein menschlicher Vollzug,
der wie alle menschlichen Vollzüge unter der last des Verantworten-müssens liegt.
Im Gegensatz zur Triebstruktur des Tieres eignet den Menschen Rationalität, und
die erkenntnis ist keine reaktion auf einen reiz, sondern eine Entscheidung. diese
entscheidung ist eine freie zu nennen, weil sie die ursache ihrer selbst nicht von
außen bezieht, sondern diese ihr selbst immanent ist.
Cicero schränkt – offenbar entgegen manchen skeptischen Vorgängern in ‚seiner‘
schule, der Akademie – das Kriterium des probabile für den Akt des probare nicht
auf bloß praktische, also eine aktive tat fordernde, Zusammenhänge ein, sondern
bemisst auch so genannte ‚theoretische‘ Fragestellungen nach diesem Kriterium.110
Cicero will keine Frage bloß ‚theoretisch‘, ohne Auswirkungen auf menschliche
Akte, behandeln – erst recht nicht, wenn auch die emotionale Verfassung des Men-
schen unter den spielraum der Akte gefasst wird.
108 etwas anders ausgedrückt, aber der sache nach ähnlich stellt Cicero auch in Tusc. 1,16 den (sto-
ischen) Zwang durch das rationale Argument dem freien Zustimmen entgegen. die Pointe hier
ist, dass der schüler auf bloß rationale Weise kein Fundament für die ‚ganzheitliche‘ Annahme
des Aufgewiesenen erreicht, das erst die eigene entscheidung ermöglicht.
109 sextus empiricus PH i 229 f.; vgl. ricken 1994, 64.
110 Vgl. oben seite 4 und leonhardt 1999, 16 und dort v. a. Anm. 25, wo eine Art ‚philologiehis-
torischer Überblick‘ gegeben wird zur Frage, ob dieses Hinausgehen über praktische Kontexte
im engeren Wortsinn Ciceros eigene leistung ist oder auf Vorläufer in der Akademie beruht.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 4
111 Görler 1996a, 102. die rede von „erkennbarem sinn“ ist natürlich noch nicht ausreichend, weil
auch dasjenige, was jeweils als sinn gelten kann, seinerseits auf entscheidungen beruht. so
würde der epikureismus von sich selbst nicht sagen, dass er einem „erkennbaren sinn“ zuwider
liefe.
112 leonhardt 1999, 19.
11 Woldemar Görler stellt die Frage, ob es sich bei den tusculanen um eine disputatio in utramque
partem handeln kann und findet eine positive Antwort darin, dass „alle fünf Ausgangsthesen
[...] dadurch stark [sind], dass sie die allgemeine erfahrung, menschliche Zweifel und Ängste
auf ihrer seite haben“ (Görler 1996, 192).
44 1. Grundlegendes
culanae Disputationes die sache des probabile (oder: veri simile) angelegen ist.114
Allerdings ist der als probabile gefundene satz nicht endzweck der Überlegungen,
sondern so wie es bei einer ethischen Reflexion darauf ankommt, die Zustimmung
(Billigung) zu einer these ins leben und Handeln zu übertragen, so geht es in dieser
schrift Ciceros darum, durch diese Zustimmung innere, d. h. seelische, Ordnung zu
schaffen. dieser Weg von der seelischen Verwirrung (perturbatio animi) zur seeli-
schen Ordnung kann mit dem Begriff ‚therapie‘ treffend beschrieben werden, und
die tusculanen, die dem leser (und Autor) auf diesem Weg helfen wollen, sind in
diesem sinne eine ‚therapeutische‘ schrift. Was Ciceros text auszeichnet, ist eben
seine Forderung nach dem aktiven Anteil an diesem therapeutischen Geschehen.
die Billigung, die die innere Ordnung schafft, ist für ihn ein freier Akt; sie kann
durch keinen determinismus, auch dem der geschlossenen Argumentationskette
nicht, erzwungen werden, und sie markiert den aktiven Anteil, den das zur therapie
entschlossene subjekt ertragen muss, um diese gelingen lassen zu können.
Von hier aus wird auch deutlich, warum Cicero das akademisch-skeptische Verfahren
des contra propositum disputare verwendet (fat. ): Es eröffnet ihm die Möglichkeit
als orator in orationes zu sprechen.115 das ist etwas anderes, als eine rhetorik zum
Zweck der Vermittlung einer anderweitig bekannten Wahrheit zu verwenden.116 der
orator vereint sachkompetenz mit sprachlicher eloquenz, wie Cicero in De oratore
zeigt.117 die oratio selbst hat dabei epistemischen Wert, weil sie die entscheidung,
114 Vgl. z. B. Tusc. 1,17; 2; 2,5; 9; 6; ,14; 16; 22; 46; 4,2; 7; 47; 56; 64; 5,1; ; 82; 104.
115 er selbst nennt seine reden in den tusculanen orationes: Tusc. 1,16; 2,42; 4,5; 8; 5,6; 80;
107.
116 in fat. 4 lässt Cicero die Figur des Hirtius zu ihm selbst sagen: „sed quoniam rhetorica mihi
vostra sunt nota teque in iis et audivimus saepe et audiemus, atque hanc Academicorum contra
propositum disputandi consuetudinem indicant te suscepisse tusculanae disputationes, ponere
aliquid, ad quod audiam, si tibi non est molestum, volo.“ Karl Bayer übersetzt: „da mir aber
deine rhetorischen Übungen bekannt sind und ich dich schon oft darin gehört habe und auch
noch hören werde, und da andererseits deine Tusculanae disputationes erkennen lassen, dass du
dir diese akademische Gepflogenheit, gegen eine vorgelegte These zu disputieren, angeeignet
hast, wäre es mir lieb, wenn ich dir ein thema stellen dürfte, zu dem ich dich hören könnte,
wenn es dir nicht unangenehm ist“ (erste Hervorhebung B.K.). die tusculanen sind hier also
ausdrücklich keine „rhetorischen Übungen“, wie ja auch die szenerie der Gespräche deutlich
macht (Tusc. 2,9 und 67): nach einem Vormittag, der mit dictio zugebracht wurde, gibt es
nachmittags ‚in der Akademie‘ substantielles. – im Übrigen stand die rhetorik als griechische
Kunst im rom Ciceros offenbar in recht geringem Ansehen. so berichtet sueton in einer für
die Geschichte der rhetorik in rom überhaupt aufschlussreichen Passage, dass noch 92 v. Chr.
rhetorikschulen in rom per edikt verboten wurden (C. suetonius tranquillus: De grammaticis
et rhetoribus 25).
117 Programmatisch ist die stelle de orat. ,19: „nam cum omnis ex re atque verbis constet oratio,
neque verba sedem habere possunt, si rem subtraxeris, neque res lumen, si verba semoveris.“
(Übers. Merklin: „Denn da sich jede Rede aus der Sache und der Formulierung zusammensetzt,
kann einerseits die Formulierung keine Basis haben, wenn man die sache wegnimmt, anderer-
seits fehlt der sache die erhellung, wenn man die Formulierung von ihr trennt.“)
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 45
die zu jeder erkenntnis gehört, befördert. Für Cicero gibt es eine schlechte rhetorik,
die offenkundigen unsinn beredt zu plausibilisieren vermag.118 Aber eine oratio, die
diesen namen wirklich verdiente, ist sie damit nicht, weil ihr der sachbezug fehlt.
Wer eine solche rede, die offenkundig schwaches zum stärkeren machen will, vor-
trägt, geht vielleicht als rhetor durch, als orator erfüllt er Ciceros Anforderungen an
echte eloquentia nicht. die oratio, zumal die philosophische seiner dialoge und auch
der tusculanen, vermag es dagegen, das, was veri simile ist, ans licht zu bringen, so
wie man auch im deutschen von einer ‚erhellenden rede‘ spricht und damit nicht
emotionale Überrumpelung, sondern sachliche Klärung meint.119
Man kann die entscheidende Differenz, die Cicero zwischen seiner – auf Freiheit
bezogenen – Position und der der stoiker erkennt, noch etwas vertiefen. dazu soll
nochmals auf De fato und kurz auf De divinatione Bezug genommen werden. Wenn
Cicero sich in ganzen schriften mit uns heute eher als randgebiete der Philosophie
anmutenden Fragestellungen wie der nach der Wahrsagung oder nach dem schick-
sal befasst, so deshalb, weil im Kontext der hellenistischen Philosophie mit diesen
themen keineswegs nebensächlichkeiten angezeigt sind, und weil sich kaum mehr
als hier die unterschiedlichen Ausgangslagen der verschiedenen Philosophenschulen
verdeutlichen lassen.
die schrift De divinatione ist eine disputatio in utramque partem, in der Cicero
zuerst die Figur seines Bruders Quintus als Verteidiger der Wahrsagung auftreten
118 die Figur des Antonius in De oratore ist so geschildert, dass sie die Ambivalenz der rhetorik
zum Ausdruck bringt. Antonius vertritt eine machinatio der seele (de orat. 2,72) und will durch
gezielten einsatz von perturbatio im Hörer iudicium und consilium verdrängen (de orat. 2,178;
vgl. auch de orat. 2,214). Antonius ist ein techniker der rede und schildert das spektrum der
Überredungskunst. nach sittlicher richtigkeit fragt er nicht.
119 Vgl. de orat. 2,6, wo in Antonius‘ ‚rhetorischer Frage‘ die lichtmetapher wiederkehrt: „und
die Geschichte vollends, die vom Gang der Zeiten Zeugnis gibt, das licht der Wahrheit (lux
veritatis), die lebendige erinnerung […], durch welche stimmen, wenn nicht die des redners
(orator), gelangt sie zur Unsterblichkeit?“ (Übers. Merklin) – Ratio und oratio sind also keine
Gegensätze in dem sinne, dass eine Vernunfterkenntnis in einer rhetorischen rede für das
Gefühl übersetzt werden müsste. eine mathematische einsicht wird immer nur durch rationale
erklärung zu vermitteln sein, d. h. in ihrem Falle ist die ratio die oratio. eine politische Frage
dagegen wird sich möglicherweise nie rational vollständig klären lassen, weil die Zustände der
betroffenen Personen selbst sachliche Konstituenten der situation bilden. die oratio ist dann
die rationale Weise des politischen Handelns. (das folgende Beispiel mag trivial wirken, ver-
anschaulicht aber doch den sachverhalt: eine rede, die in der Bevölkerung die Überzeugung
eines aktuellen und andauernden wirtschaftlichen Aufschwunges wecken kann, wird diesen
Aufschwung – gewissermaßen als ‚self-fulfilling prophecy‘ – tatsächlich befördern). – In fin.
,10 wird der Gegensatz zwischen der ethischen lehre der Akademie des Antiochos und der
ethik der stoiker als Übereinstimmung in der ratio, aber als Gegensatz in der oratio charakte-
risiert. in diesem sinne wäre die ratio gewissermaßen das Vernunftmoment ohne die sprach-
liche Fassung. dann ist jede ratio auf oratio zur Vermittlung angewiesen, und auch die stoiker
sprächen in orationes, nur eben in schlechteren als die Akademiker (bezogen auf fin.). dieser
sprachgebrauch ist aber bei Cicero die Ausnahme. Üblicherweise nennt er den Gegensatz einen
zwischen res und verba.
46 1. Grundlegendes
lässt, um dann in eigenem Namen gegen die Möglichkeit der Vorhersage zu argu-
mentieren. Quintus’ Begründungslinien sind zwar zum teil äußerst divers. so legt
er z. B. eine recht empiristische doktrin vor, indem er schlichtweg den erfahrungs-
gemäßen Zusammenhang von Zeichen und eintretendem ereignis feststellt und sich
der Frage nach dem ‚inneren‘ Zusammenhang ganz enthält.120 er argumentiert ad
hominem gegen Cicero, der ja selbst als Augur tätig ist und seinerseits schon Vorah-
nungen eingeräumt hat121, begründet theologisch122 oder schlechthin mit Autorität
und tradition12. Von großem interesse ist aber die zentrale stoische Argumentati-
onslinie über den Begriff des Fatums (div. 1,125 ff.). im Gegensatz zu der einige
Wochen oder Monate später verfassten Schrift De fato, die uns leider nicht ganz
vollständig überliefert ist, kann man hier eine – Cicero geläufige – Begriffsbestim-
mung von fatum vorfinden:
„Mit ‚Schicksal‘ (fatum) aber meine ich das, was die Griechen mit dem Begriff heimarméne
erfassen, d. h. die reihung und Verkettung der ursachen, da eine ursache, mit der andern
verknüpft, je eine Wirkung aus sich hervorgehen lässt. Das ist die aus aller Ewigkeit fließende
wesenhafte notwendigkeit, die kein ende kennt. Weil dies sich so verhält, gibt es nichts, das
nicht als Zukünftiges vorher schon bestanden hätte, und ebenso wird es nichts geben, dessen ur-
sachen, die eben auf die betreffende Wirkung angelegt sind, die natur nicht schon enthielte.“124
(div. 1,125; Übers. schäublin)
Fatum heißt ordo und series, zunächst also die reihung und Aufeinanderfolge von
ursachen, was gewöhnlich so interpretiert wird, dass immer eine ursache eine be-
stimmte Wirkung hervorbringt, welche erneut ursache für eine neue Wirkung ist.
Beobachtung macht es möglich, den Zusammenhang einer ursache mit einer Wir-
kung mehrmals zur Kenntnis zu nehmen, so dass bei einer ausreichenden Zahl voran-
gehender ursache-Wirkungs-Zusammenhänge selbstständig von einer ursache auf
eine ihr mit Bestimmtheit folgende Wirkung zu schließen möglich ist (div. 1,126).
in diesem sinne wird die vermeintlich geheimnisvolle divinatio zur empirischen
Wissenschaft, und nicht das Deuten von Zeichen (Vogelflug, Träume etc.) ist ihr
eigentliches Metier, sondern das Konstatieren von ursächlichen Zusammenhängen
zwischen zwei sachverhalten.
dem wechselvollen Argumentationsverlauf des Quintus im ersten Buch von De
divinatione entspricht auch eine wechselvolle replik Ciceros im zweiten, so dass der
zu zeigende unterschied im stoischen und im ciceronischen ‚Welt-‘ oder ‚seinsver-
ständnis‘ erst in De fato in seiner vollen schärfe zu tage tritt. Zwar ist das Ziel dieser
ausnahmsweise nicht dialogisch oder in rede und Widerrede verfassten schrift über
das ‚schicksal‘ letztlich ein Kompromiss zwischen der stoischen Position des Chry-
sipp und dem von Cicero in eigener Person vertretenen standpunkt, weil dem stoiker
125 Fatum in diesem sinne enthält also nicht mehr die volle ursächlichkeit, wie sie für eine deter-
ministische Kette erforderlich wäre, sondern stellt nur noch notwendige Bedingungen zur Verfü-
gung. Die Möglichkeit der Vorausberechnung ist zerstört, wenn als Hauptursachen Zufalls- oder
Freiheitsmomente akzeptiert werden (wie nach fat. 45 anscheinend auch Chrysipp zugibt).
126 Maximilian Forschner betont gerade aus diesem Grund die große Bedeutung der theoria für die
stoische ethik (Forschner 1999, 16–187).
127 dass die naturphilosophie und Kosmologie für Cicero einen schlechten Ausgangspunkt zur Be-
stimmung des Menschen abgeben, wird ja auch darin deutlich, dass er genau diesen Disziplinen
die geringste Probabilitätsstufe (vgl. oben seite 4 f.) zuspricht.
128 Vgl. u. a. fat. 9; 20; 2; 25; 40; 45.
48 1. Grundlegendes
ein entscheidender Absetzungspunkt Ciceros von den stoikern und ihrem Ahnen so-
krates, für die richtiges Handeln nur einen ‚effekt‘ aus richtigem Wissen darstellt.
Anthropologisch betrachtet gliedern die Stoiker den Menschen in das kosmische
Geschehen ein. die durchdringung der materiellen Welt durch den logos geht ‚durch
den Menschen hindurch‘ und das Wirken des Logos setzt sich im Menschen fort. Bei
Cicero dagegen steht der Mensch der materiellen Welt gegenüber als Erkennender
und als Deutender. in De fato gibt es deutlichere Hinweise auf diese differenz als in
anderen Ciceronischen Schriften. Einer der Sprechendsten findet sich fat. 2: Cicero
unterscheidet lange vor david Hume die Auffassung, Kausalität sei unser deutungs-
rahmen für Ereignisse von derjenigen, sie sei etwas in der Materie selbst:
„Multum enim differt, utrum causa naturalis ex aeternitate futura vera efficiat an etiam sine
aeternitate naturali, futura quae sint, ea vera esse possint intellegi.“
Herkömmlicherweise wird der schwerpunkt dieser Aussage im Problem des deter-
minismus gesehen. Karl Bayers Übersetzung lautet:
„es ist nämlich ein großer unterschied, ob eine natürliche, von ewigkeit her angelegte ursache
Zukünftiges als wahr bestimmt oder ob man die künftigen ereignisse auch ohne rückgriff auf
natürliche, von ewigkeit angelegte ursachen als wahr verstehen kann.“
Man kann – was Bayers Übersetzung übrigens nicht verstellt – den Schwerpunkt
aber auch auf die Gegenübersetzung von vera efficere und vera intellegi legen.
der erste teil des satzes bezeichnet die stoische Position: das Bewirken ist in der
Welt, in der Materie selbst, und vom Bewirkten darf sogar das – an und für sich für
Aussagesätze vorgesehene – Prädikat ‚wahr‘ verwendet werden, weil die Grund-
lage aller Wahrheit, der logos, die Welt durchdringt. Für Cicero sind die Ordnung
der Welt und die Ordnung der sprache dagegen verschieden129: in der sprache, im
Logos deutet der Mensch die Welt. ‚Wahr‘ oder ‚falsch‘ und erst recht veri simile
oder probabile sind keine Prädikate für dinge, für materielle Zustände, sondern für
die Aussagesätze, die den dingen sprachliche Wirklichkeit geben. das vera intellegi
bezeichnet seine Position: das Zukünftige ist als ‚wahr‘ zu verstehen, wenn der es
beschreibende satz ein wahrer ist.
Während die stoiker glauben, mit ihrer Vernunft so an der kosmischen Allver-
nunft zu partizipieren, dass sie unmittelbaren Zugang zu den dingen der Welt haben,
gibt es für Cicero die Welt eben nicht unmittelbar. die stoische unterstellung, alles
Weltliche sei einem Kausalnexus unterworfen, ist – aus Ciceros sicht – nur eine
interpretation der Welt, der die oben angeführte eigenerfahrung des Verantwortungs-
und Freiheitsbewusstseins widerspricht:
„nicht diejenigen10, die sagen, dass das Zukünftige unabänderlich sei und dass sich das künftig
Wahre nicht in Falsches verändern könne, bekräftigen eine mit dem Fatum bezeichnete unaus-
weichlichkeit – sie interpretieren doch nur die Bedeutung von Wörtern (sed verborum vim inter-
pretantur) – sondern diejenigen, die einen von ewigkeit herrührenden Kausalnexus einführen,
129 Vgl. die Fülle der Beispiele, in denen Cicero res und verba unterscheidet (de orat. 2,66; ,19;
,125; fat. 44; nat. deor. 1,16).
10 es handelt sich hier um eine dritte Position, die in De fato mit dem namen diodor verbunden
ist.
1.5. Eloquentia und akademische skepsis 49
sind es, die den Menschengeist seines freien Willens berauben und ihn in die Zwangsläufigkeit
eines Fatums einschnüren“ (fat. 20; Übers. Bayer)
der fundamentale unterschied des Welt-Habens bei den stoikern, nämlich als
unmittelbare, als in sie verflochtene, und des Welt-Habens bei Cicero, nämlich als
deutungsbedürftige, als im Vollsinn erst durch die deutung konstituierte (aber nicht
‚konstruierte‘), wird in Cicero-texten nirgends explizit behandelt. implizit ist er in
De fato aber durchgängig spürbar. Bei der interpretation von Beispielen in fat. 6
spricht Cicero Folgendes aus:
„Also ist keiner von den oben genannten umständen eine ‚ursache‘, da ja keiner von ihnen aus
eigener Kraft das bewirkt, dessen ursache er sein soll.“ (Übers. Bayer; „nulla igitur earum est
‚causa‘, quoniam nulla eam rem sua vi efficit, cuius causa dicitur.“)
Auch hier wird deutlich, dass das Bewirken (efficere), das für die Ordnung der dinge
(res) unterstellt wird, eine Weise des Aussagens (dicere) über diese dinge ist. das
Bewusstsein, dass wir sprachlich Welt deuten, wird in der sprache nicht expliziert,
sondern ist eher ein begleitendes Bewusstsein. Auch Cicero will den satz: ‚A hat B
verursacht‘ nicht durch ‚ich interpretiere eine Verursachung von B durch A‘ oder
dergleichen ersetzt sehen. unsere sprache fasst die Welt so auf, als sei sie bei den
Dingen. Kritische Reflexion – bei Cicero im Ausgang vom Verantwortungs- oder
entscheidungsbewusstsein – kann aber den unterschied von sprach- und materiel-
ler Ordnung, die bei den stoikern letztlich in eins fallen, deutlich machen. Cicero
sieht sich im Bewusstsein der Macht seines Entscheidenkönnens als tatsächlich un-
mittelbar bei der Ordnung der dinge, wobei dieses ‚sieht sich‘ natürlich auch eine
selbstinterpretation einschließt.11
Weshalb lohnt sich für eine interpretation der Tusculanae Disputationes aber
dieser exkurs zu De fato? Er zeigt, dass für Cicero der Mensch nicht durch Zwang
11 es liegt nahe, Cicero in etwa den einwänden auszusetzen, die man gegen Kants Ding an sich
vorgebracht hat. und tatsächlich liegt in der Gegenüberstellung von Cicero und stoa vieles aus
der Gegenüberstellung von Kant und den idealisten mit Hegel an ihrer spitze. den einwand,
wenn Cicero nur über eine deutung an die Welt gelangt, dann solle er doch die deutung selbst
für die Welt nehmen, würde Cicero vermutlich deshalb nicht akzeptieren, weil er das Gebot
der skeptischen Vorsicht in der Gefahr, unterlaufen zu werden, sähe (vgl. die Ausführungen
zur temeritas und ac. 2,68; vgl. oben seite 9). Cicero hält es für nachgerade sinnvoll, sich der
nicht-unmittelbarkeit des eigenen Weltzugangs bewusst zu bleiben, weil nur dieses Bewusst-
sein Kritikfähigkeit und skepsis erhält. Ähnlich ist ja der bereits erwähnte einwand (vgl. oben
seite 5): Wer etwas als veri simile anzusprechen berechtigt zu sein glaubt, muss das verum
bereits kennen, um die Beziehung des simile konstatieren zu dürfen. Cicero schließt nicht aus,
dass sich das einst als äußerst ‚wahrheitsähnlich‘ Anerkannte unter neuer draufsicht als äußerst
‚Wahrheitsunähnliches‘ erweist. insofern hängt alles veri simile etwas unsicher in der luft. Aber
das Prädikat veri simile ist eben sehr gut geeignet, das Bewusstsein beizubringen, dass nicht
völlig frei eine Welt konstruiert werden kann, sondern sachliche Anhaltspunkte bestehen, die
aber ihrerseits nicht deutungsfrei und unmittelbar in das menschliche Wissen übergehen. das
Prädikat probabile vermeidet den kritisierten Anhalt an einem verum und hebt den praktischen
Vollzug des Anerkennens eines satzes hervor, vernachlässigt dafür aber den Hinweis auf die
unmöglichkeit völlig freien Konstruierens, weil bloße Zustimmungsfähigkeit den sachbezug
nicht enthält, und es wäre alleine (ohne veri simile als Pendant) auch geeignet, eine rein sophis-
tische sicht von sprachlicher Weltschöpfung zu stützen.
50 1. Grundlegendes
und bestimmte Kausalität zu seinen Vollzügen genötigt wird. so besteht auch keine
von außen gegebene notwendigkeit zur Zustimmung zu einem bestimmten, und sei
es ein noch so gut belegter satz. es ist immer ein entscheidungsspielraum offen
gelassen, der nur vom entscheidenden selbst gefüllt werden kann. Auch die thesen,
für die Cicero in den fünf Büchern der tusculanen argumentiert, nötigen ihre Zu-
stimmung trotz aller rationalen und rednerischen Kraft Ciceros dem leser oder Hörer
nicht auf. nur wenn das eigentümliche ‚Wollen‘ hinzukommt, von dem Woldemar
Görler spricht, kann einer these zugestimmt werden. denn das probare ist ein ak-
tiver Vollzug des erkennenden. Cicero versucht in den tusculanen diese notwen-
digkeit zur eigenen stellungnahme herauszustellen, indem er immer wieder auf die
‚restoffenheit‘ hinweist, die bei aller Gutbegründetheit der thesen bleibt. trotzdem
darf eben nicht der eindruck entstehen, als hätte der erkennende und im erkennen
Entscheidende keine rationalen Maßstäbe, denn genau diese an die Hand zu geben,
ist Aufgabe der Argumentation. sie bietet die sinnvollere Deutung des Ganzen an,
und rechtfertigt so rational die entscheidung für die dargelegte Position.12
Cicero erzählt im autobiographischen teil seiner schrift Brutus (06), wie der
erste Mithridatische Krieg den günstigen Umstand – Fuhrmann spricht sogar von
„Fügung“1 – mit sich brachte, dass Philon von larisa, das Oberhaupt der Akade-
mischen Schule, aus Athen nach Rom fliehen musste und in der neuen Welthauptstadt
seine lehrtätigkeit fortsetzte.14 da das damals darniederliegende Gerichtswesen in
rom Cicero keine Chancen zur Bewährung bot, gab er sich – der eigenen Bekun-
dung nach – „voll enthusiasmus für die Philosophie“ (Brutus 06; Übers. Kytzler)
der Belehrung durch Philon hin. in De natura deorum (1,6) zählt Cicero Philon zu-
sammen mit diodotos, Antiochos und Poseidonios stolz zu seinen herausragenden
lehrern und in fam. 9,8 sagt er, er habe sich selbst in den akademischen Büchern die
rolle Philons gegeben. Wenn es aber darum geht, die akademische Philosophie, die
er meint, d. h. die skeptische Akademie, auf einen personellen nenner zu bringen,
12 Vgl. Gawlick/Görler 1994, 111. Vgl. auch: Görler 1996a, 108: „das [sc. Ciceros Philosophie]
ist eine sehr persönliche Philosophie.“ Man kann wahrscheinlich sogar sagen: Das ist eine Phi-
losophie, die das subjekt in ihr recht setzt. Cicero ist also ein unvermutet moderner denker.
1 Fuhrmann 1991, 8.
14 Vgl. zu Philon Görler 1994, wo auch die mutmaßlichen entwicklungsphasen Philons und der
Interpretenstreit um seine Person ausführliche Behandlung findet. In dieser Arbeit hier geht es
nicht um eine Philon-interpretation, sondern nur um die Präsentation eines schemas, das zur
strukturierung der Tusculanae Disputationes dienen kann, wobei zwar vermutet, aber nicht
definitiv behauptet werden soll, dass Cicero sich bei der Abfassung dieses Werkes an den Stufen
der unterscheidung Philons orientiert (bewusst oder unbewusst).
1.6. Cicero und Philon von larisa 51
so ist in Ciceros texten doch stets Karneades, den Cicero nicht mehr kennen lernen
konnte, der eigentliche exponent und die eigentliche Autorität dieser schulrichtung.
natürlich kann nicht bezweifelt werden, dass ein Philosophielehrer wie Philon den
jungen Cicero ganz außerordentlich geprägt haben muss, es bleibt aber – da direkte
Bezüge Ciceros recht selten sind – das Ausmaß dieser Prägung eine philologische
und philosophiehistorische streitfrage. dass bei den Tusculanae Disputationes al-
lerdings eine nähe zu Philon bestehen dürfte, zeigen mehrere Hinweise:
1. in Tusc. 2,9 weist Cicero auf seine schülerschaft zu Philon hin („quem nos
frequenter audivimus“)
2. ebenfalls in 2,9 bezieht Cicero das Verfahren, abwechselnd in rhetorik und in
Philosophie zu unterrichten, auf Philon und gestaltet die literarische Fiktion der
tusculanen genau so, als seien sie die den rhetorikübungen folgende (nachmit-
tägliche) philosophische disputation.
. in Tusc. 2,26 bekennt Cicero sich ausdrücklich zur nachfolge Philons in der
Frage, wie mit dichterzitaten in philosophischen texten umzugehen sei.
4. der Vollständigkeit halber sei auch noch aufgeführt, dass Cicero Philon mit zu
den (vorbildlichen) Philosophen rechnet, die ihre Heimat verlassen mussten
(Tusc. 5,107).
Natürlich sieht sich Cicero nach Verbannung und politischer Machtlosigkeit auch
im letzten Punkt in einer gewissen reihe mit Philon, aber für sich genommen wäre
dieses Moment zu unspezifisch. Erstaunlich ist aber schon, dass Cicero sich in 2.
und . zu methodischen Vorgaben Philons bekennt, so dass die Anschlussfrage nahe
liegt, ob die tusculanen nicht insgesamt eine Art ‚philonisches Projekt‘ sind.
Nun wurden schon mehrmals Beziehungen und Einflüsse Philons auf die Tuscu-
lanae Disputationes behauptet. Im Mittelpunkt steht dabei ein bei Johannes Stobaios,
dem Verfasser einer großen Anthologie im fünften nachchristlichen Jahrhundert,
überlieferter Bericht des Areios didymos (spätes 1. Jh. v. Chr.), in dem dieser dar-
legt, wie Philon von larisa seine these entwickelt, dass der Philosoph einem Arzt
gleiche (stobaios, Eclogae 2.7, pp. 9.20–42.1)15:
Kai; ga;r th`/ ijatrikh`/ spoudh; pa`sa peri; to; tevlo~, tou`to d∆ h\n uJgiveia, kai; th`/ filosofiva/ peri;
th;n eujdaimonivan. (stob. Ecl. 2.7, pp. 40.2–41.1)
„Denn so wie in der Medizin jede Anstrengung das Ziel betrifft, das ist die Gesundheit, so betrifft
es in der Philosophie das glückliche leben.“
Philon hat nach diesem Zeugnis mehrere Phasen oder schritte von medizinischem
und – analog dazu – philosophischem Wirken unterschieden. der text ist proble-
matisch und wurde bislang in recht verschiedener Weise gegliedert.16 eindeutig
unterscheidbar sind:
15 stobaios, Ecl. 2.7, pp. 9.24–40.1 über Philon: ∆Eoikevnai dhv fhsi to;n filovsofon ijatrw`/. nach
der kritischen Ausgabe von Wachsmuth = Mette 198/8 F2, 1 f. Das vollständige Testimonium
ist als Nummer XXXII neu abgedruckt und englisch übersetzt in Brittain 2001, 3–3. Vgl.
Brittains Kommentar auf den seiten 277–295.
16 Hirzel 1883, 81–91; Grilli 191, 303 f. und 198, 21–2; Wiśniewski 1982, 39–1; Mette
1985, 1 f.; Görler 199, 92 f.; Brittain 2001, 2–29; Schofield 2002, 9 f.
52 1. Grundlegendes
1. eine protreptische Phase: in ihr muss der behandelnde Arzt bzw. der philoso-
phische therapeut versuchen, im Patienten die Bereitschaft für die anstehende
Behandlung zu erwirken. der philosophische protreptiko;~ lovgo~ (Ecl.2.7,
p.40.5–6) zeigt positiv die Vorteile eines philosophie- und damit tugendgemäßen
lebens auf und weist negativ die Gegner einer solchen lebensweise ab.
2. eine therapeutische Phase: die eigentliche Phase der Behandlung kennt in
der philosophischen therapie ebenfalls zwei stufen: eine negative, in der die
falschen Meinungen widerlegt, in anderen Worten: ‚aus der Seele entfernt‘
werden, und die positive Stufe, in der versucht wird, denjenigen Meinungen in
der seele raum zu geben, auf denen der positive Zustand gründet (qerapeu-
tiko;~ lovgo~; vgl. Ecl. 2.7, p.40.16–17).
die weiteren schritte sind nicht so eindeutig zu trennen; der stobaios-text macht
nicht recht klar, wie viele verschiedene ‚logoi‘ in weiteren schritten zu entwickeln
sind. Offenbar soll keine zeitliche sukzession mehr vorgegeben werden.17 Aus-
drücklich als „dritter“ wird genannt der ‚Logos, der das Ziel betrifft‘: In der Medizin
ist das Ziel die Gesundheit, in der Philosophie die Eudaimonia. Mit diesem dritten
lovgo~ peri; telw`n ist „verbunden“ (sunavptetai) der lovgo~ peri; bivwn (Ecl.2.7,
p.41.2), also einer, der die lebensweise betrifft. die Art dieser Verbindung ist nicht
näher qualifiziert. In der Forschung wird dieser ‚das Leben betreffende Logos‘ meist
als vierter gezählt.18 er teilt sich seinerseits in regeln für den einzelnen und solche
für die Allgemeinheit auf. „dieser unterabschnitt gilt Philon (oder seinem interpre-
ten Areios?) als ‚so bedeutend, dass er als (5.) politiko;~ lovgo~ für sich allein stehen
sollte.“19 Für den Weisen reichen nach Philon diese Phasen, für den nichtweisen
muss aber noch ein Abschnitt mit Vorschriften (uJpoqetiko;~ lovgo~) angefügt werden
(Ecl.2,7, p.41.16–25). Besondere Beachtung verdient die Begründung dafür, dass ein
‚logos, der die lebensweise betrifft‘ gegeben werden muss: denn wie der Kranke
vom Arzt nicht nur geheilt werden soll, sondern auch Anweisungen braucht, wie er
die Gesundheit bewahren (diafulavttein) kann, so soll auch der Philosoph regeln
(qewrhvmata) der lebensführung zur erhaltung (fulakhv) des erreichten aufstellen
(Ecl.2.7, p.41.2–7). im Hinblick auf die ‚Phaseneinteilung‘ von oben kann so viel-
leicht von
. einer bewahrenden Phase gesprochen werden. in diese Phase können dann die
Überlegungen hinsichtlich der individuellen lebensführung und der politischen
Ausgestaltung des staates integriert werden. die positive these des fünften Bu-
ches der Tusculanae Disputationes, dass das gute Handeln für die eudaimonia
ausreichend ist, könnte die rolle eines solchen ‚theorems‘ zur Bewahrung der
philosophisch erreichten seelischen Gesundheit spielen.
eine solche dreigliederung (proptreptisch, therapeutisch, ‚bewahrend‘) sieht Brittain
als ‚ursprüngliche‘ einteilung Philons („original ‚division‘“) an; die Phasen seien
höchsten Gut.147 Allerdings: die Annahme, eine schrift Philons sei der quellentext
für die tusculanen, geht zu weit, denn mit ihr ist auch eine inhaltliche nachfolge
Philons behauptet. Philons Gliederung ist eher „ein rein formaler rahmen, der mit
ganz verschiedenem inhalt gefüllt werden kann.“148
Hirzels these wurde in allgemeinerer Form 1971 von Alberto Grilli wieder
aufgegriffen: er versucht den nachweis, dass Ciceros gesamtes philosophisches
Schaffen von der philonischen Gliederung geprägt sei; ähnlich Schofield.149 das
bleibt problematisch. Ausgehend von Ciceros eigenem schriftenkatalog in div.
2,1– werden vermeintlich augenscheinliche Parallelen, beispielsweise der Beginn
mit dem zweifellos protreptischen Hortensius herausgestellt, aber auch kühne
Gegenüberstellungen von Ciceroschriften mit elementen der Gliederung Philons
unternommen.150 Vor allem Grillis Identifikation des bei Philon angesprochenen
‚politischen logos‘ mit Ciceros schrift De re publica leuchtet nicht ein, wenn man
bedenkt, dass dieses Werk 54 v. Chr. begonnen und 51 v. Chr. veröffentlicht wurde.
Möglicherweise mag die Behauptung, Cicero könnte De re publica später innerhalb
der Gliederung Philons gesehen haben, noch hingehen, aber dass diese schrift schon
als ‚politischer logos‘ im sinne dieses schemas angelegt war, überzeugt nicht recht.
Auch De natura deorum, De fato und De divinatione selbst lassen sich nicht einglie-
dern. Vielleicht liegt es doch näher, zumindest die Bücher der ersten schaffensphase
und diejenigen der zweiten (ab 46 v. Chr.) nicht im gleichen Gesamtplan angelegt
zu sehen.151
Malcolm Schofield übernimmt zwar die These, Ciceros philosophisches Schaf-
fen sei von Philons Gliederung bestimmt, positioniert aber – im Gegensatz zu Grilli
– die Tusculanae Disputationes als das zentrale, therapeutische Kernstück dieses
schriftenprogramms überhaupt. letztlich treffen auf ihn die formulierten einwände
gegen Grilli ebenfalls zu, aber der überwiegend therapeutische Charakter der ‚Ge-
spräche in tusculum‘ ist besser erfasst.
Bei allen Bedenken im einzelnen lässt sich jedoch festhalten, dass Philons
Gliederung (diaivresi~ Fivlwno~: Ecl. 2.7, p.41.26) für das Verständnis der tus-
culanen einen nicht unerheblichen Wert besitzt. Ob dies Cicero nun ausdrücklich
bewusst war oder nicht: Wie in dieser untersuchung gezeigt werden soll, folgt er in
den tusculanen durchaus der von seinem lehrer vorgeschlagenen unterteilung in
protreptische, therapeutische und die lebensführung betreffende Anteile und nimmt
insofern diese ‚philonischen elemente‘ als strukturprinzipien auf. dabei stellen die
Proömien, die in einer inhaltlichen Abfolge stehen, die Protreptik dar, die Bücher
I, II und III die ‚negative Therapeutik‘ als Entfernung von irrigen Meinungen, das
vierte Buch kann als positive therapeutische entfaltung angesehen werden, und die
these des fünften Buches zur Beziehung von tugend und glücklichem leben ist
im Hinblick auf Cicero am plausibelsten als ‚bewahrender logos‘ zu interpretie-
ren, der eine sittliche lebenshaltung fundieren kann. in dieser untersuchung geben
jedenfalls diese drei elemente aus Philons schema das raster für die Behandlung
der textabschnitte vor.
Charles Brittain, der in letzter Zeit die umfangreichste Arbeit zu Philon von larisa
vorgelegt hat, bestimmt dessen ethik als „non-dogmatic theory“.152 „non-dogmatic“
ist sie durch ihre Methode und in ihrer Vermeidung theoretischer Postulate, insbe-
sondere solcher, die das Wesen des Menschen betreffen. Für Letzteres, also für das
Ausweichen vor essentieller theorie, kennt Philon (nach Brittain15) zwei Gründe:
erstens zeigt der schulstreit von stoa und Peripatos, dass für das praktische Handeln,
d. h. für den im Handeln gesetzten Akt, die zugrunde liegende Anthropologie nicht
entscheidend ist, und zweitens ist die menschliche erkenntnisfähigkeit Grenzen
ausgesetzt, die eine zureichende anthropologische Bestimmung – als Wesensbe-
stimmung – ausschließen. Beide Gründe sind auch für Cicero in höchstem Maße
ausschlaggebend. die diskussion von De finibus bonorum et malorum kreist in den
Büchern iii bis V immer um die allgemeine these, dass die differenz zwischen stoa
und Alter Akademie bzw. Peripatos eine in den Worten (verbis), nicht in der sache
(rebus) sei. und im lucullus wird der diskussion um die reichweite menschlichen
erkennens raum gegeben.
Aber nicht nur die Vermeidung von Wesensbehauptungen macht Philons non-
Dogmatismus aus, sondern besonders seine Methode. Philon orientiert sich allein am
Ziel: Für das Wirken des Arztes ist das Ziel körperliche Gesundheit, für das Wirken
des Philosophen ist das Ziel die eudaimonia, das glückliche leben, und zwar als
wahrnehmbares. Brittain interpretiert Philon im rahmen eines „empiricist model“154;
auf seinen Forschungsergebnissen soll hier aufgebaut werden, da sie helfen, Ciceros
Position – und um diese geht es hier – in der Absetzung von Philon noch mehr Kontur
zu verleihen. Philon bemisst jede therapeutische Maßnahme an ihrer Wirksamkeit im
Hinblick auf das Ziel: Erfahrungen aus der Praxis und die untersuchung von Fällen
bilden Grundlage und instrumentarium für das therapeutische Handeln. dabei lehren
zunächst Versuch und irrtum, im Fortschreiten der therapeutischen Kunst kann aber
eine kontinuierliche Verbesserung und Verfeinerung durch differenzierung erreicht
152 Brittain 2001, 29 ff. im Übrigen ist für Brittains Charakterisierungen festzuhalten, dass er fast
durchwegs mit negativen Attributen arbeitet und positive Bestimmungen meidet (vgl. z. B. die
rede von der „vorphilonischen“ ethik als „not prescriptive“ auf seite 27). Für Philon muss
die positive Aussage hier stärker aus der Medizin-Analogie abgeleitet werden als Brittain selbst
dies tut.
15 Vgl. Brittain 2001, 295.
154 Brittain 2001, 261.
56 1. Grundlegendes
werden.155 Eine so konstruierte Medizin oder Ethik ist tatsächlich nicht dogmatisch,
sondern pragmatisch. im ergebnis unterscheiden sich die angewandten Handlungen
gar nicht so sehr von denen, die auf rationalistischer theorie beruhen.156 Für den
ethischen Bereich heißt das beispielsweise: Wie die Erfahrung lehrt, verheißt die
tyrannis dem tyrannen keine eudaimonia, sondern ein leben in Angst und ständi-
gem Misstrauen. Ciceros ausführlicher Bericht zu Dionysios und Damokles in Tusc.
5,61 ff. liefert hierfür ein beredtes Paradigma. Auch eine ‚rationalistische ethik‘
kann die Verfehlung, die in der tyrannis liegt, aufzeigen. der ‚ethische empirist‘
und der ‚dogmatische ethiker‘ kommen ausgehend von verschiedenen methodischen
Grundlagen zum gleichen, handlungsbestimmenden ergebnis.
der empirismus eines Philon, wie er von Brittain skizziert wird, reicht aber
für eine adäquate Beschreibung des ethischen denkens Ciceros nicht aus.157 die
pragmatisch-teleologische Position, deren Ziel das auch empirisch fassbare Glück
ist, findet zwar häufig zur normativ richtigen Handlung, dies aber nicht prinzipiell,
und auch aus erfahrung wissen wir darum. in seiner Auseinandersetzung mit den
epikureern kritisiert Cicero in der Hauptsache genau den Punkt, der alle rein tele-
ologischen ethikkonzepte trifft: Auch wenn sie oft oder sogar meistens mit einer
sittlichen sollens-norm übereinstimmen, so ist dieser Zusammenfall doch nicht
zwingend, und der Vorzug des Zieles vor der norm löst die norm als solche zuse-
hends auf. dabei ist noch nicht einmal entscheidend, ob das Ziel der eudaimonia
als ein individuelles – wie bei den epikureern – oder als ein kollektives (‚Größtes
Glück der größten Zahl‘) dargestellt wird. in fin. 2,59 schildert Cicero ein Beispiel
aus der Akademie, das gerade den Vorrang des officium vor der teleogischen rati-
onalität aufzeigen soll:
„Wenn du wüsstest“, sagt Karneades, „dass eine Viper sich irgendwo verborgen hält und dass
ein Ahnungsloser, dessen tod für dich von Vorteil wäre, sich auf sie setzen will, dann würdest
du verwerflich handeln, wenn du ihn nicht warnen würdest, sich zu setzen, doch dein Verhalten
bliebe trotzdem ungestraft.“ (Übers. Merklin)
die Pointe des Beispiels besteht darin, dass es für Cicero eine Art ‚intuitives Wissen‘
höchster Probabilität (aus der recta natura; fin. 2,58) von sittlichen normen gibt, die
eine bloß teleologische Haltung aus den Angeln hebt. Cicero diskutiert das Beispiel
nicht im Hinblick auf die Frage, wie die situation zu entscheiden wäre, wenn aus
dem tod dieses einzelnen ein größeres Gut für eine Gesamtheit entspränge, sondern
nur unter dem Blickwinkel, dass es für den Handelnden einen Vorteil bedeutete,
wenn sein Gegenüber der Schlange zum Opfer fiele. Unter bloß teleologischer Per-
spektive verlieren deontische sätze wie das tötungsverbot ihren Wert. Als Politiker
hat Cicero durchaus leben gegen das schicksal der republik abgewogen und sich
dann für die tötung der Catalinarier entschieden. Hier siegte also die teleologie.
155 “this experience was gained by practice and by the study of historia (the investigation of case-
histories); it revealed what, by chance discovery, or naïve custom, had, in fact, resulted from the
application of particular treatments to particular (phenomenally defined) symptoms.” Brittain
2001, 260.
156 “empiricist medical practice did not differ very considerably from rationalist practice.” Brittain,
260.
157 Zum ethischen denken Ciceros vgl. auch Görler 1978.
1.6. Cicero und Philon von larisa 57
Aber entscheidend für die Konfrontation mit Philon – oder dem Philon-Konzept
nach Brittain – ist der stellenwert einer Vernunft, die nicht nur instrumentell und
damit der erfahrung dienstbar ist, sondern darüber hinaus eine Art intuitiver sittlicher
normativität zur Geltung bringen kann.
Zwar ist Cicero weit davon entfernt, ein vollständiges intuitives Wissen über die
praktischen normen zu behaupten. im Gegenteil: Aus evidenzmangel ist jeder intu-
ition mit Vorsicht zu begegnen, und ein Abwägungsprozess im sinne der disputatio
in utramque partem158 ist nötig. dieser methodische Weg reicht aber im Hinblick
auf das Ziel sittlichen Handelns nicht mehr aus, und ohne ein solches Ziel kann auch
die disputatio in utramque partem keine Lösung finden, weil sie ohne Anhaltspunkt
bleibt, woraufhin argumentiert wird.
„da fühle ich mich dann hin- und hergerissen: bald kommt mir dies, bald jenes glaubhafter
(probabilius) vor“ (ac. 2,14; Übers. schäublin),
schreibt Cicero zur Auseinandersetzung von Akademikern und stoikern im lucullus,
aber eines ist für ihn auch hier klar: die tugend als eingeborener sinn für sittlichkeit
darf nicht außer Kraft gesetzt werden, wie es die epikureer in ihrer reinen lustte-
leologie tun.159
Cicero ist also erbe zweier lehrstränge und er versucht beide zu verbinden:
einerseits die akademisch-skeptische lehre Philons (nach Brittain) mit ihrer of-
fensichtlichen Betonung von erfahrung und situativer disputation im Hinblick auf
das für das Ziel der eudaimonia hin richtige. Andererseits die Betonung von ver-
nünftigem und darin natürlichem sittlichen Empfinden, wie sie bei den Stoikern und
vermutlich auch bei Antiochos beredten Ausdruck findet.160 die Bezugnahme auf
sittliche normen, die sich nicht aus bloßer Zielgerichtetheit, sondern aus innerem
sinn heraus ergeben, wird bei Cicero nicht als ‚dogmatische Position‘ verbrämt.
diese normen sind der notwendige Fixpunkt, der sittlichkeit erst aus dem bloß Hy-
pothetischen herausholt, weil unter Voraussetzung eines beliebigen Zieles jegliche
Handlung rational gerechtfertigt werden könnte. Allerdings ist umgekehrt auch der
Gefahr entgegenzutreten, dass inneres Empfinden tatsächlich zum Dogma erklärt
wird und vorschnell (temere161) auf die vernünftige Überprüfung und den Abgleich
mit der erfahrung verzichtet wird. erst im Zusammenwirken von erfahrung und
Vernunft verwirklicht sich bei Cicero sittlichkeit.162
158 Nach Charles Brittain Philons ethische Methode (Brittain 2001, 2): “examination of the evi-
dence – i.e. the process of arguing on either side.”
159 Vgl. ac. 2,14 in Fortsetzung der oben zitierten stelle: „und doch hat zu gelten: wenn nicht das
eine oder das andere [Antiochos oder stoa] der Fall ist [d. h. ein Ansatz, bei dem auf natürliche
sittlichkeit Bezug genommen wird], liegt die tugend restlos am Boden“ (Übers. schäublin).
160 insofern hat Kants diktum, Cicero sei „in der spekulativen Philosophie ein schüler des Plato, in
der Moral ein Stoiker“ (Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Band IX, Berlin/Leipzig 1923, 31) Plausibilität, wenn man den Skeptizismus
der Akademie noch als schülerschaft Platons ansehen darf.
161 Vgl. zur Gefahr der temeritas ac. 1,42; 1,45; 2,68; 2,87 und 2,108 und oben seite 9.
162 Auch Brittain 2001, 28 sieht zu recht Cicero nicht in der direkten nachfolge Philons.
58 1. Grundlegendes
den wird er das Werk nochmals umarbeiten, gleichzeitig aber schon die schrift De
finibus bonorum et malorum beginnen, eine disputatio in utramque partem zwischen
epikureischer, stoischer und antiocheisch-akademischer ethik. noch bevor dieses
Werk zu den Kopisten geht, fängt Cicero am 29. Mai 5 schon wieder etwas Neues
an: Fünf Bücher im stile der akademischen schola, mit eingangsthese und einer
rede, die diese these zu widerlegen versucht. er wird sie selbst Tusculanae Dis-
putationes nennen (att. 15,,4; div. 2,2). Wir kennen das datum deshalb so genau,
weil Cicero von tusculum aus an diesem tag Atticus bittet, ihm dikaiarchs Bücher
Peri; Yuch`~ und Katavbasi~ zu senden (att. 1,10,2). Am 2. Juni liegen ihm die
texte bereits vor (att. 1,15,); eine Woche später fordert er Panaitios’ Über die
Vorsicht an. Am 21. Juni reist Cicero nach Arpinum, seinem Geburtsort, um auf
seinen dortigen Besitzungen nach dem rechten zu sehen. Am 7. Juli kehrt er nach
Tusculum zurück. In die folgenden Wochen oder Monate scheint die Abfassung der
„Gespräche in tusculum“ zu fallen. Genaueres wissen wir leider nicht. in einem
Brief an Atticus vom 18. Mai erfahren wir, dass Ciceros Freund das erste Buch
zustimmend aufgenommen hat (att. 15,3,); aus einem Schreiben vom 2. Mai
geht hervor, dass Atticus offenbar schon das gesamte Werk besitzt (att. 15,6,2).
Zwischen den erwähnten Hinweisen zur Aufnahme der Arbeit an dieser schrift und
den ersten Zeugnissen über das fertige Werk liegt ein ereignis, das nicht nur Ciceros
Biographie, sondern auch der Geschichte eine neue Wendung geben sollte, nämlich
Caesars Ermordung. Im Text der Tusculanen allerdings findet sich kein Hinweis
darauf, dass dieses ereignis schon zeitlich zurückliegen könnte. im Gegenteil: das
fünfte Buch mit der schilderung des elends eines tyrannischen lebens wird oft nicht
zuletzt als verdeckte Anspielung auf die bestehende Herrschaft Caesars interpretiert.
Jedenfalls wird nicht ohne Grund die Abfassungszeit der Tusculanae Disputationes
im sommer und Frühherbst des Jahres 45 v. Chr. vermutet.171 Mit De natura deo-
rum wird Cicero seine philosophischen Werke fortsetzen. etwa zeitgleich mit den
tusculanen erarbeitet er eine Übersetzung des Timaios von Platon.172
Cicero verfasste also das hier zur debatte stehende Werk in einer Zeit persön-
licher Krise: der tod der tochter tullia, die zerrütteten häuslichen Verhältnisse,
besonders aber auch der Gipfel der Machtfülle Caesars scheinen ihn in einen Zu-
stand versetzt zu haben, der philosophisch mit dem von ihm geschaffenen Ausdruck
perturbatio animi anzusprechen ist.17 in gewisser Weise ist seine gesamte philoso-
phische schriftstellerei ein therapeutisches Projekt zur linderung seiner seelischen
Verwirrung – in besonderer Weise aber sind es die Tusculanae Disputationes, in
denen er das Problem seelischer erkrankung offensiv und direkt thematisiert. im
Anschluss an das schema von Ciceros lehrer Philon von larisa, der den etappen
des Heilungsprozesses die stufen des protreptischen, therapeutischen und bewahren-
den logos zuweist, soll auch der folgende interpretationsgang nach diesen stufen
gegliedert werden.
2. ProtrePtischer Logos – Die Proömien
Der fünf Bücher
Der Tusculanae DispuTaTiones
in einer amüsanten Briefstelle veranlasst cicero seinen freund Atticus, das Proö-
mium für die heute verlorene schrift De gloria auszutauschen, weil er versehentlich
eines vorangestellt hatte, das von ihm bereits für das dritte Buch der academici libri
verwendet worden war.174 Diese Briefstelle scheint zu offenbaren, wie leichtfertig
cicero seine philosophischen Werke zusammenstellt. Aber die bloße existenz des
volumen prohoemiorum beweist noch keineswegs eine willkürliche Zusammenstel-
lung. im falle der Tusculanae Disputationes kann nicht nur gezeigt werden, wie
die Proömien sich auf den haupttext beziehen,175 sondern dass sie selbst in einem
inhaltlichen Zusammenhang stehen. in einer Art engziehung oder einer Art sach-
lichem Anstieg gelingt es cicero von Vorrede zu Vorrede in den ersten drei Büchern
die leitende fragestellung des gesamtwerks herauszuarbeiten. es ist für diesen
Aufweis auch unerheblich, ob cicero bereits verfasste Vorreden sinnvoll anordnete
oder sie eigens neu für die Tusculanen geschrieben hat. möglicherweise vermischen
sich beide Verfahren. Bemerkenswert ist das zweite Buch, weil es im Anschluss an
die Vorrede noch eine ausführlichere einleitung zum szenischen gespräch enthält.
Während die ersten drei Proömien aufeinander aufzubauen scheinen und doch
auch Vorreden zu den jeweiligen Büchern mit ihren jeweiligen themen sind, geht
cicero mit der vierten Vorrede wieder zurück zu jener des ersten Buches mit dem
großen Kulturvergleich zwischen griechenland und rom. es ist wie ein erneutes
Ansetzen; ein neuer protreptischer Aufschwung hin zum römischen Philosophieren
soll motiviert werden. Die Vorrede des fünften Buches stellt eine Begegnung des
auffordernden und des bewahrenden Logos dar, indem sie schon im Zeichen des
themas dieses Buches steht: Das Verhältnis von (sittlich) gutem und glücklichem
Leben, das die Philosophie so zu bestimmen weiß, dass ein nachhaltig glücklicher
Lebensvollzug möglich ist, ohne beständig in Angst und furcht um nichtige güter
gefangen sein zu müssen. Alles in allem sind die Vorreden ciceros hortative texte,
die den – insbesondere römischen – Leser zum philosophischen Denken motivieren
sollen. sie geben damit gemäß der gliederung Philons den protreptischen Logos
wieder, der mehr als der therapeutische und vor allem der bewahrende Logos situa-
tions- und Zeitbezüge einbinden muss, denn der Ausgangspunkt des Philosophierens
ist konkret.
174 att. 16,6,4. Zur geschichte von Vorwort und Widmung in der antiken Literatur vgl. max Pohlenz:
Vorwort und Widmung. in: ciceronis Tusculanarum Disputationum libri V, stuttgart 1912, nD
1957, 22 f. Pohlenz betont einerseits zu recht die eigenständigkeit der ciceronischen Proömien,
glaubt aber zu Unrecht, dass sie „mit der sache nichts zu tun haben” (22) und der übergang zum
thema „in den meisten fällen nur durch einen saltomortale erfolge”.
175 Vgl. stadler 2004.
62 2. Protreptischer Logos
cicero ist der Propagandist der Philosophie im rom seiner Zeit, und die not-
wendigkeit des Philosophierens belegt er nicht nur mit der sachangemessenheit
der philosophischen Betätigung, sondern er spornt seine mitbürger auch gerne mit
Argumenten der Art an, dass doch rom in allem mit den griechen gleichziehen oder
sie sogar überholen habe können, nur das feld der Philosophie sei ihnen noch zu sehr
überlassen. cicero packt also seine Landsleute beim nationalstolz, was man aber
nicht missverstehen sollte: Letztlich ist die Philosophie eine in sich sinnvolle Betäti-
gung, wie ja gerade der therapeutische und bewahrende Logos zeigen. Den ‚nutzen‘
des Philosophieren hat der Philosoph selbst und zuerst. er wird im Philosophieren
der sokratischen sorge um seine seele gerecht. cicero nimmt es hin, dass er zum
teil mit außerphilosophischen Argumenten zum Philosophieren anspornen muss.
Wer aber zur Philosophie gekommen ist, wird erkennen, dass er diese Argumente
nunmehr ablegen kann, und es wird sich ihm ihr innerer sinn erschließen.
2.1. BUch i
Das Proömium des ersten Buches gehört mit großer sicherheit in die Kategorie der
Vorreden, die cicero explizit für das angesprochene Werk verfasst hat.176 es schlägt
nämlich schon im ersten satz einen ton an, der für die weitere schrift bestimmend
sein wird, sich aber in dieser Weise in den anderen – überlieferten – schriften nicht
findet. Cicero spricht hier nämlich davon, dass er von seiner öffentlichen Aufgabe
„befreit“ (liberatus; Tusc. 1,1) sei und so nun zu den studien aus Jugendtagen
zurückkehren könne. Dergleichen rede über seine erzwungene mußetätigkeit als
Befreiung findet sich weder in der Vorgängerschrift De finibus noch im folgenden
De natura deorum. in diesen schriften und auch wieder in De officiis stellt cicero
seine öffentliche tätigkeit als Anwalt, redner und Politiker auf die gleiche stufe
wie seine ‚einbürgerungsleistung‘ der Philosophie in rom. hier in den tusculanen
wirkt es so, als wäre sein neues schaffen nicht bloß ein Wechsel in der dem staat
nutzbringenden tätigkeit, sondern eine verbesserte, eigentlichere Befassung des
menschen, an der es dem im öffentlichen Leben verhafteten und an äußerer Aner-
kennung orientierten Politiker mangelt. 177
in div. 2,2 nennt cicero das thema der tusculanen die res ad beate vivendum
maxime necessariae, also die zur glücklichen oder gelungenen Lebensführung not-
wendigsten Dinge. Die ersten Abschnitte des ersten Proömiums bestätigen diese
themensetzung. es geht – so cicero – in der Philosophie um die artes, also die
Kunstfertigkeiten, die es mit dem richtigen Weg der Lebensführung zu tun haben
(quae ad rectam vivendi viam pertinerent). Als wäre ein Wettkampf zu gewinnen,
stellt cicero die römischen Leistungen auf verschiedenen gebieten den griechischen
176 Vgl. zum Proömium des ersten Buches auch Leeman 1963, 198 ff.
177 innerhalb seiner philosophischen schriften spricht cicero nur in den academica posteriora
nochmals so deutlich vom Befreit-sein von der administratio rei publicae (ac.1,11). Diese
Passage aus der zweiten fassung seiner Akademischen Bücher scheint überhaupt in einem
stimmungszusammenhang mit den tusculanen zu stehen, schließlich spricht er auch hier von
der Philosophie als medicina doloris.
2.1. Buch i 63
gegenüber. es zeigt sich hier, dass das agonale Denken bei cicero eine gewichtige
rolle einnimmt, die vor allem für seinen Aufgriff der ‚Disputation nach zwei seiten
hin‘ und der damit verbundenen nutzbarmachung der produktiven Kräfte des streits
zur Wahrheitsfindung bedeutsam ist. Hier aber wird ein Kulturvergleich angestellt,
dessen leitende Begriffe natura und litterae sind: Von natur her nämlich sind die
römer, so ciceros these in 1,2 f., hinsichtlich der Lebensführung den griechen noch
nie nachgestanden, lediglich im schriftlichen Bildungsbereich bleibt den römern
die Aufgabe, griechenlands Vorsprung aufzuholen, an die sich cicero als einer der
ersten seines Volks in besonderer Weise machen will. er nimmt also an, dass rechte
Lebensführung durchaus auch ohne philosophische Kenntnisse und ohne studium
von texten zu erreichen ist, wenn eine entsprechende naturhafte Anlage bei einem
menschen dazu vorliegt. nicht die Philosophie ist das erste, sondern die Veranla-
gung, genereller gesprochen: die natur.178 Die Veranlagung der römer brachte es
mit sich, dass die Philosophie lange Zeit in rom „brachliegen“ (philosophia iacuit;
Tusc. 1,5) konnte, denn zu einer gelungenen Lebensführung war man dort auch ohne
ausdrückliche Reflexion über sie imstande. Als ‚brachliegende‘ ist sie aber auch im
römer – wie in jedem menschen – von natur als potenzielle angelegt, so dass man
aristotelisierend sagen kann: Die möglichkeit des römischen Philosophierens wird
bei cicero zur Wirklichkeit. Warum aber philosophiert cicero? er sagt selbst, dass
der ruhm und die ehre starke motivationsgründe sind, eine tätigkeit aufzunehmen
(Tusc. 1,4), was wohl auch für seine Arbeit als philosophischer schriftsteller ange-
nommen werden darf. in bemerkenswerter Weitsicht erkennt er den Ansehensge-
winn, der ihm und der römischen Kultur als ganze winkt, wenn er sich dieser Arbeit
annimmt und das philosophische Denken der griechen in seiner sprache und Weise
fortführt. Aber es gibt noch einen zweiten, gewichtigeren grund: Die ursprüngliche
naturbedingte Unbedarftheit und darin richtigkeit des römischen Lebens ist bereits
nicht mehr heil. Der Zustand der republik nach den Bürgerkriegen der letzten Jahr-
zehnte ist sicherlich ein indiz dafür. noch auf ein weiteres motiv spielt cicero im
Vorübergehen an: es gibt bereits mit philosophischem Anspruch vertretene thesen
in rom, und darunter ist die des hedonismus, wie ihn die epikureer befürworten.
Zwar bleiben die epikureischen texte179 bislang innerschulische schriften, deren
Breitenwirkung noch beschränkt ist (Tusc. 1,6), aber in den gebildeteren schichten
besteht bereits die notwendigkeit, eine Position zu rechtfertigen. Die griechischen
Philosophenschulen, die im zweiten Jahrhundert vor christus in das römische Leben
einbrechen, erzeugen einen unumkehrbaren Prozess der Rechtfertigungspflicht, auch
für die bislang unbestrittenen und erfolgreichen mores et instituta vitae (Tusc. 1,2).
cicero sieht nun seine Aufgabe darin, einen unter Umständen in die Destruktion
178 in der szenischen einführung zum zweiten Buch (Tusc. 2,11) wird cicero ausdrücklich auf die
notwendige naturanlage hinweisen, der auch die Philosophie bedarf, um ihre volle Wirkung
entfalten zu können.
179 gigon geht davon aus, dass cicero hier wie in Tusc. 2,7 f. und 4,6 f. epikureische schriften
meint (Komm. 459). Da cicero in Tusc. 4,7 von einer großen öffentlichkeit für die schriften
der epikureer spricht, könnte man auch schließen, dass er hier keine texte dieser schule meint.
für die tatsache, dass bereits philosophischer rechtfertigungsdruck besteht, ist die frage, wer
nun genau hinter der Konkurrenz steckt, ohnehin unerheblich.
64 2. Protreptischer Logos
180 Vgl. fin. 4,10. Vorsichtig kann man auch de orat. 3,64 heranziehen: „Verum ego non quaero nunc,
quae sit philosophia verissima, sed quae oratori coniuncta maxime.“ nicht eine den menschen
unzugängliche höchste Wahrheit wird von cicero (hier aus dem munde der figur des crassus
sprechend) angezielt, sondern eine Philosophie, die mit der rede ‚maximale‘ Verbindung be-
sitzt.
181 Diese nicht einzuhalten ist besonders der fehler der epikureer (Tusc. 1,6). in De finibus ver-
sucht cicero denn auch, die epikureische Lehre im ersten Buch besser („accuratius“; fin. 1,13)
darzustellen, als es die epikureer selbst tun.
182 es scheint vielmehr so zu sein, dass cicero weder isokrates’ noch Aristoteles’ schriften im
original gut kannte. Vgl. classen 1989 und görler 1989 sowie spahlinger 2005, 297–311.
183 Vgl. de orat. 3,82.
184 Vgl. gorman 2005, 64 ff. ob die von gorman beschriebene Ablehnung der schola-methode („he
[cicero] disapproves of the schola even in the hands of philosophers“, 65) generell vorliegt,
kann hier im grunde genommen offen gelassen werden. gorman stützt sich auf den Anfang der
Vorbemerkungen zum zweiten Buch von De finibus, an dem cicero sagt, dass er das erklären
in form der schola auch bei den Philosophen nie überaus geschätzt habe (fin. 2,1). nach einer
2.1. Buch i 65
Dabei ist der Ausdruck socratica ratio bei cicero sehr weit verstanden als die Weise,
„gegen die meinung eines anderen zu diskutieren“ (übers. gigon). im zweiten Buch
von De finibus (fin. 2,2) gibt cicero eine übersicht über philosophische Disputier-
methoden von der sophistik bis zur Akademie und beschreibt für letztgenannte
schule genau das in den Tusculanen praktizierte Verfahren, das er in fat. 4 „contra
propositum disputare“ nennt:
„Dort nämlich sagt derjenige, der etwas hören will, etwa: ‚Die Lust scheint mir das höchste
gut zu sein.‘ Dann wird in einer zusammenhängenden Darstellung die gegenposition vertreten,
so dass man leicht erkennen kann, dass die, die eine meinung äußern, nicht selbst auf diesem
standpunkt stehen, sondern nur gegenargumente hören wollen.“ (fin. 2,2; übers. merklin)
in Tusc. 3,54 berichtet cicero, dass Karneades dieses Verfahren auf die these: ‚Der
Weise wird bei eroberung seiner heimatstadt in Kummer befallen sein‘ angewendet
habe.
tatsächlich baut cicero alle thesen des schülers in den tusculanen (bis auf
die zweite) unter leichter Variation nach dem muster aus De finibus: „voluptas mihi
videtur esse summum bonum“ auf:
erstes Buch: „malum mihi videtur esse mors.“ – „Der tod scheint mir ein übel zu sein.“ (1,9)
[Ausnahme: Zweites Buch: „Dolorem existimo maximum malorum omnium.“ – „ich halte den
schmerz für das größte aller übel.“ (2,14)]
Drittes Buch: „Videtur mihi cadere in sapientem aegritudo.“ – „es scheint mir, dass der Weise
dem Kummer unterworfen ist.“ (3,7)
Viertes Buch: „non mihi videtur omni animi perturbatione posse sapiens vacare.“ – „ich glaube
nicht, dass der Weise von jeder Leidenschaft frei sein kann.“ (4,8)
fünftes Buch: „non mihi videtur ad beate vivendum satis posse virtutem.“ – „ich glaube
nicht, dass die tugend das glückselige Leben hinreichend zustande bringt.“ (5,12; alle übers.
gigon)
Die methode im textkorpus der Tusculanae Disputationes ist also nach ciceros
selbstverständnis die akademische, die ihren Ursprung in der sokratischen frucht-
barmachung der Widerlegung oder Widerrede hat. Worin besteht aber hier die
frucht? cicero nennt das erreichen des veri simillimum (Tusc. 1,8), also das dem
Wahrem am nächsten Kommende und markiert damit seinen erkenntnistheoretischen
standpunkt, dass kein satz mit dogmatischem Wahrheitsanspruch vertreten werden
könne, dass aber sätze, die in geordnetem Verfahren als gut begründet erwiesen
knappen übersicht über die verschiedenen Lehr- und Disputierstile der Philosophie behauptet
er, in der Widerrede auf die epikureische oratio perpetua des ersten Buches von De finibus im
zweiten Buch „angepasster“ vorgehen zu wollen („commodius agamus“; fin. 2,3). Darin liegt
wohl ein hinweis, dass inhalt und Ziel eines Lehrdisputs auch Auswirkungen auf die form haben
müssen. insgesamt scheint der Ausdruck schola in fin. 2,1 ebenso wie in Tusc. 1,8 immer noch
einer genaueren Bestimmung zu bedürfen. Deshalb folgt in De finibus die historische übersicht,
in den tusculanen die Präzisierung auf das contra opinionem disserendi. – Jedenfalls sind die
tusculanen kein Dialog nach der aristotelischen methode, die cicero für De finibus und die
academici libri, bestimmt auch für De natura deorum in Anspruch nimmt; vgl. att. 13,29. – Zu
den heute üblicherweise verwendeten, aber nicht von cicero, sondern von byzantinischen her-
ausgebern stammenden, Abkürzugen m und A (eigentl. D) zur Personenbezeichnung vgl. max
Pohlenz: Die personenbezeichnungen in ciceros Tusculanen. in: Hermes 46 (1911) 627–629.
66 2. Protreptischer Logos
werden können, als der Wahrheit äußerst nahe gelten dürfen und bei praktischer
relevanz handlungsbestimmend sein müssen.185
2.2. BUch ii
Das zweite Buch besitzt einen doppelten einführungsteil: Zunächst ein reguläres
Proömium, das inhaltlich in weiten Bereichen an dem des ersten Buches anknüpft
(Tusc. 2,1–9), und daran anschließend eine szenische schilderung, in der die Leh-
rerfigur die Schülergestalt über die Kraft der Philosophie in ihrer Wirkung auf die
seele unterweist (Tusc. 2,10–13).
Das Proömium beginnt mit einem Bekenntnis zur philosophischen Lebensfüh-
rung. in einem ennius-Vers wird eine ähnliche these vertreten wie von Kallikles
in Platons Dialog Gorgias: heißt es dort, sokrates sei zwar in der Jugend das Phi-
losophieren zugestanden, er solle aber auch wissen, wann es an ein ende kommen
muss, um nicht ewig unerfahren zu bleiben und damit das kalo;~ kajgaqov~-Werden
zu verfehlen (Gorg. 484c), so lässt der Dichter auch hier seine figur sagen, sie wolle
nur in geringem Umfang (paucis) Philosophie treiben und keineswegs schlechthin
(omnino) (Tusc. 2,1). Dem einwand, Philosophie sei nur in einem bestimmten maß
zu pflegen, entgegnet Cicero schon in De finibus 1,1–3, und zwar in gleicher Weise
wie hier: Philosophie zu kennen heißt zu wissen, dass sie prinzipiell ohne schranken
ist. Philosophie ist keine Wissenschaft im sinne eines systems zusammengehöriger
sätze zu einem bestimmten themengebiet, z. B. dem Bereich der gestirne, so dass
man sagen könnte, es sei sinnvoll, die groben thesen der astronomischen forschung
zu kennen und die Details den spezialisten zu überlassen. ars est enim philosophia
vitae (fin. 3,4), praktisches Umgehen mit dem Leben ist Philosophie, und die Unter-
scheidung von spezialist und Amateur gibt in Bezug auf die Lebensführung keinen
sinn. Dennoch geht cicero in den Tusculanen augenscheinlich etwas konzilianter
mit dem einwand des philosophischen maßhaltens um als in De finibus. eine ausgie-
bige Dauerbeschäftigung mit Philosophie ist zwar cicero in seiner derzeitigen Lage
möglich, keinesfalls aber jedermann und immer. so gesteht er zu, dass auch geringe
philosophische überlegungen nützlich und fruchtbringend (prosunt et ferunt fruc-
tus186) sein können hinsichtlich der Befreiung von Begierde (cupiditas), Kummer
(aegritudo) und Angst (metus; Tusc. 2,2). mit der ausdrücklichen nennung von drei
der vier generischen emotionen spielt er hier bereits auf die stoische emotionslehre
an, wie er sie vor allem im vierten Buch ab Tusc. 4,11 darlegt. er macht deutlich,
dass das hauptziel der Tusculanae Disputationes im Umgang mit den – hier noch
185 Vgl. oben 1.5. seiten 31 ff. – in fam. 4,6, einem Brief, den cicero kurz vor Beginn der Arbeit
an den tusculanen abgefasst hat, schreibt er an sulpicius: „Keine Vernunftgründe können mir
einen wirksameren trost spenden als der Verkehr von mensch zu mensch und unser persönliches
gespräch“ (übers. Kasten). Die methode, den gang der gespräche in tusculum als Zweierge-
spräche vorzustellen, macht sich also zudem gewissermaßen die therapeutische Wirkung des
sozialen Kontakts zunutze.
186 Vgl. ac. 2,6, wo cicero von sich sagt, die tätigkeit seiner muße, also die Philosophie, sei gerade
von dem Bemühen getragen, „ut plurimis prosimus.“
2.2. Buch ii 67
nicht so bezeichneten – perturbationes animi liegt. Die erste schola, die in Buch i
aufgezeichnet ist, wird ganz im sinne der Wirkung auf die psychische gesundheit
rekapituliert:
„so schien sich mir aus dem gespräch, das wir neulich im tusculanum abgehalten haben, eine
große Verachtung des todes ergeben zu haben, die zur Befreiung der seele von der Angst nicht
wenig beiträgt.“187 (übers. gigon)
cicero hält also schon im protreptischen Logos fest, dass es die möglichkeit der
Veränderung des pavqo~ durch den lovgo~ gibt. Je nachdem, welchen sätzen zuge-
stimmt wird, fällt eine emotion aus. in dieser Allgemeinheit ist cicero sich mit den
stoikern ganz einig. Detaillierter besehen zeigen sich aber in dieser kurzen Passage
spezifische Abwandlungen. Zunächst spricht Cicero nicht von irgendeinem Logos,
sondern von einer disputatio, womit eben die an der akademischen schulpraxis ori-
entierte gesprächsform der Unterredungen in den Tusculanae Disputationes gemeint
ist. Weiterhin stellt cicero fest, dass über die Verachtung (contemptio) des todes,
also der neubewertung eines sachverhalts, der Weg zur Angstfreiheit zu gehen war.
Wichtig für die frage, ob das glückliche Leben nach ciceros Auffassung durch das
eigene handeln (und in gewissem sinn durch das richtige Wissen, denn aus ihm
kommt das handeln) zu bewirken ist, ist die Bemerkung, dass derjenige, der den tod
erkannt hat als etwas, das nichts schreckliches an sich hat, einen starken „schutz“
oder eine starke „hilfe“ (praesidium; Tusc. 2,2) hinsichtlich des glücklichen Lebens
erreicht, aber offensichtlich noch nicht das gute Leben selbst.
Diese stelle lässt mindestens zweierlei Auslegungen zu: Zum einen kann cicero
hier natürlich von einer hilfe zum glücklichen Leben sprechen, weil die Angst vor
dem tod nicht die einzige form der Angst ist und weil Angst wiederum nur eine
der „Verwirrungen der seele“ darstellt, die dem glücklichen Leben hinderlich sind.
ciceros rede vom praesidium ad beatam vitam gründete sich dann schlicht auf die
feststellung, dass ein teil eben nicht das ganze ausmacht, mit dem ganzen aber das
glückliche Leben erreicht wäre.
Andererseits ist aber auch denkbar, dass cicero selbst bei einer gesamten Beherr-
schung der emotionalität nur von einer „hilfe zum glücklichen Leben“ zu sprechen
bereit ist, dass also das glückliche Leben entgegen der stoischen these auch von
äußeren und nicht mehr selbst zu beeinflussenden Faktoren abhängig ist. Da Cicero
im vierten und fünften Buch diese Ansicht aber deutlich zurückweist, zeigt sich, dass
er mit den protreptischen texten des Proömiums, die sich eher am common sense
orientieren sollen, noch nicht den therapeutischen Logos gibt, aus dem dann der
bewahrende – dessen Aufgabe vor allem in der funktion des Vorsatzes liegt – fol-
gen kann. Ähnlich ‚weich‘ ist auch die Formulierung in der oben zitierten Passage,
die besagt, dass die Verachtung des todes „nicht wenig“ zur Beseitigung der Angst
beitrage. Die einbürgerung der Philosophie in rom kann nur gelingen, wenn cicero
seine Protreptik ‚sanft‘ beginnt und auf breiter Basis in die sachdebatte einsteigt.
mit stoischer Dogmatik die türen aufbrechen zu wollen, hätte keine protreptische,
sondern möglicherweise sogar abschreckende Wirkung.
187 Tusc. 2,2: „Velut ex ea disputatione, quae mihi habita est in tusculano, magna videbatur mortis
effecta contemptio, quae non minimum valet ad animum metu liberandum.“
68 2. Protreptischer Logos
188 Vgl. z. B. Brad inwood, der den sinn von De finibus darin sieht, den zunehmenden Einfluss der
epikureischen Philosophie in der römischen gesellschaft zurückzudrängen (Rhetorica dispu-
tatio: The Strategy of de finibus II. in: nussbaum 1990, 143–164).
2.3. Buch iii 69
Während die Proömien der ersten beiden Bücher in weiten teilen noch durch motive
gekennzeichnet sind, die sich auch in den Vorreden anderer Werke Ciceros finden,
wie die forderung zur ‚einbürgerung‘ der Philosophie in rom oder die nach der
Verbindung von Philosophie und redekunst, ist das Proömium des dritten Buches
der Tusculanae Disputationes allein dem thema gewidmet, dem cicero das ganze
Werk gewidmet hat: Der ‚heilung‘ der seele durch Philosophie. im ersten Ab-
schnitt greift cicero die sokratische Unterscheidung von Leib (corpus) und seele
(animus) auf, wie sie sich in Platons Dialog Gorgias findet, nämlich in einer par-
allelen gegenüberstellung als ‚Bestandteile‘ des menschen.191 Dieser – zumindest
begriffliche – Leib-Seele-Dualismus bleibt ohne Reflexion. Cicero interessiert sich
hier für animalische oder vegetative seelen, wie sie bei Aristoteles im hylemorphi-
stischen modell der seele als form der zugrunde liegenden materie in den Blick
geraten, ebenso wenig wie für die Weltseele der stoiker. es kommt ihm nur auf die
menschliche, kognitiv beeinflussbare Seele an. Das Seelenmodell ist bereits auf das
192 Dort allerdings steht der medizin die – philosophische tevcnh der – gerechtigkeit (dikaiosuvnh)
gegenüber.
193 Vgl. leg. 1,33 und fin. 5,18.
194 Vgl. fin. 4,17 f., 5,18 und 5,43.
195 so muss man offenkundig die Aussage (Tusc. 3,2) verstehen, die „funken“, die die natur dem
menschen mitgegeben habe, würden durch schlechte sitten und meinungen erstickt. Zu eindeu-
tig legt cicero die Ursache in die meinungen (auch noch Tusc. 3,3).
2.3. BUch iii 71
magister das Volk als ganzes (Tusc. 3,2 f.).196 Die menge, so cicero außergewöhnlich
resignativ, ist sich in ihren verfehlten meinungen derart einig, dass sie Befehlsposten,
Ämter und Ruhm beim Volk für das Erstrebenswerteste überhaupt hält. Allerdings
erreicht der so Bestrebte nicht das „ebenbild der tugend“ (effigies virtutis), son-
dern ein bloßes „schattenbild des ruhmes“ (adumbrata imago gloriae) (Tusc. 3,3).
echter ruhm, so cicero hier, wäre die Anerkennung durch die guten, letztendlich
also die übereinstimmung mit echter tugend, denn nur diese wird von den guten
als tugend wertgeschätzt.197
Wie also kommt es zur erkrankung der seelen? Durch die verfehlten meinungen
und durch die sich daraus ergebende „Blindheit“ (caecitas; Tusc. 3,4) für die Befan-
genheit in verfehlten meinungen. Dieses Verfehlen wird auch empirisch manifest:
es vernichtet das gefüge der civitas (Tusc. 3,4). Damit bringt cicero hier doch noch
zum Ausdruck, dass auch ein mittelbarer sinn der sorge um die seele die sorge um
die res publica ist.198
„es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagt theodor W. Adorno.199 Die
Konsequenz heißt: Das Leben muss richtig gestellt werden. Während aber Adorno
und vor allem seine schüler am großen ganzen, der gesellschaft, ansetzen wollen,
geht cicero den Weg vom individuum aus.
„Wie? gibt es für die, die sich von gier nach geld, die sich von der Lust der Vergnügungen
treiben lassen, deren seelen so verwirrt werden, dass sie nicht weit vom Wahnsinn entfernt sind
[...] keine Behandlungsmöglichkeit (curatio)?“ (Tusc. 3,4; übers. Kirfel).
Doch, allerdings:
„es gibt in der tat ein heilmittel für die seele (animi medicina), die Philosophie; man kann ihre
hilfe nicht wie bei körperlichen Krankheiten von außen herbeiholen, wir müssen uns vielmehr
mit aller macht und allen Kräften anstrengen, uns selbst heilen zu können.“ (Tusc. 3,6; übers.
Kirfel)
196 Vgl. seneca, epist. 41,8: „in vitia alter alterum trudimus.“ Vgl. leg. 1,47 und vor allem fin. 5,55,
wo das sog. „cradle argument“ vorgetragen wird. es behauptet, dass bei säuglingen „die inten-
tionen der natur am leichtesten erkennbar seien“ (übers. gigon). Vgl. dazu Brunschwig 1986.
− Die stoische These von der ‚Fortpflanzung‘ von Verhalten über eine immaterielle Information
hat erst in jüngster Zeit wieder Konjunktur bekommen durch die sog. ‚memetik‘ als Wissen-
schaft von den „memen“ als „replikatoren“ kultureller entwicklung (vgl. susan Blackmore:
Die Macht der Meme oder Die evolution von Kultur und Geist, heidelberg/Berlin 2000).
197 Vgl. fin. 5,69.
198 Wir finden die Ausgangslage ganz ähnlich beschrieben in Senecas bekannter Schrift über das
glückliche Leben: „Und doch verwickelt uns nichts in größere übel, als dass wir uns nach dem
gerede richten und das für das Beste halten, was mit großer Zustimmung aufgenommen worden
ist, und uns nicht an die guten, sondern an die vielen Beispiele halten und nicht auf die Vernunft,
sondern auf die Anpassung hin leben.“ (De beata vita 3). Aber seneca zieht die Konsequenz
noch drastischer als cicero im Proömium zum zweiten Buch: “Wir werden geheilt werden, wenn
wir uns nur von der masse absondern” (De beata vita 4; beide übers. mutschler). hier wird die
civitas gewissermaßen sich selber überlassen. ciceros partielle rückzüge stehen dagegen im
Dienst der res publica, der er durch schriftstellerisches engagement mehr nutzen kann als durch
aktive, letztlich sinnlose Beteiligung (z. B. zur Zeit des ersten triumvirats) Tusc. 1,5, vgl. fin.
1,10.
199 th. W. Adorno: Minima moralia I 18. Reflexionen aus dem beschädigten Leben 1951 (Gesam-
melte schriften, Band 4, frankfurt 1980, 43).
72 2. Protreptischer Logos
Damit ist der protreptische Logos an seinen höhepunkt gelangt. Die sorge um
die seele und, vermittelt über sie, die sorge um die res publica sind die zentralen
motivationen, die den einzelnen zur Philosophie anspornen sollen. ganz sokratisch
erklärt cicero, dass nicht der Wille (voluntas; Tusc. 3,4) problematisch ist, denn
wer das gute oder Beste will, besitzt bereits den richtigen Willen, sondern der Weg
(cursus), der jeweils gegangen wird, ist durch irrtümer verstellt. Diese irrtümer sind
vor allem fehler in der Auffassung dessen, was eigentlich gut oder das Beste sei
(Tusc. 3,4). in der Aufklärung über echte güter und echte übel liegt also die ‚me-
dizinische Leistung‘ der Philosophie. Dass eine solche Leistung überhaupt möglich
ist, versucht cicero durch heranziehung der Parallelität von Körper und seele plau-
sibel zu machen: Wenn die natur den Körpern die Kraft gibt, wieder heil zu werden
und in den natürlichen Zustand zurückzukehren, dann ist für die seele ebenfalls
eine solche Kraft anzunehmen (Tusc. 3,5). Wahre Philosophie ist in diesem sinne
paradoxerweise keine Kulturleistung wie irgendeine andere, z. B. die Dichtung,200
die den Abfall vom natürlichen Zustand bewirkt, sondern – um ein Bild Ludwig
Wittgensteins zu verwenden201 – die Leiter, die nach erreichen des naturgemäßen
Zustandes nicht mehr benötigt wird. freilich: Das hätte zur Bedingung, dass auch
das gesellschaftliche Umfeld heil geworden wäre, und so lange diese Voraussetzung
unerfüllt ist, bleibt die Philosophie dauernde Aufgabe. cicero weist ausdrücklich am
ende dieses dritten Proömiums, das nicht nur formal die zentrale stelle im protrep-
tischen teil der Tusculanae Disputationes markiert, auf seine andere protreptische
schrift, den für uns heute verlorenen Dialog Hortensius, und seine übrigen philo-
sophischen Werke hin.
2.4. BUch iV
nachdem cicero also die Proömien der ersten drei Bücher so angeordnet hat, dass sie
in einem ansteigenden thematischen Verlauf zur hauptthese der Tusculanae Disputa-
tiones, die Philosophie sei animi medicina (Tusc. 3,6), hinführten, kehrt die Vorrede
des vierten Buches wieder ganz zum Kulturvergleich von rom und griechenland
aus dem ersten Proömium (Tusc. 1,1–8) zurück. Bei aller fülle historischer Angaben
sollte aber nicht übersehen werden, unter welchen Vorzeichen diese gemacht werden:
in Tusc. 2,13 sagt cicero, dass eine seele nur frucht tragen kann, wenn ihr doctrina
zuteil wird. in diesem Proömium des vierten Buches geht ciceros Bemühung in der
hauptsache nun darum zu zeigen, dass die studia doctrinae (Tusc. 4,2) in rom oder
zumindest im kulturellen Umfeld roms weitaus älter ist, als dies gemeinhin ange-
200 cicero geht nicht nur hier in Tusc. 3,2 mit den Dichtern hart ins gericht, sondern auch noch in
Tusc. 4,68. Das hindert ihn allerdings nicht, eine fülle von material für seine Darlegungen aus
Dichterschriften zu gewinnen. Dabei dienen sie sowohl als positive (z. B. ennius hier im Proö-
mium des dritten Buch, Tusc. 3,5) oder als abschreckende Beispiele (z. B. Tusc. 1,37; 105–107;
2,19). ein wenig scheint ciceros römischer Patriotismus dahin zu gehen, dass er griechische
Dichterzitate eher als abzulehnende exempla bereitstellt und römische als zustimmungsfähige
würdigt.
201 Tractatus logico-philosophicus 6.54.
2.4. Buch iV 73
nommen wird. Den Beleg dafür liefert das Wirken des Philosophen Pythagoras in
italien.202 Ihn nennt Cicero in den Tusculanen häufig im gleichen Atemzug mit den
Autoritäten sokrates und Platon, so dass er gewissermaßen wie die beiden anderen
ein ‚Patron‘ der gesamten schrift genannt werden kann. Pythagoras habe nicht nur
vor den Augen der römer philosophiert, sondern zweifellos habe seine Lehre auch
eingang in die römische sitte gehabt, postuliert cicero rhetorisch gekonnt, ohne
allerdings wirklich triftige Belege nennen zu können.203 Anschließend kommt er
auf die berühmte Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. chr. zu sprechen. in
diesem Jahr kamen die Leiter der berühmtesten Athener Philosophenschulen – Kar-
neades für die Akademie, Diogenes aus seleukia für die stoa und Kritolaos für den
Peripatos – nach rom, um als gesandte der griechischen ‚gelehrtenhauptstadt‘ in
rom gegen eine geldbuße einspruch zu erheben. Die Vorträge, die sie während
dieses Aufenthalts in rom gaben, hinterließen einen so starken eindruck in den
höheren schichten roms, dass cicero sie für seine übersicht des philosophischen
Einflusses in seiner civitas unmöglich übergehen konnte. Dabei wendet cicero
das faktum dieser gesandtschaft geschickt in seinem sinne: gerade weil bereits
philosophisches interesse in rom vorhanden war, hätten die Athener sich für diese
Besetzung ihrer Delegation entschieden.204
cicero konstatiert also für die römer eine bereits lange währende geschichte der
doctrina: redekunst, rechtswesen, geschichte sind schon längst in rom heimisch,
und nur über diese geistigen Beschäftigungen wurde die fruchtbare entwicklung
der römischen Kultur möglich (vgl. Tusc. 2,13). hinsichtlich des rechten Lebens
stellt cicero aber hier wie im Proömium des ersten Buches fest, dass die alten rö-
mer diese ‚Disziplin‘ weniger durch schriften als vielmehr durch die Weise ihrer
Lebensführung dargestellt haben.205 Was aber ciceros gegenwart betrifft, so fällt
202 mit recht hat olof gigon das auffällige „interesse an Pythagoras und seiner schule“ (Komm.
525 f.) herausgestellt: Tusc.: 1,20; 38 f.; 49; 62; 3,36; 4,2 ff.; 4,10; 5,8–10; 30.
203 Die Zuordnung des hochgeschätzten Königs numa zu den Pythagoreern würde ihrerseits die
hochschätzung der Pythagoreer im alten rom zeigen, und das Besingen des Lobes berühmter
männer soll in einer Verbindung zur musik bei den Pythagoreern stehen (Tusc. 4,2 f.; vgl. de
orat. 2,154 und rep. 2,28). in rep. 1,10 wird Platons schülerschaft von Phytagoras und anderen
Lehrern aus italien betont, und Platons schriften werden als eine Verbindung von socratica
subtilitas mit obscuritas pythagorae charakterisiert. in de orat. 3,139 ist Pythagoras der Lehrer
des „alten griechischen italiens“.
204 überraschend ist, dass cicero an der hier fraglichen stelle Tusc. 4,5 nur Diogenes und Karneades
nennt, nicht aber den Peripatetiker Kritolaos. ohne diese textstelle allzu sehr überbewerten
zu wollen – sie macht möglicherweise doch deutlich, dass die Tusculanae Disputationes der
Akademischen und der stoischen schulrichtung besonderes gewicht beimessen. Als these
ausgedrückt könnte man vielleicht sagen: ein stoisches ‚Projekt‘ soll unter Beibehaltung des
skeptisch-akademischen Bekenntnisses verfolgt werden. Die Peripatetiker geben dagegen gera-
de im vierten Buch mit ihrer – zumindest dort unterstellten – metriopathia ciceros gegner im
Bereich der emotionslehre ab. – Die historischen Aspekte der Philosophengesandtschaft, vor
allem ihre Darstellung bei Plutarch, diskutiert Drecoll 2004.
205 Tusc. 4,5: „hanc amplissimam omnium artium, bene vivendi disciplinam, vita magis quam
litteris persecuti sunt.“ im übrigen zeigt diese stelle recht gut, dass es für cicero nicht um pro-
fessorale thesen ohne Lebensbezug geht, wie ihm so mancher schulstreit seiner Zeit vorgekom-
men sein mag, sondern dass ‚Philosophie als Lebensform‘ verwirklicht werden muss. Deshalb
74 2. Protreptischer Logos
2.5. BUch V
Dagegen nimmt cicero im fünften Vorwort von Anfang an Bezug auf das thema des
Buches, dem es vorangestellt ist: das Verhältnis von sittlich einwandfreiem Leben
und glück. in diesem Proömium begegnen sich also zur Philosophie auffordernder
Logos, wie er für die Vorreden insgesamt charakteristisch ist, und bewahrender
Logos, den cicero auf den satz ‚Die Tugend reicht zum glücklichen leben aus‘
konzentrieren will.
Zunächst spricht cicero – wie in den vier vorhergegangenen Proömien – Brutus
als Adressaten des Werkes an und geht direkt auf dessen – für uns verloren gegan-
gene – philosophische schrift De virtute ein, die ihrerseits cicero zugeeignet war.207
besteht bei rechter Differenzierung auch kein Widerspruch zwischen seinen Ansprüchen bei der
einbürgerung von Philosophie in rom, wie er sie in der Vorrede zum ersten Buch behauptet, und
den Ausführungen hier, wo – wie man sagen könnte – von ‚gelebter Philosophie‘ die rede ist
im gegensatz zu einer bloß ‚literarischen‘. (Vgl. diesen einwand von olof gigon im nachwort
zu seiner Ausgabe der Tusculanae Disputationes, Düsseldorf/Zürich, 71998, 444).
206 Dabei ergibt sich zwischen epikureern wie Lukrez und ciceros Vorhaben in den tusculanen
die auffällige Parallele, dass hier wie dort im weitesten sinne naturphilosophische und ethische
Fragen im Hinblick auf das seelische Befinden behandelt werden, denn die Frage nach Gott oder
dem tod, dem guten und dem schlechten steht bei den epikureern im Dienste der seelischen
Ausgeglichenheit, und die epikureischen Antworten auf diese vier fragen bilden das tetrafavr-
makon, von dem Philodem (adv. sophistas 4.7–14 =ls 25J) spricht.
207 Vgl. fin. 1,8.
2.5. Buch V 75
Die Kernthese dieses Werks des Anhängers der neueren Akademie um Antiochos
von Askalon208 war offenbar eben dieser durch das Leben tragende Logos, dass
die tugend zum glücklichen Leben sich selbst genug sei. in diesem satz stimmt
die Akademische schulrichtung des Antiochos bedingt mit den stoikern überein,
denn Antiochos nimmt in Differenz zur stoa zwei stufen des glücklichen Lebens
an und schwächt so das stoische Diktum: Die tugend reicht zwar zum glücklichen
Leben aus, zum ‚glücklichsten‘ bedarf es dann allerdings doch auch körperlicher
und äußerer güter (vgl. fin. V). Was Brutus nun in seiner schrift genau vertreten
hat, wissen wir nicht; cicero tut jedenfalls so, als sei er sich mit ihm einig und nennt
diese these – die stoische – die schwerwiegendste und großartigste der Philosophie,
weil sie die möglichkeit der Philosophie begründet, aus eigener Kraft die glücks-
umstände und Wechselfälle des Lebens zu überwinden und zu dem hinzuführen, was
nach allgemeiner Anerkennung das Ziel jeder Lebensführung darstellt, nämlich zum
glücklichen Leben.
Das Verhältnis von tugend und glück (ajrethv und eujdaihoniva) ist eine der
zentralen philosophischen fragen bei den sokratikern. Dass mit sittlich gutem
handeln für den handelnden der Vorteil des glücklichen Lebens einhergeht, ist in
allen sokratischen schulen einhellige Auffassung. Dennoch kann das Verhältnis der
beiden termini zueinander unterschiedlich aufgefasst werden:209
(1) eine möglichkeit wäre, zwischen tugend und glücklichem Leben bestehe eine
instrumentelle Beziehung derart, dass tugendhaftes handeln das glückliche
Leben hervorzubringen imstande ist. Die logische entsprechung wäre das Kon-
ditional: tugend => glückliches Leben, wobei aber offen bleibt, ob noch weitere
möglichkeiten bestehen, jenseits der tugend glückliches Leben zu erreichen.
tugend wäre hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung für glück. Auch
die epikureer behaupten die Unerläßlichkeit der tugend für das glückliche
Leben (KD V; GV 5). Als hedonisten, die das glückliche Leben mit einem Leben
in Lust identifizieren, müssten sie aber erst nachweisen, dass Tugend der einzige
Weg zur Lust wäre, wenn sie nicht auch die möglichkeit widermoralischer Wege
zum glücklichen Leben anerkennen wollen.210 Da es zunächst keine intuitive
gewissheit dafür gibt, dass allein die Philosophie zur Verwirklichung des be-
ate vivere imstande ist, stellt cicero auch eine alternative Verfahrensweise für
die erreichung dieses Ziels in den raum, nämlich den Anruf der götter (vota;
Tusc. 5,2). freilich: Der Leser merkt gleich, dass cicero diesen Vorschlag nicht
ganz ernst meint, weil er ja die Preisgabe des Projekts einer autonomen glücks-
208 Vgl. fin. 5,8 und ac. 1,12. nach Brut. 120 hat sich Brutus dem Peripatos angeschlossen, den
cicero aber in der ethik inhaltlich der neueren Akademie um Antiochos von Askalon gleich-
stellt.
209 nach Vlastos 1991, 203 ff.
210 Diesen Punkt zeigt cicero hervorragend in den ersten beiden Büchern von De finibus, wo er
– in der fiktion des Werkes – auf einen ‚gemäßigten epikureer‘ (torquatus) trifft, der die Un-
erlässlichkeit der tugend für das glückliche Leben betont (fin. 1,42–54), der aber durch bloße
Beispiele, dass Lust ohne tugend zu erreichen möglich ist, widerlegt wird (fin. 2,70).
76 2. Protreptischer Logos
erreichung bedeuten würde.211 offen bleibt aber zunächst, ob damit schon die
instrumentelle Verhältnissetzung von tugend und glück aufgegeben ist.
(2) eine andere möglichkeit des Verhältnisses liegt darin, zwischen tugend und
glücklichem Leben eine konstitutive Beziehung anzunehmen. tugend wäre ein
konstitutiver Bestandteil des glücklichen Lebens, auf den sich nicht verzichten
lässt, ohne das glückliche Leben als solches zu zerstören. in diesem sinne ist
tugend eine notwendige Bedingung zum glück. im gegensatz zu einer dritten
möglichkeit aber wird nicht angenommen, dass tugend schon das glückliche
Leben als ganzes ausmache, sondern dass weitere konstitutive Bestandteile
hinzutreten müssen, um volle glückseligkeit zu erreichen. Diese weiteren Be-
standteile sind z. B. körperliche oder äußere güter, die nicht durch menschliches
handeln allein erreichbar, sondern immer auch von glücksumständen abhängig
sind. Diese ‚partielle Konstitutionsthese‘ ist thema des Diskurses in De finibus
V, wo cicero der Unterscheidung des Antiochos aus Askalon von einer durch
tugend zu erreichenden vita beata und einer aus tugend und weiteren gütern
konstituierten vita beatissima entgegentritt.212
(3) Die dritte möglichkeit sieht also die relation von tugend und glücklichem
Leben als „konstitutiv in toto.“213 tugend konstituiert das glückliche Leben
ganz, so dass sie selbst jenes ist. man kann daher auch von einer identitätsthese
von ajrethv und eujdaihoniva sprechen. tugendhaft zu leben heißt hier glücklich
zu leben und umgekehrt. Diese these wurde von dem sokratesschüler Anti-
sthenes vertreten,214 ging über auf die von diesem begründete philosophische
Bewegung der Kyniker und findet in hellenistischer Zeit ihre stärkste Vertretung
in der schule der stoiker, deren Lehren ja cicero in den paradoxa stoicorum
für maxime socratica hält.215
cicero misst der frage, ob tugend zum glücklichen Leben sich selbst genug sei,
gerade deshalb so große Bedeutung bei, weil sie über den Wert der Philosophie
entscheide, inwieweit nämlich diese eine ars vitae216 sein könne, eine „Kunst“ zum
– guten – Leben. Die frage nach dem Verhältnis von tugend und glücklichem Leben
betrifft nicht nur die begriffliche Relation beider Termini, sondern das Verständnis
der praktischen Philosophie insgesamt. man kann fragen, ob bei der rede von
Philosophie als ars, das ja auch das griechische tevcnh übersetzt, in dieser Disziplin
211 Das glück, das die götter gewähren würden, wäre auch von dem allein durch tugendhaftes
handeln zu erreichenden glück verschieden. Vgl. seneca, epist. 41,1–2.
212 Vgl. fin. 5,81 und Tusc. 5,22 f.: Der Ausdruck vita beata bringt selbst schon eine Vollkommenheit
zum Ausdruck, so dass eine steigerung nicht möglich ist.
213 Vlastos 1991, 204.
214 Vgl. Vlastos 1991, 208.
215 parad. 4. – Vgl. zur gesamten Unterscheidung auch horn 1998, 71. horn unterscheidet im
Anschluss an Vlastos die „Suffizienzthese“ von der „Identitätsthese“ und führt als drittes eine
„Vernunftthese“, die „Behauptung, dass moralisch angemessenes Verhalten soviel bedeutet wie
eine Lebensführung gemäß der Vernunft“, ein.
216 Vgl. fin. 3,4. in Tusc. 4,5 sagt cicero, die bedeutendste aller Künste (omnium artium) sei die
Lehre vom guten Leben (disciplina bene vivendi).
2.5. Buch V 77
eine Art „hervorbringendes Verhalten“217 (poivhsi~ nach Aristoteles), also eine Art
‚Produktion‘ gesehen wird.
Dieser Punkt ist deshalb brisant, weil sich an dieser stelle eine wichtige Diskre-
panz zwischen dem akademisch-peripatetischen Denken und demjenigen der stoa
auftut, wie cicero selber in zwei textstellen von De finibus zeigt: Während nämlich
dort die figur des Piso, die ja die Lehre Antiochos’ von Askalon referiert,218 das Ziel
einer ars als außerhalb ihrer selbst liegend feststellt und dafür die Paradigmen der
medizin und der schifffahrtskunst angibt,219 setzt sich der stoische Vertreter cato
im dritten Buch ausdrücklich von diesen Beispielen, nicht aber so sehr vom Begriff
ars selber ab und nennt paradigmatisch schauspiel und tanz.220 im ersten fall
– dem der neuen Akademiker – ist also die Betätigung einer ars als zielgerichtetes
Bewirken eines von dieser ars selbst verschiedenen handlungszwecks verstanden,
und das tugendhafte handeln als eines, das auf das glückliche Leben abzielt, welches
selber aber nicht in diesem handeln besteht. Das Ziel des ärztlichen handelns ist
die gesundheit des Patienten, die aber nicht selbst dem ärztlichen handeln zuge-
hört. Die schifffahrt ist mittel zur Beförderung von Personen und Waren, nicht aber
das Ziel selbst, das im erfolgten transport besteht. Analog überträgt nun offenbar
Antiochos221 diesen aristotelischen Begriff der ars auch auf die Philosophie als ars
vitae mit dem Ziel des beate vivere, das über die tugend, die ihrerseits dem rechten
Philosophieren entspringt, bewerkstelligt wird.
Der stoiker dagegen sieht im Vollzug der tugend selbst das glückliche Leben, so
wie die Bewegung des tanzes selbst das Ziel des tanzes ist (was mit dem aristote-
lischen Begriff der pra`xi~ angesprochen wird). in dieser sicht liegt also tatsächlich
die in-toto-identität des glücklichen Lebens mit dem tugendhaften vor, während
die Zweck-mittel-relation immer dafür offen ist, bei geeigneten Alternativen einen
Austausch der mittel vorzunehmen, so sie denn zum selben Ziel führen.
Cicero äußert sich dem Wortlaut nach häufig so, als wäre ein instrumentelles
Verhältnis von tugend und glück anzunehmen, wenngleich er im fünften tuscula-
nenbuch auffällig darauf achtet, nicht das technische Verhältnis (ars, efficere) nahe
zu legen, sondern die these mit formulierungen zu beschreiben wie „die tugend
scheint hinreichend das glückliche Leben zu vermögen“ (Tusc. 5,12) oder „die
tugend genügt zum glücklichen Leben“ (Tusc. 5,71). cicero will die relation von
217 Aristoteles, en Vi 4, 1140a20 f.: “Die Kunst ist also … ein mit richtiger Vernunft verbundenes
hervorbringendes Verhalten” (übers. gigon).
218 fin. 5,8.
219 fin. 5,16.
220 fin. 3,24. Es ist schwerlich zu fixieren, ob der Begriff ars hier von cicero in die Darstellung der
stoiker eingebracht wurde, oder ob tatsächlich bei den stoikern von einem Begriff der ars im
sinne aristotelischer pra`xi~ die rede war.
221 Diese Zuschreibungen sind aufgrund der schwierigen Quellenlage äußerst problematisch. olof
gigon sieht ein modell von Karneades wiedergegeben, das dieser entlang „ähnlicher aristote-
lischer schemata entworfen hatte.“ (Überlegungen zum Gehalt und zum Text von ciceros De
finibus. In: Filologia e forme letterarie. studi offerti a francesco della corte, volume secondo,
Urbino 1987, 235–246, hier 242 f.). hier geht es nur darum, zwei gegenüberstehende sichtwei-
sen zu kontrastieren, um cicero dann positionieren zu können.
78 2. Protreptischer Logos
tugend und glück im stoischen sinne bekräftigen.222 Der satz, der die identität
von tugendhaftem und glücklichem Leben beschreibt, hat geltung als ‚Vorsatz‘, als
bewahrender Logos nach der Philonischen gliederung, und er kann im hinblick auf
seine realgeltung als probabile aufgewiesen werden, aber im letzten entzieht sich
diese ‚sache‘ unserem dogmatischen Wissen.
im Proömium macht die Passage Tusc. 5,3 dies deutlich: in ersten erfahrungen
– cicero nimmt Bezug auf seine persönlichen erfahrungen223 – ist die Kraft der tu-
gend zum glücklichen Leben keineswegs evident gegeben. im gegenteil: es scheint
geradezu augenfällig, dass tugendhaftes Leben das Unglück keineswegs verhindern
kann, zumindest aber sprechen erfahrungstatsachen so stark gegen die these vom
tugendhaften als glücklichen Leben, dass sie nicht ohne Prüfung anerkannt werden
kann.224 Wie aber können die stoiker dann dieser these zustimmen, wenn doch da-
von auszugehen ist, dass ihr erfahrungsspektrum kein anderes ist als das überhaupt
menschliche, das die condicio humana jedes menschen wiedergibt? cicero hat eine
Antwort in seiner ausdrücklichen Auseinandersetzung mit den stoikern im dritten
und vierten Buch von De finibus bonorum et malorum gegeben: Die stoiker verge-
waltigen die sprache und berücksichtigen nicht die erfahrung und den allgemeinen
sprachgebrauch.
cicero versteht es also, schon in der Vorrede zum fünften Buch nicht nur des-
sen inhalt vorwegzunehmen, sondern auch auf dessen methode anzuspielen: Die
begrifflich aufgestellten Zusammenhänge müssen sich nicht nur innerhalb des Be-
griffssystems rechtfertigen lassen, sondern auch mit der erfahrung in einklang zu
bringen sein. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht menschliche Lebenserfahrung,
die oft genug auch menschliche schwäche darstellt, den Anspruch, der von den be-
grifflichen Verhältnissen, also vom Logos, ausgeht, aufweicht (Tusc. 5,4), sondern
dass der Logos in der erfahrung gewissermaßen eine ‚Bodenhaftung‘ erlangt. cicero
verweist auf m. Porcius cato Uticensis, einen onkel des Brutus, der dem Anspruch
bis zum freitod (46 v. chr.) gefolgt ist und damit die erfahrbare möglichkeit der
stoischen tugendnorm verdeutlicht hat (Tusc. 5,4).
Wenn es darum geht, im rahmen einer philosophischen therapie einen hinfüh-
renden, einen heilenden und einen bewahrenden Logos zu formulieren, dann ist das
Verhältnis von Vernunft und erfahrung zwar immer zu wahren und niemals völlig
auf eine seite hin aufzulösen, aber es ist kein gleichgewichtiges Verhältnis, da dem
Logos, also der rationalen seite der Bipolarität, ein gewisser Vorrang zukommt.
schließlich bedarf es auch eines Logos, der das Zueinander von Vernunft und er-
fahrung bestimmt, und die normativität, die im Begriff der tugend zum Ausdruck
kommt, muss auch in ihrem selbstwert anerkannt werden:
222 Vgl. unten 4.3. seite 169 f. Die Unschärfe des ciceronischen gebrauchs von ars zeigt sich an
rep. 1,2. Dort setzt cicero die Begriffe ars und virtus in scharfen Kontrast: ars bedeutet dort das
Potential zur Ausübung einer Betätigung, das aber nur zeitweilig verwirklicht wird, während er
für die tugend natürlich die dauernde Verwirklichung fordert.
223 „... eos casus, in quibus me fortuna vehementer exercuit ... “
224 „Alle fünf Ausgangsthesen [sc. die schülerthesen der fünf Bücher] sind dadurch ‚stark‘, dass
sie die allgemeine Erfahrung, menschliche Zweifel und Ängste auf ihrer Seite haben.“ Görler
1996, 192.
2.5. Buch V 79
„Darin weise ich mich selbst zurecht (castigo), dass ich die Kraft der tugend von der Weich-
lichkeit Anderer und wohl auch meiner eigenen her beurteile und nicht von der tugend selbst
her.“ (Tusc. 5,4; übers. gigon)
Der Logos, der die tugend bestimmt, gewinnt ohne Anhalt in der erfahrung keine
Kraft, die zu seiner Zustimmung befähigen würde, aber dennoch ist er als er selbst
nicht von der erfahrung abhängig. Die Disziplin des Logos ist die Philosophie, und
cicero bekennt sich hier in zweifacher Weise zu ihr (Tusc. 5,5): erstens betont er,
dass er ihr von Jugend an zugetan war und bringt so seine eigene Autorität in die
Protreptik der Tusculanae Disputationes ein, und zweitens dichtet er einen hymnus
auf sie, womit sie in einen beinahe göttlichen stand gehoben wird.225
indem sich cicero hier bis zu einem gebetshymnus steigert, macht er deutlich,
dass insbesondere der protreptische Logos – wie aber auch der therapeutische und
der bewahrende – nicht auf eine literarische gattung festgelegt ist. gerade weil sich
die tätigkeit des Philosophierens in voller Weise erst innerhalb der philosophischen
tätigkeit selbst rechtfertigt, kann ein rein argumentativer text nicht der erste schritt
der hinführung zur Philosophie sein. Anders gesagt: Viele Argumente zugunsten
der Philosophie setzen bereits philosophisches Anfangsbewusstsein voraus. Deshalb
muss auch mit anderen mitteln als nur argumentativen texten geworben werden.
cicero setzt seine Autorität ein, er bringt Brutus als Autorität zugunsten von Philo-
sophie in stellung, er will zeigen, dass philosophisches Denken das herkommen der
römer bestimmt hat und er versucht es mit einem poetischen text, der gebetsformen
nachahmt, um zu verdeutlichen, dass das philosophische Denken nicht eine optio-
nale freizeitbeschäftigung unausgelasteter großbürgerschichten darstellt, sondern
dass es insbesondere auch das öffentliche Leben bestimmen muss, wenn dieses
gelingen soll. so betont der hymnus in seinem ersten lobenden teil die Leistungen
der Philosophie für das soziale Zusammenleben der menschen: sie sei die Urhe-
berin der sozialen institutionen, ihr medium sei das der gemeinsamen sprache und
sie begründe die regeln des sozialen miteinanders. Unter der Voraussetzung eines
eingeschränkten Philosophiebegriffs, der in ihr nur eine bestimmte – heute könnte
man sagen: ‚akademische‘ – Disziplin unter anderen sieht, klingt das natürlich über-
trieben und fast unglaubwürdig, weil doch offenkundig gesellschaften auch ohne
eine Disziplin in diesem sinne lebensfähig waren.226 Aber cicero wird gleich nach
dem bittenden zweiten teil des hymnus („A te opem petimus“, „von Dir erbitten
225 Zu entstehung und Vorbildern vgl. hommel 1968. für hommel ist der hymnus „ein echt emp-
fundenes Glaubenszeugnis eigener Art von spezifisch philosophisch-weltanschaulicher Prägung,
das die hergebrachten kultischen, längst zu metaphern erstarrten formeln in seinen Dienst nimmt
und mit neuem Ethos füllt“ (19). Für die „echte Empfindung“ Ciceros zugunsten der Philosophie
vgl. auch fam. 15,4,16.
226 Vgl. die Kritik des cornelius nepos (ca. 100–25 v. chr.) an ciceros hymnus (Laktanz, institu-
tiones Divinae iii,15,10), auf die seel 1968 (hier 147 ff.) ausführlich eingeht: gerade weil cicero
ein schüler der skeptischen Akademie sei, die ja als skepsis nichtwissen betone, könne er der
Philosophie doch keine Lebensbedeutung zuschreiben, oder allgemeiner: Die Lehre des Philo-
sophen passt nicht zu seinem Leben. seel versucht mit dem hinweis auf ciceros schülerschaft
bei Antiochos zu antworten (155), was nicht recht passt, denn cicero lehnt sich an Karneades
und Philon an. Der hinweis auf den Begriff des probabile wäre hier richtig. Allerdings stellt
seel die these auf, dass cicero eine spannung aufrecht erhalte zwischen „philosophe vivere“
80 2. Protreptischer Logos
wir hilfe“) deutlich machen, dass man den Begriff der Philosophie nicht auf eine
bloße Disziplin einschränken darf. man muss ihn auf ein Bewusstsein erweitern, das
auch das Denken der staatsgründer und staatslenker in einer Zeit sachlich bereits
bestimmte, in der die Philosophie dem namen nach noch unbekannt war (Tusc. 5,6 f.;
vgl. Tusc. 1,2). cicero geht so vom poetischen wieder zum argumentativen Verfahren
der Protreptik über. Wie im Proömium des zweiten Buches spielt die öffentlichkeit
dabei die rolle des unverständigen Kritikers der Philosophie. Während allerdings
dort geradezu der rückzug von der menge nahe gelegt wird (Tusc. 2,4), geht ci-
cero in diesem Vorwort offensiver zu Werke und plädiert für die Durchdringung
der gesellschaft mit philosophischem Denken. Das thema des zweiten Buches ist
der Umgang mit dem schmerz, und cicero muss hier stärker den privaten nutzen
des Philosophierens betonen. im fünften Buch soll die Bedeutung der sittlichkeit
für das glückliche Leben herausgestellt werden; eine Aufgabe, die sich nicht ohne
Bezug auf öffentlichkeit lösen lässt, denn eine rein private sittlichkeit kann es für
cicero nicht geben.
Um also die öffentliche Zustimmung zur Philosophie zu vergrößern, betont ci-
cero, welche rolle die Philosophie latent bereits in der öffentlichkeit griechenlands
und roms gespielt hat, noch bevor sich menschen ausdrücklich als Philosophen
bekannten. so gelangt cicero an einen Punkt, von dem aus er zu einem kurzen
philosophiehistorischen exkurs ansetzt. Der Philosoph, der sich als erster zur Phi-
losophie als Beruf bekannt habe und dessen geschichtliches Wirken griechische und
italienische Kultur zusammenspannt, ist Pythagoras.227 Aber sein Philosophiebegriff
ist noch der des Betrachters, in strenger Absetzung vom Begriff ars oder tevcnh
(Tusc. 5,8 f.). Auf eine „Kunst“ verstehe er sich nicht, soll Pythagoras auf die frage
nach seiner Betätigung geantwortet haben. er sei Philosoph, dessen theoretisches
Leben weder nach Ruhm und Ehre noch nach finanziellem Gewinn strebe, sondern
es bemühe sich nur um Weisheit, woraus sich der Begriff ‚Philosophie‘ ergebe. eine
ausführlichere Pythagoras-Darstellung will cicero an anderer stelle einmal geben.
hier begnügt er sich mit dem hinweis, dass das naturphilosophische interesse leitend
war, bis die gestalt des sokrates in Athen auftritt. Dieser kommt zwar einerseits
durch seinen Lehrer Archelaos und dessen Lehrer Anaxagoras noch von der theo-
retischen richtung her, hat aber – wie es in der viel zitierten textstelle heißt – „die
Philosophie vom himmel herabgerufen“, „in den städten heimisch“ gemacht und
die menschen bewogen, „über das Leben, die sitten und die guten und schlechten
Dinge Untersuchungen anzustellen“ (Tusc. 5,10; übers. Kirfel). Als Begründer
der praktischen Philosophie ist er der stammvater verschiedenster schulen. Auch
cicero reiht sich unter seine schüler, insbesondere in der methode der Philosophie,
die darin besteht, „unsere eigene meinung zurückzuhalten, andere vom irrtum zu
befreien und bei jeder erörterung danach zu suchen, was das Wahrscheinlichste
und „civiliter vivere“ (156 f.) und kommt damit in die nähe dessen, was hier ‚Abgleich von
Vernunft und erfahrung‘ genannt werden soll.
227 Beispielhaft ist ciceros einführung von Pythagoras an dieser stelle (Tusc. 5,8). indem er nämlich
die Quelle seines Wissens über ihn, herakleides vom Pontos, und diesen einen schüler Platons
nennt, fügt er rednerisch geschickt Pythagoras und Platon zusammen, obwohl er natürlich weiß,
dass dies keineswegs einen sachlichen Zusammenhang bedeutet.
2.6. Zusammenfassung 81
(veri simillimum) ist“ (tusc. 5,11).228 Der letzte name, den cicero in den Proömien
erwähnt, ist allerdings der des Karneades, den cicero als methodisches Vorbild ehrt
(vgl. Tusc. 3,54). nachdem cicero in fünf protreptischen texten den Leser für die
Philosophie und die Auffassung, dass Philosophie eine heilung der seele erreichen
kann, zu gewinnen versucht hat, trägt er also zum Abschluss noch einmal alle namen
zusammen, die er für dieses Werk von besonderer Bedeutung hält: Die ‚Patrone‘
Pythagoras, sokrates und Platon und als methodisches Vorbild den ‚Ahnherr‘ aka-
demischer skepsis Karneades, von dem auch sein – über Kleitomachos vermittelter
– schüler Philon abhängig ist.
2.6. ZUsAmmenfAssUng
229 hans v. arnim: Stoicorum Veterum Fragmenta (= SVF), 4 Bd., Leipzig 1903–1924.
230 a. a. Long/D. N. sedley: The Hellenistic Philosophers (= LS), 2 Bände, cambridge 1987; den
ersten Band gibt es in einer deutschen ausgabe: Die hellenistischen Philosophen, Texte und
Kommentare, übers. von Karlheinz hülser, stuttgart 2000.
3.1. Die stoische Basis 83
gesamt der stoischen Lehre alleine dadurch verschiedenste inkonsistenzen, dass die
referierenden antiken autoren in ganz unterschiedlichen Zeitepochen und zum Teil
erst viele hundert Jahre nach erstellung des altstoischen originalwerks gelebt haben
– Johannes stobaios z. B. im frühen fünften nachchristlichen Jahrhundert. Dass di-
ese Berichterstatter der stoa wie gesagt nicht immer wohlgesonnen waren (sextus
empiricus, um 200 n. chr.) oder ihre Lehre einfach missverstanden haben, tritt als
weiterer erschwerender Faktor hinzu. Zudem machen sich auch bei der auswahl
der Fragmente Vorurteile bezüglich der stoischen Lehre geltend. so stellt cicero in
De finibus bonorum et malorum und in De natura deorum die stoische ethik und
Gotteslehre in jeweils großen Reden einer Dialogfigur dar. In die Fragmentsamm-
lungen aber wurden nur ausschnitte dieser reden aufgenommen, weil man nur diese
für ‚original stoisch‘ hält. hier ergibt sich aber das problem einer petitio principii:
Man muss bereits eine bestimmte Vorstellung von stoischer philosophie haben, um
dann einen Textabschnitt den stoikern zuordnen zu können, der dann wiederum
diese Vorstellung von stoischer philosophie bestätigt. Dieser ‚hermeneutische Zirkel‘
gehört wohl eher zu der art der zu überwindenden. eine neutrale und schon darum
besonders wertvolle Darstellung der stoischen philosophie bietet Diogenes Laertios,
der allerdings auch erst im dritten Jahrhundert nach christus lebt und die altstoische
Lehre zu großen Teilen rekonstruieren muss.
Natürlich ist nicht auszuschließen – und es ist wohl sogar häufig der Fall –, dass
auch ein spätantiker autor noch ein originalwerk eines alten stoikers zur hand hatte
und uns deshalb authentisch berichten kann. aber etwas bemerkenswert bleibt es
schon, dass gerade auch in der gegenwärtigen stoiker-Forschung oftmals lieber eine
stobaios-Textstelle, die sich nur sperrig interpretieren lässt, als unumstritten stoisch
aufgefasst wird, als dass man sich an dem nicht nur zeitlich, sondern auch persön-
lich der alten stoa viel näher stehendem cicero orientieren mag. selbstredend ist
hier zum Teil auch das Vorurteil mächtig, dass ciceros lateinisches philosophieren
weniger ‚original‘ sei als eine griechische Belegstelle.
Wenn man untersuchen will, wie cicero in den und durch die Tusculanae Dis-
putationes ein an der stoischen Theorie der emotionen orientiertes Konzept der
philosophischen heilung entwickelt, dann tut man gut daran, diese stoische Theo-
rie in einer Weise darzulegen, wie sie auch dem Verständnis ciceros entsprochen
haben mag. Von hier aus lässt sich dann die Forschungsfrage anknüpfen, ob dieses
Verständnis mit unseren übrigen Zeugnissen der stoiker konform geht oder ob bei
cicero Missverständnisse und Neudeutungen vorliegen. in diesem sinne soll im
Folgenden die stoische ethik und emotionslehre entwickelt werden. Da cicero
manchen systematischen gedankengang in der eile, in der er seine Texte schreibt,
unterschlägt, erübrigt sich auch hier nicht ein Blick auf die Fragmente, die wir von
den stoikern besitzen, und auf systemstücke stoischer Lehre, die von späteren au-
toren wie seneca überliefert sind.
Der Leitbegriff der stoischen philosophie ist Logos (lovgo~). Logos ist allerdings
alles andere als ein eindeutiger ausdruck. Man geht heute davon aus, dass Logos
84 3. Therapeutischer Logos
„ursprünglich die Tätigkeit und abgeleitet das resultat des legein, d.h. des sam-
melns“231 bedeutet. Von hier aus gelangt man über ‚Zählung‘ einerseits zur Bedeu-
tung ‚aufzählung‘ und ‚erzählung‘, andererseits zu ‚rechnung‘ und ‚rechenschaft‘
und weiter zu ‚Überlegung‘, ‚erörterung‘, ‚argumentation‘ und ‚proportion‘. „im
klassischen griechisch ist die Bedeutung des Verbs legein nahezu auf das sprechen
verengt, und logos bezieht sich vorwiegend auf die (vernünftige, sinnerfüllte) ge-
sprochene, geschriebene oder nur gedachte rede.“232 „ursprünglich steht logos nie
für das einzelne Wort, sondern immer für eine geordnete Kombination von Worten,
ein sprachliches gefüge.“233 insofern das menschliche Denken und erwägen einen
sprachlichen umgang darstellt, heißt auch das Vermögen des menschlichen Denkens
und erwägens, die Vernunft, Logos. Bei dem Wenigen, das man gemeinhin über
vorsokratische philosophen mit Bestimmtheit sagen kann, bleibt doch unbenom-
men, dass heraklit aus ephesos (um 500 v. chr.) dem Logos eine kosmologische
Dimension gegeben hat, indem er ihn als das weltdurchdringende prinzip auffasst
(DK 22B1). Die stoiker folgen ihm darin. Der Logos ist das aktive prinzip, das die
passive Materie durchwirkt.234 Das ist alles sehr grob gesprochen, aber da cicero in
Bezug auf Kosmologie generell recht vorsichtig ist, geht er auf diesen aspekt des
Logos, der für die stoiker zentral ist, nicht ein. Freilich bleibt spürbar, dass auch
bei cicero letztlich die Logos-Lehre die Basis für die stoische ethik bildet. cicero
macht das aber nicht ausdrücklich deutlich. auf ein mögliches Missverständnis sei
hier bereits hingewiesen: Häufig ist vom ‚stoischen Materialismus‘ die Rede. Er wird
nahe gelegt durch die von heraklit übernommene Bildrede vom Logos als Feuer
(vgl. Tusc. 1,19). Man mag dahingestellt lassen, ob nicht die Metapher ‚Feuer‘ über
das bloß Materielle hinauszugehen versucht, indem ja gerade Feuer die Verwandlung
oder den Verzehr von Materialität andeutet und nicht selber materiell ist.235 Jeden-
falls ist bei cicero der Vorwurf des Materialismus klar auf die epikureer bezogen.
Die stoiker nimmt er davon aus (vgl. fin. 1,17–21). in epikurs Lehre sind die letzten
Ursachen in der Bewegung der Atome zu suchen, die Stoiker dagegen finden letzte
ursachen im Logos als der göttlichen Vernunft. allerdings wird die Bewegung des
Logos nur in der materiellen Wirklichkeit manifest.236 insofern gleicht – um mit
informationstheoretischen Begriffen zu sprechen – der Logos eher der software, die
auf die hardware angewiesen ist, um überhaupt laufen zu können, die aber insofern
Vorrang vor jener besitzt, als sie es ist, die jene bestimmt.
Logos ist der Leitbegriff der stoischen philosophie. Das methodische Leitbild
zumindest für ethik und erkenntnistheorie ist der Weise (sapiens; sofov~). es ist kei-
neswegs nur die stoa, die dieses Leitbild verwendet; auch die übrigen hellenistischen
philosophenschulen wie epikureer oder skeptiker besitzen ein Weisheitsideal. Was
allerdings die stoa von diesen schulrichtungen unterscheidet, ist die totale Differenz
Worin aber besteht nun die ‚stoische Theorie‘, im Besonderen die Theorie der
Emotionen? Zunächst ist für den Stoiker ein philosophisches Definiendum unter
verschiedenen rücksichten beschreibbar. Das gilt auch für die emotionen. „emoti-
onen können aus der perspektive der erkenntnistheorie, mit Blick auf ihren hand-
lungsbezug, als Bewegungen der Vernunft sowie als physiologische phänomene in
der [...] seele beschrieben werden.“237 Allerdings dürfte diejenige Definition, die
sich am Leitbegriff des Logos orientiert, einen gewissen Vorrang genießen.
emotionen sind Zustände der seele. Wenn wir nach der seele weiterfragen,
gelangen wir wieder zum Begriff des Logos. Der göttliche Logos ‚durchzieht‘ als
Weltseele oder pneu`ma die ganze materielle Welt. Den Menschen ‚durchzieht‘ er als
Vernunft. im voll entwickelten Menschen – also nicht bei Kindern und auch nicht bei
Tieren – nehmen die stoiker einzig die Vernunft als ‚inhalt‘ der seele an. Man spricht
daher vom „seelischen Monismus“238 der stoiker im gegensatz zum platonischen
seelenmodell, das auch vernunftlose Vermögen oder Kräfte zur seele rechnet. Frei-
lich lassen sich auch in einer monistischen seelenlehre noch aspekte unterscheiden.
So spricht man häufig vom hJgemonikovn als einer art Zentralorgan der seele.239 Der
ausdruck soll aber vor allem deutlich machen, dass die Vernunftseele die führende,
wegweisende instanz ist, nach der sich der materiale Leib zu richten hat.240
Die Vernunft aber ist gemäß der Doppelbedeutung des Wortes ‚Logos‘ ein
sprachvermögen, d. h. auch ihre ‚inhalte‘ sind sprachlich. Vernunft ist ein sprach-
liches operieren, ganz wie platon im Theaitet (189e) sagen lässt, dass das Denken
„ein gespräch (lovgo~) [sei], das die seele mit sich selbst darüber durchführt, was sie
gerade untersucht“ (Übers. Martens). Vernunft bedeutet nicht den umgang mit einem
einzelnen satz, sondern das erstellen eines satzsystems. aus zwei sätzen – u. u.
auch aus einem – lässt sich möglicherweise ein dritter vernünftig erschließen. Wei-
tere passende sätze können folgen. so formiert und formuliert sich ein gefüge von
sätzen. Dabei sind natürlich beim Menschen keineswegs alle sätze aus Basissätzen
erschlossen, sondern die meisten basieren auf sinnlichen eindrücken (fantasivai).
Die Logos-seele des Menschen nimmt die fantasivai sogleich als lektav auf, d.
h. sie erfasst den inneren gehalt oder sprachphilosophisch besser ausgedrückt: die
‚Bedeutung‘ (meaning). Die Bedeutung ist nicht identisch mit dem bezeichneten
gegenstand. so referiert der Begriff ‚Tisch‘ auf den konkreten Tisch vor mir, aber
nicht nur auf ihn. Für die stoiker ist die Bedeutung aber auch keine platonische
idee, sondern an den lovgo~, insofern als er den ‚inhalt‘ der menschlichen seele
bildet, gebunden. Bloße prädikate (z. B. „…schreibt“) sind unvollständige levkta
(DL VII 63; bei Cicero findet sich diese Unterscheidung nicht). Vollständig ist die
Bedeutung in aussagen (ajxiwvmata), also in ‚propositionen‘, die einen sachver-
halt beschreiben. Das entscheidende Moment ist allerdings das der Zustimmung:
Die seele nimmt zu der aussage, die sich durch einen eindruck nahe legt, aktiv
stellung, indem sie diese aussage ablehnt oder ihr dezidiert zustimmt. erst mit der
Zustimmung gelangt der satz in das erwähnte gefüge oder system von sätzen, das
den Meinungszusammenhang eines gewöhnlichen Menschen bildet. Der Weise, das
stoische ideal, gibt keine Zustimmung zu falschen sätzen. sein Meinungsgefüge
ist in sich kohärent und stimmt mit der Wirklichkeit überein; daher ist es kein Mei-
nungsgefüge mehr, sondern Wissen. Für die stoiker sind die Kohärenztheorie der
Wahrheit und die Korrespondenztheorie keine alternativen: Der mit der Wirklichkeit
korrespondierende satz fügt sich problemlos in das kohärente Wissensgefüge der
wahren sätze ein. es wäre aber auch möglich, dass ein gewissermaßen ‚fehlender‘
satz als Baustein im Wissensgefüge nicht durch erfahrung und die diesbezügliche
fantasiva erlangt werden kann, sondern aus dem gefüge selbst erschlossen werden
239 Vgl. Max pohlenz: Ciceronis Tusculanae Disputationum Libri V, stuttgart 51912, ND 1957,
Band 1 und 2, Texteinführungen seite 5.
240 Vgl. aëtios SVF 2.836; LS 53h, wenngleich hier der missverständlichen rede von seelen‚teilen‘
Vorschub geleistet wird. „Nach stoischer auffassung hat die seele zwar keine Teile, aber sie
hat acht Vermögen.“ (Barbara guckes: Akrasia in der älteren Stoa. in: guckes 2004, hier 99.
Dennoch behandelt guckes in ihrem Beitrag die Vermögen mitunter wie Teile. ein Vermögen
ist nicht selbst subjekt des handelns, sondern das subjekt handelt durch das Vermögen. Wenn
man aber so redet, als sei das Vermögen selbst tätig, folgen zwangläufig Missverständnisse.)
prost 2004 betont, dass die aufteilung der seele bei den stoikern „la multiplicité des fonctions“
genau beschreibt (247).
3.1. Die stoische Basis 87
müsste. unter der Voraussetzung, dass es sich um das gültige Wissensgefüge handelt,
würde der erschlossene satz mit der Wirklichkeit korrespondieren. Bedingung der
Möglichkeit ist die von den stoikern konstatierte Vernünftigkeit der Wirklichkeit, die
ausgedrückt ist in reden wie die vom ‚Durchzogenwerden‘ des Kosmos (kovsmo~)
durch den Logos.241
Wenn man also vom psychischen Monismus aus darüber nachdenkt, was eine stö-
rung der seele sei, so muss es sich bei dieser um eine störung der sprache oder
der sprachlichen Vernunft handeln. anders gesagt: im system der akzeptierten
sätze treten unstimmigkeiten auf. Die stoiker unterscheiden zunächst einmal zwei
verschiedene arten von sätzen, denen zugestimmt werden kann: a) sätze, die nur
Wirklichkeit beschreiben, und b) sätze, die eine aktivität anleiten, wir können auch
sagen: ein handeln bestimmen. Diese sätze der zweiten Kategorie lassen sich in
ihrer Bedeutung allesamt auf Formen ‚x ist gut‘ oder ‚y ist schlecht‘ zurückführen,
wobei ‚x‘ bzw. ‚y‘ bloße sprachliche Variablen darstellen. Das gefüge des Wissens
beim Weisen bzw. das Meinungsgefüge des gewöhnlichen Menschen enthält sätze
aus beiden Kategorien. um in das gefüge aufgenommen werden zu können, ist eine
Zustimmung zur jeweiligen proposition, also den im aussagesatz ausgedrückten
inhalt, nötig. Wer aber einem satz der zweiten gruppe zustimmt, trifft mit der Wert-
entscheidung zugleich eine handlungsentscheidung. Freilich: Die situation für die
handlung muss gegeben sein, damit diese entscheidung wirksam wird. Wenn sie
aber gegeben ist, bedeutet die Zustimmung zugleich einen handlungsimpuls. ‚ge-
legenheit macht Diebe‘ heißt es im Volksmund, und tatsächlich würde der stoiker
behaupten, dass die entscheidung zum Diebstahl in dem augenblick gefällt ist, in
dem jemand einer proposition der art ‚sich zu nehmen, was man für angenehm hält,
ist gut‘ zustimmt. Wenn dann keine situation gegeben ist, in der sich jemand nehmen
könnte, was er für sich angenehm hält, bleibt gewissermaßen die handlungsentschei-
dung latent, und insofern handelt sich dabei um eine handlungsdisposition, als für
den stoiker in dem Moment, in dem die Zustimmung zu einer ‚Wertproposition‘
– also einer der art ‚x ist gut‘ – gegeben wurde, die handlungsrichtung festgelegt
ist. erst eine Veränderung der Zustimmung erbringt eine Änderung der handlungs-
richtung.242 Die proposition ‚sich zu nehmen, was man für angenehm hält, ist gut‘
ist nach stoischer auffassung falsch, und eine solche proposition in sein kognitives
gefüge von sätzen aufzunehmen, bedeutet eine perturbatio animi zu erzeugen, also
die Seele zu verwirren, selbst dann, wenn es zu keiner Empfindung dieser Verwirrung
kommt. Dann wäre also hier eine emotion latent. Die seele ist also im Zustand der
emotion, wenn sich die Bedeutungsgehalte falscher Meinungen mit einem Wertprä-
dikat (… ist gut; … ist schlecht) nicht konsistent in das gefüge ihrer propositionen
einbringen lassen.
241 g. W. F. hegel kann also in diesem sinne als erbe der stoiker gelten.
242 insofern ist die aus einer Zustimmung erfolgende handlung nicht anders möglich, d. h. sie ist
notwendig.
88 3. Therapeutischer Logos
Welche propositionen beschreiben aber zu recht etwas als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘? Die
argumentation der stoiker ist im grunde genommen diejenige des sokrates in pla-
tons Euthydemos 279a–282e. hier soll sie in den ciceronischen Begriffen dargestellt
werden. Das einzige ‚gut‘, also ‚subjekt‘, von dem ‚ist gut‘ wahr ausgesagt werden
kann, ist die sittliche güte, das honestum, wie Cicero häufig sagt. Umgekehrt ist das
sittliche Laster als einziges wirklich schlecht. sittliche güte oder Tugend sind aber
nicht die Bezeichnung für inhaltlich bestimmte handlungen, sondern ein formaler
aspekt an einer handlung. eine handlung ist dann sittlich gut oder tugendhaft, wenn
sie der recta ratio, also dem Logos, folgt. Die methodische Leitfigur des Weisen kann
hier wieder verdeutlichen: Der Weise kennt die zu berücksichtigenden umstände in
einer handlungssituation. er wägt alle gründe ab und entscheidet sich für die beste
(richtige) handlungsalternative. Der abwägungsprozess ist ein Vorgang der Ver-
nunft, der sprachlichen rationalität, und damit erfüllt sein handeln die Bedingung
der sittlichen güte. erst in der konkreten situation ist damit eine konkrete handlung
festgelegt. Deontische normative sätze gibt es für die stoiker nicht – bis auf den
grundlegenden imperativ schlechthin: Die rein formale Forderung, der Natur, d. h.
der Vernunft, zu folgen.243 auch ein stein verhält sich beim Fall vom Turm von pisa
gemäß dem Logos, d. h. in seinem Fall gemäß den ihm äußerlichen Naturgesetzen.
Dem Menschen ist der Logos nicht äußerlich, sondern er ist gewissermaßen das in-
nere gesetz des Menschen: Wenn ein Mensch einer handlungsleitenden Vorstellung
seine Zustimmung gegeben hat, also einen bestimmten materialen Zustand für ‚gut‘
hält, und in der situation ist, eine Kausalkette zugunsten dieses Zustandes einzulei-
ten, so kann er nicht umhin, dies zu tun. am Beispiel verdeutlicht: Wer reichtum
für ein gut hält und weiß, dass er mit in-gang-setzen einer bestimmten aktion reich
werden wird, der kann nicht anders, als in dieser Weise aktiv zu werden.
Für den stoischen Weisen ist aber reichtum kein gut (sondern eben nur die sitt-
liche güte, das honestum). Dennoch wägt er offenkundig materiale ‚Welt-‘Zustände
gegeneinander ab. anhand welcher Kriterien ist dies dann möglich? Die Frage ge-
winnt noch zusätzliche schärfe, da ja das einzige gut der stoiker, die sittliche güte,
eine bloß formale Qualität eines Vollzugs darstellt und eine konkrete handlung in
ihrem bloßen ‚inhalt‘ diese Qualität noch nicht zum ausdruck bringt. so kann selbst
die Handlung, einen Menschen zu töten, nicht zwangsläufig auf die Seite sittlichen
Übels geschlagen werden, wie das Beispiel des Tyrannenmordes zeigt. aber auch der
Tyrannenmord lässt die sittliche güte vermissen, wenn es dem Mörder darum ging,
sich selbst an stelle des getöteten Tyrannen zu setzen. eine erste antwort auf die
abwägungskriterien besteht in der rede von ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzustel-
lenen‘ Dingen oder umständen (prohgmevna und ajpoprohghevna)244: Ceteris paribus
ist die gesundheit in einer handlung vorzuziehen und Krankheit zurückzusetzen.
Wer die Möglichkeit hat, zu geld zu gelangen ohne dabei anderen oder sich selbst in
bestimmter Weise schaden zu müssen, ist für die stoiker geradezu sittlich aufgefor-
dert zu versuchen, dieses geld in der handlung zu erreichen.245 cicero moniert, dass
die stoiker mit der rede von ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzustellenden Dingen‘ im
grunde keine andere Bedeutung besetzen als die alltagssprachliche rede von ‚gü-
tern‘, und dass die stoiker so nur eine neue künstliche sprache einführen, sachlich
sich aber von einer güterethik wie die der peripatetiker nicht unterscheiden.246 im
grunde bleibt das problem nach den abwägungskriterien nämlich bestehen: Was ist
denn ‚vorzuziehen‘? Die Frage zielt auf nichts anderes, als auf dasjenige, was denn
alltagssprachlich ein gut sei. gewöhnlich deuten wir mit der rede von ‚x ist gut‘ auf
einen zweistelligen gebrauch des prädikats ‚gut‘ hin und müssten es ergänzen um
‚x ist gut für ...‘. ein gutes auto kann unter verschiedenen angezielten rücksichten
gut sein, im Kraftstoffverbrauch oder bei der geschwindigkeit. Je nach Ziel, das
mit einem Auto verfolgt wird, wird man ein konkretes Kraftfahrzeug ‚gut‘ finden
können. Warum ist gesundheit vorzuziehen? eine antwort besteht darin, dass es
für einen Menschen natürlich sei, gesund zu sein. Wer in einer handlung bei sich
eine Krankheit anstreben würde, handelte völlig gegen den grundsatz, der Natur zu
folgen. aber reicht diese Bezugnahme auf die Natur aus, oder ist nicht wieder das
problem verschoben? in bestimmten situationen setzt der stoiker durchaus seine
gesundheit aufs spiel, weil er ein anderes, ‚höheres‘, Ziel zu erreichen versucht.
außerdem gibt es ‚Vorzuziehendes‘, das keineswegs so trivial natürlich erscheint,
wie gesundheit. Nehme man den reichtum: ihn zieht der stoiker ceteris paribus
vor, aber ist er dem Menschen natürlich? Bei cicero wird die stoische Lehre de-
zidiert abgesetzt von der Lehre des ariston von chios und des pyrrhon von elis.
Nach cicero vertreten beide die ansicht, außer dem sittlich guten sei alles andere
völlig belanglos. es gibt also keine prohgmevna und ajpoprohgmevvna, ebenso wenig
– in peripatetischer sprache – körperliche oder äußere güter. aristons und pyrrhons
These ist aber widersinnig: Die materialen Dinge, nenne man sie auch ‚güter‘, sind
notwendige Bedingung für das sittliche gute. ohne Bewegung bei den materialen
Dingen oder umständen kann es keine Tugend geben.247 Vorzuziehendes und Zu-
rückzustellendes sind das Material des sittlichen handelns.248 Wann aber ist etwas
vorzuziehen? immer dann, wenn es den spielraum für weiteres sittlich richtiges
oder gutes handeln erhält oder erweitert. Darin folgt ein lovgo~-haftes Wesen wie
der Mensch auch seiner Natur. Der Weise kennt keine Diskrepanz zwischen seinen
‚natürlichen‘ Trieben und den Ansprüchen der Vernunft (‚Neigung‘ und ‚Pflicht‘).
ein Trieb, der sich nicht vernünftig ausweisen ließe, ist auch kein natürlicher. ge-
sundheit ist Voraussetzung für viele handlungen; wer sittlich handeln möchte, wird
sich nicht ohne Not um die gesundheit bringen. ebenso besitzt der reiche weitaus
mehr handlungsmöglichkeiten als ein armer. aber als stoiker besitzt er den reich-
tum nicht um des reichtums willen, sondern wegen der handlungsmöglichkeiten,
die dieser bietet, und zwar zum sittlich guten handeln.249 cato uticensis wird für die
stoa gerade deshalb zu einem Vorbild, weil er in dem Moment, als er erkannte, dass
sein spielraum zum sittlichen handeln unter der Diktatur caesars verloren gehen
würde, seinem Leben ein konsequentes ende setzte. Freilich: uns sperrt sich heute
der gedanke an eine ethik, die – wie die der stoiker – keine basale Menschenwürde
oder Menschenrechte annimmt, sondern den Wert davon abhängig macht, was an
weiteren Werten geschaffen werden kann.
sittlich gutes handeln liegt für die stoiker immer dann vor, wenn jemand unter
voller Berücksichtigung der ihm wissbaren umstände diejenige handlung vollzieht,
die den spielraum für weiteres sittlich gutes handeln schafft oder erweitert. Das
muss nicht sein eigener spielraum sein. Wenn jemand weiß, dass sein Nachbar mit
einem bestimmten geldbetrag eine gute handlung vollziehen könnte, die ihm selbst
verwehrt ist, sollte er sein geld diesem Nachbarn geben. ‚Wissbare umstände‘ heißt,
dass eine handlung auch dann sittlich gut bleibt, wenn sie ihr Ziel aus unvorher-
sehbaren gründen verfehlt.250 Allerdings gehört es zur sittlichen Verpflichtung, den
raum des unvorhersehbaren möglichst klein zu halten.251
Für die stoiker heißt die Devise ‚Der Natur folgen‘ beim erwachsenen Men-
schen soviel wie ‚Der Vernunft folgen‘.252 Das grenzt die stoische ethik von einem
Naturalismus nachdrücklich ab. Die stoiker haben keine einwände, wenn heutige
Naturwissenschaft biologische und damit materiale entdeckungen macht, dass zum
Beispiel für emotionen wie Zorn oder das Bedürfnis nach rache auch im Menschen
ein genetisches programm vorliegt. populäre Massenmedien stürzen sich auf solche
erkenntnisse, oft genug mit dem hintergedanken, dass eine ethik, die Zorn oder
rache verbietet, durch die Feststellungen der Naturwissenschaftler obsolet geworden
wäre. Für die stoiker bietet aber gerade das naturwissenschaftlich erkannte Faktum
eine Möglichkeit der Vernunft, sich zu diesem zu verhalten. aus der erkenntnis, dass
es eine Veranlagung zum Zorn gibt, folgt nicht, dass Zorn erlaubt wäre. Das wäre na-
iver Naturalismus. aber aus dieser erkenntnis folgt wohl, dass der handelnde dieses
Wissen um solche Veranlagungen in seine handlungsabwägung einbeziehen muss.
entscheidende instanz ist und bleibt bei allen erkenntnissen, die die Wissenschaft
macht, die Vernunft. Nur wenn sie menschliches handeln entscheidet, entscheidet
für die stoiker ‚die Natur‘.
im ideal des Weisen fallen Natur und Vernunft vollständig zusammen. Der
Weise will aus natürlichem streben heraus das handeln gemäß der Vernunft, also
das sittlich gute handeln. Die sittliche güte liegt nun genau in diesem Wollen der
sittlichkeit um ihrer selbst willen, so dass man sagen kann, der Weise erreicht das
mag diese struktur zirkulär nennen, aber in ihr liegt die recht zu verstehende oJmologiva der
stoiker (fin. 3,21 = LS 59D). Die von den stoikern geforderte ‚Übereinstimmung‘ bedeutet also
nicht einen plumpen Naturalismus in dem sinne, dass der Mensch einer ‚materialen‘ Natur zu
folgen hätte, sondern sie bedeutet die Übereinstimmung des Menschen als Vernunftwesen mit
sich selbst.
250 Vgl. fin. 3,22.
251 Deshalb ist für die stoiker auch das studium der physik eine Tugend; vgl. fin. 3,72.
252 Vgl. DL Vii 86. – Bei seneca geht allerdings der imperativ „sequere naturam!“ in die richtung,
man solle sich durchaus der faktischen äußeren Natur überlassen (seneca, epist. 90,16), worin
gewisse elemente der epikureischen Bedürfnislehre eingebunden sind (vgl. fin. 1,45).
3.1. Die stoische Basis 91
Ziel seines handelns. Den äußeren umständen nach kann die rettung eines ertrin-
kenden fehlschlagen. Wenn die handlung der rettung aber um der sittlichkeit selbst
willen gewollt ist – und nicht um irgendwelcher Lebensrettermedaillen oder anderer
Belobigungen wegen –, dann ist das handeln dennoch völlig in Übereinstimmung
mit der Vernunft und sittlichkeit. Der Weise handelt so nach der „vollkommenen
Pflicht“ (katovrqwma)253. Freilich: allem äußeren anschein nach unterscheidet
sich diese handlung möglicherweise in nichts von der rettung eines ertrinkenden
aus ruhmsucht oder aus angst vor Bestrafung wegen unterlassener hilfeleistung.
Der Nicht-Weise, der so handelt, handelt ebenfalls richtig; er erfüllt eine „gemeine
Pflicht“ (kaqh`kon). aber das sittlich gute ist damit nicht erreicht. Deshalb kön-
nen die Stoiker auch sagen, dass das Handeln nach den gemeinen Pflichten zu den
Dingen gehört, die nicht als gut oder schlecht bezeichnet werden, sondern als vor-
zuziehend.254 es mag dabei als Konfusion erscheinen, dass die stoiker überhaupt
handlungen oder Vollzüge mit zu den ‚gütern‘ (also zu den auswahlkriterien für das
handeln) rechnen. aber das geschieht ganz bewusst und sogar in einem primären
sinne: Das einzige gut ist das sittlich gute, und dieses ist nur in handlungen. Man
kann das sittlich gute nicht ohne eine handlung wählen. Deshalb vergleichen die
stoiker den Weisen auch mit einem Tänzer oder schauspieler, weil sein handlungs-
ziel, das sittlich gute, in seinem handeln selbst liegt. platonische oder aristotelische
Bilder wie die des steuermanns oder arztes legen dagegen nahe, dass die handlung
etwas außerhalb ihrer selbst verwirklichen will.255
3.1.6. emotionen256
Die stoische ‚güterlehre‘ ist also nur innerhalb des systems der stoischen philoso-
phie verständlich. Die stoische Theorie der emotionen ist mit der güterlehre aber
ihrerseits aufs engste verwoben. Der griechische Begriff für emotion ist pavqo~. er
leitet sich her vom Verb pavscein, das soviel wie ‚leiden‘ oder ‚erleiden‘ bedeutet,
und bezeichnet seinerseits nun ‚das, was man erleidet‘. Pavqh sind also die Leiden-
schaften, die Widerfahrnisse, sie sind ‚eindrücke‘, die ein aktiv ‚eindrückendes‘
dem passiv ‚eingedrückt-Werdendem‘ zufügt.257 Die aktive handlung des Drückens
und das passive ‚prägung-erhalten‘ stellen die beiden aspekte des Vorgangs dar.
Das pavqo~ ist als ergebnis des erleidens vom Vorgang des erleidens (pavqhsi~) zu
unterscheiden. Wenn wir nun nach den pavqh der seele fragen, so könnten wir zum
Wort ‚eindruck‘ zurückkehren. es weist nämlich darauf hin, dass der ursprüngliche
sinn von pavqo~ den Wahrnehmungsvorgang miteingeschlossen hat. ein krudes
Wahrnehmungsmodell kann so konzipiert sein, dass ein von außen Kommendes
(z. B. atome) den Körper in einer bestimmten Weise ‚eindrücken‘ und daraus der
‚Wahrnehmungseindruck‘ gewonnen wird. Man kann hier einmal dahingestellt las-
sen, wie es gelingt, dass aus dem materialen Vorgang des Drückens eine seelische
Wahrnehmung oder Vorstellung wird, aber klar scheint doch, dass die seele jetzt
etwas an sich hat, was sie vor dem entsprechenden Vorgang des eindrucks nicht
hatte. in diesem sinne ist ein pavqo~ also eine eigenschaft oder Qualität der seele,
weil mit Bezug auf das pavqo~ eine antwort auf die Frage ‚Wie beschaffen die seele
sei‘ gegeben werden kann.
Mit der Feststellung, pavqo~ sei eine Beschaffenheit der seele, besitzt man ein
erstes Merkmal, das für eine Definition dieses Begriffs anzulegen wäre. Aristote-
les258 (Met. V 21, 1022b15 ff.) knüpft an dieser Bestimmung, pavqo~ sei eine Qua-
lität (poiovth~) der seele, an. Nun sieht der griechische sprachgebrauch auch einen
engeren sinn von pavqo~ vor, der als gattungsbegriff auf diejenigen psychischen
phänomene abzielt, die wir heute als ‚emotionen‘ oder ‚Leidenschaften‘ bezeichnen,
also die seite des Wahrnehmungseindrucks ausschließt. aristoteles, der anstelle von
eindeutigen Definitionen lieber aufzählende Listen von Einzelemotionen vorlegt,
um den Begriff pavqo~ im jeweiligen Text einzuführen, nennt in der Nikomachischen
Ethik Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Freundschaft, hass, sehn-
sucht, eifer und Mitleid (EN ii 4; 1105b21–23). auch für die stoiker sind emotionen
eine Zustandsbeschreibung der seele. sie unterscheiden vier haupt-pavqh: Kummer,
Furcht, Freude und Begierde. insofern als bei den stoikern alle weiteren emotionen
unterarten dieser vier sind, kann man von „generischen emotionen“ 259 sprechen.
cicero übersetzt das griechische Wort pavqo~ mit perturbatio animi 260.
Für aristoteles sind emotionen nicht nur seelische, sondern vielmehr ‚psycho-
somatische‘ Zustände. aristoteles bestimmt emotionen im Kontext seiner ontologie,
257 Das ist auch die Bedeutung, die das französische ‚passion‘ bei rené Descartes im 17. Jh. besitzt
(vgl. Les passions de l’âme, artikel 1.
258 Vgl. rapp 2002, 543–583, abschnitt „Die ‚emotionen‘“.
259 Den ausdruck übernehme ich aus Vogt 2004 und halbig 2004. Vgl. auch LS 65a. – Der ur-
sprung dieser vier klassischen affekte liegt bei platon Laches 191d (luvph, fovbo~, ejpiqumiva,
hJdonhv); sie werden unter den Begriffen dolor, timor, spes und gaudium bei Boethius im latei-
nischen Neuplatonismus genannt (Consolatio philosophiae i, 7.c., V. 25–28).
260 Die ausdrücke passio, den Varro (bei charisius 315,10 [Barwick]) bereits kennt, und affectus,
den seneca verwendet (De ira 2,3 = LS 65X), zieht cicero nicht in Betracht. Vgl. zur Termino-
logie im Lateinischen augustinus, De civitate Dei iX, 4 und J. Lanz: Affekt. in: Joachim ritter
(hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1: a–c, Darmstadt 1971, 91.
3.2. Die systematik der Therapie 93
die zwischen Materie und Form unterscheidet und das je einzelne als Zusammen-
setzung aus materieller Möglichkeit und formaler Verwirklichung begreift. so wie
man ein haus (aristoteles’ eigenes Beispiel in De anima i 1, 403b) unter angabe
der Baumaterialien als Materialursache definieren kann, man aber ebenso gut auf
seinen Zweck als schützender ort, der Wind, regen und hitze abhält, abstellen darf,
genau so kann man emotionen durch den prozess, der sich am substrat (z. B. dem
limbischen system im gehirn) vollzieht, oder durch ihre psychischen Momente
bestimmen.261 Die körperliche Veränderung ist also nicht etwas getrenntes von der
emotion wie auch die emotion kein ‚epiphänomen‘ der physischen Beschaffenheit
eines Körpers darstellt, sondern es sind unterschiedliche aspekte am gleichen. Die
stoiker gehen von ganz anderen ontologischen Voraussetzungen aus. Während aris-
toteles mehrere seelenvermögen annimmt – angeordnet entlang der scala naturae:
vegetatives, wahrnehmendes und strebendes Vermögen262 – und die pavqh als erlei-
den des strebevermögens versteht,263 ist diese Differenzierung unter Voraussetzung
des psychischen Monismus nicht möglich. alle Zustände der seele sind Zustände des
Logos, der die seele ausmacht. cicero führt die stoische systematik der seelischen
störungen in den Tusculanae Disputationes im vierten Buch aus.
Das vierte Buch stellt das ‚theoretische hauptstück‘ der Tusculanae Disputationes
dar. in ihm beschreibt cicero die stoische emotionstheorie, so wie er sie für annehm-
bar hält, und weist das konkurrierende peripatetische Denken in dieser Frage zurück.
Vor allem aber gibt er in diesem vierten Buch eine erklärung zu den heilmethoden
für die perturbationes der seele ab, die den gesamtzusammenhang der ersten vier
Bücher dieses Werks deutlich macht:
„Für die Leidenschaften also, die ich besprochen habe, gibt es verschiedene heilmethoden.
Denn nicht jeder Kummer wird auf dieselbe Weise geheilt. Die Medizin für einen Trauernden
ist eine andere als für einen Mitleidigen oder einen Missgünstigen. außerdem gibt es bei allen
vier Leidenschaften das problem, ob sich die rede (oratio) besser auf die gesamte Leidenschaft
richtet, die eine Verachtung der Vernunft (ratio) ist und ein allzu heftiges streben, oder auf eine
einzelne, etwa auf angst, genusssucht usw.; ferner ob man zeigen soll, dass man nicht Kummer
über das Besondere haben darf, was die ursache des Kummers war, oder ob man den Kummer
allgemein im Bezug auf alle Dinge wegnehmen soll; etwa ob Du, wenn einer über seine armut
klagt, darüber diskutierst, dass armut kein Übel ist, oder darüber, dass ein Mensch über nichts
Kummer empfinden soll. Gewiss ist das zweite besser, damit er nicht, falls Du ihn hinsichtlich
der armut nicht überzeugen kannst, dem Kummer überhaupt nachgeben wird. Wenn aber der
261 De anima I 1, 403a29–403b1: Der ‚Physiker‘ und der ‚Dialektiker‘ definieren den Zorn z. B.
ganz unterschiedlich. Der physiker nennt die Materie, der Dialektiker ei\do~ und lovgo~.
262 „De anima unterscheidet drei seelenvermögen: 1. das Vermögen der ernährung, des Wachstums
und der Zeugung (II 4); es kommt Pflanzen und Tieren zu; 2. das Vermögen der Unterscheidung;
es umfasst Wahrnehmung, Vorstellung (fantasiva) und Denken (427a19f; 432a16 [...]); 3. das
Vermögen der Fortbewegung oder strebevermögen (427a18; iii 9f); es umfasst Begierde (ejpi-
qumiva); Zorn (qumov~) und Wünschen (bouvlhsi~) (414b2).“ ricken 1976, 50.
263 Vgl. ricken 1976, 51.
94 3. Therapeutischer Logos
Kummer im ganzen überwunden ist, so kann man mit den besonderen gründen, die wir gestern
angeführt haben, in gewisser Weise auch das Übel der armut beseitigen.“ (Tusc. 4,59; Übers.
gigon)
Der zitierte Text unterscheidet drei stufen des therapeutischen ansatzes. ausgangs-
punkt ist die fundamentale These, dass die emotion eine störung der ratio (lovgo~)
darstellt und durch oratio geheilt werden kann. Das Fundament jeder emotion ist
eine Meinung, d. h. eine proposition, der zugestimmt wurde, und so bietet sich
1) die erste Möglichkeit, die Zustimmung zur in Frage stehenden proposition zu
überdenken, d. h. den satz, der in der proposition beschrieben wird, auf seinen
Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Dies tut cicero in Buch i der Tusculanae Dis-
putationes mit der These: ‚Der Tod ist ein Übel‘ und in Buch ii mit der These
‚Der schmerz ist das größte Übel‘;
2) die zweite Möglichkeit, die durch die proposition, der zugestimmt wird, aus-
gelöste (einzel-) emotion durch eine Zustimmung zu einer anderen proposition,
nämlich jener, die das ‚existenzrecht‘ der emotion als solches bestreitet, zu
verhindern. Dies versucht cicero in Buch iii der Tusculanae Disputationes mit
der These: ‚ein Weiser ist frei von Kummer‘;
3) zusätzlich die dritte Möglichkeit, das ‚existenzrecht‘ von emotionen als sol-
ches überhaupt in Frage zu stellen und der proposition zuzustimmen, die dieses
existenzrecht den emotionen versagt. Darin liegt die aufgabe des vierten
Buches der Tusculanae Disputationes, in dem Zustimmung für die These ‚Der
Weise ist überhaupt frei von Leidenschaften‘ (oder: ‚Leidenschaften sind eine
Verachtung der Vernunft‘) erlangt werden soll.
Die Tusculanae Disputationes sind also nicht eine lockere aneinanderreihung von
Thesen zu rhetorischen spielzwecken oder skeptische Widerlegungen zum erweis
der gleichgewichtigkeit aller Behauptungen, sondern sie sind in ihrem hauptan-
liegen curationes perturbationum, also Wege zur heilung von den emotionen,
wie cicero wörtlich in Tusc. 4,59 formuliert. ciceros anordnung ist dabei nicht
willkürlich, sondern verschränkt den äußeren rahmen der gliederung philons von
protreptischem, therapeutischem und bewahrendem Logos mit einem inneren rah-
men für die therapeutische phase, die aus den beschriebenen drei stufen besteht.264
Methodisch folgt er mit seinen reden Karneades, indem er gegen eine aufgestellte
These spricht,265 immer aber mit dem Ziel, eine zustimmungsfähige proposition zu
finden, die seelische Konsistenz bewirken kann.
264 Dieser ‚innere rahmen‘ basiert auf der stoischen (emotions-)philosophie, nutzt allerdings zur
argumentation für einschlägige Thesen durchaus argumente aus dem platonismus (vgl. beson-
ders das erste Buch) und anderen philosophenschulen. Der ‚äußere rahmen‘ ist ‚skeptisch‘, d.
h. letztlich stehen alle Thesen der Tusculanen unter dem Vorbehalt der revidierbarkeit. ins-
besondere carlos Lévy 1992 (Kap. iii) und 2003, 673 f. hat die stoiker-Kritik der Tusculanen
betont: „Notre analyse des livres précédents [Tusc. i–iV] nous avait déjà montré que dans les
Tusculanes le stoïcisme ne figure jamais pour lui-même, qu’il y apparaît comme une province
du platonisme.“ (Lévy 1992, 487).
265 Vgl. Tusc. 5,11; 3,54.
3.2. Die systematik der Therapie 95
Das vierte Buch macht gleich zu Beginn einen wesentlichen methodischen aspekt in
ciceros Vorgehensweise deutlich. Zur ausgangsfrage des schülers, ob der Weise von
jeder emotion frei sein kann (omni animi perturbatione posse sapiens vacare; Tusc.
4,8), die damit Thema und redeziel des gespräches festlegt, kommt – nach einer
Zwischenüberlegung, die schon auf einem später zu erreichenden ergebnis basiert
– die Frage ciceros als Lehrer, ob das Thema denn so behandelt werden solle, dass
man „sofort die segel“ aufsetzt (statim vela facere) oder ob nicht vorher noch etwas
„gerudert“ werden solle (paululum remigare), wie bei jenen, die gerade erst den
hafen mit dem schiff verlassen (Tusc. 4,9).268 Die systematische Bedeutung dieser
stelle macht es notwendig, ciceros erklärung der bildlichen rede vom rudern und
segeln hier wörtlich wiederzugeben:
„Weil chrysipp und die stoiker, wenn sie über die Leidenschaften sprechen, zum großen Teil
damit beschäftigt sind, sie zu unterteilen (partiri) und zu definieren (definire), befassen sie sich
nur sehr knapp damit, wie sie die seelen heilen und wie sie verhindern wollen, dass sie in un-
ruhe sind; die peripatetiker aber tragen zur Beruhigung der seelen viel bei, vermeiden aber den
dornigen Weg, zu unterteilen und zu definieren. Ich fragte also, ob ich die Segel meiner Rede
(vela orationis) sofort ausspannen soll oder sie zuvor ein wenig mit den rudern dialektischer
untersuchungen (remis dialecticorum) vorwärtstreiben soll.
[antwort der schülers:] Natürlich auf die letztere art; denn das ganze, nach dem ich frage, wird
von beiden seiten her (ex utroque) vollkommener sein.“ (Tusc. 4,9; Übers. Kirfel)
ciceros setzt die Metapher des segelns gezielt ein, wie man an ac. 2,66 ersehen kann,
wo er ebenfalls wichtige methodische Überlegungen zu seinem philosophieren in
das Bild von der seeschifffahrt packt:
„ich richte die Fahrt meiner gedanken folgendermaßen aus: nicht nach dem winzigen ‚hunde-
schwanz‘ [dem kleinen Bären], »auf dessen Führung sich des Nachts die phönizier verlassen auf
hoher see« (wie arat sagt) […]; nein, nach der helike richte ich sie aus, dem strahlenden sieben-
gestirn [dem großen Bären]: das heißt nach solchen grundsätzen (rationes), die einen weiteren
anblick gewähren und nicht bis ins kleinste ausgefeilt sind.“ (ac. 2,66; Übers. schäublin)
Ciceros spielt hier offenbar mit dem Hinweis auf die Phönizier raffiniert auf die
stoiker an, die ja mit Zenon von einem Zyprioten begründet wurden. Zweifellos
gewährt die orientierung am kleinen Bären sichere Fahrt, aber für cicero ist diese
sicherheit erkauft um den preis einer geistigen enge. er ist ein magnus opinator (ac.
2,66, kurz vor der zitierten passage), der zwar zuweilen den irrtum in Kauf nehmen
muss, dabei aber den menschengemäßeren Weg beschreitet.
aber gehen wir zurück zu Tusc. 4,9: Wer ciceros rede von den stoischen rati-
unculi und interrogatiunculi269, also den kleinlichen argumentationen der stoiker
im ohr hat, wird diese passage schnell als Lob der peripatetiker auffassen, die sich
nicht mit Kleinigkeiten aufhalten, sondern gleich ‚zum Wesentlichen‘, nämlich zur
seelenberuhigung, übergehen. aber cicero ist orator. und für einen geschulten
268 Zweifellos hat diese gegenüberstellung zweier arten der schifffahrt das Vorbild bei platon
(Phaidon 85d, 99d), ist hier aber neu gewendet.
269 Vgl. fin. 4,7; de orat. 1,43; Tusc. 5,76 (laquei Stoicorum); ac. 2,112 (Stoicorum dumeta) oder
fat. 17 (contortiones orationis).
3.3. ‚rudern und segeln‘ – Ratio und oratio 97
redner klingen die Verben partiri und definire keineswegs nach Kleinlichkeit,
sondern nach methodischen Voraussetzungen einer rede: Dabei bildet die partitio
neben exordium, narratio, argumentatio und peroratio eine klassische pars orati-
onis.270 Bei cicero, dem herausragenden redner seiner Zeit, sind solche Begriffe
wie definitio, die sowohl philosophischen als auch rhetorischen sinn besitzen, nicht
nur von einer Verständnisweise her aufzufassen. indem die stoiker also wichtige
elemente der redekunst aufgreifen, sind sie durchaus nachahmenswert. allerdings
darf das Ziel, die Heilung von den Emotionen, vom begrifflichen Instrumentarium
nicht verdeckt oder verhindert werden. hier haben die peripatetiker trotz gewisser
rednerischer unvollständigkeit Vorteile.271 schließlich verlangt auch vom redner in
der Öffentlichkeit niemand, dass er den vollständigen rhetorischen Werkzeugkoffer
auspackt, wenn er lediglich mit den geeigneten Werkzeugen zielführend arbeiten
kann. Insgesamt gilt es also, beide Defizite zu vermeiden: Die Rede sollte sich nicht
in bloßer Begriffserklärung und -unterteilung verlieren, andererseits aber auch nicht
mit einem ungeklärten Begriffsapparat scheinbare resultate zu erzielen versuchen.
argumentative strenge und Kraft zur plausibilisierung dürfen sich nicht gegenüber-
stehen, sondern müssen in der rede geeint auf das redeziel hin wirksam werden.
cicero kündigt also eine formale aufteilung des vierten Buches an. Der erste
Teil, bildlich als „rudern“ bezeichnet, reicht von Tusc. 4,10–33, der zweite Teil, der
mit dem Zwischenstück in Tusc. 4,33 beginnt und im Dialog als „segeln“ angespro-
chen wird, nimmt den rest bis zum ende (Tusc. 4,84) in Beschlag. cicero scheint
aber an der oben zitierten stelle Tusc. 4,9 auszusagen, dass der inhalt des ersten
Teils, nämlich Definition und Einteilung, von geringerem therapeutischen Wert sei,
was doch noch einmal die Frage aufkommen lassen muss, weshalb ein solcher erster
Teil überhaupt vorgebracht wird. Im Text finden sich zwei Antworten: Eine, die der
schüler vorträgt, und eine weitere, die cicero in der Figur des Magisters selbst äu-
ßert. Diese zweite Antwort findet sich im Zwischenstück Tusc. 4,33: cicero nimmt
wieder anleihe bei einem Bild aus der seeschifffahrt. Zunächst muss man, so wie
mit rudern erst das ufer verlassen wird, mit den stoischen logikav, die besonders
subtil dargelegt werden, die Fahrt aufnehmen, um dann auf der hohen see schneller
und zielführender unterwegs sein zu können, indem man die segel aufspannt. hier
kommt es also auf die reihenfolge an. Die ausgangspunkte müssen klar, präzise
und gründlich (subtilis) sein. cicero nimmt diese anforderung aus seiner ganzen art
und Weise, geordnete rede, zumal philosophische rede, zu verstehen. in De fato
sagt er, die art von philosophie, die er betreibe, stehe in höchster gemeinschaft mit
der öffentlichen rede: Von der (platonischen) akademie nimmt sie die subtilitas
(gründlichkeit) und fügt ihr die ubertas orationis aus der öffentlichen redekunst
bei (fat. 3272). an der in Frage stehenden stelle hier erfüllen auch die stoiker die
und stellt ihr als gegenleistung die Fülle und die schmückenden Mittel seiner Beredsamkeit
zur Verfügung.“).
273 Vgl. fin. 1,13, wo cicero diesen anspruch in Bezug auf seine Darstellung der epikureischen
Lehre formuliert.
274 cicero variiert ein Motiv, das bei platon selbst vielfach vertreten ist, z. B. Gorgias 513c, wo
Kallikles zwar einräumt, dass ihm das von sokrates gesagte „gut“ (eu\ levgein) vorkomme, er
ihm aber trotzdem nicht recht glauben könne (ouj pavnu soi peivqomai). Vgl. auch die Zweifel
des simmias (Phaidon 107b).
3.3. ‚rudern und segeln‘ – Ratio und oratio 99
in dieser zweiten Begründung aus schülermund, weshalb cicero als Lehrer doch
beide Verfahren anwenden solle, liegt wohl darin, dass in beiden Vorgehensweisen
der Konvergenzpunkt gesucht werden muss, in dem sich die Darlegungen treffen.
Das scheint hier mit der Verwendung von „ex utroque“ ausgesagt zu werden. Die
beiden Darlegungsstränge dürfen sich nicht wie windschiefe geraden aneinander
vorbeibewegen, sondern müssen eine schnittstelle besitzen, die ihrerseits aber
nicht willkürlich ist, sondern genau den argumentativen Zielpunkt darstellt. sie zu
finden ist beste rednerische Kunst – und das philosophische Gespräch ist für Cicero
zunächst und zuerst eine Weise zu reden. oft wird im Zusammenhang mit ciceros
philosophieren von ‚eklektizismus‘ gesprochen.275 Tatsächlich handelt es sich um
eine ‚auswählende‘ Vorgehensweise, aber mitnichten bleibt es bei einer Sammlung
von argumenten, ausschnitten, rhetorischen Figuren oder Zitaten, sondern sie
müssen sämtlich im Ziel der rede konvergieren. Dieser Konvergenzpunkt ist im
vierten Buch der Tusculanae Disputationes eine zuverlässige auffassung über die
emotionalität des Menschen, die auch eine Therapie vom Leidensdruck begründen
kann. inhaltlicher gesagt: es kommt ihm darauf an zu zeigen, dass immer eine Mei-
nung – heute würde man noch eher sagen: Kognition – an der emotionsentstehung
beteiligt ist. umstrittene Details, die außerhalb des Konvergenzpunktes liegen, sind
für ihn zu vernachlässigen.
Damit aber wurde bereits von einem aspekt der Form des philosophierens
in den Tusculanen, nämlich der rednerischen praxis des ‚auf den punkt Zielens‘
auf inhaltliches vorausgegriffen. Zunächst ist also bedeutsam, dass sich das vierte
Buch in zwei am Verfahren unterscheidbare Teile aufspaltet: Tusc. 4,10–33 sind
dem ‚rudern‘, Tusc. 4,34–84 dem ‚segeln‘ verschrieben. Der erste Teil lässt sich
inhaltlich in die Darstellung der ‚Fundamentalemotionen‘ („generische emotionen“;
Tusc. 4,10–15) und die ausfaltung aller weiteren Leidenschaften aus diesen (Tusc.
4,16–33) unterteilen.
Nun ist diese unterscheidung von „dialektischem Vorspiel“276 und freierer rede
nicht nur ein Merkmal des vierten Buches, auch wenn sie hier ausdrücklich gemacht
wird, sondern sie findet sich ebenso in den übrigen Gesprächen mit dem Schüler.
auch in ihnen lassen sich mehr oder weniger lange dialektische argumentationen
von der folgenden oratio absetzen. Die jeweilige Zäsur ist im ersten Buch bei Tusc.
1,16, im zweiten – nach einer extrem kurzen ‚stoischen‘ argumentation – bei 2,15,
im dritten Buch bei 3,22 und im vierten wie gezeigt bei 4,34. unter gewissen Vor-
behalt kann auch 5,18–20 (mit hinweis darauf, dass der stoiker die antwort auf die
Frage des fünften Buches bereits aus den erörterungen der ersten vier erschließen
kann) als solche streng dialektische argumentation angesehen werden. 277
Die Theorie der rede sieht vor, dass der redegegenstand nach den Fragen quid
sit, quale sit und sit necne sit bestimmt wird (top. 82).278 Die erste Frage nach der
‚Was-Bestimmung‘ versucht, den Gegenstand für sich in Begriffen zu definieren,
die zweite Frage nach der Beschaffenheitsbestimmung klärt das Zueinander und die
abgrenzung zu anderen gegenständen, und die dritte Frage muss klären, ob der ge-
genstand tatsächlich vorliegt. Nun liegt in der allgemeinen Frage nach dem umgang
mit emotionen keine quaestio finita oder causa vor (top. 79), in der ein einzelge-
schehen beurteilt werden soll, wie in einer gerichts- oder auch Lobrede, sondern eine
quaestio infinita (propositum, top. 79; Bayer übersetzt „generalthema“), so dass die
Frage nach dem faktischen Vorliegen nicht gestellt wird. Die sit-necne-sit-Frage ent-
fällt also. cicero sieht sich mit seinem redetheoretischen rüstzeug im vierten Buch
der Tusculanen jedenfalls bereit, „die unklaren Dinge deutlicher [zu] erklären, als sie
von den griechen dargestellt werden“ (Tusc. 4,10). Tatsächlich aber bringt cicero
selbst ein gerüttelt Maß an Verwirrung in den Definitionsteil des vierten Buches,
weil er drei Bestimmungen der emotionen vorlegt, die ihre harmonisierbarkeit nicht
unmittelbar offen legen:
a) Die Quelle (fons; Tusc. 4,11) seiner Darlegungen soll das pythagoreisch-
platonische Modell eines seelischen Dualismus bilden: Die seele ist in zwei
Teile aufgeteilt, von denen einer an der Vernunft teilhat (rationis particeps),
der andere hingegen nicht (rationis expers). Der an der Vernunft teilhabende
anteil ist gekennzeichnet durch ruhige Beständigkeit (constantia), der andere
Teil durch motus turbidi wie Zorn und Begehren (Tusc. 4,10). als dualistisches
Modell steht es dem seelischen Monismus der stoiker fundamental entgegen.
Da überrascht es umso mehr, dass Cicero aber seine Definition der Emotionen
gerade nach den scharfen unterscheidungen der stoiker vornehmen will.
b) Nach Zenon, dem schulgründer, ist pavqo~ (in ciceros Übersetzung: perturbatio
animi) „eine von der richtigen Vernunft abgewandte naturwidrige Bewegung der
seele“ (Tusc. 4,11; Übers. Kirfel).279
c) Die kürzere Fassung dieser Bestimmung lautet: emotion „sei ein allzu heftiges
Verlangen“, wobei es sich um ein Verlangen handelt, „das sich zu weit von der
Beständigkeit der Natur entfernt hat“ (Tusc. 4,11; Übers. Kirfel).280
cicero hat so insgesamt drei antworten auf die Quid-sit-Frage der emotionen vor-
gelegt. Nach a) sind sie Bewegungen im irrationalen seelenteil, nach b) sind sie Be-
278 Vgl. in der von Karl Bayer edierten ausgabe von ciceros Topica, München 1993, das schema
auf den seiten 174 f. und de orat. 2,113.
279 perturbatio est „aversa a recta ratione contra naturam animi commotio”.
280 „Quidam brevius perturbationem esse adpetitum vehementiorem, sed vehementiorem eum
volunt esse, qui longius discesserit a naturae constantia.“ Für b) und c) vgl. DL Vii 110. – eine
kurze Darlegung der stoischen emotionslehre bietet auch fin. 3,35.
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 101
wegungen der seele gegen die Vernunft innerhalb eines monistischen seelenmodells,
wie man für die stoische Theorie ergänzen darf, und nach c) sind sie Bewegungen
der seele, die ein bestimmtes Maß überschreiten. es liegt zugegebenermaßen hier
durchaus nahe, eine der bei cicero nicht ableugbaren „ungleichmäßigkeiten“281 zu
vermuten, die sich der schnellen und partiell unvollständig überlegenden arbeits-
weise ciceros verdanken. gerade der Verweis auf das seelenmodell platons im Zu-
sammenhang einer als eigentlich stoisch geplanten Darlegung „bedroht die integrität
der Darlegung“, wie Margret graver in ihrem Kommentar richtig feststellt.282
eine Möglichkeit der interpretation besteht nun darin zu versuchen, diese inte-
grität der Darlegung herzustellen, indem man nach Wegen sucht, den Textbestand
sachlich zu harmonisieren. Dies bedeutet hier eine doppelte aufgabe: Die prüfung
der Vereinbarkeit des pythagoreisch-platonischen Modells a) mit der stoischen posi-
tion b/c) und die suche nach einer Möglichkeit, b) und c) selbst innerhalb desselben
stoischen Konzepts zu integrieren. Für die erste aufgabe hat Margret graver einen
Vorschlag entwickelt,283 wobei sie aber offen bleiben will für die Möglichkeit, dass
cicero tatsächlich inkonsistentes vorträgt. graver unterscheidet den ausdruck ‚ra-
tional‘ nämlich in einem normativen und einem deskriptiven sinne. Letzteres heißt
lediglich die Fähigkeit, mit propositionen umzugehen (im annehmen, Vergleichen,
Behaupten). in diesem sinne ist jedes umgehen mit propositionen rational. im nor-
mativen sinn heißt ‚rational‘, dass dieses operieren mit propositionen richtig ge-
schieht, dass dabei Konsistenz erzielt wird innerhalb des Geflechts der Propositionen
und mit der allgemeinen (Welt-)Vernunft. Wenn man nun ciceros rede von partes
(Tusc. 4,10) nicht als ‚Teile‘ im strengen sinn, sondern eher als ‚Typen‘, ‚Klassen‘
oder ‚Zustände‘ versteht, kann man interpretieren, dass mit der Zweiteilung von
rationalen und irrationalen seelenzuständen auf die normative rationalitätsvorstel-
lung Bezug genommen wird. Das hieße dann: im normativen sinn gibt es irrationale
seelenoperationen, weil nicht immer richtig mit propositionen umgegangen wird.
Deskriptiv betrachtet bleiben aber auch die irrationalen seelenoperationen ‚rational‘,
weil jeder umgang mit propositionen ein rationales – da auch im element des Logos
geschehendes – operieren darstellt.284 insofern wäre der seelische Monismus nicht
aufgehoben, sondern nur differenziert. Freilich, die Bezugnahme auf pythagoras
und platon wäre dann ein rhetorischer Trick ciceros, seine Darlegungen mit au-
toritäten zu unterstützen. sachlich ist diese unterstützung natürlich nicht gegeben,
denn der unterschied zwischen einem echten platonischen seelenmodell und dem
stoisch-monistischem wäre so ja nicht aufgehoben. insgesamt scheint die Tatsache,
dass cicero hier überhaupt auf ein zweigliedriges seelenmodell Bezug nimmt, ein
gewisses unbehagen mit dem reinen Monismus der stoiker anzudeuten. es bleibt für
281 so nennt Karl Büchner bewusst beschönigend die inkonsistenzen in ciceros Werk (Marcus
Tullius cicero: Gespräche in Tuskulum, eingel. und übers. von Karl Büchner, Zürich 1970,
XXVii).
282 graver 135.
283 Vgl. graver 135 f.
284 in ähnlicher Weise unterscheidet auch Barbara guckes einen weiten und einen engen sinn von
‚rational‘, so dass auch affekte im weiten sinne ‚rational‘ genannt werden können (Stoische
Ethik – Eine Einführung. in: guckes 2004, 7–29).
102 3. Therapeutischer Logos
ihn offenbar nicht völlig verständlich, wie die seele überhaupt im stoischen sinne
gegen die Vernunft operieren kann, wenn sie selbst ganz aus Vernunft gebildet ist.
Die Diskrepanz in den beiden stoischen Bestimmungen b) und c) ist systematisch
nicht gleich gravierend wie das problem der integration stoischer und pythagoreisch-
platonischer Seelenlehre. Definition c) spricht von adpetitus, das offensichtlich das
griechische Wort oJrmhv übersetzen soll. Insofern finden wir bei Cicero also genau
diejenigen emotionsbestimmungen, die auch Diogenes Laertios später nennen wird
(DL Vii 110). Katja Vogt hat eine interpretation vorgeschlagen, in der diese verschie-
denen Definitionen nicht die Einheitlichkeit der stoischen Emotionstheorie zu Fall
bringen, sondern „aus der Verschiedenheit der Betrachtungsweisen resultieren“.285
Die Bestimmung in b) stellt die erkenntnistheoretische (oder sogar ontologische)
sicht dar, während c) auf den handlungsbezug jeder emotion abstellt. allerdings
bleibt der unterschied, dass b) die im praktischen Denken der stoiker gebrauchte
ganz-oder-gar-nicht-Theorie fortsetzt, indem man entweder in vollem einklang
mit Natur und Vernunft als Weiser keine emotionen besitzt, oder als Nicht-Weiser
in perturbationes befangen bleibt. Dagegen geht die Definition von c) in Richtung
eines Begriffs des rechten Maßes, das allerdings innerhalb der Definition selbst
völlig unbestimmt bleibt. Der hinweis auf die „Beständigkeit der Natur“, von der
jede emotion abweiche, lässt darauf schließen, dass auch hier das ganz-oder-gar-
nicht-Modell beibehalten wird und das rechte Maß der emotion kein anderes als
‚keine emotion‘ darstellt. Die Bestimmung c) lässt sich also in die Bestimmung b)
überführen. insofern kann man mit Margret graver behaupten, dass b) die „stoische
Standarddefinition“ für Emotion darstellt286, wohingegen man unter c) eine gewisse
verbale aufweichung in richtung gefühlter emotionalität vermuten muss, denn eine
minimale abweichung von „rechter Vernunft“ führt noch zu keinem erfahrbaren
Emotionserleben. Die volle Rechtfertigung dafür, um die Definition von Emotion als
gegen die rechte Vernunft – und insofern gegen die Natur – gerichtete Bewegung der
seele für die zentrale Bestimmung der emotion halten zu können, liefert cicero aber
erst, indem er das stoische emotionsschema erläutert. insofern wirkt die antwort auf
die Quale-sit-Frage zurück auf die Frage nach dem quid-sit.287
Zur Darstellung ihrer philosophischen positionen arbeiten die stoiker mit dem
antagonismus von Nicht-Weisem und Weisem.288 Dabei bezeichnet der Weise das
vollkommene ideal verwirklichter menschlicher rationalität, während als stultus
angesprochen wird, wer dieses ideal nicht erfüllt. Tor und Weiser stehen sich also
als kontradiktorischer, nicht als konträrer gegensatz gegenüber. Pavqo~ ist eine ab-
weichung vom ideal der recta ratio, wie sie im Weisen verwirklicht ist, und kommt
daher nur dem ‚Toren‘ zu.
Die recta ratio besteht zunächst in propositionen, die einen sachverhalt in rech-
ter Weise wertend einordnen. Nach stoischer auffassung sind zwar äußere ‚Dinge‘
(oder ‚Weltzustände‘) hinsichtlich ihres Vorzugscharakters einzuschätzen, d. h.
bestimmte Zustände müssen anderen vorgezogen werden, was aber nicht bedeutet,
dass die vorgezogenen als ‚gut‘ und die zurückgesetzten als ‚übel‘ oder ‚schlecht‘
bezeichnet werden dürften. Lediglich die sittliche haltung eines Menschen kann mit
den prädikaten ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ belegt werden. Verfehlter sprachgebrauch in der
menschlichen gemeinschaft führt aber dazu, dass auch der einzelne in Versuchung
steht, einen äußeren sachverhalt, z. B. den Verlust von geld, als ‚übel‘ – und nicht
nur als zu vermeiden – einzuschätzen. aus solchen verfehlten Werturteilen (stoisch
müsste man von Wertmeinungen sprechen) entspringen die affekte. Da man nun
zwischen einem gegenwärtigen und einem erwarteten sachverhalt unterscheiden
muss, ergeben sich insgesamt vier „generische emotionen“ durch Kombination mit
dem Begriffspaar ‚gut-übel‘ (Tusc. 4,11–13):
an Beispielen verdeutlicht: Wer glaubt, dass geld oder gesundheit güter sind,
wird bei anwesenheit von geld oder gesundheit Lust, bei erwartung von geld
oder gesundheit Begierde, bei Verlust von geld oder gesundheit Kummer und bei
Erwartung des Verlusts von Geld oder Gesundheit Furcht empfinden. Wer Schmerz
empfindet – was auch dem Weisen nicht erspart bleibt – befindet sich in der Emotion
des Kummers, wenn er den schmerz – fälschlicherweise – für ein Übel hält. unter
Einbeziehung unterschiedlicher Definitionsmerkmale lassen sich aus den vier gene-
rischen emotionen alle als unterarten verstandenen emotionen der Normalsprache
ableiten (Tusc. 4,16–21):290 Mitleid beispielsweise „ist der Kummer auf grund des
289 Der ausdruck voluptas bezeichnet genau wie der ausdruck dolor zunächst nicht einen emo-
tionalen Zustand, sondern einen sinneseindruck. Deshalb wird die vermeidbare emotion der
Lust in absetzung vom unvermeidbaren sinneseindruck der Lust mit laetitia bezeichnet. ganz
konsequent bleibt cicero in seiner sprache allerdings nicht. Wenn es in Tusc. 3,71 heißt, natura
adfert dolorem, so ist vom sinneseindruck schmerz die rede, der natürlich ist und auch den
Weisen betrifft. in Tusc. 3,66 wird davon gesprochen, dass der schmerz (dolor) aus der einsicht
heraus, dass er keinen Nutzen bringt, beseitigt werden kann. Diese stelle bezieht sich auf den
schmerz, der als ‚fühlbare Qualität‘ in der emotion Kummer enthalten ist. Vgl. unten 3.7.1.,
seiten 152 f.
290 siehe anhang 1, seite 198.
104 3. Therapeutischer Logos
unglücks eines anderen, das er zu unrecht erleidet.“ (Tusc. 4,18). auch Mitleid
beruht also auf der Zustimmung zu einer proposition, die etwas als gegenwärtig
anwesend und ‚übel-seiend‘ aussagt.
parallel zu den schlechten seelischen Zuständen wird von den stoikern auch
eine Begrifflichkeit geschaffen, die die Qualität der guten Seele des Weisen in Worte
fassen soll. Der Weise schätzt nur seine sittliche Tüchtigkeit als gut ein, will diese
Tüchtigkeit auch in Zukunft und versucht sich vor einer sittlich schlechten hand-
lung zu bewahren. in der gegenwart handelt er nicht schlecht, ansonsten wäre er
nicht weise. Die stoiker gehen auch bei ihm davon aus, dass das Werturteil seine
affektivität bestimmt, allerdings ganz reduziert auf die genannten sachverhalte – die
keine äußeren, sondern innerseelische sind – hin. Die Befindlichkeit des Weisen ist
geprägt von drei sogenannten „guten emotionen“ (eujpavqeiai):
an Beispielen verdeutlicht: Die anwesenheit von geld oder gesundheit hat auf den
Weisen keine emotionale Wirkung, weil er geld oder gesundheit nicht für güter hält.
in einer handlung wählt er zwar diejenige, die ceteris paribus mehr geld oder ge-
sundheit bedeutet, aber sollte aufgrund äußerer – nicht vorhersehbarer – umstände
eine handlung misslingen, d. h. dasjenige, dem der Vorzug erteilt wurde, stellt sich
nicht ein, so bleibt auch dies ohne emotionale auswirkung auf den Weisen. aller-
dings freut sich der Weise über das gut, das ihm zukommt, nämlich seine sittliche
Vollkommenheit, die er auch erstrebt und deren Verlust er meidet.
in vielen Texten zur stoischen emotionslehre wird versucht, den eujpavqeiai in
ihrer ‚anfühlbaren‘, ‚erfahrbaren‘ Qualität nahe zu kommen, indem man von „guten
gefühlen“291 oder „Stimmungen“ usw. spricht. Bei Cicero finden wir keinen Hin-
weis, wie sich die selbstwahrnehmung der guten seele des Weisen darstellt. er über-
setzt den ausdruck eujpavqeiai mit constantiae (Tusc. 4,14), was die Beständigkeit
der seele, die die richtigen Überzeugungen hegt, verdeutlicht. insofern es sich um
ein ganz wörtlich zu verstehendes ‚Wohl-Befinden‘ der Seele handelt, ist die Rede
von ‚gutem gefühl‘ bestimmt angemessen, insofern es sich um einen dauernden
Zustand handelt, ist auch das Wort ‚stimmung‘ gerechtfertigt. aber andererseits
liegt die gefahr der Verwechslung mit einer perturbatio dann doch wieder nahe:
auch die laetitia kann ein gefühl sein, das sich ‚gut‘ anfühlt, und eine angst oder
Furcht können eine stimmung darstellen. im gegensatz zu cicero gibt Diogenes
Laertios (DL Vii 115) allerdings unterarten der eujpavqeiai an (z. B. Wohlwollen,
Freundlichkeit), so dass diese selbst generischen charakter bekommen. Damit wird
der Begriff der eujpavqeiai gegenüber cicero etwas trivialisiert. Bei cicero bezeich-
net er eine systematische stelle, das faktische Vorkommen ist so ungewiss wie das
cicero stellt das stoische Modell der affektbildung so vor, dass es selber Zustimmung
erhalten kann und deren auch bedarf, wenn heilung von den affekten geschehen soll.
Die stoiker lehren, so cicero, „dass die verschiedenen Formen der Leidenschaften
aus zwei vermeintlichen gütern (ex duobus opinatis bonis) und aus zwei vermeint-
lichen Übeln (ex duobus opinatis malis) entstehen (nasci)“ (Tusc. 4,11). insgesamt
schildert cicero das Verhältnis der Zustimmung zu einer proposition zum affekt
so, als gäbe es eine art ‚Wirkverhältnis‘, wie die Termini nasci oder adficere294 an-
292 DL steht damit wie die spätere Stoa schon in einer größeren ‚Lebensnähe‘, die das begrifflich
schärfere Modell, an dem cicero noch gelegen ist, etwas verlässt. Bei cicero ist deshalb auch die
propavqeia-Lehre, die – wie von halbig 2004, 57 mit r. sorabji angenommen wird – auf seneca
(epist. 57; De ira ii) zurückgeht, mit ausnahme zweier strittiger stellen (Tusc. 3,13 und 83; vgl.
unten seite 135, anm. 365) von keiner relevanz. es geht dabei um die Frage, ob ein Weiser
nicht zumindest physiologische reaktionen des Zorns wie erröten zeigt – einen sogenannten
Voraffekt, der dann durch bewusste Konzentration auf bestimmte propositionale gehalte und
die Zustimmung zu ihnen ‚besiegt‘ und damit die emotion als solche vermieden werden kann.
– Bei cicero ist ‚der Weise‘ eher als ein hermeneutisches prinzip verstehbar, um die situation
des gemeinen Menschen beschreiben zu können. als ideal kann man von ihm, dem Weisen,
postulieren, dass er niemals zornige oder begehrende reaktionen zeigt. in Tusc. 4,66 – wo
nicht mehr vom Weisen, sondern vom „normalen Menschen“ die rede sein soll (Tusc. 4,58 ff.)
– spricht cicero davon, dass der unterschied von laetitia und gaudium „docendi causa“, also
zu belehrendem Zweck gemacht wird, was eine aussagekraft im hinblick auf ciceros eigenes
Ziel hat: Nicht um der Betrachtung oder erforschung willen skizzieren wir das ideal des Weisen,
sondern um der unterscheidungsfähigkeit für das eigene handeln wegen.
293 Die gegenüberstellung von Meinung und Wissen ist bei platon entwickelt (vgl. z. B. Menon 96d
-99b, Politeia 533d ff., Theaitetos 201c ff.), und die stoiker übernehmen die entgegensetzung,
aber ohne platons ontologische implikationen.
294 Tusc. 4,11: “Quae enim venientia metuuntur, eadem adficiunt aegritudine instantia.” (Übers.
106 3. Therapeutischer Logos
deuten. in gewisser Weise setzt er sich hierin von den stoikern ab. Folgt man zum
Beispiel der Darlegung von Ted Brennan, so kennen die stoiker zwei Weisen der
Beschreibung von affekten: Zum einen „in terms of opinion“, zum anderen „in terms
of impulse“. Dabei wird aber kein Wirk-, sondern ein identitätsverhältnis zwischen
Meinung und emotion295 oder impuls und emotion unterstellt. auch cicero gibt
zuweilen referierend eine solche Definition.296 Der impuls wiederum ist identisch
mit der Zustimmung.297 cicero zieht aber die proposition, die Zustimmung und die
Emotion auseinander, weil er keine Zwangsläufigkeiten anerkennen mag. Zustim-
mung ist für ihn ein eigener akt, der geleistet oder verweigert werden kann. Für ihn
leistet die Beschreibung als Wirkverhältnis von Meinung und emotion genau das,
was er braucht: einen ansatz zur affektbereinigung oder emotionstherapie. cicero
geht es darum, den fühlbaren charakter der emotion – ihren ‚Biss‘ (Tusc. 3,83)
oder ‚schmerz‘ im übertragenen sinne – zu bewältigen und zu vermitteln, dass dies
möglich ist. Wenn die Zustimmung zu einer proposition oder die proposition selbst,
d. h. die Meinung, ursache für dieses unwohlgefühl darstellt, so kann man – in
einer analogie zur Medizin – über die Beseitigung der ursache, also der Meinung,
zur Beseitigung der Wirkung, also der als ‚schmerzhaft‘ empfundenen emotion
gelangen.298 cicero will sich selber und dem Leser vermitteln, dass – als unange-
nehm empfundene und Leidensdruck schaffende – emotionen nicht hingenommen
werden müssen, dass sich also eine heilungsmöglichkeit bietet. selbst also in einem
Textabschnitt, der zunächst nur wie eine bloße Darstellung, eine Doxographie, einer
bestimmten Lehre anmutet, ist ciceros absicht deutlich spür- und nachweisbar: in
den Tusculanae Disputationes geht es primär um das Konzept und auch die Durch-
führung einer seelischen Therapie, für deren gelingen nicht jedes Detail der internen
Verhältnisse des zu Therapierenden bekannt sein muss.
Kirfel: “Was man nämlich, wenn es kommt, fürchtet, das erzeugt [gigon: bereitet] Kummer,
wenn es gegenwärtig ist.”)
295 Brennan 1998, 31 z. B.: “Desire is the opinion of a future good.” (hervorhebung B. K.).
296 in Tusc. 4,14 spricht er davon, dass die stoiker den Kummer als opinio mali praesentis definieren
oder die Furcht als opinio mali impendentis, d. h. die emotion ist die Meinung und umgekehrt. an
gleicher stelle spricht er aber auch wieder davon, dass die stoiker glauben, omnes perturbationes
iudicio et opinione fieri. gerade dieser ausschnitt zeigt anhand der völlig unterminologischen
Verwendung von iudicium, dass cicero hier in eigenen Worten spricht, und dann unterläuft ihm
auch die Zuschreibung einer kausalen auffassung vom Verhältnis von proposition und emotion
an die stoiker. es ist zu vermuten, dass es seinem immensen arbeitstempo geschuldet ist, dass
cicero diese unstimmigkeiten zwischen seiner eigenen freieren Darlegung und den wörtlichen
Übersetzungen nicht auffallen.
297 Brennan 1998, 28: “My assent is also an impulse”
298 Brennan zeigt dagegen, dass nicht so sehr diese „interne (subjective) Qualität“ des affekts – die
ja gewissermaßen nur eine Form des “physical comforts” darstellt – die problemstellung der al-
ten stoiker bildet, sondern die außenwirkung, das handeln, ihr Leitmotiv ist: “it should be clear
by now that the stoics did not advocate the elimination of emotions for the reasons sometimes
alleged, namely that our experience of them is subjectively unpleasant or disturbing.” (Brennan
1998, 36 f.).
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 107
cicero versteht den ersten abschnitt seiner Widerrede im vierten Buch der Tuscula-
nen, den er ja mit der Metapher des „ruderns“ versehen hatte (Tusc. 4,9; 4,33), als
referat. referat heißt aber nicht eine originalgetreue Wiedergabe, sondern aufgriff
unter schwerpunktsetzung. cicero will den billigenswerten – probabile – Kern der
stoischen affektenlehre herausarbeiten.299 andererseits bedeutet ein referat aber
auch, sich selbst in den Dienst der Darstellung eines fremden Textes, einer fremden
Auffassung zu stellen. Deshalb empfindet es Cicero auch als seine Aufgabe, das
stoische system etwas umfassender darzulegen als bloß auf die zustimmungsfähigen
Kernsätze hin reduziert. Dazu tritt sein Bewusstsein, dass er der erste ist, der die
stoische philosophie in lateinische sprache übersetzt und so als erster in die römische
Öffentlichkeit bringt. Dem Leser ist dabei ein freies urteil zugestanden.
ein solches referat stellt nun der abschnitt Tusc. 4,23–33 dar. cicero legt
darin eine parallelisierung von körperlicher und seelischer erkrankung dar. seine
eingangsbemerkung, dass er dabei die mühevolle oratio des chrysipp weglassen
und nur die hauptsache (res) vorstellen wird (Tusc. 4,23), zeigt schon an, dass er
die Darlegung zum guten Teil der Vollständigkeit halber macht, sie aber für den
therapeutischen Kontext, um den es ihm im besonderen geht, nicht für überaus re-
levant hält.300 Das Wesentliche ist auch ohne die parallelisierung mit dem Körper
– die ja die gefahr der ontologisierung in sich trägt – aussagbar: Die Verwirrung
(conturbatio) der falschen Meinungen und ihre interne Widersprüchlichkeit (inter
se repugnantia) rauben der seele die gesundheit und versetzen sie in unordnung
(perturbare) (Tusc. 4,23).
Selbst der flüchtige Leser kann schnell erkennen, dass Cicero im Abschnitt
Tusc. 4,23–33 mindestens zwei Berichte vorträgt.301 Der Übergang vom ersten zum
zweiten findet in Tusc. 4,28 statt. Der Tenor des vorangestellten referats liegt in der
Feststellung, dass in den individuellen Menschen gewisse Neigungen zu bestimmten
seelischen Fehlern oder Leidenschaften stärker ausgeprägt sind als solche zu anderen
Fehlern oder Leidenschaften. Der schlusssatz erweitert diese grundthese auch im
hinblick auf eine Neigung zum guten. Diese soll facilitas genannt werden, so cicero
(Tusc. 4,28), die Neigung zu einem seelischen Fehler heiße dagegen proclivitas.
299 Vgl. görler 1989, mit der treffenden Formulierung: cicero „widerstrebte Kleinkram und Tüf-
telei. … er verfügt über die gabe, ordnung zu schaffen, das Wesentliche sichtbar zu machen.
… er denkt in großen Linien, in großzügiger und oft großartiger Vereinfachung “ (256 f.). Man
kann diese gabe freilich auch negativ interpretieren: Für Mommsen (Römische Geschichte,
Band 5, Fünftes Buch, Der letzte Kampf der römischen republik, München 62001, 283–288,
hier 284) war cicero eine „Journalistennatur im schlechtesten sinne des Wortes“. Kriterien für
guten oder schlechten Journalismus legt Mommsen allerdings nicht vor.
300 Man sollte deshalb darin nicht wie Morford 2002, 58 gleich das Bemerkenswerteste des
vierten Buches insgesamt sehen. – Vgl. zu den folgenden unterscheidungen auch prost 2004,
290–304.
301 Zurecht wird von den Kommentatoren darauf hingewiesen, dass der abschnitt Tusc. 4,23–29
begrifflich nicht stimmig ist. Vgl. z. B. Ernst Alfred Kirfel (Cicero: Tusculanae Disputationes,
stuttgart 1997, anm. 29 und 32 auf seiten 518 f.) oder gigon (Komm.) 533.
108 3. Therapeutischer Logos
Mit einem modernen Begriff gesprochen: Cicero konstatiert hier den Einfluss des
charakters.
im zweiten abschnitt (Tusc. 4,28–33) soll die parallelisierung von Begriffen
für Körper und seele anhand dreier ausdrücke etwas plausibilisiert werden: Kränk-
lichkeit (Kirfel: „schwäche“; aegrotatio; ajsqevneia), Fehler (vitium; ai\sco~) und
Krankheit (morbus; novso~).302 Beim Körper lassen sie sich folgendermaßen unter-
scheiden:
– Krankheit: eine Zerstörung (corruptio) des ganzen Körpers
– Kränklichkeit: eine Krankheit mit schwäche
– Fehler: das Nicht-Übereinstimmen der Teile des Körpers
Bei der Seele kann zwar begrifflich zwischen Krankheit und Kränklichkeit getrennt
werden, in der sache aber gehen beide auf eine curruptio opinionum (Tusc. 4,29)
zurück und können durch die richtigstellung der Meinungen – im argumentativen
prozess – behoben werden. absetzen muss man davon aber den Fehler der seele. er
ist von dauerhafterem charakter,303 geht aber ebenso auf falsche Meinungen zurück
wie Krankheit und Kränklichkeit, nur eben auf weniger leicht anfechtbare. alle drei
‚unstimmigkeiten‘ sind Verwirrungen und Verirrungen der seele. Das kontradik-
torische gegenteil der perturbationes animi ist die „gesundheit der seele“ (animi
sanitas), die man als Übereinstimmung (concordia) der urteile auffassen muss. in
dieser Übereinstimmung besteht die Tugend der seele (animi virtus), die auch als
temperantia bezeichnet werden kann (Tusc. 4,30), womit cicero die Verbindung
zum Diktum von Tusc. 4,22 hergestellt hat, wo es heißt, dass die Maßlosigkeit (in-
temperantia) die Quelle aller Leidenschaften sei.
Dem Differenzierungsstreben seines stoischen Vorbildtextes trägt cicero noch
darin rechnung, dass er darauf hinweist, dass der Begriff der „seelischen gesund-
heit“ zwar in seiner Vollform nur für den Weisen gebraucht werden dürfte, dass
aber auch beim Nicht-Weisen, „wenn durch ärztliche Behandlung eine Verwirrung
des geistes beseitigt wird“304, von gesundheit – im abgeleiteten sinn – gesprochen
werden darf (Tusc. 4,30).
um die parallelisierung noch fortzusetzen, wird auch darauf verwiesen, dass
wie der Körper auch die seele unter ästhetischem gesichtspunkt in Blick genommen
werden kann. Die schönheit (pulchritudo) der seele besteht aus ihrer gesundheit, d.
h. aus dem richtigen Zueinander ihrer urteile, bezieht dabei aber auch Momente wie
ihre schnelligkeit (velocitas, celeritas) und Wirksamkeit (efficacitas; Übers. gigon
und Kirfel: „spannkraft“) mit ein (Tusc. 4,31).
allerdings stößt der Vergleich von seelischer und körperlicher erkrankung an
eine definitive Grenze: Während die vollkommen gesunde Seele – die Seele des
Weisen – nicht erkranken kann, zeigt die erfahrung, dass auch ein gesunder Körper
unvermittelt ins ungleichgewicht gerät. als ‚zufälliges‘ materielles gebilde ist der
Körper dem Einfluss anderer Materie ausgesetzt. Er ist selber nicht völlig homogen
oder einheitlich und daher auch nicht unantastbar. Die vollkommene seele aber
besitzt den Logos als einheitlichen. in der gesunden seele ist der Logos vollständig
und mit sich völlig in harmonie. Jeder von außen dazutretende Logos ist als falscher
entweder nicht in der Lage, der vollkommenen seele schaden anzutun, oder er bestä-
tigt als wahrer die ohnehin gehegte Überzeugung. Die Nicht-Beachtung des Logos,
der ratio oder Vernunft, bedeutet dagegen einen seelischen Fehler, eine Verwirrung
der seele, die in den unvernünftigen seelen der Tiere, gerade weil sie ohne Logos
sind, nicht auftreten kann (Tusc. 4,31).
Der Vergleich körperlicher und seelischer gesundheit scheint seinen ursprung
bei sokrates genommen305 und bei den stoikern vielfältige ausfaltungen erfahren
zu haben. Der abschnitt Tusc. 4,23–33 der Tusculanae Disputationes ist eine stark
verkürzte Darstellung dessen, was stoiker, insbesondere chrysipp (Tusc. 4,23),
ausgearbeitet zu haben scheinen. Der grund für diese Verkürzung dürfte nicht nur
– wie Margret graver schreibt – in der „sorge um des Lesers geduld“306 liegen,
sondern auch in ermangelung dieser geduld bei cicero selbst. cicero will den
Spannungsbogen nicht durch eine übertriebene begriffliche Analytik verfallen las-
sen, sondern sich nur an dem orientieren, was überhaupt noch eine Beziehung zur
sache (Tusc. 4,23), nämlich der Therapeutik von emotionen, zumindest ansatzweise
erkennen lässt. Die verkürzte Darstellung erkauft er allerdings mit inkonsistenzen
in Detailfragen, die er – um das Ziel seiner rede nicht aus den augen zu verlieren
– als redner in Kauf nimmt.307
Dieses Ziel besteht im vierten Buch immer darin, klar zu machen, dass emo-
tionen eine kognitive Ursache haben. Implizit gibt Cicero eine Definition der per-
turbationes animi in Tusc 4,23, wenn er – getreu der Leib-seele-parallelisierung
– zuerst körperliche Missverhältnisse wie „verdorbenes Blut“ oder „überlaufende
galle“ als ursachen körperlicher Krankheiten ausmacht und dann feststellt:
„ ... sic pravarum opinionum conturbatio et ipsarum inter se repugnantia sanitate spoliat animum
morbisque perturbat“. (Übers. gigon: „... so zerstört die Verwirrung der falschen Meinungen und
ihr gegenseitiger Widerspruch die gesundheit der seele und zerrüttet sie durch Krankheiten.“)
Die implizite Definition der Emotion kann also formuliert werden:
Perturbatio animi est conturbatio opinionum pravarum et inter se repugnantia.
„emotion ist die Verwirrung fehlerhafter Meinungen und ihr gegenseitiger Widerspruch.“
Der Vergleich von Körper und seele soll eine sinnlich nicht fassbare gegebenheit
wie die seele durch eine anschaulichere wie den Körper erläutern. allerdings bringt
305 Vgl. platon, Gorgias 464a ff. – Zur paradigmatischen Bedeutung der Medizin bei platon vgl.
cordes 1994, 138–169.
306 graver 149.
307 Vgl. besonders gigon (Komm.) 533–537. Für philippson 1932, 282 ff.) scheint „die gedanken-
folge wohl zusammenzuhängen“, er legt aber bedauerlicherweise nicht dar, wie.
110 3. Therapeutischer Logos
die parallelisierung von körperlicher und seelischer erkrankung letztlich eine ‚Mil-
derung‘ der strengen stoischen Doktrin mit sich: Die grundunterscheidung von
„Kränklichkeiten“ („schwächen“) und „Krankheiten“ scheint diese Milderung zu
illustrieren. am Körper ist die unterscheidung einleuchtend: es gibt Menschen mit
einer Neigung, einer schwäche, zu dieser oder jener erkrankung, ohne dass man
deshalb davon sprechen müsste, sie seien stets krank. Der strenge stoiker müsste
diese unterscheidung für die seele aber ablehnen, weil die Neigung einer seele zur
Krankheit, die ja offenkundig im Missverhältnis der sie konstituierenden propositi-
onen liegt, selbst auf ein solches – vielleicht ‚quantitativ geringeres‘ – Missverhältnis
zurückgeht. Die rede von einer „Neigung zur Krankheit“ oder einer „schwäche“
ist beim Körper möglich, weil eine art ‚materieller Trägheit‘ vorausgesetzt werden
kann, so dass die nach gesundheit strebenden Kräfte des Körpers den Trägheits-
kräften entgegenstehen. Wer Neigungen zur Krankheit und Krankheiten selbst auch
bei der seele unterscheidet, nimmt nun offenbar analoges für die seele an, also so
etwas wie ein Trägheitsmoment, das außerhalb des rationalen liegt. auch wenn
cicero diese anthropologische schlussfolgerung nicht zieht, kann man hierin ein
gewisses indiz dafür erkennen, dass cicero tatsächlich eine nicht-monistische see-
lenlehre unterstützen will, wie er es ja mit seinem hinweis auf den genommenen
ausgangspunkt bei platon und pythagoras in Tusc. 4,10 angekündigt hat (und was
dem Leser der Tusculanen auch aus Tusc. 2,47 bekannt ist). aber im gegensatz zu
platon geht es nicht um die abtrennung eines begehrenden oder muthaften seelen-
teils von der rationalität,308 sondern um eine art ‚außerrationales Trägheitsmoment‘,
das bremsend oder hemmend Vorgänge des rationalen blockiert und gewohnheiten
aufrechterhält.309
308 cicero bleibt bei der stoischen These, dass das streben oder Begehren sich aus der Zustimmung
zu einer (Wert-) proposition ergibt.
309 Dass cicero die These von der in zwei „Teilen“ aufzufassenden seele gerade im zweiten und
vierten Buch einbringt, zeigt, dass diese „merkwürdige Äußerung“ (philippson 1932, 279) nicht
willkürlich an ihren orten steht. cicero betreibt ja keine ‚direkte‘ ontologie oder seelenlehre,
sondern man kann aus Tatsachen oder Begründungen auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit
zurück schließen. Die Behandlung des schmerzes im zweiten Buch zeigt nun, dass gewöh-
nung lindernde Wirkung haben kann. Dies ist aber unter der Voraussetzung eines seelischen
Monismus der rationalität nicht recht zu erklären möglich. also muss die seele darüber hinaus
ein weiteres Moment besitzen. hier in der systematik des vierten Buches zeigt sich, dass der
Vergleich von Körper und seele nur unter der Bedingung stichhaltig ist, dass auch die seele ein
analogon zur ‚materiellen Trägheit‘ alles Körperlichen besitzt. – allerdings deutet sich auch
andernorts schon an, dass cicero gegenüber dem stoischen Monismus Vorbehalte hat. er nennt
z. B. in Tusc. 1,65 zwei Vermögen des geistes, die, wie er sagt, „nicht einmal bei einem gott
größer“ vorstellbar sind: memoria und inventio. Diese beiden officia oratoris sind in das streng
monistische Modell von der seele als Logos schwer einordenbar. gerade die invention als Kraft,
im Milieu der sprache schöpferisch tätig sein und damit Wirklichkeit erschließen zu können,
ist cicero dabei wichtig. Der stoiker braucht eine solche schaffenskraft nicht anzunehmen.
Der göttliche Logos ist bereits ‚vollständig‘; dass der eindruck entstehen kann, jemand sei als
redner schöpferisch tätig, ist für die stoiker eine Verkennung der Tatsache, dass dieser redner
lediglich als Mensch neues Wissen hinzugewinnt (wenn die sätze wahr sind). Vgl. auch Lévy
1992, 472–480 („Monisme ou dualisme de l’âme?“).
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 111
Bloße Darlegung einer systematik von Begriffen kann nach ciceros Überzeugung
nur schwer einen echten Wandel in der auffassung bewirken. ohne einsatz redne-
rischer Mittel gelingt kein aufgriff einer proposition in einer Weise, dass sämtliche
Momente der seele ‚mitgenommen‘ werden. ciceros Methode, eine Zustimmung
311 Vgl. oben seite 98. Zwar sind wie die sophistik behauptet (DK 80a1) zu jeder sache zwei
kontradiktorische aussagen möglich, aber es ist für cicero nicht allein durch (rede)technische
Mittel für die eine wie für die andere plausibilität zu gewinnen, sondern immer der sachbezug
beizubehalten. insofern ist nicht der Mensch allein das Maß der Wahrheit, und eloquentia ist die
Fähigkeit, einen gegenstand sprachlich so aufzubereiten, dass er entscheidung ermöglicht.
312 Wie nahe cicero ratio und oratio zusammenführt, zeigt Tusc. 4,60. an gleicher stelle nennt er
auch seinen adressaten: volgus, die Menge.
313 Vgl. senecas Kritik an den stoischen ‚Wortklaubereien‘ (cavillationes), die zur emotionsthe-
rapie untauglich sind: epist. 82,8.
314 Margaret graver schreibt mit gewissem recht, ciceros Darstellung sei “diffuse and rhetorical
rather than closely reasoned” (graver 167 f.), aber dabei ist schon ein bestimmter sinn von “re-
asoned” unterstellt, nämlich der von völliger argumentativer stringenz (das stoische ‘rudern‘).
Für cicero besteht der gegensatz von ‚rednerisch‘ und ‚überlegt‘ nicht in dieser Weise. ciceros
rednerischer appell an die urteilskraft der hörer oder Leser basiert auf der Voraussetzung, dass
jeder Hörer oder Leser unterschiedliche Argumente als unterschiedlich treffend empfinden wird.
cicero versucht die Übereinstimmung im Ziel der rede zu erreichen; dass dies für alle mit den
gleichen argumenten zu erreichen sein muss, ist dabei nicht vorrangig.
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 113
4,34 f.: Definitionsteil: Einstieg über den Begriff der virtus als eines beständigen und ausgegli-
chenen Zustands der seele oder als recta ratio; vom gegenbegriff vitiositas erfolgt der Übergang
zum Begriff der perturbatio animi.
35 f.: Bildhafte schilderung der Jämmerlichkeit eines in Leidenschaft (Kummer) verhafteten
Menschen und rückgriff auf den Tantalos-Mythos, um die drohende gefahr zu veranschauli-
chen, die durch die abwendung von der ratio heraufbeschworen wird.
37 f.: skizze des ideals: Der Weise ist frei von angst, sehnsucht, Ärger, schlechthin jeglicher
Leidenschaft.
38: einführung des ‚gegners‘: Die peripatetiker, die einen modus, ein Maß, für die Leiden-
schaften behaupten.315
39: Direkte anrede („tu“) an den gegner. ‚rhetorische‘ Fragen, die die antwort im sinne des
Fragestellers bereits nahe legen.
40: im Beispiel verstecktes Argument: Wenn es ein Maß für Kummer bei beruflichem Misser-
folg gibt und ein Maß für Kummer bei privatem unglück, dann wird ein Zusammentreffen von
Misserfolg und unglück den Kummer über das Maß hinaus vermehren.
Konsequenz: Nur das Maß Null kann sichern, dass der Kummer bei häufung ‚kummerwürdiger‘
ereignisse stets das rechte Maß beibehält, weil jede addition mit Null den ausgangswert nicht
erhöht.
41: schilderung der Konsequenzen im Bild des sturzes vom Leukadischen Felsen: ein Zu-
geständnis von Leidenschaften in einem Maß von über Null bricht den Damm und reißt das
aufgestellte Maß mit ein.316
42: Wechsel zu einem zweiten argument, das aus der analogie mit dem organischen entstehen
entnommen ist: etwas, das im voll entwickelten Zustand schädlich ist, trägt die schädlichkeit
bereits von der entstehung an bei sich. ein Laster bedeutet die preisgabe der Vernunft, und so
ist emotion ein Laster, im großen wie im Kleinen.
43–46: Darstellung der gegnerischen position: Leidenschaften als antriebe zum handeln.
46: Zugeständnis der plausibilität der gegnerischen position vom schüler.
47: Feststellung des redeziels: Bestimmung des veri simillimum. skeptischer Vorbehalt, um
dem Leser die eigenständige aufnahme – und Übernahme – nicht zu ersparen.
47: Erneuter Aufgriff der Definition: Jede perturbatio animi ist gegen die Vernunft. Jetzt aber
Konzentration auf das Verhältnis von Tapferkeit, die pars pro toto für die Tugend steht, und Zorn,
der pars pro toto die Leidenschaften (als eine art von Begierde; vgl. Tusc. 4,16) repräsentiert.
48–50: gegenüberstellung von Beispielen in Bezug auf die Tugend der Tapferkeit: pacideianus
(gladiator) gegen aias. Beispiele bzw. Zeugen für vernunftgemäße, folglich leidenschafts- und
damit zornfreie Tapferkeit: Torquatus, Marcellus, scipio africanus, herakles, Theseus.
51: Betonung der Tatsache, dass ein rationales urteil Basis für das tapfere handeln darstellt.
erneutes Beispiel (scipio Nasica).
315 Vgl. ac. 2,135. Dort findet sich auch ein ausdrücklicher Vorverweis auf diese Auseinanderset-
zung hier in den Tusculanae Disputationes. – Die von cicero skizzierte position der peripatetiker
ist nicht identisch mit der von aristoteles in EN ii 1106b18–23. insofern ‚legt sich cicero seinen
gegner zurecht.‘
316 Für graver (165) ein eigenständiges argument: Der menschliche geist habe keinen inneren
Mechanismus, um die emotionale Bewegung zu stoppen. Dagegen spricht aber etwas die von
cicero zugestandene und in den Tusculanen ja gerade praktizierte Therapie- und sogar auto-
therapiemöglichkeit per litteras, vgl. Att. 12,13 und seneca, epist. 85,9–13.
114 3. Therapeutischer Logos
52: steigerung des Zeugenaufrufs durch anführung seiner selbst als authentischster testis.
Beispiele für das abstoßende des Zorns aus der Dichtung: achilleus, agamemnon, der rasende
aias.
andeutung eines arguments: Das Lob des Zorns unter der Begründung, dass er Wucht im han-
deln schaffe, ist unzureichend, weil Wucht im handeln auch durch Zustände erleichtert wird,
die von allen als unpassend eingeschätzt werden (wie die Trunkenheit).
53: Alle Formulierungen der Definitionen von Tapferkeit zeigen, dass die Emotionalität keinen
Bestandteil der Tapferkeit darstellt. Diese Definitionen decken den „verhüllten“ Begriff (notio
tecta) der Tapferkeit, den wir in uns tragen, auf. Folgerung: es gibt ein intuitives Wissen von der
emotionslosigkeit der Tapferkeit (und der Tugend schlechthin), das man sprachlich aufzeigen
kann (wie in einer sokratischen Maieutik).
54: Verkürzende Tirade: Die stoiker behaupten mit recht, dass die Nicht-Weisen wahnsinnig
sind, weil auch latente emotionalität, die aktual nicht zum Vorschein tritt, fehlerhaft ist und bei
geeignetem anlass sichtbar wird. Verdeutlicht mit „kynisierendem Vergleich“ (gigon [Komm.]
544).
andeutung eines arguments in der ‚rhetorischen Frage‘: Die utilitaristische Begründung der
emotionalität ist falsch: Der Zorn, der im Krieg noch nützlich sein kann, wird sich im eigenen
hauswesen gegen Frau, Kinder und Dienerschaft richten. Der Nutzen der Tapferkeit im Krieg
lässt sich ohne Zorn erreichen; die gefahr des schadens durch den Zorn ist damit aber ausge-
schlossen.
problematischer etymologischer Beleg für die hässlichkeit des Zorns aus den Wörtern mores
und morosus.
55: emotionalität kann aber zielgerichtet eingesetzt werden. Das Vortäuschen von Zorn wird
gebilligt, um ein Ziel (in der rede) zu erreichen. es fehlt der rechtfertigende hinweis, dass dieses
Ziel offenbar ein rational begründbares sein muss.
ausweitung von Zorn und Tapferkeit zu den übrigen emotionen; Begierde (libido) und rationales
streben (studium) sind begrifflich und sachlich zu trennen.
Methodischer rückgriff auf die rolle des Weisen: Die causa ist nicht die emotionalität des
gewöhnlichen Menschen, sondern des constans ac sapiens vir. es geht um die Bewertung der
emotionalität schlechthin, nicht um ihre instrumentelle Nutzbarmachung, z. B. von den rhe-
toren.
56: Wechsel zur emotion des Kummers und seiner unterarten: Nicht selbst in Kummer zu
verfallen ist richtig, sondern den Kummer des anderen zu erleichtern. Die Tugend (z. B. groß-
zügigkeit) setzt emotionalität (z. B. Kummer, hier die unterart: Mitleid) nicht voraus.
argument: Nicht der emotionale Zustand führt zum Ziel, sondern das zielgerichtete, der ratio-
nalität verpflichtete Handeln, das der emotionalen Begleitung nicht bedarf.
57: Zusammenfassende spitze: 1. Latente emotionalität führt auch zum aktualen ausbruch. 2.
Die Weisheit ist das Wissen um die göttlichen und menschlichen Dinge und insofern göttlich. Das
göttliche ist das Konstante und stetige, die emotionalität ist unstet und daher dem göttlichen
entgegengesetzt. Damit ist die Weisheit der emotionalität entgegengesetzt. 3. emotionalität ist
gänzlich unnatürlich und verfehlt, wenn sie zuviel werden kann (Vgl. das additionsargument
von Tusc. 4,40).
Dieser inhaltliche Durchgang durch die passage zeigt, dass cicero hier gewisser-
maßen eine öffentliche gerichtsrede zur Verteidigung der Leidenschaftsfreiheit
einflicht, die nur in der zwischenzeitlichen Anrede des Schülers (Tusc. 4,46), dessen
stellungnahme und in der Darlegung des akademisch-skeptischen Bekenntnisses in
Tusc. 4,47 durchbrochen ist. Folgendes repertoire an argumenten wird variiert:
1. Analytische Argumente aus Definitionen (4,37; 53; 55; 57)
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 115
Der abschnitt Tusc. 4,58–84 stellt gewissermaßen den Dreh- und angelpunkt der
Tusculanae Disputationes dar. cicero selbst lobt zweimal den aufbau der gesprächs-
reihe von der disputatio des ersten Buches an bis hin zur jetzt erreichten position.320
Keine zufällige anordnung habe den gang der vier gespräche bestimmt – und auch
das fünfte wird sich nicht zufällig anschließen –, sondern die ratio (Tusc. 4,83)
selbst erforderte diesen aufbau. aber nicht nur das Verhältnis der in den jeweiligen
Büchern geschilderten gespräche zueinander, auch der innere aufbau der Bücher
selbst folgt einer ratio. Das vierte Buch begann mit der exposition eines ideals, des
Weisen, verteidigte dann diese exposition gegen einwände und schließt nun – wie
man heute sagen würde – mit der ‚anwendung des theoretisch erlernten‘ auf die
situation des durchschnittlichen Menschen:
„aber da ich vermute, dass Du nicht so sehr nach dem Weisen als vielmehr nach Dir selber fragst
(denn von jenem bist Du überzeugt, er sei von allen Leidenschaften frei, und Du selbst möchtest
soweit kommen), so wollen wir prüfen, welches gewicht die arzneien haben, die die philosophie
anwendet, um die Krankheiten der seele zu heilen.“ (Tusc. 4,58; Übers. gigon)
Das ideal des Weisen, wie es im anschluss an die stoiker formuliert worden war,
wird also keineswegs aufgegeben oder relativiert, aber es muss der punkt gesucht
werden, von dem aus der Nicht-Weise einen Ansatz finden kann, in Richtung seines
ideals zu gelangen. Die erste Voraussetzung dabei heißt:
„Loquimur nunc more communi.“ („sprechen wir nun auf die allgemeine Weise”; Tusc. 4,66)
Die Logos-Therapie der seele ist Therapie im Milieu der sprache. um wirksam
werden zu können, muss die sprache gesprochen werden, in der die seelischen
inhalte formuliert sind. Die sprache der stoiker versucht die (esoterische) sprache
des ideals, des Weisen, nachzubilden. als Therapiesprache ist sie untauglich: Der
Weise bedarf der Therapie nicht, und für den ihrer bedürftigen Nicht-Weisen bleibt
sie unverständlich und auch zum Teil unakzeptabel.321 ausgangspunkt für den nor-
malen Menschen muss die normale alltagssprache sein.
Die einsicht des existentialismus, dass das menschliche „Dasein ein sein in
situationen ist“322, nimmt cicero vorweg, wenn er betont, dass nicht jede therapeu-
tische Maßnahme jeder psychischen Leidenssituation angemessen ist (Tusc. 4,59).
Das sein in situationen erfordert die große rolle der urteilskraft im therapeutischen
prozess. Nicht jede ratio taugt für jegliche situation. Die verschiedenen Therapie-
ansätze lassen sich allerdings in hierarchischer ordnung gliedern:323
1) Widerlegung der (Wert-)proposition, die eine einzelemotion fundiert.
2) Zustimmung zu einer proposition, die die Berechtigung einer einzelemotion
bestreitet.
3) Zustimmung zu einer proposition, die die Berechtigung aller emotionen best-
reitet.
3) stellt zweifellos den radikalsten schritt dar, so dass man annehmen könnte,
dass cicero ihn im Therapieprozess für den Nicht-Weisen als einen eher nachran-
gigen behandeln könnte. Dem trägt der aufbau der Tuskulanen in gewisser Weise
auch rechnung, weil ja mit der Therapie von einzelemotionen in den ersten Büchern
begonnen wird. Letztendlich aber plädiert er im vierten Buch besonders für die er-
zeugung einer haltung, die sämtliche emotionen als unberechtigt betrachtet:
„Jede [...] Leidenschaft mag durch die Beruhigung der seele beseitigt werden, nämlich dadurch,
dass du darlegst, dass das, woraus Lust oder Begierde entstehen, kein gut ist, und das, woraus
Furcht und Kummer entstehen, kein Übel ist; doch ist sicherlich nur dies eine sichere und ei-
gentliche heilung, wenn du lehrst, dass die Leidenschaften an sich fehlerhaft sind und nichts
Natürliches oder Notwendiges haben.“ (Tusc. 4,60; Übers. Kirfel)324
Der entscheidende Vorteil der dritten philosophischen Therapiestufe liegt darin, dass
sie unabhängig ist von der güterlehre einer bestimmten philosophischen richtung.
ganz gleich – so Tusc. 4,62 – ob man stoische, epikureische oder akademisch-peri-
321 cicero stehen hier vor allem die sprachregelung der stoiker, nur das sittliche gut ein ‚gut‘ und
nur das sittliche Übel ein ‚Übel‘ zu nennen, vor augen.
322 Karl Jaspers: Was ist der Mensch? Philosophisches Denken für alle, München 2003, 132.
323 Vgl. oben 3.2. seiten 93 f.
324 cicero wiederholt die These in Tusc. 4,62, wobei die Begierde pars pro toto für alle Verwir-
rungen der seele steht: „Deshalb soll man zunächst bei der Begierde selbst, wenn es nur darum
geht, sie zu beseitigen, nicht danach fragen, ob das, was das Begehren erregt, ein gut ist oder
nicht, sondern es muss das Begehren selbst beseitigt werden.“ (Übers. Kirfel)
3.4. Das vierte Buch der Tusculanae Disputationes 117
patetische Voraussetzungen hinsichtlich der Frage, was denn ‚gut‘ sei, billigt, kann
man darin übereinstimmen, dass die emotionale Verwirrung der seele ihrerseits
nicht gebilligt werden sollte.325 es zeigt sich hier einmal mehr, dass cicero immer
auf der suche nach integrationsmöglichkeiten der verschiedenen philosophischen
schulrichtungen ist und gerade solche punkte anstrebt, an denen er die Konvergenz
der ansonsten divergierenden systeme sieht. aber dieser Konvergenzpunkt hat auch
anhalt in der erfahrung:
„so sehen wir,“ sagt cicero, „dass der Kummer selbst gemildert wird, wenn wir den Trauernden
die schwäche ihrer verweichlichten seele vorwerfen und wenn wir die Würde und Beständigkeit
derjenigen loben, die das Menschliche ohne aufregung ertragen.“ (Tusc. 4,60; Übers. Kirfel)
Nun kann man über diese erfahrung und auch über ‚gegenerfahrungen‘ streiten,
wichtig ist hier aber, dass cicero erfahrung unbedingt in das therapeutische Verfah-
ren eingebunden sehen will. Die Lehrsätze der philosophischen schulen auf einen
Konvergenzpunkt hin abzugleichen, ist eine Wurzel, aus der sich der Baum cice-
ronisch-philosophischer Methode speist, eine andere muss in der erfahrung liegen.
aus dem Zusammenwirken von philosophischer Vernunft und situationsangepasster
erfahrung entsteht aber erst dasjenige, was man ‚eine philosophische Therapie der
seele‘ nennen kann. sie ist also nicht nur eine heilung durch Vernunft, wenn Ver-
nunft das Vermögen der prinzipienbildung und -operation bedeuten soll, sondern
eine heilung durch urteilskraft als demjenigen Vermögen, das aus den prinzipien
und aus erfahrung eine situationsangepasste Logos-Therapie durch den rechten
satz anzuwenden vermag. Die prinzipien, die cicero in rechnung stellt, sind die
stoischen. aber was er zu entwerfen versucht, ist ein Versuch, die prinzipien, die die
stoiker anhand eines ideals entwickeln, auf die gegebenheiten des gewöhnlichen
Menschen anzuwenden, der ‚in der Welt‘ einem nicht-idealen Kontext und darin
auch einer nicht-idealen seelischen Verfassung ausgesetzt ist. Dieser Versuch lässt
sich nicht vollständig in einen Text ausschreiben. Da die Verfassungen der heilungs-
bedürftigen seelen unterschiedlich sind (Tusc. 4,81) und die erfahrung eine große
rolle in der auswahl aus den variae curationes spielt, lässt sich nicht alles in einen
‚toten‘ Text fassen: so hat sich cicero beim Versuch, seine Trauer über den Tod der
Tochter zu heilen, über die Vorschrift des chrysipp hinweggesetzt und alle mög-
lichen arten von heilung versucht (Tusc. 4,63 und 3,76). aber es gibt eine zentrale
Komponente, die jedem Therapieversuch zugrunde liegen muss: Die Überzeugung,
dass die Verwirrung der seele auf Meinung und Freiwilligkeit beruht (Tusc. 4,76;
4,83). Deshalb ist sie therapierbar:
„Die Natur war dem Menschengeschlecht gegenüber nicht so unbarmherzig und feindlich, dass
sie zwar für die Körper so viele heilsame Dinge, für die seelen aber keines gefunden hätte; um
sie hat sie sich dadurch noch mehr verdient gemacht, dass die hilfe für die Körper äußerlich
angewandt wird, das heil der seelen aber in ihnen selbst eingeschlossen liegt.“ (Tusc. 4,58;
Übers. Kirfel)
Die seele ist zur selbsttherapie fähig. Die annahme dieses satzes ist selbst ein the-
rapeutischer schritt und ein unverzichtbarer dazu. Deshalb wird er auch von allen
schulen unabhängig von ihren jeweiligen ontologien als Voraussetzung und Mittel
326 Tusc. 4,62: „Quare omnium philosophorum, ut ante dixi, una ratio est medendi, ut nihil, quale
sit illud quod perturbet animum, sed de ipsa sit perturbatione dicendum.“ (Übers. Kirfel: „Des-
halb wenden alle philosophen, wie ich oben sagte, als einzige heilmethode an, dass man nichts
darüber sagen soll, wie beschaffen das ist, was die seele aufwühlt, sondern dass man nur über
die Leidenschaft selbst sprechen soll.“) Nicht die Beschaffenheit des Leidenschaftsauslösers ist
das erste, das der ‚philosophische patient‘ (an)erkennen muss, sondern die Therapiefähigkeit
der Leidenschaften selbst.
327 Die Freiheitsformel, wie er sie später in De fato verwendet. Vgl. oben seite 47.
328 Tusc. 4,72: „Die Stoiker aber sagen, dass auch der Weise lieben werde, und definieren die Liebe
selbst als ‚Versuch, Freundschaft zu schließen auf grund des anblicks der schönheit‘“ (Übers.
Kirfel).
329 Vgl. dazu off. 1,88, wo cicero u. a. vor Zorn bei Bestrafung warnt, mit dem hinweis, so sei die
rechte Mitte beim strafen – für die die peripatetiker mit recht (recte) eintreten – nicht einzu-
3.5. Das dritte Buch 119
Tusc. 4,82–84 nochmals deutlich: Das Bewusstsein der Freiwilligkeit und Therapier-
barkeit der Leidenschaften und ihrer Fundierung auf nicht ausreichend überlegten
Zustimmungen zu propositionen in vorschnellen Meinungen. Die philosophie aber
ist die geeignete Medizin für die seele.
cicero bespricht im ersten und zweiten Buch der Tusculanen Themen, die gewisser-
maßen der seele äußerliche Dinge oder umstände behandeln. Mit dem Übergang
zum dritten Buch vollzieht er einen qualitativen schritt: Jetzt ist die Kognition, der
geistige Vollzug, der bislang element der erörterung, aber nicht deren gegenstand
war, selbst objekt des Überlegens. Die seele (animus) kommt in die komplexe
situation, sich selbst zu betrachten und über sich selbst ein urteil fällen zu müssen
(Tusc. 3,1). cicero ordnet zur Führung des Lesers, wohl auch zu seiner eigenen,
die Fragestellungen der Tusculanen so an, dass sie gewissermaßen Verinnerli-
chungsschritte darstellen. Vom Thema Tod, der geradezu ein ‚externes‘ ereignis ist,
führt der Weg über den vom Menschen als sinnesdatum nicht in Mittelbarkeit zu
bringenden körperlichen schmerz zu Überlegungen hinsichtlich des Überlegenden
selbst, zur Reflexion der Seele über die Seele. Diese Anordnung bemüht sich also um
‚didaktische‘ oder eben ‚therapeutische‘ Folgerichtigkeit. Der sache nach steht die
auffassung über die seele vor der auffassung über externe gegebenheiten, denn erst
aus dem Wissen um den Betrachter selbst kann eine adäquate einschätzung dessen
geschehen, was als objekt betrachtet wird. erst wenn der Mensch zu einer auffas-
sung über sich selbst gelangt, kann er zu einer angemessenen auffassung über seinen
Tod gelangen. Für den therapeutischen ansatz umgeschrieben heißt das: erst die
richtige seelische Disposition lässt die seele ein richtiges ‚Bild‘ dessen gewinnen,
halten. im sinne der Mittleren stoa ist hier also peripatetisches und stoisches gedankengut
integriert, das cicero in den Tusculanen zur Kontrastierung des therapeutischen Modells noch
streng gegenüberstellt. Dass gegen ende des 4. Buchs der Tusculanen der Zorn noch erwähnung
findet, ist der positiven Rolle, den diese Emotion bei den Peripatetikern spielen kann, geschuldet.
cicero versucht nochmals zu erklären, dass jede handlung der Vernunft, d. h. der Zustimmung
zu einer rechtfertigbaren proposition, entspringen muss und die emotion dabei keine kausale
rolle spielt. Dann erübrigt sich auch das Missverständnis, das z. B. otto apelt in seinen Vorbe-
merkungen zu senecas De ira zum ausdruck bringt, wenn er schreibt: „sie [die stoiker] kennen
keine unterscheidung zwischen edlem und unedlem Zorn, zwischen gerechter entrüstung und
wütender rachsucht. ist es etwas anderes als Zeichen eines edlen herzens, wenn einer beim
anblick der Misshandlung eines alten, schwächlichen Vaters durch seinen ungeratenen kräftigen
sohn dem ersteren voll Zorn zu hilfe eilt? Dies nur einer von tausend Fällen, in denen es sich
um gerechte entrüstung handelt. Die stoiker aber machte ihr schuldogma taub gegen alle Über-
redungskraft der Tatsachen“ (seneca, Philosophische Schriften, Vollständige studienausgabe,
Band 1, Leipzig 1923, ND: hamburg 1993, 62). auch der stoiker eilt dem Vater zu hilfe; aber
ihn motiviert die Vernunft und nicht die emotion – wie es übrigens wohl auch bei einem recht
verstandenen aristotelismus der Fall wäre.
120 3. Therapeutischer Logos
was außerhalb ihrer selbst ist.330 Das proömium beschreibt eindringlich, weshalb
eine solche herbeiführung der richtigen seelischen Disposition überhaupt nötig ist:
Soziale Einflüsse haben den richtigen Zustand – d. h. die richtigen Urteile – der
Seele korrumpiert. Soziale Einflüsse veranlassen die individuelle Seele, Propositi-
onen glauben zu schenken, die diese Zustimmung nicht verdienen.331 Die struktur
der propositionen ‚in‘ einer seele wieder zu ‚begradigen‘, richtig zu stellen, das ist
die aufgabe echter seelen-, also psychotherapie, und dazu ist nur die philosophie
in der Lage.
Noch einmal etwas anders angesetzt: ciceros eigenem Bekunden nach setzen
sich die Tusculanen einen Weg zum „glücklichen Leben“ (ad beata vivendum, div.
2,2) zum Ziel. Die ‚Turbulenzen unserer seele‘ sind zweifellos ein hindernis auf
diesem Weg, ja mehr noch: sie sind geradezu das gegenteil des glücklichen Lebens.
glücklich zu leben heißt, eine von Turbulenzen oder irritationen freie seele zu ‚be-
sitzen‘. ciceros besonderes anliegen im dritten Buch ist es zu zeigen, dass nicht die
Natur, sondern die seele selbst sich den Weg zu ihrer ‚störungsfreiheit‘ verstellt. Der
geist aber (mens), der die seele (animus) von Natur aus beherrscht (Tusc. 3,11)332, ist
damit in der Lage, das gleichmaß in dieser wieder herzustellen. Kurzum: unglück ist
kein unausweichlicher Zustand, in den das schicksal oder die Natur den Menschen
bringt, sondern eine seelische Disposition, die der Mensch selbst in der hand hat.
Der Weg dazu besteht in der vernünftigen einrichtung der ‚inhalte der seele‘, also
in der vernünftigen einrichtung ihrer Überzeugungen, mithin den propositionen,
denen Zustimmung gegeben wird,333 und in der ‚entfernung‘, d. h. in der Nicht-
anerkenntnis von propositionen, die den Vernunftkriterien nicht standhalten, also
in einem argumentativen prozess nicht haltbar sind. cicero selbst wiederholt diese
grundlage seines therapeutischen ansatzes in den verschiedenen Büchern.
Zielgerichtet im hinblick auf diesen ansatz, lässt cicero eine solche verfehlte
proposition vom schüler präsentieren, anhand derer eine annäherung an das Kon-
zept Logos-zentrierter psychotherapie möglich wird. sie lautet: auch den Weisen
befällt Kummer (aegritudo) (Tusc. 3,7). Der Kummer steht dabei zunächst als pars
pro toto für sämtliche Verwirrungen der seele (vgl. Tusc. 3,24), nimmt aber aus
zwei gründen eine besondere stellung ein: Zum einen quantitativ, schließlich ist
er die reaktion auf die Zustimmung zur proposition, etwas schlechtes (malum) sei
gegenwärtig, was seinerseits eine der häufigsten Fehleinschätzungen darstellt, weil
viel zu viel für ‚schlecht‘ gehalten wird, dem man aus stoischer sicht mit indifferenz
begegnen müsste. Zweitens gilt für den Kummer die eigenartige Besonderheit, dass
330 Freilich kann die interne Disposition der seele noch nicht ausreichen, um eine angemessene
Beurteilungsgrundlage für sich selber zu besitzen, denn kein Bewusstsein hielte sich wohl für
richtiger, als das derart falsche, das sich sogar noch als richtiges denkt. Vgl. platon, Symposion
204a. es bedarf des Bezuges zur Wirklichkeit.
331 Tusc. 3,2 f.; vgl. oben seite 70.
332 Diese unterscheidung deutet wieder auf einen – zumindest in aspekte – aufgeteilten seelenbe-
griff ciceros hin.
333 „est igitur causa omnis in opinione, nec vero aegritudinis solum, sed etiam reliquarum omnium
perturbationum “ (Übers. gigon: “Die ganze ursache liegt im Meinen, nicht nur für den Kum-
mer, sondern auch für alle übrigen Leidenschaften.”; Tusc. 3,24; siehe auch Tusc. 3,71).
3.5. Das dritte Buch 121
er zum Teil absichtlich angestrebt wird, weil man wiederum in einer verfehlten Mei-
nung glaubt, damit einer Verpflichtung gegenüber Mitmenschen gerecht zu werden,
beispielsweise bei deren Tod oder Krankheit.
Das pars-pro-toto-Verhältnis des Kummers zu den übrigen generischen emoti-
onen bringt cicero sogleich nach der These des schülers zum ausdruck, indem er
allgemeine Überlegungen zum – lateinischen – Wortgebrauch anstellt. Dabei recht-
fertigt er seine Übersetzung perturbationes animi für das griechische pavqh, weil
morbus doch zu ungebräuchlich wäre (Tusc. 3,7). auch im weiteren Fortgang des
Textes spielen Übersetzungs- und ausdrucksfragen eine gewichtige rolle. ciceros
eigener anspruch ist allerdings stets, der sache gerecht zu werden, und so muss
sich die Bedeutung eines Wortstreits immer danach bemessen, ob er sachlich einen
Zugewinn bringt. Der sachliche ertrag dieser Überlegungen zum richtigen Wort be-
steht hier in der Bekräftigung (nicht im argumentativen aufweis), dass „die Weisheit
(sapientia) die gesundheit der seele ist, die Torheit (insipientia) aber gleichsam eine
art von Krankheit (insanitas), was Wahnsinn (insania) und zugleich Verrücktheit
(dementia) ist“ (Tusc. 3,10; Übers. Kirfel). Da aber Weisheit – im stoischen sinne
zumindest (vgl. Tusc. 3,10) – im ‚haben‘ der richtigen Überzeugungen besteht,
falsche Überzeugungen dasjenige betreffend, was als ‚gut‘ oder als ‚schlecht‘ zu
bezeichnen ist, aber zu Verwirrungen der seele führen, kann die Torheit des Nicht-
Weisen an den emotionen erkannt werden. im umkehrschluss gilt: Der Weise ist
frei von affekten, also auch frei von Kummer.
cicero präsentiert diesen stoischen Kern seiner psychologie ohne sich ontolo-
gisch festlegen zu wollen. Zwar spricht er auch in Tusc. 3,12 f. von „etwas Zartem
und Weichem“ in der seele (quiddam tenerum atque molle), das er einräumt, um
die Möglichkeit des ‚abdriftens‘ der seele überhaupt erklären zu können, und das
oben als das Trägheitsmoment der seele dargestellt wurde334, womit sich erklären
lässt, weshalb auch außerrationale emotionstherapien erfolgreich sein können und
die rationalität nicht ganz ‚reibungsfrei‘ ein gewonnenes ergebnis in seelische
Befindlichkeit umzusetzen vermag. Eine bestimmte ontologische Verortung dieser
‚schwachstelle‘ gibt er nicht. Wichtig ist ihm nur festzustellen, dass dieses Manko
nicht die beherrschende struktur der seele betrifft, also nicht als ausrede für eine
fehlerhafte seele benutzt werden kann, sondern dass im ‚eigentlichsten‘ Bereich,
dem mit propositionen arbeitenden geist (mens von Tusc. 3,11), die richtigstellung
möglich ist. Über eine bloße Vermutung zu ciceros konkreter ontologie der seele
kann man aber hier nicht hinausgelangen, weil dem römischen autor der funktionale
aspekt der seelischen Therapie vor augen steht, nicht die ‚unpraktische‘ ontolo-
gische These.
Wie schon das vierte Buch soll auch das dritte hier unter thematischer schwerpunkt-
setzung inhaltlich nachgezeichnet werden. auch dieser dritte gesprächsgang folgt
dem in den Tusculanen üblichen aufbauschema: Nach einer stoisch-strengen Darle-
gung mit Definitionen und logischen Schlüssen folgt der weitere – im vierten Buch
‚segeln‘ genannte – ausgriff. erkennbar macht cicero dies an der ankündigung in
Tusc. 3,13 und an der Zäsur, die er in Tusc. 3,22 selbst vornimmt. Die dort genannte
stoikerkritik, ihre Darlegungen seien zu „verdreht“ (contortius), betrifft nicht sach-
liche unzulänglichkeit, sondern das Darstellungsproblem, gerade im hinblick auf
einwirkung und Veränderung der seele: Breiter (latius) und weitläufiger (diffusius)
muss man die Lage darstellen. Das macht die präzisierung der Begriffe, wie sie die
Stoiker leisten, nicht überflüssig. Im dritten Buch besteht der stoische Teil vor allem
in Kettenschlüssen (swrivth~)335.
Margaret graver hat in ihrer englischen Übersetzung des dritten Buches die
argumente klar isoliert.336 sie zählt dabei sechs stränge, die hier in anlehnung an
die Übersetzungen von Kirfel und gigon wiedergeben werden. Zunächst der erste
aus Tusc. 3,14:
[a1] Wer tapfer ist, der hat auch selbstvertrauen.
[a2] Wer selbstvertrauen hat, der hat keine angst.
[a3] Wer aber Kummer hat, der hat auch angst.
[a4] Kummer und Tapferkeit sind miteinander unvereinbar.
[a5] Niemand ist weise, wenn er nicht auch tapfer ist. (Jeder Weise ist tapfer.)
[a6] Der Weise hat keinen Kummer.
Nicht bei jeder prämisse ist ihre Wahrheit unmittelbar einleuchtend. Vor allem [a3]
und das von diesem abhängige [a4] gewinnen ihre plausibilität nur durch die un-
terstellung des stoischen affektschemas aus dem vierten Buch. cicero hält dieses
schema hier noch zurück und deutet es als Begründung für [a3] nur an: „Denn die
Dinge, deren gegenwart uns mit Kummer erfüllt, fürchten wir, wenn sie drohen
oder auf uns zukommen“ (Übers. Kirfel). Wenn man aber die richtigkeit von [a3]
annimmt, dann ist der schluss trotz mindestens einer ellipse tatsächlich gültig. aus
[a1] und [a2] folgt, dass der Tapfere keine angst hat. auf wen aber das prädikat
‚Kummer‘ zutrifft, auf den trifft auch das prädikat ‚angst‘ zu [a3]. Der Tapfere – auf
den ‚angst‘ nicht zutrifft – kann also auch keinen Kummer haben. Jeder Weise aber
ist tapfer [a5]. Folgerung: Der Weise hat keinen Kummer [a6].
argumentation B verläuft wie folgt (Tusc. 3,15):
[B1] Wer tapfer ist, ist auch großgesinnt (magni animi).
[B2] Wer großgesinnt ist, ist unbesiegbar.
[B3] Wer unbesiegbar ist, verachtet die menschlichen angelegenheiten
und betrachtet sie als unter sich liegend.
335 ursprünglich bezeichnet ein ‚sorites‘ einen Fehlschluss nach dem Vorbild: Da ein getreidekorn
keinen haufen (swrov~) bildet, bildet auch zweimal ein Korn keinen haufen. auch jedes zusätz-
liches Korn bildet keinen haufen, da ja ein Korn keinen haufen bilden kann. Letztlich bilden
beliebig viele Körner keinen haufen. – cicero kennt den ausdruck ‚sorites‘ in dieser Bedeutung
(ac. 2,49; vgl. christof rapp: sôritês (Haufenschluss). in: horn/rapp 2002, 402). Laut Brock-
haus (dtv-Lexikon, München 1995, Band 17, 91) kann ‚sorites‘ aber auch in der schlichteren
Bedeutung von „eine kettenartige Folge von schlüssen (Ketten- oder haufenschluss)“ stehen.
336 graver 8–12. ‚isoliert‘ muss man sagen, weil cicero die argumentationspunkte vielfach um
Überlegungen zum richtigen lateinischen Wort erweitert.
3.5. Das dritte Buch 123
337 Der Vergleich wird bei cicero vor allem in De finibus bonorum et malorum als eine bevorzugte
argumentationsmethode der stoiker vorgestellt (vgl. fin. 3,22; 3,24; 3,45; 3,48; 3,54).
124 3. Therapeutischer Logos
– da sich cicero von gewissen Überlegungen zur Übersetzung aus dem griechischen
ins Latein aufhalten lässt – im Text mit Tusc. 3,18:
[D1] Wer rechtschaffen ist, ist auch beständig.
[D2] Wer beständig ist, ist auch ruhig.
[D3] Wer ruhig ist, ist frei von Verwirrung (perturbatio).
[D4] Wer von Verwirrung frei ist, ist von Kummer frei.
[D5] rechtschaffenheit, Beständigkeit, ruhe und Freiheit von Verwirrung sind
eigenschaften des Weisen.
[D6] Der Weise ist also frei von Kummer.
auf zweierlei kann man hinweisen: erstens unterstellt cicero (oder cicero zusam-
men mit seiner Quelle) in [D4] den satz [c5] „Kummer ist eine Verwirrung (der
seele)“. es gibt also ein ineinandergreifen der verschiedenen argumentationen bzw.
die Voraussetzung schon erreichter ergebnisse für einen weiteren schluss. Letztlich
beansprucht die stoische systematik als ganze Vollständigkeit. Die argumentations-
möglichkeiten in ihr sind nicht nur als Kette, sondern darüber hinaus auch als Netz
anzuordnen.338 Kettenschlüsse dagegen – und damit zum zweiten hinweis – be-
sitzen meist ein gefährliche Tücke: eine als Konditional formulierte prämisse wie
beispielsweise [D1] schließt nur (die Wahrheit des Konditionals vorausgesetzt) vom
antecedens auf das consequens, natürlich nicht umgekehrt.339 aus „Wenn jemand
rechtschaffen ist, dann ist er auch beständig“ lässt sich von der rechtschaffenheit ei-
ner person auf ihre Beständigkeit schließen, nicht allerdings aus ihrer Beständigkeit
auf eine eventuelle rechtschaffenheit. im Kettenschluss kann dies zu Verwirrung
und Verirrung führen. Die stoiker allerdings verstehen prädikate wie die in [D1]
bis [D6] genannten fast immer als ‚perfektionsprädikate‘, als Zuschreibungen einer
vollkommenen eigenschaft, die mit vollem recht nur dem „Weisen“ (selbst ein
‚perfektionsprädikat‘) gebühren. Dann ist – extensional gesprochen – die Menge
der rechtschaffenen gleich der Menge der Beständigen und diese wiederum gleich
der Menge jener, die frei von Verwirrung sind. Mithin ist also ein satz wie [D1]
nicht als Konditional, sondern als Bikonditional zu verstehen: Wer rechtschaffen
ist, ist beständig, und wer beständig ist, ist rechtschaffen. in gewisser Weise hat
also die strenge sprachregelung der stoiker bereits die gültigkeit des schlusses
vorentschieden.
Da gilt auch für den fünften (Tusc. 3,19) und sechsten (Tusc. 3,21) schluss:
so wie eine hand oder ein anderes glied nicht im rechten Zustand ist, wenn es
oder sie geschwollen ist, so ist auch die seele nicht im rechten Zustand, wenn sie
aufgeblasen oder geschwollen ist.
[e1] Die seele des Weisen aber ist immer ohne Fehler, nicht aufgeblasen, nicht geschwollen.
[e2] Die seele eines zornigen Menschen aber ist aufgeblasen und geschwollen.
[e3] Deshalb ist der Weise niemals zornig.
338 Deshalb enthalten die schlüsse auch offenkundige redundanzen, wie [D5]. Denn die einbezie-
hung von „rechtschaffenheit“, „Beständigkeit“ und „ruhe“ ist eher eine nochmalige Bekräfti-
gung der eigenschaften des Weisen, als dass es zum ergebnis [D6] etwas beitragen könnte.
339 im modus ponens. im modus tollens lässt sich aus dem Nichtvorhandensein des consequens
natürlich auf das Nichtvorhandensein des antecedens schließen.
3.5. Das dritte Buch 125
[e4] Wenn aber der Weise von Kummer befallen würde, würde er auch von Zorn befallen.
[e5) Da der Weise frei von Zorn ist, ist er auch frei von Kummer.
soweit gravers rekonstruktion des fünften schlusses340. eingeschoben ist allerdings
eine Kurzpassage, die den Zusammenhang aller seelischen störungen deutlich ma-
chen und damit [e4] erklären soll:
[e3a] Zorn ist die Begierde, jemandem, von dem man verletzt worden zu sein glaubt, einen
möglichst großen schmerz zuzufügen.
[e3b] Der Zornige verfällt also auch in Begierde.
[e3c] (rekonstruktion, nicht ausdrücklich in ciceros Text) Die Nichterfüllung einer
Begierde bedeutet Kummer.
[e4] Wenn aber der Weise von Kummer befallen würde, würde er auch von Zorn befallen.
unter den Bedingungen des Konditionals ist dieser schluss auf [e4] falsch, denn nur
die gegenläufige These: Wenn der Weise von Zorn befallen würde, würde er auch von
Kummer befallen, lässt sich mit [e3a]–[e3c] belegen. cicero unterstellt hier also,
dass wer einer Leidenschaft unterliegt, allen Leidenschaften unterliegt. Das weitet
sich in Tusc. 3,20 auch auf den Neid aus:
[e5a] Wenn ein Weiser in Kummer geraten könnte, könnte er auch in Mitleid und Neid
geraten.
Die sechste argumentation (Tusc. 3,21) knüpft hier an:
[F1] Wer Mitleid hat, hat auch Neid.
[F2] Der Weise besitzt keinen Neid.
[F3] Deshalb hat der Weise auch kein Mitleid.
[F4] Wenn der Weise Kummer haben würde, würde er auch Mitleid haben.
[F5] Der Weise hat keinen Kummer.
Die schwierigkeit liegt in [F4]. Zwar ist Mitleid eine Form des Kummers, aber das
Konditional, dass derjenige, der Kummer hat, auch Mitleid habe, folgt daraus nicht.
immerhin ist denkbar, dass man eine Form oder art des Kummers nicht besitzt und
dennoch andere Formen oder arten davon. auch hier ist also vorausgesetzt, dass ein
Fehler der seele alle anderen Fehler sogleich mitbedingt. [F5] aber folgt aus [F3]
und dem zugestandenen [F4] im modus tollens.
Die sechs argumentationen wären beliebig erweiterbar. sie zeigen, dass es den
stoikern – und hier auch cicero, der zweifellos für diese schlüsse eine uns nicht
näher bekannte stoische Vorlage benutzt – darum geht, die geschlossenheit ihrer
systematik aufzuzeigen. im grunde genommen entfalten alle argumentationsgänge
nur die Implikationen der strengen stoischen Definitionen. Sie sind also in diesem
sinne analytisch. Da der Weise als fehlerfreier „erzengel“341 konzipiert wird, des-
sen Überzeugungen in einem vollkommenen, harmonischen, Verhältnis zueinander
stehen, und bereits eine falsche Meinung diese harmonie ins ungleichgewicht
bringt mit der Folge, dass sich auch weitere falsche Meinungen bilden, bedeutet
eine emotion, die ja auf einer falschen Meinung beruht, dass sich sogleich auch
jeder andere affekt bilden kann. Freilich: ciceros aufbau der Tusculanen gibt diese
systematik nicht sogleich preis. im dritten Buch führt er den Leser zunächst auf das
stoische Modell hin und unterstellt zum Teil stoische systematik, die erst im vierten
Buch ausdrücklich eingeführt wird. auf diese Weise hofft cicero, die akzeptanz
des Lesers eher erreichen zu können, als es den stoikern mit ihrer von anfang an
schematischen Darstellung gelingen kann.
Da cicero aber keinen ‚akademischen Text‘ im pejorativen sinne unseres
sprachgebrauchs verfassen will, also eine ‚bloß theoretische Diskussion‘ ohne
Lebensbedeutung, sondern es ihm vielmehr auf akzeptanz und gelebten Vollzug
dieser akzeptanz ankommt, stellt er wie im vierten Buch auch im dritten den sto-
isch-dialektischen argumentationen eine weiter ausholende342 rede bei, die die
anfangsthese des schülers, auch der Weise unterliege dem Kummer, so widerlegt,
dass eine ‚ganzheitliche‘ Zustimmung möglich ist.
sowohl der streng argumentative, ‚stoische‘, abschnitt als auch die ausgreifendere
Darlegung sind auf ein Ziel ausgerichtet: akzeptanz für eine bestimmte These (die
gegenthese zur schülerthese) zu schaffen. Dass cicero in den zweiten – weiteren,
‚rhetorischeren‘ – Teil auch Exkurse einflicht, darf über das Aufbauschema nicht
hinwegtäuschen.343 Der ausdruck ‚exkurs‘ ist dabei sogar etwas misslich, denn auch
durch die abschnitte, die wie ein philosophiehistorisches referat, z. B. zu epikur,
anmuten, versucht cicero die plausibilität für seine Zielthese zu erhöhen. Die an-
nahme der Zielthese ist aber immer eine aktive stellungnahme. Man muss, so sagt
cicero in Tusc. 3,22, „vornehmlich den Meinungen derer folgen, die die tapferste
(maxime fortis) und sozusagen männlichste Lehre und Meinung (ratio atque sen-
tentia) vertreten“ (Übers. Kirfel). es ist letztlich Frage einer entscheidung, ob man
der ratio der stoiker oder beispielsweise der ratio der peripatetiker – die im vierten
Buch ausgiebiger kritisiert werden – zustimmen will und kann. Die stoiker unterstel-
len zwar die Vollständigkeit und geschlossenheit ihrer argumentationsgänge, aber
cicero nimmt diese erkenntnistheoretisch-ontologische Voraussetzung nicht unkri-
tisch an. auch die peripatetiker haben gründe für ihre Lehre von der mediocritas
perturbationum (Tusc. 3,22), aber diese Lehre macht den Menschen schwächer, sie
ist die weniger „starke“ (fortis) und verdient daher weniger ihre annahme als die
anspruchsvollere der stoiker.
cicero geht nicht von einer gleichgewichtigkeit der argumente aus, aus der
die pyrrhonische skepsis die urteilsenthaltung folgert und fordert, sondern glaubt
nur, dass keine argumentation zugunsten einer position vollständig sein kann, wenn
man die erkenntnismöglichkeiten der ‚gewöhnlichen‘ Menschen berücksichtigt.
Damit ist das stoische Modell des Weisen als normatives oder postulierbares nicht
342 Vagabimur – so kündigt cicero sein Vorgehen ab Tusc. 3,22 an (in Tusc. 3,13). Vgl. ac. 2,66.
343 Dies u. a. auch gegen M. graver, die ciceros ankündigung (Tusc. 3,22) einer weiteren und
ausgreifenderen Darstellung der problematik als „more rhetorical presentation“ nur auf Tusc.
3,22–27 bezieht (ebenso im vierten Buch, wo nur Tusc. 4,34–57 als “rhetorical treatment” gelten
soll). graver 90 und 160 ff.
3.5. Das dritte Buch 127
außer Kraft gesetzt, es wird nur der Tatsache rechnung getragen, dass wir nicht
weise sind344 und deshalb unter unvollständigkeitsbedingungen eine praktische
Überzeugung ausbilden müssen. Jede entscheidung für eine solche Überzeugung
erfolgt aufgrund von Kriterien. Allerdings werden zwangsläufig die Kriterien, die
andere Kriterien begründen können und ihnen somit gewissermaßen hierarchisch
übergeordnet sind, an generalität zunehmen. ein solches, relativ generelles Krite-
rium, das seinerseits natürlich in argumentationen rechtfertigungsfähig sein muss,
ist das der Tapferkeit (oder ‚Männlichkeit‘) einer These. Tapferkeit ist also nicht
nur eine Tugend des handelns, sondern bereits eine des Denkens, das man selbst
als handlung (‚Denkhandlung‘) auffassen darf, wie auch dem Denken für cicero
entscheidungen, nämlich die anerkennung von propositionen innewohnen und vor-
ausliegen. er benutzt dieses Kriterium der Tapferkeit, weil er es für angemessen hält,
den Menschen an höchsten Maßstäben zu messen. Begründen kann er es in Bezug
auf die problematik des dritten Buches – wie er zumindest glaubt – mit Tradition und
herkommen, indem er ein etymologisches argument einschiebt, das verdeutlichen
soll, dass die römer schon immer der tapfereren These zugeneigt waren: aegritudo
(Kummer) steht im Zusammenhang mit aeger (krank), was nicht weniger zeige, als
dass das römische Bewusstsein den Kummer schon immer als Krankheit und damit
als vollständig abzulehnen aufgefasst habe (Tusc. 3,23). eine ‚gesunde Mitte‘ in der
Krankheit gibt es nicht. Der Vergleich von emotionen wie dem Kummer mit den
Krankheiten des Körpers bewährt sich vor allem im hinblick auf die heilung: so
wie eine körperliche Krankheit geheilt werden kann, wenn man ihre causa (ursa-
che) entdeckt, so kann auch die seelische Krankheit geheilt werden, wenn man sich
über ihre ursache im Klaren ist. cicero schließt hier den satz an, den er wie keinen
anderen im dritten Buch stark machen will und der überhaupt die therapeutische
hauptthese der Tusculanae Disputationes ausmacht:
Die ganze ursache (causa) [für die emotionen] nun liegt in der Meinung (opinio) (Tusc.
3,24).
Zunächst als These aufgestellt, erläutert cicero diesen satz mit einem Vorgriff auf
das stoische emotionsschema aus Buch iV: 345
Meinung (opinio) von einem gut einem Übel
das in der gegenwart auftritt Lust (voluptas gestiens) Kummer (aegritudo)
das in der Zukunft auftritt Begierde (inmoderata adpeti- Furcht (metus)
tio; cupiditas; libido)
Trotz dieses Vorgreifens (aus sicht des Werkaufbaus) will cicero hier nur auf den
Kummer Bezug nehmen. Bereits seine Definition innerhalb des Schemas weist eine
Besonderheit auf: es reicht nicht, vom Kummer bloß als der Meinung von einem
Übel, das gegenwärtig ist, zu sprechen, sondern es handelt sich a) um die „frische
Meinung“ (recens opinio) davon, „so dass es [b)] richtig erscheint, sich darin zu
quälen“ (Tusc. 3,25; Übers. Kirfel). Beide sondermerkmale des Kummers – ‚Fri-
sche‘ und die annahme, u. u. sei Kummer sittlich gefordert – verlassen bei cicero
die generalthese, dass alle emotionalität auf Meinung beruhe, nicht. er spricht a)
von recens opinio, d. h. von einer „neuen Meinung“ und nicht, wie es Kirfel mit
Büchner übersetzt, von einer „frischen Vorstellung“.346 Mit ‚Vorstellung‘ ist der
stoische ausdruck fantasiva verbunden, was so missverstanden werden kann, als
wäre die emotion des Kummers in der sinnlichkeit grundgelegt. Da man aber be-
stimmten sinneseindrücken nicht ausweichen kann, würde dies eine preisgabe der
generalthese ciceros bedeuten, dass emotionen in unserer hand sind, weil wir es
sind, die in einer Zustimmung einen sinneseindruck erst zur opinio wandeln. Die
Kummer begründende Meinung ist also eine, die ihre Zustimmung erst unlängst
(recens) erfahren hat.347 ebenso handelt es sich auch bei der annahme b) um eine
Meinung: derjenigen nämlich, es sei richtig – gerade im sinne von ‚sittlich richtig‘
–, dass man bei bestimmten äußeren Verhältnissen (z. B. Tod eines nahe stehenden
Menschen) bekümmert sei. Die den Kummer fundierende Meinung von einem an-
wesenden Übel wird also um diese weitere Meinung ergänzt.
Dass Cicero hier dem Kummer zusätzlich zu den Definitionsmerkmalen, die sich
aus der schematisierung der generischen emotionen ergeben, sondermerkmale bei-
stellt, macht die Frage sinnvoll, ob hier überhaupt noch von der generischen emotion
des Kummers die rede ist, oder ob cicero nicht im dritten Buch bereits von einer
Art von Kummer spricht, die er allerdings namensgleich als aegritudo bezeichnet.
Besonders zu Tage tritt dies am element b). es müsste sich, falls es ein Merkmal des
‚generischen‘ Kummers wäre, auch an allen unterarten zeigen lassen. Nun stellt bei-
spielsweise „Verzweiflung“ (desperatio, Tusc. 4,18) eine art des Kummers dar, „bei
dem es keine hoffnung auf bessere Verhältnisse gibt“, wie die differentia specifica
formuliert (Tusc. 4,18). Kann man aber ernstlich annehmen, dass hier eine Meinung
des Verpflichtet-Seins zur Verzweiflung vorliegt? Cicero diskutiert diese Frage nicht,
aber es zeigt sich doch, dass er die in Buch iii behandelten sondermerkmale des
Kummers vor allem an einer art dieser emotion abliest, nämlich an der Trauer.
entsprechend der arbeitsteilung der Tusculanen, nach der die intellektuelle halt-
losigkeit von emotionen insgesamt im vierten Buch gezeigt werden soll, und nach
der einzelne emotionsauslösende Vorurteile in den Büchern i und ii auszuräumen
versucht wird, steht das dritte Buch im Dienst der emotionstherapie einer einzelnen
emotion, nämlich des Kummers. entsprechend nimmt sich cicero in seinen thera-
peutischen Überlegungen die besonderen Merkmale des Kummers und nicht die mit
den übrigen emotionen geteilten eigenschaften vor.
cicero ruft nochmals in erinnerung, was das Ziel (propositium) der ange-
stellten Überlegungen ist: „depellamus aegritudinem“ („Wir wollen den Kummer
vertreiben“; Tusc. 3,25). in den Begriffen der Philonos dihairesis kann von einem
‚negativen therapeutischen Logos‘ gesprochen werden. Nachdem cicero Bilder aus
Drama, Mythos und griechischer und römischer geschichte vor augen gestellt hat,
um das elend des Kummers zu zeigen (Thyestes, aietes, Dionysios der Jüngere,
Tarquinius) und somit nochmals auch mit rednerischen Mitteln die Notwendigkeit
einer ‚Kummertherapie‘ aufzeigte (Tusc. 3,26 f.), kann er zu den drei wichtigsten
von ihm favorisierten heil- und präventionsmitteln übergehen: 348
a) praemeditatio
b) Bedenken der condicio humana
c) Einsicht in die Absurdität der Vorstellung einer Verpflichtung zum Kummer
alle drei Methoden kommen darin überein, dass sie die Zustimmung zu propositi-
onen verändern oder schaffen wollen. es sind also in diesem sinne ‚kognitive psy-
chotherapien‘. in Tusc. 3,59 grenzt cicero diese rationalen Methoden ausdrücklich
ab gegen die außerrationale heilung durch die Zeit.
3.5.4.1. praemeditatio
an der stelle Tusc. 3,28 wiederholt cicero die grundthese, dass Kummer dann
entstehe, „wenn etwas so zu sein scheint, dass wir meinen, ein großes Übel sei da
und bedränge uns“ (Übers. Kirfel). Diese These sei perspicuum, also deutlich, klar,
offensichtlich. im grundzug ist sie nicht nur stoisch, sondern auch für die epikureer
akzeptabel. Deren Lehrer aber, die Kyrenaiker, bringen dagegen ein zusätzliches
element ein: Kummer wird nicht durch jedes Übel hervorgerufen, sondern nur durch
ein unerwartetes (insperatus) und unvermutetes (necopinatus). cicero mag sich der
ausschließlichkeitsbedingung, dass nur solche Übel Kummer verursachen, nicht
anschließen, aber auf die Verstärkung des Kummers habe dieser Faktor tatsächlich
nicht unbedeutenden Einfluss. Die auf der Berücksichtigung dieses Faktors auf-
bauende ‚Medizin‘ ist ein präventives instrument: das Vorbedenken kommender
Übel (praemeditatio futurorum malorum; Tusc. 3,29). Die geschichte dieses heil-
mittels verfolgt cicero über euripides zu anaxagoras zurück. es geht darum, den
Menschen in seine konkrete situation einordnen zu lernen und dabei zu bedenken,
welche gefahren und welches unglück jedem Menschen aus dieser menschlichen
situation heraus zustoßen können: Was dagegen „an gutem wider erwarten eintritt,
das soll man als gewinn verbuchen“ (Übers. Kirfel), so zitiert cicero zustimmend
aus dem Phormio (246) des Terenz. Dass diese „Waffe der Kyrenaiker“ gegen den
Kummer hilft, beweist für cicero einmal mehr, dass nicht die Natur ursache unserer
seelischen Krankheiten ist, sondern die Meinung (opinio).
gegner der praemeditatio ist epikur. ihm zufolge macht es keinen sinn, künf-
tiges unheil vorauszudenken, vielmehr gelte es dann, wenn ein Übel vorliege, den
Blick auf all das angenehme und Lustvolle aus früheren Zeiten zurückzulenken349
348 es sind die ‚wichtigsten‘ Therapiemethoden in Besonderheit des Kummers. Natürlich liegt für
jede Emotion in der Reflexion auf die Güterlehre und die Unhaltsamkeit eines unterstellten Gutes
oder Übels der Kardinalsweg zur heilung. Für Kleanthes schien dieser Weg auch auszureichen
(Tusc. 3,76), für cicero nicht: „Denn Kleanthes tröstet ja einen Weisen, der des Trostes nicht
bedarf“ (Tusc. 3,77; Übers. Kirfel).
349 Vgl. fin. 1,56.
130 3. Therapeutischer Logos
und seine hoffnung auf künftige Lust zu richten. Die aufmerksamkeit der seele soll
in keinem Fall auf ein Übel gelenkt werden.
cicero verteidigt die Technik des (Voraus-)Bedenkens, indem er sie sogar noch aus-
weitet: Nicht nur eine praemeditatio des zukünftigen schlechten soll sie sein, son-
dern eine meditatio condicionis humanae. Das Bedenken der Natur der Dinge, der
Wechselfälle des Lebens und der schwäche des Menschen bringt dreifachen Trost,
so cicero (Tusc. 3,34): 1. „Weil ihm nichts widerfährt außer woran er schon lange
gedacht hat, es könne ihm widerfahren, eine Überlegung, die allein jedes unglück
besonders lindert“, 2. „weil er erkennt, dass man menschliche Dinge auf menschliche
Weise ertragen muss“, und 3. „weil er sieht, dass es kein Übel gibt außer der schuld,
dass dann aber keine schuld vorliegt, wenn sich etwas ereignet hat, was nicht in den
händen der Menschen liegt“350 (Übers. jeweils Kirfel).
Während die praemeditatio eine präventive Maßnahme darstellt, die künftigen
Kummer verhindern oder lindern kann, ist die hier angesprochene meditatio der
menschlichen situation eine ‚Medizin‘ auch im augenblick des Kummers.351 Kar-
neades soll der Meinung gewesen sein, ein solches Bedenken der condicio humana
würde den Menschen erst recht in Kummer und Traurigkeit treiben (Tusc. 3,59).
cicero aber hält ausdrücklich – mit chrysipp offenbar – dagegen: Jeder soll sich
klarmachen, dass er das tragen muss, was dem Menschen zu tragen aufgegeben ist,
und was – so eine erweiterung des arguments – schon viele vor ihm zu tragen im-
stande waren. Die Tatsache, dass andere etwas leisten können, beweist zumindest die
Möglichkeit dieser Leistung.352 aufgabe der Meditation ist also eine ‚stärkung des
geistes‘, eine Verinnerlichung der ‚stärksten‘ sätze durch Wiederholung und einprä-
gung. Die bloße argumentative richtigkeit garantiert die einprägung nicht, sondern
Wiederholung, Vergleiche und Beispiele lassen einen satz erst ‚ganzheitlich‘, d. h.
hier in der seele mit allen ihren – auch trägeren – aspekten, aufnehmen. Man wird
cicero nicht unrecht tun, wenn man ihn so versteht, als müsse man in der kognitiven
psychotherapie auch sich selbst gegenüber rednerisch – oder mit einem Kunstwort
ausgedrückt: ‚oratorisch‘ – werden; nicht zur Täuschung, sondern zur Verfestigung.
Dass die Methode dabei erfolg, d. h. in diesem Falle erleichterung des Kummers
mit sich bringt, reicht als rechtfertigung aus. eine metaphysische These zur struktur
der seele bringt zum erfolg nichts Zusätzliches bei. Deshalb ist ciceros Distanz zu
350 Friedrich schillers schlusschor aus Die Braut von Messina nimmt diese sätze antiker Überzeu-
gung auf: „Das Leben ist der güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die schuld“ (Zeilen
2838 f.).
351 Vgl. Tusc. 3,52: Die praemeditatio der Kyrenaiker reicht nicht aus, weil sie gegenwärtigen
Kummer nicht mehr lindern kann und möglicherweise diesen noch verstärkt, indem man sich
schuldig fühlt, sie nicht rechtzeitig angewandt zu haben.
352 Vgl. schon Tusc. 3,57. in fam. 4,6 betont cicero aber die singularität seines eigenen Leides und
bedauert, dass er deshalb keine rechten Vorbilder habe.
3.5. Das dritte Buch 131
Dass cicero sich mehrmals wiederholt, hat selbst therapeutischen sinn. so kann er
sich die fundamentalsten sätze vor augen halten und einprägen. in Tusc. 3,61 betont
er abermals, dass der Kummer beseitigt werden kann, wenn seine ursache geklärt
(explicata) ist: „sie ist aber nichts anderes als die Meinung (opinio) und das urteil
(iudicium357) von einem großen Übel, das gegenwärtig ist und uns bedrängt“ (Übers.
B.K.; vgl. Tusc. 3,25 und 28). ursache des Kummers ist also die verfehlte Zustim-
353 ganz abgesehen von den lobenden Worten für das praktische Verhalten vieler epikureer in Tusc.
3,50.
354 Vgl. Tusc. 3,74: „Das ständige Bedenken (cogitatio diuturna), dass in der sache kein Übel liegt,
heilt den schmerz [gemeint ist der schmerz, der im Kummer liegt], nicht die Dauer der Zeit
selbst“ (Übers. Kirfel).
355 im sinne des satzes aus fin. 3,58: „est enim aliquid in his rebus probabile, et quidem ita, ut eius
ratio reddi possit. “ Übers. Merklin: „es gibt in diesem Bereich ja etwas plausibles, und zwar
in dem sinne, dass eine vernünftige Begründung dafür gegeben werden kann.“ in Tusc. 4,24
spricht cicero von der anwendung der ratio als Socratica medicina.
356 „cupio repelli. Quid enim laboro nisi ut veritas in omni quaestione explicetur?“ Übers. Kirfel:
„ich möchte geradezu widerlegt werden! Denn um was anderes bemühe ich mich, als dass die
Wahrheit bei jeder Frage entwickelt wird?” (Tusc. 3,46).
357 cicero gebraucht hier den ausdruck iudicium nicht im strengen terminologischen sinn, denn
dort darf als urteil nur eine wahre proposition, der zugestimmt wurde, gelten. Mit der Verwen-
132 3. Therapeutischer Logos
mung zu einer proposition, die ein Übel als anwesend beschreibt. Folglich kann
über eine Korrektur dessen, was man als Übel oder gut verstehen sollte, auch der
Kummer beseitigt werden. Die verfehlte Meinung das anwesende Übel betreffend
wird oft aber noch durch eine zusätzliche opinio verstärkt: Es sei eine Pflicht (offi-
cium), das, was sich ereignet hat, in Kummer zu ertragen. Besonders deutlich wird
dies beim Tod eines wichtigen oder nahe stehenden Menschen, wenn die Meinung
herrscht, es sei eine schuldigkeit gegenüber dem Verstorbenen, möglichst großen
Kummer und große Betrübnis zu zeigen. Äußere handlungen wie Zerkratzen der
Wangen oder schlagen der Brust sollen die als notwendig angesehene Verzweif-
lung nach außen deutlich machen (Tusc. 3,62 ff.). Teilweise ist bei der Zustimmung
zu solchem handeln und Denken auch ein “weibischer aberglaube” (superstitio
muliebris) am Werk, als könne man die götter eher besänftigen, wenn man ihnen
die eigene erschütterung präsentiert (Tusc. 3,72). auf jeden Fall aber zeigt dieses
Verhalten, dass es eine offenkundig freiwillige (voluntarius358) entscheidung zum
Kummer, also zu einer perturbatio animi, gibt. indem cicero in seiner Darlegung
sich selber, der Figur des schülers im Dialogkontext und dem Leser klarzumachen
versucht, dass es auf einer entscheidung beruht, ob man in einen emotionalen Zu-
stand gerät oder nicht, erhöht er den Druck zugunsten einer bewussten gestaltung
des ‚seelischen haushalts‘:
„ergo in potestate est abicere dolorem, cum velis, tempori servientem.“ (Tusc. 3,66; Übers.
Kirfel: es liegt also in deiner Macht, den Kummer abzulegen und den umständen zu gehören,
wenn du nur willst.)
Die Annahme, es gäbe eine Verpflichtung zum Kummer, ist für Cicero argumenta-
tiv nicht ausweisbar. im gegenteil: ein solcher Kummer ist nutzlos und vergeblich
(Tusc. 3,66). es ist zwar richtig,
„dass wir diejenigen, die uns am teuersten sein müssen, ebenso lieben wie uns selbst; dass wir
sie aber mehr lieben, ist ganz und gar unmöglich. ... eine Verwirrung im Leben und in allen
Pflichten dürfte, wenn es so sein sollte, die Folge sein“ (Tusc. 3,73; Übers. Kirfel).
cicero geht aus von der stoischen ‚oikeiosis-Lehre‘: Bereits bei der geburt stellt
sich ein affirmatives Selbstverhältnis des Menschen ein, das in kontinuierlichen
entwicklungsstufen in ein sozialverhältnis entfaltet wird. so wird aus dem frühkind-
lichen handlungsziel der selbsterhaltung das an der rationalität orientierte handeln
zum höchsten gut. in aller sozialorientierung des Tugendhaften bleibt dennoch der
Kern der selbstzuneigung erhalten. Dass jedem Menschen an sich (zuerst) liegt,
ist unabdingbare Voraussetzung für sittliches handeln. Nur so lässt sich sinnvoll
zugunsten anderer handeln. ein Beispiel: ohne die unterstellung des interesses des
ertrinkenden, nicht zu ertrinken, würde man nicht wissen können, ob die rettung
dieses ertrinken tugendhaft oder gut ist.
Kummer stellt nun augenscheinlich als Verwirrung der seele eine schädigung
des Bekümmerten dar, gewinn oder hilfe für denjenigen, dem man mit diesem
dung dieses ausdrucks lenkt cicero den Blick hinüber in den akt des entscheidens wie in Tusc.
4,65.
358 Tusc. 3,64; vgl. auch Tusc. 3,66 voluntate; 3,80 voluntarium iudicium; 3,83 voluntarium und
4,65; 76; 79; 82 f.
3.5. Das dritte Buch 133
Kummer beistehen will, gibt es aber aus dem Kummer nicht. Die Behauptung einer
Pflicht zum Kummer ist also widersinnig.
Die emotion des Kummers beruht auf der Zustimmung zu propositionen. Die fun-
damentale, ‚kummerauslösende‘, lautet dabei:
ein Übel/etwas schlechtes ist gegenwärtig.
Der grundlegendste ‚logos‘-therapeutische ansatz besteht also darin zu zeigen, dass
die proposition gar keine Zustimmung verdient, weil das angenommene Übel (z.
B. Tod oder Krankheit) nicht als solches bezeichnet und aufgefasst werden dürfte.
Kleanthes scheint diesen Weg als ausreichend für die Therapie des Kummers ange-
sehen zu haben.359
Von nur nachgelagerter Bedeutung scheint demgegenüber die offenbar von
chrysipp aufgeworfene Frage (Tusc. 3,76), ob der proposition
‚Es besteht eine Verpflichtung zu dieser Emotion‘
zugestimmt werden kann. Warum debattiert sie cicero dann dennoch?
in platons Symposion wird ein paradox angedeutet (215e–216c)360, das offenbar
in der altstoischen schule im umkreis von Kleanthes und chrysipp erst voll ausge-
faltet wurde (Tusc. 3,77; vgl. Tusc. 4,61):
Der junge alkibiades wird von sokrates auf seine Fehler in der rechten Tugend
hingewiesen. alkibiades erkennt die aufklärungschritte des sokrates an und gesteht
ein, dass seine unvollkommenheit schlecht ist oder – anders gesprochen – ein Übel
darstellt. Die Zustimmung zur proposition, dass ein Übel anwesend ist, wirft ihn in
großen Kummer.
paradox ist die situation vor allem deshalb, weil der aufklärungsprozess selber,
der ja gewissermaßen ein Weg zur Besserung ist, den Kummer erst in gang bringt.
solange dem sich verfehlenden Menschen seine Verfehlung nicht bewusst ist, emp-
findet er auch keine Traurigkeit über die Verfehlung. Mit dem Ansatz der Besserung
im sittlichen Bewusstsein wird die emotionale situation verschlimmert. cicero will
diesem problem, das stephen White als „paradox der reue“ (Penitent’s Paradox361)
anspricht, mit dem Ansetzen an der Proposition, die die Verpflichtung behauptet, we-
nigstens etwas an Schärfe nehmen. Es gelte vorrangig, der in Kummer befindlichen
Person zu zeigen, dass sie freiwillig und aus falschem Pflichtbewusstsein heraus
betrübt sei. alkibiades soll nicht so sehr auf die Tatsache, dass seine schwächen
ein Übel darstellen, blicken, als vielmehr der gegenproposition zustimmen, dass es
keine Verpflichtung zum Kummer gibt, ja dass der Kummer als Verwirrung der Seele
zu meiden sei.362 Freilich lässt cicero dann den gegensatz immer noch unaufgelöst
stehen und hat nicht mehr als eine praktische Maßregel für den augenblick erreicht.
Solange ein Mensch nicht im Stadium des Weisen angekommen ist, befinden sich
in seiner seele immer unterschiedliche propositionen in Widerspruch miteinander.
cicero plädiert dann dafür, diejenige proposition, die momentan hilfreich ist, emoti-
onal wieder einigermaßen in einklang zu kommen, zu stärken und ungünstige sätze
auszublenden. Völlig nachhaltig ist dieses Verfahren aber nicht, und in Tusc. 3,80 be-
dauert cicero auch, dass er in seiner oratio vom ideal des Weisen, in dem sich diese
probleme nicht stellen, weil dieser vollkommen handelt und denkt, abgeirrt sei.
Das „paradox der reue“, das cicero zunächst nur als einwand gegen Kleanthes’
einspurigen Therapieansatz vorbringt, macht eine schwierigkeit der Tusculanae
Disputationes insgesamt deutlich: cicero versucht, einen Weg der heilung der seele
vorzustellen und anzuwenden, der sich an einem optimum orientiert: dem ideal
des stoischen Weisen. Nun bedarf der Weise per definitionem keiner heilung seiner
seele, denn er kann eine vollkommene seele sein eigen nennen. Therapiebedarf
haben alle Nicht-Weisen, zu denen sich auch cicero zählt (ac. 2,66; Tusc. 4,63).
Für die stoiker ist der unterschied zwischen einem Weisen und einem Nicht-Wei-
sen absolut. stufungen werden nicht erlaubt. Der in seinem Verhalten sittlich weit
Vorangeschrittene hat für die stoiker keinen Vorteil vor dem Zurückgebliebenen.363
cicero aber mag schon in De finibus (fin. 4,21) diese ‚weltfremde‘ radikalität nicht
ganz akzeptieren. am Ziel eines vollkommenen Lebens ist zwar festzuhalten, aber
man muss in gewisser Weise doch anerkennen, dass es stufen und grade der sitt-
lichen ausprägung eines Menschen gibt. Wollte man die gleichmacherei der stoiker
einem Therapieversuch zur seelischen heilung zugrunde legen, würde man an der
realität scheitern. cicero weist deshalb darauf hin, dass nicht für jeden zu jeder Zeit
in jeder situation das gleiche ‚instrument‘ für die Bekämpfung der affekte hilfreich
ist (Tusc. 3,79). es ist eine sache, ein theoretisches Modell zu entwickeln, es ist
aber eine andere, die urteilskraft zu besitzen, um zu wissen, welche elemente des
Modells auf die aktuelle situation anwendbar sind. cicero vergleicht das Wirken des
psychotherapeuten mit der Tätigkeit des gerichtsredners, die er natürlich besonders
gut kannte:
„Wie wir also in prozessen (in causis) nicht immer von demselben gesichtspunkt (status) aus-
gehen – so nämlich nennen wir die verschiedenen arten der Beweisführung bei streitfällen –,
sondern uns anpassen an die Zeitumstände (ad tempus), das Wesen des streites (ad controver-
siae naturam) und an die person (ad personam), so muss man bei der Linderung des Kummers
darauf sehen, welche art der heilung (quisque curatio) jemand annehmen kann.“ (Tusc. 3,79;
Übers. Kirfel)
ein rhetorischer status (wörtl.: sicherer stand; griech. stavsi~) ist der standpunkt,
von dem aus ein argument vorgetragen wird. „auf ihm fasst zuerst einmal sozusagen
Fuß die Verteidigung, die zum Widerstandleisten angetreten ist“, so cicero in der
Topik (top. 93; Übers. Zekl). Wie in einer öffentlichen rede ein standpunkt gefun-
den werden muss, der den umständen und den hörern adäquat ist, so müssen auch
für die seelentherapie personen- und situationsangepasste Maßnahmen angewendet
werden. cicero bricht seine Überlegungen hier ab, aber die zitierte stelle macht
deutlich, dass ein theoretisches Konzept nicht völlig losgelöst von jeder erfahrung
angewendet werden kann. eine ‚absolute philosophische seelentherapie‘ gibt es
nicht, sondern immer nur eine, die der ‚Therapeut‘ ausgehend von den umständen
und seinem ‚patienten‘ entwickelt. so wie aber der redner die rednerische praxis
braucht, um sich in der rednerischen urteilskraft einzuüben, so darf man auch von
einem guten ‚heiler für die Verwirrungen der seele‘ erwarten, dass er in der prak-
tischen ausübung seine urteilskraft schulen konnte. an dieser stelle zeigt cicero im
Text der Tusculanen selbst die grenzen seines Textes auf. Die verlangte urteilskraft
bietet nicht der Text selbst, sondern er kann bestenfalls eine hilfe und stütze für
das urteilende subjekt sein, eine möglichst gute – therapeutische – urteilskraft zu
entwickeln. Dies wird aber ohne einübung und erfahrung nicht gelingen. insofern
müssen beide Momente zusammenkommen: argumentativ-theoretische auseinan-
dersetzung und praktische erfahrung.
epistemisch hat es große Vorteile, sich an einer idealgestalt, der des Weisen, zu
orientieren. Dann wird das eigentliche einer sache deutlich. Beim Kummer zeigt
sich, so cicero in seiner Zusammenfassung Tusc. 3,80, „dass das, was am Kummer
ein Übel ist, nicht naturgegeben (naturale) ist, sondern durch freiwillige entschei-
dung (voluntarium iudicium) und den irrtum in der Vorstellung (opinionis error)
entstanden ist“ (Übers. Kirfel).
Das entscheidende ist die proposition, der zugestimmt wird. Beim Kummer
kommen meist zwei propositionen zusammen: eine, die eine gegenwärtige Widrig-
keit konstatiert, und eine weitere, die eine Art ‚Pflicht zum Kummer‘ nahe legt. Beide
sind falsch, denn die Pflicht besteht nicht, und außer dem sittlich verfehlten Handeln
gibt es kein wirkliches Übel. Der schlimmste Kummer entsteht aus der annahme,
der Tod sei ein Übel, eine auffassung, die cicero im ersten Buch der Tusculanae
Disputationes zu widerlegen versucht. aber ebenso tritt die Bekümmernis über ar-
mut, ehrverlust, Verbannung, Knechtschaft, gebrechlichkeit und dergleichen mehr
ein (Tusc. 3,81) – sämtlich vermeintliche Übel, von denen sich argumentativ zeigen
ließe, dass diese Meinung über sie keinen Bestand haben kann. auf dem propositio-
nalen Kern beruhen aber alle arten des Kummers364, und die ‚Behandlung‘ der pro-
position ist das entscheidende Therapieelement.365 ‚Kummerauslösende‘ Meinungen
364 Tusc. 3,83: „sed ratio una omnium est aegritudinum, plura nomina.“ Büchner, gigon und Kirfel
übersetzen ratio mit „Wesen”. gigon: „Das Wesen des Kummers ist immer dasselbe, nur die
Namen sind verschieden.“
365 cicero verstört allerdings in Tusc. 3,83 mit der Bemerkung, dass selbst bei Wegnahme des
Kummers ein Biss (morsus) und ein kleines Zusammenziehen (contractiuncula) bleiben
würden. (Vgl. Tusc. 3,13). gigon (Komm.) 524 nennt es „eminent ciceronisch, sich auch da
noch sozusagen den rückzug auf die peripatetische position offen zu halten.“ ob es wirklich
um eine Taktik ciceros geht, sich eine option offen zu halten, ist fraglich. es bleibt aber die
spannung zum stoischen Modell, vor allem auch zu der von cicero in Tusc. 3,31 erwähnten
immerwährenden heiterkeit des Weisen (sokrates), unleugbar. Wahrscheinlich bezieht sich die
Bemerkung nur auf den Kummer beim Tod (aegritudo illa maerens), und nur hier scheint cicero
einen instinktiven, natürlichen Reflex – einen „Biss“ – anzunehmen, der in so etwas wie einem
136 3. Therapeutischer Logos
sind in uns aber so verfestigt, dass die aufgabe, sie mit den „Wurzelfasern“ (fibrae
stirpium) auszureißen, schwierig ist. Die philosophie aber, so cicero abschließend,
ist zu dieser curatio in der Lage (Tusc. 3,84).
elementaren Lebensdrang aller Lebewesen begründet ist. in diesem sinne schränkt die geradezu
‚animalische‘ reaktion den stoischen Kognitivismus nicht ein. Man hat aber auch diese stelle
als frühes Zeugnis für das Propatheia-Theorem gewertet (I. Hadot und M. T. Griffin; vgl. Abel
1983, 95).
366 Vgl. Karl Jaspers: Was ist der Mensch? Philosophisches Denken für alle, München 2003,
131 ff.
3.6. Das erste Buch 137
und inneren Bestimmtheit der seele. Wenn also cicero seine schrift mit der Frage
nach dem Tod als Übel beginnen lässt, so vor allem darum, um zu zeigen, dass das
philosophieren mitten im Leben, mitten in der menschlichen existenz beginnt.367
Dass die eingangsfrage erst im Verlauf der fünf gespräche ihren auf die emotio-
nalität hin relativen standpunkt zugewiesen bekommt, widerspricht also in keiner
Weise einem sinnvollen aufbau des Werkes. Die eingangsfrage ist so natürlich in
der menschlichen existenz verankert, dass cicero sie im Dialog vom schüler ohne
weiteren rechtfertigenden Kommentar einführen lässt. es bedarf keiner Begründung,
warum jemand nach dem charakter des Todes als gut oder Übel fragen will.
Die schülerthese, der Tod sei ein malum, versucht cicero (in seiner selbstdar-
stellung als Dialogfigur) zu differenzieren, und zwar in ein Übel für die Toten und
in eines für die Lebenden, die noch sterben müssen (Tusc. 1,9). Der schüler hält in
beiden Fällen seine These aufrecht, so dass ein nächster Klärungsschritt die aus-
wirkung der These auf die Möglichkeit des beate vivere darstellt: Wenn wirklich
der Tod ein Übel ist, sowohl für die Lebenden wie auch für die Toten, dann ist das
Leben des Menschen auf ewig unglücklich (miserum). solange ein Mensch lebt, lebt
er unglücklich, weil ihm der Tod bevorsteht, und als Toter ist er unglücklich, weil
er tot ist. cicero treibt die schärfe der Fragestellung auf ihre spitze. Wenn sich die
These des schülers bewahrheitet, gibt es keine Möglichkeit, ein glückliches Leben
zu leben (Tusc. 1,9). so ist cicero also in wenigen sätzen bei der Fragestellung
angelangt, die er in div. 2,2 als die übergeordnete für die Tusculanae Disputationes
bezeichnet, nämlich der nach dem beate vivere.
Der folgende Neueinsatz richtet sich in scharfer polemik gegen die Jenseitsvor-
stellungen von Mythos und religion. Man darf annehmen, dass cicero in den Mei-
nungen der Menge zum schicksal des Menschen in der unterwelt und zum letzten
gericht eine der hauptursachen für die breite akzeptanz der schülerthese vom Tod
als Übel sieht. insofern greift hier cicero auf ein Motiv des protreptischen Logos
zurück, nämlich die soziale Korruption durch die Weitergabe falscher Meinungen368.
Schüler- und Lehrerfigur sind sich an dieser Stelle aber darin einig, dass diesen
mythisch-religiösen erzählungen kein raum gegeben werden darf, ja dass die phi-
losophische argumentation gegen diese Vorstellungen diesen möglicherweise einen
besseren rang einräumt als die ignoranz (Tusc. 1,10 f.).369 Dort, wo Beispiele aus
dem Mythos exemplarisch sachverhalte verdeutlichen können, nimmt cicero den
367 Von den existentialistischen aspekten her interpretiert Muller 1990 den arpinaten. Die aktuali-
tät ciceros sieht Muller vor allem in der zeitlosen aktualität seiner Themen. Für die Tusculanen
bedeutet dieser themenbezogene interpretationsansatz, dass die fünf Bücher vor allem durch
das äußere Kriterium ihres Bezugs zu „existentiellen Herausforderungen“ („défis existentiels“;
239) zusammengehalten werden. Vgl. auch Muller 1997.
368 Vgl. Tusc. 3,2 f.; dem Textdurchgang nach müsste man sagen: cicero greift voraus.
369 es kann sich hier die Frage nach dem Verhältnis dieser ablehnung des Mythos in den Tuscu-
lanae Disputationes zum Somnium Scipionis aus dem sechsten Buch von De re publica (rep.
6,9–29) anschließen. Die Frage geht über den hier zu diskutierenden gegenstand hinaus. aber
andeutungsweise kann vielleicht gesagt werden: Die mythischen oder religiösen Vorstellun-
gen sind nicht die grundlage für die akzeptanz von sätzen, aber bestimmte Thesen zu einem
transzendenten Lohn können als postulat aus der rationalität verbal gefordert und in der sache
erhofft werden.
138 3. Therapeutischer Logos
Mythos gerne in seine oratio auf. Wenn aber der Mythos eine ontologische Funktion
übernehmen soll, reagiert cicero mit der ablehnung eines aufklärers.
rednerisch geschickt geht cicero von den Vorstellungen des Mythos zum ersten Teil
seiner gegenrede über. Über die Frage nach dem Wohnort (locus) der seelen der
Verstorbenen provoziert er den schüler zu einer präzision der These: Die Toten seien
unglücklich, gerade weil sie keinen ort bewohnen, ja weil sie überhaupt nicht mehr
existierten (Tusc. 1,11). Die behauptete Nichtexistenz der Toten gibt nun cicero als
Lehrerfigur die Möglichkeit zu einer strengen (‚stoischen‘, ‚rudernden‘) Argumen-
tation, wie sie stets die ersten Teile der reden in den Tusculanen ausmacht:
(1) Nur von etwas existierendem kann ausgesagt werden, es sei unglücklich.
(2) Die Toten existieren nicht (mehr).
(3) Folgerung: Von den Toten kann nicht ausgesagt werden, sie seien unglücklich.
(Tusc. 1,12 f.)
Der schüler versucht durchaus gekonnt, dem Widerspruch dadurch zu entkommen,
dass er nun die Verknüpfung der prädikate ‚tot sein‘ und ‚unglücklich sein‘ auf der
sachebene, dort wo er das sein behaupten müsste, aufgibt, sie aber für eine spra-
chebene zu retten versucht. cicero fragt präzisiernd nach:
„Du sagst also nicht: ‚unglücklich ist M. crassus‘ (miser est M. Crassus), sondern nur ‚unglück-
licher M. crassus‘ (miser M. Crassus)“ (Tusc. 1,13; Übers. Kirfel).
Der schüler behauptet, genau dies ‚aussagen‘ zu wollen: miser M. Crassus. cice-
ros antwort darauf ist deshalb beachtlich, weil sie einen grundzug seines Denkens
verdeutlicht: um ein problem argumentativ behandeln zu können, muss es in einer
proposition (pronuntiatum, axivwma) formuliert sein. Nur propositionen sind gegen-
stand der Wahrheitsfrage und zustimmungsfähig. eine proposition verbindet aber
zwei prädikate im Modus des seins. Wer also das esse im sprechen weglässt, meint
es implizit doch mit oder er meint überhaupt nichts. Dann wäre miser M. Crassus
nur noch ein ausruf, ein akustisches oder optisches phänomen. Bedeutungstragend
ist aber erst der implizite oder explizite seinsbezug. entweder wird mittels der spra-
che eine Verbindung im sein behauptet oder es wird nichts behauptet. – Die Frage
nach der erkennbarkeit der richtigkeit der behaupteten Verbindung ist davon zu
unterscheiden. Der anspruch aber liegt vor: Wer etwas (mit Bedeutung) sagen will,
versucht etwas über die sache (res) zu sagen. und nur aussagen mit Bedeutung, d.
h. über res, sind überhaupt gegenstand der argumentativen prüfung. Die ordnung
der Wirklichkeit und die ordnung der sprache sind so verbunden, dass ontologisch
die Wirklichkeit der sprache vorausliegt und deshalb keine freie Konstruktion der
Wirklichkeit möglich ist, dass aber epistemisch in vielen Fällen nur über die satz-
prüfung aufschluss über die sache zu erhalten ist. in diesem sinne paart cicero
ontologischen realismus mit epistemischem skeptizismus.370
aus der anfänglichen Differenzierung der These, der Tod sei ein Übel, nach dem
Kriterium, ‚für wen‘ dies der Fall sei, hat sich bereits ein Teilerfolg erzielen lassen.
Der schüler räumt ein, dass die aussage ‚Die Toten sind unglücklich‘ nicht haltbar
ist und insofern der Tod für die Toten auch kein Übel darstellt. Damit fällt aber auch
die Befürchtung, der Mensch wäre in dauerndem unglück gefangen, denn spätestens
mit dem Tod ist ein durch diesen verursachtes unglück beendet (Tusc. 1,15).
Der zweite Teil der anfangsunterscheidung, dass der Tod für die Lebenden ein
unglück darstellt, weil sie ihm nicht entkommen können, lässt sich in einem kurzen
schluss erledigen:
(1) Was uns in kein Übel bringt, ist selber kein Übel.
(2) Der Tod ist kein Übel, weil ihm sofort die Zeit nach dem Tod folgt.
(3) Folgerung: Das sterbenmüssen ist kein Übel, weil es „bedeutet, zu dem gelangen
zu müssen, was, wie wir zugeben, kein Übel ist.“ (Tusc. 1,16; Übers. Kirfel)
Die ausgangsthese des ersten Buches ist damit bereits vollständig widerlegt. ob der
Tod ein Übel für die Lebenden sei, weil sie durch ihn nahe stehende Menschen ver-
lieren, fragt cicero hier natürlich nicht, denn es geht in dieser Frage um die emotion
des Kummers, wie sie im dritten Buch behandelt wird.
Dennoch reicht die karge, bloß rational, nicht aber rednerisch ausreichende rede
nicht hin, um zum Ziel einer therapeutischen Veränderung der seele vorzudrin-
gen.371 um eine ‚ganzheitliche‘ seelische Zustimmung zu erreichen, muss cicero
mehr und „größeres“ (maiora; Tusc. 1,16) anzielen. Dies geht allerdings nicht ohne
aufbietung rednerischer Mittel, die über das skelettierende Verfahren der stoiker
hinausführen.
Cicero wählt ein zweistufiges Verfahren: In Tusc. 1,16–82 soll nun ein ‚Überschuss‘
an argumentativem ergebnis entfaltet werden im Beleg einer These a, „dass der Tod
nicht nur kein Übel, sondern sogar etwas gutes ist.“ (Tusc. 1,16; Übers. Kirfel). Von
hier aus kann dann die schlichtere Behauptung (These B), der Tod sei kein Übel, erst
recht plausibilität gewinnen (ausgeführt in Tusc. 1,82–112). Woldemar görler hat
das Verhältnis der beiden argumentationsstufen so gefasst, dass These a als „wert-
vollere, erhabenere“ gilt und deshalb von cicero „in einem ganz eigentümlichen
sinne ‚gewollt‘“ ist.372 Das ist zweifellos richtig, und doch könnte so der Weg für
eine neue perturbatio animi ermöglicht werden:
These a (Der Tod ist ein gut) und These B (Der Tod ist kein Übel) stehen in
keinem ausschließungs-, sondern in einem integrationsverhältnis. These a schließt
These B in sich. Zunächst, und das macht vor allem eine Bemerkung des schülers
deutlich, steht die argumentation für These a im Dienst des besseren Belegs für
371 Vgl. gorman 2005, 179–190. Der sokratische Dialog nach dem knappen Frage-und-antwort-
Muster ist „psychagogically ineffective“ (179).
372 görler 1974, 21.
140 3. Therapeutischer Logos
These B. sie fordert nämlich den Lehrer cicero folgendermaßen auf, für a zu plä-
dieren:
„Wenn du auch nicht beweisen (efficere) kannst, was du willst, so wirst du doch nachweisen
(efficere), dass der Tod kein Übel ist.“ (Tusc. 1,16; Übers. Kirfel)
Die argumentation für a beinhaltet also einen gewissen ‚Überschuss‘ im hin-
blick auf das Beweisziel B. B bezeichnet diejenige These, deren akzeptanz nach dem
emotionskonzept der stoiker dafür sorgen wird, dass die Verwirrungen der seele,
die sich auf ein vermeintliches Übel stützen, also angst und Kummer, ein ende ha-
ben. in dieser hinsicht, und dies ist die Zentralperspektive der Tusculanen, bringt a
keinen Zugewinn. Für die stoiker ist der satz a ‚Der Tod ist ein gut‘ schon aus dem
einfachen grunde, dass nichts außer dem sittlich-guten ein gut sein kann, falsch.
Wer diesem satz zustimmte, würde selbst wieder in verfehlte emotionen, nämlich
in eine Freude über den Tod oder ein Begehren des Todes, geraten. rationale Freude
kann es aber nur – in einer eujpavqeia – über das gute sittliche Verhalten geben. Der
‚Überschuss‘ von a gegenüber B ist also aus stoischer sicht dafür verantwortlich,
dass mit a tatsächlich über das argumentationsziel hinausgeschossen wird.373 cicero
aber kennt auch die rednerische perspektive und weiß, dass er mit dem Beleg einer
stärkeren These die schwächere, integrierte These um so mehr stützt.
Zudem bekennt sich cicero anschließend (in Tusc. 1,17) zum probabile und
macht damit einen weiteren absetzungspunkt von den stoikern in zweierlei hinsicht
deutlich: erstens natürlich im status der rede. sie bleibt – im Übrigen ganz gleich
ob für These A oder B argumentiert wird – vorläufig, d. h. offen für Revidierung.
Zweitens aber in der Konsequenz für den, der als sprecher, hörer oder Leser eine
Antwort auf die Frage nach der richtigen These zum Tod sucht: Da es keine definitive
sicherheit für die Wahrheit einer der beiden Thesen gibt, bleibt demjenigen, der die
Zustimmung zu einer These geben soll, immer auch ein spielraum des entscheidens.
Deshalb ist görlers rede, dass cicero – wie der schüler in Tusc. 1,24 – die These a
„will“ treffend und zeigt – aus ciceros sicht – das Freiheitsmoment, das für ihn in
der annahme oder ablehnung einer position enthalten ist.374
Das argumentationsziel des ersten Buches ist die Widerlegung der These ‚Der Tod
ist ein Übel‘. Das gilt also sogar in dem Teil des gesprächs, der ein darüber hinaus
liegendes argumentationsziel verfolgt, nämlich den aufweis, der Tod sei ein gut.
Die passage von Tusc. 1,18–25 zeigt dies in hervorragender Weise. cicero wendet
373 Nach seneca (epist. 82,10) scheint Zenon aber auch argumentiert zu haben, dass der Tod nicht
zu den ajdiavfora gehört.
374 ciceros Freiheitsbegriff beinhaltet also ein gewisses letztes alleingelassensein, das dem sto-
ischen Freiheitsbegriff fehlt. Der stoiker bezeichnet die Zustimmung zur rational richtigen
Lösung als Verwirklichung der Freiheit. cicero dagegen glaubt nicht an die vollständige hilfe
der Vernunft. sie führt zu wahrscheinlichen und zustimmungswürdigen antworten, es bleibt aber
immer ein ‚restrisiko‘, das zu übernehmen niemand dem handelnden oder entscheidenden ab-
nehmen kann. Dennoch will cicero keinen bloßen Dezisionismus vertreten, der die Wirklichkeit
von der entscheidung abhängig machen würde.
3.6. Das erste Buch 141
hier ein methodisches Verfahren an, das man als ‚Fokussierung‘ bezeichnen könnte.
er sammelt eine Fülle von ansichten zu einem bestimmten problem p, und greift
aus allen diesen ansichten genau einen aspekt heraus, der auf eine übergeordnete
Fragestellung Q (die eigentliche causa) antwortet. Wenn dieser aspekt in allen an-
sichten gleich ist, so gilt ihm die in ihm liegende These zu Q als – unter skeptischem
Vorbehalt natürlich – aufgewiesen. erweiterungsfähig ist das Modell von p weg
‚nach unten‘ zu ‚subproblemen‘ r, s usw., die wiederum auf p zurückfokussiert
werden können. Das Verfahren gibt keinen logisch schlüssigen Beweis, weil die
gesammelten ansichten nicht den gesamten Möglichkeitsraum der stellungnahmen
zu einer Frage ausfüllen müssen. es ist also rhetorisch in dem sinne, dass es einen
‚unvollständigen‘ schluss zieht. stringent wäre der Beweis erst, wenn man zeigen
könnte, dass aus jeder möglichen stellungnahme zu p eine bestimmte antwort auf
Q folgt.
in der causa des ersten Buches heißen die Fragestellungen:
Q: ist der Tod ein Übel?
p: Was ist der Tod?
r: Was ist die seele?
Cicero beginnt die Rede schulgerecht mit der Definitionsfrage „Was ist der Tod
selbst?“375 Die dazu faktisch auftretenden antworten sind:
a) Der Tod ist die Trennung der seele vom Körper.
b) Der Tod ist der gemeinsame untergang von seele und Körper.
Beide antworten stützen die These des schülers vom Tod als Übel nicht, da keine
logische Beziehung zwischen a) oder b) und der aussage, der Tod sei ein Übel,
bestehen kann, solange nicht über einen Mittelbegriff eine Verbindung hergestellt
wird. aber welcher art könnte ein Mittelbegriff sein, der eine Verbindung zwischen
einer seinsbestimmung, die in der Quid-sit-antwort gegeben wird, und einer Wert-
bestimmung, die in der Frage Q verlangt ist, schaffen kann? es könnte selbst ein
Wertbegriff sein, aber ihn aufzuweisen, würde das problem nur um einen schritt
verschieben. Möglich wäre z. B.: ‚Der untergang der seele ist ein Übel‘. aber wie
könnte das jetzt – gerade unter stoischen Voraussetzungen – gezeigt werden?376
375 Tusc. 1,18. Dass cicero hier die Quid-sit-Frage ansetzt, zeigt, dass er selbst an dieser stelle den
Beginn des abschnittes sieht. Kirfel ist offenbar durch das ergebnis dieser passage, das ja ‚nur‘
darin liegt, die ‚Nichtstichhaltigkeit‘ der These, der Tod sei ein Übel (Tusc. 1,25), aufgezeigt
zu haben, verunsichert und ordnet daher im gegensatz zu görler den ganzen abschnitt der
einleitung in das erste Buch zu („aufbau und gliederung des Werkes“, in: cicero: Tusculanae
Disputationes, stuttgart 1997, 24).
376 es wäre darauf zu verweisen, dass der Bestand der seele Bedingung der Möglichkeit für sittlich
richtiges, also gutes, handeln ist und so ceteris paribus der Bestand der seele ihrem untergang
vorzuziehen ist, was in peripatetischer sprache bedeutet, dass die seele ein gut genannt wer-
den kann. allerdings müsste, wenn so gesprochen wird, zwischen solchen gütern oder Übeln,
die traurig machen, und solchen, die dies nicht tun, unterschieden werden, wenn am Ziel der
integrität der seele in emotionslosigkeit festgehalten werden soll, wie cicero dies natürlich
beabsichtigt. cicero müsste in äußerst differenzierte argumentationsprozesse einsteigen, wenn
er dem logischen gang der Dinge gerecht werden wollte. Das wäre dann aber ‚rudern‘ im
142 3. Therapeutischer Logos
sinne des vierten Buches, also kleinteiliges argumentieren, das die Nachhaltigkeit der rede
eher behindern als fördern würde.
3.6. Das erste Buch 143
zum Tod so fokussiert werden können, dass eine breite Übereinstimmung in der
ablehnung der schülerthese besteht. aus der prüfung der verschiedenen ansichten
zu Tod und seele ergibt sich, dass der Tod kein Übel sein kann. auch wenn cicero
also seine Rede mit einer Definitionsfrage beginnen lässt, so ist sein Ziel doch kein
ontologisches ergebnis, sondern ein therapeutisches, in dem gezeigt wird, dass unter
der annahme von verschiedenen ontologischen optionen für die Beherrschung der
emotionen ein identisches resultat erfolgt. insofern kann man sagen, dass cicero
in diesem punkt ontologie (oder anthropologie) instrumentell einsetzt.377
Die gleichrangige anordnung verschiedener Theorien über die seele auf dem
Niveau der Fragestellung r gilt natürlich nur im rahmen dieser Fokussierung im
Buch i. Für die gesamten Tusculanae Disputationes ist klar, dass cicero keineswegs
jede These über die struktur der seele als gleichgewichtig ansieht, denn sein the-
rapeutisches Konzept impliziert ja eine gewisse art von seelentheorie. Das ganze
Konzept der heilung durch philosophie in den Tusculanen wäre beispielsweise unter
der Voraussetzung, die seele sei das herz oder die seele sei das Blut, das dem herzen
zufließt, nicht haltbar. Cicero kann so vorgehen, weil der Leser im ersten Buch die
explizite Darlegung des Konzepts aus den Büchern iii und iV noch nicht kennt. Für
die heilung von Ängsten, Kummer und den übrigen Leidenschaften (perturbationes
animi) – und dass es um diese geht, zeigt gerade Tusc. 1,23 deutlich – ist allerdings
die in diesen Büchern dargelegte sicht auf die seele Voraussetzung.
Wenn es cicero gelingt, größeres (maiora; Tusc. 1,16) zu belegen als die bloße
Widerlegung der schülerthese, wird diese Widerlegung umso plausibler sein. Dieses
Mehr an argumentationsfülle betrifft die These, der Tod sei nicht nur kein Übel,
sondern sogar ein gut, weil die seelen über den Tod hinaus fortbestehen, und dies
in einer echteren, reineren Weise als in ihrer Vermengung mit dem sterblichen Kör-
per. Nahe gelegt wird diese ansicht durch die „besten gewährsleute“ (auctoribus
optimis; Tusc. 1,26), also durch autorität, „was in allen angelegenheiten größte
Bedeutung haben muss und gewöhnlich auch hat (quod in omnibus causis et debet
et solet valere plurimum; Tusc. 1,26; Übers. Kirfel).
Wenn cicero von causa spricht, so klingt in diesem Wort immer die situation
vor gericht an. philosophie heißt für cicero nicht zuletzt, über bestimmte Thesen
geradezu nach art eines gerichtsverfahrens zu entscheiden. im gerichtsverfahren
ist aber nicht jede aussage gleichgewichtig. Zeugen, die sich in ihrem Leben als
glaubwürdig erwiesen haben, werden in ihrer aussage mehr glaubwürdigkeit in
anspruch nehmen können als solche, die in ihren persönlichen und charakterlichen
eigenschaften noch nicht klar oder sogar negativ hervorgetreten sind.
377 es geht nicht um eine Verwirrungs- oder Überrumpelungsstrategie, bei der auf einem Neben-
schauplatz ein Durcheinander gestiftet wird und der redner dann mit einer art paukenschlag
die Lösung unzusammenhängend präsentiert. cicero zeichnet eine hierarchische ordnung, auch
wenn die stufen nicht rein logisch aufeinander aufbauen.
144 3. Therapeutischer Logos
cicero fasst den Begriff der auctoritas hier sehr weit. Zunächst fallen die
Zeugnisse und Verhaltensweisen der alten darunter, weil sie – so eine etwas ad hoc
konstruierte theologische Begründung – der göttlichen abstammung näher liegen
(Tusc. 1,26). Erzählungen des Mythos oder alte Bestattungsgepflogenheiten sprechen
für die bei den alten vorhandene Überzeugung vom Weiterleben der seele nach
dem Tod (Tusc. 1,27–29). Weiterhin spricht dafür die in allen Völkern verbreitete
Überzeugung der existenz einer göttlichen Macht. ein solcher Konsens muss – so
cicero – geradezu als Naturgesetz (lex naturae) angesehen werden (Tusc. 1,30).
Cicero wechselt von Zeugnissen zu Belegen aus dem natürlichen Empfinden.
Die sorge der Menschen über den Tod hinaus sowie die Vorahnung eines Lebens
nach dem Tod, die gerade bei den besten Menschen ausgeprägt sei, sind mehr als
nur anhaltspunkte:
„Wenn die Übereinstimmung aller die stimme der Natur ist und alle überall darin übereinstim-
men, dass es etwas gibt, was auch die Toten angeht, dann müssen auch wir das glauben.“ (Tusc.
1,35; Übers. Kirfel)
cicero verspannt autorität (die Zeugnisse der alten und der Besten) und das na-
türliche Empfinden (Sorge über den Tod hinaus) mit dem Konsens, der zwischen
einzelnen Menschen und besonders zwischen den Völkern herrscht.
„Wenn wir glauben, dass die, deren geist durch Begabung (ingenium) oder Tüchtigkeit (virtus)
hervorragt, das Wesen der Natur (vis naturae) am besten erkennen, weil sie ja die beste Natur-
anlage besitzen, dann ist es wahrscheinlich (veri simile), da gerade die Besten der Nachwelt am
meisten dienen, dass es irgend etwas gibt, wovon sie nach dem Tod eine Wahrnehmung (sensus)
haben werden.“ (Tusc. 1,35; Übers. Kirfel)
Wenn man natürliches Empfinden, Konsens und Autorität als ‚außerrationale‘ Be-
gründungsverfahren bezeichnen wollte, weil sie keinen logischen schluss auf ein
bestimmtes ergebnis hin liefern, so muss man hier augenscheinlich von solcher ‚au-
ßerrationalität‘ sprechen. Davon abzusetzen ist aber für cicero die irrationalität, die
sich in bestimmten Furcht einflößenden Erzählungen (Mythen) über die Unterwelt
kundtut. cicero ist aufklärer genug, um gegen solche Vorstellungen die Betätigung
der Vernunft (ratio; Tusc. 1,36) zu fordern.
Derartig der Vernunft gefolgt sind die drei ‚patrone‘ der Tusculanen: pythago-
ras378, sokrates und platon. gerade zu Letzterem nimmt cicero hier ein so enges
Verhältnis auf, dass er den schüler bemerken lässt, er wolle lieber mit platon irren als
mit anderen (offenbar jenen, die die unsterblichkeit der seele leugnen) etwas Wahres
denken und dabei als Lehrerfigur diese Haltung noch bekräftigt (Tusc. 1,39 f.379). es
378 cicero versucht, platon in ein mittelbares schülerverhältnis zu pythagoras zu stellen (Tusc.
1,39). Bei pythagoras wiederum wird betont, dass er in italien wirksam war. eine gewisse spitze
zugunsten der Bedeutung italiens für die entwicklung der philosophie ist daher nicht von der
hand zu weisen. Vgl. oben seite 73.
379 schüler: „errare mehercule malo cum platone, quem tu quanti facias scio et quem ex tuo ore
admiror, quam cum istis vera sentire.“ – Lehrer: „Macte virtute! ego enim ipse cum eodem ipso
non invitus erraverim.“ (Tusc. 1,39 f.; Übers. Kirfel: „ich möchte wirklich lieber mit platon, von
dem ich weiß, wie hoch du ihn schätzt, und den ich auf grund deiner Worte bewundere, in die
irre gehen als mit jenen [sc. die die unsterblichkeit leugnen] das Wahre denken. – gut so! Denn
ich selbst möchte nicht ungern gerade mit ihm in die irre gehen.)
3.6. Das erste Buch 145
ist nicht sehr plausibel, dass cicero tatsächlich gerne „irren“ will, insofern eignet
dieser passage natürlich etwas spielerisch-ironisches.380 aber dort, wo sich das ge-
wicht verschiedener argumente die Waage hält und die rationalen gesichtspunkte
nicht ausreichen, dort ist cicero bereit, die autorität (oder „höhere ratio“381) eines
platon den ausschlag geben zu lassen.382
Nach einigen weitschweifigen Überlegungen zur Möglichkeit eines seelischen
Lebens nach dem körperlichen Tod stellt cicero ab Tusc. 1,53 platons Beweis der
unsterblichkeit der seele aus deren selbstbewegung im Phaidros (245c–e) dar. er
verwendet dabei eine Übersetzung, die er bereits für De re publica 6,27 f. erarbeitet
hatte. anschließend wird an Leistungen der seele (apriorisches erkennen, gedächt-
nis, Erfindungsgabe) ihre Verwandtschaft mit Gott gezeigt. Auch wenn Gigon diese
Beweisgänge als „aristotelisierend“ bezeichnet383, im Text selber gilt immer wieder
platon als gewährsmann für diese anspruchsvollste seelenlehre. Besonderes au-
genmerk wird dabei auf die Fähigkeit zu invention geworfen, schließlich kann sie
nicht einmal bei einem gott als größer vorgestellt werden (Tusc. 1,65). Die höchste
Befähigung der Seele aber – und darin geradezu ein Geschenk oder eine Erfindung
der götter – ist die philosophie selbst (Tusc. 1,64).
es kann kein Zweifel daran bestehen, dass cicero in diesem ganzen abschnitt Tusc.
1,26–82 vielfach über die bloße prüfung oder den bloßen Beweis einer proposition
hinausgeht. Doxographisches interesse verbindet sich mit der Freude an anekdo-
tischem. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die satzprüfung nach wie
vor das zentrale Motiv des Textes ist. Vieles, was cicero in doxographischer Ma-
nier darbietet, dient dazu, die Vielfalt möglicher stellungnahmen zu einer Frage
aufzuzeigen. ist diese Vielfalt erst einmal anerkannt, ist der Bereitschaft, der nahe
gelegten sicht auf die Dinge zuzustimmen, hilfe geleistet. Die annahme, der Tod
sei ein Übel, ist in den Meinungen so fest verankert, dass nicht zwangsläufig der
Beleg der gegenthese den Königsweg zur ihrer akzeptanz darstellt, sondern dass
zunächst diese Festigkeit durch aufzeigen der Vielfalt von möglichen stellung-
nahmen aufgebrochen werden sollte. insofern sind die Belege für eine möglichst
großartige und erhabene sicht auf die seele und auf ihre Nähe zu dem, was wir
uns als ‚gott‘ vorzustellen versuchen, erst einmal Momente, die in neuer und zum
Teil ungewohnter Weise die Frage nach der seele offener stellen lassen. Wenn man
annimmt, mit der These ‚Der Tod sei ein gut, da die seele unsterblich sei‘, sei die
eigentliche auffassung ciceros wiedergegeben, übersieht man, dass cicero nicht
380 in EN i 1096a12–17 hatte aristoteles gerade den umgekehrten grundsatz aufgestellt: aller
Zuneigung zu platon zum Trotz will er die Wahrheit auch gegen die autorität seines Lehrers
vorziehen.
381 Vgl. cottas Bekenntnis zur autorität gegen Balbus in nat. deor. 3,9 f.: „Mihi enim unum sat erat,
ita nobis maioris nostros tradidisse. sed tu auctoritates contemnis, ratione pugnas; patere igitur
rationem meam cum tua ratione contendere.“
382 Vgl. Tusc. 1,49 und das oben seite 30, anm. 75 zur autorität platons gesagte.
383 gigon (Komm.) 471.
146 3. Therapeutischer Logos
zögert, auch die epistemischen probleme aufzuzeigen, die sich dann ergeben, wenn
das instrument der untersuchung gleichzeitig ihr gegenstand ist (Tusc. 1,67 und
1,73): Dort wo die seele ihren Blick auf sich selber richtet, wird die sehkraft getrübt
und unscharf. Besonders sprechend ist der hinweis auf den skeptischen Vorbehalt
gegen ende der ausführungen zugunsten dieser These. Während der schüler davon
spricht, dass ihm die Überzeugung von der unsterblichkeit nicht mehr genommen
werden könnte, weist ihn der Autor in der Lehrerfigur etwas zurecht: Man darf dem
ergebnis nicht allzu sehr vertrauen (nihil nimis oportet confidere; Tusc. 1,78). Wenn
die prinzipielle und insofern unaufhebbare schwierigkeit besteht, dass es in der
erkenntnis der seele durch die seele unschärfen und Trübungen gibt, dann wird
letztendlich immer eine persönliche stellungnahme, die nicht durch vollständige
argumentationsketten nach außen darstellbar ist, unerlässlich sein. ebenso wird jede
dieser stellungnahmen angefochten werden.
eine anfechtung dieser art bildet den abschluss der rede zugunsten der These
‚Die seele ist unsterblich, der Tod mithin ein gut‘ und leitet über zum beschei-
deneren, aber das Thema des ersten Buches bildenden argumentationsziel, der Tod
sei zumindest kein Übel. Die anfechtung kommt aus der schule, die den therapeu-
tischen ansatz, den cicero im Werk zu praktizieren versucht, maßgeblich entworfen
hat, nämlich aus der stoischen. panaitios argumentiert, alles was entstanden sei,
könne auch untergehen. Jede seele aber entstehe und vergehe folglich auch. Zudem
empfinde die Seele Schmerz, Schmerzempfindung zeige aber an, dass keine Voll-
kommenheit in der seele sei (sondern Krankheit). als unvollkommene seele aber
ist ihr untergang bereits in ihr angelegt (Tusc. 1,79). cicero argumentiert mit einer
Differenzierung dagegen:384 Ja, panaitios’ argumente treffen zu, aber nicht für die
gesamte seele, sondern nur für deren niedrigere „Teile“. Der geist als das höchste
Moment in der seele ist davon nicht berührt. Die abtrennbarkeit des geistes, die
in diesem argument unterstellt ist, rechtfertigt dann auch ciceros redeweise von
partes, also Teilen, der seele (Tusc. 1,80, vgl. Tusc. 2,47). panaitios hätte unter der
Voraussetzung des stoischen seelenmonismus’ ciceros argument nicht akzeptieren
zu brauchen,385 aber cicero will offenkundig gegen ende der Darlegung für die an-
spruchvollere Behauptung noch einmal platon mit ganzer Kraft zur geltung bringen
– auch gegen die (mittleren) stoiker.
384 Dies ist die hauptlinie der argumentation in Tusc. 1,80 f. Eingeflochten ist eine Antwort auf
panaitios’ (empirische) Begründung für das entstehen der seele, das dieser in der Ähnlichkeit
der seelischen (charakterlichen) Disposition von eltern und Kindern belegen zu können glaubt.
cicero schwächt erstens die Kraft der empirischen Begründung durch gegenbelege von cha-
rakterlich höchst unterschiedlichen Nachkommen und gibt zudem den Einfluss des Körpers auf
die seele zu.
385 Vgl. off. 1,101 und 1,131 f., wo cicero wesentlich vorsichtiger von vis oder motus animorum
spricht, und von pars nur als unterscheidung zweier vires redet.
3.6. Das erste Buch 147
Letztlich ist aber hier für Cicero kein definitives Ergebnis aufweisbar; erreichbar
ist es nur in der persönlichen entscheidung. cicero ruft das gespräch auf die aus-
gangsfrage zurück und beginnt so den nächsten abschnitt:
„haben wir vergessen, dass wir als Thema uns vorgenommen haben (hoc nunc nobis esse
propositum), nachdem wir zu genüge über die ewigkeit der seelen gesprochen haben,386 zu
erörtern dass nicht einmal dann, wenn die seelen zugrunde gingen, im Tod ein Übel liege?“
(Tusc. 1,81; Übers. Kirfel)
Nochmals also: es geht um die These, der Tod sei ein Übel. an ihr ‚entzündet‘
sich durch Zustimmung die emotion, sie verwirrt die seele, und sie ‚aus der seele
zu entfernen‘ entspricht der negativen stufe des therapeutischen Logos, wie es die
Philonos Dihairesis vorsieht. in Tusc. 1,82–112 gilt es nun, dieses schlichtere Ziel
‚Der Tod ist kein Übel‘ aufzuweisen. Dies geschieht immer noch im Modus der
‚rednerischen argumentation‘, die allerdings um einen ‚logischen Kern‘ herum
angeordnet ist, den cicero in Tusc. 1,82 als enthymem formuliert:
b) In der Seele bleibt nach dem Tod keine Empfindung zurück.
c) Folgerung: Der Tod ist kein Übel
Vorerst unausgesprochen bleibt die Voraussetzung
a) Ohne Empfindung gibt es kein Übel.
erst in Tusc. 1,89 wird sie nachgeholt: „Denn niemand kann unglücklich sein, wenn
ihm die Empfindung genommen ist (sensu perempto).“ (Übers. Kirfel)
in der sprachanalytischen argumentation von Tusc. 1,13 f. versuchte cicero aus-
gehend von der analyse dessen, was eine proposition darstellt, zu zeigen, dass die
Zuschreibung eines prädikates an ein nichtexistentes ‚subjekt‘ inhaltsleer ist, dass
also der Name eines Verstorbenen schlechthin nicht mit dem prädikat ‚unglücklich‘
verknüpft werden darf, weil das in der prädikation implizierte sein existenz unter-
stellt.387 Die populäre, rednerische argumentation nimmt nun einen ganz anderen
ausgangspunkt: den untergang des sensus im Tod.
auch dieser Beweisgang – der schon in Tusc. 1,25 kurz angedeutet wurde
– steht in einer gewissen spannung zum altstoisch-sokratischen gedankengut des
therapeutischen Konzepts der Tusculanae Disputationes. Für den stoiker kann die
Zuschreibung von ‚Glück‘ und ‚Unglück‘ aus der Empfindung dieses vermeintlichen
glücks oder unglücks nicht gerechtfertigt werden. einzig die sittliche Verfassung
eines Menschen bestimmt, ob er sein Leben in glück oder unglück verbringt. Wenn
für den in diesem Sinne glücklichen Menschen die Empfindung dieses Glücks
hinzukommt, so nicht als das glück begründend, sondern nur als eine ‚Begleiter-
386 cicero macht hier selbst deutlich, dass sich das Thema des vergangenen abschnitts vom an-
spruch zu zeigen, dass der Tod sogar ein gut sei (in Tusc. 1,16), zur Frage nach der unsterb-
lichkeit der seele verschoben hat. Dass die unsterblichkeit der seele bedeute, dass der Tod ein
gut sei, wurde mehr impliziert als aufgewiesen.
387 Vgl. oben 3.6.1., seite 138.
148 3. Therapeutischer Logos
scheinung‘. glück ist nicht das haben von ‚guten gefühlen‘, sondern die sittliche
Vollkommenheit. allerdings sind die ‚guten gefühle‘ der eujpavqeia eine art selbst-
wahrnehmungsinhalt der guten seele.388 Die argumentation an dieser stelle des
ersten Buches der Tusculanen verdankt cicero – ohne dies allerdings zu erwähnen
– vermutlich einer epikureischen Quelle. im Brief an Menoikeus schließt epikur von
der Voraussetzung, dass alles gute und alles Übel von der Wahrnehmung (ai[sqhsi~)
abhängen, über den satz, der Tod ist die Vernichtung der Wahrnehmung, zur Fol-
gerung, der Tod sei nichts, das den Menschen betreffen könne, also auch kein Übel
(DL X 124). cicero greift also die argumentation einer philosophischen schule auf,
die er ihres hedonistischen ansatzes wegen ansonsten lieber bekämpft.
aber hier zeigt sich ciceros unabhängigkeit, die er so gerne betont. auch wenn
der große rahmen von stoischen Voraussetzungen her abgesteckt ist, so heißt dies für
ihn nicht, dass in jeder einzelsachfrage wiederum die stoische position zum Tragen
kommen müsste. Für die öffentlich überzeugende argumentation ist die stoische
sprachregelung oft genug hinderlich.389 um also eine wirkliche umwendung des
seelischen Zustandes zu erreichen, was durch die ‚Neuvergabe‘ der Zustimmung an
eine ‚gesündere‘ proposition geschehen muss, ist es erforderlich, diese gesündere
proposition mit den besten Mitteln plausibel zu machen. Die stoische sprachrege-
lung liefert hierzu nicht das beste Mittel, sondern das öffentliche und in umgangs-
sprache formulierte Denken. Für denjenigen, der das stoische system als ganzes
akzeptiert, ist die causa des ersten Buches ohnehin mit der strengen (dialektischen)
argumentation aus Tusc. 1,9–16 entschieden. Da aber pure ratio der erweiterung
zur oratio bedarf, um nicht nur flüchtiges, momentanes Zustimmen zu erreichen,
verwendet cicero lieber populäre, öffentlichkeitstaugliche argumente.
Da mit dem Tod die Empfindung erlischt, kann der Tod kein Übel sein, lautet
also die Kernthese des abschnittes (Tusc. 1,82–112). sie wird nach verschiedenen
seiten hin entfaltet. Zunächst ist die gängige Meinung auszuräumen, der Tod sei
schon deshalb fürchtenswert, weil er uns von den gütern des Lebens trenne (Tusc.
1,83). cicero antwortet zweifach: Zunächst zeigt er mit einer Fülle von Beispielen
ganz im stoischen sinne auf, wie ambivalent alles dasjenige ist, das wir gemeinhin
als ‚güter‘ bezeichnen (Tusc. 1,83–86). aber selbst wenn man einiges als güter
stehen lassen will, greift die argumentation über den sensus: Der Tote hat keine
Empfindung des Verlustes (Tusc. 1,88). es ist hilfreich, sagt cicero, sich die Begriffe
genauer anzusehen: Wenn davon die rede sei, ein Toter müsse güter „entbehren“, so
ist zu fragen, was unter „entbehren“ (carere) gemeint ist: vermissen, was man haben
will. Dieses Wollen ist ein bewusstes ersehnen; da aber – wie in der argumentation
unterstellt ist – mit dem Tod das Bewusstsein erlöscht, ist kein Wille mehr möglich.
Der ausdruck „entbehren“ als prädikat auf das subjekt ‚Toter‘ angewandt, ist also
widersinnig, kategorial falsch.
Nun könnte man gerade die Empfindungslosigkeit selbst als das Übel des Todes
ansehen (Tusc. 1,90). aber auch hier hilft die Überlegung, dass bei vollständiger
Zerstörung des Lebewesens kein Empfindungsvermögen mehr entbehrt wird. Von
388 Vgl. zum problem der selbsterfahrung des glücklichen unten 4.4., seiten 170 ff.
389 Vgl. fin. 4,22.
3.6. Das erste Buch 149
einem ‚Subjekt‘, das nichts entbehrt, kann aber nicht ausgesagt werden, es befinde
sich im Übel. Nach Bekräftigung der Überzeugung, dass nicht die Länge des Lebens
entscheidend ist, sondern seine Qualität, d. h. die tugendorientierte gestaltung (Tusc.
1,91–102), schließt cicero noch Überlegungen zur Bestattung an, die das argument
von der Empfindungslosigkeit nach dem Tod ergänzen (Tusc. 1,102–109). stellung-
nahmen von philosophen wie sokrates oder dem Kyniker Diogenes zeigen entgegen
den Verirrungen des Mythos, dass – unabhängig von einer möglichen Weiterexistenz
der seele – der körperliche sensus auf jeden Fall erloschen ist und aus diesem grunde
um den Körper prinzipiell keine sorge zu tragen ist (Tusc. 1,104). allerdings räumt
cicero ein, dass dem öffentlichen Brauch und der Tradition in gewisser Weise rech-
nung zu tragen ist (Tusc. 1,109). Die wiederholte farbig ausgeschmückte Betonung
der Bedeutung von innerer Qualität des Lebens gegenüber dem bloß äußerlichen
Datum der Länge des Lebens schließt die rednerischen ausführungen zur Frage, ob
der Tod ein unglück sei, ab. Tusc. 1,111 bindet wieder zurück an die hauptproble-
matik der Tusculanen: die Frage nach der seelischen Befindlichkeit. Unser verkehrtes
Meinen – hier: eine unterstellung einer emotion des unglücks bei einem Toten
– führt zur Leidenschaft der Trauer.
„Diese Meinung (opinio) wollte ich in mir mit der Wurzel (radicitus) ausreißen und darum bin
ich vielleicht allzu lang geworden“ (Tusc. 1,111; Übers. gigon).
Cicero als Lehrerfigur spricht von sich selbst. Die rational-rednerische Therapie
dieses ersten Buches der Tusculanae Disputationes zielt nicht nur auf den Dialog-
partner, sondern ebenso auf den Magister selbst. Freilich bleibt auch der schüler mit
dem Bekenntnis nicht aus, dass die rede (oratio) für ihn eben dies erreicht habe,
dass er den Tod nun nicht mehr zu den Übeln zähle (Tusc. 1,112).
Den abschluss des ersten Buches (Tusc. 1,113–119) bildet ein ‚schlusswort nach art
der rhetoren‘, wie man vielleicht ciceros latinisierten ausdruck rhetorum epilogus
übersetzen könnte. er gibt leider keinen hinweis darauf, ob und worin er einen
unterschied zu einer peroratio sieht. generell bezeichnet für ihn das griechische
‚rhetor‘ allerdings mehr den redetechnisch versierten sprecher, während sein ideal
des redners mit dem lateinischen ausdruck orator zu bezeichnen ist. Das Finden des
richtigen Zusammenspiels von Form und inhalt, von verwendetem verbum und aus-
zusagender sache (res) wird in der schrift De oratore als die aufgabe des redners
dargestellt.390 Die rJhtorikhv tevcnh, die er bei den griechen kennen lernt, deckt nur
den formalen aspekt ab.391 Vollform des gelungenen sprechens ist die eloquentia,
390 In fin. 4,7 verspottet er Kleanthes und Chrysipp, die zwar jeweils eine ars rhetorica verfasst
hätten, aber als trockenes und definitives Handbuch, das der Lebendigkeit der Rede nicht ge-
recht wird. Kurz nach dieser Textstelle (ebenfalls fin. 4,7) wird der ausdruck rhetor nochmals
abwertend verwendet, wo dem Dialogpartner cato im grunde vorgeworfen wird, er habe bei
den ‚rhetoren‘ gelernt, etwas Nichtssagendes aufzubauschen.
391 Vgl. inv. 1,5: „es gibt ein bestimmtes staatliches [besser: öffentliches] system (civilis ratio),
das aus vielen bedeutenden abteilungen besteht. ein bedeutender und umfangreicher Teil davon
ist die kunstvolle Beredsamkeit (artificiosa eloquentia), die man rhetorik (rhetorica) nennt.
150 3. Therapeutischer Logos
die Verbindung von inhaltlicher philosophie und formaler rhetorik zu einer oratio.
Personifiziert drückt Cicero dies bereits in seiner Erstlingsschrift De inventione
(2,2 f.) so aus, dass erst die Verbindung von aristoteles und dessen Zeitgenossen
isokrates ein Niveau des öffentlichen Wortgebrauchs erreichen kann, wie es seinem
ideal entspricht. in seiner letzten philosophischen schrift, De officiis, wiederholt er
den gedanken mit den Namen platon und Demosthenes (off. 1,4).
Wenn cicero also hier das Wort rhetorum epilogus verwendet, so um anzudeu-
ten, dass der folgende Teil zwar rhetorische Kraft hat, das heißt eine Bewegung
im hörer (oder entsprechend Leser) erzeugen kann, dass aber doch das inhaltliche
gewicht einschränkt ist. schließlich handelt es sich auch nicht um weitere argu-
mentationszusammenhänge, sondern zunächst um vier Beispiele aus dem Mythos:392
1. Kleobis und Biton, 2. Trophonios und agamedes, 3. silen und Midas und 4. ein
orakelspruch an elysios aus Terina. alle vier erzählungen zeigen, dass die götter
dem Menschen den Tod als Belohnung, als gut überreichen und die Frage des ersten
Buches durch Taten bereits entschieden haben (Tusc. 1,116). Mit einer aufzählung
von persönlichkeiten, die freiwillig den Tod auf sich nahmen, gleitet cicero aus dem
Mythos in die historie zurück.
3.6.8. resümee
Tusc. 1,117 resümiert noch einmal den Durchgang durch das ganze Buch: um von
der Todesfurcht befreit zu werden, muss man nicht „von einem erhöhten standpunkt
aus“ (e superiore loco) sprechen. es gilt vielmehr zu bedenken, dass zwei Meinungs-
optionen bezüglich des Todes offen stehen: entweder ein höchst wünschenswerter
ortswechsel der seele nach dem Tod oder ihr untergang in einer art ewigem schlaf.
in beiden Fällen kann von einem Übel keine rede sein. Nur ein Übel aber könnte
berechtigte Furcht begründen. Deshalb, und cicero wechselt in eine aufmunternde,
auffordernde Tonart, soll der Tod im Vertrauen auf die sinnvolle einrichtung der Welt
durch die Götter in positiver, affirmativer Haltung aufgenommen werden.
eine abschließende pointe setzt cicero, indem er den schüler und sich selbst
offensichtlich zu etwas sportlicher Betätigung für die gesundheit auffordert (Tusc.
Denn ich bin nicht der Meinung derer, die glauben, die politische Wissenschaft brauche die
Beredsamkeit nicht; und ganz im Widerspruch stehe ich zu denen, die glauben, sie stütze sich
ganz und gar auf die Kraft und Kunst des rhetors.“ (Übers. Nüßlein). Die rhetorik, so fährt
cicero fort, ist ganz und gar zielorientiert, nämlich auf die zu erreichende Überredung hin. Der
orator aber hat nicht nur ein Ziel, sondern ebenso ein officium, eine Aufgabe oder Pflicht: die
Verdeutlichung der sache. – Teilweise verwendet cicero rhetor in einem pejorativen sinne, z.
B. Tusc. 4,48, wo er von rhetorum pompa, dem „prunk der rhetoren“ spricht; in Tusc. 4,55 ist
rhetorik eine ‚geheimwissenschaft‘ mit ihren mysteria. auch das prädikat artificiosus kann in
seinem spektrum vom anerkennenden ‚kunstvoll‘ über ‚künstlich‘ beinahe bis zu ‚gekünstelt‘
reichen. Man sollte deshalb nicht wie schrenk 1994 den epilog als den abschnitt im ersten Buch
ansehen, an dem ciceros ‚römisches‘ argumentieren am stärksten zum ausdruck kommt. Die
rhetorik ist selbst eine ‚griechische‘ Kunst.
392 Mit einem Mythos oder mit Mythen zu schließen, kann natürlich auch als reminiszenz an platon
verstanden werden. allerdings nimmt cicero hier überkommene Mythen, keine neu erdichteten
oder ‚philosophischen‘.
3.7. Das zweite Buch 151
1,119), wie um deutlich zu machen, dass auch bei dem erreichten gesprächsergebnis
die sorge um die körperliche existenz nicht vernachlässigt werden sollte.393 Dass
aber die ‚gesundheit der seele‘, ihre Befreiung von Ängsten und den übrigen emo-
tionen, das Ziel der gesamten sitzungen ausmacht, zeigt der schlusssatz des Buches,
der als „reichste Frucht der philosophie“ die erleichterung von Kummer, Ängsten
und Begehren festhält (Tusc. 1,119).
obwohl es sich beim zweiten um das kürzeste aller fünf Bücher handelt, ist seine
aussagekraft im hinblick auf ciceros ‚psycho-therapeutischen‘ ansatz von großer
Bedeutung. in der sprache der Philonos Dihairesis handelt es sich zweifellos um
einen weiteren Bestandteil der negativen stufe des therapeutischen Logos, denn so
wie die Diskussion des ersten Buches die – verfehlte – Meinung, der Tod sei ein
Übel, ‚aus der seele nehmen‘ ließ, so soll in dieser Debatte gezeigt werden, dass
auch die Meinung, der schmerz sei das größte Übel, in einer gesunden seele keinen
platz haben dürfe. Beide Meinungen werden durch die communis opinio – und das
heißt hier durch die im proömium des dritten Buches angesprochene Korruption
natürlichen Denkens durch das soziale umfeld (Tusc. 3,2 f.) – einer seele ‚einge-
pflanzt‘. Vorrede und Schlussbemerkungen gerade in diesem zweiten Buch machen
es sich zu einer hauptaufgabe, den Leser gegen herrschende Volksmeinungen auf
sein eigenes Bewusstsein und das urteil der Verständigsten zurückzuverweisen (vgl.
Tusc. 2,4 und 2,64). andererseits macht aber auch das zweite Buch die grenzen der
rationalen psychotherapie deutlich und wird aus diesem grund hier als letztes der
vier therapeutischen Diskurse behandelt.
Wenn Menschen den in der negativen Therapeutik zu entfernenden Meinungen
anhängen, dann – so eine erste These des zweiten Buches – nicht, weil es sich bei
diesen Meinungen um natürliche einstellungen handelte. Vielmehr ist es natürlich
für den Menschen, seine Vernunft einzusetzen, die ihm die haltlosigkeit dieser Über-
zeugungen aufzeigt. Niemand kann hinter seine Natur als Mensch zurück, und die
menschliche Natur ist zuerst die Vernunft, die rationalität, Logos. Jede Meinung ist
ein propositional geformter inhalt der seele und macht daher auch einen vernunft-
gemäßen, d. h. rational prüfenden umgang mit ihr erforderlich. sich der prüfung zu
enthalten, ist der Versuch, die menschliche Natur zu verlassen – eine unternehmung,
die nicht in ehrlichkeit oder Wahrhaftigkeit zu erreichen ist. Die rationale prüfung
der Meinungen ist daher eine sittliche Pflicht. Es bedarf zwar eines allerersten Ent-
gegenkommens des schülers, wenn dieser sich bereit erklärt, seiner ratio zu folgen,
„wohin immer sie mich führt“ (Tusc. 2,15). Dieses entgegenkommen zu verweigern,
würde aber nichts weniger heißen, als sich seiner Natur zu verweigern, so dass das
Folgen der Vernunft in einer eigentlicheren perspektive kein Zugeständnis, sondern
393 Vielleicht handelt es sich aber auch einfach um eine anspielung auf platons Timaios 87d und
88c.
152 3. Therapeutischer Logos
394 Vgl. platon, Der siebente Brief 344a: „Kurz und gut, denjenigen, der der sache nicht innerlich
verwandt ist, den kann weder schulbegabung noch ein gutes gedächtnis je dazu bringen, denn
in ihr fremden Naturen kann sie überhaupt keine Wurzel fassen“ (Übers. howald).
3.7. Das zweite Buch 153
Buch ii ist nicht nur das kürzeste aller fünf Bücher, es enthält auch die kürzeste
argumentation des gesamten Werks. auf die ausgangsthese des schülers „ich halte
den schmerz für das größte aller Übel“ (Übers. gigon) braucht der Magister nur die
Frage zu stellen, ob jener sie auch für größer als die schande (dedecus) halte, um
die sofortige entkräftung der Behauptung herbeizuführen (Tusc. 2,14). Die Konse-
quenz auf die emotionale Verfassung wird unmittelbar angeschlossen: „siehst Du,
nach wie kurzer ermahnung Du den schrecken (terror) vor dem schmerze verloren
hast?“ (ebd.).
ciceros Verfahren ist leicht analysierbar: Die Zuschreibung eines superlativs
an einen Gegenstand scheitert, sobald sich ein anderer Gegenstand finden lässt,
der seinerseits als Träger dieses superlativs gelten muss. Die rhetorische Frage des
Magisters legt einen solchen gegenstandswechsel des superlativs ‚größtes Übel‘
395 Vgl. Vogt 2004, 74, siehe aber dort anm. 24. gut aufgelöst ist das problem bei halbig 2004, 50 f.:
„Der Schmerz etwa, den jemand bei einer Wurzelbehandlung empfindet, stellt in sich selbst noch
keinen affekt dar. Von einem affekt kann erst dann gesprochen werden, wenn die person, die
den körperlichen Schmerz empfindet, dem propositionalen Gehalt eines Urteils der Art ‚meine
situation ist schlecht und verdient, dass ich mit Niedergeschlagenheit darauf reagiere‘ seine
Zustimmung gegeben hat. … Weder ein stoischer Weiser noch ein Kind sind daher affekten
unterworfen; der Weise deshalb nicht, weil er keine falschen Werturteile fällt, das Kind deshalb
nicht, weil ihm noch die Vernunft fehlt, die es zu solchen urteilen befähigen würde. Beide sind
jedoch selbstverständlich in der Lage, körperlichen schmerz und Lust zu erfahren. schmerz
[sc. als Emotion] und Lust [als Emotion] dürfen mithin nicht mit körperlichen Empfindungen
identifiziert werden, wie der moderne Gebrauch dieser Begriffe nahe legen könnte. Eine solche
Verwechslung wird allerdings zusätzlich dadurch gefördert, dass auch die stoa selbst in ihrer
Terminologie nicht zwischen Lust und schmerz als Bezeichnung der affekte einerseits, der
körperlichen Empfindungen andererseits differenziert.“ Cicero aber trennt meistens sauber
(ausnahme Tusc. 4,18), wie auch halbig (ebd., 51) konstatiert, schon in De finibus (fin. 2,13
„Lust“ als emotion im gegensatz zur körperlich-sinnlichen Lust in fin. 2,75) ist der unterschied
deutlich. Die Tugend der Tapferkeit bewältigt den schmerz (als sinnliches Datum), aber löscht
ihn nicht aus (fin. 2,93) Vgl. oben seite 103, anm. 289.
154 3. Therapeutischer Logos
nahe: Nicht schmerz, sondern schande ist der richtige Träger des prädikats. Die
Folgerung, dass dann, wenn die schande das größte Übel darstellt, der schmerz
nicht mehr dieses sein kann, ist zwingend. Das Zugeständnis, dass die schande ein
größeres Übel als der schmerz sei, ist aber keineswegs unanfechtbar. cicero treibt
den Dialog hier nicht auf die spitze, sondern schildert den gesprächspartner des
Magisters als eine Figur, die gerne bereit ist, sich auf die moralisch anspruchsvollere
position einzulassen.
Das Verhalten des schülers zur Kurzargumentation von Tusc. 2,14 ist zweigeteilt:
Einerseits ist eine gewisse – vorläufige – rationale Akzeptanz mit einer richtigen Be-
weisführung bereits erreicht, andererseits springt der Lehrer zu schnell über auf die
emotionale akzeptanz und behauptet, der Furcht vor dem schmerz (terror doloris)
sei nun ein ende gemacht. Diese Wirkung auf die emotionalität könnte der Beweis-
gang aber nicht einmal unter stoischen Voraussetzungen erreichen, denn dass der
schmerz ein Übel darstellt, ist nicht ausgeschlossen worden. insofern wäre es auch
für den stoiker konsequent, sich vor ihm als einem Übel zu fürchten. Kein Wunder
also, dass der schüler mehr (plus) verlangt. Dieses „plus“ ist cicero bereit zu geben:
es besteht in einer rede, die nicht nur argumentativen, sondern – was für cicero
gerade beim umgang mit dem schmerz wichtig ist – ‚erbauenden‘ Wert haben muss.
Mit Tusc. 2,15 beginnt also schon der rednerische Teil von ciceros ausführungen, in
dem einerseits ein ergebnis erreicht werden muss, das sämtliche aspekte der seele
einholen kann, das aber andererseits als praktisches ergebnis zusätzlich des Vollzugs
bedarf. Dieser Vollzug ist die aktive Zustimmung, und um die Bereitschaft für diese
zu verbessern, bedarf es mehr als ‚bloßer Logik‘. auch das zweite Buch bleibt also
dem in den Tusculanen angewandten strukturschema treu: auf eine kurze, rational-
dialektische argumentation396 folgt die rednerische ausführung. in den Begriffen
der gliederung philons gesprochen, mischt cicero negative Therapeutik, die sich
vornimmt, falsche Meinungen zu widerlegen, mit positivem therapeutischem Logos,
in dem eine richtige, ‚gesunde‘, auffassung zum schmerz etabliert werden soll.
cicero legt im zweiten Buch sehr viel Wert auf die Bereitschaft des hörers
(literarisch der Figur des schülers), mit „offenem geist“ (animus non repugnans;
Tusc. 2,15) der rede (oratio; Tusc. 2,42) zu folgen. Wenn also im proömium noch
herausgestrichen wurde, wie wichtig die natürliche anlage für die aufnahme und
umsetzung argumentativer rede in der seele ist (Tusc. 2,11–13), so heißt das aber
nicht, dass alle charakterliche Vorausdispositionen nur auf anlage beruhen müssten.
Vielmehr entspricht ciceros Forderung nach einer nicht widerstrebenden mentalen
einstellung auch einer aufforderung an den angesprochenen, sich selber frei zu
machen für eine sichtweise, die ‚therapeutisch hilfreich‘ sein kann. Der schüler
sagt ihm dies zu: „rationem, quo ea me cumque ducet, sequar“ (Tusc. 2,15; Wohin
auch immer mich die Vernunft führt, werde ich folgen). Da an dieser Textstelle der
äußerst kurze logisch-stoische redeanteil bereits abgeschlossen ist, kann der schüler
als ratio nicht mehr rein syllogistische oder mit Kettenschlüssen arbeitende argu-
mentationsgänge verstehen, sondern darüber hinaus diejenige ratio meinen, die in
der oratio wirksam wird. cicero hält nicht mit seiner Meinung zurück, dass gerade
die ‚stoisch-kleinteiligen‘ Schlüsse eher ein gegenläufiges Ergebnis bewirken und
damit unter umständen die perversion von ratio denn ihre Verwirklichung darstellen
(Tusc. 2,29; 2,42) können.
als ersten schritt versucht cicero eine art unterteilung (divisio, partitio), wie sie
als erster schritt für streitfragen (quaestiones) vorgesehen ist (vgl. top. 79–96). Die
unterteilung gehört zur definitio, d. h. zur Bestimmung eines gegenstandes am Be-
ginn einer rede. Die zur Debatte stehende quaestio ist eine quaestio infinita (allge-
meine streitfrage), die cicero in top. 79 auch propositum nennt. ihr gegensatz ist die
konkrete causa (quaestio finita), in der auf ort, Zeit und person Bezug genommen
wird. cicero verlangt die Behandlung einer quaestio finita auf dem hintergrund der
quaestio infinita, und diese kann nur adäquat behandelt werden, wenn der redner
über gute Kenntnisse aus philosophie und allgemeinbildung verfügt.397 hier aber
haben wir es bereits mit einer quaestio infinita (griech. qevsi~) zu tun.
cicero unterteilt aber nicht den schmerz in einer divisio, denn als (innerer)
sinnlicher Eindruck ist er phänomenal eindeutig; Gegenstand einer Definition sind
Begriffe, nicht die Dinge selber. cicero unterteilt die Weisen der stellungnahme zum
schmerz (Tusc. 2,15). Man kann in diesem Fall nicht von einer divisio Carneadea
sprechen, wie sie zum höchsten gut aus De finibus bonorum et malorum bekannt
ist,398 weil das integrative Moment – die suche nach dem ‚kleinsten gemeinsamen
Nenner‘, einer ansicht, auf die alle unterschiedlichen schulen zu bringen sind – hier
nicht verfolgt wird und weil cicero nicht nur philosophische stellungnahmen an-
führt, sondern darüber hinaus auch die die Öffentlichkeit nicht weniger prägenden
aus der Dichtung.
Von aristipp ausgehend konnte die These, der schmerz sei das größte Übel, bei
epikur die auffälligste Wirkung entfalten.399 ciceros Kritik an epikur beruht auf
der Forderung der logischen stringenz: Wenn epikur tatsächlich den schmerz für
397 Vgl. De or. 2,41 ff.; 2,65 ff.; 2,78; 2,137 ff.; 3,109–111; 3,120 und Brittain 2001, 333.
398 fin. 2,34 f.; fin. 5,16 ff.; vgl. anhang 2, seite 199.
399 Vgl. darum auch fin. 2,92–95, wo cicero die einzelnen aspekte der schmerzlehre epikurs kriti-
siert und in fin. 2,96–100 den Widerspruch zu epikurs eigener haltung dem schmerz gegenüber
betont, die besser war als es seine Lehre erwarten ließe. – im gegensatz zu De finibus wendet
cicero in den Tusculanen zunächst nur einen Teil der zur Verfügung stehenden argumente an
und bringt diese nicht in konsequenter abfolge wie in der kurze Zeit vorher verfassten schrift.
so wird z. B. die epikureische Behauptung, schwerer schmerz sei kurz und dauernder schmerz
leicht, erst in Tusc. 2,44 auf- und angegriffen (vgl. fin. 2,94; KD iV; GV 4). Dafür ist die Zahl
der Beispiele in den Tusculanae Disputationes höher. es geht cicero im Text hier also nicht um
schulauseinandersetzung, sondern um die auch rednerisch untermauerte therapeutische rede.
156 3. Therapeutischer Logos
400 in Thomas Manns erzählung Der kleine Herr Friedemann gelingt es ausgezeichnet, einen
Menschen zu schildern, der durch solcherart geistige anstrengung ein lustvolles und darin
glückliches Leben zu führen in der Lage ist – bis zum Zusammenbruch allerdings.
401 „Definis tu mihi, non tollis dolorem“ (Du definierst mir den Schmerz, entfernst ihn aber nicht;
Tusc. 2,30). Dieser satz bringt in ziemlicher schärfe zum ausdruck, wo cicero die grenzen der
probabilität stoischer Theoriebildung sieht.
3.7. Das zweite Buch 157
logischen: Durch die Faktizität der Tapferkeit und der darin liegenden schmerzbe-
wältigung beweisen sie ihre Möglichkeit.
Die in der lateinischen sprache geltende unterscheidung zwischen labor und
dolor nutzt cicero, um eine kleine spitze gegen das in dieser sache weniger feine
Differenzierungsvermögen der griechen abzuschießen, die für beides nur das Wort
povno~ kennen.402 Nachdem diese Abgrenzung erfolgt ist, kann er eine Definition des
schmerzes nachtragen:
„Dolor [est] ... motus asper in corpore alienus a sensibus.“ (Tusc. 2,35; „Der schmerz ... ist eine
raue Bewegung im Körper, die den sinnen zuwider ist.“ Übers. Kirfel)
Der schmerz ist also kein seelischer Zustand, und ein Mensch, der schmerz emp-
findet, befindet sich deshalb noch nicht in einer perturbatio animi, die erst durch
falsche Meinungen zustande kommt.
Vielleicht kann es etwas überraschen, dass cicero nun aber nicht mit einer
Analyse dieser Definition im Hinblick auf die Fragestellung des zweiten Buches
fortfährt. eine solche analyse könnte u. a. zeigen, dass der schmerz als körperlicher
Zustand per definitionem gewissermaßen nicht imstande ist, das glückliche Leben,
das eine ‚seinsweise‘ der seele beschreibt, zu berühren oder zu beeinträchtigen.
Diese Vorgehensweise wäre für den logisch orientierten stoiker die erste und primäre
option. cicero aber dreht für sich den spieß dieser argumentation um: gerade weil
der schmerz eine Verfassung des Körpers darstellt, ist er mit rationaler argumenta-
tion nicht hinwegzudefinieren. Erneut also gilt: Nicht das Definieren, sondern das
erleichtern des kognitiven (seelischen) ertragens des schmerzes ist Ziel der argu-
mentation (vgl. Tusc. 2,30).
Für den, der unter falschen ansprüchen an die auseinandersetzung mit dem schmerz
herangeht, wird die erwartung an eine „Medizin aus der philosophie“ (vgl. Tusc.
2,43) in gewisser Weise gedämpft: Zunächst und zuerst gilt für die Bewältigung des
schmerzes, dass nichts so hilfreich ist, wie die außerrationalen Mittel der gewöh-
nung (consuetudo403) und der Übung (exercitatio). Die gewollte anstrengung in der
arbeit (labor) festigt dabei eine körperliche Basis, die auch die ungewollte Belastung
durch den schmerz (dolor) besser zu bewältigen lehrt (Tusc. 2,35). Dies bedeutet
aber nicht, dass das projekt der ‚heilung durch philosophie‘ aufgegeben werden
müsste. es stößt nur beim schmerz an eine grenze: als körperliches und sinnliches
Faktum kommt er gewissermaßen von außen, er gehört zu den Tatsachen, die sich
nicht durch seelische Bewegung in ihrer Tatsächlichkeit verändern lassen. auch ein
Blau-Eindruck, der über die Augen wahrgenommen wird, kann vielleicht durch Defi-
nition einen anderen Namen erhalten, aber er kann in seiner Qualität doch nicht durch
eine seelische Bewegung verändert werden. Was in der (außen-)Welt blau ist, kann
402 Dass die lateinische sprache der griechischen an ausdrucksmöglichkeiten überlegen sei, betont
cicero ausdrücklich in fin. 3,5.
403 „consuetudinis magna vis est“ (Tusc. 2,40; „Die gewöhnung besitzt eine große Kraft“, Übers.
Kirfel).
158 3. Therapeutischer Logos
durch einen eingriff in diese außenwelt verändert werden, eine bloße umbenennung
und in diesem sinn eine Änderung der Kognition ändert aber die außenwelt nicht.
Was die Kognition aber bestimmen kann, ist die Wertung des Faktums. Wenn cicero
in Tusc. 2,42 ankündigt, er wolle jetzt nach gewöhnung und Übung auch über die
rationalen Möglichkeiten sprechen, so heißt die Frage letztlich: ‚Welches gewicht
will ich als Schmerzempfindender dieser Empfindung bemessen?‘ Es ist dabei kein
Zufall, dass er erneut die auseinandersetzung mit epikur sucht (Tusc. 2,44 f.). epi-
kur, der als philosoph den schmerz als das größte Übel bezeichnet, gibt dennoch als
Mensch ein hervorragendes Beispiel von schmerzbewältigung ab. Durch kognitive
Fähigkeiten wie erinnerung an frühere Lusterfahrungen gelingt es ihm anscheinend,
ein aktuelles Schmerzempfinden aus dem Bewusstseinraum auszublenden und so zu
nivellieren. cicero aber besteht – wie in Tusc. 2,17 – auf Konsequenz in der rede:
Wer wie epikur davon spricht, dass das größte Übel der schmerz sei, erschwert die
schmerzbewältigung eher als dass er ihr nützt. sein Zugang zur schmerzbewälti-
gung ist für cicero kein philosophisch-rationaler mehr, denn ein solcher muss seinen
ausgangspunkt beim Logos, also dem argument nehmen, und nicht darauf abstellen,
mit einer Technik der Wirklichkeitsausblendung das in der rede vom ‚schmerz als
größtem Übel‘ Behauptete zu überspielen.
cicero dagegen geht zunächst von einem Begriff aus: der virtus. Da der lateinische
ausdruck für Tugend von vir, dem Mann, abgeleitet sei und diesem insbesondere die
Tapferkeit zukomme, womit wieder besonders die Verachtung von Tod und schmerz
gemeint wäre, müsse jeder, der der Tugend teilhaftig sein will, sich vor allem zur ge-
ringschätzung dieser beiden zusammenraffen. Dieses argument, das wohl auch nach
ciceros ansprüchen kaum als ein besonders sachgemäßes gelten dürfte – schließlich
lässt es sich ja so nur in der lateinischen sprache konstruieren – stellt nur eine rhe-
torische hinführung zum eigentlichen Ziel seiner rede dar: dass die gründlichste
Bewältigung des schmerzes aus der Tugend heraus geschehen muss:
„anderswo [sc. als bei epikur] muss man also ein heilmittel (medicina) suchen, und zwar
vornehmlich, wenn wir danach suchen, was besonders folgerichtig ist, bei denen, für die das
sittlichgute (honestum) das höchste gut und das schändliche das größte Übel zu sein scheint“
(Tusc. 2,45; Übers. Kirfel).
cicero nennt hier den Tugendbegriff, den er eigentlich im sinn hat: das honestum,
wörtlich also ‚das ehrenhafte‘. es übersetzt den griechischen ausdruck kaloka-
gaqiva (das ‚schöne und gute‘), womit das in-sich-gute gemeint ist im gegensatz
zu jedem guten, das um eines anderen willen ‚gut‘ genannt werden kann (‚gut für
…‘). in sich gut ist die sittliche güte, die man im Deutschen eben – wie auch das
lateinische virtus – mit ‚Tugend‘ wiedergeben kann.404 Freilich: in ciceros Über-
setzung honestum für kalokagaqiva verliert sich die ästhetische Komponente, die
404 Vgl. Frank Töpfer: kalokagathia/kaloskagathos. in: horn/rapp 2002, 229. Honestum ist ein
seelischer Zustand, denn die sittliche güte drückt sich aus im handeln, und das handeln hat
beim Menschen seinen ursprung in der seele.
3.7. Das zweite Buch 159
der griechische Begriff beinhaltet, und damit etwas der gedanke, dass das sittliche
gute handeln gerade auch seinen Wert in der Betrachtung als ‚schönstes‘ handeln
besitzt.
Die Tapferkeit, die den seelischen umgang mit dem schmerz begründet, beruht
als Tugend, wie cicero in den Büchern iii und iV der Tusculanae Disputationes
ja zeigt, auf dem richtigen Wissen über das gute und das schlechte. Zweifellos
ist der schmerz „naturwidrig“ (contra naturam, Tusc. 2,29), und als solcher ist er
zu meiden. er behindert unter umständen sogar die ausübung der dem Menschen
natürlichen und eigentlichen Betätigung der rationalität in der Tugend. Daher ist
er in den meisten handlungsentscheidungen auch ‚zurückzustellen‘, anders gesagt:
Ceteris paribus muss in einer praktischen abwägung diejenige handlung gewählt
werden, die weniger oder keinen schmerz verursacht. in diesem sinne trifft auf ihn
die Bezeichnung ‚Übel‘ (malum) durchaus zu. aber die entscheidende Frage ist, wie
man ihn in einer hierarchie von zu erstrebenden und zu meidenden ‚gegenständen‘
einordnen will. hier legt sich cicero in seiner literarischen rolle als Lehrer in ei-
ner klaren positionierung fest: Der schmerz ist nicht so sehr zu meiden, dass das
honestum, also das ‚schöne und gute handeln‘ davon beeinträchtigt werden dürfte.
umgekehrt ist es ausdruck von Tugend, dem unvermeidlichen schmerz tapfer zu
widerstehen.
cicero argumentiert mit der schwer zu rekonstruierenden und von ihm nicht
ausreichend erklärten Zweiteilung der seele (Tusc. 2,47): Neben einem rationalen
besitze sie einen nicht-rationalen anteil. Dieser nicht-rationale anteil wird als
weichlich, kraftlos, schlaff und unterwürfig charakterisiert, also als der Anteil, der
die Tendenz besitzt, dem Schmerzempfinden Macht über die seelische Haltung zu
gewähren, während es aufgabe des vernünftigen anteils ist, über dieses schwäch-
liche seelenmoment zu herrschen. Die in De officiis von cicero referierte mittelsto-
ische unterscheidung zweier seelenteile, des lovgo~ und der oJrmhv (off. 1,101 und
1,131 f.), stellt wohl kaum ein unmittelbares Vorbild für die hier gemachte dar, denn
cicero schildert in seiner Beschreibung des nicht-rationalen seelenaspekts kein
strebevermögen, sondern ein bremsendes, weiches, hemmendes Trägheitsmoment,
das offenkundig für die ‚reibungsverluste‘ verantwortlich ist, die die rationalität
auch in innerseelischen prozessen erfährt.405 Freilich: seine Beispiele zu den herr-
schaftsverhältnissen sind platonisch (bzw. aristotelisch): Das literarische Beispiel des
odysseus aus einem stück des pacuvius soll zeigen, dass die Macht des rationalen
seelenteils über diesen außerrationalen in analogie zum herrschaftsverhältnis des
imperators über den soldaten gedacht werden kann (Tusc. 2,51). Bei einem Weisen,
in dem die Vernunft vollkommen und vollendet (absoluta atque perfecta ratio) ist,
405 Vgl. oben seiten 110 und 121. Die Forschungslage ist alles andere als eindeutig: olof gigon
(Komm.) 497 beispielsweise nimmt an dieser stelle „unverkennbar“ Verwandtschaft zur aristo-
telischen psychologie (vgl. EN i 13, politik i, 5) wahr, heinz gunermann sieht mit Max pohlenz
hier „die seelenlehre des panaitios vorliegen“ (im Kommentar zu: cicero, De officiis, stuttgart
1976, 353). auch in der – allerdings sehr schlecht überlieferten – Laelius-rede von De re pu-
blica 3,37 ist von zwei seelenteilen die rede, wobei dort offenkundig die perturbationes dem
niedrigeren seelenanteil zugerechnet werden, der sich vom höheren und besseren, nämlich der
sapientia, beherrschen lassen muss.
160 3. Therapeutischer Logos
gleicht es dem Verhältnis des gerechten Vaters zum folgsamen sohn.406 ob es diesen
Weisen tatsächlich gibt oder geben kann, stellt cicero ausdrücklich in Frage, als ideal
aber bildet er ein Leitbild, in dem ohne Mühe und reibung der Vernunftbeschluss
seine Umsetzung findet (Tusc. 2,51).407 Diese Bezugnahme auf den stoischen Weisen
und seine unmittelbare Beherrschung der seele in all ihren aspekten bildet ebenso
ein scharnier zur im dritten und vierten Buch entwickelten Lehre wie vor allem die
an ein Beispiel des c. Marius anschließende Bemerkung, dass nicht die Natur das
Übel konstituiert, sondern die opinio.
an diese ausführungen zur selbstbeherrschung (sibi imperare; Tusc. 2,47; 2,53)
als vernunftgemäße Beherrschung des schwachen seelischen anteils schließt cicero
Beispiele zum schlagwort der contentio animi, der anspannung der seele an. Diese
anspannung ist in hinsicht auf die officia gefordert. Der Begriff officium wird hier
sehr allgemein gefasst, indem er jeden zurechenbaren menschlichen Vollzug bedeutet
und umfasst so auch den umgang mit dem ausdruck von schmerzen im stöhnen
oder schreien (Tusc. 2,55–57). ein solches ausdrucksverhalten ist für cicero und
die stoa durchaus von sittlicher relevanz, weil es z. B. als schlechtes Vorbild wirken
kann, also durchaus sozialbezug haben kann. Die anspannung der seele ist nicht
nur Voraussetzung der schmerzbeherrschung, sondern ebenso der Beherrschung von
Zorn oder Begierde (Tusc. 2,58). allerdings nimmt cicero hier eine Vermengung des
eben noch als körperlich definierten Schmerzes (Tusc. 2,35) mit den als seelische
Zustände zu beschreibenden perturbationes animi in Kauf.
cicero stellt im zweiten Buch keine ‚schmerztherapie‘ vor, denn der schmerz
ist als sinnesdatum nicht vermeidbar. aber cicero stellt eine Weise des kognitiven
umgangs mit dem schmerz vor, die er so resümiert:
„um den schmerz ruhig und gefasst ertragen zu können, nützt es also am meisten, mit ganzem
herzen, wie man sagt, zu bedenken, wie ehrenvoll (honestum) das ist. Denn von Natur aus ...
zielen und streben wir in höchstem Maß nach einer sittlich-guten haltung (honestas)“ (Tusc.
2,58; Übers. Kirfel).
Wer seine Seele nicht durch eine akute oder bevorstehende Schmerzempfindung
durcheinander bringen lassen will, wer die mit akuten oder bevorstehenden schmerz-
empfindungen oft verbundenen perturbationes animi vermeiden will, der hat am
meisten davon, wenn er es versteht, den ‚geistigen Blick‘ ganz auf das honestum,
d. h. also auf das sittlich gute handeln zu richten. Das Verfahren bei der schmerz-
bewältigung ähnelt also bereits etwas dem Verfahren des „bewahrenden Logos“. es
kommt darauf an, seinen Blick in die richtige richtung zu lenken. ein bestimmter
kognitiver umgang mit dem schmerz ermöglicht seine Bewältigung. es ist tatsäch-
lich der Blick auf kraftvolle sätze, auf eine rede (oratio), und zwar die rede vom
honestum als höchstem gut und von der schande als weitaus schlimmerem Übel als
der schmerz, der es bewirkt, dass die seele von den Verwirrungen der angst und des
Jammers frei bleibt. so ist der schmerz zwar nicht beseitigt, aber die seele bleibt
frei von perturbatio, die sich ja erst aus der Zustimmung zu einer ‚Wertproposition‘
ergibt wie derjenigen, dass der schmerz ein Übel sei.
cicero wendet im zweiten Buch das Therapiemodell aus den Büchern drei und vier
an, aber nicht unter der Voraussetzung eines monistischen seelenmodells, das die
seele nur aus einer rationalen spur bestehen lässt, sondern unter einbeziehung eines
weiteren, von der rationalität zu beherrschenden seelenaspekts, der die Tendenz
besitzt, die umsetzung der ‚Beschlüsse‘ der Vernunft zu bremsen und zu hemmen,
der aber durch gewöhnung und Übung an das von der Vernunft vorgegebene Ziel
herangeführt werden kann. Dieser die rationalen Möglichkeiten hemmende anteil
der seele scheint aber nicht völlig un-logisch oder irrational, sondern durchaus auf-
geschlossen für das argument zu sein, allerdings nicht primär in seiner syllogistisch-
deduktiven Verbindung, sondern für die oratio, d. h. die durch rednerische Mittel
aufbereitete ermunternde rede. cicero lässt den interpreten seiner schrift jedenfalls
im unklaren darüber, ob sich die Notwendigkeit, seelische Therapie in orationes
anbieten zu müssen, auch dem umstand verdankt, dass es in der seele diesen zwei-
ten, trägeren aspekt gibt. als Vermutung liegt diese Folgerung jedenfalls nahe. in
diesem rednerischen Verfahren spielen exempla eine gewichtige rolle.
so lässt cicero in einem Doppelbeispiel gegen ende des zweiten Buches eine
art Quintessenz des Textes durchscheinen: Der altstoiker Dionysios von heraklea
war nur ‚theoretisch‘ in der Lage, den schmerz nicht unter den Begriff des ‚Übels‘
zu fassen, weil dieser ja in der stoischen Schule nur für sittliche Defizite vorbehalten
ist. als ihn dann aber persönlich und unmittelbar schmerzen betrafen, verlor die
sprachverzerrende Lehre der stoiker in ihm ihren halt und er musste einräumen, dass
die rede der stoiker unangemessen war. poseidonios, die neben panaitios zweite
große gestalt der mittleren stoa, bringt trotz seiner schmerzen nicht nur genügend
physische Kraft auf, um dem pompeius zu dozieren, sondern auch genügend kogni-
tive, um die stoische These, dass der schmerz kein Übel sei, ständig neu erringen
zu können. (Tusc. 2,60–62). Wir finden also bei Cicero in der Frage der Gewichtung
des schmerzes wie in der Frage der gewichtung des Todes (Buch i) immer wieder
das grundmotiv, dass man eine aussage oder These zu bestimmten existenziellen
problemlagen „wollen“ (görler) muss. Die heilende These drängt sich nicht mit
Notwendigkeit – auch nicht mit logischer Notwendigkeit – auf, sondern sie muss
aktiv ergriffen und ‚gewollt‘ sein.408
es gibt, so cicero als unterredner in den Tusculanen, die Möglichkeit, durch
kognitive Kraft den schmerz zu bewältigen (nicht: zu überwältigen) oder zumindest
zu beschränken. Beschränkung heißt dabei eingrenzung auf das rein physische Miss-
empfinden, dem ja in der stoischen Terminologie der ‚Schmerz‘, der in der Emotion
Kummer liegt, hinzutreten würde, wenn man den schmerz für ein Übel hielte. es
kommt dabei also darauf an, den richtigen propositionen die Zustimmung zu geben.
Die Zustimmung zu einer einzigen scheint allerdings zur Therapie eines gemeinen
Menschen nicht auszureichen. Die hoffnung ist trügerisch, dass sich nur mit einer
einzigen aussage, der asketisch-stoischen, dass nur das honestum gut und das turpe
schlecht sei und so der schmerz kein Übel darstellen könne, schon die volle seeli-
sche umwendung erzielen lasse. es ist vielmehr hilfreich, sich auch über die diese
aussagen begleitenden sätze zu vergewissern. sie können beispielsweise heißen:
‚Der ruhm – und damit ist der echte ruhm gemeint, der der Tugend nachfolgt – ist
bedeutender als der schmerz‘ oder: ‚Die größe der seele muss den schmerz besie-
gen‘. ciceros zweites Buch der Tusculanae Disputationes nennt eine Fülle solcher
sätze, die ihren Kern alle in der stoischen These haben, dass ein wahres gut nur das
eigene sittlich gute oder sittlich schlechte Verhalten sei. aber die menschliche seele
ist für cicero zum einen in den meisten Fällen nicht so strukturiert, dass bereits die
Zustimmung zu einem einzigen satz ihre innere Disposition völlig ändern würde,
und zum andern ist sie in verschiedenster Weise verfehlten urteilen der Menge (vgl.
Tusc. 2,63) ausgesetzt, die eine eben erreichte kognitive Kraftanstrengung auch
wieder zunichte machen können. cicero zeigt aber auch, dass das Ziel nicht eine
momentane, z. B. aus rhetorischer Überrumpelung erreichte, seelendisposition sein
soll, sondern ein gleichmaß, das ihre Quelle im richtigen Überzeugungsbestand hat.
Dafür ist es auch gleichgültig, ob man nun den schmerz ein ‚Übel‘ zu nennen bereit
ist oder nicht (Tusc. 2,66) – entscheidend ist der umgang mit der sache.
cicero beschließt die rede des zweiten Buchs, indem er sie mit dem ergebnis
des ersten verbindet: Wenn der Tod kein Übel ist, kann der schmerz im äußersten
Falle über den Weg des Todes beseitigt werden (Tusc. 2,67). Die Möglichkeit des
suizids als ausweg ergibt sich für die stoa konsequent aus ihrer güterlehre. Wer wie
seneca oder cato uticensis das Leben selbst für kein ‚gut‘ hält, stellt es wie jedes
ajdiavforon einer abwägung anheim. Meist ist das Leben natürlich in einer handlung
vorzuziehen, denn es bildet die Basis und conditio sine qua non für das sittliche han-
deln schlechthin. sollte das eigene sittliche handeln durch äußere umstände (d. h.
der seele ‚äußere‘, z. B. auch schmerz) verunmöglicht sein und das Leben nur noch
fremde ressourcen sittlichen handelns binden, so besteht sittlichkeit aus stoischer
sicht in der Freigabe der ressourcen, auch um den preis des eigenen Lebens. einen
absoluten Wert menschlichen Lebens gibt es für die stoiker nicht.409
Bemerkenswert im hinblick auf die gesamtinterpretation des Werkes ist die
ausdrückliche Bezugnahme auf die perturbatio animi der Furcht. cicero als autor
lässt am ende den schüler sagen:
„ich hoffe, in diesen beiden Tagen von der Furcht vor den zwei Dingen, die ich am meisten
fürchtete, befreit worden zu sein.“410 (Tusc. 2,67; Übers. Kirfel)
Diese schlussbemerkung lässt noch einmal deutlich werden, dass sowohl die argu-
mentation des ersten wie auch diejenige des zweiten Buches in einer hinordnung
zur gesamtaufgabe der Tusculanae Disputationes, nämlich der heilung der Ver-
wirrungen der seele durch philosophie, steht. Dass der schüler allerdings „hoffen“
muss, dass die Befreiung gelungen sei, zeigt das stets nur Vorläufige, das jedes
409 Zur Diskussion um den suizid bei den stoikern vgl. prost 2004, 304–319.
410 „... meque biduo duarum rerum, quas maxime timebam, spero liberatum metu.“
3.8. Zusammenfassung 163
argumentative ergebnis beinhaltet. Die gesundheit der seele ist für den gemeinen
Menschen nicht ein für allemal zu erreichen – so wie sie der Weise besitzt –, sondern
dauernd neu im Zeitverlauf zu erringen.
3.8. ZusaMMeNFassuNg
cicero diskutiert emotionen nicht primär unter dem aspekt ihrer die erkenntnis und
rationalität hemmenden Funktion, wie sie in redewendung wie „vor Liebe blind“
oder „vom Zorn verblendet“ zum ausdruck kommt.411 cicero diskutiert die emo-
tionen auch nicht primär im hinblick auf ihre stellung innerhalb einer bestimmten
anthropologie und ontologie. es geht ihm vielmehr um ein aufzeigen von argu-
menten, mit denen der konkret seelisch Beunruhigte zu größerer seelischer ruhe
kommen kann. Was immer die perturbationes animi zu beruhigen und abklingen
zu lassen hilft, darf ‚Bestandteil‘ des therapeutischen Logos sein. ontologische und
anthropologische prämissen sind schnell der gefahr der Widerlegung ausgesetzt.
Deshalb will sich cicero weder auf eine bestimmte ihm bekannte historische see-
lenlehre wie den Monismus eines chrysipp oder den Dualismus eines poseidonios412
festlegen noch eine eigene ausgearbeitete anthropologie vorlegen. Das hat viele
interpreten der Tusculanen, die das historische Vorbild gesucht haben, verstört. auf
der ebene der epistemologie bleibt cicero beim skeptizismus. Zwar gibt es für den
in seelischer Verwirrung befindlichen Menschen einen unleugbaren Leidensdruck,
aber auch die Möglichkeit, diesen Leidensdruck durch Kognitionen zu vermindern.
hier sieht cicero tatsächlich eine historische philosophenschule, die auf diesem
Weg weiter gekommen ist, als andere: den stoizismus. ihre vermeintliche radika-
lität erweist sich zur seelischen Therapie als durchaus passend. Deshalb benutzt er
die Lehren ihrer schulvertreter genau so, wie sie ihm zum therapeutischen Zweck
angemessen erscheinen. Leitend ist dabei die Überlegung, dass die seele nur dann
überzeugt werden kann, wenn die rede und die argumentationen plausibel und
zustimmungswürdig sind. Von dieser ebene aus kann dann vielleicht sogar vor-
sichtig auf die ontologie zurück geschlossen werden, z. B. wenn man die Kraft der
gewöhnung als therapeutisches Mittel einräumen muss und so versteht, dass der
bloße seelische Monismus, der jeden Einfluss auf die Emotionalität in einer rati-
onalen operation verstehen muss, unplausibel ist. in gewisser Weise gelangt dann
auch cicero zu einer seelenlehre, die zwischen der reinen rationalität und einem
außerrationalen Moment unterscheidet. Die Konzentration auf die rationale schiene
des therapeutischen prozesses ist aber angelegt in dem streben, die autonomie des
‚subjekts‘ in diesem prozess zu wahren.
411 „Leidenschaft wird euren Blick nicht irren“, so philipp ii. an Marquis de posa in schillers Don
Carlos (Zeilen 3345 f.). – in platons Phaidon besteht nach Michael erler „das problem […]
darin, dass unkontrollierte affekte sokrates’ partner trotz ihrer Bereitschaft hindern, sich allein
dem Logos anzuvertrauen, wie dies sokrates zu gelingen scheint.“ (erler 2004, 63). Vgl. auch
Timaios 86c.
412 cicero nennt poseidonios offenbar einmal omnium maximus Stoicorum (Hortensius Fragment
34 B).
164 3. Therapeutischer Logos
Das gelingen einer kognitiven Therapie setzt die Überzeugung von der Mög-
lichkeit des gelingens voraus, und die anwendung außerrationaler therapeutischer
Mittel ist selbst durch die rationalität zu bestimmen. ob es richtig ist, eine Ver-
haltenstherapie (gewöhnung) anzuwenden, entscheidet nicht ein außerrationaler
seelenteil, sondern die Vernunft. sie ist und bleibt unter jedem anthropologischen
Modell die leitende instanz. Deshalb kann sich cicero getrost auf die Lehre stützen,
die den schwerpunkt ganz auf die Vernunft legt, nämlich die stoische. sie sieht
den ursprung jeder emotion in einer proposition, der man fälschlich zustimmt.
Therapie besteht also darin, diese Propositionen aufzufinden und die Zustimmung
zu ihnen zu korrigieren. so beruht die emotion der Trauer über den Verlust eines
Menschen zum einen auf der proposition, der Tod sei ein Übel, zum anderen – und
cicero nimmt hier offensichtlich anleihe bei einem gedanken chrysipps – auf der
proposition, man sei es dem Verstorbenen geradezu schuldig, zu trauern, anders ge-
sagt: es gäbe berechtigte oder geradezu verlangte emotionen. Durch Widerlegung
dieser aussageinhalte kann die perturbatio animi geheilt oder zumindest gelindert
werden. sein skeptizismus, der vor allem darauf Wert legt, dass man sich nie zu si-
cher sein dürfe und eine prinzipielle revidierbarkeit jedes gewonnenen ergebnisses
anzuerkennen ist, obwohl und trotzdem man dieses ergebnis als zustimmungswertes
behandeln müsse und aus ihm handeln soll, kommt cicero dabei durchaus zupass.
in diesem sinne sind die Bücher i und ii der Tusculanae Disputationes mit der
emotionslehre des dritten und vierten Buches verspannt. sie diskutieren zwei weit
verbreitete exemplarische Thesen (‚Der Tod ist ein Übel‘ und ‚Der schmerz ist das
größte Übel‘), die unweigerlich zu emotionen der angst und der Trauer führen
müssen. Zur Widerlegung dieser emotionsbegründenden aussagen kann cicero nun
allerhand argumente beistellen, auch solche, die nicht aus der schule der stoiker
stammen, sondern aus der philosophie platons oder auch epikurs. Das ist nicht alles
„mangelnde strenge“ und „gedankliche unklarheit“,413 wie man es als interpret aber
durchaus empfinden kann, wenn man Einheitlichkeit in den Schulvoraussetzungen
sucht, sondern ciceros Weise, in der rede (oratio) Überzeugungen aufzubrechen
und zu verändern. eklektizismus ist also gegenüber cicero kein Vorwurf, sondern
beschreibt eine seiner besonderen Fähigkeiten. Messen lassen müssen sich in ciceros
Verständnis die Bücher i bis iV der Tusculanen daher nicht an der richtigkeit der
Quellenwidergabe oder an der Frage, ob er bestimmten philosophischen schulrich-
tungen gerecht wird, sondern an der therapeutischen Kraft, die seine (rede-) Texte
zu entfalten in der Lage sind. Dass cicero in der abfassungszeit dieses Werks nicht
nur an seine individuelle seelenheilung denkt, sondern in mittelbarer Weise die ge-
samte res publica roms aus ihrer in egoistischen und hedonistischen Befangenheiten
bestehenden perturbatio befreien helfen will, versteht sich von selbst.
413 Die beiden ausdrücke entstammen dem ansonsten äußerst aufschlussreichen Beitrag Karlhans
abels zur stoischen affektenlehre (abel 1983, 96). abel zeigt knapp auf, in welchen punkten
Cicero im 3. und 4. Buch der Tusculanen der Alten Stoa folgt und wo Einflüsse der sog. Mittleren
stoiker wie poseidonios anzunehmen sind.
4. BeWahreNDer Logos – Das FÜNFTe Buch
4.1. Die auFgaBe
Dass cicero – besonders in den Vorreden – die Tusculanen dazu nutzt, um Werbung
für die philosophie zu machen, ist unübersehbar. Dass der gang der gespräche, die
cicero vom ersten bis zum vierten Buch schildert, darauf angelegt ist, die seele von
störungen zu befreien, sie zu heilen, ist im abschnitt 3 aufgezeigt worden. Damit
aber die heilung nicht ein momentaner effekt bleibt, sondern von Dauer sein wird
und dabei dennoch die stete gefährdung berücksichtigt bleibt, dafür nimmt sich
cicero in einem eigenen, fünften, Buch raum. Wenn wir also in Bezug auf die
Vorreden gemäß der gliederung philons von einem protreptischen Logos gespro-
chen haben und den Diskursgang der Bücher i bis iV als therapeutischen Logos
bezeichnen konnten, so soll das fünfte Buch im Folgenden als bewahrender Logos
interpretiert werden.
Dieses fünfte Buch ist ein zweifacher Wiederaufgriff. Zum einen ein Wieder-
aufgriff der Fragestellung aus De finibus: Worin besteht das höchste gut, d. h. ein
gut, das das glückliche Leben bewerkstelligen kann? cicero weist in Tusc. 5,32
ausdrücklich auf diesen Zusammenhang hin. Zum anderen ist dieses fünfte Buch
ein aufgreifendes Weiterführen der Überlegungen aus den Büchern i bis iV: Wenn
man dort nach den das Glück störenden Einflüssen gefragt hat, und dies sind – da
das glück ja seelisches glück sein muss, weil seelischer Vollzug der eigentlich
menschliche Vollzug ist – die Verwirrungen der seele, so ist jetzt nach der positiven
Beschreibung der glücklichen seele zu suchen. auch dies macht cicero ausdrücklich
deutlich (Tusc. 5,15–19): Die Frage nach den perturbationes animi der kranken und
nach der positiven Beschreibung der gesunden seele sind zwei seiten einer Medaille.
Wie bei einer Münze, von der man weiß, dass sie eine Kopf- und eine Zahlseite
besitzt, und bei der man, wenn man die Kopfseite aufrecht vorliegen hat, weiß, dass
die rückseite die aufrechte Zahlseite sein muss,414 so könnte man auch von der
Beschreibung der kranken seele auf die gesunde (oder umgekehrt) schließen. Denn
gesundheit und Krankheit sind hier als kontradiktorische gegensätze aufgefasst:415
Wo nicht das eine herrscht, herrscht das andere, so dass die jeweiligen Beschrei-
bungen für den einen Zustand nur negiert werden müssen, um eine Beschreibung für
den anderen Zustand zu gewinnen. – Das wäre jedenfalls „die art der Mathemati-
ker“ (mos mathematicorum; Tusc. 5,18): eine logisch stringente herleitung, wie sie
auch die stoiker entwickelten. cicero hält dieses Verfahren für nicht ausreichend.
er will, obwohl bereits die Krankheit der seele eindrücklich dargelegt wurde, die
Beschreibung ihrer gesundheit noch einmal eigens unternehmen.416 Dazu dient ihm
wie in den vorangegangenen Büchern eine schülerbehauptung (Tusc. 5,12) als aus-
gangspunkt: „ich glaube nicht, dass die Tugend das glückselige Leben hinreichend
zustandebringt“ (Übers. Gigon). Der Anspruch Ciceros als Lehrerfigur liegt also
darin, jene These aufzuweisen, die eine zentrale Bedeutung für die gesunde seele
(als ihr ‚inhalt‘) hat:
Die Tugend bringt das glückselige Leben hinreichend zustande.417
Dass in der philosophie, die er in ethischer hinsicht am meisten befürwortet, nämlich
der stoischen418, diese Behauptung überhaupt aufgestellt wird, hält cicero bereits
für eine gewaltige Leistung (Tusc. 5,2; 5,19).419 es bestätigt sich, dass cicero tat-
sächlich mit dem fünften Buch einen bewahrenden Logos vorlegen will, den sich
der handelnde zum handeln vorstellen sollte, wobei hier ‚handeln‘ in sehr weitem
sinn als Vollziehen, das „in unserer Macht liegt“, verstanden ist. ein erster sinn der
gegenthese zur schülerthese, also der aussage, dass die Tugend es ist, die das Leben
glücklich macht, liegt in der bloßen Kraft, die diese These für die handlungen eines
subjekts hat: sie soll als geistiger anker zu einem sittlich einwandfreien Vollzug
des Lebens verhelfen.
aber cicero weiß genau, dass eine bloß vorgelegte These eine solche Kraft zwar
insofern haben kann, indem sie beispielsweise durch ihre erhabenheit oder die au-
torität derer, die sie vertreten, anspricht (hier z. B. diejenige des Brutus, Tusc. 5,12
und 5,22), dass sie aber das motivierende Moment, das hier ‚Kraft‘ genannt wurde,
auch verlieren kann, wenn sie angegriffen, also bezweifelt wird. cicero macht in
Tusc. 5,20 deutlich, dass er es zwar hoch einschätzt, dass die philosophie (er meint
die stoische und akademisch-peripatetische des antiochos) eine Wappnung gegen
das schicksal verspricht, der Wortlaut verrät aber auch, dass er die bloße Vorlage der
These im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit für nicht ausreichend befindet.420 Nach-
haltig zu sein ist aber ein entscheidendes Kriterium für einen bewahrenden Logos.
Auch dieser braucht also Gründe. Ciceros literarische Methode, eine Schülerfigur
eingeführt zu haben, bringt den Vorteil, dies prägnant und doch ohne Beschädigung
des anspruchs ausdrücken lassen zu können.
Gleich zu Beginn der Disputation trennt der Schüler das ‚gute Leben‘ begrifflich
vom ‚glücklichen Leben‘ (Tusc. 5,12): Während sich ein gutes Leben auch auf der
nicht nur analytisch aus der schwäche des Bösen herleiten wollen, sondern „auf beiden Wegen
vorgehn und bald von dieser, bald von jener seite her meine Behauptung bekräftigen“ (Übers.
gegenschatz/gigon).
417 cicero nennt damit ein qewvrhma (stob. Ecl. 2.7, p. 41, 6), wie es philon für den „Logos für das
Leben“ fordert: “There is a need in life for certain theorems which will bring about the safegu-
arding of the end.” (Übers. Brittain). Das Ziel ist das glückliche Leben.
418 und der mit ihr als sachlich identisch empfundenen Lehre der akademiker und peripatetiker
um antiochos von askalon (vgl. fin. V).
419 Vgl. seneca, De vita beata 20,1: „‚Nicht leisten die philosophen, was sie sagen.‘ gleichwohl
leisten sie schon damit viel, dass sie sprechen, dass sie die sittlichkeit in Begriffe fassen (quod
honesta mente concipiunt).“ (Übers. Mutschler).
420 Tusc. 5,20: „Sed videro, quid [philosophia] efficiat; tantisper hoc ipsum magni aestumo, quod
pollicetur.“ (hervorhebungen B. K.). Übers. gigon: “aber wir werden sehen, was sie tatsächlich
zustande bringt. immerhin halte ich schon das für groß, was sie verspricht.”
4.2. Die struktur 167
Folterbank (eculeus – gewissermaßen ein sinnbild für körperliche und äußere Übel)
beibehalten lässt, indem man die ansprüche rationaler sittlichkeit wahrt, kann doch
kein gefolterter sich glücklich nennen. Die stoiker aber zeichnen das Bild so, dass
das glückliche Leben beim Tugendhaften sogar auf der Folterbank anwesend ist,
dass also gutes und glückliches Leben sachlich identisch ist:
„gewiss: dieser chor der Tugenden, die auf dem Folterbock liegen, gibt ein anschauliches und
großartiges Bild, so dass man meint, das glückselige Leben müsse im gestreckten Lauf dorthin
eilen und nicht dulden, dass sie von ihm im stiche gelassen würden. Wenn Du aber den geist
von einem solchen gemälde und Bildern der Tugenden auf die Tatsachen und die Wahrheit
hinlenkst (ad rem veritatemque traduxeris), so bleibt die nüchterne Frage, ob einer, so lange er
gefoltert wird, glückselig sein kann. (Tusc. 5,13 f.; Übers. gigon)
Die aufgabe, die cicero aus dem Munde des schülers erklären lässt, ist also klar:
Wenn die stoischen Bilder und Thesen motivierende Kraft haben sollen, dann müs-
sen sie Wahrheitsbezug und realgeltung aufweisen können. cicero will also zeigen,
dass der satz, die Tugend reiche zum glücklichen Leben hin, einerseits höchsten
Bezug zur Wahrheit – die seite der rationalität – und andererseits höchste geltung
aus der erfahrung für sich beanspruchen kann. gegen ende der Disputationes, in
Tusc. 5,82 glaubt cicero diese anforderung im rahmen der Möglichkeiten, die
seine skeptische grundüberzeugung bieten, erfüllt zu haben.421 Letztlich ist aber
eine gewisse grundentscheidung unausweichlich. Diese ist nicht irrational, sondern
ausgesprochen vernünftig, weil sie sich an das hält, was sich als maxime probabile
(höchst zustimmungsfähig) erwiesen hat.
Bei den Büchern i bis iV konnte man klar ciceros strukturierungsprinzip erkennen:
auf einen strengen stoischen argumentationsteil folgte eine argumentation, die
mit Beispielen, autoritäten, polemiken und dergleichen rednerischen Mitteln mehr
arbeitete.422 Für das fünfte Buch ist diese einteilung so nicht mehr nachweisbar,
wenn man nicht ciceros Feststellung, dass bereits die ergebnisse der ersten vier
Bücher das ergebnis der Fragestellung des fünften bestimmen, als ‚stoischen argu-
mentationsteil‘ auffasst. Man muss wohl eher davon reden, dass das ganze fünfte
Buch rednerisch gestaltet ist, allerdings gibt es auch dieses Mal gewisse metho-
dische einschnitte: Bis Tusc. 5,54 steht die Darstellung im Dienste der wiederholten
explikation von Basissätzen der stoischen ethik. Freilich lockert cicero sie mit
421 „habes, quae fortissime de beata vita dici putem et, quo modo nunc est, nisi quid tu melius at-
tuleris, etiam verissime.” Weder gigon noch Kirfel geben das fortissime in den Übersetzungen
deutlich wieder. am ehesten trifft es noch Büchner: „Damit hast du, was nach meiner ansicht
in der eines Tapferen würdigsten Weise über das glückliche Leben gesagt wird und, wie es
jetzt liegt, wenn du nicht etwas Besseres beibringst, auch so, dass es der Wahrheit am nächsten
kommt.“ es ist selbst sache der Tugend, in der stärksten Weise (fortissime) über die Tugend zu
reden.
422 im vierten Buch wurde dafür das Bild vom „rudern“ für den ersten, und vom „segeln“ für den
zweiten Teil gefunden (vgl. Tusc. 4,9 und oben 3.3., seiten 96 ff.).
168 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
Bezügen zu epikur (Tusc. 5,26 f.) oder platon (Tusc. 5,34–36) auf. ab Tusc. 5,54
wird die Darlegung noch stärker von erzählungen und anekdoten bestimmt, u. a.
von der Dionysios-geschichte (Tusc. 5,57–63) und dem Bericht ciceros über seine
Auffindung des Archimedes-Grabs (Tusc. 5,64–66). offenkundig soll mit diesem
zweiten abschnitt die lebensweltliche erfahrung von autor, hörer und Leser an die
Darlegung der rationalen ‚Dogmatik‘ des ersten abschnittes angeschlossen werden.
in Tusc. 5,82 gelangt cicero sogar schon zu einem ersten abschluss, wird aber durch
die schülerfrage nach der Konsistenz seiner position mit dem in De finibus Vertre-
tenen zu einem größeren epilog angespornt, der sich um die integration aller ernst
zu nehmenden philosophischen positionen in eine Lebenshaltung, die durch den
genannten bewahrenden Logos gestützt wird, bemüht (Tusc. 5,82–120).
Die stoischen positionen werden im fünften Buch von cicero nicht mehr so
sehr in ihrem Zusammenhang dargestellt, sondern als einzelne wiederholt. auch die
schulherkunft selbst soll nach ciceros Willen für die jeweiligen Thesen keine große
rolle mehr spielen. Das interesse, eine das handeln im Leben tragende Überzeugung
zu belegen, überwiegt hier das doxographische bei weitem. cicero diskutiert viele
Frage- und problemstellungen nicht aus; es reicht ihm, erste plausibilitätsgründe zu
liefern. er setzt voraus, dass die Vertiefung, wenn nicht in den Büchern i bis iV der
Tusculanae Disputationes, so zumindest in De finibus bonorum et malorum schon
geleistet wurde. als illustration eines solchen unvollendeten gesprächsgangs kann
die szene in Tusc. 5,14 dienen. hier wendet der schüler recht schlagkräftig ein, dass
die Klugheit, die ja offenkundig eine Tugend darstellt, um des glücklichen Lebens
willen den schmerz der Folter zu vermeiden sucht. Daraus müsse man doch folgern,
dass die Tugend selber das glückliche Leben nicht nur in ihr selbst sieht, sondern
auch die schmerzfreiheit mit einbezieht. cicero lässt diesen einwand stehen und
greift ihn nicht als logischen, sondern als einwand aus der erfahrung erst in Tusc.
5,76 wieder auf. Freilich, die güterlehre, die in Tusc. 5,43–47 wiederholt wird, gibt
eine antwort, aber dass es sich dabei um eine antwort auch auf den einwand des
schülers von Tusc. 5,14 handelt, muss der Leser selbst kombinieren: als ‚Zurück-
zustellendes‘ ist der schmerz von der Tugend der Klugheit selbstverständlich zu
meiden, als ‚Zurückzustellendes‘ fließt er in die Güterabwägung mit ein. Sollte aber
in der abwägung erkannt werden, dass er für ein größeres gut oder zur abwendung
eines größeren Übels in Kauf genommen werden muss, dann muss auch um der Be-
wahrung des glücklichen Lebens willen der schmerz in Kauf genommen werden.
cicero hat in den ersten vier Büchern der Tusculanen insgesamt wenig über die cha-
rakterzüge der an der Disputation beteiligten Schüler- und Lehrerfigur (also seine
eigene Persönlichkeit) in die Sachdebatte einfließen lassen. Die persönlichen Ei-
genschaften spielen noch am ehesten in den protreptischen Logoi der Vorreden eine
rolle423, treten im Therapieteil kaum zutage und bleiben auch im fünften Buch recht
423 Wo immerhin deutlich wird, dass Cicero eine Freundschaft mit Brutus pflegt, oder dass ihn
4.3. Die stoische Basis 169
die Trauer über seine persönliche situation – gerade auch nach dem Tod seiner Tochter – tief
getroffen hat.
424 Vgl. Horn 1998, 10. Horn skizziert auch (in kritischer Absetzung) die einflussreiche Position
von pierre hadot: „Nach hadot ist philosophisches Wissen in der antike anders als in der
Moderne stets an der person dessen ausgerichtet, der erkenntnis oder orientierung sucht: es
ist adressatenorientiert.“ (ebd. 16). Das bloße Dialogpersonal mit der anonymen Schülerfigur
und der zurückgenommenen persönlichkeit ciceros zeigt schon, dass dies für die Tusculanae
Disputationes nicht recht zutrifft.
425 Vgl. Tusc. 2,11 und oben seite 152.
426 Max Weber: Politik als Beruf (1919, 21926), stuttgart 1992, 70–81. „Wesentliches Kennzeichen
der Letzteren [sc. Verantwortungsethik] ist, dass die in der konkreten handlungssituation in
der außenwelt erwartbaren handlungsfolgen bei der verantwortungsethischen Beurteilung der
Handlungsweise Berücksichtigung finden, während der Gesinnungsethiker die situationsspezi-
fisch erwartbaren äußeren Folgen der von ihm für moralisch richtig gehaltenen Handlungsweise
als ethisch irrelevant betrachtet.“ Micha h. Werner: Verantwortung. in: M. Düwell u. a. (hrsg.):
Handbuch Ethik, stuttgart 2002, 523.
427 Vgl. fin. 3,22. Wenn man den sittlich handelnden mit einem Bogenschützen vergleicht, dann
kommt für den Bogenschützen alles darauf an, dass er recht zielt und alles zur erreichung des
Treffens tut. Darin erreicht der schütze das höchste gut. Das Treffen selbst aber gehört nicht
zum höchsten gut, auch wenn es natürlich ‘vorzuziehen‘ ist. als höchstes gut ist das richtige
Zielen zu erstreben.
170 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
(der außenwelt) mit einzubeziehen. Der stoiker betrachtet also die handlungsfol-
gen keineswegs als irrelevant, sondern sie sind die grundlage seiner entscheidung.
allerdings gibt er sich keine Verantwortung für umstände, die er nicht wissen und
daher nicht einbeziehen konnte.
Für die stoiker gibt es eine ethik, die regeln begründet, welche für alle gelten.
cicero versucht, die plausibilität dieser ethik auch in ihrem glücksbezug darzu-
legen. Wenn man nun die aus der Formulierung des schülers in Tusc. 5,12 („Non
mihi videtur ad beate vivendum satis posse virtutem.“) hergeleitete Fassung der
aufzuweisenden These:
betrachtet, so scheint es, dass dem Wortlaut nach hier eine instrumentelle Bezie-
hung angezielt ist.428 Fraglich wäre jetzt nur, ob das ‚instrument‘ Tugend durch
ein anderes ersetzbar wäre, ob also beispielsweise ein gewisses Maß an reichtum
ebenso ein glückliches Leben ‚bewirkt‘. cicero lehnt diese Möglichkeit ab.429 also
ist die Tugend ein notwendiges und hinreichendes Mittel zum glücklichen Leben.
Bedeutet dies aber nicht letztlich, dass Tugend und glückliches Leben identisch sind?
cicero könnte mit der unterscheidung von verbum und res antworten: Sachlich sind
tatsächlich das tugendhafte (gute) Leben und das glückliche Leben identisch, dem
Begriff nach aber können sie unterschieden werden. Die sprache ist angelehnt an
Verhältnisse der Verursachung, dies bleibt aber ein modus dicendi.
im gegensatz zum dritten Buch von De finibus bietet cicero im fünften Buch der
Tusculanae Disputationes keine systematische Darstellung der stoischen ethik,
sondern sammelt methodisch verschiedene plausibilitätsgründe für die zu belegende
These. in Tusc. 5,16 knüpft er an den Common sense oder das allgemeine sprach-
empfinden an: Wir verwenden den Ausdruck ‚glückliches Leben‘ nicht so, dass
wir ihn allein an der Empfindung von Glück festmachen wollten. Wenn wir über
jemanden sagen, er sei glücklich, so durchaus auf dem hintergrund, dass man sich
über seinen glückszustand auch täuschen kann.
„ist nicht der, der sich in Leichtfertigkeit begeistert und in leerer Freude sich ergeht und sich
bedenkenlos gehenlässt, um so unglücklicher, je glücklicher er sich selbst vorkommt?“ (Übers.
Kirfel)
eine ‚rhetorische Frage‘, die cicero hier dem schüler entgegensetzt. Die antwort
ist bereits nahegelegt: Die bloße Empfindung ist kein Kriterium für die Feststellung,
ob ein glückliches Leben vorliegt. Der sensualismus (beispielsweise eines epikur)
Wie cicero setzt seneca eine selbsterkenntnis des glückes für die glückliche seele
voraus. Während aber seneca diese selbsterkenntnis intellectus nennt, ist cicero in
diesem punkt nicht klar. einerseits vermeidet er, ausdrücklich davon zu sprechen,
dass die selbsterfahrung des glücklichen über den sensus geschieht. andererseits
behauptet er in der Diskussion des ersten Buches aber ausdrücklich, niemand könne
unglücklich (miser) sein, wenn ihm der sensus fehle. cicero greift dort das argument
der epikureer430 auf, dass ohne Empfindung (sensus) keiner unglücklich sein kann,
somit also der Tod, wenn er als Erlöschen der Empfindung aufgefasst wird, auch
nicht zum unglück führt (Tusc. 1,89). Wenn also die argumentationen im ersten und
im fünften Buch nicht völlig heterogen sein sollen, dann muss man annehmen, dass
cicero die Zuschreibung von prädikaten wie ‚ist glücklich‘ oder ‚ist unglücklich‘
an eine Art der Sinnesempfindung anbindet. Es bleibt aber dabei, dass Cicero in den
Tusculanae Disputationes letztlich keine ontologischen aussagen über die Natur der
seele treffen will. er weiß, dass die argumentationsgänge des therapeutischen Logos
auf bestimmten ontologischen prämissen basieren. Diese prämissen sind gerecht-
fertigt durch unsere Lebenspraxis und unseren sprachgebrauch. eine vollständige
selbsterkenntnis der seele durch sie selbst gibt es nicht (Tusc. 1,67). insofern ist
für ihn der Mensch immer ein gewisses ‚geheimnis‘, das sich nicht gänzlich in be-
griffliche Zusammenhänge überführen lässt. Die philosophische Therapie wird nicht
hinfällig durch Voraussetzungen, die sich nicht vollständig diskursiv einholen lassen.
Fundamentale Lebensvollzüge rechtfertigen ihre außer-logische Basis.
obwohl cicero den erfahrungscharakter des glücklichen Lebens herausstellen
will, greift er im gesamten fünften Buch der Tusculanae Disputationes nicht auf das
Konzept der stoiker von der eujpavqeia (constantia; Tusc. 4,14) zurück.431 Das über-
rascht einerseits, denn offenkundig wollen die stoiker in der Bezugnahme auf ein
‚gutes pathisches erleben‘ ihrerseits zeigen, dass das glückliche Leben des Weisen
eine erlebniskomponente besitzt, die aufgrund der auf Dauer angelegten sittlichen
Vollkommenheit dieses Weisen wie eine ‚angenehme‘ und stimmige „emotion“ und
nicht als schmerzliches gefühl auftritt. Nur der vollkommene einklang der eigenen
urteile, insbesondere der Werturteile, kann diese gestimmtheit erzeugen, nicht das
zeitweilige gefühl von selbstgerechtigkeit bei einer oder einigen sittlich guten hand-
lungen. so gibt es zwar eine selbsterfahrung des glücklichen Lebens auch für den
stoiker, aber unter der Voraussetzung des seelischen Monismus fällt das ‚pathische‘
erleben letztlich doch wieder in den Bereich intellektueller erkenntnis. Eujpavqeia
ist kein körperliches oder sinnliches Wohlbefinden. Wahrscheinlich liegt hier der
grund, warum cicero seine Darlegungen zum bewahrenden Logos (der behauptet,
dass das rationale und sittliche handeln erfahrbare ‚glücksgewinne‘ bewirkt) nicht
mit dem Begriff eujpavqeia oder constantia – wie er übersetzt – bestreitet.
cicero kann also nicht, wie es die stoiker beanspruchen, ein vollständiges begriff-
liches system des Menschen vorlegen, dem man nur zuzustimmen bräuchte, um eine
vollständige heilung der seele erreicht zu haben. Vielmehr ist jedes rationale Fort-
schreiten mit der erfahrung abzugleichen. erst das Zusammenspiel von Vernunft und
erfahrung schafft sätze, die in seinem sinn zustimmungsfähig (probabile) und damit
wirksam für das Leben und therapeutisch sind. auch der bewahrende Logos ist nicht
durch bloße Deduktion zu erreichen, sondern setzt das Zusammenspiel von Vernunft
und erfahrung voraus. in diesem sinne kann man auch ciceros unterteilung des
fünften Buches verstehen. im ersten Teil (von Tusc. 5,12 bis ungefähr Tusc. 5,54)
versucht cicero mit argumentativen Mitteln seine These, die Tugend reiche zum
glück hin, aufzuweisen; die folgenden ausführungen (abgesehen von der schluss-
passage Tusc. 5,121) sollen in ihrem erzählerischen charakter die Lebenswelt und
die lebensweltliche erfahrung in die auseinandersetzung um die These einbringen.
cicero macht dabei keine scharfen schnitte. Weder ist der Übergang ganz eindeutig
lokalisierbar (hier soll er eben in etwa bei Tusc. 5,54 angesetzt werden432), noch ist
die Aufteilung stets klar zuweisbar. So findet sich im hier ‚argumentativ‘ genannten
Teil eine anrufung der autorität platons (Tusc. 5,34–36), und natürlich wird auch aus
den Beispielen des ‚erzählenden‘ Teils rational geschlossen. Dennoch: Der aufbau
des fünften Buches der Tusculanae Disputationes gibt eine gegenüberstellung von
rationalem anspruch und ihm korrespondierender erfahrung wieder. platon gehört
dabei selbstverständlich zur seite des anspruchs, und dass die erfahrung erst durch
ihre rationale Deutung instand gesetzt wird, mit Vernunftansprüchen abgeglichen zu
werden, versteht sich von selbst. Nur im gleichen ‚Milieu‘ kann verglichen werden,
oder anders gesagt: alles, was verglichen wird, muss mindestens eine gemeinsam-
keit haben. Dieses ‚Milieu‘ ist der Logos, die sprache bzw. die Vernunft.
Die These des fünften Buches (‚Das sittlich gute Leben reicht zum glücklichen Le-
ben hin‘) ist ein sokratisches erbe in der stoischen schule. Der erste Teilabschnitt
(Tusc. 5,12–18) erfüllt zwar inhaltlich die aufgabe des „dialektischen Vorspiels“,
unterscheidet sich aber in der art der Darlegung von den „rudern-abschnitten“
(Tusc. 4,9) der ersten vier Bücher. cicero bietet in ihm nicht eine deduktive ar-
gumentation dar wie in den Büchern i bis iV, sondern setzt die These selbst einer
rednerischen Debatte (zuweilen sogar einer disputatio in utramque partem) aus. Die
beteiligten gesprächspartner sind dabei zum einen natürlich die stoiker mit ihrer
sprachlich-restriktiven güterlehre, zum anderen die peripatetiker (aristoteliker)
432 auch gigon (Komm.) 566 sieht hier einen schnitt: „hier verlässt cicero die theoretischen
Betrachtungen ...“.
174 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
mit ihrem normalsprachlichen ansatz und zuletzt die epikureer. Diese Debatte soll
zeigen, wie gut sich die stoische These unter den anfechtungen der übrigen schulen
behaupten kann, und dies gerade unter einbezug von erfahrung und Lebenswelt.
Die wesentlichen Momente können so nachgezeichnet werden:433
433 Die reihenfolge der aufgestellten gesichtspunkte ist wie bei den Besprechungen der ersten vier
Bücher durch die abfolge des primärtextes, ciceros Tusculanen, bestimmt. Vielleicht kann so
auch eine gewisse stringenz der schritte aufgewiesen werden. Dabei schließt die hier vorge-
nommene Kommentierung und interpretation Wiederholungen mit ein, schon aus dem grunde,
weil auch der zugrundeliegende Text solche Wiederholungen beinhaltet.
4.6. Das fünfte Buch der Tusculanen als abgleich von Vernunft und erfahrung 175
ßerlichen gegebenheiten,434 die die seele nicht selbst bestimmen und über die sie
nicht allein verfügen kann, sondern die zu weiten Teilen in der Macht der fortuna,
des Zufallsglücks, liegen. Wenn die seele zur ruhe kommen soll, dann muss sie sich
– so ciceros verdeckter, aber dem Leser oder hörer durchaus verständlicher schluss
– von der Bindung an diese äußeren gegebenheiten befreien, anders gesagt: sie muss
die erträglichkeit – und letztlich Belanglosigkeit – äußerer (und körperlicher) güter
einsehen. cicero spricht davon, dass man das, was von außen zukommen kann, für
tolerabilis halten solle. Die Wortwahl ist nicht beliebig, denn die erträglichkeit auch
eines schweren schicksals lässt sich über die erfahrung bestätigen (cicero war be-
reits im zweiten Buch um Beispiele nicht verlegen), während die – von den stoikern
behauptete – Belanglosigkeit des schicksals für das glück eines Menschen über das
menschliche erfahrungswissen schon wesentlich schlechter abgesichert ist.
4.6.2. Äußere güter führen nicht zu glück, sondern zur unruhe der seele
Zum gleichen Thema bemüht sich cicero eine neue perspektive zu gewinnen: in
Tusc. 5,20 wird die erfahrung an einem historischen Beispiel konkretisiert:
„Weil Xerxes, der doch mit allen gaben und geschenken des schicksals überhäuft war, nicht
mit seiner reiterei, nicht mit den Fußtruppen, nicht mit der Menge seiner schiffe und nicht mit
der unbegrenzten Masse an gold zufrieden war, setzte er für den eine Belohnung aus, der ihm
ein neues sinnliches Vergnügen erfände – aber auch mit diesem selbst war er nicht zufrieden.“
(Übers. Kirfel)
rein logisch ist der folgende schritt ciceros streng genommen unzulässig: aus Xe-
rxes’ einzelfall schließt er: „Die Begierde (libido) wird niemals ein Ende finden.“
Dennoch trifft sich auch hier prinzipielles mit empirischem: Die unendlichkeit
angenommener äußerer güter ist die ursache der unendlichkeit des Begehrens, weil
Begierde in Bezug zu angenommenen äußeren gütern steht. Das gilt gewissermaßen
analytisch. aber die akzeptanz des analytisch erschlossenen wird erleichtert durch
das konkrete Beispiel.
Nachdem cicero in dieser Weise den Boden bereitet hat, kann er zu den heikleren
stoischen Thesen, die allesamt in der güterlehre ihren Verknüpfungspunkt haben,
übergehen. Zunächst wird der ausgleichende Vorschlag des antiochos von askalon
angesprochen: Dieser meinte, man könne die stoische glückslehre mit der aristote-
lischen güterlehre in der Weise vereinbaren, dass man aus der Fülle der seelischen
güter auf das glückliche Leben schließen darf, aus der Fülle aller güter (seelischer
wie körperlicher und äußerer) auf das glücklichste Leben (Tusc. 5,22).435 cicero
referiert diese position auch in fin. 5,81, allerdings mit einem deutlichen unter-
434 Mit ausnahme des ‘paradoxes der reue‘, vgl. Tusc. 3,77 und oben 3.5.5., seiten 133 f.
435 Vgl. eine Bemerkung des aristoteles in EN i 9, 1099b2 ff., in der davon die rede ist, dass jemand,
der z. B. hässlich und von geringer herkunft ist oder schlechte Kinder habe, nicht vollkommen
glücklich (pavnu eujdaimonikov~) genannt werden könne.
176 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
schied in der intention des Textes: in De finibus zielt er auf eine art gerichtlicher
auseinandersetzung zum Zwecke der Findung des veri simile ab, wie anspielungen
zeigen,436 in den Tusculanen geht es um einen Logos, der durch das Leben tragen
kann. Deshalb darf in De finibus auch eine gewisse unklarheit über diese Frage am
ende bestehen bleiben, da cicero so den Leser selbst zum richter (entscheider)
über die sache macht. in den Tusculanen bleibt dieser punkt nicht offen, denn der
Leser soll nicht zwischen zwei „sachen“ entscheiden, sondern er soll sich für einen
satz entscheiden. hier lässt er die unterscheidung des antiochos aus zwei gründen
nicht gelten: 1. Logisch: ein Übel ist ein hindernis zum glücklichen Leben. Wenn
es nun körperliche und äußere Übel gibt, vor denen sich selbst ein Weiser nicht
schützen kann, so kann dieser Weise auch nie glücklich sein. als glücksgüter können
nur solche relevant sein, die der Weise selbst in seiner Verfügungsmacht hat (Tusc.
5,22). 2. alltagssprachlich: ‚glücklich sein‘ bezeichnet eine Vollkommenheit. es
ist deshalb unsinnig, den ausdruck dieser Vollkommenheit noch weiter steigern zu
wollen (Tusc. 5,23). antiochos’ einwand, man könne einen gegenstand nach seinen
überwiegenden eigenschaften bezeichnen, kommt in fin. 5,91 durchaus zu einigem
recht. in den Tusculanae Disputationes hält cicero „dies jetzt auseinanderzulegen“
für „nicht so notwendig“ (Tusc. 5,23; Übers. Kirfel). um es zu wiederholen: Die ab-
sicht des Textes ist eine andere. Der bewahrende Logos aus der Philonos Dihairesis
muss ein klarer und eindeutiger sein, der als Maßgabe für handeln fungieren kann.
Natürlich ist der bewahrende Logos (‚Die Tugend ist hinreichend für das glückliche
Leben‘) für cicero kein dogmatischer und endgültiger satz, sondern kann mög-
licherweise in einer untersuchung nach art von De finibus widerlegt werden; de
facto aber konnte er in De finibus nicht widerlegt werden. prinzipiell ist also auch
der bewahrende Logos der prüfung ausgesetzt. aber menschliches Leben kann sich
nicht im prüfen von sätzen erschöpfen. Deshalb muss auch eine entscheidung ge-
troffen werden – zugunsten eines satzes, den man als Vor-satz seinen handlungen
zugrunde legt.437
cicero plädiert für die stoische These, dass das sittlich gute Leben hinreichend
ist zum glücklichen Leben, aber die aneignung dieses satzes geschieht wie beim
therapeutischen Logos nicht durch zwingende erkenntnis, sondern durch eine
entscheidung. Theophrast, so sagt cicero, konnte diesen satz „nicht aufrechter-
halten“ (sustinere non potuit; Tusc. 5,24). Theophrast ist mittelbar und indirekt ein
436 am deutlichsten in der charakterisierung der Dialogperson des piso: „Darauf erwiderte ich
[cicero]: ‚piso, wenn es jemand gibt, der bei prozessen (in causis) gewöhnlich mit scharfem
Blick erkennt, worauf es ankommt, dann bist das sicher du.‘“ (fin. 5,78; Übers. Merklin). Vgl.
fin. 5,88.
437 insofern ist gerade die entscheidung für den bewahrenden Logos eine ‚option‘. allerdings eine
begründbare und begründete option, also nicht die Form des optare, die cicero in fat. 47 dem
disputare entgegensetzt, wo optare die willkürliche Festlegung (der epikureer in Bezug auf
die vermeintlichen Bahnabweichungen der atome) und disputare das begründete untersuchen
bezeichnet.
4.6. Das fünfte Buch der Tusculanen als abgleich von Vernunft und erfahrung 177
438 Vgl. Tusc. 5,31: „philosophen dürfen also nicht nach einzelnen aussagen beurteilt werden,
178 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
eine Täuschung der Öffentlichkeit, und eine Täuschung ist selbstverständlich eine
sittliche Verfehlung. obwohl also die epikureer für den philosophen fordern, dass
er honeste, d. h. sittlich gut, agiere, widersprechen sie dieser Forderung in ihrer
Lehre. Dieser selbstwiderspruch zeigt zweierlei: erstens ist auch die erkenntnis
selbst nicht frei von sittlichen Maßstäben. Die epikureer wollen die Lustthese als
gültig oder wahr erkannt haben, folgen dabei aber nicht den logischen Vernunftge-
setzen, die ihnen zeigen würden, dass ihre These nicht stimmig ist. sich der rechten
einsicht zu verweigern, ist aber eine sittliche Fehlhaltung. in diesem sinne baut
also das Erkennen auf dem Willen zur erfüllung eines anspruches auf. Zweitens
folgt von daher, dass die Entscheidung zur sittlichkeit selbst sittlich richtig ist. Wer
sich zur sittlichkeit entschieden hat, erkennt hieraus die stimmigkeit der These, in
der die sittlichkeit gefordert wird. um die sinnhaftigkeit des sich-einlassens auf
rationale Normativität zu erkennen, muss man sich bereits in gewisser Weise für sie
entschieden haben.
in der autarkie des glücklichen liegt neben Konsequenz und innerer stimmigkeit der
größte Vorzug der stoischen Lehre, wodurch sie als handlungs- und lebensleitender
bewahrender Logos besonders geeignet ist.439 cicero stellt die einfachen elemente
dieses gedankengebäudes in absetzung zu den epikureern, aber auch zu gewissen
peripatetikern, heraus (Tusc. 5,29):
1. Der ‚Besitz‘ der güter bedeutet glück.
2. Der glückliche ist autark, d. h. es liegt in seiner Macht, ob er ein glückliches
Leben führt oder nicht.
3. Dann aber können äußere Dinge, die nicht in der eigenen Macht liegen, keine
glücksrelevanten güter darstellen.
cicero macht deutlich, dass, obgleich diese Lehre in der situation seiner Zeit be-
sonders von den stoikern transportiert wird, sie sich aber in der sache auf die drei
‚patrone‘ der Tusculanae Disputationes berufen kann: pythagoras, sokrates und
platon. Die Berufungsmöglichkeit auf diese autoritäten ist für ihn ein Beleg dafür,
dass diese Lehre sich nicht nur auf ‚trockene Logik‘, sondern ebenso auf ‚uralte‘
erfahrungen stützen kann.
Die Differenz zwischen ciceros haltung in De finibus und hier in den Tusculanen
– wobei man besser sagen müsste, zwischen den jeweiligen cicero-Figuren – wird
sondern nach der Beständigkeit und Folgerichtigkeit (ex perpetuitate atque constantia) ihrer
Lehre.“ (Übers: Kirfel).
439 Dabei ist für cicero die Konsistenz kein ausreichendes Wahrheitskriterium, wie er in fin. 4,53
deutlich sagt. Allerdings ist die Aufgabe des fünften Buchs der Tusculanen nicht die Auffindung
der (unumstößlichen) Wahrheit, sondern die eines tragenden satzes für das handeln. ein solcher
satz muss rational ausweisbar sein, und dafür gibt die Konsistenz ein sehr gutes Kriterium ab.
4.6. Das fünfte Buch der Tusculanen als abgleich von Vernunft und erfahrung 179
Nachdem die These ‚Die Tugend reicht für das glückliche Leben hin‘ anhand ihrer
inneren und äußeren stimmigkeit im Kontext der stoischen güterlehre beurteilt
wurde und soeben die wiederholte Bezugnahme auf die autoritäten der Tusculanae
Disputationes erfolgt ist, sieht cicero offenbar einen punkt erreicht, an dem es
wieder nötig ist, zur erfahrung zurückzukehren, genauer zur Naturerfahrung. Diese
zeigt, dass es eine Zweckmäßigkeit innerhalb der Natur gibt, die die organismen
– Pflanzen, aber erst recht die mit Empfindungsvermögen ausgestatteten Tiere – selb-
ständig und autark zu ihrer Vollkommenheit gelangen lässt, wenn von außen kein
hindernis dazutritt.442 Diese ‚oikeiosis‘ der natürlichen organismen darf man auch
für den Menschen annehmen. Auch der Mensch kann selbständig seine spezifische
Vollkommenheit, d. h. vollkommene einsicht (perfecta mens, id est absoluta ratio),
d. h. Tugend, d. h. glück, entwickeln (Tusc. 5,37–39).443
cicero weist selbst darauf hin, dass diese Beobachtung und dieser gedanken-
gang aristotelischer art sind. Deshalb fügt er nochmals sein argument gegen die
aristoteliker an: Das in diesem gedankengang erklärte glückliche Leben ist nicht
verschieden vom ‚glücklichsten Leben‘. Das glück kann nur auf einem stabile et
fixum et permanens bonum gegründet sein. Da die aristotelischen güterklassen
‚körperliche‘ und ‚äußere güter‘ diese anforderung nicht erfüllen, sind sie nicht
glücksrelevant (Tusc. 5,40). Die Bezugnahme auf die scala naturae444 verweist
implizit auf den imperativ, der Mensch müsse sich doch als Mensch auf dem dem
Menschen eigentlichen Niveau ‚entwerfen‘. Das ist aber die ebene der Vernunft.
cicero will mit sokrates und den stoikern die autarkie des glücklichen Lebens und
des glücklichen bewahren und fordert den ‚glauben‘ an die autarkie:
„Wie aber kann jemand erhaben und aufrecht sein und alles, was dem Menschen zustoßen kann,
gering achten, so wie wir uns den Weisen vorstellen, wenn er nicht glaubt (nisi censebit), dass
für ihn alles in ihm selbst angelegt ist?“ (Tusc. 5,42; Übers. Kirfel)
Wiederum wird sichtbar: es geht um einen tragenden Logos. ciceros Frage hier
ist: Welchen satz sollte sich jemand, der glücklich sein und bleiben will, für sein
handeln vornehmen, vorstellen, an welchen satz sollte er „glauben“, wie Kirfel
übersetzt?445
442 in fin. 5,24–26 zeigt cicero aber auch, dass ein natürliches Wesen erst durch den eingriff des
Menschen (erziehung, Zucht) zu seiner Vollkommenheit und eigentlichen Betätigung gelangen
kann, z. B. das Pferd oder das Rind. Jedes Lebewesen hat sein spezifisches höchstes Gut (also
nicht biologistisch gedacht: selbst- und arterhaltung für jede spezies), und zu diesem höchsten
gut gelangt es möglicherweise erst durch die Mitwirkung des Menschen, der auch mehr um
dieses gut weiß als das Lebewesen selbst. cicero vermeidet damit einen plumpen Naturalismus,
der ‚gut‘ aus der Naturfaktizität ableitet.
443 Cicero flicht in diesem Zusammenhang auch einen Hinweis auf die göttliche Abstammung des
menschlichen animus aus der mens divina ein. Das ist insofern interessant, als hier offenbar
wieder auf die Lehre eines der ‚patrone‘ der Tusculanae Disputationes zurückgegriffen wird,
nämlich auf die des pythagoras (vgl. nat.deor. 1,27 und Cato 78).
444 als scala naturae bezeichnet man in anlehnung an die aristotelische philosophie die stufen-
ordnung der Natur, vom Unbelebten über pflanzliche Vegetation zu den Tieren und aufsteigend
weiter bis zum Vernunftwesen Mensch. Fortsetzen ließe sich die reihe mit den nicht mehr an
Materie gebundenen ‚engeln‘ und weiter zu gott selbst.
445 gigon übersetzt mit „wenn er nicht überzeugt ist“. Das trifft das hier gemeinte „censere“ weni-
ger, weil cicero gerade nicht einen ‚Zwang des arguments‘ feststellen kann und will, sondern
eine entscheidung als notwendig erachtet. Freilich, das Verbum „glauben“ spielt beinahe auf
eine religiöse einstellung an; soweit muss man aber nicht gehen. entscheidend ist nur, dass es
keine definitive Sicherheit im Hinblick auf diesen Satz gibt, dass aber die Entscheidung dennoch
nicht irrational ist.
4.6. Das fünfte Buch der Tusculanen als abgleich von Vernunft und erfahrung 181
Zeugnis der autarkie des in dieser Weise glücklichen ist die praktizierte Tugend,
die ihrerseits wiederum auf den Zustand der seele schließen lässt. cicero verweist
auf die praktizierte Tapferkeit der spartaner (Tusc. 5,42), nicht zuletzt deshalb, weil
gerade in der Tugend der Tapferkeit die Selbständigkeit ihren größten Ausdruck fin-
det. Tapferkeit und Mäßigung sind indizien für eine ruhige seele, und cicero nimmt
diesen Übergang zum anlass, nochmals – nach Buch iii und iV der Tusculanen – die
affektenlehre der stoiker zu skizzieren (Tusc. 5,43). Von hieraus ergibt sich auch
wieder der schritt hin zur stoischen güterlehre mit der in De finibus446 noch heftig
gerügten rede von ‚vorzuziehenden‘ und ‚zurückzustellenden Dingen‘, während
doch alltagssprachlich von äußeren gütern und Übeln die rede sein müsste (Tusc.
5,47). aber eine reihe von Kettenschlüssen (Tusc. 5,43; 45; 47; 53) sollen die innere
stringenz des stoischen Konzepts aufzeigen und ihre annahme als bewahrender
Logos rechtfertigen.447 als Beispiel für diese art des argumentierens soll hier nur
der schluss von Tusc. 5,45 wiedergegeben werden:
„Denn was auch immer das gute (bonum) ist, es ist erstrebenswert (expetendum); was aber
erstrebenswert ist, das muss man sicherlich billigen (adprobandum); was man aber billigt, das
muss man auch als angenehm (gratum) und willkommen (acceptum) ansehen; also muss man
ihm auch Würde zuerkennen (dignitas tribuendum). Wenn das so ist, muss es lobenswert (lau-
dabile) sein; also ist jedes gut lobenswert. Daraus geht hervor, dass nur das, was tugendhaft
(honestum) ist, auch gut ist.“ (Übers. Kirfel)
es ist zweifellos so, dass cicero diese schlüsse aus einem stoischen Kompendium
übernimmt und möglicherweise verkürzt. Denn in der zitierten passage fehlt bei-
spielsweise die Verbindung des prädikats honestum mit dem prädikat laudabile,
und wie in Tusc. 3,19448 dreht der schlusssatz das aufgewiesene Verhältnis unter
den logischen Bedingungen des Konditionals um: gezeigt wurde bestenfalls, dass
das bonum laudabile ist, möglicherweise erweiterbar zum honestum, wenn man
unterstellt, alles Lobenswerte sei honestum, aber das umgekehrte ergebnis, dass
nur das honestum bonum sein könne, folgt nicht. Dazu müsste man annehmen, alle
Kettenschlussverbindungen seien unter der Bedingung des Bikonditionals zu verste-
hen, das heißt alle genannten prädikate seien extensionsgleich. cicero hat offenbar
kein großes interesse daran, diese Voraussetzungen deutlich zu machen. insgesamt
kommt diesen Kettenschlüssen eher geringes argumentatives gewicht zu.
cicero will vielmehr zeigen, dass der bewahrende Logos einen anspruch zum
ausdruck bringt. Deshalb lehnt er es auch ab, die Tugend in einer abwägung mit
449 Wittgensteins unterscheidung von sagen und Zeigen ist hier sachlich in gewisser Weise vor-
weggenommen. Man sehe nur die stelle Tusc. 5,68: es geht, so cicero, nicht nur darum, „mit
Worten zu berühren“ (verbis solum attingere), sondern auch die „Bewegmomente zu zeigen“
(moventia proponere). es ist wieder das Verhältnis von (betrachtender) Vernunft und erfahrung:
Die sittliche Verpflichtung kann nicht bewiesen werden, weil die Anerkennung des Beweises
bereits die Anerkennung einer sittlichen Verpflichtung bedeutet, nämlich die besseren Gründe
anzuerkennen. Aber die sittliche Verpflichtung kann erfahren werden.
450 es geht hier also nicht um eine ‚theoretische‘ Beantwortung der Frage nach dem glücklichen
Leben; sie ließe sich, so Cicero als Skeptiker, ohnehin nicht definitiv klären. Es geht darum,
sich den anspruchvollsten satz ‚vorzunehmen‘, der der rolle der Vernunft und des sittlichen
Verantwortungsbewusstseins am besten gerecht wird. Dieser satz heißt: Das glückliche Leben
wird nur durch das tugendhafte Leben geleistet. Jede Änderung macht abstriche am anspruch,
weil bei hinzunahme von äußeren oder körperlichen gütern in den Begriff des glücks entweder
die autonomie aufgegeben werden müsste oder eine ersetzung von sittlicher Qualität durch
andere güter möglich wäre oder beides. Die Frage nach dem glücklichen Leben wird in einem
akt der entscheidung beantwortet, und zwar – neuzeitlich ausgedrückt – vom ‚subjekt‘.
4.7. Bestätigung des bewahrenden Logos in der erfahrung 183
„Was von beidem wolltest du lieber, wenn du die Macht hättest, einmal Konsul zu sein wie
Laelius oder viermal wie Cinna? Ich zweifle nicht, was du antworten wirst; und so sehe ich, an
wen ich diese Frage richte. Denn nicht jedem beliebigen würde ich diese Frage stellen.“ (Tusc.
5,54 f.; Übers. Kirfel)
Die Frage hat für denjenigen, der sich sittlich verantworten will, eine evidente ant-
wort: Das unrechtsregime des cinna kann er nicht wählen wollen.
Mit dem Vergleich bekannter römischer staatsmänner hat cicero den erörternden
Teil des fünften Buches der Tusculanen bereits hinter sich gelassen und geht nun
über in ausführungen, die den Leitsatz dieses Buches auch lebensweltlich veran-
kern sollen. Die gegenüberstellung von Laelius und cinna (Tusc. 5,54 f.) und dann
catulus und Marius (Tusc. 5,56) bilden allerdings nur das Vorspiel oder den auftakt
für die gegenüberstellung von Dionysios, dem Tyrannen von syrakus, und dem Ma-
thematiker archimedes, der rund 150 Jahre später in derselben sizilianischen polis
lebte.451 Das Beispiel von archimedes dient cicero auch, um eine eigene anekdote
anzufügen: als Quaestor in Lilybaeum (Marsala) hat er das grab dieses im Zweiten
punischen Krieg von einem römischen soldaten getöteten gelehrten wiederentdeckt
(Tusc. 5,64–66). Ähnlich wie das ‚patronat des pythagoras‘ über die Tusculanen
zeigt auch diese stelle, dass cicero sein römisches philosophieren an den Vorbildern
auf italischem Boden anschließen möchte. aber archimedes dient auch als exempel
für die Vervollkommnung des geistes, und so schließt cicero eine argumentation
an, in der er rhetorisch geschickt, logisch eher fragwürdig, aus dem mathematischen
scharfsinn des archimedes auf die sittliche Tugend der stoiker und das in dieser
bestehende glückliche Leben übergeht:
„in dem Teil, der der beste im Menschen ist, liegt notwendigerweise auch das Beste, nach dem
du suchst. Was aber gibt es in einem Menschen Besseres als einen scharfen und guten geist
(sagax ac bona mens)? Dessen gut also müssen wir genießen, wenn wir glücklich sein wollen;
das gut des geistes ist aber die Tugend; also muss in ihr das glückliche Leben enthalten sein.“
(Tusc. 5,67; Übers. Kirfel)
Mag man also gegen das archimedes-Beispiel einwenden, dass die bloße sagacitas,
der scharfsinn, in sittlich ganz unterschiedlicher Weise eingesetzt werden kann und
so noch kein Kriterium für die Vollkommenheit einer seele (cicero spricht deshalb
auch lieber von mens) abgibt,452 so muss man andererseits doch die ausschlagge-
451 es überrascht natürlich nicht, dass der historiker in diesen gegenüberstellungen attacken ci-
ceros auf caesar erkennen kann, wie strasburger 1990 (hier 56–62) dargelegt hat. strasburger
sieht ja ohnehin in den Tusculanen „den bei weitem schärfsten angriff auf caesar“ (56). so
aufschlussreich das Wissen um die historischen Kontexte auch ist, man darf nicht übersehen,
dass ciceros schrift einen prinzipielleren charakter und anspruch beinhaltet.
452 cicero behauptet, archimedes sei glücklicher als Dionysios, weil er das ‚gut des geistes‘ ver-
184 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
wirklicht, ohne zu sehen, dass mit diesem Begriff die stoiker nicht genau jenes meinten, das
Archimedes verwirklicht hat. Für die Stoiker ist zwar Wissenschaft eine sittliche Pflicht, aber
nicht als selbstzweck, sondern um Kontingenzen aufzulösen und daher präzisere handlungs-
vorgaben zu ermöglichen. an einem Beispiel demonstriert: es ist sittlich richtig, Meteorologie
zu betreiben, weil sie uns präzisere auskunft gibt, ob eine Bergrettung in einer konkreten
Wettersituation sittlich richtig ist. ohne meteorologischen rat eine riskante rettungsaktion
durchzuführen, wäre sittlich unverantwortlich.
453 ausgangspunkt dafür ist die oJmoiovth~ th`~ povlew~ kai; tou` ajndrov~ (Politeia iX 577c; „Über-
einstimmung von stadt und Mensch“; Übers. rufener).
4.7. Bestätigung des bewahrenden Logos in der erfahrung 185
ren gehen, womit die autonomiebedingung wiederum nicht erfüllt wäre. aber in
so subtile Überlegungen will cicero nicht eintreten. es reicht, wenn zumindest die
allgemeine auffassung, ohne äußere güter gäbe es kein glück, erschüttert wird in-
dem an Beispielen gezeigt werden kann, wie es gerade mit den äußeren gütern kein
glück (für Dionysios) gibt.
Nach dieser Klarstellung überrascht cicero plötzlich mit einem Vorschlag zur
Verbindung von stoischer sachthese und akademisch-peripatetischer sprachrichtig-
keit (Tusc. 5,76): Man solle doch alles, was in handlungen vorgezogen wird, als
güter bezeichnen dürfen, wenn man sich nur klarmacht, dass nur derjenige, der die
„göttlichen güter der seele“ besitzt, nicht bloß ‚glücklich‘, sondern ‚vollkommen
glücklich‘ genannt werden darf, weil sein glück nicht gesteigert werden kann. – Man
kann cicero vielleicht den Vorwurf machen, dass er damit zu De finibus zurückkehrt
und eine ‚Lösung‘ für das Problem finden will, wie sich das stoische Autarkiebe-
mühen mit der güterlehre der aristoteliker vereinbaren ließe. Man kann aber auch
erkennen, dass cicero nach wie vor den bewahrenden Logos, dass die Tugend allein
zum glücklichen Leben ausreicht, stützen will. Denn er sieht auch an dieser stelle
die gefahr, dass die rede von ‚gütern‘ in Verbindung mit äußeren und körperlichen
gegebenheiten die unabhängigkeit des glücks von diesen gegebenheit in Frage
stellt. Deshalb bemüht er sich, die seelischen güter als „göttlich“ und „den himmel
berührend“ zu beschreiben, um den ‚Kraftzuwachs‘, den körperliche und äußere
güter im Übergang von der stoischen zur peripatetischen sprachregelung erfahren,
durch einen Kraftzuwachs beim Begriff der seelischen güter zu kompensieren.
Dass er dabei auf die attribute ‚göttlich‘ und ‚himmlisch‘ zurückgreift, macht die
entscheidungssituation wieder deutlich: es ist eine Form des arguments von der
oJmoivwsi~ qew`. Der Mensch steht in der Wahlsituation, sich entscheiden zu müssen,
ob er sich bei seinem selbstentwurf an seinen göttlichen anteilen orientiert oder an
den animalischen.
Die erneute aufnahme der auseinandersetzung mit den epikureern und der skizzierte
Kompromissvorschlag mit den akademikern und peripatetikern darf also nicht dar-
über hinwegtäuschen, dass es cicero immer noch um den Beleg eines Logos zu tun
ist, der als ‚Vorsatz‘ das handeln im Leben leiten kann. allerdings darf er nach seiner
bisherigen rede davon ausgehen, dass dieser Logos im schüler so weit erhärtet ist,
dass man mittlerweile auch prekäre prüfsteine daran anlegen darf. Bewährt sich der
Logos auch hier, geht er gestärkt aus der prüfung hervor. Versagt er, wird er auch das
Leben nicht nachhaltig tragen können. Dieser prüfstein ist die Frage, wie man im
sinne der These: ‚Die Tugend reicht für das glückliche Leben aus‘ mit dem schmerz
umgehen kann (Tusc. 5,76–81). Dass cicero nach dem zweiten Buch hier überhaupt
noch einmal das Thema ‚schmerz‘ aufgreift, mutet einem Leser, der nicht zwischen
therapeutischem und bewahrendem Logos unterscheidet, erst einmal überraschend
an. olof gigon beispielsweise schreibt: „seltsam genug wird [...] ein exkurs über
das ertragen des schmerzes eingelegt, also eine ergänzung zum zweiten Buch.“456
aber eine ergänzung des zweiten Buches ist dieser abschnitt mitnichten. Jedes Buch
der Tusculanen steht unter einer Leitthese, die die gegenthese zur schülerthese ist:
Die schülerthese dort lautete: „Den schmerz halte ich für das größte aller Übel“
(Tusc. 2,14; Übers. Kirfel). Sie wird noch im selben Abschnitt modifiziert zu: Der
schmerz ist ein Übel. ciceros gegenthese, der satz, den er belegen und beweisen
will, der therapeutische Logos des zweiten Buches lautet also: Der schmerz ist kein
(glücksrelevantes) Übel.
hier im fünften Buch führt cicero das Thema schmerz ganz anders ein, näm-
lich als gegenbeleg zu einer These: „Wird aber der Weise den schmerz fürchten?
Denn er widerspricht dieser Lehre am meisten (huic sententiae maxime repugnat)“
(Tusc. 5,76; Übers. Kirfel). primär ist also eine sententia, der bewahrende Logos,
der das hinreichende genügen der Tugend für das glückliche Leben behauptet.
ciceros kritische prüfung besteht nun darin zu fragen, ob nicht die Erfahrung des
schmerzes diesen bewahrenden Logos umwerfen kann. „Der schmerz scheint der
größte gegner der Tugend zu sein (adversarius virtutis)“ (Tusc. 5,76; Übers. Kirfel).
Die Behandlung des schmerzes im fünften Buch ist von derjenigen im zweiten also
perspektivisch verschieden: Wird dort versucht, eine schülerthese zu widerlegen,
deren akzeptanz die seele in angst und damit Verwirrung – in eine perturbatio
animi – bringt, wird dort also versucht, eine Verwirrung der seele, die aufgrund der
Zustimmung zu einer falschen Meinung besteht, zu heilen, so geht es im fünften
Buch darum, einen möglichen einwand aus der erfahrung gegen einen satz, der
nachhaltig durch das Leben tragen soll, zu entkräften. cicero tut dies, indem er
Beispiele aufzeigt, die deutlich machen sollen, dass sich Tugend auch im schmerz
verwirklichen lässt. ob die auswahl der Beispiele (spartaner, inder, Ägypter, wilde
Tiere; Tusc. 5,77–79) dies leistet, mag dahingestellt bleiben. cicero selbst fordert
den hörer oder Leser auf, sich aus der eigenen erfahrung zu bedienen: Plena vita
exemplorum est. („Das Leben ist voll von Beispielen“; Tusc. 5,79).
Nachdem also diese probe bestanden ist, will cicero mit einer nochmaligen skizze
des stoischen Weisen und der stoischen Lehre einen ersten abschluss dieses fünften
Buches setzen. so wie man den bewahrenden Logos als ‚Vorsatz‘ bezeichnen kann,
kann man vom Weisen als ‚Vorbild‘ sprechen. er wird geschildert als autark, als
unabhängig von äußeren gütern und umständen, der die unberechenbarkeit der
außenwelt immer im Blick behält und so sein seelisches gleichgewicht bewahrt,
weil ihn nichts unerwartet betrifft (Tusc. 5,81). Die sittliche Tugend gewährleistet
ihm das glückliche Leben. Tugend und glückliches Leben stehen begrifflich in
einem Verhältnis wechselseitiger Notwendigkeit: „Die Tugenden können ohne das
glückliche Leben nicht bestehen und das glückliche Leben nicht ohne die Tugenden“
(Tusc. 5,80; Übers. Kirfel). sachlich liegt das glückliche Leben in der ausübung der
Tugend – ein Vollzug, der für den Menschen die Verwirklichung seiner Natur und
das Übereinstimmen mit dieser bedeutet. Übereinstimmend mit der eigenen Natur
zu leben ist aber – natürlich – möglich, so dass der Weise das höchste gut in seiner
Macht hat und damit das glückliche Leben (Tusc. 5,82). cicero schließt mit den
Worten:
188 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
„Damit hast du, was nach meiner ansicht am überzeugendsten (fortissime) und, wie es jetzt steht,
auch mit größter Wahrscheinlichkeit (verissime) gesagt werden kann. es sei denn, du kannst
etwas Besseres dazu beitragen.“ (Tusc. 5,82; Übers. Kirfel)457
ciceros rede hatte also zwei gesichtspunkte zu berücksichtigen: stärke und Wahr-
heit. Die stärke aus dem erfahrungsbezug, die ein bewahrender Logos besitzen
muss, um nachhaltig und tragend zu sein, muss sich verbinden mit der rationalen
rechtfertigungsfähigkeit. allerdings ist die antwort auf die Frage nach den recht-
fertigungsgründen nach ciceros skeptischer grundüberzeugung immer wieder neu
auf ihre Verbesserungs- oder revidierungsbedürftigkeit hin zu überprüfen. Nicht
dogmatisches Festsetzen schafft einen satz, der sich auch im hinblick auf Wahr-
heit ausweisen kann, sondern die Bereitschaft nach allen seiten (in omnis partis;
Tusc. 5,83) zu prüfen. in diesem sinne ist der von einigen Kommentatoren so ge-
nannte „zweite hauptteil“ des fünften Buches der Tusculanen zu verstehen (Tusc.
5,83–118).458 Das Ziel, den bewahrenden Logos, die These des fünften Buches, zu
belegen, wird also nicht aus den augen verloren:
„Du scheinst ja das zu wollen, dass ich zeige, was auch immer die Meinung der einander wi-
dersprechenden philosophen über das Ziel des Lebens ist, dass doch die Tugend genug hilfe
bietet, um glücklich zu leben“ (Tusc. 5,83; Übers. Kirfel).
im sinne seines Verständnisses der stoiker hat cicero die These des fünften Buches
ausreichend belegt. er hat darüberhinaus die These, die die Vernunft vorgibt, mit
erfahrungsgehalten, wie sie sich in historischen Beispielen manifestieren, abgegli-
chen. Nun versucht er einen weiteren Weg der stärkung seines bewahrenden Logos:
in anlehnung an Karneades (Tusc. 5,83) soll gezeigt werden, dass die verschiedenen
Telos-Begriffe der zeitgenössischen philosophenschulen bei konsequentem Fortden-
ken in die These des fünften Buches münden, oder anders gesagt: Dass unter der
Voraussetzung der verschiedenen philosophischen standpunkte die Entscheidung
(hoc praeclarum decretum; Tusc. 5,84) für den bewahrenden Logos, die Tugend
reiche zum glücklichen Leben hin, gerechtfertigt ist.
Wenn also cicero im fünften Buch der Tusculanae Disputationes nochmals
eine divisio Carneadea darbietet, obwohl er dies doch schon in fin. 2,34 f. getan
hat, dann spiegelt sich auch hier ein grundsätzlicher unterschied zwischen diesen
beiden Werken: Während in De finibus der skeptische Vorbehalt ciceros sich darin
begründet, dass jedes menschliche Wissen unter unvollständigkeitsbedingungen
erlangt wurde und deshalb die revidierbarkeit unerlässlich ist, obwohl man die
(vollständige) Wahrheit immerhin als Ziel bewahren darf und muss, so tritt in den
Tusculanen eine weitere perspektive hinzu: Die unvollständigkeit jedes praktischen
457 Vgl. oben seite 167, anm. 421 (dort auch die Übersetzung von Büchner).
458 Vgl. gigon (Komm.) 574; M. Tullius cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum,
Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von ernst alfred Kirfel, stuttgart 1997, 29.
4.8. integration der verschiedenen philosophischen ausgangspunkte 189
satzes, den man als wahr oder wahrscheinlich anerkannt hat, ist prinzipieller Natur,
und zwar deshalb, weil ihm die dazugehörige entscheidung fehlt. sinn der divisio
Carneadea des fünften Buches ist zu zeigen, dass man sich unter den unterschied-
lichen ausgangspunkten der philosophischen schulen, gleich ob als stoiker oder
epikureer, als akademiker oder peripatetiker, für die These entscheiden darf, dass
es die eigene sittliche Tugend ist, die das Leben zu einem glücklichen macht. cicero
versucht, die verschiedenen schulen im hinblick auf diesen Logos zu integrieren.
gerade die epikureer geben für den bewahrenden Logos ein erstaunliches Beispiel
ab: in ihrer Telos-Vorstellung (Lust) scheinen sie am weitesten von diesem satz
entfernt. in ihrer praxis aber erfüllen sie ihn: „Mit wie wenigem ist doch epikur
selbst zufrieden. Niemand hat über die bescheidene Lebensführung mehr gesagt“
(Tusc. 5,89; Übers. Kirfel). Das argument, das cicero hier ansetzt, lautet also: Wenn
selbst die epikureer die Tugend praktizieren, sich für sie entscheiden, weil sie sie
als zum glück führend ansehen, um wie viel mehr müssen ihr erst die anhänger
der übrigen philosophenschulen in dieser entscheidung folgen (vgl. Tusc. 5,119).
allerdings können die epikureer nur insofern als Beleg genannt werden, als sie
in ihrem praktischen Verhalten den animus zum richter über die güter machen
(Tusc. 5,87) und damit gerade nicht ihrer sensualistischen Theorie Folge leisten.459
eine ‚entscheidung der sinne‘ stellt für cicero gerade keine entscheidung dar.
Den sinnlich angeregten Trieben oder instinkten zu folgen, ist kein menschliches
handeln, das – selbst wenn es äußerlich mit einem handeln der Tugend überein-
stimmte – als Tugend gelten könnte. auch die peripatetiker (und mit ihnen die alten
akademiker) können trotz ihrer sprachregelung, die auch äußere und körperliche
Verhältnisse als ‚güter‘ oder ‚Übel‘ bezeichnet, durch ein urteil der Vernunft die
relevanz dieser güter auf das glückliche Leben hin soweit einschränken, dass sie
in der praxis niemals dem sittlichen und damit tugendhaften handeln vorgezogen
werden (Tusc. 5,85–87). selbst philosophen, die ein scheinbar rein äußerliches oder
körperliches gut als das höchste auffassen – wie hieronymus von rhodos, der die
schmerzfreiheit nennt (Tusc. 5,84; 87 f.) – bleiben in ihrer praxis (nämlich dort, wo
sie eine vernunftgemäße entscheidung suchen) nach cicero der These des fünften
Buches treu.
in De finibus dient die divisio Carneadea zur Übersicht und zur Begründung
eines auswahlverfahrens. in den Tusculanen ist etwas anderes angezielt: cicero
praktiziert in diesem Teil des fünften Buches ein Verfahren maximaler integration
verschiedener positionen im hinblick auf eine zu belegende These. Dieses Verfah-
ren besitzt in der politik und der politischen rede – aus der es cicero übernimmt
– normalerweise eher plausibilität als im philosophischen Diskurs. Zuweilen mutet
es sogar eigenartig an, wenn cicero sich ganz ungewohnt zu einem Verteidiger
epikurs (Tusc. 5,88 f.) steigert.460 Während es in der politik als völlig legitim er-
459 Vgl. fin. 2,36 f., wo cicero wie in Tusc. 5,87 die Frage stellt, wer, sinne oder Vernunft‚ richter
über die güter sein kann und darf.
460 Wobei er dann sogar gegen die stoiker als grandiloqui (Tusc. 5,89) polemisiert. Kirfel erklärt
diese eigenheit des abschnitts damit, dass cicero aus einer epikureischen schrift abschreibt (M.
Tullius cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum, Lateinisch/Deutsch, übersetzt
und herausgegeben von ernst alfred Kirfel, stuttgart 1997, 530, anm. 121).
190 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
scheint, die unterschiedlichen gruppierungen auf ein Ziel hin zu vereinen, und es
Teil eines ‚politischen Logos‘ ist zu zeigen, wie verschiedenste interessengruppen
in einer entscheidung ihre interessen gewahrt sehen können, könnte man gegen das
integrationsverfahren in der philosophie einwenden, dass es Differenzen verwischt
oder nivelliert, mithin also die Debatte in unsachlichere Bahnen lenkt. aber es geht
cicero nicht um eine philosophische oder philosophiehistorische enzyklopädie, die
Abgrenzungen und Einflüsse deutlich macht. Zur Differenzierung der verschiedenen
philosophischen Lehren hat cicero bereits De finibus verfasst. Jetzt geht es darum,
eine öffentlichkeitswirksame und in dieser Weise selbst politische philosophie
zu entwerfen, die allgemeine anerkennung erlangen kann. Dafür wählt er in den
Tusculanae Disputationes einen einfachen aufbau. Fünf Thesen sollen genügen,
um allgemeine irrtümer zu korrigieren und einen satz zu etablieren, der handlungs-
leitend durch das Leben tragen kann und dessen Befolgung das Leben zu einem
‚glücklichen Leben‘ macht. Wenn er also jetzt gegen ende des gesamten Werkes hin
zeigen will, dass man auch von den unterschiedlichsten ausgangspunkten zur aner-
kennung dieses bewahrenden Logos kommen und ihm in der Lebenspraxis folgen
kann, so verfolgt cicero damit also nur sein ureigenstes Ziel, die ‚Veröffentlichung‘
von philosophie.
Der schlussteil (Tusc. 5,84–118), der die integration der verschiedenen philoso-
phischen richtungen unter die These des fünften Buches, dass die Tugend zum
glücklichen Leben hinreichend ist, leisten soll, wird von Tusc. 5,88 an vorwiegend
vor dem hintergrund der epikureischen schule bestritten.461 Dabei wandelt sich
der Text zunehmend zu einer rhetorischen peroratio, einer schlussrede, in der die
These des fünften Buches reduziert und konkretisiert behandelt wird. ‚Tugend‘ ist ja
zunächst ein formaler Begriff und gibt keine konkrete handlungsweise vor. cicero
aber konkretisiert die Tugend auf äußere und körperliche Bedürfnislosigkeit und
nimmt sich dafür fünf punkte heraus, an denen er die geringe Bedeutung äußerer und
körperlicher Verhältnisse für das glückliche Leben – hier der philosophen – demons-
trieren will: Die Verhältnisse zu geld (Tusc. 5,91), zu aufwendigen speisen (Tusc.
5,97–100) und zu ruhm und ansehen bei den Mitmenschen (Tusc. 5,103–105), des
weiteren Verbannung aus der heimat (Tusc. 5,106–109) sowie das Verhältnis zu ei-
ner eingeschränkten sinnlichkeit, was cicero vor allem an Beispielen der Blindheit
(Tusc. 5,111–115) und Taubheit (Tusc. 5,116 f.) behandelt. ob cicero seine exempla
aus einem Florilegium, wie gigon meint,462 oder aus seinem gedächtnis bezieht,
mag für den Zusammenhang hier unerheblich sein. Wichtiger als einzelheiten ist
aber, die systematische stellung dieser gesammelten Beispiele am ende der Tuscula-
nae Disputationes noch einmal als rednerische Bekräftigung des bewahrenden Logos
461 in vielen punkten zeigt cicero hier ein einfühlenderes Verständnis für die epikureische Lehre, z.
B. in dem punkt der antizipation und erinnerung von Lusterfahrungen, den er ja in Tusc. 5,74
noch heftig bekämpft hat.
462 gigon (Komm.) 576.
4.10. Zusammenfassung 191
Die schlussbemerkungen von Tusc. 5,121 beenden das gesamte Werk der Tuscula-
nae Disputationes und bestätigen im abschlusssatz, dass cicero vor allem an einem
therapeutischen Text gelegen war, der dem Leser nützen (prodesse) soll und beim
autor dieses Ziel erreichte, indem er ihm allein durch seine abfassung Linderung
(levatio) verschafft hat:
„Wie weit wir damit [sc. mit der abfassung der Tusculanae Disputationes] anderen Menschen
nützen werden, kann ich nur schwer sagen; für unsere sehr bitteren schmerzen allerdings und
für die verschiedenen Kümmernisse, die uns von allen seiten bedrängen, ließ sich keine andere
Linderung finden.“ (Übers. Kirfel)
4.10. ZusaMMeNFassuNg
463 Jean-paul sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, reinbek bei hamburg 22002, 148.
192 4. Bewahrender Logos – Das fünfte Buch
464 „Wenn wir sagen, dass wir die Werte erfinden, so bedeutet das nichts anderes als: das Leben
hat a priori keinen sinn. Bevor sie leben, ist das Leben nichts, es ist an ihnen, ihm einen sinn
zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser sinn, den sie wählen.“ (J.-p. sartre: Der
Existentialismus ist ein Humanismus, reinbek bei hamburg 22002, 174).
465 gerd haeffner: Philosophische Anthropologie, stuttgart 32000, 227 (hervorhebungen des au-
tors).
466 Vgl. oben seite 110, anm. 309 und seite 145.
467 Darin liegt kein Widerspruch zu ciceros skepsis gegenüber einer beschreibenden ontologie oder
anthropologie, denn die rationalität ist ja auch Basis der skepsis. gerade vernünftige gründe
legen uns nahe, nicht vorschnell (temere) Zustimmung zu aussagen zu leisten und diese zunächst
gründlich zu prüfen, bevor man sie für praktisch akzeptabel halten darf. Der Dogmatismus ist
für cicero irrational.
4.10. Zusammenfassung 193
deggers „auf den Boden springen […], auf dem wir eigentlich stehen.“468 aber als
freies Wesen ist dem Menschen auch die Verweigerung möglich. Letztlich besteht
für cicero eine Lücke zwischen aller argumentation und dem Akt des annehmens
von argumentation und rationalität. hier ist der ort der entscheidung, man könnte
auch von ‚grundentscheidung‘ reden, an dem kein Sagen, möglicherweise aber
ein Zeigen (Wittgenstein) hilft. Während die stoiker darauf setzen, dass der Logos
in seinem Durchwirken der Materialität letztlich alles in eine (göttliche) ordnung
bringt, die nach bestimmten kosmologischen Vorstellungen einiger stoiker auch
wieder zerfallen kann oder wird, glaubt cicero nicht an den vollständigen logischen
Zwang. es liegt am entscheidenden selbst, wie er sich entscheidet. entscheidungen
sind für cicero in nostra potestate. rationalität bietet Kriterien der entscheidung,
und zwar die richtigen Kriterien. Denn es besteht gar nicht die Möglichkeit, eine z.
B. in einer überkommenen Lebenspraxis immer schon implizierte satzhafte These
sub specie aeternitatis zu deduzieren, aber es besteht u. u. die Möglichkeit, die ent-
scheidung für diese These (die in einer sich selber fraglich werdenden gesellschaft
unumgänglich ist) als gerechtfertigt auszuweisen. rationalität bietet jedoch nicht
die entscheidung selbst; sie ist vom – und hier darf ein Leitbegriff neuzeitlicher
philosophie eingesetzt werden – Subjekt zu leisten. in diesem sinne weist cicero
(wie sein Leser augustinus) auf die neuzeitliche philosophie voraus und wird zu
einem ahnherrn des subjektivitätsbegriffs.469
468 Martin heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen 1961, 17 (heidegger gesamtausgabe, Band 8,
44). Die problematik heißt eben: es gibt keinen standpunkt jenseits von Vernunft und unver-
nunft, von dem her noch einmal die Vernünftigkeit der Vernunft zu beweisen wäre. gewisser-
maßen ist Ciceros Reflektieren eine Art „Existential-Ontologie“, weil gezeigt wird, wie der Akt
der Vernunft der Reflexion darauf immer schon vorausgeht. Insofern ist Ciceros Philosophieren
eine hermeneutik des Zirkels, in dem der Mensch schon akthaft steht. Dieser standpunkt ist
nicht anderweitig nochmals deduzierbar, sondern ergebnis einer entscheidung, allerdings keiner
grundlosen, sondern einer, die gerechtfertigt werden kann.
469 Vgl. peetz 2004, bes. 48.
schLussBeMerKuNgeN
„es gibt nichts, an dem besser offenbar wird, wie sehr die Wissenschaften, die wir
von den ‚alten‘ erhalten haben, fehlerhaft sind, als an dem, was sie über die Lei-
denschaften geschrieben haben.“470 so beginnt rené Descartes sein umfangreiches
Buch Les passions de l’âme von 1649, indem er seine Theorie der affekte ganz im
sinne seines Dualismus von res extensa und res cogitans durchführt. im gegensatz
zu cicero, der die autorität ‚der alten‘ hochhält, steht Descartes – der von cicero
immerhin das skeptische approcher de la verité471 übernimmt – schon am Beginn
einer Tradition, die im Neuen das Bessere erkennt und der er natürlich über kurz
oder lang selbst zum opfer fallen musste. so verwundert es nicht, dass einer der
prominentesten gehirnforscher unserer Tage, antonio Damasio von der university
of iowa, eines seiner Bücher „Descartes’ irrtum“472 betitelt hat. Damit ist aber kei-
neswegs eine rückkehr zur stoischen oder antiken emotionstherapie verbunden,
sondern die materielle reduktion des emotionalen auf Körperzustände.
cicero übernimmt in einem akt des probare nicht nur einzelne Thesen aus der
stoischen schule, sondern auch den ganzen psychologischen ansatz der stoiker
insoweit er ein Therapiekonzept vorstellt. Kann aber die stoische Lehre von der
seele in der gegenwart angesichts der ergebnisse empirischer psychologischer
und physiologischer erforschung von emotionalität noch irgendeine geltung
beanspruchen? richard sorabji meint: ‚ja‘, und stellt von seiten der philosophie-
historischen Betrachtung einen positiven Zusammenhang zwischen den aktuellen
untersuchungen von Joseph LeDoux473 und poseidonios’ emotionslehre her.474 erst
recht werden aber von empirisch forschender Wissenschaftsseite antike positionen
immer wieder zustimmend aufgegriffen, wie vor allem stefan Kleins Bestseller zum
Glücksempfinden zeigt.475 Moderne wissenschaftliche Bestätigungen haben u. a.
folgende stoische Lehren gefunden:
a) zur geringen (oder nichtigen) Bedeutung äußerer güter für das (empfundene)
glück
b) zum störenden Einfluss unkontrollierter Emotionalität für das Glücksempfin-
den
470 rené Descartes: Die Leidenschaften der Seele, hrsg. und übers. von Klaus hammacher, frz.-dt.,
hamburg 1996, 3 (artikel 1).
471 ebd. 5.
472 antonio Damasio: Descartes’ Error: Emotion, Reason and the Human Brain, iowa 1995
(deutsch: München 1995).
473 Joseph e. LeDoux: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen, München 1998 (TB 2001);
original: The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life, oxford
1996.
474 sorbaji 2000, 6.
475 stefan Klein: Die Glücksformel. Oder: Wie die guten Gefühle entstehen, reinbek bei hamburg
2003.
schlussbemerkungen 195
476 hans goller: Psychologie. Emotion, Motivation, Verhalten, stuttgart u. a. 1995, 30.
477 ebd. 30.
478 „emotionen sind komplizierte Bündel von chemischen und neuronalen reaktionen, die ein
Muster bilden; alle emotionen haben eine regulatorische Funktion und führen in der einen oder
anderen Weise zur entstehung von umständen, die vorteilhaft für den organismus sind, der
das phänomen zeigt.“ antonio r. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des
Bewusstseins, München 1999, 68.
196 schlussbemerkungen
aber keine normativen Vorgaben macht, steht die psychologie der stoiker ganz im
Zeichen ihres normativen ansatzes. emotionen sind nicht deshalb zu vermeiden,
weil sie dem Menschen schwierigkeiten bereiten, sondern weil sie in sich falsch
sind. es ist eine Forderung der Vernunft, emotionen zu vermeiden, gerade weil sie
der rechten Vernunft entgegenstehen. oder anders formuliert: es ist vernünftig, dass
die vernünftige seele das Widervernünftige ausscheiden will. in diesem sinne ist es
auch kein einwand gegen die stoische emotionslehre, wenn man naturwissenschaft-
liche erkenntnisse, z. B. zu erregungsmustern im gehirn, gewinnt, die zeigen, wie
beispielsweise das Gefühl oder Empfinden von Angst materiell begründet ist. Diese
Erkenntnisse tragen in sich keine normative Anweisung, ob man nun Angst empfin-
den soll oder nicht. aus stoischer sicht müssen diese erkenntnisse in die abwägung
für das eigene handeln eingehen. angenommen es stellte sich also heraus, dass der
Mensch in einer durch Materie, z. B. die Gene, bedingten Zwangsläufigkeit steht,
beim Blick auf einen Abgrund von einer gewissen Höhe Angst zu empfinden, so
bedeutet diese erkenntnis nicht, dass die stoische psychologie obsolet wäre, die ja
angst als Meinung über ein falsches gut auffasst, wobei dieses gut hier wohl das
Leben wäre, das man beim absturz verlieren würde.479 es zeigt eher, dass von zwei
verschiedenen Begriffen der ‚angst‘ die rede ist. Die körperinduzierte nimmt der
stoiker als Tatsache und bezieht sie in seine handlungsentscheidung ein, indem er
beispielsweise bei zwei alternativen diejenige vorzieht, in der er diese angst vermei-
den kann, weil sie ja unter umständen die gefahr vergrößert (durch Zittern, ‚weiche
Knie‘ und dergleichen). er weiß jedenfalls darum und versucht vernünftig damit
umzugehen. Damit vermeidet er aber die emotionen im stoisch-psychologischen
sinne, deren Vermeidung ja auch normativ geboten ist.480
‚Emotionen‘, die sich materiellen Mechanismen verdanken und wie ein Reflex
auf einen Reiz mit Zwangsläufigkeit folgen, sind also nicht das Thema der stoischen
emotionstherapie. aber wie die psychologie ja selber einräumt, ist emotion ein we-
sentlich komplexeres phänomen als es mechanische abläufe sind. cicero beschäftigt
sich mit emotionen in den Tusculanen aus dem Motiv heraus, aus dem heute mo-
derne psychologen aufgesucht werden: Dem Leidensdruck. Vor allem der Kummer
über den Tod seiner Tochter und sein gewissermaßen als gescheitert aufgefasstes
Bemühen in privater und vor allem politischer hinsicht veranlassen ihn, sich mit
dem Zustand der seele, seiner seele, näher zu beschäftigen und im abfassen von
Texten Therapie zu suchen.481 cicero sieht dabei ganz recht, dass sich Leidensdruck
durch Übung und gewöhnung, auch durch den Verlauf der Zeit, vermindern lässt.
Diese außerrationalen Therapiemethoden können wirken, weil der Mensch selbst
nicht nur rationalität ist. aber cicero weiß auch, dass er, wenn er sich als Mensch
auf dem dem Menschen eigenen Niveau bewegen will, der rationalität den Vorzug
geben muss. Deshalb ist die vorrangige Begriffsbildung die philosophische, und
479 insofern der Verlust eines vermeintlichen gutes als Übel aufgefasst wird, beruht die angst auf
der falschen Meinung über ein gut. Man kann natürlich ebensogut sagen, dass die angst auf
einer falschen Meinung über ein vermeintliches Übel, nämlich über den Tod, beruht.
480 Vgl. oben seite 90. Zur besseren Klärung und unterscheidung der Begriffe hat die stoische
schule dann ja auch den Begriff der propavqeia eingeführt; vgl. oben seite 135, anm. 365.
481 Vgl. oben 1.7., seiten 58–60.
schlussbemerkungen 197
482 in unserer gegenwart scheint die philosophie bedroht durch die Naturwissenschaften, die wie
die Neurophysiologie für sich in anspruch nehmen, dem menschlichen philosophieren seinen
platz als gehirnfunktion zuweisen zu können. aus den prämissen dieser Wissenschaft (z. B.
‚alles Denken ist gehirnmechanismus‘) folgt dies durchaus konsequent. Die philosophie dage-
gen nimmt für sich in anspruch, den Naturwissenschaften, auch der Neurowissenschaft, ihren
ort darstellen zu können. auch aus ihren prämissen erfolgt dies konsequent. es bleibt also die
Notwendigkeit der entscheidung. Dabei gibt es zwar Kriterien (z. B. die selbstauffassung des
Menschen als Freiheitswesen oder als Mechanik), aber diese Kriterien liefern keine Zwangs-
läufigkeiten des Entscheidens. Nur als urteilsfähiges Subjekt kann und muss sich ein Mensch
in dieser situation verhalten. cicero kann dabei vorbildlich sein.
aNhaNg
anhang 1
Die den vier hauptgattungen von emotionen zugeordneten unterarten nach Tusc.
4,16–22:
* Nach M. Gravers Auflistung (Cicero on the Emotions, chicago 2002, 144) unter Berücksichti-
gung der Quellen: DL Vii 111–114, stob. Ecl. 2.7.10b–c (90.19–92.17 W.) und ps.-andronicus,
Über die Emotionen 2–5.
anhang 199
anhang 2
in Tusc. 5,84–88 stellt cicero die Lehren zum höchsten gut in einer Übersicht
zusammen, die er noch deutlicher in fin. 2,34 f. vorgebildet hatte. hier also die
erstfassung:
english summary
It is the aim of this investigation to show the connecting thread in Cicero’s five
Tusculan disputations. This thread is seen here in therapy of the soul, which cicero
not only describes but tries to carry out in four steps. The therapeutic concept and its
psychological presuppositions are explained in book iV: according to stoic teaching,
emotions, which are seen as diseases of the soul, can be eliminated if the underlying
assumptions are changed or eliminated. The four discussions of book i to iV are
intended to change such emotion-arousing assumptions. The most dangerous, that
death and pain are bad things, occupy books i and ii; book iii is intended to establish
that the tormenting emotion of grief should not be admitted, book iV that no emotion
at all can be permitted.
cicero seems to be inspired by his teacher philo of Larisa, who evidently com-
pared philosophical reasoning with medical practice and distinguished at least three
steps: protreptic, therapeutic, and preservative. In this context the five prefaces
of the Tusculan disputations can be seen as the protreptic step, the discussions of
books i to iV as the therapy, and the discussion of book V as the establishment of a
‘preservative formula’ which maintains the good condition of the soul: a wise man
will always be happy.
200 anhang
Verwendete abkürzungen
schriften und Briefe ciceros
(nach Thesaurus Linguae Latinae, index, Leipzig 51990, 52–57; unter angabe der
mutmaßlichen abfassungszeit)
sonstige abkürzungen
Adv. Math. = sextus empiricus (um 200 n. chr.): gegen die gelehrten (Pro;~ maqhmatikouv~)
cons. = anicius Manlius severinus Boethius (ca. 480 – 524/6): Trost der philosophie (Consolatio
Philosophiae)
DK = Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von h. Diels/W. Kranz, 6Berlin Bd. 1 1951, Bd. 2 und
3 1952; Nachdruck Zürich 1985
DL = Diogenes Laertios (1. hälfte 3. Jh. n. chr.): Leben und Meinungen berühmter philosophen
Com. pet. = Quintus Tullius cicero (102–43 v. chr.): skizze zur Bewerbung (commentariolum
petitionis)
EN = aristoteles (384–322 v. chr.): Nikomachische ethik ( ∆Hqika; Nikomaceiva)
epist. = Lucius annaeus seneca (4 v. chr.–65 n. chr.): Briefe (Epistulae morales ad Lucilium)
gigon (Komm.) = Marcus Tullius cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes, Latei-
nisch-deutsch, mit ausführlichen anmerkungen neu herausgegeben von olof gigon, Düsseldorf
und Zürich 71998
graver = Cicero on the Emotions: Tusculan Disputation 3 and 4. Translated by Margaret graver,
with commentary by Margaret graver, chicago and London 2002
GV = Vatikanische spruchsammlung (gnomologium Vaticanum) (epikur 341–270 v. chr.)
KD = hauptlehrsätze epikurs (Kuvriai dovxai)
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deutscher Übersetzung von Karlheinz hülser, stuttgart/Weimar 2000
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uJpotupwvsei~)
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anhang 203
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Prosaiker in neuen Übersetzungen).
M. Tullius cicero: Tuskulanen, übers. und erklärt von raphael Kühner, Berlin 41909 (Langenscheidt-
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M. Tullius cicero: Tuskulanische Gespräche. ins Deutsche übertragen und erläutert von a. Kabza,
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Marcus Tullius cicero: Gespräche in Tuskulum, eingeleitet und neu übersetzt von Karl Büchner,
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Marcus Tullius cicero: Gespräche in Tusculum. Tusculanae Disputationes, Lateinisch-deutsch, mit
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fin. 2,13: 153 inv. 1,7: 33 Tusc. 1,19: 84
fin. 2,16: 69; 156 inv. 2,2: 150 Tusc. 1,20: 73
fin. 2,34: 155; 170; 188; 199 inv. 2,9: 39: Tusc. 1,23: 44; 142; 143
fin. 2,36: 40; 185; 189 leg. 1,33: 70 Tusc. 1,24: 97; 140
fin. 2,58: 56 leg. 1,47: 71 Tusc. 1,25: 141; 147
fin. 2,59: 56 nat.deor. 1,6: 30; 38; 50 Tusc. 1,26: 143; 144
fin. 2,70: 75 nat.deor. 1,13: 32 Tusc. 1,26-82: 145
fin. 2,74: 35 nat.deor. 1,14: 34 Tusc. 1,27-29: 144
fin. 2,75: 153 nat.deor. 1,16: 48 Tusc. 1,30: 144
fin. 2,92-95: 155 nat.deor. 1,17: 30 Tusc. 1,35: 144
fin. 2,93: 153 nat.deor. 1,27: 180 Tusc. 1,36: 144
fin. 2,94: 155 nat.deor. 2,5: 128 Tusc. 1,37: 72
fin. 2,96-100: 155 nat.deor. 3,9: 145 Tusc. 1,38: 73
fin. 2,104-106: 185 off. 1,4: 150 Tusc. 1,39: 144
fin. 3,4: 66; 76 off. 1,88: 118 Tusc. 1,49: 73; 145
fin. 3,5: 157 off. 1,101: 146; 159 Tusc. 1,53: 145
fin. 3,10: 45 off. 1,131: 146; 159 Tusc. 1,62: 73
fin. 3,12: 89 parad. 4: 76; 85 Tusc. 1,64: 145
fin. 3,21: 90 Pro Murena 63 30: Tusc. 1,65: 110; 145; 192
fin. 3,22: 90; 123; 169 rep. 1,2: 78 Tusc. 1,67: 146; 172
fin. 3,24: 77; 91; 123 rep. 1,10: 73 Tusc. 1,73: 146
fin. 3,31: 88 rep. 2,28: 73 Tusc. 1,78: 40; 98; 146
fin. 3,35: 100 rep. 3,37: 159 Tusc. 1,79: 146
fin. 3,45: 123 rep. 6,9-29: 137 Tusc. 1,80: 146
fin. 3,48: 85; 123 rep. 6,27: 145 Tusc. 1,81: 147
fin. 3,50: 89 top. 6: 37 Tusc. 1,82: 147
fin. 3,51: 88 top. 73: 36 Tusc. 1,82-112: 139; 147; 148
fin. 3,54: 123 top. 74: 36 Tusc. 1,83: 148
fin. 3,58: 91; 131 top. 79: 100; 155 Tusc. 1,83-86: 148
fin. 3,59: 91 top. 79-96: 155 Tusc. 1,88: 148
fin. 3,72: 90 top. 82: 100 Tusc. 1,89: 147; 172
fin. 4,6: 97 top. 93: 134 Tusc. 1,90: 148
fin. 4,7: 96; 149 Tusc. 1,1: 62 Tusc. 1,91-102 149
fin. 4,10: 64 Tusc. 1,1-8: 72 Tusc. 102-109: 149
fin. 4,17: 70 Tusc. 1,2: 63; 64; 80 Tusc. 1,104: 149
fin. 4,21: 35; 134 Tusc. 1,4: 63 Tusc. 105-107: 72
fin. 4,22: 89; 148 Tusc. 1,5: 63; 64; 71 Tusc. 1,109: 149
fin. 4,23: 181 Tusc. 1,5-7: 64 Tusc. 1,111: 149
fin. 4,53: 178 Tusc. 1,6: 63; 64; 69 Tusc. 1,112: 149
fin. 5,8: 75; 77 Tusc. 1,8: 28; 29; 64; 65 Tusc. 113-119: 149
fin. 5,16: 77; 155 Tusc. 1,9: 65; 137 Tusc. 116: 150
fin. 5,18: 70 Tusc. 1,9-16: 148 Tusc. 117: 150
fin. 5,22: 76 Tusc. 1,10: 137 Tusc. 119: 150
fin. 5,24-26: 180 Tusc. 1,11: 138 Tusc. 2,1: 66
fin. 5,43: 70 Tusc. 1,12: 138 Tusc. 2,1-9: 66
fin. 5,55: 71 Tusc. 1,13: 138; 147 Tusc. 2,2: 66; 67; 95; 136
fin. 5,69: 71 Tusc. 1,15: 139 Tusc. 2,4: 68; 80; 151
fin. 5,78: 176 Tusc. 1,16: 42; 44; 99; 139; Tusc. 2,5: 44
fin. 5,81: 76; 175 140; 143; 147 Tusc. 2,6: 69
fin. 5,88: 176 Tusc. 1,16-82: 139 Tusc. 2,7: 63; 69
Index 215
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Tusc, 2,13: 72; 73 Tusc. 3,24: 120, 127 Tusc. 4,29: 111
Tusc. 2,14: 65; 153; 154; 156; Tusc. 3,25: 127; 128; 131 Tusc. 4,31: 109
187 Tusc. 3,26: 129 Tusc. 4,33: 97; 107; 112
Tusc. 2,15: 99; 151; 154; 155; Tusc. 3,28: 129; 131 Tusc. 4,34: 99
156 Tusc. 3,29: 129 Tusc. 4,34-51: 113
Tusc. 2,17: 156; 158 Tusc. 3,31: 135 Tusc. 4,34-57: 126
Tusc. 2,26: 51 Tusc. 3,33: 185 Tusc. 4,34-84: 99
Tusc. 2,27: 156 Tusc. 3,34: 130 Tusc. 4,40: 114
Tusc. 2,29: 155 Tusc. 3,36: 73 Tusc. 4,46: 114
Tusc. 2,30: 156; 157 Tusc. 3,46: 44; 131 Tusc. 4,47: 44; 114
Tusc. 2,31: 156 Tusc. 3,50: 131 Tusc. 4,48: 150
Tusc. 2,32: 156 Tusc. 3,52: 130 Tusc. 4,52-57: 114
Tusc. 2,34-41: 156 Tusc. 3,54: 65; 81; 94 Tusc. 4,55: 150
Tusc. 2,35: 157; 160 Tusc. 3,57: 130 Tusc. 4,56: 44
Tusc. 2,29: 159 Tusc. 3,59: 129; 130 Tusc. 4,58: 105; 115; 117
Tusc. 2,29-31: 156 Tusc. 3,61: 131 Tusc. 4,58-84: 115
Tusc. 2,40: 157 Tusc. 3,62: 132 Tusc. 4,59: 94; 95; 116
Tusc. 2,42: 44; 154; 155; 158 Tusc. 3,64: 132 Tusc. 4,60: 112; 116; 117
Tusc. 2,43: 157 Tusc. 3,66: 103; 132 Tusc. 4,61: 133
Tusc. 2,44: 155; 158 Tusc. 3,69: 40 Tusc. 4,62: 116; 118
Tusc. 2,45: 158 Tusc. 3,71: 103; 120 Tusc. 4,63: 117; 134
Tusc. 2,47: 110; 146; 159; 160 Tusc. 3,72: 132 Tusc. 4,64: 44; 95; 115
Tusc. 2,51: 159; 160 Tusc. 3,73: 132 Tusc. 4,65: 117; 118; 132
Tusc. 2,53: 160 Tusc. 3,74: 131 Tusc. 4,66: 105; 116
Tusc. 2,55-57: 160 Tusc. 3,76: 117; 129; 133 Tusc. 4,68: 72
Tusc. 2,58: 160 Tusc. 3,77: 129; 133; 175 Tusc. 4,68-76: 118
Tusc. 2,60-62: 161 Tusc. 3,79: 134 Tusc. 4,71: 118
Tusc. 2,63: 44; 162 Tusc. 3,80: 132; 134; 135 Tusc. 4,72: 118
Tusc. 2,64: 151 Tusc. 3,81: 135 Tusc. 4,75: 118
Tusc. 2,66: 162 Tusc. 3,83: 105; 106; 132; 135 Tusc. 4,76: 117; 118; 132
Tusc. 2,67: 44; 136; 162 Tusc. 3,84: 136 Tusc. 4,77: 118
Tusc. 3,1: 119 Tusc. 4,2: 44; 72; 73 Tusc. 4,79: 132
Tusc. 3,2: 26; 71; 72; 120; Tusc. 4,5: 44; 73; 76 Tusc. 4,81: 117
137; 151 Tusc. 4,6: 63; 74 Tusc. 4,82: 115; 118; 132
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Tusc. 3,6: 71; 72 167; 173 Tusc. 5,1: 44
Tusc. 3,7: 65; 120; 121 Tusc. 4,10: 73; 98; 100; 101; Tusc. 5,2: 75; 166
Tusc. 3,10: 121 110 Tusc. 5,3: 78
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Tusc. 3,15: 122; 123 Tusc. 4,12-14: 104 Tusc. 5,8-10: 73
Tusc. 3,16: 44; 123 Tusc. 4,14: 106; 172 Tusc. 5,10: 80
Tusc. 3,18: 124 Tusc. 4,16-21: 103; 198 Tusc. 5,11: 81; 94
Tusc. 3,19: 124; 181 Tusc. 4,16-33: 99 Tusc. 5,12: 65; 77; 166; 169;
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Tusc. 3,21: 124; 125 Tusc. 4,23-33: 107; 109 Tusc. 5,12-18: 173
216 Index
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2. Manfred Lossau: Untersuchungen zur anti- 20. Wolfgang Leschhorn: „Gründer der Stadt“.
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3. Fritz-Arthur Steinmetz: Die Freundschafts- kt. 4181-8
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7. Herbert Eisenberger: Studien zur Odyssee. 5019-1
1973. X, 352 S., kt. 749-0 25. Michael P. Schmude: Reden – Sachstreit –
8. Walter Burnikel: Textgeschichtliche Unter- Zänkereien. Untersuchungen zu Form und
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9. Klaus Meister: Historische Kritik bei Po- kt. 5112-0
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10. Otto Lendle: Schildkröten. Antike Kriegsma- Nemesians. 1988. VII, 131 S., kt. 5110-4
schinen in poliorketischen Texten. 1975. X, 123 27. Nikolaus Groß: Senecas Naturales
S. m. 52 Abb., kt. 2066-7 Quaestiones. Komposition, naturphilosophi-
11. Odysseus Tsagarakis: Self-Expression in sche Aussagen und ihre Quellen. 1989. X, 335 S.,
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12. Helene Homeyer: Die spartanische Helena stischen Literatur und ihrer Rezeption in
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13. Erich Ackermann: Lukrez und der Mythos. 30. Woldemar Görler / Severin Koster, Hrsg.:
1979. VI, 219 S., kt. 2873-0 Pratum Saraviense. Festgabe für Peter Stein-
14. Bernd Manuwald: Cassius Dio und Augustus. metz. 1990. 221 S., kt. 5582-7
Philologische Untersuchungen zu den Büchern 31. Brigitte Müller-Rettig: Der Panegyricus des
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VIII, 317 S., kt. 2886-2 setzung und historisch-philologischer Kommen-
15. Walter Burnikel: Untersuchungen zur Struk- tar. 1990. X, 374 S., kt. 5540-1
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16. Peter Steinmetz: Untersuchungen zur römi- phie u. zur Alten Geschichte. Festschrift f. Carl
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17. Willibald Heilmann: Ethische Reflexion und Einwanderung und die frühen Handelsbeziehun-
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18. Klaus Meister: Die Ungeschichtlichkeit des VII, 193 S., kt. 5813-3
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1982. IX, 132 S., kt. 3673-3 the Ideas. A Study of the Plato’s Methods in the
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brücken. 1992. VIII, 252 S., kt. 5852-4 56. Friedhelm L. Müller: Eutropii Breviarium ab
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38. Claudia Bergemann: Politik und Religion im Chr.). Einleitung, Text und Übersetzung, An-
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40. Ricarda Müller: Ein Frauenbuch des frühen thematical Infinity. 1995. 131 S., kt. 6851-1
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41. Cornelia M. Hintermeier: Die Briefpaare in Sieger. Zum Heldenbild im hellenistischen
Ovids Heroides. Tradition und Innovation. Epos. 1996. XI, 100 S., kt. 6955-0
1992. XIII, 218 S. u. 7 Abb., kt. 6224-6 61. Paul Dräger: Untersuchungen zu den
42. Philipp Stefan Freber: Das Illyricum und der Frauenkatalogen Hesiods. 1997. VII, 171 S.,
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43. Paul Dräger: Argo Pasimelousa. Der Argo- in der Antike. 1997. VIII, 264 S., kt. 6965-8
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schen Literatur. Teil I: Theos Aitios. 1993. X, kunden bei Thukydides. Die Frage der Über-
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44. Archibald Allen: The Fragments of Mimner- kt. 7087-7
mus. Text and Commentary. 1993. VII, 168 S., 64. Anika Strobach: Plutarch und die Sprachen.
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45. Karsten Thiel: Erzählung und Beschreibung der Antike. 1997. VIII, 258 S., kt. 7007-9
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Ein Beitrag zur Poetik des hellenistischen Epos. Perspektiven der Martial-Interpretation, 1998.
1993. XIII, 263 S., kt. 6306-4 366 S., kt. 7381-7
46. Günter Eckert: Orator Christianus. Untersu- 66. Friedhelm L. Müller: Die beiden Satiren des
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Apologeticum. 1993. 278 S., kt. 6392-7 Caesares und Misopogon oder Antiochikos).
47. Carmen Cardelle de Hartmann: Philologi- Griechisch und deutsch. Mit Einleitung, Anmer-
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Chaves. 1994. XIV, 220 S., kt. 6385-4 67. Reinhard Markner und Giuseppe Veltri
48. Reinhold Scholl: Historische Beiträge zu den (Hg.): Friedrich August Wolf. Studien, Doku-
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207 S. m. 31 Abb., kt. 6537-7 68. Peter Steinmetz: Kleine Schriften. Aus Anlaß
49. Bernhard Kytzler, Kurt Rudolph, Jörg seines 75. Geburtstages herausgegeben von
Rüpke (Hrsg.): Eduard Norden (1868–1941). Severin Koster. 2000. X, 506 S., geb. 7629-8
Ein deutscher Gelehrter jüdischer Herkunft. 69. Karin Sion-Jenkis: Von der Republik zum
1994. 240 S., 8 Taf., kt. 6588-1 Prinzipat. Ursachen für den Verfassungs-
50. Michael Mause: Die Darstellung des Kaisers wechsel in Rom im historischen Denken der
in der lateinischen Panegyrik. 1994. X, 317 S., Antike. 2000. 250 S., kt. 7666-2
kt. 6629-2 70. Georgios Tsomis: Zusammenschau der früh-
51. Monika Bernett: Causarum Cognitio. Ciceros griechischen monodischen Melik (Alkaios,
Analysen zur politischen Krise der späten römi- Sappho, Anakreon). 2001. 306 S., geb. 7668-9
schen Republik. 1995. X, 278 S., kt. 6639-X 71. Alessandro Cristofori/Carla Salvaterra/Ul-
52. Paul Dräger: Stilistische Untersuchungen zu rich Schmitzer (Hg.): La rete di Arachne -
Pherekydes von Athen. Ein Beitrag zur ältesten Arachnes Netz. Beiträge zu Antike, EDV und
ionischen Prosa. 1995. VII, 98 S., kt. 6676-4 Internet im Rahmen des Projekts „Telemachos“.
53. Georg Wöhrle: Hypnos, der Allbezwinger. 2000, 281 S., geb. 7821-5
Eine Studie zum literarischen Bild des Schlafes 72. Hans Bernsdorff: Hirten in der nicht-buko-
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73. Sibylle Ihm: Ps.-Maximus Confessor. Erste kurs und sozialer Kontext. 2003. 208 S., geb.
kritische Edition einer Redaktion des sacro-pro- 8243-3
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vollständigen Kollation einer zweiten Redaktion vom Balkan in den Geographika Strabos.
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74. Roderich Kirchner: Sentenzen im Werk des 82. Konstantin Boshnakov: Pseudo-Skymnos
Tacitus. 2001. 206 S. m 4 Tab., geb. 7802-9 (Semos von Delos?) Ta; ajristera; tou“ Povntou.
75. Medard Haffner: Das Florilegium des Orion. Zeugnisse griechischer Schriftsteller über den
Mit einer Einleitung hrsg., übers. u. kommen- westlichen Pontosraum. 2004. X, 268 S., geb.
tiert. 2001. VII, 267 S., geb. 7949-1 8393-6
76. Theokritos Kouremenos: The proportions in 83. Mirena Slavova: Phonology of the Greek in-
Aristotle’s Phys. 7.5. 2002. 132 S., geb. scriptions in Bulgaria. 2004. 149 S., geb.
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77. Christian Schöffel: Martial, Buch 8. Einlei- 84. Annette Kledt: Die Entführung Kores. Studien
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S., geb. 8213-1 2004. 204 S., geb. 8615-3
78. Argyri G. Karanasiou: Die Rezeption der ly- 85. Marietta Horster / Christiane Reitz, Hg.: Wis-
rischen Partien der attischen Tragödie in der sensvermittlung in dichterischer Gestalt. 2005.
griechischen Literatur. Von der ausgehenden 348 S., geb. 8698-6
klassischen Periode bis zur Spätantike. 2002. 86. Robert Gorman: The Socratic Method in the
354 S., geb. 8227-1 Dialogues of Cicero. 2005. 205 S., geb. 8749-4
79. Wolfgang Christian Schneider: Die elegi- 87. Burkhard Scherer: Mythos, Katalog und
schen Verse von Maximian. Eine letzte Wi- Prophezeiung. Studien zu den Argonautika des
derrede gegen die neue christliche Zeit. Mit Apollonios Rhodios. 2006. VI, 232 S., geb.
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Übersetzung. 2003. 255 S., geb. 7926-2 suchungen zur römischen Liebeselegie. 2006.
80. Marietta Horster u. Christiane Reitz, Hg.: 267 S., geb. 8813-X
Antike Fachschriftsteller. Literarischer Dis- 89. in Vorbereitung
90. Bernhard Koch: Philosophie als Medizin für
die Seele. Untersuchungen zu Ciceros Tuscula-
nae Disputationes. 2006. 218 S., geb. 8951-9
www.steiner-verlag.de
ISBN-10: 3-515-08951-9
ISBN-13: 978-3-515-08951-7