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7 Visuelle Reizerscheinungen

Josef Zihl

7.1 Formen – 84 Einfache Reizerscheinungen bestehen typischerweise aus


7.2 Pathogenese und funktionelle einfachen Formen (Punkte, gerade, schlangenförmige
Bedeutung – 86 oder Zick-Zack Linien) oder einfachen Mosaikmustern
(. Abb. 7.1), die entweder unbunt (meist weiß) oder bunt
sind, wobei die unbunten Formen überwiegen. In manchen
)) Fällen erscheint die Umwelt wie durch einen »Farbfilter« in
einem intensiven Blau, Rot oder auch Gold. Der Großteil
Die Schädigung des visuellen Systems führt zu Funktions- der Patienten berichtet diese Erscheinungen im Bereich des
ausfällen (sog. Negativsymptome). Sie kann aber auch Gesichtsfeldausfalls (typischerweise einer Hemianopsie,
visuelle Wahrnehmungen ohne externe Entsprechung (sog. d. h. eines halbseitigen Ausfalles). Einfache visuelle Hallu-
7 Positivsymptome) aus lösen; diese werden als visuelle zinationen werden meist nach der Hirnschädigung berich-
Reizerscheinungen bezeichnet. Ihre Auftretenshäufigkeit tet. Sie treten aber auch als Vorboten einer okzipitalen
schwankt je nach Ätiologie und Beobachtungszeitpunkt Durchblutungsstörung auf, dauern oft nur Sekunden bis
zwischen 2 und 63%, ihre Dauer kann zwischen Sekunden Minuten und können sich bis zu 20-mal täglich wiederho-
bis Minuten variieren. In der Regel nehmen Häufigkeit und len. Hinsichtlich Auftretenshäufigkeit und Form einfacher
Intensität mit zunehmendem zeitlichem Abstand vom Er- visueller Reizerscheinungen scheint es keine Hemisphären-
eignis ab. In Einzelfällen können visuelle Reizerscheinun- unterschiede zu geben (Ffytche u. Howard 1999; Gloning
gen allerdings auch über Monate und sogar Jahre bestehen. et al. 1968; Kölmel 1984; Lance 1976).
Dabei handelt es sich für die Betroffenen nicht um visuelle Komplexe visuelle Reizerscheinungen umfassen kom-
Vorstellungen, sondern um reale Wahrnehmungen mit zum plexe geometrische Muster, Gegenstände, Tiere sowie un-
Teil verhaltenswirksamen Konsequenzen. Visuelle Reizer- belebte oder belebte Szenen (. Abb. 7.1). Die subjektive
scheinungen lassen sich nach ihrer Erscheinungsform bzw. Einschätzung dieser Art von Reizerscheinungen durch die
Struktur (einfach, komplex) klassifizieren. Die Erscheinungs- Patienten reicht von angenehm über neutral bis sehr unan-
formen erlauben Rückschlüsse auf die funktionelle Orga- genehm. Sie lösen nicht selten entsprechende Verhaltens-
nisation des visuellen Systems auf der Basis subjektiven weisen aus (z. B. Vermeidungsverhalten, Ansprechen einer
Erlebens und unterstützen das Konzept der funktionellen imaginären Person). Komplexe visuelle Reizerscheinungen
Spezialisierung des visuellen Kortex. treten nie vor, sondern typischerweise mit einer Latenz
von Stunden bis Tagen nach der Hirnschädigung auf. Sie
! Als visuelle Reizerscheinungen werden Seheindrücke erscheinen meist im Halbfeld kontralateral zur Hirn-
ohne entsprechende externe Reize bezeichnet. Sie schädigung, wobei ebenfalls keine Links-rechts-Unter-
können aus einfachen Formelementen oder aus kom- schiede festzustellen sind; sie können aber auch im gesam-
plexen Bildern (Objekte, Gesichter, Szenen) bestehen ten Gesichtsfeld erscheinen (Gloning et al. 1968; Grüsser u.
und haben realen Charakter. Landis 1991; Kölmel 1984).
Die bisher beschriebenen visuellen Reizerscheinungen
werden vornehmlich nach einer Schädigung des zentralen
7.1 Formen visuellen Systems berichtet. Eine Schädigung des peripheren
visuellen Systems (z. B. im Rahmen von Augenerkrankun-
gen) kann jedoch ebenfalls sowohl einfache als auch kom-
! Aufgrund ihrer Struktur bzw. Komplexität lassen sich
plexe visuelle Reizerscheinungen auslösen (sog. Charles-
visuelle Reizerscheinungen in einfache und komple-
Bonnet-Syndrom; vgl. Kömpf 1998).
xe Formen einteilen.
7.1 · Formen
85 7

. Abb. 7.1a–f. Einfache (a–c)


und komplexe (d–f) visuelle
Reizerscheinungen im blinden
linken Halbfeld (dunkle Bereiche:
Hemianopsie). Die unterschied-
lichen Schraffierungen in c stel-
len unterschiedliche Farben dar.
In f ist eine Kombination aus
einfachen (dunkle Punkte) und
komplexen Reizerscheinungen
dargestellt. (Mod. nach Kölmel a b c
1984; Lance 1986)

d e f

Ein sehr bekanntes visuelles Reizphänomen ist das


sog. Flimmerskotom, das als typisches Symptom der oph-
thalmischen Form der Migräne, eines familiär gehäuften
Kopfschmerzleidens mit verschiedenen Begleiterscheinun-
gen wie Übelkeit, Überempfindlichkeit etc., gilt. Innerhalb
des Gesichtsfeldzentrums entwickelt sich zuerst ein stark
flimmernder Fleck, in dessen Zentrum der Patient keine
oder eine verfälschte (»wie durch ein grelles Licht«) Wahr-
nehmung hat. Flimmerskotome bestehen ebenfalls aus
unbunten einfachen Formen (helle Punkte, Zick-Zack-
Linien, Bögen) und ähneln in ihrer räumlichen Anordnung
einer mittelalterlichen Festungsmauer (daher der Begriff
»fortification illusion«; Richards 1971). Sie dehnen sich
allmählich und sehr langsam (etwa 3 mm/Minute) im be-
troffenen Halbfeld (seltener im gesamten Gesichtsfeld) zur
Gesichtsfeldperipherie hin aus. Dabei nimmt die Größe des
Musters zur Gesichtfeldperipherie hin zu (Baumgartner
1977; Grüsser u. Landis 1991; . Abb. 7.2).
Bei der Migräne mit Aura treten die beschriebenen visu-
ellen Reizerscheinungen bereits vor dem Einsetzen der
Kopfschmerzattacken auf. Die Aura kann von Minuten bis
zu einer Stunde dauern und ist häufig von homonymen . Abb. 7.2. Fortifikationsmuster in der linken Gesichtsfeldhälfte wäh-
Gesichtsfeldstörungen sowie neurologischen Symptomen rend einer Migräneattacke. Die Gradangaben beziehen sich auf die
begleitet (Diener u. Limmroth 2003). Neben den typischen Exzentrizität im Gesichtsfeld; die Zahlen (1, 3, 5, 8, 9 und 11) geben
die Zeit (in Minuten) nach Beginn der Migräne an. (Mod. nach Grüsser
Fortifikationsmustern können zusätzlich Verschwommen- u. Landis 1991)
sehen, Palinopsien und Metamorphopsien auftreten (Liu
et al. 1995).
86 Kapitel 7 · Visuelle Reizerscheinungen

Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass auch patho- Die Ursache für das Auslösen der Reizerscheinungen spielt
physiologische Prozesse außerhalb des visuellen Systems dabei eine eher ungeordnete Rolle; sie dürfte jedoch aus-
visuelle Reizerscheinungen erzeugen können. Dazu ge- schlaggebend dafür sein, wie groß der Gesichtsfeldbereich
hören z. B. Wirkungen halluzinogener Substanzen und ist, in dem sie auftreten, und aus welchen Anteilen sie sich
Funktionsstörungen des aufsteigenden retikulären Sys- zusammensetzen (z. B. farbige Formen und Gesichter in
tems nach Läsionen des Hirnstamms oder des Thalamus einem Bild). Visuelle Reizerscheinungen spiegeln somit die
(»pedunkuläre Halluzinose«; vgl. Kömpf 1998). Visuelle funktionelle Spezialisierung des visuellen Kortex wieder:
Reizerscheinungen finden sich auch bei Parkinson-Er- Farbige Reizerscheinungen entstehen durch die Erregung
krankung, Demenz vom Alzheimer-Typ und bei Schizo- von Neuronen, die Farbe kodieren; das Erscheinen von Ge-
phrenie (Ffytche u. Howard 1999; Manford u. Andermann sichtern durch Erregung von Neuronen, die Gesichter ko-
1998). Es handelt sich dabei ausnahmslos um komplexe dieren, etc. (Ffytche et al. 1998). Vereinfacht ausgedrückt
und sehr lebendige Reizerscheinungen, die von den Pa- lässt sich annehmen, dass die Erregung der ventralen (okzi-
tienten nicht immer zuverlässig als »irreal« eingestuft pitotemporalen) Verarbeitungsroute zur Erzeugung von
werden. Farben, Formen, Objekten, Gesichtern, Szenen etc. führt,
während bei Erregung des dorsalen (okzipitotemporalen)
Verarbeitungswegs einfache unbunte Reizerscheinungen
7.2 Pathogenese mit Ortswechsel (z. B. Flickern; Bewegung) »produziert«
und funktionelle Bedeutung werden (. Tabelle 7.1). Die Reizerscheinungen können auf
7 ein Halbfeld (Hemianopsie) oder ein Viertelfeld (Quadran-
tenanopsie) beschränkt sein (Kömpf 1998; Vaphiades et al.
! Visuelle Reizerscheinungen werden meist als von um-
1996; Vogeley u. Curio, 1998), was als weiterer Hinweis
schriebenen zerebralen Schädigungen (»discharging
auf die retinotope Organisation der extrastriären visuellen
lesions« nach Hughlings-Jackson) ausgehende Reiz-
Areale gewertet wird. Typischerweise treten visuelle Reiz-
erscheinungen interpretiert.
erscheinungen im ausgefallenen Gesichtsfeldbereich auf.
Ihr Entstehen wird auf verschiedene Ursachen zurückge- Eine fokale Schädigung des genikulostriären Systems, also
führt: des Corpus geniculatum und seiner Projektion nach V1
1. lokale pathophysiologische Prozesse (z. B. regionale (Area striata), führt zu einer afferenten Deprivation aller
Durchblutungsänderungen, raumfordernde Wirkung, topographisch korrespondierenden nachgeschalteten ex-
toxische Substanzen, epileptische Herde), trastriären kortikalen Areale. Neurone in diesen Arealen
2. Verlust der afferenten Informationszufuhr für extra- beginnen nun selbständig zu feuern – mit der Folge, dass
striäre visuelle Neuronenpopulationen durch eine Schä- der Patient visuelle Wahrnehmungen ohne externen Reiz
digung des afferenten (peripheren oder zentralen) visu- erlebt, aber eben nicht irgendwelche, sondern die, die durch
ellen Systems und
3. Hirnstammläsionen, die aufsteigende cholinerge und
serotoninerge Projektionen schädigen (Manford u. An- . Tabelle 7.1. Übersicht über visuelle Reizerscheinungen
und vermutete involvierte Strukturen des visuellen Systems.
dermann 1998).
(Mod. nach Grüsser u. Landis 1991)
Formen Strukturen
Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnte bei Patienten mit
visuellen Reizerscheinungen eine assoziierte Übererreg- Einfache Lichterscheinungen Retina bis striärer
Kortex (V1)
barkeit extrastriärer visueller Areale beobachtet werden
(Wunderlich et al. 2000). Strukturierte Muster V2, V3
Farbige Erscheinungen V2, V4
! Visuelle Reizerscheinungen dürften ihre Grundlage in oder Muster
der modalitätsspezifischen sensorischen Aktivierung Bewegte Erscheinungen V5
visueller kortikaler Areale haben, die auch im »Nor- Gesichter, Tiere, Mediobasaler okzipitaler
malfall«, d. h. bei Vorliegen entsprechender externer komplexe Objekte Kortex (IT)
visueller Reize, aktiv sind (Ffytche u. Howard 1999;
V visuelles kortikales Areal; IT inferotemporaler Kortex.
Weiss u. Heckers 1999).
7.2 · Pathogenese und funktionelle Bedeutung
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diese »pathologische« Entladung im entsprechenden extra- rufen. Eine weitere Ursache für die Genese solcher Reizer-
striären Areal generiert werden (Ffytche u. Howard 1999). scheinungen sind pathologische Erregungen in kortikalen
Das Übergreifen von visuellen Reizerscheinungen vom visuellen Arealen aufgrund einer Schädigung des aufstei-
Halbfeld kontralateral zur pathologischen Aktivierung auf genden retikulären Systems im Hirnstamm oder im Thala-
das gesamte Gesichtsfeld lässt sich dadurch erklären, dass mus; die Folge ist eine Überaktivierung von Neuronen im
sich die Aktivierung über kallosale Fasern in visuelle Kortex- visuellen Kortex. Ein »Hyperarousal« könnte auch das Ent-
areale der anderen Hemisphäre ausbreiten kann. stehen komplexer visueller Reizerscheinungen z. B. bei
Die im Rahmen von Migräneanfällen auftretenden Forti- Schizophrenie oder nach Einnahme bestimmter Drogen
fikationsphänomene entstehen vermutlich zuerst im fovea- auslösen (Manford u. Andermann 1998). Modulierende
len Repräsentationsgebiet des striären Kortex und breiten Effekte des aufsteigenden retikulären Systems auf neurona-
sich dann in einer Art Erregungswelle vom Okzipitalpol le Aktivitäten im visuellen Kortex sind seit langem bekannt
über die gesamte primäre Sehrinde (V1) einer Hemisphäre (Jacobs u. Azmitia 1992; Singer 1977); sie spielen mögli-
bis in die Area V2 aus. Die Vergrößerung der Musterele- cherweise auch für die Genese visueller Reizerscheinungen
mente stimmt dabei mit der Abnahme des kortikalen Ver- eine wichtige Rolle (Manford u. Andermann 1998).
größerungsfaktors vom Zentrum zur Peripherie des Ge- Die vorgelegten neuropsychologischen und neurobiolo-
sichtsfeldes gut überein. Als Ursache für die Genese und gischen Befunde weisen darauf hin, dass dieselben neura-
Ausbreitung wird die »cortical spreading depression« ange- len Systeme, die die Grundlage für die »normale« visuelle
nommen, die zu einer vorübergehenden Reduktion lokaler Wahrnehmung einschließlich der visuellen Vorstellung
neuronaler Aktivität mit anschließender Übererregung bilden, auch für die Generierung visueller Reizerscheinun-
und Ausbreitung auf benachbarte kortikale Areale (z. B. gen verantwortlich sind. Die unterschiedliche Einstufung
V2) führt (Olesen et al. 1990). visueller Reizerscheinungen durch Patienten als »irreal«
Epileptische Entladungen können ebenfalls benachbarte (Pseudohalluzinationen) vs. »real« (Halluzinationen) weist
(temporookzipitale) visuelle Areale »stimulieren« und auf darauf hin, dass Prozesse, die die Wahrnehmung überwa-
diese Weise komplexe visuelle Reizerscheinungen hervor- chen, mitbetroffen sein können.

Zusammenfassung
Visuelle Reizerscheinungen lassen sich in einfache (z. B. einer gestörten Funktionsweise des aufsteigenden retiku-
Punkte, Linien, einfache geometrische Formen) und kom- lären Systems verursacht. Als gemeinsame Folge wird die
plexe Erscheinungen (Formen, Objekte, Gesichter, Tiere, Generierung einer »spontanen« Aktivität visueller kortikaler
Szenen) klassifizieren. Sie können nach Schädigungen des Areale vermutet. In Abhängigkeit vom Ort der Generierung
peripheren oder des zentralen Sehsystems unterschied- kommt es zur Produktion einfacher oder komplexer visueller
licher Ätiologie auftreten oder sind durch pathophysiologi- Wahrnehmungen, die in der Regel der bekannten retinoto-
sche Aktivitäten im visuellen Kortex bzw. durch eine patho- pen Organisation und der funktionellen Spezialisierung vent-
logische Modulation kortikaler visueller Neurone aufgrund raler bzw. dorsaler visueller Areale folgen.

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