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Rezension: Louise Hecht (Hg.): Ludwig August Frankl (1810-1894).

Böhlau 2016

Ob eine Geistesgrösse von der Historiografie, der


Literatur- oder Kunstgeschichte auf den Parnass zum
dauerhaften Verbleib eingeladen wird oder nicht, hängt
sehr oft von der Lobby ab, die sie sich entweder selbst
geschaffen hat oder die sie aus ideologischen,
künstlerischen oder sonstigen Antrieben der Nachwelt
als beachtenswert empfiehlt.

Der böhmische Jude Ludwig August Frankl (1810-1894)


verfügte über beide Fraktionen dieses geistigen
Mäzenatentums, allerdings kamen beide aus Sicht
späterer Epochen aus dem falschen Lager. Sowohl
Wiens liberales Grossbürgertum wie auch die sich mit
diesem überschneidende jüdische Intelligenz waren
bereits ein Jahr nach Frankls Tod mit der Wahl Karl
Luegers zum Wiener Bürgermeister mit Aussagen
konfrontiert, die die Meinungsbildung dieser
Gruppierungen langsam, aber sicher zu ihrem Nachteil verkehrte, ganz vom unterschwelligen
Antisemitismus zu schweigen, der ohnehin auch bis dahin vorherrschte und etwa beim
kurzfristigen Weggefährten Frankls, Ferdinand Kürnberger, durchaus manifest wurde. Frankl
wurde weitgehend vergessen.

Ludwig August Frankl, 1810 im böhmischen Chrást geboren, durchlief eine Entwicklung, die
nahezu prototypisch für die sich emanzipierende Judenschaft des Landes steht. Er stammt aus
jener Generation, die von der genialen, wenn auch nicht aus humanitären oder kosmopolitischen
Gründen getroffenen Entscheidung Josefs II. im Jahre 1792 profitierte, ein staatliches jüdisches
Schulsystem einzuführen, eine europaweit einzigartig dastehende Massnahme, die er noch dazu
von einem katholischen Bischof umsetzen liess und dessen ursprünglicher Auslöser die Berliner
Haskala mit seinem Hauptproponenten Moses Mendelssohn und über Umwege auch Josefs II.
Berater Joseph von Sonnenfels gewesen war. Lange bevor 1867 den Juden im Kaisertum
Österreich endlich die Gleichberechtigung zugestanden wurde, war es dadurch, wenn auch mit
Mühen und Rückschlägen, vor allem dem böhmischen Judentum, wo dieses Schulsystem am
erfolgreichsten war, möglich, sich aus der jahrhundertelangen Spirale der Bedrängnis
herauszuwinden (vgl. Hecht 2011). Dass sich diese Befreiung nicht lange halten konnte, ist eine
andere Geschichte.

Frankls deutsch-tschechische Volksschulbildung beruhte auf der speziellen Regelung des


obgenannten Schulsystems, die besagte, dass in jenen Gemeinden, in denen keine jüdische
Trivialschule finanziert werden konnte, Juden die christliche Schule besuchen mussten, wobei
spezielle Regelungen dafür sorgten, dass jüdische Kinder weder seitens der Lehrerschaft noch der
Mitschüler Diskrimination widerfahren sollten (ebd.). Typischerweise besuchte Frankl in der Folge
die (auf deutsch lehrenden) Piaristengymnasien in Prag (wie etwa auch nahezu die gesamte
Generation der später sogenannten Prager Deutschen Literatur) und Litomyšl und erfuhr damit
jene deutsche Akkulturation, die in einem der ersten Kapitel des zu besprechenden Buches von
Václav Petrbok mit der Frage nach Frankl als tschechischem Dichter durch ein Gespräch Frankls
mit dem Kustos der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Mezzofanti, treffend thematisiert wird. Die
jüdische Identitätsfrage war im Vielvölkerstaat ein wiederkehrender Topos, etwa bei Franz Kafka,
Siegfried Kapper, sehr eigentümlich bei Fritz Mauthner, aber auch bei Max Brod, in dessen
Biografie sich die Wandlung vom deutschen Kulturträger zum Zionisten klar abbildet. Ausführlich
besprochen wird das Thema etwa von Hillel Kieval (1988) oder, was den Zeitraum vor 1848 betrifft,
von Martina Niedhammer (2013).

Mit der Erwähnung von Václav Petrbok sei auf die Struktur dieser Biografie eingegangen: Es
handelt sich um einen Sammelband, 15 AutorInnen diskutieren unterschiedlichste Aspekte dieser
nicht-chronologischen Lebensbeschreibung, ausgehend von einer Fachtagung der Universität
Olmütz zusammen mit mehreren Partnerinstitutionen ebenda im Jahre 2010. Treibende Kraft,
Herausgeberin und gleichzeitig eine der Autorinnen ist Louise Hecht (derzeit – 2022 – an der
Universität Potsdam), der für dieses Buch gar nicht genug Dank ausgesprochen werden kann,
einerseits für die Initiative an sich, aber auch für die ausgezeichnete Zusammenstellung der
Beiträge. Dieses passenderweise von Hecht „polyphone Biografie“ genannte Kompendium
zeichnet sich durch erstklassige Recherche, Lesbarkeit und einen umfangreichen Apparat aus, das
zumindest einem akademischen Publikum diesen nahezu vergessenen, seinerzeit jedoch höchst
prominenten Intellektuellen wieder näher bringt und zwar, und das ist ebenso ein Vorzug, in
zahlreichen unterschiedlichen Kontexten, die die Figur des Protagonisten plastisch in ein
spezifisches, für die jüdische Bevölkerung Mitteleuropas sehr bedeutendes Zeitfenster einbauen.

Aus Zeit- und Kapazitätsgründen kann an dieser Stelle nicht auf jeden einzelnen Beitrag
eingegangen werden, die Heraushebungen im Folgenden seien jedoch nicht als Bewertung
gedacht, alle Beiträge sind gleichermassen interessant.

Frankl war offensichtlich eine sehr zugängliche und menschenfreundliche Natur, was die
Kontaktaufnahme zu wichtigen Persönlichkeiten und Institutionen erleichterte und zahlreiche
Bekanntschaften und Freundschaften ermöglichte, er war jedoch auch offenbar ein genialer
Networker und Selbstvermarkter. Seine ersten Kontakte in Wien, die von Hecht in ihrer Einleitung
dargestellt werden, ermöglichten ihm erste Publikationen und später seine bedeutende Position als
Sekretär der Wiener Judenschaft bzw., nach ihrer Genehmigung, der Jüdischen Kultusgemeinde.
Er war aber auch Revolutionär des Jahres 1848, was ihm nicht wenige Schwierigkeiten bereitete.
Er hatte jedoch durch seine frühe Publikation, das „Habsburgerlied“, auch einen bleibenden
Eindruck beim Kaiserhaus hinterlassen. Hecht zitiert die treffende Beschreibung durch Frankls
frühen Biografen, Simon Szantó, als Geschäftsmann, Phantast, praktischen Geist und mit
gebildetem Geschmack (vgl. Hecht 2016: 37, zit. nach Szantó 1863: 145).

Dieter Hecht und Georg Gaugusch ermöglichen in ihren Beiträgen tiefe Einblicke in die familiäre
Umgebung Frankls, ersterer durch die ausführliche Darstellung der beiden Ehepartnerinnen und
anderer Frauen in seinem Leben, letzterer durch eine detaillierte Genealogie. Jörg Krappmann
diskutiert die Einordenbarkeit Frankls als Literat und kommentiert seine mögliche
Unterrepräsentation im literaturhistorischen Kanon mit „Mag sein, dass grosse Literatur der
individuellen Krise ihres Verfassers bedarf“ (Krappmann 2016: 135), die jedoch nicht eintrat.

Was Frankls literarische Tätigkeit vor 1848 betrifft, so hat sich hier Gertraud Marinelli-König im
Rahmen ihres umfangreichen Komparatistikprojekts zur Publizistik des Vormärz verdient gemacht.
Diese Betrachtung ist deshalb interessant, weil sich in dieser Periode nicht nur das cisleithanische
Judentum in einer verhaltenen Aufbruchsstimmung befand, sondern gleichzeitig auch, neben
anderen Nationalitäten, sich Böhmen bereits voll im Prozess des „Národní obrození“ befand, der u.
A. von Johann Gottfried Herder indirekt initiierten Wiederbesinnung auf eine eigenständige
Volkskultur und damit dem Streben nach mehr Autonomie. Dies führte einerseits zu einer
Polarisierung, da vor allem ab 1867 das Prager – meist deutschsprachige – Judentum als
„Deutsche“ betrachtet wurden, was auch zur einer tschechischen Spezialvariante von
Antisemitismus führte, andererseits auf intellektueller Ebene zum Versuch, die beiden Seiten
wieder mehr zusammen zu führen. Gerade Juden waren in vielen Fällen zweisprachig, wie dies
auch aus dem oben erwähnten Gespräch Frankls mit Mezzofanti hervorgeht. Er versuchte etwa,
den tschechischen Schriftsteller Václav Josef Klícpera der Wiener Leserschaft näher zu bringen,
und war in serbischen Kreisen in Wien gern gesehener Gast. Hauptsächlich jedoch publizierte
Frankl auf Deutsch, und das sehr zahlreich, zu Beginn in diversen Unterhaltungsblättern, ab 1842
meist, jedoch bei weitem nicht ausschliesslich, in seinen eigenen „Sonntagsblättern“, wie die
akribisch recherchierte Studie von Marinelli-König darstellt.

Eine Kuriosität in Frankls schriftstellerischer Tätigkeit stellt seine Version der Biografie des
spanischen Zwangskonvertiten (Marranen) Diego d’Aguilar dar, der, als Kind entführt, schliesslich
als katholischer Bischof in Wien gelandet sein soll. Die historischen Fakten sehen anders aus, der
Stoff wurde auch von anderen SchriftstellerInnen bearbeitet, die Zusammenschau Carsten Wilkes
regt jedenfalls sehr zu weiterführender Lektüre an.

Mehrere Kapitel widmen sich unter unterschiedlichen Gesichtspunkten den Orientreisen Frankls
(Marie Krappmann, Yochai Ben-Ghedalia, aber auch der zweite Text von Louise Hecht), wobei
abgesehen von seiner unvoreingenommenen Darstellung der vorgefundenen Situation in Palästina
besonders seine Mission zur Gründung der Lämel-Schule in Jerusalem hervorsticht, eine von Elise
Herz, der böhmisch-jüdischen Witwe eines der ersten Zuckerfabrikanten des Landes, gestifteten
Einrichtung, ursprünglich als interkonfessionelle Wohlfahrtseinrichtung geplant, deren Realisierung
zahlreiche Probleme und Konflikte mit sich brachte, die jedoch, wenn auch unter mehrfach
veränderten Vorzeichen, bis nach dem ersten Weltkrieg in Betrieb war. Diese hochinteressante
Geschichte findet sich auch ausführlich in Moritz Antscherls „Elise Herz oder Geschichte einer
Schule in Jerusalem“ aus dem Jahr 1910, allerdings in Form einer sehr poetisch gehaltenen
Laudatio so gut wie aller vorkommenden Personen, und bei Niedhammer (2013).

Ein wichtiges Kapitel in Frankls Leben bildeten seine Denkmalpassion, die Gründung einer
israelitischen Blindenerziehungsanstalt und des ersten Jüdischen Museums überhaupt. Diese
Inhalte, vor allem die kontroversielle Rezeption seiner Spendensammlung für das Schiller-Denkmal
in der Wiener Innenstadt, werden von Herlinde Aichner, Louise Hecht und Gabriele Kohlbauer-Fritz
behandelt und zeigen zusammen mit Kapiteln über Frankl als Revolutionär, über seine
Beziehungen zur Musikwelt und zu seinen Kritikern eine überaus vielseitige und hochinteressante
Persönlichkeit, die das breite Spektrum jüdischer Erfahrungswelt in einem für Frankls Generation
nahezu typischen böhmisch-österreichischen Kontext abbildet.

Was nach Ansicht des Autors in dieser Publikation fehlt, ist der Anteil Frankls an der Genese der
Prager oder besser Böhmisch-Mährischen deutschsprachigen Literatur. Diese Bezeichnung wird
sehr kontroversiell, aber ergebnislos diskutiert, Tatsache ist jedenfalls, dass es im Zeitraum nach
1848 bis 2008, also ausgehend etwa von der schriftstellerischen Tätigkeit Auguste Hauschners,
geboren 1850, bis zum Tod Lenka Reinerovás eine Reihe von über 40, damals teils weltbekannten
AutorInnen gab, die mit einem starken Bezug zu diesem Land auf Deutsch publizierten. Franz
Kafka ist in diesem Kontext nur das touristisch vermarktete Aushängeschild. Dass ein
beträchtlicher Anteil dieser Literatur im Ausland bzw. Exil entstand bzw. erschien (Hauschner,
Werfel, Brod, Grab, Natonek, Winder, Hodin, Perutz usw.) ist möglicherweise eines der
Alleinstellungsmerkmale dieser schwer definierbaren „Gruppierung“. Diese Literatur ist jedoch nicht
von einem Tag auf den anderen entstanden:

Nach der hier bereits dargestellten deutschen Akkulturation der Juden in Böhmen und Mähren
begannen bereits im frühen 19. Jahrhundert literarische Talente wie eben z.B. Frankl auf Deutsch
zu publizieren, ebenso wie etwa Leopold Kompert („Ghettogeschichten“) oder Moritz Hartmann, da
es dafür bereits ein deutsch lesendes jüdisches Publikum gab. Zu dieser Entwicklung hat auch die
Gründung der Verlagsbuchhandlung des Wolf Pascheles in Prag und dessen Publikation der
jüdischen Sagenkompilation „Sippurim“ beigetragen, die in zahlreichen Auflagen publiziert wurden.
Daraus entstand jenes Phänomen einer deutschsprachigen Literatur ausserhalb der Zentren des
deutschsprachigen Literaturbetriebs.

Nichtsdestoweniger ist das Buch wesentlich mehr als eine Biografie, es ist eine ausgezeichnet
recherchierte Sammlung bedeutender Schlaglichter auf eine Epoche.
Günther Krumpak, Prag (2023)

Literatur

Hecht, Louise (Hg.) (2016): Ludwig August Frankl (1810-1894). Köln / Weimar / Wien: Böhlau

Hecht, Louise (2011): Zwischen Haskalah und Cheder. Schulen und jüdische Erziehung in den
Ländern der Böhmischen Krone. Reformierung des Elementarschulwesens durch Maria Theresia
und Joseph II. In: Judaica Bohemiae XLVI, Supplementum 2011: Individuum und Gemeinde. Juden
in Böhmen, Mähren und Schlesien 1520 bis 1848 [Deutsch u. Tschechisch]. Helmut Teufel, Pavel
Kocman, Alexandr Putík, Iveta Cermanová (Hg.). Židovské muzeum v Praze / Jüdisches Museum
Prag, Společnost pro dějiny Židù v České republice / Gesellschaft für die Geschichte der Juden in
der Tschechischen Republik. Praha – Brno: 159-352

Kieval, Hillel J. (1988): The Making of Czech Jewry: National Conflict and Jewish Society in
Bohemia, 1870-1918. Oxford: Oxford University Press

Niedhammer, Martina (2013): Nur eine „Geld-Emancipation“? Loyalitäten und Lebenswelten des
Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht

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