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Kommentar

Die Hamas-Lektion: Die Würde des


Menschen ist antastbar

Das Massaker der Hamas zeigt unmissverständlich, dass die


Menschlichkeit kein universelles Gut ist. Sie zu verteidigen, ohne ihre
Prinzipien zu opfern, gehört zu den grossen Herausforderungen
unserer Epoche.

Roman Bucheli
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217 Kommentare
20.10.2023, 05.30 Uhr 6 min

Amir Cohen Reuters


den Trümmern eines Gebäudes in Ashkelon liegt die Fotografie einer Hochzeit. Das Haus war von einer Gaza von der Hamas /
In in
abgeschossenen Rakete getroffen worden. (Aufnahme vom 9. Oktober)

Niemand kann sagen, man habe es nicht gewusst. Denn es steht schwarz
auf weiss und für alle lesbar wie ein Menetekel in der Charta der Hamas:
«Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es ausgelöscht
hat, so wie er schon andere Länder vorher ausgelöscht hat.» Und man
liest darin auch jenen Satz, der die Terrororganisation in die
unmittelbare Nachfolge der Nationalsozialisten rückt: «Das Jüngste
Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden
bekämpfen und sie töten.»

Die Hamas hat die Welt nie im Zweifel über ihre wahren Absichten
gelassen. Sie hat vielleicht den Eindruck erweckt, dass ihr die Mittel
fehlen zur Durchsetzung ihrer sinistren Ziele. Sie verübte Anschläge und
feuerte Raketen ab. Doch so schmerzhaft solche Nadelstiche im
Einzelnen sein mochten, so krass war die Diskrepanz zwischen ihrer
strategischen Wirkungslosigkeit und dem Auslöschungswahn.

Bis zum 7. Oktober konnten die Israeli aus der klaffenden Lücke
zwischen Rhetorik und Praxis eine Art Hoffnung schöpfen. An diesem
Tag jedoch machten die Massaker mit unfassbarer Grausamkeit jegliche
Aussicht auf ein Leben unter kontrollierbarer Gefahr zunichte. Mehr
noch: Wer so tötet, beweist nicht nur Hass und Mordlust, er
demonstriert vor der ganzen Welt seine Verachtung für die Prinzipien
der Menschlichkeit. Als hätten sich die Mörder aus der Gemeinschaft der
Menschen herausgenommen. Es verbindet sie nichts mehr mit diesen.
Das verheisst die Blutschrift ihrer Taten.

Judith Butler relativiert

Am 7. Oktober ist die letzte Hoffnung vieler Israeli auf ein zwar
kompliziertes, aber halbwegs geregeltes Nebeneinander mit jenen
begraben worden, deren erklärtes Ziel es ist, die Juden auszulöschen.
Deutlicher jedenfalls hätte die Hamas nicht signalisieren können, dass
man nichts mehr miteinander teilt und auf jeden Fall nicht das, was den
Menschen seit der Aufklärung teuer geworden ist und unabdingbar
schien: die Unantastbarkeit der Menschlichkeit. Es gibt seither keinen
Boden mehr, auf dem man sich verständigen könnte.

Selbst in Westeuropa oder in Amerika und also fern vom Geschehen ist
man inzwischen um eine Illusion ärmer. Im Angesicht der Greueltaten
offenbarten sich Sympathisanten, die nicht rasch genug den Verächtern
alles Menschlichen applaudieren konnten. Sie rekrutierten sich
erschreckenderweise aus der Mitte der Gesellschaft, mitunter da, wo
man sie am wenigsten erwarten würde: in der Kunst, an Universitäten, in
der Kultur.

Es waren nicht allein die üblichen Verdächtigen, die habituell keine


Gelegenheit zur Kritik an Israel auslassen, unter ihnen zwei der
notorisch antisemitischen Kuratoren der letzten Documenta. Auch die
amerikanische Philosophin Judith Butler hat einen Essay unter dem
sentimentalen Titel «Kompass der Trauer» in der «London Review of
Books» veröffentlicht. Darin unternimmt sie, gerade einmal sechs Tage
nach dem Massaker, den Versuch einer historischen Einordnung, um die
Hamas zu entlasten.

Zwar verurteilt sie geflissentlich die Morde der Hamas, die sie
verharmlosend immer nur «Gruppe» nennt, im gleichen Atemzug aber
führt sie entschuldigend die israelische Gewalt gegenüber
Palästinensern ins Feld. Nach einem langen Hin und Her ihrer
Erwägungen, die hauptsächlich dazu dienen, den Vorwurf zu entkräften,
sie relativiere das Massaker, kommt sie zum springenden Punkt: «Wenn
die Schrecken der letzten Tage (. .) eine grössere moralische Bedeutung
.

haben als die Schrecken der letzten siebzig Jahre, dann droht die
moralische Reaktion des Augenblicks das Verständnis für die radikalen
Ungerechtigkeiten, die das besetzte Palästina und die gewaltsam
vertriebenen Palästinenser erdulden müssen, in den Hintergrund zu
drängen.»

Damit bringt Judith Butler zum Verschwinden, was an dem Massaker des
7. Oktober singulär ist: Es ist nicht bloss ein Vorfall von vielen innerhalb

einer langen Ereigniskette. Der Blutrausch der Hamas stellt einen


Zivilisationsbruch dar. Die amerikanische Philosophin jedoch relativiert
das Morden und verwischt vorsätzlich die entscheidende Tatsache.

Die Singularität des Ereignisses ist das eine, die Singularität der
Reaktionen darauf das andere. Man schaue sich den Beifall des
libanesischen und in Berlin lebenden Kurators Edwin Nasr für das
Massaker an. Am Tag danach teilte er in den sozialen Netzwerken eine
Bildcollage. Darauf sind Besucher des Nature Party Festival beim Kibbuz
Reim zu sehen, die von der Hamas gejagt werden. In Rot stehen darüber
die Wörter «Poetic Justice» (höhere Gerechtigkeit). Merkte Nasr, wie er
seine Verachtung gegenüber Werten zum Ausdruck brachte, denen er als
in Berlin lebender Künstler alles verdankt: sein Leben, seine Arbeit,
seinen Frieden? War ihm bewusst, dass er eine Freiheit in Anspruch
nahm, um ausgerechnet die Grundlage dieser freiheitlichen
Errungenschaften zu torpedieren?
Brüchiger Konsens

Auch wenn die Niedertracht einer solchen Bekundung von Hass in den
sozialen Netzwerken nicht zu vergleichen ist mit den Verbrechen der
Hamas, so manifestieren sich hier dennoch Parallelen in der Verachtung
westlicher Werte. Auf welcher Basis soll man sich in Zukunft noch
verständigen können, wenn die Würde des Menschen nichts mehr zählt?
Wie soll ein Zusammenleben möglich sein, wenn es keine auf
anerkannten Werten gründende Vernunft mehr gibt, von der wir uns in
unseren Handlungen leiten lassen und vor der wir uns zu verantworten
haben?

Seit der Aufklärung und spätestens nach der Menschenrechtserklärung


durch die Uno konnte man glauben oder hoffen, dass sich allmählich der
Konsens von der Unantastbarkeit der Menschenwürde durchsetzen
werde. Nicht erst seit dem 7. Oktober muss man ernsthaft zweifeln an
der Wirkungsmacht dieser Prinzipien.

Sollten Vernunft und Sittlichkeit als die beiden elementaren Leitlinien


des Handelns hinfällig und wertlos geworden sein? Denn die Hamas-
Terroristen haben doch gerade vorgeführt, dass solche Werte uns nicht
vorbereiten auf Attacken, die sich ausserhalb jedes denkbaren
Vernunfthorizonts vollziehen.

Man könnte darum argwöhnen, eine auf Vernunft und Sittlichkeit


gründende Wertegemeinschaft lebe von Voraussetzungen, die sie selber
nicht garantieren könne. Ist also die Vernunft als regulierender Rahmen
unseres Handelns und Denkens eine Illusion? Denn es braucht, wie man
weiss, nicht viel, um die Grenzen ihrer Belastbarkeit sichtbar werden zu
lassen. Die Despoten dieser Welt, von Putin bis Asad, verstehen sich
glänzend darauf, die Vernunft mit kaltem Kalkül blosszustellen.

Die moralisch fundierte Vernunft hat die Kraft des besseren Arguments
nur so lange auf ihrer Seite, als sie unter Gleichgesinnten im Austausch
steht. Das ist ihr Geburtsfehler und ihr unauflösbares Dilemma. Sie setzt
den Konsens voraus, den sie erst herzustellen vorgibt. In
asymmetrischen Auseinandersetzungen mit jenen, deren Handeln mit
der Feuerkraft ihrer Waffen beglaubigt wird, steht sie darum immer
schon auf verlorenem Posten.

Die praktische Vernunft ist dem Ansturm der Unvernunft und des
irrational rationalen Kalküls nicht gewachsen. Umso weniger darf sie
aufgegeben werden, ganz gleich, wie heftig sie dabei in Bedrängnis gerät.
Und noch unnachgiebiger muss sie auf ihren Grundsätzen beharren:
Vernunft und Sittlichkeit in einem. Denn eine Vernunft ohne die
Menschlichkeit ist keine Vernunft.

Die Skepsis denkt mit

Die relative Schwäche der Vernunft im Kampf gegen die Unvernunft ist
neben der Überzeugungskraft ihrer Argumente paradoxerweise ihre
grösste Stärke. Denn ungeachtet des universalistischen Anspruchs
wohnt den Prinzipien der Aufklärung ein antitotalitärer Gestus inne. Das
macht sie verletzlich, aber umso überzeugender.

Doch der Traum, dass sich die Aufklärung widerstandslos durchsetzen


könnte, ist längst geplatzt. Zugleich spricht nicht gegen die Vernunft,
dass sie sich nicht wie von Geisterhand und universell als
Orientierungsrahmen des Handelns und Denkens etabliert. Vielmehr
gehört diese strukturelle Schwäche zum Wesenskern eines Denkens, das
sich von totalitären Haltungen gerade dadurch unterscheidet, dass es
mehr Fragen als Antworten kennt und in der Ausübung stets Zweifel und
Skepsis mitdenkt.
Es steht uns nicht das Ende der Aufklärung und der Vernunft bevor. Mit
Sicherheit jedoch hätten wir uns längst auf ein Ende der Naivität
vorbereiten müssen. Wir haben verlernt, mit dem Schlimmsten zu
rechnen. Das gilt sogar für Israel, das unter der ständigen Bedrohung
seiner Auslöschung steht. Fünf Tage nach dem Massaker sagte
Bildungsminister Yoav Kisch von der Likud-Partei im israelischen
Fernsehen: Israel sei von dem Angriff völlig überrascht worden. «Wir
haben uns mit Blödsinn beschäftigt und vergessen, wo wir leben.»

Wer in Szenarien denkt und darin die grausamsten und schrecklichsten


nicht ausschliesst, ist in einer unvollkommenen Welt lediglich ein
Realist. Er weiss, dass dem Menschen auch das Menschenunmögliche
zuzutrauen ist. Denn die Würde des Menschen ist nicht unantastbar.

Wir wissen es, vergessen es nur leider zu oft und sind darum nicht
gewappnet, wenn es geschieht. Mit dem Schlimmsten rechnen heisst
darum auch es zu verhindern versuchen, indem man es antizipiert. Wie
jedoch die Menschlichkeit gegen ihre Feinde verteidigt werden kann,
ohne dass ihre Prinzipien aufgegeben werden, das ist das grosse
Dilemma unserer Epoche. Darauf fehlen uns die Antworten.

217 Kommentare
Cordula Berger vor etwa 15 Stunden 88 Empfehlungen

Herzlichen Dank für diesen Artikel. „Der Blutrausch der Hamas stellt einen Zivilisationsbruch dar.“
Ich empfinde das genauso und alle die Gendersternchen hinterherrennen und versuchen Personen
ausfindig zu machen, die in grauer Vorzeit Geld mit Sklavenhandel verdient haben könnten und
Angesichts dieses unmenschlichen Sadismuses versuchen diesen mit ihren „ja aber“ (immer
politisch korrekt natürlich ist es schlimm bla bla) zu kaschieren, machen mich fassungslos, wütend
und traurig.

Thomas Zwicky vor etwa 14 Stunden 73 Empfehlungen

Gut, dass auch hierzulande endlich die Masken fallen bei vielen, die sich für die Guten,
(Selbst-)Gerechten halten. Naiv rannten sie dem hippen westeuropäischen Palästineser-Umzug
hinterher, relativiereten Obama-hörig die Mullahs und wollten nicht sehen, dass sie von Hamas,
Fatah, Hiszbullah und den Mullahs instrumentalisiert, eingeseift wurden. Denn den Terrorgruppen,
den Mullahs, sind Palästinenser egal. Das einzige, was die wollen ist die Auslöschung Israels. Den
Menschen in Gaza "muss" es schlecht gehen, jeden Tag Leid, so dass die Welt die vermeintliche
Ungerechtigkeit sieht, die Empörung aufrecht erhalten bleibt, und somit der Casus Belli der Hamas
und Mullahs. Und nun finden sich hierzulande die Palästinafans in der Antisemiten-Ecke, wo sie
doch immer alle anderen sofort als "Nazi" betitieln. Man müsste lachen, wenn es nicht so trauring
wäre.

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