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● Bei spezifischen Schwierigkeiten ● Hausaufgaben in kleine, überschau- agogik sollten deshalb auch fester Be-
(z. B. beim Schreiben) können spezi- bare „Portionen“ mit unterschiedli- standteil der Ausbildung von Lehrkräf-
fische Hilfen gegeben werden (z. B. chem Inhalt zerteilen. ten sein.
Lückentexte statt kompletter Tex- ● Die Hausaufgabenzeit sollte alters-
te). abhängig begrenzt sein. Entschei-
● Fordern Sie das Kind explizit auf, die dend ist nicht die Menge der bewäl-
Aufgaben (z. B. bei Diktaten) noch tigten Hausaufgaben, sondern die
einmal zu kontrollieren oder unter- benötigte Zeit.
stützen Sie es bei der Kontrolle. ● Der Lehrer kann mit den Eltern einen
● Geben Sie häufige Rückmeldung und festen Hausaufgabenort sowie
Lob auch für das Bemühen des Kin- eine festeHausaufgabendauerbe-
des. sprechen. Kann das Kind die Aufga-
ben in dieser Zeit nicht bewältigen,
Hilfen für die Hausaufgaben sollte der Lehrer dies in Rücksprache
Besonders schwierig gestaltet sich häu- mit den Eltern akzeptieren.
fig die Hausaufgabensituation. In einer ● Die Hausaufgaben müssen durch den
Rangreihe problematischer Situationen Lehrer kontrolliert werden. Auch
stehen die Hausaufgaben für Eltern hy- hier gilt die Regel, daß die Bemühun-
perkinetischer Kinder an erster Stelle. gen zu verstärken sind.
Deshalb können auch gemeinsam mit Die Behandlung des hyperkinetischen Korrespondenzadresse
den Eltern Hilfen für die Hausaufgaben Syndroms setzt einen multimodalen Dipl.-Psych. Norbert Beck
vom Lehrer erarbeitet werden: Behandlungsansatz voraus (siehe Bei- Tagesklinik für Kinder- und Jugend-
● Das Kind sollte ein Hausaufgaben- trag Steinhausen, S. 28), bei dem Päd- psychiatrie und Psychotherapie
heftchen führen, die Eintragungen agogik und Therapie ineinander grei- Lindleinstraße 7
sollten vom Lehrer kontrolliert und fen. Die Wissensvermittlung über kin- 97080 Würzburg
von den Eltern gegengezeichnet der- und jugendpsychiatrische Störungs- Tel.: 0931/2508040
werden. bilder und die Möglichkeiten der Päd- Fax: 0931/2508041
Konzentrationsvermögen, Ausdauer leicht ablenkbar, nur kurzfristig bei der Sache, Tagträume, Konzentrationsvermö-
Durchhaltevermögen gen im Verlaufe des Schultages, Hausaufgaben vergessen, Aufgaben nicht zu Ende
führen?
Motorische Unruhe zappeln mit Händen und Füßen, im Klassenzimmer herumlaufen, besondere
Schwierigkeiten bei ruhigen Arbeiten, hoher Bewegungsdrang auf dem Pause-
hof?
Impulsivität dazwischenreden, sich nicht melden, mit der Antwort herausplatzen, schnelle
Wutausbrüche?
richt die in Tabelle 1 genannten Aspek- Standardisierte Verfahren rungen und körperlichen Beschwerden
te berücksichtigt werden. Für die Diagnostik des hyperkinetischen zur Verfügung.
Syndroms, für die möglichst unabhän-
Leistungsverhalten gige Beobachtungen aus verschiede- Was kann der Lehrer im
Einen besonderen Stellenwert in der nen Situationen erforderlich sind, ste- Unterricht tun?
Beurteilung durch den Lehrer nehmen hen einige standardisierte Verfahren Eine Grundvoraussetzung für die ef-
Leistungsaspekte ein. Abzuklären ist, speziell zur Bewertung der Symptoma- fektive Unterstützung hyperkinetischer
ob z. B. eine schulische Überforderungs- tik in der Schule zur Verfügung. Kinder im Unterricht ist eine entspre-
situation oder eine Teilleistungsstörung Es handelt sich dabei zum einen um chende Einstellung gegenüber dem
vorliegt. Bei Leistungsproblemen muß die Lehrerversion der sogenannten Kind: Diese Kinder sind nicht besonders
eine ausführliche Leistungsdiagnostik „Conners-Skalen“, durch die 28 faul oder frech, sondern leiden an einer
und unter Umständen eine Teilleistungs- Verhaltensmerkmale hinsichtlich Symptomatik, die eine enge Kooperati-
diagnostik durchgeführt werden, dies ihrer Ausprägung bewertet werden on zwischen Eltern, Lehrer, Schulpsy-
kann z. B. durch den Psychologen oder können. Weiter steht der Eltern- chologe und Arzt/Therapeut verlangt.
Schulpsychologen geschehen. Lehrer-Fragebogen (Kurzform) zur Für dieseKooperationim Sinne des
Darüber hinaus sollte der Lehrer fol- Verfügung, der die Bewertung des Aus- Kindes können folgende Punkte wich-
gende Leistungsaspekte berücksichti- maßes von zehn für das hyperkineti- tig sein:
gen: sche Syndrom kennzeichnende Verhal- ● Keine Schuldzuweisungen! Vielmehr
● Leistungsverweigerung, Leistungs- tensweisen ermöglicht. Als drittes spe- sollen sich Eltern und Lehrer als
abbrüche zifisches Verfahren kann mittels des Partner für eine Hilfe zum Wohle
● unvollständige Leistungen (z. B. Fragebogen zur schulischen Situa- des Kindes gemeinsam einsetzen.
Hausaufgaben) tion das Auftreten und das Ausmaß ● Gegenseitiges Informieren, z. B.
● Leichte Frustration durch Mißerfol- von Unruhe und Konzentrationsschwie- durch ein „Haus-Schule-Haus-Heft-
ge rigkeiten in unterschiedlichen schuli- chen“.
● Nachlassen oder starke Schwankun- schen Situationen beurteilt werden ● Der Lehrer sollte über die Medikati-
gen des Leistungsverhaltens über (Abb. 3). on informiert sein und diese vorbe-
den Schultag Über diese störungsspezifische Ver- haltlos bejahen, da eine Unterstüt-
● „Flüchtigkeitsfehler“ fahren hinaus steht mit dem Lehrer- zung der Kinder bei der Medikamen-
● Unordnung in der Heftführung und fragebogen über das Verhalten von teneinnahme notwendig ist. Nur
den für die Schule benötigten Mate- Kindern und Jugendlichen (deut- wenn das Kind das Gefühl hat, daß
rialien sche Form der Teacher’s report form der Lehrer die Medikation unter-
● Ungeschickte Graphomotorik (unzu- der CBCL) ein störungsübergreifendes stützt, wird es diese Hilfe unbelastet
längliche Zeilenkonstanz, Größen- Verfahren zur Beurteilung von Verhal- annehmen können.
konstanz, Richtungskonstanz) tensauffälligkeiten, emotionalen Stö- ● Neben der diagnostischen Hilfe soll-
Zusammenfassung
Für die Lehrkräfte bedeutet der Umgang mit hyperkinetischen Kindern eine besondere fachliche und oft auch
persönliche Herausforderung. Der folgende Beitrag zeigt Möglichkeiten der Lehrer bei der Erkennung und Diagnostik
dieses Störungsbildes. Weiter gibt er konkrete Hinweise für die Unterstützung hyperkinetischer Kinder im Unterricht.
Schlüsselwörter: hyperkinetisches Syndrom, Schule, Lehrer, Lehrkräfte, Unterricht, Pädagogik.
Pharmakotherapie
Langzeiteffekte wurden bislang in nur
wenigen Studien untersucht, die zu-
dem meist erhebliche methodische Soziale Folgen zeigen sich z. B. in den Schulkarrieren: Kinder mit einer hyperkineti-
schen Störung verlassen die Schule im Durchschnitt mit einem geringeren Schulab-
Schwächen aufweisen. Effekte über
schluß. Und sie sind häufiger arbeitslos.
Zeiträume von zwölf bis 24 Monate
sind allerdings gesichert, solange Sti-
Das Therapieprogramm wird durch ei- Literatur beim Verfasser und im Internet (http:/
mulanzien eingenommen werden. Es /www.uni-koeln.de/med-fak/kjp)
gibt keinen Hinweis, daß dies nicht auch nen Ratgeber für Eltern, Lehrer und
für längere Zeiträume zutrifft. Ältere Erzieher ergänzt.
Studien konnten jedoch Langzeiteffek- Die Kurzzeiteffekte von Verhaltens-
te bei ausschließlich mit Stimulanzien therapie sind in jüngster Zeit sowohl
behandelten Kindern im Vergleich zu durch die amerikanische MTA-Study mit
unbehandelten Kindern nicht belegen. mehr als 500 Kindern als auch durch die
Bei der Langzeittherapie mit Stimulan- Kölner Studie zur multimodalen Thera-
zien stellt sich häufig ein erhebliches pie von Kindern mit hyperkinetischen
Problem in der Compliance für die Me- Störungen belegt worden. In beiden
dikamenteneinnahme ein. Studien erwies sich sowohl Verhaltens-
therapie als auch Pharmakotherapie als
Verhaltenstherapie ausgesprochen wirkungsvoll. Bei der
Neben der Pharmakotherapie hat sich Veränderung der hyperkinetischen
die Verhaltenstherapie als wirkungsvoll Kernsymptome ist die Stimulanzienthe-
erwiesen. Im deutschen Sprachraum rapie der Verhaltenstherapie auf eini-
wurde das Therapieprogramm für Kin- gen, jedoch nicht auf allen Parametern
der mit hyperkinetischem und opposi- überlegen. Der Stellenwert der Kombi-
tionellem Problemverhalten entwickelt nationsbehandlung (multimodale The-
und evaluiert. Dieses Therapiepro- rapie) bleibt weiterhin umstritten. Äl- Korrespondenzadresse
gramm besteht aus einer Kombination tere Studien der Arbeitsgruppe um Sat- Prof. Dr. sc. hum. Manfred Döpfner,
verschiedener verhaltenstherapeuti- terfield weisen darauf hin, daß durch Dipl.-Psych.
scher Techniken: die multimodale Therapie langfristig Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
● Aufklärung der Eltern, des Kindes bessere Effekte als durch eine aus- und
und anderer Bezugspersonen; schließliche Stimulanzientherapie er- Psychotherapie des Kindes-
● Eltern-Kind-Therapie mit Interven- zielt werden. Die Leitlinien der Deut- und Jugendalters
tionen in der Familie zur Verminde- schen Gesellschaft für Kinder- und Ju- der Universität zu Köln
rung von Verhaltensproblemen, die gendpsychiatrie und Psychotherapie Robert-Koch-Str. 10
im familiären Rahmen auftreten; empfehlen auch bei der Durchführung 50931 Köln
● Interventionen im Kindergarten einer Stimulanzientherapie zumindest Tel.: (0221) 478-6271
bzw. in der Schule; eine auf verhaltenstherapeutischen Fax: (0221) 478-3962
● Training des Kindes zur Verbesse- Prinzipien basierende Beratung des (äl- E-Mail:
rung seiner Selbststeuerungsfähig- teren) Kindes, seiner Eltern und ande- manfred.doepfner@medizin.uni-
keit. rer Bezugspersonen (Lehrer). koeln.de
Zusammenfassung
Unbehandelt vermindern sich zwar einige Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Jugend-
alter, doch häufig persistieren behandlungsbedürftige Residualsymptome sowie komorbide Störungen, vor allem
Störungen des Sozialverhaltens und Leistungsstörungen. Die Kurzzeiteffekte von Verhaltens- und von Pharmakothe-
rapie sind gut belegt; die Langzeiteffekte beider Behandlungsansätze wenig untersucht. Die Bedeutung der Kombina-
tionsbehandlung bleibt umstritten.
Schlüsselwörter: unbehandelte ADHD, soziale Folgen, Therapie-Langzeiteffekte.
Probleme bleiben me in bis zu 80 % der Fälle bis in das holt (im Vergleich zu 11 % der Kin-
Der Verlauf bei Kindern mit Aufmerk- Erwachsenenalter hinein persistieren. der, die bei der Erstuntersuchung
samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö- Zwar wird seltener eine volle Symptom- unauffällig waren)
rung (ADHD) oder hyperkinetischen ausprägung beobachtet; aber auch ein- ● in 46 % wurden sie vom Unterricht
Störungen (HKS) ist mittlerweile gut zelne Symptome können Einschränkun- vorübergehend suspendiert (Ver-
bekannt und lange nicht so günstig, gen in der psychosozialen Anpassung gleich: 15 %)
wie noch vor einem oder zwei Jahr- in der Familie und im Beruf nach sich ● in 11 % wurden sie von der Schule
zehnten vermutet. Mittlerweile liegen ziehen, so daß auch im Erwachsenenal- verwiesen (Vergleich: 1,5 %)
genügend Verlaufsstudien vor, die zei- ter weiterhin Behandlungsbedarf be- ● in 10 % der Fälle erfolgte der Schul-
gen, daß ein erheblicher Anteil der Kin- stehen kann. abbruch (Vergleich: 0 %)
der mit dieser Symptomatik auch noch Insgesamt ist die hyperkinetische ● in 33 % der Fälle war ein Besuch
als Jugendliche und Erwachsene ausge- Störung als eine Symptomatik mit ho- einer Sonderklasse für Lernstörun-
prägte Probleme haben, wenn sie nicht hem Chronifizierungsrisiko zu betrach- gen notwendig (Vergleich: 3 %) und
oder nicht ausreichend behandelt wer- ten, die sich in der frühen Kindheit ● in 36 % der Fälle wurde eine Sonder-
den: entwickelt und bis in das Erwachsenen- klasse für Kinder mit Verhaltensstö-
Im Jugendalter beträgt die Stabilität alter hinein persistieren kann. Der Ver- rungen besucht (Vergleich: 6 %).
der Störung zwischen 30 % und 70 %. lauf der Störung ist vor allem dann eher
Die Symptomatik unterliegt einem Sym- ungünstig, wenn sich neben den Kern- Es verwundet daher nicht, daß
ptomwandel, da die motorische Unru- symptomen weitere Auffälligkeiten Kinder mit diesem Störungs-
he nachläßt, während Impulsivität und entwickeln. Vor allem, wenn aggressive bild im Durchschnitt mit ei-
Aufmerksamkeitsstörungen eher per- Verhaltensauffälligkeiten oder Lei- nem geringeren Schulab-
sistieren. Im Vordergrund der Proble- stungsstörungen (mit schulischen Lei- schluß die Schule verlassen
matik stehen in dieser Entwicklungs- stungsdefiziten) auftreten. und häufiger arbeitslos sind.
phase neben der Schulleistungsproble-
matik in zunehmenden Maße Störun- Soziale Folgen Vermutlich aufgrund der persistieren-
gen des Sozialverhaltens und delinquen- Die sozialen Folgen der Störung wer- den Impulsivität sind Kinder, Jugendli-
te Handlungen, die bei 25 bis 50 % der den besonders eindrucksvoll durch eine che und junge Erwachsene gehäuft in
hyperkinetischen Jugendlichen auftre- amerikanische Studie belegt, die von Verkehrsunfälle auch mit tödlichem
ten. Der Anteil der Jugendlichen, die Russel Barkley durchgeführt wurde. Ausgang verwickelt.
dissoziale Störungen des Sozialverhal- Danach zeigen sich große Unterschie-
tens entwickeln, liegt auch in Deutsch- de in den Schulkarrieren von Kindern Risikofaktoren für einen un-
land bei etwa 40 %, wie die Mannhei- mit der Diagnose einer hyperkineti- günstigen Verlauf
mer Längsschnittstudie der Gruppe um schen Störung im Vergleich zu unauf- Die empirisch weitgehend gesicherten
Schmidt und Esser zeigt. fälligen Kindern. Acht Jahre nach die- Risikofaktoren für einen eher ungün-
Entgegen früherer Annahmen kön- ser Diagnose hatten die Jugendlichen: stigen Verlauf der Störung sind:
nen einzelne hyperkinetische Sympto- ● in 29 % der Fälle eine Klasse wieder- ● stark ausgeprägte Symptomatik;
Maßnahmen sind nur bei Krisensitua- de gefunden, daß 70-85 % der ADHD-
tionen notwendig. Patienten auf die Stimulantientherapie
ansprechen. Es besteht keine Korre-
Medikamentöse Therapie lation zwischen Körpergewicht und
Bei deutlicher Beeinträchtigung im Lei- notwendiger Dosis!
stungs- und psychosozialen Bereich, Die Wirkung tritt schnell ein und
großem Leidensdruck bei Kindern/Ju- zeigt sich in deutlich besserer Aufmerk-
gendlichen und Eltern und somit Ge- samkeit, Selbststeuerung, Ausdauer,
fahr für die weitere Entwicklung ist Konzentration; besserem Zuhören und
medikamentöse Therapie notwendig. sinnvollem Umsetzen des Gehörten; Ver-
Spontanremissionen gibt es praktisch ständnis für Logik, Zusammenhänge
nie; ohne medikamentöse Behandlung und Ermahnungen, Einsicht; besserer
verschlechtert sich die Situation meist Schrift und Rechtschreibung, weniger
zunehmend. Auch für viele Vorschul- Flüchtigkeitsfehlern; besserer Körper-
kinder besteht be- koordination,
reits ein Behand- Das Wichtigste Wahrnehmung
lungsbedarf (nach für die Praxis . . . und Ausführung
DSM IV treten die von Mimik, Gestik
Symptome bereits ● In allen Lebensabschnitten und Körperspra-
vor dem Alter von gibt es Hinweise für Aufmerk- che; weniger Re-
7 Jahren in Erschei- samkeitsstörung, Hyperaktivi- den und Geräu-
nung), um zuneh- tät und Impulsivität. Die Leit- sche machen; bes-
mende Entwick- symptome kann man bei den serer Motivation,
lungsverzöge- Vorsorgeuntersuchungen und Leistung zu erbrin- Leitsymptome im Grundschulalter: we-
rung, Sekundär- in den Berichten der Eltern ent- gen, Dinge zu Ende nig Ausdauer, starke Ablenkbarkeit, ag-
störungen und decken oder bei anderen Be- zu bringen; Spaß gressives Verhalten, schlechte Schrift etc.
Ausgrenzung zu suchen des Patienten. an Arbeit und Lei-
verhindern. Gera- ● Die Diagnose ergibt sich aus stung. lung - Nebenwirkungen auf. Die mei-
de in ungünstigem der Lebensgeschichte. Die Nebenwir- sten Nebenwirkungen lassen sich be-
sozialem Umfeld ● Ohne medikamentöse Be- kungen sind ge- herrschen durch Verminderung der
haben diese Kin- handlung verschlechtert sich ring und bestehen Dosis, Änderung der Verabreichungs-
der ein hohes Risi- die Situation meist zuneh- in abnehmender zeiten oder Wechsel des Medikamen-
ko, emotionale mend. Auch für viele Vorschul- Häufigkeit in Ap- tes. Es gibt keine Suchtentwicklung
und körperliche kinder besteht bereits Behand- petitmangel, (körperliche oder psychische Abhängig-
Mißhandlungen lungsbedarf. Schlafstörungen keit) unter der Stimulanzientherapie.
zu erleiden. Viele (die z. T. ver- Die Gefahr des Drogenmißbrauchs wird
übende Therapieformen (Ergotherapie, schwinden unter niedriger abendlicher durch Stimulantienbehandlung sogar
Psychomotorik, Logopädie) erzielen erst Stimulanziengabe), Dysphorie, Weiner- gemindert. Bei Langzeitbehandlung
bei medikamentöser Therapie der Kin- lichkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmer- tritt in üblicher Dosierung keine Tole-
der wirkliche Erfolge. zen, Schwindel, Reboundhyperaktivi- ranzentwicklung ein. Eine antikonvul-
tät bei Nachlassen der Wirkung, Auslö- sive Behandlung ist kein Hindernis für
Behandlungsbedarf auch für sung oder Verschlechterung bestehen- die Stimulanzientherapie.
Vorschulkinder. der Tic-Störung (fast immer vorüberge-
hend, manchmal Aufhören der Tics un- Praktisches Vorgehen bei der Sti-
Als Medikamente stehen an erster Stel- ter Stimulantienbehandlung, persistie- mulanzientherapie
le die in Tabelle 1 genannten Psychosti- rend bei 1 %; eventuell zusätzliche Be- Informationsgespräch mit Eltern und
mulanzien Methylphenidat (z. B. Rita- handlung nötig), vorübergehender (älteren) Kindern/Jugendlichen über die
lin®) und DL-Amphetamin (Rezeptur als Wachstumsverlangsamung bei norma- medikamentöse Therapie: Aufklärung
Saft). Antidepressiva, Neuroleptika und ler Endgröße, Dosisabhängiger Puls- und über Wirkweise, Nutzen und mögliche
MAO-Hemmer spielen kaum eine Rolle. Blutdruckerhöhung (bei Kindern ex- Nebenwirkungen (wobei auch über in
Wirkungen und Nebenwirkungen sind trem selten). der Öffentlichkeit kursierende Vorur-
in etwa gleich bei Methylphenidat und In Langzeitstudien konnten keine teile gesprochen werden sollte); Bereit-
DL-Amphetamin, die Ansprechbarkeit negativen psychischen oder somati- schaft für sofortige Rückfragen bei Un-
auf die Substanzen ist individuell un- schen Auswirkungen durch die Thera- sicherheiten oder Problemen.
terschiedlich gut. Die angegebenen mg/ pie mit Psychostimulanzien festgestellt Einstellungsphase: 1/4 bis 1/2 Ta-
kg KG sind Durchschnittswerte und werden. Im normalen Dosisbereich (un- blette Methylphenidat (alternativ: 2 mg
können individuell erheblich unter- oder ter 1 mg/kg KG/Tag) treten nur selten - DL-Amphetamin als Saft) nach dem
überschritten werden. Empirisch wur- und meist nur zu Beginn der Behand- Frühstück für 1 Woche; wöchentliche
Kleinkindalter (U7, U8):plan- und finden sich aber bereits als zentrale Die Exploration der Eltern und der Kin-
rastlose Aktivität, geringe Ausdauer bei Steuerungsstörung im Kleinkindalter: der/Jugendlichen selbst gehört genau-
Einzel- und Gruppenspiel, ausgeprägte mangelnde Merkfähigkeit, auditive und so dazu, wie die Fremdbeurteilung
Trotzreaktionen, unberechenbares So- visuelle Wahrnehmungsprobleme, durch Erzieher und Lehrer zu Sozial-,
zialverhalten, Teilleistungsschwächen schnelle Blickwechsel, polternde Spra- Lern-, Leistungsverhalten und Persön-
bezüglich auditiver und visueller Wahr- che, unkoordinierte Bewegung. In allen lichkeitsstruktur. Diese Informationen
nehmung, Fein- und Grobmotorik; Altersgruppen zeigt sich eine verzö- werden erleichtert durch ADHD-spezi-
Sprachstörungen; keine beständigen gerte psycho-soziale und emotionale fische Fragebögen und werden ergänzt
Freundschaften; Kind und Eltern sind Entwicklung. durch Beurteilen der Schulmappe, der
isoliert wegen des auffallenden kindli- Hefte und der Zeugnisse.
chen Verhaltens. In allen Altersgruppen zeigt
Vorschulbereich (U9): Schwierig- sich eine verzögerte psycho-
Typischer Zeugnistext
keiten, verbale Aufforderungen in mo- soziale und emotionale Ent-
Der Schüler hat nach wie vor größ-
torische Handlungen umzusetzen; kei- wicklung.
te Probleme, sich auf das Wesent-
ne Ausdauer, kein Bemühen, Aufgaben
liche des Unterrichts zu konzen-
sorgfältig zu Ende zu bringen; Auffäl- Es ist wichtig, ausgeprägte komorbide
trieren. Er träumt und ist mit sei-
ligkeiten in Zeichen- und anderen ori- Störungen im individuellen Symptom-
nen Gedanken ständig abwesend.
entierenden Tests. spektrum zu erkennen, da sie sich un-
So ist er nicht fähig, sich auch nur
Grundschulalter: mangelnde Re- günstig auf die Prognose auswirken und
kurzzeitig zu konzentrieren. Er
gelakzeptanz in Familie, Spielgruppe spezielle therapeutische Maßnahmen
kann recht flott, jedoch mit Feh-
und Klassengemeinschaft, Stören im Un- erfordern: oppositionelle Störungen des
lern vorlesen. Seine Schrift ist zu
terricht, wenig Ausdauer, starke Ab- Sozialverhaltens, aggressive Verhal-
ungelenk, fahrig und eckig. Beim
lenkbarkeit, emotionale Instabilität, ge- tensstörungen, depressive Störungen,
Aufschreiben wie auch beim Ab-
ringe Frustrationstoleranz, aggressives Angst-, Zwangs- und Lernstörungen,
schreiben von Sätzen unterlau-
Verhalten, schlechte Schrift, chaotisches Teilleistungsschwächen, Sprachstörun-
fen ihm viele Fehler. Beim Schrei-
Ordnungsverhalten; andauerndes, oft gen, Tic-Störungen und das Tourette-
ben von Geschichten läßt er noch
überhastetes Reden; häufig Einnässen Syndrom.
die gedankliche Ordnung vermis-
oder Schmierspur in der Unterhose; Un-
sen. Mathematische Aufgaben
geschicklichkeit; Lern-Leistungsproble- Diagnostisches Vorgehen
bereiten ihm nach wie vor große
me mit Klassenwiederholungen trotz Das diagnostische Vorgehen zielt dar-
Probleme. Die gelernten Einmal-
guter Intelligenz; keine dauerhaften auf ab nachzuweisen, ob die Diagnose-
eins-Reihen beherrscht er über-
sozialen Bindungen, Außenseitertum; kriterien nach DSM IV zutreffen. Die
haupt nicht. Der Schüler muß sich
niedriges Selbstbewußtsein. Diagnose ergibt sich aus der Lebensge-
gewaltig steigern und viel besser
Adoleszenz (J1): Unaufmerksam- schichte. Daher ist die sorgfältige Ana-
aufmerken. Er muß auch verträg-
keit, Null-Bock-Mentalität, Leistungs- mnese die wichtigste diagnostische
licher werden, um von den Mit-
verweigerung, oppositionell-aggressi- Maßnahme. Die genaue Erforschung
schülern angenommen zu wer-
ves Verhalten, stark vermindertes Selbst- der Familiensituation, Erkrankungen in
den.
wertgefühl, Ängste, Depressionen; Kon- der Familie, Schwangerschaft, Geburt,
takte zu sozialen Randgruppen, Nei- Entwicklung des Kindes, Vorerkrankun-
gung zu Verkehrsunfällen, Delinquenz, gen und derzeitigen sonstigen Be- Wichtig ist eine neurologische, mo-
Alkohol, Drogen. schwerden ist unerläßlich. toskopische undGanzkörperuntersu-
Die hyperaktiv-impulsiven Verhal- chung und genaue Verhaltensbeob-
tensauffälligkeiten fallen schon früh Die Lebensgeschichte - nach achtung während der Untersuchun-
auf, die Aufmerksamkeitsstörung meist sorgfältiger Anamnese - führt gen und Exploration. Häufig zu finden
erst mit den Leistungsanforderungen zur Diagnose. sind Koordinationsstörungen, gestörte
der Schule. Sublime Ausdrucksformen Mimik, Gestik, Sprache, Kaspern und
Tab. 1: Psychostimulanzien
Zusammenfassung
ADHD ist eine häufige Erkrankung, die sich vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter erstreckt. Hinweisende Symptome
findet der Kinder- und Jugendarzt schon bei den Vorsorgeuntersuchungen. Da er die Kinder und Jugendliche bis ins
18. Lebensjahr begleitet, hat er eine zentrale Rolle im multimodalen Betreuungskonzept bei ADHD. Er ist verantwortlich
für Diagnosestellung und das Alltagsmanagement von Therapie und Kooperation von Eltern, Schule und Therapeuten
sowie für die Koordination aller Maßnahmen.
Schlüsselwörter:Symptome, Vorsorgeuntersuchungen, Therapiemanagement.
Zusammenfassung
Aktueller denn je - gerade bei der Diskussion um ADHD als „Modediagnose“ oder „erfundene Krankheit, um
Methylphenidat (Ritalin®) vermarkten zu können“ -, ist eine profunde Störungsbildkenntnis für Fachleute wichtig.
Eltern stolpern über die unzähligen Eigenheiten dieser Kinder. Alles muß immer anders sein oder anders gemacht
werden. Die typischen „harten Kriterien“ außerhalb der Kriterienkataloge ICD 10 und DSM IV unterscheiden Kinder/
Jugendliche mit ADHD eindeutig von reaktiv unruhigen Kindern.
Schlüsselwörter: Eltern, Angehörige, Beobachtungen, Probleme, Schuldgefühle.
Von zappelig bis total konzen- der Extreme ist ein solches Kind „total Wenn sich ein Kind mit ADHD auf-
triert begeistert, stinksauer, sturzbeleidigt“ - regt und man es mit Worten zu beruhi-
Weit verbreitetet ist die Annahme, daß nur alles dazwischen gibt es nicht. Bei gen versucht, erzielt man in aller Regel
Eltern von Kindern mit ADHD ein durch- plötzlichen Veränderungen oder fremd- das Gegenteil - das Kind wird immer
gehendes Muster von Zappeligkeit, stän- erzeugter Hektik erfolgt Bocken und erregter. Sätze, die mit „du mußt...“
diger Abgelenktheit und ständigem Blocken mit unerklärlich heftiger Ab- oder „du sollst...“ beginnen, führen nur
impulsivem Wechsel der Beschäftigung wehr und größten Schwierigkeiten im zur Opposition.
sehen. Im Gegensatz dazu kennen El- Umgang mit „Übergängen“, z. B. Pause Die Kinder sind entscheidungs-
tern durchaus Situationen, in denen - Unterricht, Spiel - Hausaufgaben. schwach, entscheiden sich entweder
ihre Kinder weitgehend bis völlig un- Eltern sind oft verzweifelt, weil sie nicht oder sehr spontan - das Einteilen
auffällig sind. Ist ein Kind oder ein Ju- das Gefühl haben, sie kommen irgend- von Geld gelingt nicht. Entweder es
gendlicher mit ADHD wirklich motiviert wie an das Kind nicht richtig heran, da „brennt“ in der Tasche, oder man sitzt
für eine Sache oder eine Person, weil es über sich und seine Gefühle meist drauf.
diese faszinierend neu oder spannend erst jenseits des 16. Lebensjahres wirk- Nicht nur das Trödeln bei stereoty-
ist, reduziert sich die motorische Unru- lich berichten kann. pen Umsetzungsverrichtungen ist ein
he oder verschwindet. Das Kind ist fo- Zur Verzweiflung treibt, daß die Kin- Problem, sondern daß es offensichtlich
kussiert und möglicherweise sogar so der und Jugendlichen sich und ihre Ei- sehr lange dauert, bis eine Regel
konzentriert, daß die Welt rundherum genleistung nicht realistisch einschät- überhaupt gelernt wird (nach Sam
zu versinken scheint. zen können, schlecht oder gar nicht aus Goldstein ’98 brauchen Kinder und Ju-
Ist jedoch etwas nicht so interessant Erfahrung lernen können. gendliche mit ADHD die 8- bis 18fache
oder wird subjektiv schwierig einge- Direkt nach einer Situation können Zeit zur Verautomatisierung einer Re-
schätzt, kann das gleiche Kind/der glei- sie in aller Regel nicht viel berichten, gel).
che Jugendliche schlagartig ermüden stundenversetzt danach hingegen oft Unerklärlich scheint, warum ein sol-
bis hin zum Augenreiben und Gähnen, flüssig und detailliert. ches Kind im Vergleich zu Gleichaltri-
sich räkeln oder stereotyp an sich her- Einsicht, Rücksicht, Übersicht und gen einfach irgendwie immer deutlich
ummanipulieren, was wie Selbststimu- Nachsicht scheinen noch lange im Le- jünger erscheint in seiner ganzen Art,
lation aussehen kann. ben eines solches Kindes/Jugendlichen trotz oft völlig unauffälligem sonsti-
Ein Hauptproblem sind die heftigen Fremdwort zu sein, genauso wie unbe- gem Heranreifen; wenngleich Jungen
Stimmungsschwankungen mit regel- kannt erscheint, daß man doch, um mit ADHD häufig erst spät in die Puber-
rechtem „Gefühlsabsturz“ aus gering- eine Fertigkeit zu erwerben, üben muß tät kommen und dann auch erst sehr
sten Anlässen heraus. Beim Syndrom und nicht schon alles „können“ kann. spät zu wachsen beginnen.
Das Selbstwertgefühl betroffener Erwachsener ist oft stark beeinträchtigt, daß neben Schlußfolgerung
der medikamentösen Therapie eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich Kinderärzte sind meist die erste An-
wird. laufstation für betroffene Familien.
Deshalb ist es sehr wichtig, darauf zu
desalter präsentiert und weil viele Er- ten Zeitpunkt nicht mehr steuerbar sind. achten, wer von den Eltern des Kindes
wachsene berichten, die Kindheit ver- Die Behandlung der Erwachsenen ist die Störung vererbt hat, um bei deutli-
gessen zu haben. Zur Diagnostik einer deutlich schwieriger als die der Kinder, cher Ausprägung der Symptome auch
ADHD im Erwachsenenalter ist aber weil die Wirkung bei einer medikamen- die Erwachsenen einer adäquaten me-
zwingend die retrospektive Klärung er- tösen Einstellung nicht prompt eintritt, dikamentösen und psychotherapeuti-
forderlich, ob die Störung bereits im wie das im Kindesalter der Fall ist. Der schen Behandlung zuführen zu kön-
Kindesalter vorgelegen hat; hierzu kön- Hirnstoffwechsel scheint durch mehr nen.
nen Fragebögen in Anlehnung an die Faktoren beeinflußt zu werden als bei
Conners-Skalen eingesetzt werden. Bei Kindern. Dies führt dazu, daß bei jedem
hypoaktiven Betroffenen ist jedoch häu- Patienten ein eigenes Therapieschema
fig erst in der Pubertät ein Auftreten entwickelt werden muß. Die notwendi-
von Symptomen typisch. Die psychia- ge Dosis an Stimulanzien ist oft gering,
trische Diagnose ist in erster Linie phä- eine Medikamentenüberempfindlich-
nomenologisch zu stellen; hilfreich kön- keit ist bei diesen Menschen oft ver-
nen auch Fragebögen wie die WURS mehrt, sehr häufig sind paradoxe Reak-
(Wender Utah Rating Scales), der tionen auf Medikamente. Die Selbst-
CAARS (Connors´ Adult ADHD Rating wertproblematik ist häufig sehr ausge-
Scales) und die Brown-ADD-Scales sein; prägt und hat die Handlungsfähigkeit
letztere differenzieren besonders die Betroffener schon lange stark beein-
Symptomatik der hypoaktiven, unauf- trächtigt, so daß meistens auch eine
merksamen Patienten. psychotherapeutische Behandlung not-
wendig ist. Eine Verhaltenstherapie im
Therapie und Selbstmedikation Sinne eines Coaching kann den Betrof-
Im Erwachsenenalter haben viele Be- fenen helfen, in der Realität besser zu-
troffene erkannt, daß ihnen Nikotin rechtzukommen; die Selbstwertproble-
und Koffein helfen. Sie rauchen des- matik kann jedoch im Rahmen einer
halb häufig sehr stark, trinken viel Kaf- tiefenpsychologischen Behandlung bes-
fee und versuchen, sich abends mit Al- ser bearbeitet werden. Bei erfolgreich
kohol zu entspannen. Aus diesen miß- behandelten Erwachsenen ist der Zu- Korrespondenzadresse
lungenen Selbsttherapien können sich wachs an Selbstvertrauen und die neu- Dr. Johanna Krause
Abhängigkeiten entwickeln, die dann gewonnene Fähigkeit, das Leben wie- Schillerstr.11a
für die Betroffenen ab einem bestimm- der nach eigenen Vorstellungen zu ord- 85521 Ottobrunn
der Lage, wenn sie von einem Thema ist schneller erschöpft, weil sie sich in- Bei vielen Betroffenen kann die Dia-
begeistert sind (Hyperfokussierung), sie tensiv von Störungen beeinflußt füh- gnose sehr schwierig sein, weil sie eher
fühlen sich anschließend aber wie aus- len. Antriebsstörungen hemmen Be- zu ruhig und verträumt sind, gleichzei-
gebrannt. Wegen des Wechsels in der troffene, wichtige Aufgaben auszu- tig aber über innere Unruhe und starke
Leistungsfähigkeit werden Jugendliche führen, sie haben nicht die Möglich- Konzentrationsschwäche klagen. Oft
jenseits der Pubertät als junge Erwach- keit, antizipatorisch eine Aufgabe gesellt sich bei Betroffenen noch eine
sene oft falsch eingeschätzt; sie wer- durchdenken zu können, sie in Teilauf- Neigung zu schnellen oft nicht situativ
den als faul und leistungsverweigernd gaben einzuteilen. Ein Probehandeln bedingten Stimmungswechseln hinzu.
abgeurteilt. ist ihnen in diesem Sinne nicht möglich, Diese Menschen verzweifeln daran, daß
sie fühlen sich deshalb von Aufgaben sie sich nicht für längere Zeit in einer
Fehldiagnose Depression überfordert, erleben jeden Anspruch gleichförmigen seelischen Verfassung
Bei Erwachsenen mit überwiegenden an sich als einen unüberwindlichen befinden, sondern daß sich innerhalb
Symptomen aus dem Bereich der Auf- Berg. weniger Minuten ihr Befinden von ei-
merksamkeitsstörung ist die schnelle nem Hoch in ein Tief verwandeln kann.
Ermüdbarkeit ab dem dritten Lebens- Hyperaktivität, Hypoaktivität Diese mangelnde Fähigkeit, eine kon-
jahrzehnt besonders ausgeprägt, sie und Stimmungsschwankungen stante Arbeitsfähigkeit, gleichbleiben-
führt oft zu der Diagnose Depression. Erwachsene mit einer ausgeprägten Hy- de Stimmung und Konzentration bei
Allerdings ist die Medikation dann an- peraktivität haben überwiegend kei- der Lösung einer Aufgabe aufrechtzu-
ders, als wenn die ADHD erkannt wäre nen ausgeprägten Leidensdruck, da sie erhalten, führt schon in der Schulzeit
und die Medikation auch in Stimulanzi- ihre Aktivität als positiven Charakter- häufig trotz guter Begabung zu Schul-
en bestünde. Einige Erwachsene haben zug ansehen und versuchen, mit ihrer versagen und im späteren Arbeitsleben
Taktiken entwickelt, mit ihren Schwie- eher manischen Gestimmtheit auch die zu schlechten Beurteilungen am Ar-
rigkeiten zurechtzukommen, so daß der Umgebung mitzureißen. Bei diesen Be- beitsplatz. Das beeinträchtigt das
Leidensdruck eher aus einer Erschöp- troffen klagen mehr die Familienange- Selbstbewußtsein der betroffenen Ju-
fung herrührt. Diese Gruppe, vor allem hörigen über die unerträgliche Unrast gendlichen und Erwachsenen nachhal-
Frauen, leidet gegen Ende des dritten im Zusammenleben mit diesen Men- tig.
Lebensjahrzehnts häufig unter einer schen.
depressiven Entwicklung, die dann als Zusätzliche Teilleistungs-
beginnendes Klimakterium mißgedeu- Bei den meisten Erwachsenen störungen
tet werden kann. steht jedoch die motorische Kommt dann noch eine Teilleistungs-
Unruhe (Hyperaktivität) nicht störung beispielsweise in Form einer
Störung der Reizkontrolle im Vordergrund. Es handelt Legasthenie oder Dyskalkulie dazu, sind
Die Reizoffenheit ist Folge einer man- sich eher um eine innere Un- die Chancen einer begabungsgemäßen
gelhaften Hemmung der Reizkontrol- ruhe, um die Unfähigkeit, an Ausbildung und späteren Berufstätig-
le, die normalerweise unbewußt Unter- einem Platz zu verweilen. Eine keit sehr gering.
drückung und Selektion störender Im- gleichförmige Tätigkeit ohne
pulse regelt. Deshalb fühlen sich diese den Reiz des Wechsels oder Impulsivität und mangelnde
Menschen schnell belästigt oder kön- des Neuen ist diesen Men- Frustrationstoleranz
nen nur nachts konzentriert arbeiten, schen ein Greuel. In der Übergangszeit von der Jugend-
wenn es ganz ruhig ist. Ihre „Geduld“ zeit zum Erwachsensein spielt die Im-
pulsivität eine wichtige Rolle: Überkom-
pensatorisch zum schlechten Selbst-
Das Wichtigste wertgefühl und zur Frustrationsintole-
für die Praxis . . . ranz verführt die mangelhafte Impuls-
● Die ADHD persistiert bei ein bis zwei Drittel der betroffenen Kinder im kontrolle zum Ausleben aller Gefühls-
Jugend- und Erwachsenenalter. ausbrüche, und die Notwendigkeit, an
● Die Symptome bei Erwachsenen bestehen hauptsächlich aus Aufmerk- sich zu arbeiten, Taktiken der Reizkon-
samkeits- und Konzentrationsstörung bei erhöhter Ablenkbarkeit sowie trolle zu erlernen, wird nicht als sinn-
verminderter Impulskontrolle bei erhöhter Frustrationsintoleranz. Er- voll erlebt. Viele Lehrherren beenden
wachsene zeigen weniger Symptome der Hyperaktivität. deshalb Ausbildungverträge, weil der
● Erwachsene profitieren ebenso wie Kinder von einer medikamentösen Umgangston der Betroffenen sehr zu
Behandlung mit Stimulanzien; wegen ausgeprägter Selbstwertproble- wünschen übrig läßt.
me benötigen sie meist eine zusätzliche Psychotherapie.
● Da es sich möglicherweise um eine genetische Störung handelt, sollte Diagnose oft schwierig
jeder Kinderarzt darauf achten, welcher Elternteil des Kindes betroffen Die Diagnose betroffener Jugendlicher
sein könnte, um ihn gegebenenfalls einer geeigneten Diagnostik und und Erwachsener ist deshalb oft so
Therapie zuführen zu können. schwierig, weil sich das Erscheinungs-
bild nicht mehr so deutlich wie im Kin-
Wenn ADHD-Kinder
erwachsen werden . . .
Johanna Krause
Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie, Ottobrunn
Zusammenfassung
Bei ein bis zwei Drittel der von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betroffenen Kinder persistiert
die Erkrankung im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Die Symptome der Hyperkinese treten dabei eher in den
Hintergrund, es dominieren innere Unruhe, vermehrte Ablenkbarkeit aufgrund der Störung der Reizkontrolle,
vermehrte Impulsivität mit mangelhafter Frustrationstoleranz, Konzentrationsschwäche mit der Folge einer vermin-
derten Belastbarkeit und Arbeitsfähigkeit sowie häufig einer depressiven Entwicklung. Das Selbstwertgefühl betrof-
fener Erwachsener ist oft so stark beeinträchtigt, daß neben der medikamentösen Therapie eine psychotherapeutische
Behandlung erforderlich wird.
Schlüsselwörter: ADHD, Jugendliche, Erwachsene, Wandel der Symptome, Auswirkungen, Diagnostik, Therapie.
Einleitung Hilfe erhalten, daß sie von einer für sie werden müssen. Adoptierte Kinder
Viele Kinderärzte werden sicher ver- wichtigen Therapie ausgeschlossen mit dieser Störung sind in ihrem Verhal-
wundert sein, daß in diesem Schwer- werden. In Studien konnte gezeigt wer- ten ihren biologischen (betroffenen)
punktheft zum Thema Aufmerksam- den, daß die Störung auf einer geneti- Eltern ähnlicher als den Adoptiveltern.
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung schen Veranlagung beruht, weil Kin-
(ADHD) ein Kapitel den betroffenen der, die eindeutig unter einer ADHD Pubertät: Weichen für die
Erwachsenen gewidmet ist. Lange Zeit leiden, häufiger auch Eltern haben, die Zukunft werden gestellt
wurde die Störung als reines Problem bei genauer Anamnese und aktueller Die oft recht spät einsetzende Pubertät
des Kindesalters verstanden, weil vor Diagnostik als betroffen angesehen läßt Jugendliche noch lange kindlicher
allem das Symptom Hyperaktivität, das
im deutschen Sprachraum die Diagno-
se hyperkinetisches Syndrom prägte,
als maßgeblich angesehen wurde. Heu-
te hat sich diese Ansicht gewandelt.
Vor allem in der amerikanischen Litera-
tur zur Störung ADHD (attention de-
ficit hyperactivity disorder) wurde ab
1995 von Wender, Nadeau und ande-
ren namhaften Wissenschaftlern die
Symptomatik der betroffenen Erwach-
senen beschrieben, die sich von der der
Kinder deutlich unterscheidet.
Um so verwunderlicher ist es, daß Menschen, die von dieser Störung betroffen sind, haben oft ein hohes kreatives
Erwachsene in Deutschland bisher kaum Potential: Einstein, Mozart u. a. zählen zu dieser Gruppe.
Hauptsymptome
Die hyperkinetische Verhaltensstörung äußert sich in einer Störung der Aktivität, die überschießend und unkontrol-
liert, aber auch deutlich reduziert erscheinen kann. Die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, ausdauernd und
konzentriert Beschäftigungen nachzugehen, ist deutlich reduziert. Hinzu kommen Störungen der sprachlichen und
motorischen Entwicklung sowie Störungen der Affektkontrolle, die sich häufig in unkontrollierter Impulsivität äußern
und zu schweren Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens führen können.
vor der Entwicklung einer Toleranz oder Wachstumsstörungen ausbilden, sowie war, kein erneutes Auftreten dieses Ver-
langfristiger Nebenwirkungen zur Befürchtungen, daß eine Toleranz bzw. haltens nach Zugabe von Stimulanzien
Durchführung von Therapiepausen an Abhängigkeit von verabreichten Sti- (hier erneut überwiegend Methylpheni-
den Wochenenden. Heute ist die wis- mulanzien bei langfristiger Einnahme dat).
senschaftliche Auffassung eher dahin- ausgelöst wird. Aktuelle Studien bele- Insgesamt ist unwahrscheinlich, daß
gehend ausgerichtet, daß Therapiepau- gen, daß ein Unterschied in der Körper- Stimulanzien eine Störung der sexuel-
sen an Wochenenden nur bei den Pati- größe zwar zwischen Patienten mit hy- len Entwicklung des Heranwachsenden
enten sinnvoll erscheinen, deren Sym- perkinetischer Verhaltensstörung und verursachen könnten.
ptomatik sich ausschließlich im außer- einem Normalkollektiv besteht, nicht
häuslichen, d. h. zumeist schulischen aber in der Differenzierung zwischen
Bereich zeigt. Die meisten Patienten behandelten und unbehandelten Pati-
zeigen jedoch auch in heimischer Um- enten. Die Entwicklung einer Toleranz
gebung Auffälligkeiten, die bei einer oder Abhängigkeit ist ebenfalls in gro-
Medikationspause ein Hindernis für die ßen Studien widerlegt worden, insge-
notwendige Erholung am Wochenen- samt scheinen Stimulanzien die krank-
de mit entsprechenden Sozialkontak- heitsbedingte Tendenz hyperkineti-
ten darstellen könnten. scher Patienten zu Drogenmißbrauch
Die Ausbildung einer Toleranz sogar zu reduzieren.
braucht aufgrund gut basierter wissen- Das Krankheitsbild der hyperkineti-
schaftlicher Studien zumindest für schen Störung bedingt unbehandelt er-
Methylphenidat nicht befürchtet zu hebliche emotionale Konflikte, die z. B.
werden, so daß therapeutische Pausen auf einer Störung des Selbstbewußt-
am Wochenende nicht notwendig er- seins durch ständige negative Rückmel- Korrespondenzadresse
scheinen. dungen beruhen sowie auf fortgesetz- Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hubertus von
Zur Beurteilung der weiteren Medi- ten Störungen im Kontakt mit Eltern Voss
kationsbedürftigkeit der Patienten ist und Gleichaltrigen. Die Therapie mit Institut für Soziale Pädiatrie und
es jedoch sinnvoll, etwa alle 6 bis 12 Stimulanzien zeigt hier deutlich positi- Jugendmedizin
Monate einen Auslaßversuch des Prä- ve Effekte. Zu betonen ist hier die Not- der Universität München
parates durchzuführen, ggf. auch pla- wendigkeit, die medikamentöse Thera- Kinderzentrum München, Heiglhof-
cebounterstützt. Hierfür bieten sich am pie in ein Gesamtkonzept einzubetten, straße 63
ehesten die Schulferien an. Wie bei Be- das psychoedukative Maßnahmen ent- 81377 München
ginn der Therapie sollte auch hier kein halten sollte. Die Kombination beider Tel.: (089) 71009-232
plötzliches Absetzen, sondern ein all- therapeutischer Verfahren ist Grundla- Fax: (089) 71009-248
mähliches „Ausschleichen“ gewählt ge für die nachgewiesen bessere sozia- E-Mail: h.v.voss@gmx.de
werden. Wissenschaftlich nicht eindeu- le Prognose der Patienten, für die eine
tig geklärt ist bisher, warum ein Teil der emotionale Stabilität eine der Grundla-
Patienten nach Absetzen der Therapie gen darstellt.
kein erneutes Auftreten der Sympto- Die Frage, inwieweit Psychostimu- Service:
matik zeigt, ein anderer Teil hingegen lanzien auf die sexuelle Entwicklung
über Jahre therapiebedürftig bleibt. des Heranwachsenden einwirken, ist wis- kostenloses
Vermutlich spielen hier Reifungspro- senschaftlich bislang nur unzureichend
zesse des Gehirns zumindest eine Teil- untersucht worden. Einzelfallbeschrei- Infomaterial
rolle. bungen zeigen durchaus die Möglich-
Alle Therapieänderungen etc. müs- keit der Beeinflussung des Sexualver- Informationshefte zum hyperkine-
sen mit dem behandelnden Arzt abge- haltens durch Psychostimulanzien. Im tischen Syndrom für Eltern, Lehrer
stimmt werden. Rahmen von Untersuchungen wurde und Kinder, Literatur zur hyperki-
geprüft, inwieweit ein durch die Ein- netischen Verhaltensstörung und
Frage: Früher wurde empfoh- nahme von modernen Antidepressiva Ritalin®-Placebos zur Durchführung
len, eine Stimulanzientherapie wie SSRI gestörtes Sexualerleben be- von Auslaßversuchen erhalten Sie
mit Beginn der Pubertät zu einflußt werden kann (SSRI: selektiver kostenfrei bei der:
beenden. Was ist der Hinter- Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer).
grund, und wie wirken Stimu- Methylphenidat zeigte dabei in einer NOVARTIS Pharma GmbH
lanzien auf die emotionale und Studie von Roeloffs et al. eine Verbes- Geschäftseinheit Neurologie/
sexuelle Entwicklung? serung der Beschwerdesymptomatik Psychiatrie
Empfehlungen, eine Therapie mit Sti- der Patienten. Kafka et al. sahen bei Postfach
mulanzien nicht über die Pubertät hin- Patienten, die mit SSRI therapiert wur- 90327 Nürnberg
aus fortzusetzen, entstammen insbe- den und bei denen sexuell abweichen- Fax: (0911) 273 12723
sondere Befürchtungen, daß sich des Verhalten (Paraphilien) bekannt
?
Die häufigsten Fragen aus
der Praxis . . .
. . . zur Ritalin-Therapie*
Hubertus von Voss
Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München, Kinderzentrum München
Frage: Welche zusätzlichen auftretende Sinustachycardie ist zu- störung eingesetzt werden - mit Aus-
Untersuchungen sind vor der meist klinisch bedeutungslos. nahme von Pemolin - unterliegen dem
Einleitung einer Stimulanzien- Stimulanzien können grundsätzlich Betäubungsmittelgesetz und können
therapie bzw. während der eine Veränderung der Krampfschwelle daher nur auf dem hierfür vorgesehe-
Therapie erforderlich? verursachen. Die Frage, ob bei Patien- nen Vordruck verordnet werden. Pe-
Neben der psychopathologischen Dia- ten mit epileptischer Voranamnese eine molin (Tradon®) darf zudem bislang nur
gnostik empfiehlt sich vor Einleitung Behandlung mit Stimulanzien möglich nach Versagen von Methylphenidat und
einer Medikation mit Stimulanzien, Puls ist, wurde in aktuellen Studien dahin- Amphetamin nach Diagnosesicherung
und Blutdruck zu kontrollieren, um gehend beantwortet, daß bei anfalls- durch einen Kinder- und Jugendpsych-
eine bestehende Hypertonie auszu- freien bzw. anfallsfrei antikonvulsiv ein- iater sowie besonderer Aufklärung der
schließen. Diese Parameter sollten auch gestellten Patienten eine Therapie mit Eltern verordnet werden. Zudem ist hier
im Verlauf der Behandlung aufgrund Stimulanzien durchaus indiziert sein zunächst nur ein Therapieversuch zu-
der sympathomimetischen Effekte der kann. Zur Klärung der Situation sollte lässig, im Rahmen dessen drei Wochen
Substanzen regelmäßig kontrolliert hier die Kontrolle des EEG bei entspre- nach erfolgter Aufdosierung eine Ef-
werden. chend disponierten Patienten vor und fektivitätsbeurteilung durchgeführt
Auch wenn aktuelle Studienergeb- während der Therapie unbedingt zum werden muß.
nisse im Gegensatz zur wissenschaftli- diagnostischen Vorgehen gehören.
chen Meinung der Vorjahre keine Ein- Bei der Behandlung mit Pemolin (Tra-
wirkung von Stimulanzien (Methyl- don®) sind aufgrund möglicher hepato- Die zur Verordnung notwen-
phenidat) auf das Größenwachstum toxischer Wirkungen der Substanz re- digen Vordrucke können Sie
zeigen, wird dennoch weiterhin emp- gelmäßige Kontrolluntersuchungen der bei der Bundesopiumstelle
fohlen, Körpergröße und Körperge- Leberparameter GOT, GPT und GT vor- anfordern:
wicht regelmäßig zu kontrollieren. geschrieben. Diese sind vor Beginn der Bundesinstitut für Arzneimittel
Vor Beginn der Therapie und wäh- Therapie und in zweiwöchigen Abstän- und Medizinprodukte
rend der Behandlung sollte in regelmä- den während der Therapie zu kontrol- - Bundesopiumstelle -
ßigen Abständen (3- bis 6monatlich) lieren. Ein Anstieg um mehr als das Friedrich-Ebert-Allee 38
eine Kontrolle des Differentialblutbil- zweifache der Norm muß zum Abset- 53113 Bonn
des erfolgen, da Stimulanzien in selte- zen der Therapie führen. Zudem sollten Weitere Auskünfte gibt es telefo-
nen Fällen einen negativen Einfluß auf die Eltern und weitere Bezugspersonen nisch montags bis freitags in der
das weiße Blutbild ausüben können. über die Symptomatik von Leberstö- Zeit von 9.00 bis 11.00 Uhr unter
Bei Patienten mit kardialer Vorana- rungen aufgeklärt werden. den Tel.Nr. (0228) 207-5119 und
mnese (z. B. frühkindliche Herzfehler, (0228) 207-5150.
wie VSD, ASD etc.) sollte eine Aufzeich- Frage: Wie genau funktioniert
nung des EKG erfolgen, um relevante die Verordnung zentralwirksa-
Herzrhythmusstörungen auszuschlie- mer Stimulanzien zur Therapie
ßen. Aufgrund der bereits oben ge- der hyperkinetischen Verhal-
nannten sympathomimetischen Wir- tensstörung? Was muß man
*
kung könnte es hier zu einer Beeinflus- beachten? Herrn Dr. med. Sven Schellberg, Medical Advisor
Psychiatry der Novartis Pharma GmbH (Nürn-
sung der kardialen Situation kommen. Sämtliche Stimulanzien, die zur Thera- berg), danke ich für die hervorragende Zusam-
Eine passager zu Behandlungsbeginn pie der hyperkinetischen Verhaltens- menarbeit bei der wissenschaftlichen Recherche.
Therapeutisch richtig
vorgehen
Grundzüge der multimodalen Behandlung
bei HKS/ADHD in der Praxis
Hans-Christoph Steinhausen
Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden die Grundzüge der multimodalen Therapie bei HKS/ADHD in der Praxis dargestellt. Die
einzelnen Komponenten der Medikation, Verhaltenstherapie, Psychoedukation, Diätbehandlung, ihre Integration
sowie die Berücksichtigung komorbider Störungen müssen individuell an das betroffene Kind angepaßt werden.
Schlüsselwörter: ADHD, multimodale Therapie, Medikation, Verhaltenstherapie, Psychoedukation, Diät.
Einleitung eine zentrale Rolle einnimmt. In dieser überlegen war. Die MTA-Studie muß
Trotz klar ausgewiesener Leitlinien für kollaborativen Studie an 579 Kindern wegen ihres Umfangs und Aufwandes
hyperkinetische Störungen (HKS) in der mit ADHD in den USA wurde die Wirk- als ein Meilenstein der Kinder- und Ju-
ICD-10 bzw. für ADHD im DSM-IV ist die samkeit von individuell titrierter gendpsychiatrischen Forschung be-
Gruppe der betroffenen Kinder hete- Medikation mit Verhaltenstherapie, trachtet werden.
rogen: Sie variiert hinsichtlich der Aus- kombiniertem Vorgehen - jeweils unter
prägung der Kernmerkmale Unauf- hochstrukturierten Bedingungen - und Medikation
merksamkeit, Hyperaktivität und Im- einer Routinebehandlung in der Praxis Die Grundzüge der medikamentösen
pulsivität, der verschiedenen begleiten- einschließlich Medikation verglichen. Behandlung bei HKS/ADHD sind in Ta-
den Störungen (Komorbiditäten), des Wenngleich unter allen vier Bedingun- belle 2 dargestellt.
Ausmaßes der situativen gegenüber si- gen eine Symptomreduktion zu beob- Grundsätzlich werden Stimulanzien
tuationsübergreifenden Manifestation, achten war, erwiesen sich die Medika- als Mittel der ersten Wahl eingesetzt,
des Zeitpunktes bei Beginn der Störung tion und die kombinierte Behand- wobei Methylphenidat (z. B. Ritalin® )
und der Geschlechtsverteilung. Diese lung als der ausschließlichen Verhal- als Fertigpräparat, Dextroamphetamin
Heterogenität macht nicht nur eine tenstherapie und der Routinebehand- nur als Rezeptur (mit halb so hoher
sorgfältige kinder- und jugendpsychia- lung überlegen; die Kombinationsbe- Dosierung wie Methylphenidat) und
trische Diagnostik und differentialdia- handlung erzielte keine der Medikati- Pemolin (Tradon® ) zur Verfügung ste-
gnostische Abklärung erforderlich, son- on überlegenen Ergebnisse, während hen. Pemolin braucht im Gegensatz zu
dern führt auch zu der Konsequenz, die sie hinsichtlich einiger erfaßter Merk- Methylphenidat etwa drei bis vier Wo-
Behandlung individuell und zusätzlich male der reinen Verhaltenstherapie chen, bis der therapeutische Spiegel
multimodal anpassen zu müssen.
Tab. 1: Bausteine der multimodalen Therapie bei HKS/ADHD
Multimodale Therapie
Die Bausteine der multimodalen Be- ● Medikation, speziell Stimulanzien
handlung sind in Tabelle 1 zusammen-
● Verhaltensmodifikation in sozialen Kontexten (Familie, Kindergarten, Schule)
gestellt. Eine der größten kontrollier-
ten Studien der Kinder- und Jugend- ● Selbstinstruktionstraining
psychiatrie, die sogenannte MTA-Stu- ● Psychoedukation: Aufklärung/Beratung/Pädagogik
die (Multimodal Treatment of ADHD), ● Oligoantigene Diät
hat noch einmal die seit Jahrzehnten ● Integration der verschiedenen Ansätze
gut etablierte Erkenntnis bekräftigt, ● Behandlung komorbider Störungen
daß die Medikation mit Stimulanzien
Literatur-Tips
E. Aust- T. Hartmann: C. Neuhaus:
Claus, P.-M. Eine andere Das hyperak-
Hammer: Art, die Welt tive Kind und
Das ADS- zu sehen. Das seine Proble-
Buch. Aufmerksam- me. Ravensbur-
Aufmerk- keits-Defizit- ger Buchverlag,
samkeits- Syndrom ISBN 3-332-
Defizit- (ADD). Eine 00872-2, DM
Syndrom. praktische 19,90.
Neue Lebenshilfe für
Konzentra- aufmerksam-
tions-Hilfen keitsgestörte
für Zappelphilippe und Träumer. Kinder und Jugendliche. Schmidt-
Oberstebrink Verlag GmbH, ISBN Römhild, ISBN 3-7950-0735-6, DM
3-9804493-6-X, DM 38,00. 24,90. R. Spallek: Große Hilfe für kleine
Chaoten.
Ein Ratgeber
M. Döpfner, J. Krause:Leben bei kindli-
J. Frölich, G. mit hyperakti- chen
Lehmkuhl: ven Kindern. Aufmerk-
Hyperkine- Informationen samkeitsstö-
tische Stö- und Ratschläge. rungen.
rungen. Bundesverband Patmos
Leitfaden der Elterninitia- Verlag
Kinder- und tiven zur GmbH & Co.
Jugendpsy- Förderung KG, ISBN 3-
chotherapie. hyperaktiver 530-30056-X,
Hogrefe Ver- Kinder, ISBN 3- DM 38,00.
lag, ISBN 3-8017-1354-7, DM 44,80. 933067-01-4.
Abb. 1A-C: Selektive Darstellung der striatären Dopamintransporter im [Tc-99m]TRODAT-1-SPECT bei einer 30 jährigen Patientin
mit ADhd vor (A) und 4 Wochen nach Therapie mit 3 x 5 mg Ritalin®/d (B) im Vergleich zu einer gesunden gleichaltrigen weiblichen
Kontrollperson (C); semiquantitative Dichtemessung im Striatum (STR) mittels ROI(regions of interest)-Technik mit dem Kleinhirn
als Background (BKG).
bei gleichbleibender Dosierung nach hochinteressante Befunde, die mittels einer placebokontrollierten Doppel-
ca. 4 Wochen wieder verschwanden. funktioneller Kernspintomographie er- blindstudie bei Kindern mit ADHD, die
Das Auftreten von Anfällen unter hoben wurden, mitgeteilt. Bei 10 Jun- positiv auf Methylphenidat reagierten,
Methylphenidat ist bei gut eingestell- gen mit ADHD im Vergleich zu 6 nicht eine frontale Reduktion der Alpha- und
ten Epileptikern mit komorbider ADHD betroffenen, die zwei Aufmerksam- Theta-Tätigkeit bei Anstieg der Beta-
nicht zu befürchten. Nach Resultaten keitstests (go-/no-go-Aufgaben) durch- Aktivität gefunden werden, während
neuerer Studien mindert eine rechtzei- führten, zeigten die Kinder mit ADHD die Nonresponder gegensätzliche Re-
tige Behandlung mit Methylphenidat vor Methylphenidateinnahme vermehr- sultate zeigten. Mit Hilfe neu entwik-
das Risiko bei betroffenen Kindern und te frontale und verminderte striatale kelter Liganden ist es inzwischen mög-
Jugendlichen, später Medikamenten-, Aktivierung. Unter Methylphenidat lich, im SPECT ganz selektiv die Dopa-
Drogen- oder Alkoholabusus zu betrei- stieg die striatale Aktivierung bei 8 der mintransporter im Striatum darzustel-
ben. 10 Kinder mit ADHD an, während sie len. Da wir es hier mit dem vermuteten
bei 5 von 6 der gesunden Kontrollen Hauptwirkungsort von Methylphenidat
Neurobiologische Objektivie- absank; frontal aktivierte Methylpheni- zu tun haben, erschienen entsprechen-
rung der Wirkung von Methyl- dat bei beiden Gruppen. Diese Resulta- de Untersuchungen bei Patienten mit
phenidat te legen den Verdacht nahe, daß Me- ADHD vielversprechend. Es fanden sich
Nachdem in vielen placebokontrollier- thylphenidat die striatalen Funktionen dann tatsächlich in zwei unabhängig
ten Doppelblindstudien bei Kindern, Ju- bei Gesunden möglicherweise anders voneinander mit verschiedenen
gendlichen und Erwachsenen der ein- beeinflußt als bei Patienten mit ADHD. Markern (einmal an radioaktives Jod
deutig positive Effekt von Methylphe- Elektroencephalographisch konnte in gekoppeltes Altropan, zum anderen an
nidat auf die klinischen Symptome der
ADHD gesichert werden konnte, wur- Das Wichtigste für die Praxis . . .
de in den letzten Jahren versucht, diese ● Bei Patienten, die unter einer deutlichen ADHD leiden, ist die Gabe von
klinisch beobachtete Besserung mittels Stimulanzien Basis der Behandlung.
bildgebender Verfahren zu objektivie- ● Mittel der ersten Wahl ist Methylphenidat (Ritalin® ), das sich durch ein
ren und bestimmten Hirnarealen zuzu- sehr günstiges Nebenwirkungsspektrum auszeichnet.
ordnen. Bereits vor über 10 Jahren wur- ● Eine Normalisierung initial erhöhter striatärer Dopamintransporter bei
de bei Durchblutungsstudien mit Xe- Patienten mit ADHD durch Methylphenidat konnte nachgewiesen wer-
non-133-Inhalations-SPECT eine Ten- den.
denz zur Normalisierung einer primär ● Die Wirkung von Methylphenidat dürfte somit in erster Linie auf einer
verminderten Durchblutung im Fron- Erhöhung der Dopamin-Konzentration am synaptischen Spalt im primär
tallappen und Striatum durch Methyl- gestörten frontostriatalen System beruhen.
phenidat beschrieben. Kürzlich wurden
le Anwendung beliebt, die 1988 des- amin, das sich auch in den Neurotrans-
halb weltweit vom Markt genommen mittern Dopamin und Noradrenalin fin-
wurden. Aufgrund der negativen Pres- det. Speziell das Dopamin-System dürf-
se wagte die Herstellerfirma in den zu- te nach den bisher bekannten Fakten
rückliegenden Jahren kaum noch, ihr für die Kontrolle der Aktivität und für
Präparat adäquat zu bewerben. Daß Aufmerksamkeitsleistungen eine ent-
trotzdem Jahr für Jahr mehr Kinder - scheidende Rolle spielen: Lokalisiert ist
und inzwischen auch Erwachsene - er- Dopamin vor allem im präfrontalen
folgreich mit dieser Substanz behan- Kortex, im Striatum und in den Assozia-
delt werden, spricht für die Güte des tionsbahnen zu den temporalen und
Pharmakons hinsichtlich Wirkungswei- parietalen Lappen. Es wird produziert
se und Verträglichkeit. Daß bereits 1996 im ventralen Tegmentum und der Pars
die Zahl der mit Stimulanzien behan- compacta der Substantia nigra, Kern-
delten Kinder und Jugendlichen in den gebieten des Mittelhirns. Vom Produk-
USA auf 1,5 Millionen (2,8 %) geschätzt tionsort im ventralen Tegmentum lau-
wurde, überrascht bei der hohen Inzi- fen Projektionsbahnen zum Nucleus
denz der Erkrankung (zwischen 3 und 9 accumbens, der ein eng mit dem limbi-
%) nicht. In Deutschland besteht hier schen System verknüpfter Teil des Stria-
sicherlich ein massiver Nachholbedarf. tums und wesentlich für das Motivati-
ons- und Belohnungssystem ist. Gene-
„Overdiagnosis“ und „Misdia- rell scheint dieses mesokortikolimbische
gnosis“ als Ursachen der The- System entscheidend für die Steuerung
rapie mit Methylphenidat? Bei Patienten, die unter einer deutlichen der motorischen Aktivität, für Neugier-
Immer noch und immer wieder werden ADHD leiden, sind Stimulanzien Basis der verhalten und für die Entwicklung von
von Kritikern „overdiagnosis and mis- Behandlung. Handlungsstrategien. Die anderen do-
diagnosis“ bei der ADHD reklamiert. Es paminabhängigen Bahnen ziehen von
erscheint aber kaum nachvollziehbar, der Substantia nigra zum Körper des
daß Eltern ihrem Kind eine durchaus ja von Bachblüten, Edukinesiologie und Striatums und zum Frontallappen; die-
auch stigmatisierende psychiatrische ähnlichen für die Behandlung einer ses mesostriatale System wird als we-
Diagnose aufdrücken und anschließend ADHD nutzlosen esoterischen pseudo- sentlich für stereotype Verhaltenswei-
eine medikamentöse Langzeittherapie wissenschaftlich verbrämten Ansätzen sen und für die Aufrechterhaltung der
durchführen lassen sollten, wenn nicht beherrscht wird, geradezu ein rotes Aufmerksamkeit angesehen. Es über-
ganz gravierende psychische Probleme Tuch. rascht somit nicht, daß Patienten mit
vorlägen, die sich durch die Behand- ADHD bei Untersuchungen mit EEG,
lung eindeutig bessern ließen. Ande- Es überrascht immer wieder, Kernspintomographie, Positronen-
rerseits ist weitgehend auszuschließen, wie oft Lehrer, die nie wagen Emissions-Tomographie und Single-Pho-
daß Ärzte aus Gewinnstreben die ADHD würden, sich in die ärztliche ton-Emission-Computer-Tomographie
überdiagnostizieren. Verlangt doch Behandlung von Kindern mit (SPECT) Auffälligkeiten speziell in den
gerade die Behandlung Betroffener eine Anfallsleiden oder Diabetes dopaminabhängigen Hirnbereichen des
besondere Investition an Zeit und Zu- mellitus einzumischen, sich Striatums und des Frontallappens bo-
wendung, die bei der heutigen appara- bei der medikamentösen Be- ten.
tegläubigen Mentalität von Gesund- handlung der ADHD mit Sti-
heitspolitikern und KV-Funktionären mulanzien zu Kritik berufen Nach den bisher vorliegenden, im
nicht einmal ansatzweise adäquat ab- fühlen - verbunden mit ein- wesentlichen tierexperimentellen
gegolten wird. Das Argument, daß eine deutigen Ratschlägen für die Befunden greift Methylpheni-
Überverordnung von Ritalin® erfolgt, Eltern. dat in das Dopamin-System ein,
weil Lehrer eine Domestizierung unru- in dem es die Wiederaufnahme
higer Schüler durch Medikamente wie Wie wirken nun aber die Substanzen, des Transmitters am synaptischen
Ritalin ® fordern, ist unsinnig: Ganz im die gemäß vielen kontrollierten Thera- Spalt durch eine Blockade der Do-
Gegenteil erfordert es doch in den mei- piestudien die ADHD so positiv beein- pamintransporter verhindert.
sten Fällen eine hohe Überzeugungs- flussen? Man nimmt an, daß Pemolin ei-
kraft seitens der Eltern und der behan- nen ähnlichen Wirkmechanismus
delnden Ärzte, Lehrern den Nutzen und Chemische Struktur und Wir- aufweist; dieses Psychostimulanz
die Notwendigkeit einer regelmäßigen kungsweise von Methylpheni- ist aber inzwischen wegen seiner
Einnahme von Stimulanzien klarzuma- dat im Vergleich mit anderen potentiellen Lebertoxizität nicht
chen. Denn diese sind für viele Lehrer, Stimulanzien mehr Mittel der ersten Wahl bei
deren medizinischer Horizont ganz ent- Methylphenidat enthält wie die ande- der ADHD.
sprechend dem herrschenden Zeitgeist ren Stimulanzien als Kern Phenyläthyl-
Zusammenfassung
Nach den bisher vorliegenden Daten beeinflußt Methylphenidat (Ritalin® ) in erster Linie das Dopamin-System, das für
die Kontrolle von Aktivität und Aufmerksamkeitsleistungen eine entscheidende Rolle spielt. In SPECT-Untersuchungen
wurde eine Erhöhung der Dopamintransporter bei von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD)
betroffenen Erwachsenen im Vergleich zu Normalpersonen gefunden. Es wurde nachgewiesen, daß Methylphenidat
die Dichte der Dopamintransporter im Striatum reduziert und somit das am synaptischen Spalt vorhandene Dopamin
erhöht. Es ergibt sich somit eine rationale Basis für die ADHD-Therapie mit Ritalin®. Hinsichtlich Nebenwirkungen ist
Ritalin ®als ausgezeichnet verträglich anzusehen, ernsthafte Komplikationen wie beim Pemolin sind nicht bekannt. Im
Hinblick auf die Gefahr, daß unter ADHD leidende Kinder im späteren Leben ein Suchtproblem entwickeln, ist eine
rechtzeitige Behandlung mit Ritalin® als prophylaktisch günstig und nicht als bahnend anzusehen.
Schlüsselwörter: Methylphenidat, Ritalin, chemische Struktur, Wirkmechanismus, Pharmakokinetik, Nebenwirkungen.
Psychologische Aspekte
bei ADHD
Welche Testverfahren gibt es?
Gisela Fröhlich
Kinderzentrum München, Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München
Zusammenfassung
Aufmerksamkeits-und Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern haben viele Aspekte. Sie sollten daher von ärztlicher
und psychologischer Seite sorgfältig untersucht und gegen andere Störungen abgegrenzt werden, bevor einschnei-
dende Therapiemaßnahmen getroffen werden. Genetische Faktoren ebenso wie das familiäre Umfeld und soziale
Bedingungsgefüge sind in die Diagnostik und Therapie mit einzubeziehen. Dabei helfen psychometrische Verfahren,
Fragebögen für Eltern und Erzieher bzw. Lehrer und Verhaltensbeobachtungen in verschiedenen „settings“ durch
speziell ausgebildete Psychologen und Ärzte, die Probleme und ihr Bedingungsgefüge zu identifizieren, um ein
individuell abgestimmtes Therapiekonzept einzuleiten.
Schlüsselwörter: Diagnostik, ADHD, Testverfahren, psychometrische Verfahren, Fragebögen.
Einleitung oder Depressionsfragebögen für die bar sind, kommen Eltern oft bereits mit
Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrati- Kinder/Jugendlichen selbst geben zu- dem Wunsch, das Kind „auf ADHD“
onsstörungen, motorische Unruhe, Im- sätzlich einen Einblick in die emotiona- untersuchen zu lassen. Sie erkennen in
pulsivität, oppositionelles Verhalten, le Entwicklung. Probleme in diesen Be- den verfügbaren Informationen - z. B.
mangelnde Ausdauer bei Spielen und reichen können ebenfalls zu erhebli- „Eltern-Ratgeber“ im Buchhandel - ihr
Schularbeiten oder Probleme mit Gleich- chen Störungen der Kommunikation Kind wieder und haben den Eindruck,
altrigen können bei Kindern Sympto- und Interaktion mit der Umwelt füh- daß „dort mein Kind beschrieben“ wur-
me vielfältiger Entwicklungsstörungen ren, die mit Anzeichen einer ADHD de. Wenn sie auch erfahren haben, daß
sein. Aber auch Kinder, die in ihrer Ent- verknüpft sein können. die ADHD eine hirnorganische Störung
wicklung ihrem Alter weit voraus sind Auch bei verschiedenen Syndromen, ist - also nichts mit „falscher Erziehung“
(z. B. Hochbegabte), zeigen häufig sol- z. B. fragiles X-Syndrom, ist mangelnde zu tun hat - und einer Medikamenten-
che Verhaltensweisen. Standardisierte Aufmerksamkeit und Unruhe ein typi- einnahme positiv gegenüberstehen,
Entwicklungs- und Intelligenztests sind sches Merkmal. Tabelle 1 zeigt, wie warten sie dann u. U. nur noch auf die
diagnostisch der Einstieg zur Einschät- ADHD von anderen Störungen abge- Ausstellung eines Rezepts. Sie hoffen,
zung einer möglichen kognitiven Un- grenzt werden kann. daß mit Hilfe von Medikamenten die
ter- oder Überforderung, die zu oben Probleme beseitigt sein werden.
beschriebenen Störungen führen kann. Patienten-Karrieren
Sie geben außerdem Hinweise auf mög- Mangelnde Aufmerksamkeit, motori- Viele Eltern hoffen, daß mit
liche Teilleistungs-Störungen. Fragebö- sche Unruhe, Verweigerung bei Anfor- Hilfe von Medikamenten die
gen für Eltern, Erzieherinnen im Kin- derungen oder übermäßige Ablenkbar- Probleme beseitigt werden
dergarten oder Lehrer zur Einschätzung keit: Diese Verhaltensweisen geben El- können.
des Spiel-, Leistungs- und Sozialverhal- tern immer häufiger in der kinderärzt-
tens enthalten wichtige Informationen lichen und psychologischen Praxis oder Andere Eltern haben bereits einen „Rita-
über Situationen, die der Untersucher im Sozialpädiatrischen Zentrum als Ur- lin-Versuch“ hinter sich und haben ei-
nicht selbst beobachten kann. Werden sache für unangemessenes Verhalten genmächtig das Medikament abgesetzt,
spezifische Leistungs- und Konzentra- im Kindergarten oder schlechte Schul- da es „sowieso nichts gebracht“ hat.
tionstests durchgeführt, können unmit- leistungen an. Auch das Zusammenle- Nun suchen sie an einer anderen Stelle
telbar Aufmerksamkeitsdefizite beob- ben in der Familie wird durch solche Beratung, in der Hoffnung, daß sich
achtet werden. Tiefenpsychologische Verhaltensweisen erschwert. Da durch „endlich etwas tut“. Mittlerweile ist
Verfahren, Persönlichkeitstests, Angst- die Medien Informationen gut verfüg- das Kind u. U. bereits in der 4. Klasse
Tab. 1: Synopsis der Symptomkriterien nach ICD-10 und DSM-IV (nach Döpfner, 2000)
Unaufmerksamkeit
1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, der Arbeit oder anderen
Tätigkeiten.
2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrecht zu erhalten.
3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen.
4. Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am
Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht auf Grund von oppositionellem Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten).
5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren.
6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger
andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben).
7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte,
Stifte, Bücher oder Werkzeug).
8. Läßt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.
9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergeßlich.
Hyperaktivität
1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.
2. Steht (häufig) in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.
3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen und Erwachsenen
kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt werden).
4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.
5. Ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er „getrieben“.
Impulsivität
1. Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
2. Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen oder in Gruppensituationen).
3. Unterbricht oder stört andere häufig (z. B. platzt in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).
4. Redet häufig übermäßig viel, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.
neben einem ausgeprägten Aufmerk- Exploration der Eltern und des Kindes hilfreich können zusätzliche Informa-
samkeitsdefizit auch motorische Hyper- zur Anamnese einschließlich einer Ver- tionen aus Kindergarten und Schule
aktivität und Impulsivität vorhanden haltensbeobachtung. Hierbei müssen sein. Dadurch lassen sich auch subjektiv
sein; von dieser wird die prognostisch jedoch nicht immer hyperkinetische gefärbte Elternangaben zu ihrem Er-
ungünstigere hyperkinetische Störung Symptome in Erscheinung treten. Sehr ziehungsverhalten und zu innerfami-
des Sozialverhaltens (F90.1) abgegrenzt.
Dagegen unterscheidet DSM-IV drei
Unterformen: 1. Mischtyp einer Auf- Das Wichtigste
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- für die Praxis . . .
störung; 2. Vorherrschend unaufmerk- ● Eine gewisse diagnostische Unschärfe führte in den vergangenen Jahren
samer Subtyp; 3. Überwiegend hyper- bei den hyperkinetischen Störungen dazu, daß dieser psychiatrische
aktiv-impulsiver Subtyp. Demnach de- Störungsbegriff gelegentlich zu breit ausgelegt wurde.
finiert die ICD-10 lediglich eine Kern- ● Zum anderen wird eine nicht zu geringe Anzahl von betroffenen Kindern
gruppe hyperkinetisch auffälliger Kin- und Jugendlichen bisher nicht richtig diagnostiziert und deshalb auch
der und Jugendlicher, DSM-IV um- nicht adäquat behandelt.
schreibt dagegen unter diesem Stö- ● Unverzichtbare Voraussetzung für eine richtige Diagnose und Behand-
rungsbild ein größeres Auffälligkeits- lung ist eine ausführliche ärztliche Diagnostik durch einen Spezialisten.
spektrum. ● Die Diagnostik soll sich auf die aktuellen psychiatrischen Klassifikations-
systeme beziehen und auch an den erst kürzlich erschienenen „Leit-
Diagnostisches Procedere linien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säug-
Zu einer störungsspezifischen kinder- lings-, Kindes- und Jugendalter“ (Deutscher Ärzteverlag 2000) orientie-
und jugendpsychiatrischen Diagnostik ren.
gehört unabdingbar eine ausführliche
Das A und O:
die richtige Diagnose
Franz Joseph Freisleder
Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, München
Zusammenfassung
Ob bei einem verhaltensauffälligen Kind ein hyperkinetisches bzw. hyperaktives Syndrom vorliegt, gehört zu den
häufigsten Fragen an den Kinder- und Jugendpsychiater. Die richtige Diagnosestellung und differentialdiagnostische
Überlegungen bei hyperkinetischen bzw. Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störungen werden in diesem Bei-
trag kurz dargestellt.
Schlüsselwörter: Diagnose, Differentialdiagnose, hyperkinetisches Syndrom.
Einleitung fe eine nicht geringe Anzahl von Her- 10 der WHO (1991) und das DSM-IV der
Gerade im ambulanten kinder- und ju- anwachsenden, bei denen erhebliche American Psychiatric Association (Deut-
gendpsychiatrischen Bereich entstand anhaltende Defizite im Bereich der Im- sche Übersetzung 1996). Ihre jeweili-
in jüngerer Zeit nicht selten der Ein- pulskontrolle und des Aufmerksam- gen Störungsbezeichnungen setzen
druck, daß sich folgende Dinge in zwei- keitsverhaltens übersehen oder nicht zwar noch immer unterschiedliche Ak-
erlei Hinsicht auch in Deutschland aus- als entsprechend schwerwiegend ein- zente (ICD-10: hyperkinetische Störun-
wirken: die semantische Weitläufigkeit geschätzt werden. Ihnen wird deshalb gen; DSM-IV: Attention Deficit Hyper-
der psychopathologischen Begriffe „hy- eine oft wirksame Verhaltens- und activity Disorder (ADHD)); sie sind je-
perkinetisch“ oder „hyperaktiv“ und Pharmakotherapie vorenthalten - ver- doch inzwischen in ihren diagnostischen
die „weicheren“ Diagnosekriterien des bunden mit dem Risiko der zusätzli- Kriterien weitgehend identisch (Tab. 1).
- inzwischen überholten - amerikani- chen Etablierung von psychiatrischen Die in Tabelle 1 aufgelistete Sympto-
schen DSM-III aus dem Jahr 1980 für Begleitstörungen. matik muß bereits vor dem Alter von 6
„Attention Deficit Disorder with Hy- Jahren begonnen haben, weitgehend
peractivity (ADDH)“. So wird einerseits Diagnostische Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend
bei manchen Kindern mit leichteren Vor dem skizzierten Hintergrund sol- sein, also in mehreren Lebensbereichen
Aufmerksamkeitsproblemen und gele- len Diagnosestellung und differential- wie Familie, Schule und Freizeit auftre-
gentlicher motorischer Unruhe diese diagnostische Überlegungen bei hyper- ten und deutlich stärker imponieren als
Diagnose zu rasch gestellt und deshalb kinetischen bzw. Aufmerksamkeitsde- üblicherweise bei gleichaltrigen Kin-
unnötig eine nicht indizierte Behand- fizit-Hyperaktivitäts-Störungen kurz dern mit gleicher intellektueller Aus-
lung eingeleitet. Andererseits gibt es dargestellt werden. Den Bezugsrahmen stattung.
wegen eines Mangels an Fachleuten für bilden die beiden aktuellen, internatio- Entsprechend ICD-10 müssen für die
dieses Störungsbild und der Gefahr ei- nal gebräuchlichen Klassifikationssyste- Diagnose einer einfachen Aktivitäts-
ner gewissen diagnostischen Unschär- me für psychische Störungen: die ICD- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
ben, die den richtigen Zeitpunkt einer sche Mechanismen nicht aus, spricht holt kontrollierbare Streßreaktionen
motorischen Antwort auf einen senso- aber mehr dafür, daß höchstens bei sich in einer Verbesserung neurobeha-
rischen Hinweisreiz verlangten) waren kleinen ADHD-Untergruppen immuno- vioraler Funktionen und Leistungen nie-
bei Kindern mit ADHD im Vergleich zu logische Auffälligkeiten zu erwarten derschlagen, kann es in nicht-kontrol-
gesunden niedrigere Aktivierungen im sind. lierbaren Streßreaktionen zu ausge-
rechten mesialen präfrontalen Kortex Bei etwa 10 % der Betroffenen sind prägten und umfassenden Beeinträch-
(in beiden Aufgaben) und im rechten Nahrungsmittelintoleranzen zu finden. tigungen kommen. So kann u. a. auf-
inferioren präfrontalen Kortex und lin- Auf welchen biologischen Grundlagen grund einer übermäßigen katechola-
ken Nucleus caudatus (in der Stop-Auf- sie beruhen, bleibt ebenfalls noch zu minergen Stimulation des präfrontalen
gabe) aufzeigbar, also mangelnde Ak- klären, zumal hierbei die sog. oligoanti- Kortex das Arbeitsgedächtnis, das we-
tivierungen in denjenigen präfronta- gene Diät therapeutisch erfolgreich ge- sentlich für eine reflexive situationsge-
len Neuronensystemen, die übergeord- nutzt werden könnte (die allerdings rechte Verhaltenssteuerung und Selbst-
nete motorische Kontrollaufgaben er- wegen des großen Aufwands, der Ko- regulation ist („exekutive Funktionen“),
möglichen. sten und der notwendigen großen Dis- in seiner Leistungsfähigkeit einge-
ziplin erfordernden Mitarbeitsbereit- schränkt werden. Gleichzeitig können
Immunologie: mögliche patho- schaft in der Praxis nur eine sehr gerin- neuronale Systeme in Amygdala, Hip-
genetische Faktoren? ge Rolle spielt). pocampus, Striatum sowie in posterio-
Näher abgeklärt werden muß die Hy- ren kortikalen Regionen aktiviert und
pothese, inwieweit - wie auch bei den Bei etwa 10 % der Betroffe- dabei impulsive, phylogenetisch und on-
häufig mit ADHD komorbid vorkom- nen sind Nahrungsmittelin- togenetisch alte, in der Regel der aktu-
menden Tic- und Zwangsstörungen - in toleranzen zu finden. Auf ellen Situation nicht angepaßte Verhal-
der Pathogenese (auto)immunologische welchen biologischen Grund- tensweisen hervorgebracht werden
Prozesse, z. B. im Rahmen wiederholter lagen sie beruhen, bleibt noch („evolutionäre Sichtweise“).
Streptokokken-Infektionen, von Bedeu- zu klären.
tung sein könnten. Hierbei könnten An- Pathophysiologisches
tikörper u. a. gegen neuronale Struktu- Erklärungsmodell: defizitäre
ren gebildet werden, die z. B. die bei Streß: verstärkte Auffälligkei- Verhaltensinhibition
ADHD-Patienten beschriebenen Volu- ten in unkontrollierbaren Im Mittelpunkt eines Erklärungsmodells
menveränderungen (im Basalganglien- Streßsituationen der ADHD steht eine mangelhafte Fä-
bereich) mit erklären würden. In Streßsituationen werden verschie- higkeit, verschiedenste Verhaltenswei-
Nicht zweifelsfrei belegt ist ein Zu- dene Anteile bestimmter neuronaler sen ausreichend und den jeweiligen Be-
sammenhang der ADHD mit atopischen Netzwerke unterschiedlich aktiviert, je dingungen bzw. Situationen angepaßt
Erkrankungen (z. B. Neurodermitis), ins- nachdem ob Anforderungen/Aufgaben zu inhibieren. Aufgrund struktureller
besondere konnte keine IgE vermittel- subjektiv als kontollierbar oder als nicht- Volumenverminderungen (um etwa 10
te ADHD-Symptomatik gefunden wer- kontrollierbar und damit unbewältig- %) und neurochemischer Veränderun-
den. Dies schließt zwar andere allergi- bar erlebt werden. Während wieder- gen im Bereich des präfrontalen und
einander verbunden sind. Der Motor- also einer gegenüber Gesunden nicht flusses im Bereich des frontalen Kortex
kortex hat dabei die Rolle der „letzten nur quantitativ gesteigerten, sondern und der Basalganglien gemessen wer-
Relaisstation“ inne, bevor der „Erre- früh einsetzenden, desorganisierten, den. Dieser stieg nach Verabreichung
gungsweg“ eines motorischen Impul- mangelhaft modulierten und überschie- von Stimulanzien (Methylphenidat) le-
ses über Fasern der Pyramidenbahn zu ßenden allgemein erhöhten motori- diglich im Basalganglienbereich an.
den jeweiligen Zielmuskeln weiterführt. schen Aktivität, könnten demnach de- Unter dieser Medikation konnte auch
Planvolle und zielgerichtete motorische fizitäre inhibitorische Mechanismen im eine Abnahme des zerebralen Blutflus-
Abläufe bedürfen abgestimmter Ver- sensomotorischen Regelsystem zugrun- ses im Bereich des sensomotorischen
hältnisse exzitatorischer und inhibito- deliegen. Kortex gezeigt werden, die als Zeichen
rischer Erregungsmuster sowohl „inner- Dieser Befund gibt zudem einen er- einer besseren Inhibition von Bewe-
halb“ der beteiligten neuronalen Ele- sten Hinweis darauf, daß bei ADHD gungsmustern - und damit in Zusam-
mente (z. B. Basalganglienebene), als auch der motorische (und nicht nur der menhang stehend einer Abnahme der
auch „zwischen“ den einzelnen Be- präfrontale und evtl. auch parietale) motorischen Überaktivität und Ablenk-
standteilen des motorischen Regelsy- Kortex in seiner Funktionsweise beein- barkeit - diskutiert wurden. In einer
stems. Störungen motorischer Abläufe trächtigt ist. Untersuchung mit der Positronen-Emis-
wie die allgemeine motorische Überak- sions-Tomographie von Eltern betrof-
tivität (und häufig schlechte Grapho- Neurochemie: verminderte fener Kinder, die selbst ein „residual-
motorik) bei ADHD könnten auf Dysba- dopaminerge Aktivität type“ einer ADHD hatten, zeigte sich
lancen von Fazilitations- und Inhibiti- Auf neurochemischer Ebene werden in eine Verminderung der gesamten zere-
onsprozessen beruhen, die u. a. durch erster Linie Dysfunktionen im dopa- bralen Glukoseutilisation, am ausge-
strukturell/funktionelle Beeinträchti- minergen Neurotransmittersystem an- prägtesten im Bereich des rechtsfron-
gungen von Neuronensystemen einzel- genommen. Erste Hinweise auf eine Ver- talen Kortex. Hingegen erbrachte eine
ner Elemente des Regelsystems (z. B. minderung der Dopaminausschüttung Untersuchung von Jugendlichen mit
frontaler Kortex, Basalganglien) bzw. im zentralen Nervensystem lieferten ADHD keine Unterschiede in der globa-
deren Konnektivitäten (z. B. frontokor- die bei Kindern mit ADHD im Vergleich len oder absoluten Glukoseutilisation
tikal-striatale Verbindungen) hervorge- zu gesunden erniedrigten Homovanil- im Vergleich zu gesunden; allerdings
rufen werden. linsäure-Spiegel (Hauptmetabolit von war für die Gruppe der Mädchen im
Dopamin) im Liquor cerebrospinalis. Als Vergleich zu gesunden Mädchen eine
Neurophysiologie: mangelhafte Grundlage für Abweichungen in der verminderte absolute Metabolismus-
motorische Kontrolle dopaminergen Neurotransmission wer- Rate aufzeigbar. Für die Region des
In neurophysiologischen Untersuchun- den Dysfunktionen der postsynapti- linken anterioren frontalen Kortex
gen zur Messung der Fähigkeit zur „mo- schen Dopamin-Rezeptoren (oder be- konnte sogar eine signifikante inverse
torischen Hemmung“ (Stop-Signal-Pa- stimmter Unterformen, z. B. D4-Rezep- Beziehung zwischen Metabolismus-
radigma) zeigten Kinder mit ADHD im tor) sowie Dysfunktionen des präsyn- Rate und Ausprägungsgrad der ADHD-
Vergleich zu Gesunden ein mangelndes aptischen Dopamin-Transporters disku- Symptomatik hergestellt werden.
Vermögen zur Hemmung motorischer tiert. Gestützt werden konnte letztere Weitere Erkenntnisse erbrachten
Anworten, d. h. ein motorisches Inhibi- Vorstellung durch neuere Single-Pho- funktionell-bildgebende Untersuchun-
tionsdefizit. Bei Untersuchungen des ton-Emissions-Computertomographie- gen unter solchen Aufgabenstellungen,
Bereitschaftspotentials ergaben sich Untersuchungen mit hochselektiven in denen Patienten mit ADHD schlech-
Anhaltspunkte für Defizite auf der Liganden, mit denen im Striatum bei tere Leistungen als gesunde erbringen,
motorischen Vorbereitungsstufe, denn erwachsenen ADHD-Patienten im Ver- also z. B. Aufmerksamkeits- oder Hem-
im Gegensatz zu einer zentralen gleich zu Gesunden eine um ca. 70 % mungs-(Stop-)-Aufgaben. So konnten
Schwerpunktbildung bei gesunden hat- erhöhte Dichte des Dopamin-Transpor- in einer Untersuchung mit der Single-
ten Kinder mit ADHD eine diffuse fron- ters gemessen wurde. Photon-Emissions-Computertomogra-
to-zentrale Verteilung. Danach könn- Neben Dysfunktionen im dopaminer- phie während der Durchführung einer
ten diese Kinder eine ungenügende gen System werden solche auch für das Daueraufmerksamkeitsaufgabe im Ver-
Fähigkeit besitzen, ihre neuronalen noradrenerge und serotonerge Neuro- gleich zu einer psychiatrischen Kon-
Netzwerke zur Durchführung einer mediatorsystem diskutiert, wobei hier- trollgruppe bei Erwachsenen mit ADHD
willentlichen Bewegung ausreichend für aber noch keine ausreichende Da- verminderte Perfusionswerte im Be-
präzise und abgestimmt zu regulieren. tenlage besteht. reich der linken frontalen und linken
In Untersuchungen mit der transkra- parietalen Kortexareale gemessen wer-
niellen Magnetstimulation, mit der die Funktionelle Bildgebung: den, also in Regionen, deren neuronale
Exzitabilität des motorischen Systems niedrigere Aktivitätszunahmen Systeme in die Kontrolle von Aufmerk-
direkt in vivo untersucht werden kann, in kortikalen und subkortika- samkeitsprozessen einbezogen sind.
wiesen Kinder mit ADHD im Vergleich len Regionen Während der Durchfühung von Inhibi-
zu gesunden eine signifikant vermin- Mittels funktionell-bildgebender Ver- tionsaufgaben (Stop-Aufgabe, die die
derte intrakortikale Inhibition auf. Der fahren konnte bei Kindern mit ADHD Hemmung einer geplanten motorischen
allgemeinen motorischen Überaktivität, eine Verminderung des zerebralen Blut- Antwort und motorische Zeit-Aufga-
gen sind aber noch unklar. So tragen Bedingungen auch nicht mehr unbe- Kinder mit ADHD eine „Frontalhirn-
zwar genetische Faktoren zur ADHD- dingt hilfreich sein. Die Kernsymptome Störung“ haben könnten.
Vulnerabilität bei, es ist aber nicht si- der ADHD beschreiben in diesem Sinne
cher, welche ungünstigen Umgebungs- Umkehrungen der Vorteile einer frü- Neuropsychologie: unzureichen-
einflüsse diese Vulnerabilität zum Phä- her u. a. bei aktuellen Bedrohungen de exekutive Funktionen
notyp werden lassen. Auch geht eine oder beim Jagen wichtigen raschen (im- Klinisch zeigen Kinder mit ADHD ihre
genetische Vulnerabilität weit über die pulsiven) Antwortbereitschaft gegen- Zielsymptome Unaufmerksamkeit, Im-
kategoriale Diagnose einer ADHD hin- über heute vorteilhaften wohlbedach- pulsivität und motorische Überaktivi-
aus. Dabei ist ebenfalls nicht geklärt, ob ten (reflexiven) Problemlösungsfähig- tät am deutlichsten in komplexen Si-
es in Ergänzung zu einem breiten, ge- keiten in einer komplexen, sich immer tuationen, die ein hohes Maß an Ver-
netisch bestimmten Muster von „Auf- schneller verändernden Lebenswelt. haltenssteuerung und -kontrolle erfor-
merksamkeitsstörung“ und „Überakti- dern - also einen besonderen Einsatz
vität“ (möglicherweise als eine Risiko- Verhaltenssteuerung und exekutiver Funktionen. In einer Reihe
dimension zu betrachten) tatsächlich -kontrolle: von Untersuchungen konnte gezeigt
eine zwar seltene, aber ebenso gene- exekutive Funktionen werden, daß Kinder mit ADHD in Ver-
tisch bestimmte qualitativ unterschied- Um ihr Verhalten zu steuern und zu fahren, die zur Messung exekutiver
liche Kategorie einer ADHD gibt. Auch kontrollieren, können Kinder und Ju- Funktionen eingesetzt werden, signifi-
ist zu bedenken, daß ein bestimmter gendliche mit zunehmendem Alter - kant schlechter abschneiden als gesun-
Phänotyp (z. B. ADHD- und Tic-Sym- und damit verbundener zentralnervö- de Kinder; hierbei bestanden Defizite
ptomatik) einer unterschiedlichen ge- ser Reifung - besondere Fähigkeiten insbesondere in der kognitiven Flexibi-
netischen Basis zugeordnet werden einsetzen, die durch die sog. exekuti- lität, im Arbeitsgedächtnis, in der Inter-
kann, je nachdem, ob er vor bzw. nach ven Funktionen beschrieben werden. ferenzkontrolle sowie im (motorischen)
der psychopathologischen Kernsympto- Als „Teilfunktionen“ werden hierzu Pla- Inhibitionsvermögen.
matik (hier ADHD) auftritt. So scheint nungsvermögen, Arbeitsgedächtnis,
die ADHD genetisch mit einem Touret- selektive und dauerhafte Aufmerksam- Morphometrie: verminderte
te-Syndrom assoziiert zu sein, wenn die keit, kognitive Flexibilität oder Interfe- Volumina kortikaler und sub-
ADHD-Symptomatik nach Beginn der renzkontrolle gerechnet. Wesentliche kortikaler Regionen
Tics erscheint, während sie wahrschein- Aufgaben dieses Systems der Informa- In morphometrischen Untersuchungen
lich eine eigenständige genetische Ba- tionsverarbeitung sind die „Hervorbrin- wurden bei Kindern mit ADHD gegen-
sis hat, wenn sie schon vor Auftreten gungen“ generalisierter Strategien zur über gesunden bzw. nicht-ADHD Kin-
der Tics bestanden hatte. Erreichung von Problemlösungen. Dazu dern folgendes beschrieben: Volumen-
sind insbesondere planvolle und mit- verminderungen der rechtsseitigen an-
Evolutionäre Sichtweise: einander koordinierte Handlungsse- terioren Region des frontalen Kortex
ehemals vorteilhaftes Ver- quenzen sowie die Hemmungen unan- bzw. der rechten präfrontalen und fron-
haltensmuster gemessener, nicht zur Lösung einer talen Hemisphärenregion, bilateral der
Zur Bewertung genetischer Befunde Aufgabe führender Verhaltensweisen parietal-okzipitalen Hemisphärenregi-
empfiehlt sich auch, eine evolutionäre erforderlich. Dieses System, das beson- on und des Corpus callosum sowie des
Sichtweise einzunehmen. Hierbei kann ders auf den Aktivitäten neuronaler Cerebellum; an subkortikalen Volumen-
ein Großteil unserer Verhaltensausstat- Netzwerke des präfrontalen Kortex verminderungen konnten ein kleinerer
tung am ehesten dadurch verstanden beruht, wird als eine übergeordnete (linker) Nucleus caudatus - bzw. ein
werden, wie sich der Mensch in Bezie- Struktur (im Vergleich zu den übrigen Fehlen der bei gesunden Kindern vor-
hung und Auseinandersetzung mit frü- „Teilen“ des Kortex) angesehen, deren liegenden Asymmetrie im Kopfbereich
heren Umgebungsbedingungen ent- universelle Funktion die „supervidie- des Nucleus caudatus - sowie ein kleine-
wickelt hat. In der Menschheitsge- rende“ Verhaltensregulation ist. rer Globus pallidus gemessen werden.
schichte haben in den letzten Jahrhun- Betont wurden wiederholt Ähnlich- Diese morphometrischen Befunde spre-
derten dramatische Veränderungen der keiten zwischen der ADHD-Symptoma- chen für eine Entwicklungsabweichung
Umwelt- und Gesellschaftsbedingun- tik und in Folge von Frontalhirnläsio- im Rahmen der Neurogenese und be-
gen stattgefunden: von der ständigen nen (z. B. Blutung, Verletzung, Tumor) treffen wesentliche Elemente fronto-
Bedrohung durch Umweltgefahren (z. entstandenen Verhaltens- und Lei- kortikal-subkortikaler Regelsysteme.
B. Wildtiere) und der Lebensnotwen- stungsauffälligkeiten. So führten die
digkeit zum Jagen über eine landwirt- bei betroffenen Patienten neu aufge- Neurophysiologie: einge-
schaftliche und später industrielle Ge- tretenen Störungen von Aufmerksam- schränkte kognitive Informati-
sellschaft bis hin zur modernen Dienst- keit, Impulskontrolle, Planung von Ant- onsverarbeitung
leistungs- und Kommunikationsgesell- wortsequenzen sowie Schwierigkeiten, In neurophysiologischen Studien konn-
schaft. Deshalb können ehemals vor- motorische Reaktionen zu kontrollie- te - wenigstens für eine Untergruppe
teilhafte Verhaltensmuster mittlerwei- ren, gegensätzliche Handlungen aus- von Kindern mit ADHD - ein zentralner-
le nicht mehr sinnvoll bzw. notwendig zuführen oder imitative Bewegungen vöses „underarousal“ aufgezeigt wer-
sowie für eine Adaptation an heutige zu hemmen sogar zur Hypothese, daß den, d. h. ein „Arousaldefizit“. In Un-
Zusammenfassung
Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS oder ADHD) liegen umfangreiche Kenntnisse über
neurobiologische Grundlagen vor: veränderte molekulare dopaminerge Struktur (Genetik), unzureichende exekutive
Funktionen (Neuropsychologie), verminderte Volumina kortikaler und subkortialer Strukturen (Morphologie), einge-
schränkte kognitive Informationsverarbeitung und mangelhafte motorische Kontrolle (Neurophysiologie), verminder-
te dopaminerge Aktivität (Neurochemie), niedrigere Aktivitätszunahmen in kortikalen und subkortikalen Hirnregio-
nen (funktionelle Bildgebung). Diese Kenntnisse können in einem pathophysiologischen Erklärungsmodell zusammen-
gefaßt werden. In dessen Mittelpunkt steht eine mangelnde Fähigkeit der Kinder mit ADHD, ihre Verhaltensimpulse
ausreichend und den jeweiligen Bedingungen bzw. Situationen angepaßt zu hemmen.
Schlüsselwörter: ADHD, Neurobiologie, Inhibitionsdefizit, dopaminerge Neurotransmission.
trifft . . . zu
überhaupt ein wenig ziemlich sehr stark
nicht
0 1 2 3
unruhig oder übermäßig aktiv M M M M
erregbar, impulsiv M M M M
stört andere Kinder M M M M
beendet angefangene Dinge nicht,
kurze Aufmerksamkeitsspanne M M M M
zappelt ständig M M M M
unaufmerksam, leicht ablenkbar M M M M
Wünsche müssen sofort erfüllt werden M M M M
weint schnell und häufig M M M M
schnelle und ausgeprägte Stimmungswechsel M M M M
Wutausbrüche, unvorhersagbares Verhalten M M M M
Ausgefüllt von:
Datum:
H
ADS Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom
ADDH attention deficit disorder with hyperactivity
ADHD attention deficit hyperactivity disorder
Synonyme
ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
HKS hyperkinetische Störung; hyperkinetisches Syndrom
MCD minimale cerebrale Dysfunktion
MTA-Studie MTA steht für Multimodal Treatment of ADHD. Studie, in der prospektiv verschiedene Therapieoptionen bei der Aufmerksam-
keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung verglichen worden sind; die Ergebnisse wurden 1999 veröffentlicht. Die Studie hat die seit
Jahrzehnten gut etablierte Erkenntnis bekräftigt, daß die Medikation mit Stimulanzien eine zentrale Rolle einnimmt.
Das Wichtigste
für die Praxis . . .
Tab. 4: Klinisches Bild der Impulskontrollstörung
● Hyperkinetische Störungen
● platzt häufig mit Antworten heraus, bevor Fragen zu Ende gestellt wurden; wurden schon Mitte des 19.
● kann nur schwer abwarten, bis er/sie an der Reihe ist (bei Spielen, in Gruppen- Jhr. beschrieben.
situationen); ● Die Begriffe „hyperkinetische
● unterbricht oder stört andere (mischt sich rücksichtslos in Gespräche oder in Störung“ und „Aufmerksam-
Spiele ein); keitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
● redet zuviel, ohne auf entsprechende Hinweise zu reagieren. störung (ADHD)“ bezeichnen
dieselbe Störung.
● Der häufig verwendete Begriff
des Aufmerksamkeitsdefizit-
eigener Verhaltenskontrolle verlangen. Tätigkeiten oder von gestellten Aufga- Syndroms (ADS) ist problema-
Solche typischen Situationen sind ge- ben sowie durch häufige Tätigkeits- tisch, weil damit die Störung
meinsame Mahlzeiten, der Unterricht wechsel; dies kommt vor allem durch auf eine Aufmerksamkeits-
in der Schule oder die Hausaufgabensi- Ablenkung zustande, wodurch das In- schwäche reduziert wird.
tuation. Typische Verhaltensmuster teresse an der aktuellen Tätigkeit rasch ● Die Störung tritt bei Jungen 3-
zeigt Tabelle 2. verlorengeht. Hinter diesem Verhalten bis 9mal häufiger auf als bei
Unaufmerksamkeit zeigt sich insbe- stehen die mangelnde Fähigkeit, die Mädchen.
sondere im vorzeitigen Abbrechen von Aufmerksamkeit zu fokussieren, sowie
„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“ Der „Zappelphilipp“ von Heinrich
Hoffmann (1845) ist sicher die berühmteste Darstellung eines hyperaktiven Kindes. (© Copyright
2000 Middelhauve Verlag GmbH für Siebert Verlag, München.)
Zusammenfassung
Die Kernmerkmale der hyperkinetischen Störung wurden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben;
sie finden sich auch in den aktuellen Diagnosekriterien und bestehen aus verschiedenen Aspekten von Hyperaktivität,
Unaufmerksamkeit und Impulskontrollstörungen. Für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung ist notwendig, daß
diese Leitsymptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten ununterbrochen vorliegen, die Symptomatik
situationsübergreifend auftritt und der Störungsbeginn im Vorschulalter liegt. Häufige Begleitsymptome sind Distanz-
störungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen, Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, motorische
Ungeschicklichkeit, Schulleistungsstörungen, Disziplinprobleme, Kontaktstörungen und Selbstwertbeeinträchtigun-
gen. Im Grundschulalter ist etwa jedes 25.-30. Kind vom Vollbild der Störung betroffen, im Jugendalter etwa jeder 50.
Jugendliche. Die Störung tritt bei Jungen 3- bis 9mal häufiger auf als bei Mädchen. Zur Erfassung der typischen
Verhaltensauffälligkeiten haben sich Fragebogen bewährt, die von relevanten Bezugspersonen (Eltern, Lehrer/innen)
wesentliche Informationen ökonomisch abfragen.
Schlüsselwörter: hyperkinetische Störung, ADHD, Hyperaktivität, Definitionen.
Kinder entlasten
und Eltern befreien
Das hyperkinetische Syndrom bei Kin- Die soziale Ausgrenzung und Stigmati- ideale Dosierung individuell überprüft
dern mit seinen vielen synonymen Be- sierung sind es, die diese Kinder ohne zwischen 0,3 bis maximal 1,0 mg/kg
zeichnungen erregt in den letzten Jah- frühzeitig einsetzende Therapie in die Körpergewicht pro Einzeldosis (mor-
ren zunehmend die Gemüter: Einerseits Isolation in der Gruppe, in der Klasse gens und mittags, ggf. auch nachmit-
nehmen verschiedene Fachgruppen für und vor allem auch in der Familie drän- tags) anzusetzen wäre.
sich in Anspruch, die einzigen Experten gen. Und dabei benötigen diese Kinder Beruhigen muß Eltern wie auch Kin-
für die betroffenen Kinder zu sein, an- so unendlich viel Verständnis und auch der- und Jugendärzte, Kinder- und Ju-
dererseits haben sich Propagandisten emotionale Zuwendung, aber auch eine gendpsychiater und Psychotherapeu-
und auch Gurus auf den Weg gemacht klar strukturierte Führung - ob zu Hau- ten, daß Methylphenidat keine Sucht-
und wollen möglichst vielen Eltern sug- se oder in der Schule etc. Schläge trei- neigung bezüglich späterem Drogen-
gerieren, ihr Schulkind habe „ganz ein- ben die Unruhe und fehlende Aufmerk- konsum induziert.Immer mehr läßt sich
deutig“ das „Zappelphilipp-Syndrom“. samkeit der Kinder nicht aus. aufklären, wie Methylphenidat im Zen-
Wenn auch innerhalb von 5 Jahren Kaum ein Medikament ist für das tralnervensystem seine Wirkungen ent-
(1990 bis 1995) der Verbrauch von Me- Kindesalter so gut untersucht worden faltet. Mit bildgebenden Verfahren und
thylphenidat (Ritalin® ) als dem wich- wie gerade Methylphenidat (Ritalin® ). zunehmend biochemischen Erkenntnis-
tigsten wirksamen Medikament bei die- Erhalten die richtigen Kinder dieses Me- sen läßt sich erklären, wie komplex die-
sem Syndrom weltweit von 3 Tonnen dikament, so kann man mit nachhaltig ses Medikament insbesondere in Neu-
auf 8,5 Tonnen zugenommen hat (90 % positiven Wirkungen bei bis zu 70 % rotransmitter-Abläufe eingreift.
des Medikaments werden in den USA der Betroffenen rechnen. Der Behand- Kein Zweifel, nicht alle Kinder mit
verbraucht), so liegen die Prävalenzra- lungseffekt steigt an, wenn unipolare klinisch nahezu eindeutigen Zeichen
ten für das Syndrom weiterhin bei 3-5 Therapieempfehlungen verlassen wer- eines hyperkinetischen Syndroms ha-
% - je nachdem, welche Altersgruppe den und die medikamentöse Behand- ben dann tatsächlich diese Erkrankung.
betrachtet wird. Entscheidend ist auch lung komplementär durch z. B. Verhal- Viel zu wenig werden differentialdia-
zukünftig, jene Kinder ab dem Alter tenstherapie, Elternberatung, Beratung gnostische Überlegungen dahingehend
von 6 Jahren zu identifizieren, die mit von Lehrern erweitert wird. Die Praxis angestellt, ob emotionale Belastungen
an Sicherheit grenzender Wahrschein- zeigt, daß die umfassende und zeitin- bei den Kindern selbst, in ihrem psycho-
lichkeit nun tatsächlich jenes hyperki- tensive Aufklärung über Wirkungen und sozialen Umfeld oder gar schwere so-
netische Syndrom haben. Sie, ihre Fa- Nebenwirkungen bei dieser Therapie, matische oder auch psychiatrische Er-
milien, ihre Lehrer etc. brauchen wirk- vor allem mit Methylphenidat, die Ab- krankungen das Symptomspektrum des
lich Hilfe und Unterstützung. Und auf wehrhaltung bei vielen Eltern überwin- hyperkinetischen Syndroms vortäu-
dem Weg der Diagnostik zeigt sich im- den kann. Nicht nur die Kinder mit schen. Gewalt an Kindern bis hin zum
mer mehr, daß Schnellschüsse häufig hyperkinetischem Syndrom brauchen wachsenden Hirntumor und schließlich
die falschen Kinder identifizieren. Es viel Zeit, nein, die Eltern benötigen auch schwere psychiatrische Erkrankun-
geht also zukünftig um eine unbedingt ebenso viel Zeit, bis sie verstehen ler- gen sind es, die u. a. unbedingt ausge-
erwünschte Qualitätssicherung, um die nen können, warum ihr Kind so „aus schlossen werden müssen.
Trefferquote für tatsächlich vorhande- der Reihe getanzt“ ist, und warum ge- Kindern mit hyperkinetischem Syn-
ne hyperkinetische Syndrome bei den rade ihr Kind ein solches Medikament drom kann heute in großem Umfang
Kindern erhöhen zu können. tatsächlich benötigt. geholfen werden. So steigen u. a. die
Es hat sich längst als richtig erwie- Gottlob wissen wir nun sehr viel zu Schulleistungen und der „Zappelphil-
sen, daß über die umfassende Anamne- der zu empfehlenden Dosierung, zur ipp“ wird von seiner Umgebung nun
se-Erhebung, und damit auch biogra- Durchführung der psychotherapeuti- doch wieder angenommen und ge-
phische Anamnese unter Einbeziehung schen Begleitung. Eines ist vor allem schätzt und ist nicht mehr länger der
familiärer Strukturen, die Verhaltens- gesichert: Medikamentöse Dosisüber- Sündenbock für alle „Verfehlungen“.
beobachtung einerseits, die Durchfüh- schreitungen über den bekannten Rah-
rung psychometrischer Verfahren an- men hinaus sind nicht wissenschaftlich Univ. Prof. Dr. med.
dererseits, unerläßlich sind, will man abgesichert und können sogar zu haf- Dr. h. c. Hubertus von Voss
auf seriösem Weg die Diagnosen si- tungsrechtlichen Problemen im Einzel- Institut für Soziale Pädiatrie und Ju-
cherstellen. Schließlich muß doch das fall führen. Die Gesamtdosis pro Tag gendmedizin der Ludwig-Maximilians-
Ziel verfolgt werden, mit möglichst ex- für Methylphenidat (Ritalin® ) sollte 2,0 Universität München - Kinderzentrum
akter Diagnostik frühzeitig betroffe- mg/kg Körpergewicht nicht überschrei- München, Heiglhofstraße 63, 81377
nen Kindern gezielt helfen zu können. ten, wobei sich nachweisen ließ, daß die München, E-Mail: h.v.voss@gmx.de