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04 08 Visuelle Reizerscheinungen
04 08 Visuelle Reizerscheinungen
Josef Zihl
d e f
Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass auch patho- Die Ursache für das Auslösen der Reizerscheinungen spielt
physiologische Prozesse außerhalb des visuellen Systems dabei eine eher ungeordnete Rolle; sie dürfte jedoch aus-
visuelle Reizerscheinungen erzeugen können. Dazu ge- schlaggebend dafür sein, wie groß der Gesichtsfeldbereich
hören z. B. Wirkungen halluzinogener Substanzen und ist, in dem sie auftreten, und aus welchen Anteilen sie sich
Funktionsstörungen des aufsteigenden retikulären Sys- zusammensetzen (z. B. farbige Formen und Gesichter in
tems nach Läsionen des Hirnstamms oder des Thalamus einem Bild). Visuelle Reizerscheinungen spiegeln somit die
(»pedunkuläre Halluzinose«; vgl. Kömpf 1998). Visuelle funktionelle Spezialisierung des visuellen Kortex wieder:
Reizerscheinungen finden sich auch bei Parkinson-Er- Farbige Reizerscheinungen entstehen durch die Erregung
krankung, Demenz vom Alzheimer-Typ und bei Schizo- von Neuronen, die Farbe kodieren; das Erscheinen von Ge-
phrenie (Ffytche u. Howard 1999; Manford u. Andermann sichtern durch Erregung von Neuronen, die Gesichter ko-
1998). Es handelt sich dabei ausnahmslos um komplexe dieren, etc. (Ffytche et al. 1998). Vereinfacht ausgedrückt
und sehr lebendige Reizerscheinungen, die von den Pa- lässt sich annehmen, dass die Erregung der ventralen (okzi-
tienten nicht immer zuverlässig als »irreal« eingestuft pitotemporalen) Verarbeitungsroute zur Erzeugung von
werden. Farben, Formen, Objekten, Gesichtern, Szenen etc. führt,
während bei Erregung des dorsalen (okzipitotemporalen)
Verarbeitungswegs einfache unbunte Reizerscheinungen
7.2 Pathogenese mit Ortswechsel (z. B. Flickern; Bewegung) »produziert«
und funktionelle Bedeutung werden (. Tabelle 7.1). Die Reizerscheinungen können auf
7 ein Halbfeld (Hemianopsie) oder ein Viertelfeld (Quadran-
tenanopsie) beschränkt sein (Kömpf 1998; Vaphiades et al.
! Visuelle Reizerscheinungen werden meist als von um-
1996; Vogeley u. Curio, 1998), was als weiterer Hinweis
schriebenen zerebralen Schädigungen (»discharging
auf die retinotope Organisation der extrastriären visuellen
lesions« nach Hughlings-Jackson) ausgehende Reiz-
Areale gewertet wird. Typischerweise treten visuelle Reiz-
erscheinungen interpretiert.
erscheinungen im ausgefallenen Gesichtsfeldbereich auf.
Ihr Entstehen wird auf verschiedene Ursachen zurückge- Eine fokale Schädigung des genikulostriären Systems, also
führt: des Corpus geniculatum und seiner Projektion nach V1
1. lokale pathophysiologische Prozesse (z. B. regionale (Area striata), führt zu einer afferenten Deprivation aller
Durchblutungsänderungen, raumfordernde Wirkung, topographisch korrespondierenden nachgeschalteten ex-
toxische Substanzen, epileptische Herde), trastriären kortikalen Areale. Neurone in diesen Arealen
2. Verlust der afferenten Informationszufuhr für extra- beginnen nun selbständig zu feuern – mit der Folge, dass
striäre visuelle Neuronenpopulationen durch eine Schä- der Patient visuelle Wahrnehmungen ohne externen Reiz
digung des afferenten (peripheren oder zentralen) visu- erlebt, aber eben nicht irgendwelche, sondern die, die durch
ellen Systems und
3. Hirnstammläsionen, die aufsteigende cholinerge und
serotoninerge Projektionen schädigen (Manford u. An- . Tabelle 7.1. Übersicht über visuelle Reizerscheinungen
und vermutete involvierte Strukturen des visuellen Systems.
dermann 1998).
(Mod. nach Grüsser u. Landis 1991)
Formen Strukturen
Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnte bei Patienten mit
visuellen Reizerscheinungen eine assoziierte Übererreg- Einfache Lichterscheinungen Retina bis striärer
Kortex (V1)
barkeit extrastriärer visueller Areale beobachtet werden
(Wunderlich et al. 2000). Strukturierte Muster V2, V3
Farbige Erscheinungen V2, V4
! Visuelle Reizerscheinungen dürften ihre Grundlage in oder Muster
der modalitätsspezifischen sensorischen Aktivierung Bewegte Erscheinungen V5
visueller kortikaler Areale haben, die auch im »Nor- Gesichter, Tiere, Mediobasaler okzipitaler
malfall«, d. h. bei Vorliegen entsprechender externer komplexe Objekte Kortex (IT)
visueller Reize, aktiv sind (Ffytche u. Howard 1999;
V visuelles kortikales Areal; IT inferotemporaler Kortex.
Weiss u. Heckers 1999).
7.2 · Pathogenese und funktionelle Bedeutung
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diese »pathologische« Entladung im entsprechenden extra- rufen. Eine weitere Ursache für die Genese solcher Reizer-
striären Areal generiert werden (Ffytche u. Howard 1999). scheinungen sind pathologische Erregungen in kortikalen
Das Übergreifen von visuellen Reizerscheinungen vom visuellen Arealen aufgrund einer Schädigung des aufstei-
Halbfeld kontralateral zur pathologischen Aktivierung auf genden retikulären Systems im Hirnstamm oder im Thala-
das gesamte Gesichtsfeld lässt sich dadurch erklären, dass mus; die Folge ist eine Überaktivierung von Neuronen im
sich die Aktivierung über kallosale Fasern in visuelle Kortex- visuellen Kortex. Ein »Hyperarousal« könnte auch das Ent-
areale der anderen Hemisphäre ausbreiten kann. stehen komplexer visueller Reizerscheinungen z. B. bei
Die im Rahmen von Migräneanfällen auftretenden Forti- Schizophrenie oder nach Einnahme bestimmter Drogen
fikationsphänomene entstehen vermutlich zuerst im fovea- auslösen (Manford u. Andermann 1998). Modulierende
len Repräsentationsgebiet des striären Kortex und breiten Effekte des aufsteigenden retikulären Systems auf neurona-
sich dann in einer Art Erregungswelle vom Okzipitalpol le Aktivitäten im visuellen Kortex sind seit langem bekannt
über die gesamte primäre Sehrinde (V1) einer Hemisphäre (Jacobs u. Azmitia 1992; Singer 1977); sie spielen mögli-
bis in die Area V2 aus. Die Vergrößerung der Musterele- cherweise auch für die Genese visueller Reizerscheinungen
mente stimmt dabei mit der Abnahme des kortikalen Ver- eine wichtige Rolle (Manford u. Andermann 1998).
größerungsfaktors vom Zentrum zur Peripherie des Ge- Die vorgelegten neuropsychologischen und neurobiolo-
sichtsfeldes gut überein. Als Ursache für die Genese und gischen Befunde weisen darauf hin, dass dieselben neura-
Ausbreitung wird die »cortical spreading depression« ange- len Systeme, die die Grundlage für die »normale« visuelle
nommen, die zu einer vorübergehenden Reduktion lokaler Wahrnehmung einschließlich der visuellen Vorstellung
neuronaler Aktivität mit anschließender Übererregung bilden, auch für die Generierung visueller Reizerscheinun-
und Ausbreitung auf benachbarte kortikale Areale (z. B. gen verantwortlich sind. Die unterschiedliche Einstufung
V2) führt (Olesen et al. 1990). visueller Reizerscheinungen durch Patienten als »irreal«
Epileptische Entladungen können ebenfalls benachbarte (Pseudohalluzinationen) vs. »real« (Halluzinationen) weist
(temporookzipitale) visuelle Areale »stimulieren« und auf darauf hin, dass Prozesse, die die Wahrnehmung überwa-
diese Weise komplexe visuelle Reizerscheinungen hervor- chen, mitbetroffen sein können.
Zusammenfassung
Visuelle Reizerscheinungen lassen sich in einfache (z. B. einer gestörten Funktionsweise des aufsteigenden retiku-
Punkte, Linien, einfache geometrische Formen) und kom- lären Systems verursacht. Als gemeinsame Folge wird die
plexe Erscheinungen (Formen, Objekte, Gesichter, Tiere, Generierung einer »spontanen« Aktivität visueller kortikaler
Szenen) klassifizieren. Sie können nach Schädigungen des Areale vermutet. In Abhängigkeit vom Ort der Generierung
peripheren oder des zentralen Sehsystems unterschied- kommt es zur Produktion einfacher oder komplexer visueller
licher Ätiologie auftreten oder sind durch pathophysiologi- Wahrnehmungen, die in der Regel der bekannten retinoto-
sche Aktivitäten im visuellen Kortex bzw. durch eine patho- pen Organisation und der funktionellen Spezialisierung vent-
logische Modulation kortikaler visueller Neurone aufgrund raler bzw. dorsaler visueller Areale folgen.