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MEINUNG SÖREN KIERKEGAARD

Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts


Veröffentlicht am 03.05.2013 | Lesedauer: 5 Minuten

Von Christian Möller

Ängste hat jeder - Ängste kennt jeder. Doch Sören Kierkegaard sagt: Ängste braucht jeder
Quelle: Getty Images/Vetta

Vor 200 Jahren wurde der Philosoph Sören Kierkegaard geboren. Er litt an Depressionen
und schrieb ein Buch über die Angst, das es bis heute in sich hat. Noch immer ist
Kierkegaard lesenswert.

A m 17. Juni 1844 erscheint in Kopenhagen ein Buch mit dem merkwürdigen Titel: „Der
Begriff Angst“. Noch etwas merkwürdiger ist der Untertitel: „Eine schlichte
psychologisch-andeutende Überlegung über das dogmatische Problem der Erbsünde“.

Am allermerkwürdigsten aber ist der lateinische Name des Verfassers: Vigilius Haufniensis,
zu Deutsch etwa „Der Nachtwächter Kopenhagens“. In Dänemarks Hauptstadt weiß man
trotzdem sofort, wer sich hinter dem schrulligen Pseudonym verbirgt. Das kann nur der
Magister der Philosophie (/kultur/article117620016/Philosophie-heute-mal-in-geselliger-
Form.html)und freischaffende Schriftsteller Sören Aabye Kierkegaard sein!

Sören Kierkegaard: Angst als Bedingung der Freiheit


Erstens hat er schon mehrere Schriften pseudonym veröffentlicht, zweitens zeichnet sich die
Neuerscheinung durch die für ihn charakteristische Mischung aus psychologischem
Scharfsinn und theologischer Leidenschaft aus. Doch warum die Verkleidung ausgerechnet
als Nachtwächter? Nun, in seinem neuesten Werk will Kierkegaard seinen Landsleuten die
Nacht erhellen, sprich: die dunkle Seite ihres Wesens.

Als Grundzug des Menschen findet er einen in der Philosophie völlig neuen Grundbegriff: die
Angst. Er möchte sie allerdings sofort von der Furcht unterscheiden, die einen Gegenstand
hat, während Angst gegenstandslos ist. Man fürchtet sich „vor“ etwas, aber man „hat“ Angst.

Dabei ist Kierkegaard weit davon entfernt, die Angst nur negativ zu beschreiben. Sie bietet
dem Menschen unendlich viele Möglichkeiten, unter denen er wählen kann (und muss). Ja,
Angst ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit
(/debatte/article113809318/Freiheit-Ach-Hauptsache-der-Muell-ist-getrennt.html) –

damit aber auch von potenzieller Sünde. Kierkegaard zieht als Beispiel die biblische
Urgeschichte heran und findet: Schon bei Adam und Eva
(/geschichte/article128190416/Adam-und-Eva-sind-800-Jahre-aelter-als-die-Bibel.html)

ist die Angst die Voraussetzung des Sündenfalls. Beide geraten in einen „Schwindel der
Freiheit“ über der Frage, ob sie vom Baum der Erkenntnis essen sollen oder nicht.

Depressionen als Last des Lebens

Dieser Schwindel ist nichts anderes als die Erbsünde, jenes uralte Problem der christlichen
Theologie, mit dem sich schon Kirchenvater Augustinus herumschlug. Kierkegaard hebt die
Diskussion auf ein neues Niveau. Die Erbsünde besteht für ihn darin, dass dank der
menschlichen Fähigkeit zur Angst jeder einzelne, jede Generation in den „Schwindel der
Freiheit“ gerät – und notwendigerweise schuldig werden muss.

Was von seinen Lesern im Jahr 1844 kaum einer ahnt: Hinter Kierkegaards vertrackten
Überlegungen steckt eine existenzielle Erfahrung. Kurz zuvor hatte er sich, nach nur einem
Jahr Verlobungszeit, von seiner Verlobten Regine Olsen getrennt. Der Schritt war für ihn
selbst höchst schmerzlich, für die junge Frau aber – und mit ihr halb Kopenhagen - geradezu
skandalös. Kierkegaard hatte eine vom Vater ererbte Schwermut
(/gesundheit/article3396639/Leben-zwischen-Euphorie-und-Schwermut.html)an sich entdeckt,

eine Lebensgrundangst, die er Regine nicht zumuten wollte. Er trennte sich und blieb bis
zum Ende unverheiratet. Seinen gesamten Nachlass vermachte er testamentarisch seiner
„ewig geliebten Regine“.

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wenn man Kierkegaards Angstanalyse lediglich als
Sublimierung einer unglücklichen Liebesgeschichte abtun würde. Gerade, um solche Klatsch-
Missverständnisse zu vermeiden, hat er ja zwischen sich und seine Leser das Pseudonym
„Vigilius Haufniensis“ geschoben. Der gerade einmal 31jährige Philosoph und Theologe
behauptet selbstbewusst: Seine Lebensangst ist keineswegs ein privates, genetisches
Problem, sondern geradezu ein Grundpfeiler der condition humaine.

Angst steckt in jedem Menschen

Die Angst (/wall-street-journal/article115734313/Deutschland-macht-den-Maerkten-

Angst.html) steckt in jedem Menschen, aber die schwere Aufgabe besteht darin, sie

zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen. Zum Modellfall wird für ihn das Grimmsche
Märchen von „Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“: „Dies ist ein Abenteuer, das jeder
Mensch zu bestehen hat: Dass er lerne sich zu ängsten, denn sonst geht er dadurch zugrunde,
dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat,
sich recht zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt“.

Seine Schwermut macht Kierkegaard nicht nur unglücklich, sie treibt ihn auch zu rastloser
schriftstellerischer Tätigkeit an. Wie es sich für einen Nachtwächter gehört, schreibt er vor
allem in den Nächten, übrigens immer im Stehen (in jedem seiner Zimmer lässt er ein
Schreibpult aufstellen). In den Stunden, wo er einen Griffel in der Hand hat, kann er der
Schwermut enteilen. Tagsüber entflieht er ihr, indem er über Kopenhagens Straßen und
Märkte flaniert. Vielen Mitbürgern erscheint er wie der witzigste Mensch Kopenhagens.

Seine Nichte Henriette Lund erinnert sich nach seinem Tod: „Die Straßen Kopenhagens
waren für ihn ein Empfangszimmer im großen, wo er sich früh und spät umhertrieb und mit
allen redete, mit denen er Lust hatte. Als er fort war, und ich nicht mehr der bekannten und
lieben Gestalt begegnen sollte, kam es mir vor, als sei plötzlich die ganze Stadt leer und
fremd geworden.“

Der große Kierkegaard


Doch neben dem schwermütigen Philosophen und dem witzigen Flaneur gibt es noch einen
dritten Kierkegaard: den Theologen und Prediger. Im Glauben findet Kierkegaard die
Aufhebung seiner Widersprüche. In verblüffenden Analysen biblischer Texte interpretiert er
das Wesen der Gnade und der göttlichen Vergebung (/kultur/article3449058/Warum-

Theologen-am-Suehnetod-Jesu-zweifeln.html). Dabei ist er alles andere als ein steifer

Kanzelmoralist.

Auf eine wohl bei keinem der großen Philosophen antreffbare Weise durchdringen sich bei
ihm Schwermut und Humor, Tiefsinn und Ironie. Der Spaßgesellschaft schreibt er ins
Stammbuch: Wehe den Leichtfertigen, die nicht wahrhaben wollen, wie brüchig der Boden
unter den Füßen des Menschen ist. Als Gegenmittel empfiehlt er: „Das Evangelium ist Trost
für Schwermütige und Ernst für Leichtsinnige.“

Die Maskeraden des Nachtwächters von Kopenhagen erweisen sich als höchst erfolgreich. Als
Kierkegaard (http://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%B8ren_Kierkegaard) 1855 stirbt, mit nicht

einmal 43 Jahren, ist er eine lokale Berühmtheit, aber in seiner wahren Bedeutung völlig
verkannt. Sein unglaublich umfangreiches Werk wird erst drei Generationen später entdeckt,
von Martin Heidegger, Jean Paul Sartre und Franz Kafka, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt,
Karl Barth und Rudolf Bultmann.

An seinem 200. Geburtstag darf man bilanzieren: Unter den zwanzig, dreißig großen
Philosophen des Abendlandes ist Sören Kierkegaard ein Tausendsassa wie sonst vielleicht
nur noch Blaise Pascal: Philosoph, Schriftsteller, Theologe, Psychologe – und natürlich
Nachtwächter.

Christian Möller ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Universität
Heidelberg. Im April 2013 erscheint von ihm und Michael Heymel eine Einführung in das
Werk Kierkegaards: „ Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glaube und Denken bei Sören
Kierkegaard“, TVZ Zürich/ EVA Leipzig 2013.

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