Sie sind auf Seite 1von 2

sebastian klotz

„Born This Way“


Anthropologische Suggestionen im Maximal Pop

Wie ist der Mensch, der uns in der Popmusik begegnet, in der Welt? Warum
behält eine wie auch immer gefasste Leibhaftigkeit ihre Referenzqualität? Fügt
sich das Bild, das Pop vom Menschen zeichnet, in irgendeiner Weise zu einem
erkennbaren Konzept?
So akademisch diese Fragen zunächst anmuten: Pop hält sich einen Reso-
nanzraum für die Verhandlung existentieller Fragen offen und kann sich so-
gar leisten, ein statement wie „Born This Way“ in ein Medienprodukt und eine
Bühnenshow zu übersetzen, das nicht nur plakative Seiten aufweist, sondern,
wie zu zeigen wäre, anthropologische Suggestionen in sich trägt. Diese Sug-
gestionen sind keinesfalls fixiert oder abschließend inhaltlich ausgestaltet,
sondern eklektisch arrangiert. Sie finden aber in Gestalt der singenden, tan-
zenden, sich verausgabenden Protagonistin Lady Gaga eine Projektionsfolie
für Beglaubigungen, die sozusagen leiblich-elementar und unhintergehbar
ist und anthropologisch gelesen werden kann. Aus diesem Grund wird dieses
Produkt der Popmusik für eine anthropologische Reflexion ausgewählt.1 Die
extreme körperliche, visuelle, klangliche Konkretisierung des Stars und der
stets ins Unverbindliche zu verallgemeinernde Abstraktionsanspruch von Pop
setzen den Rahmen anthropologischer Resonanzen. Anhand der Umsetzung
von „Born This Way“ auf der Konzertbühne im Rahmen der Monster Ball Tour
aus dem Jahr 2011 sollen erste Beobachtungen zu einer Musikanthropologie
der Popmusik unternommen werden.
Besonders produktive Impulse hat die Musikanthropologie aus der Musik-
ethnologie empfangen. Die Arbeiten von John Blacking2, Max Peter Baumann3
und Rudolf Brandl4 zeigen exemplarisch, wie musikalische Handlungen und

1 Die Darstellung verfolgt keine systematischen Interessen, sondern ist eher als Intervention
zu verstehen, die anthropologische Vektoren freilegen möchte.
2 John Blacking: Music, Culture & Experience, hg. und mit einer Einleitung versehen von Regi-
nald Byron, Chicago, London 1995 (= Chicago Studies in Ethnomusicology).
3 Max Peter Baumann: „Musik“, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historische
Anthropologie, Weinheim, Basel 1997, S. 974–984.
4 Rudolf M. Brandl: Musik als kommunikative Handlung. Musikalische Hermeneutik versus Ko-
gnitive Anthropologie. Entwurf einer dramatologischen Musikanthropologie, Göttingen 2006
(= Orbis Musicarum 60).

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846759660_010


210 sebastian klotz

Erfahrungsfelder identitätsstiftend und sozial relevant werden. Diese Zugän-


ge gehen von der Prämisse aus, dass der Mensch ein musikalisches Wesen
ist. Historische Positionen wie diejenige der philosophischen Anthropologie
von Helmuth Plessner sind in jüngerer Zeit aufgegriffen worden, um das mu-
sikalisch vermittelte Selbst- und Weltverhältnis des Menschen auszuloten.5
Ein kohärentes Forschungskonzept der Musikanthropologie, auf das sich die
verschiedenen historischen und systematischen Subdisziplinen der Musik-
forschung verständigen könnten, liegt jedoch nicht vor. Die interdisziplinär
aufgeschlossene Musikpsychologie und die kultur- und sozialwissenschaftli-
che Musikforschung greifen selbstverständlich anthropologische Themen und
Fragestellungen auf. So wird Musik etwa als Medium der Ausgestaltung kon-
zeptioneller Beziehungen des Menschen zu anderen Menschen und zur Welt
verstanden.6 Andererseits geht die Musikforschung insgesamt einer Reflexion
ihrer philosophischen Prämissen, die etwa eine Anknüpfung bei Plessner zum
Zwecke einer Ausgestaltung der Musikanthropologie auf Augenhöhe mit der
Musikpsychologie, Musikästhetik und Musiksoziologie gestatten würde, weit-
gehend aus dem Weg. Dies erklärt auch, warum anthropologische Impulse vor-
rangig aus der Musikethnologie kommen. Bezüglich der komplexen Vermitt-
lungszusammenhänge von Popmusik sind die Zugänge jedoch kaum erprobt
worden. Dabei stehen klangbezogene identitätsstiftende Handlungen – sie
bilden nach Baumann den Kern musikalischer Praxen unter dem Blickwinkel
der An­thropologie7 – doch geradezu im Mittelpunkt des Projekts Popmusik.
Was wird also in Bezug auf den Menschen in Pop erkennbar? Schließlich: Was
haben wir in Gestalt der Medienartefakte der Popindustrie vor uns? Wo sollen
Wahrnehmen und Erkennen in Bezug auf diese Produkte ansetzen? Das Wech-
selspiel beider Prozesse greift aisthesis im antiken, nicht-reduktionistischen,
also nicht nur auf das Schöne fixierten, Sinn auf.
Einen geeigneten Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen bil-
den die Verschiebungen im Spektrum musikästhetischer Forschungen, die
anstelle von werkbezogenen Wirkungen nun nach den Produktionsmodi von
musikalischer Präsenz, nach Formen des aktiven kognitiven embodiment8
und den damit verbundenen ästhetischen Erfahrungsräumen fragen. Anstelle

5 Volker Kalisch: „Körpergefühl und Musikwahrnehmung. Musik in anthropologischer


Perspektive“, in: Christian Kaden, Karsten Mackensen (Hg.): Soziale Horizonte von Musik. Ein
kommentiertes Lesebuch zur Musiksoziologie, Kassel 2006 (= Bärenreiter Studienbücher Musik
15), S. 203–216.
6 So bei der Sozialwissenschaftlerin Tia DeNora, siehe unten.
7 Baumann: „Musik“, S. 982.
8 Die grundlegende Monographie stammt von Marc Leman: Embodied Music Cognition and
Mediation Technology, Cambridge (MA), 2007.

Das könnte Ihnen auch gefallen