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NLMR 2/2020-EGMR 1

© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Übersetzung wurde bereits in Newsletter Menschenrech-


te 2020/2 veröffentlicht] Die erneute Veröffentlichung wurde allein für die Aufnahme in die HUDOC-Datenbank des
EGMR gestattet. Diese Übersetzung bindet den EGMR nicht.

© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Translation already published in Newsletter Menschen-


rechte 2020/2] Permission to republish this translation has been granted for the sole purpose of its inclusion in the
Court's database HUDOC. This translation does not bind the Court.

© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Traduction déjà publiée dans Newsletter Menschenrechte
2020/2] L’autorisation de republier cette traduction a été accordée dans le seul but de son inclusion dans la base de
données HUDOC de la Cour. La présente traduction ne lie pas la Cour.

Cînța gg. Rumänien – 3891/19


Urteil vom 18.2.2020, Sektion IV

Sachverhalt

Im Jahr 2007 heiratete der 1965 geborene Bf. X., welche physisch und psychisch aggressiv verhalten habe, teil-
er in einer psychiatrischen Klinik, in der beide als Pati- weise sogar in Anwesenheit ihrer gemeinsamen Toch-
enten aufgenommen waren, kennengelernt hatte. 2014 ter. Auch Letzterer gegenüber habe er sich beleidigend
kam ihre gemeinsame Tochter Y. zur Welt. verhalten. Aufgrund seiner Erkrankung habe sie den Bf.
Im Juni 2018 zog X. zusammen mit Y. aus der gemein- auch nie mit dem Kind alleine gelassen.
samen Wohnung aus und reichte die Scheidung ein. Seit Das BG prüfte die psychiatrischen Akten beider
der Trennung hat X. jeglichen Kontakt zwischen dem Elternteile und leitete ein Beweisverfahren ein. Zusätz-
Bf. und seiner Tochter abgelehnt. Der Bf. hatte nur am lich erhielt das Gericht einen Bericht von der General-
5.7.2018 eine Gelegenheit, seine Tochter für eine halbe direktion für soziale Wohlfahrt und Kinderschutz von
Stunde zu sehen. Baia Mare (im Folgenden: »die Kinderschutzbehörde«)
Aus diesem Grund reichte der Bf. am 30.7.2018 einen betreffend die Bedingungen, welche jeder Elternteil
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim für die Erziehung des Kindes bieten konnte. Die Behör-
BG Baia Mare ein. Er beantragte, dass das Kind während de führte dazu Gespräche mit den Eltern und prüfte das
des Scheidungsverfahrens bei ihm leben solle. Alterna- häusliche Umfeld.
tiv ersuchte er das Gericht, einen Kontaktplan festzule- Am 4.9.2018 befragte das Gericht unter Ausschluss
gen, sodass er mit seiner Tochter jeden Dienstag- und der Öffentlichkeit auch Y. In seinem Urteil vom selben
Donnerstagabend und jede zweite Woche von Freitag Tag legte das BG einen wöchentlichen Kontakt zwischen
bis Sonntag Zeit verbringen könne. dem Bf. und seiner Tochter fest, jedoch zu den Bedin-
In der Folge willigte X. am 8.8.2018 ein, dem Bf. den gungen von X. Es entschied außerdem, dass Y. während
Kontakt zu seiner Tochter zu erlauben, allerdings nur des Scheidungsverfahrens bei ihrer Mutter zu verblei-
am Dienstag- und Donnerstagabend und dies auch ben habe.
nur an öffentlichen Orten und in ihrer Anwesenheit. X. Daraufhin legte der Bf. beim LG MaramureȘ Berufung
begründete ihre Entscheidung, die gemeinsame Fami- ein, da sich das BG alleine auf seine Krankheit gestützt
lienwohnung zu verlassen, damit, dass der Bf. sich auf- hätte, obwohl er sich weder seiner Tochter noch seiner
grund seiner paranoiden Schizophrenie ihr gegenüber Frau gegenüber je gewalttätig verhalten habe.

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Am 18.9.2018 setzte die psychiatrische Klinik Baia Mare (44) Ferner akzeptiert der GH, dass diese Entschei-
das Gericht davon in Kenntnis, dass der Bf. innerhalb der dungen in Übereinstimmung mit dem Gesetz getroffen
letzten zwei Jahre seine Medikamente regelmäßig einge- wurden und ein legitimes Ziel verfolgten, nämlich den
nommen und aufgrund seiner Erkrankung keine Episode Schutz der Rechte anderer.
psychischer Dekompensation erlitten hatte. (45) Der Eingriff erfüllte somit zwei der drei Vor-
Mit rechtskräftiger Entscheidung vom 15.11.2018 aussetzungen für eine Rechtfertigung gemäß
wies das Landgericht die Berufung des Bf. zurück. Art. 8 Abs. 2 EMRK. Die Streitigkeit im vorliegenden Fall
bezieht sich auf die dritte Voraussetzung, nämlich ob
der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft not-
Rechtsausführungen wendig« war.
(46) Zu diesem Punkt stellt der GH fest, dass die inner-
Der Bf. beanstandete die Dauer und die Bedingungen staatlichen Gerichte, insbesondere das BG, nicht befun-
der gewährten Kontakte. Er behauptete, dass der Kon- den haben, dass die in der innerstaatlichen Akte enthal-
taktplan es ihm nicht erlaubte, eine persönliche Bezie- tenen Beweise ein Verbot des Kontakts zwischen dem Bf.
hung zu seiner Tochter aufrechtzuerhalten und zu ent- und Y. erforderten. Die Umstände des vorliegenden Fal-
wickeln und effektiv an ihrer Erziehung teilzunehmen, les unterscheiden sich von jenen im Fall S. S./SLO, in wel-
weshalb eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf chem der Entzug der elterlichen Rechte der Bf. nicht auf
Achtung des Familienlebens) vorliege. Des Weiteren rügte ihrer psychiatrischen Diagnose beruhte, sondern auf
der Bf. eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminie- ihrer daraus resultierenden Unfähigkeit, sich um ihr
rungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung Kind zu kümmern, was durch alle Gutachten im inner-
des Familienlebens), da er bei der Festlegung von Kon- staatlichen Verfahren bestätigt wurde. Im vorliegenden
taktrechten mit seinem Kind aufgrund seiner Gesund- Fall wurden keine Beweise für die Behauptung erbracht,
heit, konkret seiner psychischen Erkrankung, diskrimi- dass der Bf. sich nicht um seine Tochter kümmern konn-
niert worden wäre. te. Auch die Kinderschutzbehörde, die beide Elternteile
befragt hat, hat in ihrem Bericht keine derartigen Aus-
sagen gemacht, sondern dem Gericht lediglich empfoh-
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK len, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Der GH fin-
det in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte
1. Zulässigkeit
keine Begründung, aus der er den Schluss ziehen könnte,
(36) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegrün- dass die Behauptungen von X. bezüglich der Unfähigkeit
det und auch aus keinem anderen Grund […] unzulässig des Bf., sich um sein Kind zu kümmern, von den inner-
ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig). staatlichen Gerichten hinreichend untersucht wurden.
(47) Ungeachtet des Mangels an Beweisen für seine
Unfähigkeit, sich um Y. zu kümmern, schränkten die
2. In der Sache
innerstaatlichen Gerichte die Kontaktrechte des Bf. zu
(40) Die maßgeblichen Grundsätze hinsichtlich eines seiner Tochter ein. Dabei stützten sie sich zumindest
Eingriffes in das Recht auf Achtung des Familienlebens teilweise auf die Tatsache, dass er an einer Geisteskrank-
sind in Strand Lobben u.a./N zusammengefasst […]. […] heit litt. Sie gaben jedoch keinen konkreten Hinweis
(41) Darüber hinaus betont der GH, dass, wenn eine darauf, inwiefern diese Tatsache eine Bedrohung für Y.
Einschränkung der Grundrechte für jemanden gilt, darstellte.
der einer besonders schutzbedürftigen Gruppe in der (48) Der GH ist sich der Tatsache bewusst, dass den
Gesellschaft angehört, die in der Vergangenheit erheb- innerstaatlichen Gerichten ein Schreiben der psychi-
lich diskriminiert wurde, wie z. B. geistig Behinderte, atrischen Klinik zur Verfügung stand, aus dem hervor-
der Ermessensspielraum des Staates wesentlich enger ging, dass der Bf. seine Medikamente ununterbrochen
ist und dieser sehr gewichtige Gründe für die fragli- eingenommen und dass er in letzter Zeit keine durch
chen Einschränkungen haben muss. Der Grund für die- seine psychische Erkrankung verursachte psychische
sen Ansatz, der bestimmte Klassifizierungen an sich in Dekompensation erlitten hatte. Des Weiteren hatte
Frage stellt, ist, dass solche Gruppen historischen Vorur- die Kinderschutzbehörde festgestellt, dass Y. zu allen
teilen mit dauerhaften Konsequenzen ausgesetzt waren, Erwachsenen in ihrem Leben – einschließlich des Bf. –
die zu ihrer sozialen Ausgrenzung führten. eine Bindung entwickelt hatte, und es wurde in ihrem
(43) Die Parteien sind sich einig und für den GH steht Bericht kein Missbrauch erwähnt, den dieser möglicher-
zweifelsfrei fest, dass die Entscheidungen der innerstaat- weise in Bezug auf seine Tochter begangen hatte. In die-
lichen Gerichte betreffend den Kontakt des Bf. mit sei- sem Zusammenhang kann der GH in den innerstaatli-
nem Kind einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines chen Entscheidungen kein objektives Element finden,
Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zur Folge hatten. das die Behauptungen begründen würde, dass die psy-

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chische Erkrankung des Bf. eine Bedrohung für sein taktplan diese Bedrohung berücksichtigt hätte, wenn
Kind darstellte. dies anerkannt worden war.
(49) Vor allem kann der GH nicht erkennen, welche (54) Das innerstaatliche Recht verbietet absolut die
Beweise der Bf. hätte vorlegen können, um den inner- körperliche Bestrafung sowie die demütigende oder
staatlichen Gerichten zu beweisen, dass sein psychi- erniedrigende Behandlung von Kindern. Folglich
scher Zustand keine Gefahr für die Sicherheit seiner scheint die (fehlende) Beurteilung der Bedrohung für Y.
Tochter darstellte. dem Verbot der häuslichen Misshandlung von Kindern
(50) In dieser Hinsicht betont der GH, dass er nicht zu widersprechen und wirft Zweifel am Entscheidungs-
vorschlägt, die Beurteilung der innerstaatlichen prozess auf.
Gerichte durch seine eigene zu ersetzen. Die Bewer- (55) Des Weiteren haben die innerstaatlichen Behörden
tung der konkreten Situation obliegt in erster Linie keine alternativen Mittel untersucht wie beispielsweise
den nationalen Behörden des beklagten Staates, die einen überwachten Kontakt unter Beteiligung der Kinder-
unter anderem den Vorteil des direkten Kontakts zu schutzbehörde. In dieser Hinsicht betont der GH, dass die
den beteiligten Parteien haben. Allerdings kann der Hauptaufgabe der Kinderschutzbehörde darin besteht,
GH nur feststellen, dass sich die Gerichte bei der Beur- den Kontakt zu erleichtern und Lösungen zwischen den
teilung der psychischen Gesundheit des Bf. nicht auf betroffenen Parteien auszuhandeln, um das Wohl des
eine kürzlich durchgeführte sachkundige Beurteilung Kindes zu fördern. Folglich hätten die Gerichte die Kin-
gestützt haben. derschutzbehörde in das Verfahren einbeziehen können.
(51) Während es in der Regel Sache der innerstaatli- (56) Die innerstaatlichen Gerichte sind mit Eile vor-
chen Behörden ist zu entscheiden, ob Gutachten erfor- gegangen, so wie es in Fällen, die die Rechte von Kin-
derlich sind, ist der GH der Ansicht, dass das Fehlen sol- dern betreffen, gefordert wird: Das Verfahren über die
cher Gutachten über den psychischen Zustand des Bf. einstweilige Verfügung begann am 30.7.2018 und ende-
im Moment der Prüfung seines Antrags die tatsächli- te dreieinhalb Monate später am 15.11.2018. Die Schnel-
che Beurteilung seiner Fürsorgefähigkeiten, seiner Ver- ligkeit des Verfahrens sollte jedoch nicht zu Lasten der
wundbarkeit und seines Geisteszustandes zum maßgeb- Beurteilung aller relevanten Beweise durch die Gerich-
lichen Zeitpunkt erheblich einschränkte. te gehen.
(52) Darüber hinaus kann der GH in den Entscheidun- (57) In Anbetracht des Vorstehenden ist der GH der
gen der innerstaatlichen Gerichte keine Elemente fin- Auffassung, dass der Entscheidungsprozess, der zur
den, die erklären würden, wie diese Gerichte das Wohl angefochtenen Entscheidung vom 15.11.2018 führte,
des Kindes festgestellt oder beurteilt haben. Während nicht derart durchgeführt wurde um sicherzustellen,
die innerstaatlichen Gerichte beispielsweise anerkann- dass der aktuelle Gesundheitszustand des Bf. ordnungs-
ten, dass die Situation zwischen den Eltern zu diesem gemäß beurteilt wurde und alle Ansichten und Interes-
Zeitpunkt angespannt war, maßen sie diesem Element sen ordnungsgemäß berücksichtigt wurden. Der GH ist
bei der Festlegung des Kontaktplans keine besondere daher nicht davon überzeugt, dass mit dem genannten
Bedeutung bei. Es ist daher unklar, ob die Gerichte die Verfahren Schutzmaßnahmen einhergingen, die verhält-
potentielle Notlage des Kindes berücksichtigten und nismäßig zur Schwere des Eingriffes und zur Ernsthaftig-
zu mildern versuchten, wenn sein einziger Kontakt mit keit der auf dem Spiel stehenden Interessen waren.
seinem Vater trotz der anhaltenden Konflikte in Anwe- (58) Aus diesen Gründen kommt der GH zu dem
senheit beider Elternteile stattfand. Der GH kann in Schluss, dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK erfolgte
den innerstaatlichen Entscheidungen keine Argumen- (einstimmig).
te finden, die auf die Vorteile einer solchen Kontakt-
vereinbarung für das Kind hinweisen. Die Vorbringen
des Bf. bestätigten, dass die Kontaktsitzungen nicht zu II.  ur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm.
Z
einer Zeit des sinnvollen Austauschs zwischen Vater und Art. 8 EMRK
Kind wurden, sondern zu Streitigkeiten zwischen den
1. Zulässigkeit
Erwachsenen führten.
(53) Ferner kann der GH keinen Hinweis darauf fin- (61) Der GH hat festgestellt, dass die innerstaatlichen
den, dass die Gerichte die Behauptungen ausreichend Entscheidungen, die den Kontakt des Bf. mit seiner Toch-
untersucht haben, dass das Kind von seinem Vater miss- ter einschränkten, einen Eingriff in sein Recht auf Ach-
handelt wurde. Y. wurde vom Richter unter Ausschluss tung seines Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK
der Öffentlichkeit befragt, ohne dass ein erfahrener Psy- darstellten. Daraus folgt, dass Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK
chologe der Kinderschutzbehörde anwesend war. Aus im vorliegenden Fall anwendbar ist.
den Gerichtsentscheidungen geht nicht hervor, inwie- (62) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegrün-
weit die Behauptungen des Kindes von negativem Ver- det und auch aus keinem anderen Grund […] unzulässig
halten seines Vaters anerkannt wurden und wie der Kon- ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

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angegeben haben, die psychische Erkrankung des Bf.


2. In der Sache
bei ihrer Beurteilung zu berücksichtigen.
(65) Die maßgeblichen Grundsätze zu Art. 14 EMRK wur- (74) Bei der Prüfung der nach Art. 8 EMRK erhobenen
den kürzlich in Molla Sali/GR wiederholt [...]. [...] Beschwerde ist der GH zu dem Schluss gekommen, dass
(67) In Bezug auf den Sachverhalt des vorliegenden die Berufung auf die psychische Erkrankung des Bf. nicht
Falles stellt der GH fest, dass die psychische Erkrankung mit einer ernsthaften innerstaatlichen Beurteilung seiner
des Bf. in der Begründung beider innerstaatlicher Ent- aktuellen Situation einherging. Tatsächlich weist in den
scheidungen über die Kontaktvereinbarungen mit sei- Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte nichts
ner Tochter eine Rolle spielte. […] auf das Risiko hin, das der Bf. angeblich für sein Kind
(68) Eine psychische Erkrankung kann ein relevanter darstellte. Genauso wenig gab es eine ernsthafte Beurtei-
Faktor sein, der bei der Beurteilung der Fähigkeit der lung der Behauptungen, er habe sich gegenüber Y. nega-
Eltern, sich um ihr Kind zu kümmern, berücksichtigt tiv verhalten. Der GH kann nur zu dem Schluss kommen,
werden muss. Daher ist die Tatsache, dass die psychi- dass der Bf. aufgrund seiner psychischen Erkrankung als
sche Gesundheit des Bf. in die Beurteilung der Gerichte Bedrohung wahrgenommen wurde, ohne dass die kon-
einbezogen wurde, zu erwarten und wirft als solche kein kreten Umstände des Falles und die familiäre Situation
Problem nach Art. 14 EMRK auf. Die Berufung auf eine weiter berücksichtigt worden wären. In dieser Hinsicht
psychische Erkrankung als entscheidendes Element unterscheidet sich der Fall von der vom GH in der Rechts-
oder auch ein Element neben anderen kann jedoch zu sache S. S./SLO untersuchten Situation, in welcher der Bf.
einer Diskriminierung führen, wenn die psychische ihre elterlichen Rechte nicht aufgrund ihrer psychiatri-
Erkrankung unter den besonderen Umständen des Ein- schen Diagnose, sondern aufgrund ihrer daraus resultie-
zelfalls keinen Einfluss auf die Fähigkeit der Eltern hat, renden Unfähigkeit, sich um das Kind zu kümmern, ent-
sich um das Kind zu kümmern. Im vorliegenden Fall zogen worden waren. Dies war durch alle im Verfahren
war die psychische Erkrankung des Bf. zwar nicht das vorgelegten Gutachten bestätigt worden.
einzige von den Gerichten berücksichtigte Element, (75) Die innerstaatliche Gesetzgebung erkennt das
jedoch war sie in allen Phasen des Entscheidungspro- Recht auf Privatleben und die freie Ausübung aller
zesses präsent. Bürgerrechte für Personen mit psychischen Erkran-
(69) Der GH kommt zu dem Schluss, dass der Einfluss kungen an. Darüber hinaus werden in der UN-Behin-
der psychischen Erkrankung des Bf. auf die Beurteilung dertenrechtskonvention – deren Vertragspartei der
seines Antrags festgestellt wurde und in Anbetracht des belangte Staat ist – Menschen mit Behinderungen als
Vorstehenden ein maßgeblicher Faktor für die Entschei- volle Rechtssubjekte und Rechteinhaber anerkannt. Das
dung war, seinen Kontakt mit Y. einzuschränken. gilt auch für Personen, die an einer psychischen Erkran-
(70) Der Bf. erfuhr daher eine unterschiedliche kung leiden.
Behandlung im Vergleich zu anderen Eltern, die Kontakt (76) Die internationale Gemeinschaft ist konsequent
zu ihren entfremdeten Kindern suchten. Dieser Unter- um einen besseren und kohärenteren Schutz der Rech-
schied beruhte auf seiner geistigen Gesundheit, einem te von Menschen mit psychischen Erkrankungen und
Grund, welcher durch den »sonstigen Status« [iSd. geistigen Behinderungen bemüht. Die internationa-
Art. 14 EMRK] abgedeckt ist. len Standards und Empfehlungen fördern die Achtung
(71) Darüber hinaus hat der GH bei der Beurteilung von Gleichheit, Würde und Chancengleichheit für Men-
der Rüge des Bf. nach Art. 8 EMRK befunden, dass die schen mit geistigen Behinderungen. Von besonderer
innerstaatlichen Entscheidungen, die seinen Kontakt Bedeutung für den Sachverhalt des vorliegenden Falles
mit seinem Kind einschränkten, ein legitimes Ziel ver- ist, dass psychisch erkrankte Personen vom Staat ange-
folgten, nämlich den Schutz der Rechte anderer. Er sieht messene Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer
keinen Grund, im Zusammenhang mit Art. 14 EMRK Erziehungspflichten erhalten müssen und Kinder von
etwas anderes festzustellen. ihren Eltern nicht ohne eine ordnungsgemäße gerichtli-
(72) Folglich bleibt zu prüfen, ob die unterschiedliche che Überprüfung der Angelegenheit durch die zuständi-
Behandlung gerechtfertigt war. gen Behörden getrennt werden dürfen.
(73) Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist es nicht Sache (77) In seiner eigenen Rechtsprechung hat der GH
des GH, sich an die Stelle der innerstaatlichen Behörden auch erkannt, dass psychisch erkrankte Personen eine
zu setzen und zu entscheiden, ob die psychische Erkran- schutzbedürftige Gruppe darstellen, deren Rechte von
kung des Bf. seine Fähigkeit, sich um Y. zu kümmern, den staatlichen Behörden besonders berücksichtigt
beeinträchtigt hat. Der GH muss die Entscheidungen werden müssen.
überprüfen, welche diese Behörden in Ausübung ihres (78) Der GH wiederholt, dass die innerstaatlichen
Beurteilungsspielraums nach der Konvention getroffen Gerichte die psychische Gesundheit des Bf. nicht ord-
haben. Mit anderen Worten muss geprüft werden, ob die nungsgemäß beurteilt haben. Darüber hinaus findet der
innerstaatlichen Behörden ausreichende Gründe dafür GH in den innerstaatlichen Entscheidungen kein Ele-

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ment, anhand dessen festgestellt werden kann, ob die


psychische Gesundheit des Bf. eine relevante zu berück-
sichtigende Frage war. In diesem Sinne und ungeach-
tet des Subsidiaritätsprinzips ist der GH der Auffassung,
dass die Tatsache, dass der Bf. an einer psychischen
Erkrankung litt, an sich nicht rechtfertigen kann, ihn
anders zu behandeln als andere Eltern, die Kontakt zu
ihren Kindern suchen. Er hält insbesondere fest, dass der
Bf. zum Zeitpunkt der innerstaatlichen Entscheidungen
seine Medikamente regelmäßig eingenommen hatte und
in den letzten zwei Jahren davor keine durch seine Krank-
heit verursachten Episoden psychischer Dekompensati-
on aufgetreten waren. Infolgedessen kommt der GH zu
dem Schluss, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der
Beschränkung des Kontakts zwischen dem Bf. und sei-
nem Kind eine Unterscheidung aufgrund seiner psychi-
schen Gesundheit getroffen haben, für die sie keine stich-
haltigen und ausreichenden Gründe angegeben haben.
(79) Unter diesen Umständen wurde prima facie ein
Fall der Diskriminierung nachgewiesen. Die Beweis-
last verlagert sich damit auf den belangten Staat, der
die Grundlage des prima facie-Falles zu widerlegen oder
eine Rechtfertigung dafür zu liefern hat. Der belang-
te Staat muss auch überzeugend nachweisen, dass die
unterschiedliche Behandlung nicht diskriminierend
war, das heißt, dass der Kontakt des Bf. mit seinem Kind
nicht aus diskriminierenden Gründen eingeschränkt
wurde, sondern dass seine psychische Erkrankung tat-
sächlich seine Fähigkeit beeinträchtigte, sich um sein
Kind zu kümmern, oder dass andere hinreichende
Gründe für eine solche Beschränkung vorlagen. Im Hin-
blick auf die Besonderheit des Sachverhalts und der Art
der in solchen Fällen erhobenen Behauptungen wäre es
für den Bf. in der Praxis ohne eine solche Verschiebung
der Beweislast äußerst schwierig, eine Diskriminierung
nachzuweisen.
(80) In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen
gelangt der GH jedoch zu dem Ergebnis, dass der belang-
te Staat keine überzeugenden Gründe vorgebracht hat,
um die Vermutung der Diskriminierung des Bf. auf-
grund seiner psychischen Gesundheit zu widerlegen.
(81) Folglich kam es zu einer Verletzung von
Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen; gemein-
sames abweichendes Sondervotum von Richterin Mourou-
Vikström und Richter Ravarani).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK


€ 10.000,– für den erlittenen immateriellen Schaden
(einstimmig).

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