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DER WOLKENBERG

Sie stehen auf dem Balkon. Es ist kühl, Anfang Februar eben, aber der Himmel ist blau und offen.
Ein paar Wolken türmen sich zu dramatischen Skulpturen, schieben sich immer wieder vor die
Sonne, die ihre Ränder silberweiß entzündet, geben dann ihr Licht wieder frei.

Ein leichter Wind kommt auf, aber Marta friert nicht. Das Himmelblau, die Wintersonne und der
Arm um ihre Schultern wärmen sie. Sie lehnt sich an Georg, dreht den Kopf und blinzelt zu ihm
hoch.

„Schau“, er zeigt in die Wolken. „Sieht das nicht aus wie ein riesiges Meerschweinchen?“

Marta folgt seinem ausgestreckten Finger mit den Augen. „Ein bisschen…“, sagt sie zögernd. Mit
viel Fantasie kann sie den runden Kopf mit den Knopfaugen entdecken, und das da könnten die
Vorderbeine… Doch die Wolken bewegen sich weiter, und das Bild zerfasert, bevor sie es ganz
erfassen kann.

Sie zuckt ganz leicht mit den Schultern und kneift dann die Augen zusammen, weil die
Wolkenmassen jetzt die Sonne wieder freigeben. Als sie sie wieder öffnet, hat sich die
Himmelslandschaft erneut verändert.

„Die da sieht aus wie ein Berg“, sagt Georg, und dieses Mal sieht Marta es sofort.

„Ein bewaldeter Berg“, ergänzt sie. „Schau, der etwas dunklere Teil zieht sich nicht bis ganz zum
Gipfel, da oben muss die Baumgrenze sein.“ Sie schaut wieder zu Georg auf. Er strahlt, glücklich,
sie in sein Spiel eingebunden zu haben. „Ja, genau! Und diese Rinne da, das ist ein Fluss. Oder
vielleicht eine Straße?“

„Nee, schau mal, wie das nach unten geht, fast gerade. Das muss ein Fluss sein, und zwar ein
ziemlich reißender. Für eine Straße wäre das viel zu steil.“ Marta lächelt. Es macht Spaß, sich die
Landschaft auszumalen, die dort oben entsteht.

Erneut bewegen sich die Wolken, und ihr Berg reißt auf. Schade, denkt Marta. Doch für Georg ist
es damit noch lange nicht zu Ende: „Ein Erdbeben!“, ruft er begeistert, „oder ein Vulkanausbruch!
Schau nur, der Fluss wurde umgelenkt. Und jetzt öffnet sich eine Höhle…“

Marta grinst. „Hoffentlich kommt da kein Drache raus“, scherzt sie.

Georg lacht und drückt sie an sich. „Ich würde dich beschützen“, verspricht er. „Du weißt doch,
Georg ist ein Drachentöter.“

In diesem Augenblick bricht die Sonne unter ihrer Wolke durch, ein einzelner Strahl wie ein breites
Band. Das Licht tastet über die Dächer der Stadt, ein Finger, ein Suchscheinwerfer, eine Brücke auf
den Fantasieberg. Fasziniert beobachtet Marta, wie es näherkommt, Straße für Straße, Haus für
Haus, bis es das Geländer ihres Balkons erreicht und in goldenes Glühen versetzt.

Der Sonnenstrahl bringt die Luft zum Leuchten, glitzernder Staub schwebt wie ein Teppich
zwischen dem Haus und dem Berg. Marta löst sich von Georg und tritt nach vorn. Sie streckt eine
Hand aus, will sie in das Licht halten, will Teil dieses zauberhaften Schauspiels werden. Ihre
Fingerspitzen nähern sich der leuchtenden Bahn
„Es sieht wie eine Straße aus, die zum Fuß des Berges führt“, sagt Georg, und Marta hält mitten in
der Bewegung inne. Sie dreht sich zu ihm um, die Hand noch immer ausgestreckt. Er lächelt, aber
seine Augen blicken nicht zu ihr, sondern die Lichtbrücke entlang, zu dem Wolkenberg, der noch
immer deutlich erkennbar ist.

Sie lächelt. „Ja, das passt gut, nicht wahr? Aber es sieht nur so aus…“

„Vielleicht ist es wirklich eine Straße“, meint Georg und tritt näher an sie heran. Auch er streckt
einen Arm aus, nähert sich dem Licht – dann hält er inne und dreht sich zu ihr, schaut ihr in die
Augen.

„Wenn es eine Straße wäre, eine feste Brücke, auf der man gehen könnte, bis zu dem Berg dort
oben – würdest du mit mir gehen?“

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