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Zum Buch

Du kannst dir deine Familie nicht aussuchen, aber du kannst sie töten
Ich habe etliche Menschen umgebracht (manche brutal, andere in aller Stille), aber im
Gefängnis schmachte ich wegen eines Mordes, den ich nicht begangen habe.
Wenn ich daran denke, was ich wirklich getan habe, empfinde ich deshalb vor allem
Enttäuschung. Dass nie jemand von meiner komplexen Strategie und meinem raffinierten
Vorgehen erfahren wird, stimmt mich traurig.
Selbstverständlich wäre mir nichts lieber, als ungestraft davonzukommen, aber wenn ich schon
lange nicht mehr bin, wird vielleicht jemand einen alten Safe öffnen und darin dieses Geständnis
vorfinden. Das gäbe zweifellos einen gewaltigen Aufschrei in der Öffentlichkeit.
Denn dass jemand im zarten Alter von achtundzwanzig Jahren in aller Seelenruhe sechs
Familienmitglieder umgebracht und dann, ohne Reue zu empfinden, weitergelebt hat, als wäre
nichts geschehen, dürfte für die meisten Menschen unbegreiflich sein.
»Smart, lustig und bitterböse.« Elle

Zur Autorin
Bella Mackie, Journalistin und Autorin, hat für den Guardian, die Vogue und das
Vice Magazine geschrieben. »How To Kill Your Family« ist ihr erster Roman, der
bereits kurz nach Erscheinen die britischen Bestsellerlisten stürmte. Bella Mackie
ist mit dem BBC-Radiomoderator Greg James verheiratet und lebt in London.
bella mackie

how
to kill
your
family
roman

Aus dem Englischen


von Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAG


MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel How to kill your family bei Borough Press, London

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Copyright © 2021 by Bella Mackie


Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Kirsten Naegele
Redaktion: Thomas Brill
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock/Nadia Chi,
© Bigstock/Amadey/ART
Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28475-6
V002
Für meinen Dad,
der mir Hunderte von mörderischen Gutenachtgeschichten vorlas.

Für meine Mum,


die mir Hunderte von heiteren Geschichten vorlas.

Ich verspreche, keinen von euch umzubringen.


Entweibt mich hier. Füllt mich von Wirbel bis zur Zeh’,
randvoll, mit wilder Grausamkeit! Verdickt mein Blut.
WILLIAM SHAKESPEARE, Macbeth
prolog

Das Gefängnis von Limehouse ist grauenvoll – wie Sie sich vielleicht vorstellen
können. Nur können Sie es sich vermutlich gar nicht vorstellen. Nicht so richtig.
Spielekonsolen und Flachbildfernseher gibt es dort nicht. Das haben Sie
bestimmt in der Zeitung gelesen. Dort existiert kein freundliches Miteinander,
kein schwesterlicher Zusammenhalt. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, fürchterlich
laut, und man hat immerzu den Eindruck, jeden Moment könnte ein Kampf
ausbrechen. Ich bemühte mich von Anfang an, nicht aufzufallen. Zwischen den
Mahlzeiten, die sich mit viel Wohlwollen und auch nur mitunter als genießbar
beschreiben lassen, bleibe ich in meiner Zelle. Ich meide meine Mitbewohnerin –
wie sie penetranterweise genannt werden will.
Kelly ist eine Frau, die gerne mal ein »Schwätzchen« hält. Als ich vor vierzehn
langen Monaten hier ankam, setzte sie sich zu mir auf die Pritsche und krallte
ihre schrecklich langen Fingernägel in mein Knie, um dann zu erklären, dass sie
wisse, was ich getan hätte, und dass sie es fantastisch finde. Dieser Zuspruch war
so unerwartet wie willkommen, denn als ich die drohend aufragenden Tore
dieses schäbigen Ortes durchschritt, tat ich das in der sicheren Erwartung
gewalttätiger Übergriffe – die naive Vorstellung eines Menschen, der das
Gefängnis nur aus einer billig produzierten Fernsehserie kennt. Nachdem sie
sich auf diese Weise vorgestellt hatte, erkor sie mich zu ihrer neuen besten
Freundin. Schlimmer noch: Sie erkannte, dass ich eine Zellengenossin war, mit
der sich prächtig angeben ließ. Beim Frühstück drängelt sie sich zielstrebig zu
mir durch, hakt sich bei mir unter und tuschelt drauflos, als wären wir in ein
vertrauliches Gespräch vertieft. Bei Unterhaltungen mit anderen Häftlingen
senkt sie die Stimme zu einem angedeuteten Flüstern, wenn sie damit prahlt, dass
ich ihr mein Verbrechen in allen Einzelheiten gestanden habe. Wer sollte ihr bei
den anderen Frauen den Respekt und den Einfluss verschaffen, nach dem sie
dürstet, wenn nicht die berüchtigte Morton-Mörderin? Das ist extrem nervig.
Ich habe zwar gerade geschrieben, dass Kelly behauptet, alles über mein
Verbrechen zu wissen, aber vielleicht stellt das Wort »Verbrechen« mein Licht
unter den Scheffel. In meinen Ohren klingt es schäbig und gewöhnlich.
Ladendiebe begehen Verbrechen. Wer zu Beginn eines weiteren öden Tages im
Büro mit sechzig Stundenkilometern durch eine verkehrsberuhigte Zone
brettert, um sich einen lauwarmen Caffè Latte zu holen, der begeht ein
Verbrechen. Ich tat etwas sehr viel Anspruchsvolleres. Ich tüftelte und führte
einen so komplexen wie umsichtigen Plan aus. Seine Ursprünge reichten zurück
bis weit vor die unerfreulichen Umstände meiner Geburt. Da es in diesem
schlimmen und reizlosen Käfig für mich kaum etwas zu tun gibt (ein verwirrter
Therapeut legte mir nahe, einen Poetry-Slam-Kurs zu besuchen, worauf mir
derart die Gesichtszüge entglitten, dass er so etwas zu meiner Zufriedenheit nie
wieder vorschlug), habe ich beschlossen, meine Geschichte zu erzählen. Was gar
nicht so einfach ist, wenn mir nicht der gewohnte Laptop zur Verfügung steht.
Als mein Anwalt mir kürzlich versicherte, es gebe einen Lichtschimmer am Ende
des Tunnels, erschien es mir angebracht, meine Zeit hier drinnen zu nutzen und
einiges von dem niederzuschreiben, was ich getan habe. Ein Ausflug in den
Speisesaal versorgte mich mit einem dünnen Notizblock und einem abgenutzten
Kuli, die mich fünf Pfund meines wöchentlichen Taschengeldes von 15,50
Pfund kosteten. Vergessen Sie die Zeitschriftentipps, die Ihnen weismachen
wollen, dass Sie Geld sparen können, indem Sie beim Coffee-to-go knausern.
Wenn Sie richtiges Haushalten lernen wollen, verbringen Sie etwas Zeit in
Limehouse. Mag sein, dass diese Schreiberei witzlos ist, aber ich muss mich
irgendwie beschäftigen, um etwas gegen die lähmende Langeweile hier zu
unternehmen. Wenn Kelly und ihre »Ladys« – wie sie die Mitglieder ihrer
endlosen Entourage nennt – mitkriegen, dass ich zu tun habe, hören sie vielleicht
auf, mich ständig zu löchern, ob ich mit ihnen im Aufenthaltsraum Doku-Soaps
glotze. Das hoffe ich zumindest. »Sorry, Kelly«, werde ich sagen, »ich gehe
gerade meinen Fall durch und mache mir wichtige Notizen für die Berufung, lass
uns doch später quatschen.« Ich wette, sie wird mich schon bei der kleinsten
Andeutung, ich könnte ihr ein saftiges Detail meiner Biografie verraten, mit dem
verschwörerischen Zwinkern einer überzeichneten Krimi-Figur meiner Arbeit
überlassen.
Natürlich ist nichts davon für Kellys Ohren bestimmt. Ich bezweifle, dass sie
über die intellektuelle Kapazität verfügt, meine Motive zu verstehen. Meine
Geschichte ist genau das: meine Geschichte. Obwohl ich mir sicher bin, dass die
Leser sie verschlingen würden, sollte ich sie je veröffentlichen – was ich niemals
könnte. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass die Leute ihre Nase in das Buch
stecken würden. Es wäre ein Bestseller, und die Menschen würden scharenweise
in die Läden strömen, um mehr über das tragische Schicksal der attraktiven
jungen Frau zu erfahren, die so etwas Schreckliches getan hat. Die
Boulevardblätter bringen schon seit Monaten Storys über mich. Offenbar
bekommt die Leserschaft den Hals nicht voll von den bereitwilligen
Ferndiagnosen der Schmalspurpsychologen oder den Kommentaren vereinzelter
Querdenker, die meine Tat trotz Shitstorm bei Twitter rechtfertigen. Die Leute
sind so fasziniert von mir, dass sie sich sogar eine hastig zusammengeschusterte
Channel-5-Dokumentation über mich ansehen, in der ein fetter Astronom
behauptet, angesichts meines Sternzeichens sei mein Verbrechen absehbar
gewesen. Das Sternzeichen war leider falsch.
Ich weiß also, dass die Menschen sich auf meine Geschichte stürzen würden.
Ich habe bislang keinen Versuch einer Erklärung oder gar Richtigstellung
unternommen – dennoch ist mein Fall bereits in aller Munde. Und die Ironie an
der Sache ist, dass kein Mensch von meinen wahren Verbrechen weiß. Das
hiesige Justizsystem ist ein Witz, und nichts macht dies deutlicher als die
folgenden Worte: Ich habe etliche Menschen umgebracht (manche brutal, andere
in aller Stille), aber im Gefängnis schmachte ich wegen eines Mordes, den ich
nicht begangen habe.
Gesetzt den Fall, dass die tatsächlich von mir verübten Verbrechen jemals
bekannt werden, würde ich garantiert für Jahrzehnte in Erinnerung bleiben,
vielleicht sogar für Jahrhunderte – sollte die Menschheit überhaupt noch so
lange existieren. Dr. Crippen, Fred West, Ted Bundy, Lizzie Borden und ich,
Grace Bernard: eine illustre Gesellschaft, in der ich mich jedoch ehrlich gesagt
nicht richtig aufgehoben fühle. Denn ich bin keine Dilettantin, und ich bin auch
nicht schwachsinnig. Ich bin eine Frau, der Sie auf der Straße bewundernde
Blicke zuwerfen würden. Gut möglich, dass Kelly deshalb wie eine Klette an mir
hängt, statt mich – wie erwartet – windelweich zu prügeln. Sogar hier drinnen
bewahre ich mir eine Eleganz und eine Reserviertheit, an der manche
Mithäftlinge – vor allem die, die mir nicht gewachsen sind – regelmäßig
verzweifeln.
Ich habe gehört, dass ich trotz oder sogar gerade wegen meiner Tat säckeweise
Fanpost erhalte. Briefe, in denen mir die Menschen ihre Liebe und Bewunderung
gestehen oder nach dem Kleid fragen, das ich am ersten Verhandlungstag trug.
Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Es ist von Roksanda. Leider zeigte sich
die schreckliche Frau des Premierministers nur einen Monat später in einem
ganz ähnlichen Modell. Ich bekomme allerdings auch Drohbriefe. Und
manchmal einfach nur wirres Zeug, zum Beispiel von Leuten, die überzeugt sind,
ich würde ihnen telepathische Botschaften senden. Offenbar wollen die
Menschen mich besser kennenlernen, mich beeindrucken und mir nacheifern –
wenn schon nicht in meinem Verhalten, dann zumindest in Modefragen. Doch
das ist irrelevant, denn ich lese keinen einzigen dieser Briefe. Mein Anwalt
sammelt und entsorgt sie für mich. Warum sollte ich etwas darauf geben, was
irgendwelche traurigen Gestalten von mir halten, die nichts Besseres zu tun
haben, als mir zu schreiben?
Schon möglich, dass ich mir die Leute da draußen schönrede, indem ich ihnen
eine vielschichtigere Gefühlswelt zugestehe, als realistisch wäre. Vielleicht lässt
sich das anhaltende und fieberhafte Interesse an mir schlicht und einfach mit
Ockhams Rasiermesser erklären – jener Theorie, die besagt, dass die
naheliegende Antwort gewöhnlich auch die richtige ist. In dem Fall wäre der
eigentliche Grund für das Überdauern meines Namens auch nach meinem Tod
leider denkbar prosaischer Natur: das schmuddelige Drama, das die Menschen
gewöhnlich mit einer Dreiecksbeziehung verbinden. Wenn ich daran denke, was
ich wirklich getan habe, empfinde ich deshalb vor allem Enttäuschung. Dass nie
jemand von meiner komplexen Strategie und meinem raffinierten Vorgehen
erfahren wird, stimmt mich traurig. Selbstverständlich wäre mir nichts lieber, als
ungestraft davonzukommen, aber wenn ich schon lange nicht mehr bin, wird
vielleicht jemand einen alten Safe öffnen und darin dieses Geständnis vorfinden.
Das gäbe zweifellos einen gewaltigen Aufschrei in der Öffentlichkeit. Denn dass
jemand im zarten Alter von achtundzwanzig Jahren in aller Seelenruhe sechs
Familienmitglieder umgebracht und dann, ohne Reue zu empfinden, weitergelebt
hat, als wäre nichts geschehen, dürfte für die meisten Menschen unbegreiflich
sein.
kapitel 1

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug schlägt mir dieser wunderbare Schwall
heißer Luft entgegen, der allen Briten einen Ausruf der Überraschung entlockt,
wenn sie bei der Landung an einem heißen Ort daran erinnert werden, dass der
Rest der Welt sich eines Klimas erfreut, das nicht nur zwischen grau und kalt
schwankt. Ich bin Expertin im schnellen Durchqueren von Flughäfen, und heute
lege ich mich besonders ins Zeug, denn ich will meinen leidigen Sitznachbarn
abhängen.
Amir stellte sich vor, kaum dass ich angeschnallt war. Ich schätzte ihn auf Mitte
dreißig. Sein Hemd war so eng, dass sich darunter – fast wie im Comic – seine
Brustmuskeln abzeichneten. Dazu trug er aus unerfindlichen Gründen eine
glänzende Jogginghose. Das Schlimmste an seinem Outfit, sozusagen das
Sahnehäubchen auf dieser stillosen Torte, waren die Schlappen an seinen Füßen.
Badelatschen von Gucci mit dazupassenden Socken. Um Gottes willen. Ich
spielte mit dem Gedanken, die Stewardess um einen anderen Sitzplatz zu bitten,
doch sie war nirgendwo zu sehen. Also war ich zwischen dem aufgetakelten
Superhelden und dem Fenster gefangen, als das Flugzeug zur Startbahn rollte.
Amir reiste nach Marbella – genau wie ich, auch wenn ich ihm das niemals
verraten hätte. Er sagte, er sei achtunddreißig, im Disco-Geschäft, und sprach
ständig davon, irgendwas »groß aufzuziehen«. Während er vom Lifestyle in
Marbella ganz allgemein und speziell dem in Puerto Banús schwärmte und davon
schwafelte, wie schwer es sei, seine Lieblingsautos für die Sommersaison nach
Spanien zu überführen, schloss ich gelangweilt die Augen. Obwohl meine
Körpersprache mehr als eindeutig war, gab mein Sitznachbar keine Ruhe und
drängte mir schließlich doch noch ein Gespräch auf. Ich wolle meine beste
Freundin besuchen, erzählte ich ihm. Nein, sie wohne nicht direkt im Viertel
Puerto Banús, sondern weiter landeinwärts, und dass wir in die Stadt kämen, um
uns im Glitter-Club zu amüsieren, sei deshalb eher unwahrscheinlich.
»Brauchst du ein Auto?«, fragte der Muskelprotz. »Ich könnte dir eine krasse
Karre klarmachen. Sag einfach Bescheid, und ich besorg dir einen schicken Benz
für den Urlaub.« Ich lehnte höflich ab, gab ihm dann entschieden zu verstehen,
dass ich noch zu arbeiten hatte, und klappte mein Notebook auf.
Mit Beginn des Landeanflugs nutzte Amir die Gunst der Stunde: Er ermahnte
mich, meinen Laptop zu schließen, und verwickelte mich erneut in ein Gespräch,
wobei ich sorgsam darauf achtete, weder meinen Namen noch andere
persönliche Informationen preiszugeben. Die unnötige Aufmerksamkeit machte
mich wütend. Ich hatte mich bewusst für eine schwarze Hose, eine Bluse und
gegen Make-up entschieden, um auf dem Flug nicht aufzufallen. Kein Schmuck.
Keinerlei persönlicher Touch. Nichts, woran man sich bei einer Vernehmung
erinnern könnte. Zu der es allerdings nie kommen wird, denn ich bin bloß eine
junge Frau auf dem Weg in den Urlaub – wie so viele andere auch.
Amir hatte seine Chance, und zwar gegen meinen Willen. Noch eine wird er
nicht bekommen. Deshalb drängele ich mich an der Passkontrolle mit einem
entschuldigenden Lächeln bis zum Schalter vor und marschiere geradewegs zur
Gepäckausgabe. Als die Halle sich füllt, verschwinde ich hinter einer Säule und
starre auf mein Handy. Nach ein paar Minuten erspähe ich meine Tasche. Ich
fische sie vom Förderband und eile dann schnurstracks Richtung Ausgang. Da
kommt mir ein Gedanke.
Als Amir die Abfertigungshalle verlässt, lehne ich draußen am Geländer. Er
zieht den Bauch ein, pumpt die Brust auf und winkt mir strahlend zu. An seinem
Handgelenk funkelt eine goldene Uhr.
»Ich hab dich schon gesucht!«, sagt er.
»Sorry, ich will mittags bei meiner Freundin sein, deshalb bin ich ziemlich in
Eile, aber ich möchte mich wenigstens verabschieden.«
»Dann lass uns doch mal zusammen ausgehen«, probiert er es erneut. »Gib mir
deine Nummer, und wir schließen uns kurz.« Keine Chance! Aber ich muss ihn
bei Laune halten, um das zu kriegen, was ich von ihm will.
»Sorry, ich hab ein neues Handy und kann mir die Nummer einfach nicht
merken«, erwidere ich lächelnd und berühre ihn sanft am Arm. »Weißt du, was?
Du gibst mir einfach deine Nummer, und dann melde ich mich bei dir.« Als ich
sie notiert habe, will er mich bei meiner Freundin absetzen. Ich lehne dankend
ab, verabschiede mich, gehe ein paar Schritte und drehe mich dann doch noch
einmal um.
»Amir«, rufe ich ihm nach. »Dein Angebot mit dem Auto, steht das noch?«


Nicht ganz zwei Stunden später erreiche ich nach einer einigermaßen
entspannten Mietwagenfahrt die Ferienwohnung. Ich habe sie bei Airbnb
gefunden, aber mit der Vermieterin abgesprochen, dass ich bar bezahle. Als ich
ihr die doppelte Summe anbot, war sie sofort einverstanden, den Deal unter der
Hand zu regeln. Indem ich auf diese Weise die Registrierung im Internet umging,
konnte ich es vermeiden, meinen richtigen Namen anzugeben. Die Miete ist
unfassbar teuer, besonders in der Hauptsaison, aber ich habe auf der Arbeit nur
diese Woche freibekommen. Die Gelegenheit, endlich meinen von langer Hand
vorbereiteten Plan umsetzen zu können, war mir das viele Geld wert. Die
Wohnung ist winzig und stickig. Die Einrichtung erinnert an eine
Achtzigerjahre-Kosmetikklinik – dekoriert mit Porzellanpuppen. Ich würde mir
liebend gerne die Beine vertreten und runter ans Meer gehen, aber meine Zeit
hier ist knapp bemessen, und es gibt enorm viel zu tun.
Ich habe alles recherchiert, was sich über zwei alte Heuchler mit einem absurd
kleinen Online-Fußabdruck in Erfahrung bringen lässt. Daher bin ich mir
ziemlich sicher, wo ich die beiden heute Abend finden werde. Die spärlichen
Einträge auf Kathleens Facebook-Seite (das arme Ding hat einen öffentlichen
Account, und Privatsphäre-Einstellungen sind für alte Leute Gott sei Dank ein
Buch mit sieben Siegeln) verraten mir nicht nur, dass sich das Ehepaar Artemis
über die vielen Spanier in Spanien aufregt, sondern auch, dass die beiden
Senioren einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, zwischen einem direkt an
der Uferpromenade gelegenen Restaurant namens Villa Bianca und einem
Casino im Umland zu pendeln. Ich habe für heute Abend einen Tisch im
Restaurant reserviert.
Nur damit das klar ist: Ich habe keine Ahnung, was ich tue. Ich bin jetzt
vierundzwanzig. Ich hatte jahrelang Zeit, darüber nachzudenken, wie ich meine
Mutter am besten räche. Und gerade unternehme ich den ersten großen Schritt,
dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bisher beschränkten sich meine
Bemühungen darauf, die Karriereleiter hochzuklettern, Geld beiseitezulegen,
Nachforschungen zu meiner Familie anzustellen und Wege zu finden, wie ich an
sie herankomme. Alles hilfreich, aber todlangweilig. Ein Opfer, das ich gerne
bringe, um an mein Ziel zu gelangen. Doch es ist verdammt hart, so zu tun, als
könnte ich mich für Kundenbefragungen erwärmen. Oder für die After-Work-
Drinks, zu denen sich die Belegschaft jeden Freitag trifft und die nur dem Wort
nach »unverbindlich« sind. Hätte ich gewusst, dass ich einmal Jägermeister-Red-
Bull mit Menschen trinke, für die es das höchste der Gefühle ist, im Marketing
zu arbeiten, dann hätte ich ein zweites Loch im Hintern als ernst zu nehmende
Alternative betrachtet. Vielleicht habe ich es mit der Umsetzung dieses ersten
Schritts deshalb so eilig, weil ich mir unbedingt beweisen will, dass ich
vorankomme und tatsächlich schaffen werde, was ich mir mit dreizehn in den
Kopf gesetzt habe. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass ich viel zu
schlecht vorbereitet bin. Dabei wollte ich zum Zeitpunkt meiner Ankunft in
Marbella längst eine wasserdichte Taktik, eine exakte Route, einen detaillierten
Zeitplan und eine ausgebuffte Verkleidung in petto haben. Stattdessen hocke ich
in einer Wohnung, in der es riecht, als wäre der Familienhamster unter einem
Schrank krepiert, und die ahnungslose Mutter hätte den ominösen Gestank sechs
Monate lang mit Unmengen von Bleiche bekämpft. Ich habe einen Plan im
Kopf, aber keine Ahnung, ob es mir gelingen kann, ihn zu verwirklichen. Die
Perücke, die im Neonlicht des Beauty-Shops in Finsbury Park noch überzeugend
aussah, erscheint mir unter der Sonne Spaniens bedenklich leicht entflammbar.
Wegen der mangelhaften Vorbereitung habe ich zwar regelmäßige Panikschübe,
doch inzwischen erfasst mich auch eine gewisse Vorfreude. Beim Schminken
und Aufsetzen der Perücke fühle ich mich wie vor einem tollen Date und
keineswegs so, als stünde ich im Begriff, meine Großeltern zu töten.


Das ist natürlich überzogen. Heute Abend werde ich sie noch nicht umbringen,
denn das wäre nicht besonders schlau. Ich muss mir erst einen persönlichen
Eindruck von ihnen verschaffen und ihre Unterhaltungen belauschen, um
vielleicht den einen oder anderen Hinweis darauf zu bekommen, was sie diese
Woche so vorhaben. Ich muss die Strecke zu ihrer Villa abfahren, am besten
gleich mehrfach, und deshalb brauche ich unbedingt den Wagen, den mir Amir
versprochen hat. Dieses Auto ist entweder ein Zeichen, dass ich hoffnungslos
chaotisch bin und meine Pläne besser verschieben sollte, oder es ist eine Fügung
des Schicksals. Wir werden sehen!
Ich habe vor langer Zeit beschlossen, dass Kathleen und Jeremy Artemis die
Ersten sein werden, die uns verlassen müssen, und zwar aus mehreren Gründen.
Allen voran, weil sie alt sind. Das macht sie entbehrlich. Alte Leute, die nichts
tun, außer ihre Rente zu verprassen und in ihrem Lieblingssessel zu verblöden,
sind meiner Meinung nach nicht unbedingt das beste Aushängeschild für die
Menschheit. Schön und gut, dass Menschen dank medizinischer Hilfe, Fitness
und gesunder Ernährung heute sehr viel länger leben als noch vor einigen
Jahren. Nur leider sind sie zu nichts mehr nütze, blockieren Krankenhausbetten
und werden immer engstirniger, bis sie nur noch geifernde Nervensägen sind, die
das künftige Arbeitszimmer okkupieren.
Jetzt tun Sie doch nicht so schockiert – ich weiß genau, dass Ihnen dieser
Gedankengang auch nicht fremd ist. Wir sollten unser Leben genießen, um dann
mit siebzig das Zeitliche zu segnen – nur ausgesprochene Langweiler wollen auf
Teufel komm raus hundert Jahre alt werden. Die Belohnung dafür besteht eh
nur aus ein paar spärlichen Worten der Queen. Im Grunde tue ich uns allen
einen Gefallen. Die beiden führen ein unglaublich sinnentleertes Leben: ein Glas
Wein zum Mittag, dann ein Nickerchen und ein kurzer Shoppingtrip in die Stadt,
um dort grässlichen Schmuck oder eine protzige Armbanduhr zu kaufen. Er
spielt Golf, und sie verbringt eine Menge Zeit damit, sich ihr Gesicht aufspritzen
zu lassen, was zu dem grotesken Ergebnis führt, dass sie mehr und mehr wie ein
greises Kleinkind aussieht. Das ist die reinste Verschwendung von Lebenszeit –
und außerdem sind sie üble Rassisten. Überlegen Sie doch mal: Die beiden leben
in Marbella, sprechen aber kein Wort Spanisch. Muss ich dazu noch mehr sagen?
Natürlich handele ich nicht uneigennützig. Ich bin kein Harold Shipman, der
Senioren umbringt, wo er geht und steht. Ich will nur zwei von ihnen töten, der
Rest kann unbehelligt Emmerdale glotzen und geschmacklose Mitbringsel für die
langweiligen Besuche bei den armen Enkeln kaufen. Diese beiden sind meine
Großeltern, und trotzdem haben sie mir noch keine einzige Toblerone gekauft,
denn wir sind uns nie begegnet. Dabei wissen sie durchaus von mir.
Ich erkläre es Ihnen: Über viele Jahre war ich völlig ahnungslos, denn ich
dachte, mein Vater Simon hätte mich erfolgreich verschwiegen. Doch neulich
war Helene in London. Sie ist eine alte Freundin meiner Mutter, und bei einer
Flasche Wein gestand sie mir, dass sie den beiden einen Besuch abgestattet hatte.
Das war kurz vor ihrem Umzug nach Paris, der auch schon eine Ewigkeit
zurückliegt. Sie hatte damals das Gefühl, dass sie der Freundschaft zu meiner
wunderschönen Mutter nicht gerecht wurde – weil sie mich in England
zurückließ. Arme tote Marie. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, war
Helene nichts Besseres eingefallen, als das Internet nach meinen Großeltern zu
durchforsten. Im Handelsregister hatte sie schließlich ihre Londoner Adresse
gefunden.
Ich war verrückt auf jedes neue Puzzleteil, mit dem ich meine Erinnerungen
vervollständigen konnte. Deshalb wäre ich fast über den Tisch geklettert, um zu
hören, was die beiden Helene zu sagen hatten. Natürlich war ich schon einige
Male bei ihrem Haus gewesen, bevor sie ganz nach Spanien umsiedelten.
Stundenlang hatte ich dort auf der Lauer gelegen. Hin und wieder war ich ihnen
gefolgt, wenn ihr Fahrer sie mit der Limousine irgendwohin kutschiert hatte.
Doch mit ihnen zu sprechen … das war noch mal etwas völlig anderes. Ich war
beeindruckt von Helenes Courage, allerdings war ich auch sauer, dass sie diese
Begegnung nie zuvor erwähnt hatte.
Mir zu erzählen, wie schrecklich dieses Treffen verlaufen war, fiel ihr
offenkundig schwer – sie konnte mir kaum in die Augen sehen. Meine
Großeltern hatten ihr damals die Haustür vor der Nase zugeschlagen, kaum dass
Helene ihnen gesagt hatte, wer sie war. Doch da sie sich nicht abwimmeln ließ,
gewährten sie ihr schließlich widerwillig Einlass. Nachdem sie ihnen von mir
erzählt hatte, hatten die beiden ihr ungerührt eröffnet, dass sie über mich und
meine »grässliche« Mutter genau im Bilde seien.
Während ich das Gehörte sacken ließ, kratzte ich mir mit fiependen Ohren den
Hals, als könnte ich den immer dicker werdenden Kloß auf diese Weise lösen.
Sie waren über mich informiert, seit ihr »armer« Sohn eines Nachts
ungewöhnlich spät bei ihnen aufgetaucht und nervös im Wohnzimmer auf und
ab getigert war, um ihnen schließlich zu gestehen, er stecke in der »Patsche«.
Laut Jeremy, der wohl die meiste Zeit sprach, während Kathleen stocksteif auf
der Sofakante hockte und an einem Gin Tonic nippte, hatte Simon seiner Frau
Janine wohl ursprünglich die Wahrheit sagen und seine Eltern darum bitten
wollen, mich finanziell zu unterstützen.
»Zumindest was das betrifft, beabsichtigte er also offenbar, das Richtige zu
tun«, murmelte Helene beinahe entschuldigend, nestelte in ihrem Haar herum
und trank einen Schluck Wein. Ich ignorierte die Bemerkung und bat sie
fortzufahren. Die armseligen Versuche dieses Mannes, sein Gewissen zu
beruhigen, interessierten mich nicht im Geringsten.
Jeremy hatte Helene selbstgefällig erzählt, dass er und seine Frau stundenlang
auf ihren Sohn eingeredet hätten, um ihm diese Ideen auszutreiben und ihn zu
überzeugen, dass Marie von Anfang an bloß auf sein Geld scharf gewesen wäre
und Janine sich von diesem Schock nie wieder erholen würde. »Simon hat einen
dummen Fehler gemacht, wie viele andere junge Männer auch«, hatte er zu
Helene gesagt. »Und es tut mir leid, dass dieses junge Mädchen ohne Eltern
aufwachsen muss, aber es gibt viele Menschen, die Schlimmeres erlitten haben.
Ich selbst habe in jungen Jahren meine Mutter verloren und trotzdem niemals
fremde Leute um Almosen angebettelt.«
Helene hatte entgegnet, dass Marie von Simons Vermögen anfangs genauso
wenig gewusst habe wie von seiner Ehe, und war schließlich sogar laut
geworden. Doch bei meinen Großeltern war sie damit auf taube Ohren
gestoßen. »Diese Frau wollte unseren Sohn aus Geldgier ruinieren«, hatte
Kathleen sie angebrüllt und war echauffiert vom Sofa aufgesprungen. »Wenn Sie
wirklich glauben, wir würden es zulassen, dass die Tochter Ihrer Freundin uns
mit diesem Nonsens erneut behelligt, dann sind Sie genauso naiv wie diese
Marie.« Und damit war das Gespräch mehr oder weniger vorbei gewesen. Wie
Helene, nachdem sie das Glas Wein geleert hatte, gestenreich schilderte, war
Kathleen plötzlich in lautes Schluchzen ausgebrochen und hatte mit den Fäusten
auf die Brust ihres Mannes eingetrommelt. Worauf Jeremy seine Frau an den
Handgelenken gepackt und mit Gewalt genötigt hatte, sich wieder zu setzen, um
sich anschließend erneut Helene zuzuwenden. »Das haben Sie jetzt davon: Sie
haben meine Frau aufgeregt und uns den Abend verdorben. Verlassen Sie sofort
mein Haus und denken Sie nicht einmal im Traum daran, diese Nummer bei
meinem Sohn abzuziehen. Dann bekommen Sie es so schnell mit unseren
Anwälten zu tun, dass Sie obdachlos sind, bevor es zur Verhandlung kommt.«
»Da hatte ich wirklich weiche Knie«, erinnerte sich Helene. »Denn plötzlich sah
er richtig irre aus. Sein akkurat frisiertes graues Haar war ganz wirr, und seine
Augen traten hervor. Aber das Merkwürdigste war, dass er mit einem Mal ganz
anders sprach. Am Anfang klang er noch wie ein waschechter Gentleman, aber
als ich ging, war seine Aussprache so hart, dass er mich an die Marktschreier in
meiner Heimatstadt erinnerte. Das alles tut mir schrecklich leid, Grace. Ich habe
es ehrlich versucht. In der Hoffnung, dass Simons Eltern aufgeschlossener und
mitfühlender wären. Meine Güte, ich habe wirklich geglaubt, dass sie ihre
wunderschöne Enkeltochter sicher gerne kennenlernen würden! Von wegen.
Mag ja sein, dass diese Leute es im Leben zu etwas gebracht haben, aber hinter
dieser Fassade sind sie nicht besser als gewöhnliche Strauchdiebe.«
Sie sind also alt, sie sind gemein, und sie nehmen Platz weg, der in dieser Welt
immer kostbarer wird. Das allein wäre Grund genug, sie ihrem Schöpfer auf
ungemütlichere Weise zuzuführen, als dieser es ursprünglich für sie angedacht
hatte. Aber wenn ich ehrlich bin, war für mich vor allem der Umstand
entscheidend, dass die beiden von Anfang an Bescheid wussten. Sie wussten von
meiner Mutter. Sie wussten von mir. Und sie haben nicht nur tatenlos
zugesehen, sondern ihren Sohn bewusst indoktriniert, die Verantwortung
ausschließlich bei Marie, Helene, den Clubs und seinen Freunden zu suchen, die
ihn vom rechten Weg abgebracht hatten. Sie beschuldigten so ziemlich jeden
außer Simon. Der entzog sich seinen väterlichen Pflichten, und seine Familie
unterstützte ihn dabei nach Kräften. Ich dachte stets, sie wären ahnungslos
gewesen, dass ihr Sohn sein Kind verleugnet und dessen Mutter im Stich
gelassen hatte. Aber nein, sie haben es so gewollt. Und das gab am Ende den
Ausschlag für meine Entscheidung: Sie müssen als Erste sterben.


Ich gehe davon aus, dass meine Großeltern es wie die meisten alten Leute halten
und früh zu Abend essen. Deshalb bin ich um achtzehn Uhr am
Strandrestaurant. Ich habe um einen Tisch auf der Terrasse gebeten, doch das
Restaurant ist deutlich größer, als es im Internet wirkt, und ich befürchte, sie
könnten sich so weit wegsetzen, dass ich kaum ein Wort verstehe. Ich bestelle
ein Glas Weißwein (ich trinke gerne mal ein Glas Wein, und weil die Latimers
immer schon großen Wert auf einen guten Tropfen legten, entscheide ich mich
für einen Rioja) und schlage das Buch auf, das ich extra mitgebracht habe, damit
nicht allzu offensichtlich wird, dass ich lausche. Der Graf von Monte Christo ist
zwar eine etwas zu offensichtliche Wahl, beim Einpacken konnte ich mir das
Schmunzeln dennoch nicht verkneifen. Ich muss nicht lange warten, bis das
Ehepaar Artemis eintrifft: Kaum habe ich die erste Seite umgeblättert, bemerke
ich aus den Augenwinkeln Bewegung an der Bar. Meine Großeltern sind nicht
allein: Vier ältere Herrschaften werden von zwei Kellnern Richtung Terrasse
geführt. Ich verharre mucksmäuschenstill und wage es nicht, den Blick zu heben,
höre aber, dass sie näher kommen. Dann ertönt eine laute Stimme: »Nein, nicht
diesen Tisch, Andreas, der steht in der prallen Sonne. Wir nehmen den
dahinten.« Die Gruppe dreht ab und bewegt sich zur anderen Terrassenseite.
Fick dich doch, Kathleen.
Nachdem sie Platz genommen haben, nörgeln sie ausgiebig über den Wind,
bevor sie schließlich die Getränkebestellung aufgeben, was sich dank ihrer
Entscheidungsschwierigkeiten ebenfalls endlos in die Länge zieht. Schließlich
riskiere ich einen Blick. Das Ehepaar Artemis sitzt mit dem Gesicht und das
befreundete Paar mit dem Rücken zu mir. Kathleens Föhnwelle würde selbst
Joan Collins vor Neid erblassen lassen. Diese aschblonde Betonfrisur wirkt so
wehrhaft, dass der gefürchtete Wind sich nicht einmal in die Nähe wagen würde.
Die diversen kosmetischen Eingriffe in ihrem Gesicht sind selbst aus einiger
Entfernung nicht zu übersehen. Dieser leicht überraschte Ausdruck ihrer Augen
soll wohl kokett wirken, sieht jedoch einfach nur geisteskrank aus. Sie trägt eine
beigefarbene Hose zur beigefarbenen Tunika. Ihre obszön große Chanel-Tasche
thront mitten auf dem Tisch. Um ihren Hals hängt eine dicke Kette aus … ich
kann die Steine nicht genau erkennen, vermute aber mal, dass es keine Zirkonia-
Klunker sind. Da alle vier in die Speisekarten vertieft sind, kann ich es mir
erlauben, ein wenig genauer hinzuschauen. Ich frage mich gerade, ob ich wohl
irgendwelche Ähnlichkeiten mit dieser frustriert dreinblickenden Alten habe, da
klatscht sie in die Hände, und ich sehe ihre Fingernägel: spitz gefeilt und in
einem klassischen Feuerwehrrot lackiert. Na danke, Kathleen. Im Gegensatz zu
ihren Händen sind meine, in denen ich immer noch das zwischenzeitlich
vergessene Buch halte, lang und schlank. Doch meine Nägel sind ebenfalls spitz
und knallrot.
Nachdem ich ein paar Minuten so getan habe, als wäre ich in mein Buch
vertieft, winke ich den Kellner herbei und frage höflich nach einem Platz im
Schatten. Keinen Moment zu früh, denn allmählich beschleicht mich die
Befürchtung, meine Perücke könnte in dieser Hitze schmelzen. Die Terrasse ist
gut besucht, aber nicht ausgebucht, und ich werde tatsächlich zu einem Tisch
geführt, der direkt neben dem meiner Großeltern steht. Viel besser. Ich will
hören, worüber sie reden. Klar, sie sind viel zu borniert, als dass ich aus ihren
Gesprächen etwas Interessantes oder Aufschlussreiches über ihren Charakter
lernen könnte, aber vielleicht kann ich in Erfahrung bringen, was sie diese
Woche vorhaben. Da ich nur fünf Tage freibekommen habe, bleibt mir nicht viel
Zeit. Ich bestelle eine Auswahl an Tapas, dazu ein weiteres Glas Wein und
schlage abermals mein Buch auf. Jeremy mustert mich mit einem Blick, wie ihn
jede Frau kennt. Mit Gönnermiene goutiert der alte Sack meine jugendliche
Erscheinung und hat vermutlich keine Ahnung, was für ein trauriges Bild er
dabei abgibt. Ich werfe ihm ein kurzes Lächeln zu. Zum einen, weil es mich
amüsiert, dass mein Großvater ein Auge auf mich wirft, zum anderen, um ihn
glauben zu lassen, ich fände Gefallen daran. Doch da kommen auch schon die
Kellner und servieren ihnen das Essen. Beim Blick auf die Teller wird mir klar,
warum keiner der vier eine Bestellung aufgegeben hat: Die ganze Gruppe
bekommt Steak mit Pommes frites. Vermutlich kam kein anderes Gericht auf
der Karte infrage. Steak mit Pommes muss es sein. Bloß nichts probieren, was
man nicht kennt. Bloß nichts Neues wagen. Was für schäbige Kleingeister. Und
das alles verrät mir ein Steak. Was mir da wohl erst ihre Bücherregale erzählen
könnten. Nur ein Scherz – die haben ganz sicher keine Bücher im Haus.
Die Gruppe diskutiert über gemeinsame Freunde aus dem Golfklub und lästert
über einen gewissen Brian, der sich bei einer Benefizauktion offenbar gründlich
blamiert hat. Armer Brian, wie demütigend muss es sein, von der Gemeinschaft
der grenzsenilen Auswanderer ausgeschlossen zu werden. Kathleen und die
andere Frau, die aussieht wie eine dickere Kathleen mit einer kleineren Chanel-
Tasche, schimpfen über einen Friseur, der wohl ewig lange Wartezeiten hat und
ihrer Freundin letzten Montag keinen Termin geben wollte. Meine
Konzentration schwindet. Ich will so viel wie möglich in Erfahrung bringen –
aber halleluja, diese Leute machen es mir nicht einfach.
Ob ich mir noch einen Wein erlauben kann? Oder sabotiere ich damit meine
eigene Mission? Ach, was soll’s. Ich bestelle ein weiteres Glas und stochere in
den restlichen Tapas herum. Mein Essen ist irritierend gummiartig und sieht aus,
als wäre es nicht aus dem Meer gefischt, sondern in einem Lagerhaus neben der
Autobahn gezüchtet worden. Vielleicht hat die Gruppe am Nachbartisch, die
inzwischen beim Kaffee angelangt ist, mit dem Steak alles richtig gemacht.
Kathleen echauffiert sich über einen Fleck auf Jeremys Schlips, einer
Klubkrawatte mit einem wappenartigen Logo darauf. Ich wette, Jeremy ist
Freimaurer. Das würde wie die Faust aufs Auge passen. Der Mann der fetten
Freundin fragt, wann die Artemis mal wieder ins Casino gehen, und erwähnt
dabei einen Umtrunk am kommenden Donnerstag.
»Ja, da wollen wir hin«, sagt Jeremy gereizt und wischt die von Kathleen
angebotene Serviette brüsk zur Seite. »Wir sind um halb acht mit den Beresfords
zum Essen verabredet und schauen auf dem Rückweg dort vorbei.«
»WO GEHT IHR ESSEN?«, will ich sie anschreien. Doch statt das weiter
auszuführen, verlangt Jeremy mit einem schroffen Wink nach der Rechnung. Als
diese gebracht wird, greift der andere Mann sofort nach der Untertasse mit dem
Beleg. »Wir übernehmen das«, sagt er zu meinen Großeltern. »Ich bin mir sicher,
dass wir an der Reihe sind – nein, bitte, ich bestehe darauf.« Eine goldene
Kreditkarte wird auf den Teller geworfen, und nach einem halbherzigen
Einspruch gibt Jeremy kommentarlos klein bei. Als er erneut zu mir
herüberblickt, senke ich den Kopf. Er soll sich mein Gesicht nicht einprägen.
Nicht, dass mir das große Sorgen bereiten würde, denn vermutlich verbringt er
viel Zeit mit dem Angaffen von Frauen, die jung genug sind, um seine
Enkeltöchter zu sein. Ich schätze, nur die wenigsten sind es tatsächlich, aber in
Anbetracht von Simons Trefferquote bei Auswärtsspielen bin ich mir da gar
nicht so sicher.
Als die Gruppe aufbricht, kann ich Jeremys Krawatte genau inspizieren. Ich lag
falsch. Er ist kein Freimaurer. Auf dem grünen Signet prangen in Gelb die
Lettern »R« und »C«. Eine rasche Googlesuche verrät mir, dass es sich um das
Logo des Regency Clubs handelt. Ein im Jahre 1788 im Londoner Stadtteil
Mayfair gegründeter, sogenannter Gentlemen’s Club, wo die Herren – bevorzugt
reich und von Adel – unter sich sind, wenn sie sich mal ohne ihre Frauen treffen
wollen. Fast muss ich lachen. O ja, Jeremy, ich weiß um deine bescheidenen
Anfänge in einer Zwei-Zimmer-Absteige in Bethnal Green – die Mutter
Näherin, der Vater ein Versager, der sich verpisst hatte, noch bevor du fünf
warst. Simon hat in Interviews voller Stolz darüber gesprochen. Denn seiner
Meinung nach zeigt es, dass eure Familie hart gearbeitet hat, um es in der Welt
zu etwas zu bringen. Da stehst du nun mit deiner Krawatte und bildest dir ein,
sie wäre ein Symbol für deinen Status und das Prestige – das du dir mit deinem
vielen Geld erkauft hast. Manche finden so was bewundernswert. Ich auch, denn
schließlich habe ich dasselbe Ziel: der Armut zu entkommen und die Karten, die
mir bei meiner Geburt gegeben wurden, neu zu mischen. Aber ich kenne dich.
Ich weiß, wie sehr du deine Herkunft verabscheust, egal wie sehr du sie
verbrämst. Als du gebeten wurdest, deinem eigenen Fleisch und Blut aus ganz
ähnlichen Verhältnissen herauszuhelfen, da hast du den Schwanz eingekniffen,
denn du hast in mir deine eigene Vergangenheit gesehen. Helene hatte recht. Du
bist bloß ein gewöhnlicher Strauchdieb; das können auch deine Privatklubs und
teuren Klamotten kaum verschleiern. Aber trag du ruhig deine Krawatte
spazieren – bis Donnerstag ist es nicht mehr lange.
Auf dem Rückweg in die Ferienwohnung beobachte ich das Treiben auf der
Promenade von Puerto Banús. Die Boutiquen sind voll: tratschende
Freundinnen, die mit reich verzierten Kleidern vor den Spiegeln posieren.
Schnatternde Teenagermädchen laufen vorbei, das einzige Thema ist ihr
sonnengebräunter Teint. Ich frage mich, ob ich im Schoß der Familie Artemis
wohl auch zu so einer leeren Hülle herangewachsen wäre. Ich lese Bücher, ich
verfolge das Weltgeschehen, ich habe eine Meinung – und das nicht nur zu
Schuhen und Golfklubs. Kein Zweifel: Ich bin besser als diese Leute, doch sie
scheinen glücklich zu sein – trotz ihrer Beschränktheit. Oder vielleicht gerade
deswegen. Warum sollten sie sich den Kopf zerbrechen? Keiner dieser Idioten
sorgt sich wegen des Klimawandels. Ihre Sorge gilt der Frage, was sie morgen
auf der Jacht anziehen sollen. Das ist faszinierend zu beobachten, aber meine
Zeit ist leider knapp bemessen. Nach getaner Arbeit werde ich nicht mehr an
diesen Tummelplatz der oberen Zehntausend zurückkehren. Vielleicht sollte ich
mir ein Souvenir kaufen. Ich betrachte die Schaufenster mit überteuertem
Schrott. Ich habe weder das nötige Geld noch das Bedürfnis, mir ein
pelzbesetztes Kaftankleid zuzulegen – nicht mal als Gag. Außerdem weiß ich
schon, was für ein Andenken ich mitnehmen werde, und das wird mich nichts
kosten.
Am nächsten Morgen gehe ich zum Strand, um zu joggen. Anschließend statte
ich dem Haus meiner Großeltern einen Besuch ab. Gut versteckt vor dem Pöbel,
steht die imposante Villa in einer gesicherten Wohnanlage, geschützt durch
große Tore und einen gelangweilten Sicherheitsmann in einer Pförtnerloge. Zu
seinen Aufgaben gehört es vermutlich auch, die Besucher zu kontrollieren.
Trotzdem winkt er mich anstandslos durch, als ich behaupte, ich käme von der
Boutique Afterdark, um Mrs. Lyle in der Nummer 8 ihr Kleid zu bringen. Ich
habe darauf spekuliert, dass kontinuierlich Fahrzeuge das Tor passieren, weil die
gelangweilten Damen in ihren makellos weißen Villen sich regelmäßig neue
Klamotten oder die Nageldesignerin ins Haus kommen lassen. Für den Fall, dass
später jemand Fragen stellt, erwähne ich den Namen Artemis mit keinem Wort.
Das Gebäude mit der Nummer 9 sieht den Villen mit den Hausnummern 8
und 10 zum Verwechseln ähnlich: strahlend weißer Putz, Terrakotta-Fliesen bis
zur Haustür, eine palmengesäumte Veranda. Der perfekt gemähte Rasen ist trotz
der sengenden Hitze saftig grün. In einer Anlage wie dieser, wo die Menschen
abgeschirmt vom Rest der Gesellschaft leben, sind Bewässerungsverbote wohl
allenfalls Empfehlungen. Ich nehme den Fuß vom Gaspedal und rolle langsam
am Haus vorbei, aber es gibt absolut nichts zu sehen. Auf den breiten Alleen ist
kein Mensch unterwegs, keine Mutter mit Kinderwagen, kein Hundebesitzer, der
Gassi geht. So viel Geld, und alles, was man dafür kriegt, ist Stille. Wobei ich
Stille durchaus zu schätzen weiß. Jeder, der an einer Hauptstraße in London
aufwächst, träumt davon, eines Tages ein Zuhause ohne Nachbarn zu haben, die
entweder knallharten Sex haben oder laut schluchzend den Soundtrack von Les
Misérables hören. Doch diese Stille ist künstlich – sie fühlt sich flach und öde an,
wie geschaffen für Menschen, die das wahre, laute Leben gänzlich ausblenden
wollen. Das Haus meiner Großeltern sagt mir nur insofern etwas über seine
Besitzer, als es absolut nichtssagend ist. Ein Haus für reiche Leute, denen Design
völlig egal ist, Status und Sicherheit aber über alles geht. Lynn und Brian haben in
dieser Anlage ein Haus gekauft? Dann kaufen wir eben ein größeres! So simpel ist das. Es
gibt nicht den leisesten Hauch einer persönlichen Note oder irgendeinen
Hinweis auf Aktivität – nur antiseptische Konformität. Als ich den Rückweg
antrete, fühle ich mich leicht deprimiert. Ich teile die Hälfte meiner DNA mit
diesen Menschen. Überkommt mich deshalb ebenfalls irgendwann ein Bedürfnis
nach beigefarbenen Teppichen und einem Dienstmädchen, an dem ich meinen
Frust auslassen kann? Gegen ein Dienstmädchen hätte ich prinzipiell nichts
einzuwenden, aber diese Tristesse, die unweigerlich von ihnen ausgeht,
empfände ich vermutlich als sehr bedrückend. Für Kathleen dürfte das ein
Pluspunkt sein: ständig jemanden vor Augen zu haben, der noch miesepetriger
ist als sie.
Von der Wohnanlage fahre ich zum Casino, die etwa dreißigminütige Strecke
führt über eine ziemlich abenteuerliche Straße. Auf einer Seite fällt ein felsiger
Hang steil ab in eine … Schlucht? Einen Canyon? Keine Ahnung. Wie ich schon
sagte, bin ich an einer Hauptstraße aufgewachsen und hatte immer schon eine –
wie ich finde – gesunde Abneigung gegen weite Landschaften. Die freie Natur
überfordert mich, und zu Hause würde ich dreißig Minuten Autofahrt als
Zumutung empfinden, ganz egal, wohin es geht. Hin und wieder überkommt
mich das Verlangen nach einem kurzen Tête-à-Tête mit einem Mann (ja, ich
spreche von Sex, das Stirnrunzeln können Sie sich schenken), oder ich
verschwende meine Zeit mit stumpfsinnigen Dating-Apps. Bei Mackertypen, die
vor einem BMW posieren, scrolle ich sofort weiter. Als wären teure Autos ein
Indiz dafür, dass diese Kerle es »geschafft« haben, und kein klarer Hinweis
darauf, dass sie dumm genug sind, Leasing für ein gutes Geschäft zu halten.
Dennoch sind eine Protzkarre und ein T-Shirt mit V-Ausschnitt nicht
zwangsläufig Ausschlusskriterien. Schließlich habe ich nicht vor, mit diesen
Männern mein Leben zu verbringen. Sie sind mir nicht mal den Versuch wert,
ihre Namen im Kopf zu behalten. Allerdings gibt es eine klare rote Linie. Wer
mehr als ein paar Kilometer weit weg wohnt, hat keine Chance. Meine Stimmung
schlägt schnell um, und ich warte nicht, bis jemand in King’s Cross umgestiegen
ist oder mich per SMS informiert, dass er wegen Bauarbeiten auf der Strecke den
Ersatzbus nehmen muss. Das spanische Hinterland ist für mich also eine fremde
Welt und das steil abfallende Ding neben der Straße eine verdammte Schlucht.
Es geht höllisch tief runter, und der Hang ist auch noch mit stacheligem
Gestrüpp überwuchert. Auf der ganzen Strecke ist keine Menschenseele zu
sehen. Perfekt. Die Sonne scheint, und der warme Fahrtwind streicht mir über
den Arm im offenen Fenster. Ich schalte das Radio ein. Ein lokaler Sender spielt
»God Only Knows« von den Beach Boys. Der Sound erfüllt den kleinen
Mietwagen, während ich im Schneckentempo dem Casino entgegenkurve.
Natürlich glaube ich nicht an Gott. Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft, der
Ära der Kardashians – gute Gründe, mich an den gesunden Menschenverstand
zu halten. Ein ernst zu nehmender Gott, einer, der über echte Macht verfügt,
hätte mich außerdem niemals mit diesen Leuten zusammengeführt und mir eine
solche Berufung aufgebürdet. Kein Gott also. Trotzdem überkommt mich das
Gefühl, als würde jemand mit einem Lächeln auf mich herabblicken.
Wo wir gerade bei Gott sind: Es gibt in der Bibel diese Geschichte … na gut,
da moderne Technik darin eine gewisse Rolle spielt, stammt sie vermutlich nicht
aus der Bibel. Zumindest nicht direkt. Eigentlich kenne ich sie aus einem Film.
Sie geht ungefähr so: Ein Mann lebt viele Jahre glücklich und zufrieden in einem
kleinen Häuschen, bis eines Tages jemand vom Katastrophenschutz bei ihm
auftaucht und sagt: »Sir, ein Sturm zieht auf. Wir müssen Sie evakuieren.« Darauf
erwidert der Mann: »Ich danke Ihnen, aber ich bin ein gläubiger Mensch und
habe Gottvertrauen. Der Herr wird mir beistehen.« Der andere Mann geht
wieder, und der Sturm zieht auf. Rund um das Haus steigt das Wasser, ein Schiff
kommt vorbei. »Sir«, sagt der Kapitän, »kommen Sie mit uns, das Wasser wird
weiter ansteigen.« Doch der Mann antwortet: »Ich danke Ihnen, aber ich bin ein
gläubiger Mensch und habe Gottvertrauen. Der Herr wird mir beistehen.« Als
sein Haus überflutet wird, muss der Mann aufs Dach klettern. Ein Hubschrauber
kommt angeflogen. »Sir, klettern Sie diese Leiter hoch, wir können Sie in
Sicherheit bringen.« Der Mann winkt ab. »Ich danke Ihnen, aber ich bin ein
gläubiger Mensch und habe Gottvertrauen. Der Herr wird mir beistehen.« Später
ertrinkt der Mann. Als er in den Himmel kommt und vor Gott steht, sagt er zu
ihm: »Herr, ich war voller Gottvertrauen. Ich habe fest an dich geglaubt und treu
zu dir gestanden. Warum hast du mich im Stich gelassen?« Gott sieht ihn
verärgert an (warum auch nicht, schließlich war der Mann ein Idiot) und sagt:
»David, ich habe dir den Katastrophenschutz, ein Boot und einen Hubschrauber
geschickt. Was machst du hier?«
Mir hat jemand den dämlichen Muskelprotz Amir mit seinen PS-Monstern,
eine gefährliche, kurvenreiche Straße und den glücklichen Umstand geschickt,
dass meine Großeltern dort spätabends unterwegs sein werden. Im Gegensatz zu
dem Volltrottel aus dem Gleichnis bin ich fest entschlossen, diese Chancen
bestmöglich zu nutzen.


Mir bleiben etwas mehr als sechsunddreißig Stunden, um meine Pläne in die Tat
umzusetzen. Ich könnte die Zeit dazu nutzen, meine Großeltern zu beschatten,
um mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Aber ehrlich gesagt sind sie dafür
einfach nicht interessant genug. Also verbringe ich den restlichen Nachmittag an
einem Privatstrand auf einer Sonnenliege, trinke Rosé und lese ein Buch über
eine Frau, die nach Jahren des Psychoterrors und des emotionalen Missbrauchs
ihren Mann umbringt. Der Graf von Monte Christo war mir doch etwas zu heftig.
Allerdings habe ich bis nach hinten durchgeblättert und einen Blick auf die
letzten Seiten geworfen. Fraglos eine schlechte Angewohnheit, doch meine
Schummelei wurde mit der folgenden Zeile belohnt: »Alle menschliche Weisheit
liegt in den zwei Worten ›harren und hoffen‹.«
Harren und hoffen. Seit ich ein Teenager bin, lebe ich nach dieser Devise, und
bald ist es endlich vorbei mit dem Harren. Ich lege die Hand auf meine heiße
Brust, um zu fühlen, ob mein Herz schneller schlägt als gewöhnlich. Aber nein,
mein Puls ist ganz normal. Ich atme so ruhig, als wäre heute ein Tag wie jeder
andere und als stünde ich nicht im Begriff, ein schreckliches Verbrechen zu
begehen. Seltsam. In Gedanken gehe ich immer wieder den Plan durch. Ich stehe
vor lauter Erwartung so unter Dampf, dass er mir eigentlich aus den Ohren
schießen müsste. Trotzdem liege ich hier, getarnt mit einer dunklen Brille, und
mein Herz verrät mich nicht, indem es mir aus der Brust springt. Mein Körper
ist bereit, auch wenn sich mein Hirn verhält wie ein Teenager vor dem ersten
Date.
Später am Abend, bevor ich zu Bett gehe, schicke ich Amir eine Textnachricht
von meinem neu erworbenen Wegwerfhandy. Eines dieser Telefone, die man
laut Edward Snowden kauft, wenn man nicht geortet werden will. In meinem
Fall ist das vielleicht ein wenig übertrieben, schließlich kenne ich keine
Staatsgeheimnisse. Dennoch habe ich den Tipp dankbar angenommen: Ein
zwanzigminütiger Ausflug in einen weniger gepflegten Stadtteil Londons und
sechzig Pfund bar auf die Hand brachten mir dieses altmodische Klapphandy
ein, auf das ich mir an Ort und Stelle ausreichendes Guthaben geladen habe, um
damit auch Textnachrichten zu verschicken. Obwohl es sich als überaus nützlich
erweist, wird es nicht mit nach England zurückkehren. Ich frage Amir, ob er
morgen in der Gegend ist und mir für ein paar Tage ein Auto organisieren kann.
Ich begründe meine Bitte damit, dass ich am Abend aufs Land rausfahren und
mich mit einem größeren Fahrzeug einfach sicherer fühlen würde, was auf
gewisse Weise ja auch stimmt. Die überzeugendsten Lügen enthalten immer ein
Körnchen Wahrheit. Das macht es einem leichter, bei seiner Story zu bleiben
und sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Mein Freund Jimmy ist ein ganz
schlechter Lügner. Man sieht es ihm sofort im Gesicht an. Seine Mundwinkel
verziehen sich zu einem Feixen, wenn er schwindelt. Das ist irgendwie
liebenswert, macht es aber unmöglich, ihm etwas anzuvertrauen. Denn darauf
angesprochen, würde er sofort auffliegen.
Nach dem Aufwachen werfe ich als Erstes einen Blick aufs Telefon. Wie
vermutet hat Amir in den frühen Morgenstunden geantwortet. Sieht nach einer
langen Nacht im Glitter aus. Ich schreibe sofort zurück, bedanke mich für seine
erneute Einladung zu einem gemeinsamen Klubabend und lehne sie dann mit
der Begründung ab, dass ich bereits am Nachmittag aufbrechen müsse. Mir ist
klar, dass ich nicht mit einer simplen Schlüsselübergabe davonkommen werde,
also schlage ich ihm vor, dass wir uns um vierzehn Uhr vor einer Eisdiele an der
Calle Ribera treffen. Da er beim Feiern sicher literweise Champagner getrunken
hat, werde ich wohl frühestens am Mittag von ihm hören, also springe ich unter
die Dusche und schlüpfe dann in ein leichtes Sommerkleid, das mich für Amirs
Geschmack hoffentlich ein wenig zu unscheinbar wirken lässt. Zumindest
kommt es völlig ohne Stretch und Glitzerkram aus. Verglichen mit solchen
Fummeln, wie sie die hiesige Damenwelt bevorzugt, ist es also praktisch ein
Blaumann. In meiner kurzen Zeit in Marbella habe ich den Eindruck gewonnen,
dass die Kombination von Pailletten, Goldknöpfen und Animalprint hier eine
Art inoffizielle Uniform ist. Das und natürlich diese aufgepumpten
Schlauchbootlippen, mit denen die Frauen aussehen, als hätten sie eine heftige
allergische Reaktion auf den Iced Coffee, an dem beim Sonnenbaden alle
nuckeln.
Obwohl ich die Ferienwohnung bis Samstag gemietet habe, rechne ich nicht
damit zurückzukommen. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber ich kann mir in
diesem entscheidenden Moment einfach keine Zweifel erlauben. Ich räume auf,
stecke die Bettwäsche in die Waschmaschine und wische sämtliche Oberflächen
ab. Ich packe meine kleine Reisetasche und lege mir dann alles zurecht, was ich
für den Rest des Tages benötigen werde. In meine Gucci-Umhängetasche, die
ich mir zum Start meines neuen Jobs geleistet habe und mit der ich vermutlich
sogar bei den Ladys in Marbella Eindruck schinden könnte, packe ich mein
Wegwerfhandy, Bargeld, die Perücke, ein Paar Segeltuchschuhe, eine
Taschenlampe, Gummihandschuhe, ein Parfümfläschchen mit Flüssigkeit und
eine Schachtel Streichhölzer. Alles andere – auch mein richtiges Handy, der
Reisepass und die Kreditkarten – wandert in die Reisetasche.
Ich schließe die Wohnungstür ab und stecke den Schlüssel ein – man kann ja
nie wissen. In einem Anflug von Paranoia wische ich mit dem Ärmel über den
Türknauf. Schlagartig wird mir klar, dass ich noch immer zu nachlässig bin – das
muss sich ändern. Wenn ich das durchziehen will, ohne geschnappt zu werden,
dann reicht es nicht aus, mal eben halbherzig über die Oberflächen zu wischen.
Okay, betrachten wir das einfach als einen Testballon. Das Auto parkt gut
dreißig Minuten entfernt, in sicherer Entfernung vom Rummel der Hauptstraße.
Ein gebührenpflichtiger Parkplatz wäre nicht infrage gekommen, da man dort
womöglich das Nummernschild des Wagens erfasst hätte, und näher an der
Wohnung gab es kaum Stellplätze, an denen nicht die Gefahr bestand,
abgeschleppt zu werden.
Schon jetzt ist es brütend heiß, der Schweiß läuft mir über die Brust in den BH.
Ich verstaue die Reisetasche unter dem Fahrersitz und prüfe von allen Seiten, ob
sie auch wirklich nicht zu sehen ist. Dann laufe ich zurück in die Stadt. Ich biege
aus Versehen falsch ab und lande am Meer. Nachdem ich ein paar Stunden lang
die Zeit in einem Café totgeschlagen habe, wo eine Tasse Kaffee fünf Euro
kostet, kommt endlich eine Textmessage von Amir: Hi bb, muss noch 1 bisschen
chillen nach letzter Nacht. Du hast krass was verpasst! Um 3 gehts im Klub Oceania weiter.
Komm doch um 4 auf 1 Drink vorbei, dann kriegst du 1 Karre von mir! :)
Seine Antwort lässt mich fast einen Rückzieher machen. Ich kann mich nicht
mit einem Menschen abgeben, der offenbar nicht imstande ist, die elementarsten
Regeln der Rechtschreibung zu berücksichtigen. Das ist einfach schlechter Stil
und impliziert zudem ein Maß an Ignoranz, das bei einem Teenager vielleicht
entschuldbar, bei einem Erwachsenen aber einfach haarsträubend ist. Mit
mangelnder Bildung lässt sich nicht alles entschuldigen. Meine Schule war weit
davon entfernt, ein zweites Hogwarts zu sein, doch ich habe trotzdem die Zeit
gefunden, den Unterschied zwischen Ziffern und Lettern zu lernen. Amir
augenscheinlich nicht. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, womit er eigentlich
so viel Geld verdient – ganz koscher ist es vermutlich nicht. Aber wer bin ich,
anderen Leuten moralische Vorhaltungen zu machen? Ich überlege kurz, meinen
kleinen Mietwagen zu nehmen, entscheide mich dann allerdings dafür, auf Amirs
Angebot einzugehen. Ich muss mich bloß zusammenreißen, darf mich nicht auf
alkoholische Getränke einladen lassen und sollte abhauen, sobald ich die
Autoschlüssel habe. Puh. In einer Angelegenheit, die eigentlich von mir und mir
ganz alleine erledigt werden sollte, auf die Hilfe eines Mannes (noch dazu eines
Mannes, der Panorama-Sonnenbrillen trägt) angewiesen zu sein, widerstrebt mir
zutiefst, aber ich muss realistisch bleiben. Außerdem springt für Amir dabei
nichts raus. Wenn alles nach Plan läuft, ist er danach genauso klug wie zuvor.
Geht es in die Hose, hat er höllische Probleme am Hals. Das hebt meine Laune,
und ich trinke den Kaffee aus.
Kurz vor fünfzehn Uhr treffe ich am Klub Oceania ein. Der Laden ist
riesengroß. Ein Palast der geistlosen Frivolität. Aber eigentlich ist er nur eine
aufgemotzte Bar, eine Riesenkneipe auf Anabolika. Die Zufahrt steht voller
Sportwagen in schreienden Farben, die einer nach dem anderen von gehetzt
aussehenden Parkservice-Mitarbeitern in weißen Jacketts abgefertigt werden.
Den Eingang blockiert ein Rolls-Royce mit dem Nummernschild »BO55 BO1«.
Ich warte am Empfang, während die Rezeptionistin, für deren tiefe Bräune
mindestens zwei Sonnen nötig waren, im breitesten Slang telefoniert. Ich nehme
an, dass meine Sandalen ohne Absätze und mein braunes Haar ohne Extensions
in ihren Augen nicht gerade »Hier!« schreien, doch schließlich erbarmt sie sich
meiner. Ich trage roten Lippenstift, wie ich ihn immer trage, wenn ich das
Gefühl habe, ich bräuchte so etwas wie einen Schutzschild, abgesehen davon
halte ich es eher schlicht. Ich mag es schlicht. Ich habe ein recht hübsches
Gesicht und empfinde es nicht als arrogant, das auch zu sagen. Wenn Frauen
mal über die Lippen kommt, dass sie sich für attraktiv halten, rudern die meisten
sofort wieder zurück, weil ihnen die Männer immer schon vorhalten, dass sie zu
sehr von sich eingenommen sind. Seien Sie immer so schön, wie Sie können,
aber achten Sie darauf, dass es niemals aussieht, als hätte Ihre Schönheit Sie Zeit
und Mühe gekostet. Vor allem: Verlieren Sie niemals ein Wort darüber. Und
nehmen Sie Reißaus, wenn Ihnen ein Mann unterstellt, Sie wüssten vermutlich
gar nicht, wie schön Sie sind. Das ist nämlich genau der Typ Mann, der von
Ihnen erwartet, ständig Lust auf Sex zu haben, aber keinen Finger krumm macht,
damit Sie dabei auf Ihre Kosten kommen. Ich sehe ganz gut aus. Ich bin nicht
groß, aber schlank und wohlproportioniert. Dunkles Haar, gleichmäßige
Gesichtszüge, schöne volle Lippen, aber kein übertriebener Schmollmund.
Obwohl ich mich gerne im Spiegel betrachte, bin ich nicht davon besessen. Ich
weiß, dass mein Aussehen mir häufig zum Vorteil gereicht. Doch ich bin nicht
meine Mutter, die sich zu sehr auf ihre Schönheit verlassen hat und dann achtlos
fallen gelassen wurde, als diese nicht mehr genug war. Im Vergleich mit den
aufgeplusterten Hühnern, die hier wie die Pfauen umherstolzieren, muss ich für
die Männer in Marbella eine herbe Enttäuschung sein.
Coco Chanel hat mal gesagt, dass eine Frau, bevor sie aus dem Haus geht, eines
ihrer Accessoires ablegen sollte. Eher würden diese Weiber mit ihren
Acrylnägeln der guten alten Coco die Augen auskratzen.
Ich informiere Fräulein Solarium, dass ich mit Amir verabredet bin, der
augenscheinlich ein geschätzter Kunde ist, denn bei der Erwähnung seines
Namens zeigt ihr Gesicht tatsächlich so etwas wie eine Regung. Sie führt mich
durch marmorverkleidete Korridore und vorbei an einem Bibliothekszimmer,
das mit Buchattrappen und Dingen vollgestopft ist, die zwar alt aussehen, aber
hundertprozentig Dutzendware von einem Großhändler sind, der diesen Schrott
an Leute verramscht, die einen Antik-Look haben wollen, sich für die Herkunft
der Stücke jedoch kein bisschen interessieren.
Wir treten hinaus ins grelle Sonnenlicht und befinden uns in einer Art
Freizeitpark für Erwachsene. Es gibt mehrere miteinander verbundene Pools,
alle mit einer Bar in der Mitte, wo die Badenden unter Strohschirmen Cocktails
schlürfen. Laute House-Musik schallt über das Gelände. Zwischen den
Strandliegen eilen Kellner umher und servieren Getränke. Manche Gäste
lümmeln rauchend und quatschend auf großen Betten mit Baldachinen herum.
Kein Mensch hat mehr als seine Badeklamotten am Leib – abgesehen von mir,
und ich habe nicht vor, es ihnen gleichzutun. Ungläubig fällt mein Blick auf ein
Bauchkettchen: Wem der Platz ausgeht, um Edelmetall und Diamanten zur
Schau zu stellen, der hängt sich das Zeug halt um die Taille. Das ist dann wohl
wahres Hüftgold. Coco Chanel würde sich im Grabe umdrehen.
»Mr. Amir ist noch nicht hier. Machen Sie es sich doch bequem und trinken Sie
etwas.« Ich werde regelrecht auf die Sonnenliege gedrückt, wo ich wie auf dem
Präsentierteller hocke. In der Hoffnung, dass Amir es für einen Longdrink hält,
bestelle ich ein Tonic Water und warte. Mein neuer Freund ist nur vierzig
Minuten zu spät. Die verbringe ich damit zu beobachten, wie die
sonnengebräunten Mädels ihre ohnehin schon winzigen Bikinis runterschieben,
um noch mehr Sonne abzukriegen, während sie die Kerle anhimmeln, die mit
rasierter Brust und Minigürteltaschen vor ihnen herumgockeln – offenbar vor
allem, um ihre Geschlechtsgenossen zu beeindrucken.
Schließlich erspähe ich Amir, der durch die Reihen der Liegen auf mich
zukommt. In seinen neonorangefarbenen Shorts ist er schwer zu übersehen und
umgeben von einer Entourage an Typen, die allesamt aussehen, als hätten sie im
Leben ein Ziel: ihren Anführer bestmöglich zu kopieren. Von allen Seiten
schwärmen Kellner herbei und bringen Handtücher, Gläser, Eiskübel und
bizarrerweise eine Kokosnuss.
Amir bleibt vor meiner Liege stehen und starrt über die Ränder seiner
Sonnenbrille hinweg zu mir hinunter. »Hallo, meine Schöne! Darf ich bekannt
machen: Das sind Stevie, JJ, Fettwanst, Cooper und Nige.« Mit einer
ausladenden Handbewegung deutet er auf seine Kumpels, die mir unmotiviert
zunicken und sich nur für die Bikinischönheiten nebenan interessieren. Ich frage
mich, womit »Fettwanst« den fiesen Spitznamen verdient hat – sein
Körperfettanteil bewegt sich allenfalls im einstelligen Prozentbereich. Ich sehe
nichts als Muskeln. Mehr Muskeln, als sie einem Menschen zustehen, der keiner
schweren körperlichen Arbeit nachgeht. Und ich wage zu bezweifeln, dass
Fettwanst überhaupt jemals arbeitet.
Amir schnappt sich die Kokosnuss und wirft sie dem Kerl zu, den er als Nige
vorgestellt hat. Unter den Anfeuerungsrufen seiner Kumpels schlägt Nige sie
sich gegen die Stirn. Mit dem Ergebnis offenbar nicht zufrieden, wiederholt er
das Spektakel, und diesmal bricht die Kokosnuss auseinander. Er steigt auf eine
Sonnenliege, und unter dem lautstarken Jubel der Bikinischönheiten und
Muskelprotze reckt er beide Hälften in die Luft.
»Sein bester Trick«, erklärt Amir stolz. »Er hat acht Jahre lang jeden Sommer
geübt, bis er das draufhatte. Wir wollen, dass er damit in dieser Talentshow mit
den zaubernden Hunden auftritt.« Bei der Vorstellung, den ganzen Nachmittag
an einem vermutlich mit Öl, Bräunungsmittel und Zigarettenasche verdreckten
Pool zu verbringen und diesen Leuten bei ihren Brunftritualen zuzuschauen,
verspüre ich einen leichten Anflug von Panik. Ich muss meine Mission
durchziehen und darf nicht zulassen, dass Amir meinen Zeitplan
durcheinanderbringt.
Mit frisch erstarkter Entschlossenheit greife ich nach seinem Handgelenk und
nötige ihn, mir seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Tut mir echt leid, aber
ihr seid ein bisschen spät dran, und mir bleibt nur noch eine Stunde, bevor ich
weitermuss. Hast du den Wagen mitgebracht?«
Er starrt mich eine knappe Minute lang an, dann wirft er den Kopf in den
Nacken und lacht. Seine muskelbepackte Entourage fällt sofort in Amirs
Schnauben mit ein, obwohl sie eindeutig zu weit entfernt steht, um überhaupt
hören zu können, was er gesagt hat. Wer die Drinks bezahlt, verfügt offenbar
rund um die Uhr über ein Heer von Jubelpersern.
»Kleines, ich weiß ja nicht mal deinen Namen! Komm mal schnell wieder
runter. Ich hab ’ne Karre für dich hier, aber lass uns erst mal ’ne Runde chillaxen
und Fun haben, okay?« Bei diesem Blödsinn schüttelt es mich innerlich.
Reflexhaft lasse ich meine Schultern hängen, reiße mich jedoch sofort wieder
zusammen.
»Ich heiße Amy«, erwidere ich lächelnd, »und fürs Chillaxen bin ich immer zu
haben.«
Ich mache gute Miene zum bösen Spiel, aber einfach ist das nicht: Am Ende
verbringe ich fast zwei Stunden mit Amir und seinem weiter anwachsenden
Hofstaat, dessen Mitglieder mit Champagner herumspritzen, Mädchen
anbaggern und den DJ ein ums andere Mal auffordern, die Musik lauter zu
machen. Amirs Aufmerksamkeitsspanne ist beschränkt, und das ist sehr
zurückhaltend formuliert. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als geduldig
zu warten, während er alle paar Minuten aufspringt – häufig bloß, um lauthals
»Meganummer!« zu brüllen – und sich wieder hinsetzt.
Ich erzähle ihm, dass ich im Eventmanagement arbeite, und lasse anklingen,
dass ich kürzlich erst mit meinem Freund Schluss gemacht habe, weshalb mir der
Sinn im Moment nicht nach romantischen Abenteuern steht. Glücklicherweise
scheint Amir an so etwas auch gar kein Interesse zu haben. Er ist eindeutig
jemand, der Freunde sammelt wie andere Leute Briefmarken und sich in erster
Linie amüsieren will. Vielleicht geht es gar nicht um mehr. Wäre ja mal was
anderes. Ich blicke mehrfach auf meine Uhr, und als ich es nicht mehr aushalte,
sage ich zu ihm, dass ich jetzt wirklich losmuss. Das entspricht sogar der
Wahrheit, denn mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um meinen Posten am Casino
einzunehmen.
Er verdreht die Augen, steht aber auf, um JJ herbeizuwinken, der so übereifrig
angerannt kommt, dass er dabei beinahe eins der Bikinigirls in den Pool stößt.
»Du kannst jetzt den Hummer vorfahren«, weist Amir ihn an, nippt an seinem
Schampus und wendet sich wieder mir zu. »Du bist echt schräg, Amy. Im
Flugzeug dachte ich, du willst gar nicht mit mir quatschen und dass ich nie
wieder von dir hören würde. Aber Amir kann halt keiner widerstehen, haha.« Er
legt mir die Hand auf den Rücken und manövriert mich ins Gebäude, wo die
Kellner bis zur Wand zurückweichen, als wir vorbeigehen. »Der Wagen ist ein
Traumauto, mit ordentlich Power unter der Haube. Ein echtes Monster.
Kommst du damit klar? Kannst du so was fahren?« Ich versichere ihm, dass ich
eine Menge Erfahrung mit großen Autos habe – eine glatte Lüge –, und frage ihn
klugerweise nicht, was ein Hummer ist. Als wir draußen warten, dass der Wagen
vorgefahren wird, sagt Amir, ich solle mir keinen Stress damit machen, ihn
zurückzubringen. Sonntag sei völlig ausreichend. Du wirst ihn sehr viel eher
wiederbekommen, denke ich, halte aber den Mund und bedanke mich bloß lächelnd.
Wie aufs Stichwort kommt JJ mit einem riesigen Panzer angefahren. Das
Röhren des Motors lässt mich kurz zusammenzucken, was Amir mit einem
Lachen quittiert. Der Wagen hat getönte Scheiben und eine mattschwarze
Lackierung. Er ist wirklich monströs. Mit einem High Five nimmt Amir von JJ
die Schlüssel entgegen und übt dann mit mir ein paar Runden in der Zufahrt.
Dabei schwärmt er von den Chromteilen und den Dreifach-Stoßdämpfern,
während ich das Lenkrad umklammere, mein Fuß vorsichtig überm Gas verharrt
und ich mich frage, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Doch als ich mich
schließlich traue, aufs Pedal zu treten, wird mir sofort klar, dass diese PS-Power
äußerst nützlich sein wird. Der Wagen ist perfekt für meinen kleinen Trip. Das
sage ich auch zu Amir, und dass meine Freundin begeistert sein wird.
»Frauen stehen voll auf dicke Autos. Und sie sehen damit total sexy aus. Fahr
mein Baby nur nicht zu Schrott, ich will damit nächste Woche nach
Südfrankreich.« Für einen kurzen Augenblick habe ich ein schlechtes Gewissen,
dass ich sein Baby zwar nicht zu Schrott fahren, aber vermutlich arg
ramponieren werde. Doch mit einem Haufen Scheine lässt sich das sicher wieder
hinbiegen. Nach allem, was ich heute gesehen habe, dürfte es Amir daran nicht
unbedingt mangeln.
Ich soll den Wagen einfach hier vor der Tür abstellen, wenn ich ihn nicht mehr
brauche, sagt er, zwinkert mir zu, drückt mich einmal feste und verschwindet
dann wieder im Club. Eine Minute lang sitze ich bloß regungslos da, immer noch
eingehüllt in den holzigen Duft seines Aftershaves, und kann mein Glück kaum
fassen. Ein Mann, der nichts über mich weiß, hat mir ein Auto gegeben, ohne
nach meinem Personalausweis, meiner Versicherung oder meinem Führerschein
zu fragen. Mein kleiner Mietwagen parkt sicher in einer Seitenstraße, und ich
habe allen Grund zu der Annahme, dass ich bei der bevorstehenden Ausführung
meines Plans noch weniger Spuren hinterlassen werde als gedacht. Den
Gedanken, dass es sich um eine Falle handeln könnte, verwerfe ich sofort
wieder, schließlich kann niemand wissen, was ich vorhabe.
Es ist jetzt 18:30 Uhr. Im Champagnerregen vergeht die Zeit wie im Flug.
Meine Großeltern wollten nach dem Essen zum Casino fahren, das hat Jeremy
zumindest gesagt. Also nehme ich an, dass sie gegen 21:30 Uhr dort ankommen.
Ich werde ihnen nicht den ganzen Abend folgen – unter anderem, weil ich auf
keinen Fall riskieren möchte, bei einer Geschwindigkeitskontrolle angehalten zu
werden. Also fahre ich extra langsam nach Marbella und hoffe, dass ich dort
etwas anderes zu essen finde als Hähnchensticks oder labberige Fritten.
Ich löffele eine Schale mit Suppe, bemühe mich, ruhig zu atmen, und zwinge
mich, meinen nervös wippenden Fuß still zu halten. Marie hat mich oft nach den
fünf schönsten Momenten des Tages gefragt. Ich sollte sie aufzählen, »um nicht
zu vergessen, wie viel Glück wir haben«. Seit ihrem Tod habe ich das nicht mehr
gemacht, aber heute scheint ein guter Tag für eine kleine Bestandsaufnahme zu
sein. Wie heißt es doch so pathetisch: Heute ist der erste Tag vom Rest deines
Lebens. Vielleicht ist dieser Tag, auf den ich so lange Zeit hingearbeitet habe, ja
wirklich der, an dem mein Leben richtig beginnt. Meine Kindheit war kurz,
meine Teenagerzeit das frustrierende Wartezimmer zum Erwachsensein, und
alles nach meinem zwanzigsten Lebensjahr war lediglich Mittel zum Zweck. Tut
mir leid, liebe Marie, aber allzu glücklich habe ich mich nie gefühlt. Du hast mich
zu früh verlassen, und in der Folge hat Fortuna mir nie besonders strahlend
zugelächelt. Es könnte mir also schwerfallen, die fünf schönsten Momente
meines Lebens zu nennen. Vielleicht reicht ja erst mal einer. Fangen wir klein an
und schauen dann, was passiert.
Um Viertel vor neun begleiche ich die Rechnung und kehre zu dem riesigen
Auto zurück, das auf der anderen Straßenseite parkt. Ich frage mich, ob Geld
und Geschmack wohl in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen –
Amirs Vorliebe scheint das zu bestätigen. Das gilt übrigens auch für das Haus
von Jeremy und Kathleen. Es lässt keinen Zweifel daran, dass diese Leute
neureiche Emporkömmlinge sind, oder wie Jimmys Mutter es gerne formuliert:
Raffkes. Im Umkehrschluss hieße das: Je älter das Geld, desto ausgeprägter das
Stilempfinden. Wenn mein Plan aufgeht, bin ich am Ende reicher als Krösus –
und damit quasi so neureich wie möglich. Vielleicht entwickle ich dann ja
ebenfalls eine Vorliebe für die Farbe Beige, für Bronze und für Bling-Bling.
Wobei ich das ernsthaft bezweifle. Demnach ließe sich ein grässlicher
Geschmack einfach darauf zurückführen, dass man ein grässlicher Mensch ist.
Die Familie Artemis spielt dieser Theorie in die Karten.
Für den Fall, dass Amir später nachschauen sollte oder die Polizei das Auto
findet, habe ich mein Ziel nicht ins Navi eingegeben. Stattdessen nutze ich den
Stadtplan, den ich mir am Flughafen für sechs Euro gekauft habe. Im Kopf bin
ich die Strecke schon viele Male durchgegangen, und sollte ich mich dennoch
verfahren, bleibt mir mehr als genug Zeit. Als ich die Perücke aus meiner Tasche
ziehe, bemerke ich entsetzt, wie mitgenommen sie schon aussieht, obwohl ich sie
nur ein Mal getragen habe. Wer billig kauft, kauft zweimal – noch so ein
Lieblingsspruch von Jimmys Mutter. Nächstes Mal werde ich mir meine
Verkleidung richtig was kosten lassen.
Mit höchstens dreißig Stundenkilometern fahre ich über dunkle, gewundene
Straßen. Außer mir ist kaum jemand unterwegs, doch das könnte sich schnell
ändern, wenn ich mich dem Casino nähere. Ich habe nur diesen einen Versuch.
Sollte ein anderes Auto auftauchen, wäre diese Chance zunichte. Fuck. Es muss
klappen. Das muss es einfach.
Das Casino liegt mitten im Nichts, ist aber umgeben von einer Handvoll Bars
und Restaurants. Ich kann also den Parkplatz nutzen, ohne dort allzu sehr
aufzufallen. Ich drehe eine kurze Runde zu Fuß und halte nach dem Mercedes
meiner Großeltern Ausschau, um mich zu vergewissern, dass sie noch nicht hier
sind. Dann begebe ich mich zum Eingang, gehe aber nicht hinein – denn erstens
bin ich kein Mitglied, und zweitens möchte ich nicht von den
Überwachungskameras gefilmt werden. Stattdessen warte ich im Halbdunkel
zwischen einer Bar namens Rays und dem Casino, das aussieht wie eins dieser
Einkaufszentren vor den Toren der Stadt. Es würde mich nicht wundern, gleich
nebenan auf einen Baumarkt zu treffen. Glamourös ist daran gar nichts. Ich bin
überrascht, dass meine Großeltern sich hier wohlfühlen. Aber sie haben sich ja
auch dafür entschieden, ihren Lebensabend in einer Gated Community in
Marbella zu verbringen – in kultureller Hinsicht wirkt Florida dagegen wie das
Italien der Renaissance.
Inzwischen ärgere ich mich, dass ich so ein großzügiges Zeitfenster eingeplant
habe. Ich würde zwar wetten, dass Kathleen und Jeremy zu der Art von Leuten
gehören, die ungehalten werden, wenn sie nicht um dreiundzwanzig Uhr zu
Hause sind, aber was mache ich, wenn sie heimliche Nachtschwärmer sind? Ich
kann mich wohl kaum die halbe Nacht hinter den wenigen Büschen auf dem
Parkplatz rumdrücken. Ich verliere die Nerven und kehre zurück zum Auto, um
mich zu sammeln und auf dem Stadtplan erneut die Route durchzugehen. Noch
ehe ich dort angekommen bin, sehe ich, wie ein silberner Mercedes die Zufahrt
hochkriecht, rücksichtslos in der Fahrbahnmitte und mit eingeschaltetem
Fernlicht. Ich halte den Atem an und versuche, das Nummernschild zu
erkennen, doch das ist gar nicht nötig: Kathleens griesgrämiges Gesicht und ihre
glänzende Betonfrisur sind nur schwer zu übersehen. Ich höre ein Kichern, und
als mir klar wird, dass es aus meinem eigenen Mund kommt, ducke ich mich
schnell zwischen zwei Autos. Ich bin eindeutig aufgeregter, als ich es gedacht
hätte. Ich verspüre sogar eine gewisse Vorfreude.
Das Rentnerpaar steigt schwerfällig aus dem Auto. Ohne nach seiner Frau zu
sehen, die umständlich auf den Bürgersteig kraxelt und dabei ihre Chanel-Tasche
umklammert wie ein Kind seinen Teddybären, schmeißt Jeremy dem
Parkservice-Mitarbeiter wortlos die Schlüssel zu, bevor die beiden das Casino
betreten. In ihren Augen sind die Angestellten offenbar nichts als stumme
Statuen, deren einziger Zweck darin besteht, den Reichen und Mächtigen ihren
Respekt zu erweisen. Allerdings können sich stumme Statuen ihre Hintern nicht
an den Ledersitzen fremder Autobesitzer abwischen – was die Jungs vom
Parkservice hoffentlich ausgiebig tun.
Die nächsten zweieinhalb Stunden sitze ich in Amirs Hummer und warte. Ich
verschlinge einen ekligen Cheeseburger und beschließe, ab dem Tag meiner
Rückkehr kein Fleisch mehr zu essen. Ich qualme drei Zigaretten und schwöre,
mit dem Rauchen aufzuhören, sobald ich wieder in London bin. Ich höre
spanische Radiosender, und obwohl einer grauenhafter ist als der andere, wippe
ich mit dem Fuß manisch im Takt der Musik, während ich alle paar Sekunden in
den Rückspiegel blicke, um mich zu vergewissern, dass meine Großeltern nicht
verfrüht aufbrechen. Die Autos werden immer mehr und die Besucher immer
jünger. Zu fortgeschrittener Stunde scheint im Casino erst richtig Leben
einzukehren. Ich könnte mir vorstellen, dass dies für die älteren Gäste das
Zeichen zum Aufbruch ist – und damit liege ich tatsächlich richtig. Schon bald
wimmelt es auf den Eingangsstufen von Damen mit Hermès-Halstüchern und
parkscheinwedelnden Herren, denen allesamt ihr Wohlstand und ihre
Selbstbesoffenheit ins Gesicht geschrieben stehen. Und da sind sie auch schon:
Kathleen mit einer Geschenktüte, etwas wackelig auf den Beinen, und Jeremy
mit einer dicken Zigarre. Sieht nach einem lustigen Abend aus. Das freut mich.
Ich bin ja kein Unmensch. Ist doch schön, dass sie die Welt so beschwingt
verlassen werden. Das ist mehr, als der armen Marie vergönnt war, aber ich will
mal nicht so sein: Wenn ich schon die gesamte Familie dieser Menschen
auslösche, sind eine Runde am Roulettetisch und eine Tüte mit
Werbegeschenken das Mindeste, was ich ihnen zugestehen kann.
Als sie den Fuß der Treppe erreichen, übergibt Jeremy den Parkschein. Das ist
mein Startsignal. Ich lasse den Motor an und fahre vom Parkplatz. Wie schon
gesagt: Ich habe nichts von alledem bis ins letzte Detail geplant. Und das ist
keine falsche Bescheidenheit. Ich habe eine ungefähre Idee, die mir in London
noch hieb- und stichfest erschien. Hier in Spanien bin ich mir jedoch nicht mal
mehr sicher, ob ich überhaupt die Chance haben werde, sie in die Tat
umzusetzen. Trotzdem fahre ich nun über die kurvenreichen Sträßchen hinter
dem Casino und folge zügig der Route, die meine Großeltern nehmen müssen,
wenn sie zurück zu ihrer Villa wollen. Nach ein paar Minuten biege ich auf die
dunklere und holprigere Straße entlang der Steilküste ein. Wenn die beiden so
langsam und vorsichtig fahren, wie ich es annehme, dürfte mein Vorsprung etwa
zehn Minuten betragen. Ich muss noch die Parkbucht finden, die ich gestern
markiert habe, doch die nächtliche Straße scheint die Stelle nicht preisgeben zu
wollen.
Ich bin viel zu schnell unterwegs und spüre schon wieder diesen vertrauten
Kloß im Hals. Die Anspannung wird übergroß. WO IST DIE VERDAMMTE
PARKBUCHT!? Ich atme schnaufend durch die Nase und rede laut mit mir
selbst: »Du wirst sie schon finden, du hast noch Zeit genug, Grace. Alles ist
okay.«
Ich fahre vorbei und bremse. Exakt so, wie man es im Fahrsicherheitstraining
lernt. Als wenn im wahren Leben irgendjemand eine perfekte
Gefahrenbremsung schaffen würde, ohne einen Auffahrunfall zu verursachen.
Aber die Straße ist wie ausgestorben, und abgesehen von den Zikaden herrscht
völlige Stille. Ich mache eine Kehrtwende, für die ich in diesem grotesken
Vehikel mehrere Anläufe brauche, halte dann in der Parkbucht und warte, dass
mein Atem sich beruhigt und der Kloß im Hals sich löst. Von hier aus habe ich
die Straße genau im Auge. Wenn ich an dieser Stelle vorbeigefahren wäre, dann
hätte sich bis zur Villa keine weitere Gelegenheit mehr geboten.
Autoscheinwerfer. Sie schlängeln sich in mein Blickfeld hinein und wieder
hinaus. Bei dem Tempo, mit dem sie näher kommen, bleiben mir noch zwei
Minuten. Ich lasse den Motor aufheulen, als wollte ich diesem Panzer einen
zusätzlichen Motivationsschub verpassen, und umklammere mit beiden Händen
das Lenkrad. Jetzt kommt das Auto in Sicht: Sie fahren langsam und vorsichtig,
lassen sich Zeit. Als ich von jetzt auf gleich das Lenkrad einschlage und auf sie
zurase, bildet Kathleens Mund ein perfektes O, bevor sie schützend die Hände
hebt und das Scheinwerferlicht mich blendet. Die Wucht des Zusammenstoßes
presst mich in den Sitz, und ich trete auf die Bremse. Der Wagen bockt, als wäre
er erbost, dass ich ihn zurückpfeife. Als ich aufblicke, sehe ich nichts als
aufgewirbelten Straßenstaub und auf der Hangseite eine erfreulich große Lücke
in den Büschen.
Ich wende, parke auf der anderen Straßenseite und schalte das Licht aus. Mir
bleibt noch etwas Zeit, bevor ich zurückmuss, um Amirs Auto am Klub
abzustellen und zum Flughafen zu fahren. Zitternd ziehe ich die
Gummihandschuhe an, wobei der linke am Daumen einreißt. Dann greife ich
nach der Taschenlampe, dem Parfümfläschchen und einem Päckchen
Streichhölzer. Ich überquere die Straße und trete an den Rand des Felshangs
heran.
Meine Leinenturnschuhe sind nicht für eine richtige Klettertour geeignet, und
von hier oben ist nur schwer zu erkennen, wie tief der Mercedes gestürzt ist.
Doch als ich mit der Taschenlampe ins Dunkel leuchte, kann ich ihn sehen.
Etwa fünfzehn Meter weiter unten liegt er auf dem Dach. Offenbar wurde er
von einem Busch abgefangen.
Ich sollte einfach wieder ins Auto steigen und mich sofort auf den Weg zum
Flughafen machen. Egal, was jetzt geschieht: Noch komme ich davon. Aber wo
bliebe der Spaß, wenn ich meine Großeltern einfach sterben ließe, ohne ihnen
meine Rolle zu offenbaren? Klar, das ist vermessen, und in der Kunst des
Mordens bin ich noch unerfahren – eine solche Schwäche werde ich mir sicher
kein zweites Mal erlauben. Aber dieses Mal klettere ich den felsigen Hang
hinunter. Gebückt hangele ich mich von Busch zu Busch, um nicht in die
Dunkelheit zu stürzen. Schließlich erreiche ich das Auto. Durch das Astgewirr
lässt sich nicht erkennen, wie es drinnen aussieht. Ich schiebe mich an der
Fahrerseite am Auto entlang, bücke mich, so tief ich kann, und leuchte mit der
Taschenlampe durchs Fenster. Jeremy hängt mit dem Kopf nach unten im
Sicherheitsgurt. Er ist bewusstlos, sieht jedoch unverletzt aus. Kathleen hingegen
ist eindeutig tot. Um das festzustellen, braucht es keinen Forensik-Experten,
denn zum Überleben muss der Kopf mit dem Körper verbunden sein. Der Ast
eines Baumes hat dafür gesorgt, dass diese Voraussetzung nicht mehr gegeben
ist.
Ich zerre an Jeremys Tür, ohne Erfolg. Also probiere ich es mit der hinteren
Tür, die sich weit genug öffnen lässt, um den Kopf hindurchzustecken – bis
direkt hinter seine Kopfstütze. Mit der Hand streichle ich sein hochmütiges
Gesicht, jetzt blutig und hohlwangig, während ich seinem rasselnden Atem
lausche. Ich drehe und winde mich wie eine Brezel, um so nah an ihn
heranzukommen, wie es geht, und flüstere seinen Namen. Wimmernd schlägt er
die Augen auf.
»Kathleen ist tot«, informiere ich ihn. »Es tut mir leid, Jeremy. Ich glaube, du
machst es auch nicht mehr lange, aber du bist nicht allein. Erkennst du mich?
Ich bin’s, Grace, deine Enkelin. Simons Tochter.« Er zuckt ganz leicht
zusammen. »Genau. Das Kind von Marie. Wirklich schade, dass wir uns bis zu
diesem tragischen Moment nie begegnet sind. Doch dafür hast du ja gesorgt,
nicht wahr? Ich sollte nicht einmal in die Nähe deiner Familie kommen. Ist
schon okay, Jeremy. Ich kann mir eh nicht vorstellen, dass wir uns gut
verstanden hätten. Aber nett war das nicht. Und ich befürchte, deshalb war’s das
jetzt mit dir. Nicht wegen dem, was du mir, sondern dem, was du meiner Mutter
angetan hast. Die Familie geht über alles – ich weiß, dass du das verstehst. Oh,
und das Beste ist: Ihr beiden werdet nicht die Letzten sein.«
Ich hole den Parfümspender heraus, drehe seinen Kopf so sanft wie möglich
zu mir und blicke in ein einzelnes graues Auge. »Ich werde deine gesamte Familie
auslöschen«, sage ich und zerre an seinem Schlips. Er rutscht aus dem Gurt und
knallt gegen das Dach. Ich löse die Krawatte von seinem Hals, rolle sie vorsichtig
zusammen und stecke sie in die Tasche. Mein kleines Spanien-Souvenir. Dann
öffne ich die Flasche und entzünde ein Streichholz.
kapitel 2

Die Wärter hämmern um acht Uhr an die Zellentür, schieben das


Frühstückstablett hindurch und verschwinden wieder. Natürlich gibt es weder
pochierte Eier noch frischen Kaffee. Wir kriegen Teebeutel, Milch, zwei
Scheiben billiges Weißbrot, von dem ich letzten Monat eine Scheibe aufgehoben
habe, nur um zu sehen, was passiert. Nichts, wie sich herausstellte. Abgesehen
davon, dass sich die Ecken leicht nach oben bogen, tat sich beunruhigend wenig.
Das erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in der Schule gehört hatte: Im
neunzehnten Jahrhundert verkaufte man den Armen Brot, das mit Kalk und
anderen ungenießbaren Substanzen gestreckt war. Gefängnisse werden
heutzutage ja meistens von Privatunternehmen mit absurden Fantasienamen
betrieben, die wohl besonders eindrucksvoll klingen sollen. Diese Konzerne
würden an solchen Praktiken garantiert Gefallen finden, schließlich
verabscheuen sie die strengen Qualitätsstandards für Lebensmittel mindestens so
sehr wie die Gefangenen. Gut, dass mir hier drin sowieso der Appetit vergangen
ist. Die Gefängnisverpflegung ließe sich vortrefflich diesen aufgeblasenen
Instagrammern andienen, die auch Appetitzügler und dubiose Vitamine
anpreisen: Esst einfach dreimal täglich labberigen Toast und tauscht alles andere
gegen Zigaretten ein – euer Trainingsanzug wird euch ruckzuck zu groß sein.
Kelly fragt, ob ich über etwas reden will. Dabei legt sie den Kopf schräg. Das
hält sie wohl für eine einfühlsame Geste. Sie weiß, dass ich auf mein
Berufungsergebnis warte, und ihre jüngsten Ausflüge in die Gruppentherapie
haben sie offenbar überzeugt, dass eine steile seelsorgerische Karriere auf sie
wartet. Ich kämpfe gegen den Reflex an, ihr zu erklären, dass nicht einmal
Londons beste Therapeuten mir helfen könnten und ich deshalb bezweifle, dass
ihr Angebot, mein inneres Kind anzusprechen, schlagartig sämtliche Probleme
lösen würde, die sie offenbar bei mir vermutet. Abgesehen von der
unbestreitbaren Tatsache, dass Kelly eine Idiotin ist, halte ich reden ohnehin für
überbewertet. Wie meine Mutter immer sagte: »Niemals beklagen, niemals
rechtfertigen.« Zugegeben: Sie starb unangemessen früh und überließ es mir, das
ihr zugefügte Unrecht zu sühnen – weshalb ich nun hier bin. Alles in allem wäre
es vielleicht gar nicht so schlecht gewesen, wenn sie sich gelegentlich beklagt
hätte.
Nachdem Kelly meinen Wink kapiert und sich verdrückt hat, um jemand
anderen zu therapieren, setze ich mich auf meine Pritsche und beginne zu
schreiben. Mir bleibt nicht viel Zeit, um meine Geschichte detailliert darzulegen,
denn das Ergebnis der Berufung steht jeden Moment ins Haus. Sagt zumindest
der von mir engagierte Anwalt mit dem Blockflötengesicht, der bei seinen
Besuchen immer die schönsten maßgeschneiderten Anzüge trägt, aber den
gesamten Look ruiniert, indem er sie mit geschmacklosen Slippern kombiniert.
Vermutlich glaubt er, sie würden den eigenen Stil seines Outfits betonen, dabei
verraten sie lediglich, dass er eigentlich keinen hat. Vielleicht hat ihm eine
jüngere zweite Ehefrau diese Treter aufgeschwatzt, in der Hoffnung, ihn
dadurch jugendlicher erscheinen zu lassen. Ich wünschte, sie hätte es gelassen.
Überzogene Eitelkeit ist keine Eigenschaft, die ich an einem Anwalt, der mich
vor einer lebenslangen Freiheitsstrafe bewahren soll, besonders schätze.
Insbesondere dann, wenn er sich durch die saftigen Honorare ermutigt fühlt,
noch mehr von diesen schrecklichen Dingen zu kaufen.
Ich kam vor achtundzwanzig Jahren im Krankenhaus von Whittington zur
Welt, als einzige Tochter von Marie Bernard, einer jungen Französin, die seit drei
Jahren in London lebte, als sie mit mir schwanger wurde. Nach der Geburt nahm
sie mich mit in ihr Studio-Apartment in Holloway, wo ich einen ersten
Vorgeschmack auf die Klaustrophobie und Langeweile in engen Räumen sowie
die beschränkten Freuden einer Toilette im Schlafzimmer bekam. »Studio« ist ein
ziemlich irreführendes Etikett, wenn man es einem Apartment verpasst, evoziert
es doch Bilder luftiger und großzügiger Räumlichkeiten zur kreativen Entfaltung
und für schicke Zusammenkünfte, bei denen schöne Menschen rauchend auf
Balkons rumhängen. Unsere Wohnung war in der vierten Etage eines Gebäudes
mit einer Hähnchenbude im Erdgeschoss. Möglicherweise im Rahmen eines
komplizierten sozialen Experiments zur Klärung der Frage, wie viele Menschen
sich in einem alten viktorianischen Haus mit ursprünglich vier Wohnungen
unterbringen lassen, hatte der Vermieter jedes Stockwerk in drei Apartments
aufgeteilt. Meine Mutter wohnte in einem kleinen Zimmer mit einem winzigen
Dachfenster, das sich nicht öffnen ließ. Ob aufgrund der beeindruckenden
Menge an Taubenscheiße oder weil der Hausbesitzer verhindern wollte, dass wir
die Passanten schreiend um Hilfe anflehen würden, fanden wir nie heraus. In
Ihren Ohren klingt das nach der urigen Dachstuben-Idylle eines Dickens-
Romans? Weit gefehlt. Und vergessen Sie nicht die Hähnchenbraterei. Meine
Mum schlief auf einem Ausziehsofa, weshalb ich ein Bett für mich allein hatte.
Mich quälen immer noch Schuldgefühle, wenn ich daran denke, wie erschöpft sie
nach der schweren Arbeit war und ich mich dennoch nicht von der Vorstellung
abbringen ließ, dass sie die harte Couch bevorzugte. Egoistisch, wie Kinder sind,
dachte ich nicht daran, ihr mein Bett anzubieten. Als Erwachsene gönnte ich mir
eine teure Kingsize-Matratze aus Memory-Schaum. Ein Luxus, der dadurch
ruiniert wurde, dass ich beim Einschlafen immer an Mum auf dem Klappsofa
denken musste.
Marie war nach England gekommen, weil man ihr erzählt hatte, sie sei hübsch
genug, um zu modeln. Und das war sie. Meine Mutter war umwerfend schön,
mit olivfarbener Haut und unbändigem braunen Haar, das sie zu einem Dutt
hochsteckte – ganz gleich, wie oft ich sie bat, es offen zu tragen. Sie strahlte diese
französische Leichtigkeit aus, der heute jede Influencerin mehr oder weniger
erfolgreich nacheifert. Kein BH. Niemals. Weite Hosen und eine lange
Goldkette mit einem Amulett, darauf das Miniaturporträt eines alten Mannes,
dessen Identität sich in den Wirren der Zeit verloren hatte. Vor meiner Geburt
hatte sie in ein paar kleineren Kampagnen für Modeketten gemodelt, die es
schon lange nicht mehr gab, als ich zur Welt kam. Die coolste Marke war
Kookai, darauf beharrte sie. Wie zum Beweis verwahrte sie ein
zusammengerolltes Poster, das während einer Herbstkampagne in den
Schaufenstern gehangen hatte. Es zeigte sie auf dem Boden kauernd, eine braune
Strickjacke auf den Knien drapiert, darunter ein kurzes Kleid und Plateau-
Sneaker, wie sie zu meinem Bedauern gerade in die Modeläden zurückkehren.
Meine Mutter war zu klein für den Laufsteg, und ihre Karriere verlief nie so,
wie sie es sich erhofft hatte, als sie nach London gekommen war, wo sie sich eine
WG mit zwei anderen Mädchen teilte, die ebenfalls vom großen Erfolg
träumten. Aber für eine Weile hatte sie zweifellos Spaß. In Maries Schilderungen
war das Londoner Nachtleben der frühen Neunziger ein goldenes Zeitalter. Die
Nächte im Tramp, einem 1969 eröffneten Privatclub, waren fast so glamourös
wie damals, als Liza Minnelli dort verkehrte. Wenn ich nicht schlafen konnte,
legte sie sich zu mir in mein schmales Bett und schwärmte von
Champagnergläsern, die mit funkelnden Wunderkerzen serviert wurden, oder
den weichen Lederbänken im Restaurant des Klubs, wo sie mit Schauspielern
speiste und mit Sportstars tanzte, bis der Morgen graute. Es durfte geraucht
werden, und die reichsten Frauen trugen unverfroren Pelz. Vor mir war ihr
Leben offenbar eine einzige lange Reihe von Partys und Castings gewesen. Einer
Frau, die mit einer derartigen Schönheit gesegnet war, fiel alles in den Schoß, so
erschien es mir zumindest. Marie machte sich nie große Sorgen um Geld oder
die Zukunft. Für die junge Französin, die nur ihren Spaß haben wollte und nie
einen BH trug, würde stets jemand da sein. Auf dieses Mädchen, das nicht um
seinen Wert wusste, würde immer jemand ein Auge werfen.
Davon abgesehen hatte meine Mutter bereits den Mann kennengelernt, dem sie
ihr Herz schenken würde. Der Mann, der mein Vater werden sollte. Der Mann,
der ihr die Welt versprechen und sie mit Präsenten überhäufen würde. Der
Mann, den schon mein heranwachsendes Ich zu ruinieren geschworen hatte.
kapitel 3

Sogar jetzt in diesem Augenblick lässt mich der bloße Gedanke an diesen Mann
verkrampfen. Ich zwinge mich, tief durchzuatmen. Ich bin eine Meisterin der
Selbstkontrolle. Eine Kunst, die mir nicht in die Wiege gelegt wurde. Als Kind
hatte ich furchtbare Wutanfälle und schmiss mich zu Boden, wenn mir etwas
nicht passte. Meine Mutter sah amüsiert dabei zu und entschuldigte sich dann bei
den Umstehenden. Tief im Inneren ist mein Hang zum Drama immer noch da,
aber ich habe längst gelernt, ihn zu kontrollieren. Heißblütige Auftritte sind
nichts für Menschen, die vorhaben, einen Haufen Leute kaltzumachen. Das
Chaos wäre vorprogrammiert. Und was könnte schlimmer sein, als geschnappt
zu werden, weil man sich in seiner Unbeherrschtheit nicht unter Kontrolle hatte?
Die demütigende Erfahrung, eine Toilette zu benutzen, die nur zwei Meter von
meinem Bett entfernt ist, durfte ich zwar als Kind schon machen, doch
zumindest war sie nicht dem Umstand geschuldet, dass ich meiner törichten
Neigung zu Tobsuchtsanfällen nachgegeben habe.
Eine Minute später hat sich meine Atmung normalisiert. Wussten Sie, dass
Hillary Clinton nach der Wahlniederlage gegen Donald Trump alternierende
Nasenatmung praktiziert hat? Natürlich hat sie auch zum Weinglas gegriffen,
aber wenn man als kultivierter Mensch gegen einen Banausen dieses Kalibers
verliert, dann erfordert das schon schwerere Geschütze. Bei der alternierenden
Nasenatmung hält man sich das linke Nasenloch zu und atmet durch das rechte
tief und langsam ein. Anschließend hält man etwa genauso lange die Luft an,
bevor man sich das rechte Nasenloch zuhält und durch das linke ausatmet. Das
macht man immer abwechselnd. Spotten Sie nur, aber diese Technik hilft mir
effektiv und schnell, mich zu beruhigen. Im Gefängnis, wo hochwertige
Medikamente oder ein abendliches Glas Merlot Mangelware sind, hat sie
entscheidende Vorteile. Wenn ich nachts nicht schlafen kann und meine
Gedanken unweigerlich um meine Lebensaufgabe kreisen, denke ich oft an
Mrs. Clintons Kampf gegen den orangefarbenen Schwachkopf. Man mag von ihr
als Politikerin halten, was man will, aber diese Frau hat sich einem narzisstischen
Rüpel entgegengestellt, dem Anstand und Konventionen rein gar nichts
bedeuten. So ein Kerl kann einen mühelos in den Wahnsinn treiben, was einen
nicht selten zwingt, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren, um ein Mindestmaß
an Menschlichkeit zu bewahren. Im Vergleich zu mir hatte Hillary allerdings
einen entscheidenden Vorteil: Ihr Gegner war ein Mann, dem sie nach der
Niederlage den Rücken kehren konnte. Mein Gegner war mein eigener Vater. Na
gut, vielleicht habe ich auch den größeren Vorteil: Clinton konnte Trump nicht
töten, sosehr sie es gewollt haben muss. Ich hätte es ihr gegönnt, denn nach
meiner Erfahrung ist so ein Mord sehr viel entspannender als die wechselseitige
Nasenatmung.


Marie und mein Vater begegneten sich 1991. Als ich zur Welt kam, war er bereits
von der Bildfläche verschwunden. Trotzdem sorgte meine Mutter immer dafür,
dass ich mich geliebt fühlte. Als ich alt genug war, um die Grundschule zu
besuchen, erkannte ich, dass ich zwar überschwänglich, aber nur von einem
einzigen Menschen geliebt wurde. Die anderen Kinder hatten Vatis. Während
Marie das Abendessen zubereitete oder mir über der kleinen Spüle mit
lauwarmem Wasser die Haare wusch, berichtete ich ihr von meinen
Beobachtungen. Anfangs wich sie meinen Fragen aus, doch als ich neun Jahre alt
war, wurde ihr klar, dass ich nicht lockerlassen würde. Also setzte sie sich eines
Tages nach der Schule zu mir und erzählte mir von meinem Vater. Dennoch
musste ich das meiste, was ich heute über ihn weiß, selbst herausfinden. Denn
Maries Schilderung des Mannes, der mich gezeugt hatte, indem er, ohne die
Folgen zu bedenken, seinen Samen gab, war offensichtlich stark geschönt.
Laut meiner Mutter war er einige Jahre älter als sie, und bei ihrer ersten
Begegnung in einem Klub – wo auch sonst – ließ er ihr eine Flasche
Champagner bringen. Marie schickte den verwirrten Kellner unverrichteter
Dinge zurück. Sie wollte tanzen und hatte deshalb keinen Bedarf für einen
Eiskübel mit Veuve Clicquot. Ich bin auch schon in solchen Klubs gewesen und
habe dort fast jeden Abend Männer wie meinen Vater gesehen, die es sich in
schummrigen Ecken bequem machen, um die jungen Frauen dabei zu
beobachten, wie sie auf der Tanzfläche eine Show für denjenigen von ihnen
abziehen, der sie dann hoffentlich an seinen Tisch einlädt und ihnen sündhaft
teure Drinks ausgibt. Wäre meine Mutter eines dieser Mädchen gewesen, dann
hätten die beiden zusammen getanzt, sich ein paar Liebeleien zugeflüstert und
sich eventuell ein- oder zweimal zum Essen verabredet. Danach wäre die Sache
im Sande verlaufen. Doch meine Mutter ließ den Champagner zurückgehen.
Und das war diesem reichen Mann noch nie passiert. Gelegentlich male ich mir
diesen Moment in Gedanken aus. Mir gefällt die Vorstellung, dass er es nicht
ertragen konnte, sie so ausgelassen tanzen zu sehen, völlig unbeeindruckt von
seinen Bemühungen, sie zu beeindrucken. Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er
versucht, diese unerwartete Situation einzuschätzen. Wie sein Reptilienhirn
härter arbeitet als je zuvor, um einen neuen Plan zu schmieden, mit dem er ihre
Aufmerksamkeit erregen und sie doch noch gefügig machen kann.
Zwei Wochen danach stand sie vor einem anderen Klub in der Schlange der
Wartenden, da sah sie ihn erneut. Es regnete, und sie hielt sich schützend den
Mantel über den Kopf. Wie alle anderen, die dort in der Kälte ausharrten, sehnte
auch sie sich nach der Dekadenz und Zerstreuung, die der exklusive Schuppen
versprach. Oder zumindest nach Schutz vor dem Regen. Während wir
nebeneinander auf dem Bettsofa saßen, schweifte der Blick meiner Mutter in die
Ferne, und ihre Stimme wurde ganz weich. Sie erzählte, wie plötzlich ein
Sportwagen mit getönten Scheiben vor dem Klub auftauchte und mit
quietschenden Reifen die wartende Menge nass spritzte. Als sie mir zum ersten
Mal von meinem Vater berichtete, hatte er sie bereits so niederträchtig
behandelt, dass ich Magenschmerzen bekomme, wenn ich nur daran denke.
Dennoch lag eine gewisse Zuneigung und vielleicht sogar Bewunderung in ihrer
Stimme, wenn sie von ihm sprach: »Er stieg aus dem Auto und warf dem Jungen
vom Parkservice die Schlüssel zu. Ich habe ihn nur bemerkt, weil der Wagen so
einen schrecklichen Lärm machte. Und dann sah ich, wie er die Schlüssel
warf … so ein Blödmann … ich fand es äußerst arrogant, das Auto einfach
mitten auf der Straße zu parken.«
Als der Türsteher ihn an der Warteschlange vorbei in den Klub ließ und die
verärgerte Menge, die weiter im Regen ausharren musste, heftig zu drängeln
begann, da habe sie peinlich berührt weggeschaut, erzählte mir Marie. Nur einen
kurzen Moment später winkte ihr eine streng blickende Frau mit einem
Klemmbrett unterm Arm zu, so als wollte sie sagen: »Ja, genau du.« Daraufhin
löste der Türsteher die rote Samtkordel, lotste sie hinein, und sie hatte keine
Sekunde gezögert, nicht einmal, als die hinter ihr Wartenden moserten und
buhten. Die Erinnerung an diesen Moment zauberte meiner Mutter ein Lächeln
ins Gesicht. Als sie im Klub war und den Fuß der Treppe erreicht hatte, wartete
er dort auf sie. Breit grinsend und mit verschränkten Armen lehnte er an der
Wand. Ich habe dieses Grinsen so oft in der Presse gesehen. Es war fast schon
so etwas wie sein Erkennungszeichen. Eine Kombination aus Charme und
Arroganz, die einen überrumpelt. Aber auch eine Kombination, die einen zur
Weißglut bringen kann, denn man kommt irgendwann zu der Erkenntnis, dass
bei Männern wie ihm die Arroganz überwiegt. Dann ist es allerdings für
gewöhnlich zu spät, denn der erste Eindruck ist wie gesagt überwältigend und
nur sehr schwer zu vergessen.
»Du lehnst also meinen Champagner ab, nimmst aber meine Gastfreundschaft
in Anspruch?«, fragte er und musterte sie dabei von oben bis unten. Wenn ich
ehrlich bin, finde ich es immer noch ziemlich armselig, dass sie nicht auf der
Stelle kehrtgemacht hat und ihn dort stehen ließ. Ich erinnere mich, dass ich den
Spruch schon im zarten Alter von neun Jahren für eine erbärmliche Anmache
hielt. Falls ich mir je eingebildet hätte, mein Vater sei eine Art Märchengestalt,
die wir durch einen Akt heldenhafter Tapferkeit verloren hatten, dann wäre diese
unausgesprochene Hoffnung in jenem Moment ein für alle Male gestorben. Mein
Vater war ein abgefeimter Scharlatan in einem teuren Anzug, und meine Mutter
war ihm auf den Leim gegangen.
Ich nehme an, dass sie anfangs noch die Coole gespielt hat und ihn mit einem
herablassenden französischen Naserümpfen auflaufen ließ. Doch selbst wenn es
so gewesen sein sollte, änderte es gar nichts. Tags darauf fand er ihre Adresse
heraus und tauchte in einem Cabrio voller Blumen vor ihrer Wohnung auf.
Maries Mitbewohnerinnen weckten sie mit kreischendem Gelächter, wie Helene
mir später verriet, und triezten sie wegen des Mannes, der hupend in seinem
Sportwagen saß und den Verkehr aufhielt. Eine Woche danach flog er mit ihr im
Privatjet nach Venedig, lud sie auf dem Markusplatz zu Cocktails ein – kitschiger
geht es kaum – und gestand ihr seine Liebe. Auch in den folgenden Monaten
nahmen die extravaganten Zuneigungsbezeugungen kein Ende. Er führte sie
schick zum Essen aus, zum Tanzen in ihre Lieblingsklubs und an sonnigen
Montagen zu Spaziergängen in den Hyde Park. Ihr Widerstand wurde
systematisch zunichtegemacht, und damit lösten sich auch ihre Skepsis und
Ablehnung gegenüber den Londoner Männern und deren Absichten in Luft auf.
Marie vernachlässigte die Castings, da sie seine Anrufe nicht verpassen wollte.
Und tatsächlich meldete er sich regelmäßig bei ihr. Allerdings nur zwischen
Montag und Freitag. Er blieb selten über Nacht bei ihr, ließ sich immer wieder
entschuldigen, weil bei der Arbeit etwas dazwischengekommen war, und
manchmal auch, weil seine betagte Mutter ihn brauchte.
Haben Sie gerade die Augen verdreht und dabei laut gestöhnt? Na schön, dass
meine Mutter ihr Vertrauen in einen Mann setzte, der Gürtel mit protzigen
Schnallen trug und Dire Straits hörte, war verdammt unbedarft. Aber ich habe
hier drin keine Zeit, mich lang und breit über ihre Naivität oder seine
Manipulationsversuche auszulassen. Also weiter im Text. Es schien ziemlich
offensichtlich, dass mein Vater in festen Händen war. Nicht nur in festen
Händen: Er war verheiratet und hatte ein Kind. Mit seiner kleinen Familie
residierte er auf einem Hügel im Norden von London, in einem Haus mit
diversen Angestellten, zwei Rassehunden, einem Weinkeller, einem
Swimmingpool und einem mehrere Hektar großen Grundstück. Er war nicht
bloß gebunden, er war eingebunden.
Diesen winzig kleinen Teil der Geschichte hat mir Marie anfangs vorenthalten.
Doch ich mache ihr keinen Vorwurf, dass sie einige der etwas pikanteren Details
geschönt hat. Damals hätte ich vermutlich ohnehin noch nicht alles verstanden.
Stattdessen fand sie Ausreden dafür, dass mein Vater mich nie besuchen kam,
mir keine Geburtstagsgeschenke machte und nicht zu Elternabenden erschien.
Sie streichelte meinen Arm und erzählte mir, dass er uns nicht sehen könne, weil
er wegen wichtiger Geschäfte, die das Leben Tausender Menschen beträfen,
immerzu unterwegs sei. Er fliege ständig rund um die Welt, sagte sie. Sie
versicherte mir, dass er uns beide sehr lieb habe, und wenn die Zeit gekommen
sei, werde er uns zu sich holen. Aber im Augenblick müssten wir ihn seiner
Arbeit überlassen und uns damit abfinden, dass es noch einige Zeit dauern
würde, bis wir endlich als Familie zusammenleben könnten. Ob sie wohl selbst
daran glaubte? Das habe ich mich oft gefragt. Konnte meine liebenswerte und
sonst so smarte Mutter wirklich derart dumm gewesen sein? Möglich. Mein
Geschlecht erweist sich in diesen Dingen oft als enttäuschend einfältig – ich
erinnere mich, mal über eine Frau gelesen zu haben, die einem Mann das Jawort
gab, nachdem dieser sie davon überzeugt hatte, dass er ein Spion sei.
Anschließend überredete der Hochstapler sie, ihm sämtliche Ersparnisse zu
überschreiben, ganze 130.000 Pfund. Mit der Begründung, er sei ein
Undercover-Agent und brauche das Geld als Überbrückungshilfe, bis seine
Vorgesetzten gefahrlos Kontakt zu ihm aufnehmen könnten. Sie wollte nie einen
Beweis dafür sehen, so sehr wollte sie daran glauben, dass diese irrwitzige
Scharade einer Liebesaffäre real war. Wie um ihrer Demütigung die Krone
aufzusetzen, posierte sie später auch noch bereitwillig für Fotos in einem
Boulevardmagazin und gab dort mit trauriger Miene ihre Geschichte zum
Besten. Sollte ich für diese Person etwa Mitleid empfinden? Für einen
erwachsenen Menschen, der von einer Märchenromanze träumte, ohne zu
hinterfragen, wie dieser Mann ausgerechnet sie, eine Frau Mitte fünfzig (die
keinen Tag jünger aussah), so kalt erwischen konnte? Marie war ein anderes
Kaliber als jene Frau, aber für solche Wahnvorstellungen offenbar genauso
anfällig.
Obwohl sie mir das Blaue vom Himmel versprach, was meinen Vater und
unser zukünftiges gemeinsames Leben anging, war Marie klug genug, mir nicht
alles über ihn zu verraten. Sie erzählte gerade so viel, um meine Neugier zu
befriedigen, aber nichts Konkretes. Doch als wir ein paar Monate später einen
Ausflug nach Hampstead Heath unternahmen, machte sie den Fehler, mir sein
Zuhause zu zeigen. Wir hatten uns in einem waldigen Gebiet verlaufen, und es
begann zu regnen. Meine Mutter ergriff meine Hand und marschierte mit mir
einen Hügel hinauf, um einen Weg zur Hauptstraße zu finden, wo wir
hoffentlich den Bus nehmen konnten. Als wir die Bushaltestelle dann erreichten,
ging sie einfach weiter. Murrend zog ich den Anorak enger, denn trotz des
Wolkenbruchs marschierten wir noch einmal zehn Minuten über einen langen
Privatweg, bis sie schließlich langsamer wurde und stehen blieb.
Am Ende des Weges erkannte ich ein Haus. Marie starrte es eine Weile
schweigend an, bis ich ungeduldig an ihrer Hand zerrte. Wobei »erkannte« nicht
ganz korrekt ist, denn das riesige, mit Überwachungskameras bestückte Eisentor
verbarg den Großteil des eigentlichen Anwesens. Wir wohnten in einer
Dachkammer an einer Hauptverkehrsstraße. Warum ein Haus so wichtig sein
konnte, dass man es vor Blicken verbergen musste, überstieg damals meine
Vorstellungskraft. Ohne mich anzusehen, deutete meine Mutter auf das Tor.
»Grace, das ist das Haus deines Vaters«, sagte sie beinahe ehrfürchtig – immer
noch, ohne mich dabei anzusehen. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
Nass bis auf die Haut und eingeschüchtert von dieser riesigen Villa, wich ich
langsam zurück. Vielleicht konnte ich Marie auf diese Weise ja dazu drängen, zur
Bushaltestelle und in die Sicherheit unserer Wohnung zurückzukehren. Als sie
meine Verunsicherung bemerkte, schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln und
sagte: »Wie schade, dass dein Vater heute nicht zu Hause ist, Grace. Aber ist es
nicht schön? Eines Tages wirst du hier dein eigenes Zimmer haben!« Ich nickte
stumm, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Sie ergriff erneut meine
Hand, und wir machten uns auf den Heimweg. Über diesen Ausflug haben wir
nie wieder gesprochen. Das eigene Zimmer, das sie mir damals versprochen hat,
habe ich mir oft ausgemalt. In meiner Vorstellung hatte es eine rosa Tapete, ein
großes Doppelbett und manchmal sogar einen Schrank voller neuer Kleider.
Doch egal, wie tief ich mich in diesen Kaninchenbau verkroch: Eigentlich war
mir immer klar, dass Marie gelogen hatte und es hinter dem großen Eisentor nie
ein Zimmer für mich geben würde. Und ich erinnere mich, schon damals
begriffen zu haben, dass Marie und mir ein großes Unrecht zugefügt wurde.
So viel also zu meinem Vater. Nicht gerade der Vater, den ich mir ausgesucht
hätte, hätte ich ein Wörtchen mitzureden gehabt. Aber so ist es nun mal. Manche
Väter schlagen ihre Kinder. Andere Väter tragen in der Öffentlichkeit Crocs. Auf
die eine oder andere Art haben wir alle unser Kreuz zu tragen. Ich habe Ihnen
bisher nur wenig über seinen Charakter und seinen Werdegang verraten, nicht
wahr? Keine Sorge, dazu kommen wir noch. Wenn Sie wirklich verstehen
wollen, warum ich getan habe, was ich getan habe, dann müssen wir vorher
allerdings erneut in meine Kindheit zurückkehren. Ich hoffe, das klingt nicht zu
selbstgefällig. Und wenn schon, dies ist meine Geschichte. Außerdem liege ich
gerade auf meiner Pritsche in einer Gefängniszelle, wo es so streng nach Trübsal
und Urin riecht, dass mir jede Ausrede recht ist, um mich in die Vergangenheit
zu flüchten.
Dies sind einige meiner frühesten Kindheitserinnerungen: Marie, die nicht
genug Geld für Lebensmittel, Strom und eines unvergesslichen Tages nicht
einmal für Sanitärprodukte hat; um sechs Uhr morgens aufstehen, damit Marie
rechtzeitig zur Arbeit im Café kommt, in dessen Hinterzimmer ich meine
Hausaufgaben erledige; meine Mutter so übermüdet sehen, dass sie von Tag zu
Tag ausgelaugter und fahler wirkt; den ganzen Winter lang frieren, weil wir die
Heizung nur am Monatsanfang anstellen, wenn Marie ihren Gehaltsscheck
bekommen hat.
Bis heute habe ich schreckliche Angst davor zu frieren. Damit ich morgens
nicht vor Kälte schlotternd aufwache, wie es mir als Kind so häufig passiert ist,
habe ich (sehr zur Irritation meines Vermieters) in meiner Wohnung zusätzliche
Heizkörper installieren lassen und eine Unmenge Geld für eine (rückblickend
betrachtet ziemlich abscheuliche) Überdecke aus Pelz rausgeschmissen.
Pelzprodukte sind moralisch vielleicht nicht vertretbar, aber wenn ich ehrlich
bin, fühlen sie sich auf nackter Haut einfach großartig an.
Marie brachte uns über die Runden, so gut sie eben konnte. Von ihren Eltern,
die – wie sie es formulierten – ihren Lebensentwurf nicht guthießen, bekam sie
weder Geld noch Unterstützung. Hortense ist einmal mit uns essen gewesen. Sie
war zum Einkaufen in London, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie aus
Spaß Verkäuferinnen terrorisierte und Kellnerinnen zum Heulen brachte. Meine
Mutter hatte mich in meine besten Sachen gesteckt: einen kratzenden Pullover,
den sie mir zu Weihnachten bei Marks & Spencer gekauft hatte und den ich
hasste – sie hingegen liebte ihn, weil er aus echter Wolle war und einen
gerüschten Halsausschnitt besaß –, sowie eine Cordhose, die am Bauch zwickte
und vorher einer Mitschülerin gehört hatte. Meine Großmutter begrüßte mich
mit einem knappen »Hallo« und wandte sich dann meiner Mutter zu, mit der sie
während des Essens ausschließlich Französisch sprach. Marie antwortete auf
Englisch, was Hortense nur noch verbissener machte. Als wir das Restaurant
verließen, zerrte Hortense am Kragen meines Pullis und schnüffelte daran. Sie
zeigte mit dem Finger auf mich und redete auf meine Mutter ein, der daraufhin
die Tränen in die Augen traten. Ich habe die alte Hexe nie wiedergesehen. Nach
Maries Tod schickte sie mir einen Brief, den ich nicht geöffnet, sondern
stattdessen zerrissen und Stück für Stück die Toilette hinuntergespült habe. Ich
hoffe, sie und ihr speichelleckerischer alter Ehemann sehen mich in den
Nachrichten und werden rund um die Uhr von Paparazzi belagert. Und ich bete,
dass sie von ihren Nachbarn mit Misstrauen oder, schlimmer noch,
geheucheltem Mitleid gestraft werden.
Wir waren also arm, und Marie hatte niemanden außer Helene. Bea, ihre einzige
andere echte Freundin, war nach einer gescheiterten Affäre vor einem fiesen
Modelagenten, der ihr einreden wollte, sie müsse unbedingt eine Essstörung
entwickeln, um mehr Geld zu verdienen, zurück nach Frankreich geflüchtet.
Manchmal schrieb meine Mutter des Nachts lange Briefe, zerriss sie wieder und
begann ein ums andere Mal wieder von vorn. Am nächsten Morgen legte sie die
Briefe auf dem Tisch bereit, um sie zum Briefkasten zu bringen. Der Name des
Empfängers sagte mir lange Zeit gar nichts, bis ich eines Tages einen offenbar
verworfenen Versuch im Mülleimer fand und ihn herausfischte.

Mein Liebling, ich verstehe, dass wir uns nicht mehr sehen können, und ich habe Deine
Entscheidung immer respektiert. Du weißt, wie sehr ich Dich geliebt habe und dass ich Dir
und Deiner Familie niemals wehtun oder Probleme bereiten würde. Aber Grace wird älter, und
ich wünsche mir so sehr, dass Du sie kennenlernst – nur ein wenig. Ich bitte Dich nicht um
Geld, und ich erwarte auch nicht, dass wir jemals wieder diese Nähe teilen, die einmal zwischen
uns herrschte. Aber sie braucht ihren Vater! Manchmal legt sie den Kopf zur Seite und grinst
mich an – dann sieht sie aus wie Du. Du kannst dir nicht vorstellen, mit wie viel Schmerz und
Stolz mich das jedes Mal erfüllt. Wie wäre es, wenn Du uns mal an einem Sonntag in
Highgate triffst, nur für eine Stunde? Bitte antworte mir, ich weiß nie, ob Du meine Briefe
überhaupt liest.

Dieser Brief hat mich drei wichtige Dinge gelehrt. Erstens, dass es sich fast
immer lohnt herumzuschnüffeln. Zweitens, dass mein Vater verheiratet war und
nichts mit mir zu tun haben wollte, obwohl Marie versuchte, mir etwas anderes
weiszumachen. Und drittens das Wichtigste: die Identität des Don Juan, der
meiner Mutter das Herz gebrochen und uns in unserem Elend allein gelassen
hatte. Wie sich herausstellte, war mir sein Name bereits bekannt. Wie den
meisten anderen Menschen auch. Mein Vater ist Simon Artemis. Einer der
reichsten Männer der Welt. Oder besser gesagt war er es, als er noch unter den
Lebenden weilte.
Das war der Gong. Ich muss in die Wäscherei. Einen niemals endenden Strom
angegrauter Laken waschen und falten. So viel Glamour ist manchmal kaum zu
ertragen.
kapitel 4

Ich hatte keine Kindheit wie in diesen schrecklichen Büchern, die es in


Flughafenbuchhandlungen gibt und die gewöhnlich Titel tragen wie Bitte nicht,
Daddy. Schreckliche Leidensgeschichten, die sich hauptsächlich deshalb
verkaufen, weil wir uns gerne am Elend anderer Leute ergötzen. Dass wir bei der
Lektüre einen Hauch von Mitleid oder Entsetzen verspüren, und sei er auch
noch so klein, gibt uns das Gefühl, bessere Menschen zu sein. »Ich hab mir beim
Lesen die Augen aus dem Kopf geweint, was für eine traurige Geschichte :(.« So
oder ähnlich lauten die Kommentare der Mütter in den Online-Buchclubs. Ach,
sieh mal einer an, du hast etwas über Kindesmissbrauch und lebenslange Traumata gelesen,
und es hat dich tatsächlich erschüttert, Kate1982? Was haben wir doch für ein Glück, dass du
uns daran teilhaben lässt, wie nah dir das gegangen ist.
Wie auch immer: Meine Kindheit – zumindest der Teil davon, in dem Marie
noch am Leben war – hatte auch gute Momente. Ich wurde sehr geliebt, und das
war mir stets bewusst, auch wenn diese Liebe nur von einem Elternteil ausging.
Mütter sind überaus versiert darin, uns mit Liebe zu überschütten. So sehr, dass
wir einen Mangel an Liebe von anderer Seite oft erst viel später bemerken. Marie
schulterte die Hauptlast unserer ärmlichen Lebensverhältnisse und verbarg die
Härten, die sie mit sich brachten, so gut es ging. Natürlich wusste ich, dass meine
Mutter es schwer hatte. Kindern entgeht so etwas nie, hab ich recht? Aber
Kinder sind auch erstaunlich egoistisch, und solange Marie diese Risse
erfolgreich kaschierte, spielte ich bereitwillig mit. Meine Mutter jobbte als Barista
in einem Café namens Angel, wo die heißen Getränke mindestens drei Pfund
kosteten und der Kuchen wegen der vielen Kundinnen, die kürzlich ihre
Glutenunverträglichkeit entdeckt hatten, kein Mehl enthielt. Außerdem putzte
sie in Highgate die Wohnungen von Society Ladys, die vermutlich niemals
Kuchen aßen. Den Lohn legte sie auf die hohe Kante. So kam alle drei Monate
gerade genug zusammen, um mit mir einen »Abenteuertrip« zu unternehmen.
Das war selten mehr als ein Ausflug zur Cutty Sark oder eine U-Bahn-Fahrt in die
Stadt, um die Weihnachtsbeleuchtung im Kaufhaus zu bewundern. Einmal
besuchten wir den Jahrmarkt in Hampstead Heath, wo ich zum ersten Mal
Zuckerwatte aß und beim Ringewerfen einen Goldfisch gewann. Den Fisch
setzten wir in eine Vase auf unserem Küchentisch, und ich nannte ihn RIP. Ich
fand das witzig, weil Jahrmarktfische keine hohe Lebenserwartung haben. Marie
fand es gemein. Täglich fütterte sie den Fisch und reinigte sein behelfsmäßiges
Heim, das sie mit ein paar Pflanzen und einem Stein dekorierte. Ich verlor schon
bald das Interesse an dem Tier, aber dank ihrer Pflege und Hingabe wurde RIP
noch zehn Jahre älter. Er überlebte sogar meine Mutter.
Marie und ich schlugen uns weiter durch. Ich ging auf eine nette Grundschule
am Bahnhof Seven Sisters, wo ich exakt einen Freund gewann. Ein Junge
namens Jimmy, der mit seiner Familie in einem schönen großen Haus wohnte,
wo die Zimmer mit einem Übermaß an Kissen und Teppichen dekoriert waren
und sich die Bücher bis unter die Decke stapelten. Seine Mutter war Therapeutin
und sein Vater praktischer Arzt. Die beiden hätten ihren Sohn problemlos auf
eine Privatschule schicken können, die sich nicht direkt neben einem An- und
Verkaufsladen befand, der nebenher Drogen vertickte. Doch in ihrem Fenster
hing ein großes Labour-Plakat, und wie so viele vermögende Linke plagten sie
wohl Schuldgefühle wegen ihres bourgeoisen Lebensstils. Ich nehme an, die
Schulbildung ihres Sohnes war das Opfer, das sie brachten, eine Art
Quidproquo. Jimmy ist auch heute noch Teil meines Lebens. Man könnte sogar
sagen, dass unsere Beziehung in letzter Zeit noch inniger geworden ist.
Für Marie und mich wäre es vermutlich so oder ähnlich weitergegangen. Ich
besuchte das Gymnasium gleich die Straße runter. Anfangs gemeinsam mit
Jimmy, der aber in der 7. Klasse so gnadenlos als Schnösel gemobbt wurde, dass
er doch noch auf eine Privatschule wechselte, die eigene Ziegen hielt und eine
Menge kunstsinniges Zeug veranstaltete – noch so ein halb garer Kompromiss
seiner Eltern. Diesmal fand ich ein paar Freunde mehr. Wenn uns mehr Zeit
geblieben wäre, hätte Marie unter Umständen einen besseren Job gefunden und
womöglich sogar einen netten Mann kennengelernt, der ihr von der immensen
Last auf ihren Schultern etwas abgenommen hätte. Ich wäre vielleicht zur Uni
gegangen und hätte später genug verdient, um für meine Mutter zu sorgen, ihr
ein Auto oder sogar eine Wohnung zu kaufen. Aber wenn uns dieses Schicksal
bestimmt gewesen wäre, würde ich jetzt sicher nicht in dieser Zelle sitzen und
hastig diese Worte schreiben, weil Kelly jeden Augenblick hier reinplatzen und
mich in ein Gespräch über ihre schönsten Heimwerker-Erlebnisse verwickeln
könnte. Stattdessen wurde Marie immer träger, grauer und müder. Wenn ich
morgens zur Schule ging, lag sie noch im Bett. Sie verlor eine ihrer Putzstellen,
weil sie verschlafen hatte. Um elf Uhr hätte sie anfangen sollen, um halb zwölf
wurde sie per Textmitteilung gefeuert – von irgendeiner geschniegelten Hexe in
einem seelenlosen Haus mit sechs Badezimmern. Eines Abends klagte sie über
Rückenschmerzen, als sie auf dem Sofa saß und mit Helene plauderte. Helene
drängte sie, zum Arzt zu gehen, aber Marie winkte ab. »Wann habe ich denn mal
keine Zipperlein und Wehwehchen gehabt, seit ich in diesem kalten, feuchten
Land lebe?«, sagte sie lachend.
Wer konnte schon wissen, wie dreckig es ihr wirklich ging? Ich jedenfalls nicht.
Kinder sind mit sich selbst beschäftigt, und Eltern haben gefälligst
unverwundbar zu sein. Das ist zumindest die stillschweigende Abmachung.
Doch Marie hat sie gebrochen. Zwei Monate später fuhr sie zum ersten Mal mit
mir in die Ferien, nach Cornwall. Wir wohnten an der Steilküste in einem
Caravanpark mit Blick auf das weite Meer, machten Spaziergänge entlang der
Küstenpfade und aßen eine Menge Eiscreme. Ich lag im Gras und löcherte sie
mit Fragen über ihre Kindheit in Frankreich, wollte von ihr wissen, was ich
machen müsste, um Fotografin zu werden, wenn ich groß war. Und ob ich
jemals lernen würde, Jungs zu mögen, so wie Erwachsene es tun, wenn doch alle
so unreif waren wie die in meiner Klasse. Darüber musste sie lachen. In diesem
Urlaub hat sie viel gelacht.
Ich war gerade dreizehn geworden, als immer deutlicher wurde, dass ihre
Schmerzen nicht allein auf die Schufterei und die ständigen Sorgen
zurückzuführen waren. Eines Tages holte mich Helene von der Schule ab und
fuhr mit mir zum Krankenhaus. Marie war auf der Arbeit zusammengebrochen,
und bevor ich sie sehen konnte, ging ihre einzige Freundin mit mir in den
Besucherraum, wo sie mich beiseitenahm und mir offenbarte, dass meine Mutter
an Krebs erkrankt war. Sie hatte sich vor dem Arztbesuch gedrückt und wie so
viele Frauen, die immer für andere da sind, die eigenen Bedürfnisse komplett
ignoriert. Marie wollte nicht, dass ich von ihrer Krankheit erfuhr, doch Helene
war der Meinung, ich hätte die Wahrheit verdient. Ich starrte zu den Neonröhren
an der Decke des Krankenhauses hinauf, und meine Ohren rauschten, als sie
mich fragte, ob ich ihr versprechen könne, in Gegenwart meiner Mutter tapfer
zu bleiben. Ich spürte, wie sich in meinem Hirn ein Schalter umlegte, als wäre ich
plötzlich auf Stand-by und würde nur noch eingeschränkt funktionieren. Später
fand ich heraus, dass dieses Phänomen Dissoziation genannt wird: Durch
Abspaltung von bestimmten psychischen Funktionen beschützt das Gehirn uns
vor Stress oder Traumata. Es ist ein schreckliches Gefühl. Doch in Momenten,
in denen ich mich gezwungen sah … nun ja … äußerst unangenehme Dinge zu
tun, hat es mir stets gute Dienste geleistet. Wenn man im Blut eines Menschen
steht, der gerade um sein Leben schreit, ist es ehrlich gesagt eine Erleichterung,
abschalten zu können.
Marie kam nicht mehr nach Hause, und sechs Wochen später war meine
tapfere, ausgebrannte Mutter tot. In der kurzen Zeit, die ihr nach ihrer Diagnose
noch geblieben war, hatte sie Helene das Versprechen abgerungen, mich bei sich
aufzunehmen. Wo hätte ich auch sonst hingehen sollen? Meine Großeltern
kamen nicht einmal zu der bescheidenen Trauerfeier, die ein paar von Maries
Modelfreundinnen aus ihren ersten Jahren in London sowie einige
Arbeitskolleginnen mit Unterstützung von Jimmys Eltern, John und Sophie,
organisiert hatten. In einem kleinen Café in der Nachbarschaft, wo meine Mutter
und ich samstagmorgens gerne einen Kakao getrunken hatten, um unserer
feuchten und kalten Wohnung zu entfliehen, hoben wir unsere Gläser auf Marie.
Das war mehr oder weniger das Ende meiner Kindheit. Ich zog zu Helene nach
Kensal Rise, wo ich zum ersten Mal ein eigenes Zimmer hatte. Ein kleiner Raum,
der bis dahin ihre Kleidung und ausrangierten Fitnessgeräte beherbergt hatte.
Das Goldfischglas bekam einen Platz auf der Frisierkommode. Helene hatte
nicht mit einem Teenager in ihrem Leben gerechnet, aber sie kümmerte sich um
mich, so gut es eben ging. Es war immer genug zu essen da, und sie gab mir
Geld für Reisen oder Klamotten. Aus Angst, ich könnte zur Strafe auf der Stelle
vom Blitz getroffen werden, habe ich es nie laut ausgesprochen, doch der
Lebensstandard war sehr viel höher als in unserer deprimierenden
Einzimmerwohnung. Ich wechselte auf eine Schule in der Nähe und wurde
schnell ziemlich unabhängig. Helene arbeitete bei einer Modelagentur und war
viel unterwegs, also ging ich nach dem Unterricht zum Zeitvertreib stundenlang
im Park spazieren oder auf einen Tee in die Costa-Filiale um die Ecke. Alles war
besser, als in mein leeres Zuhause zurückzukehren und darüber zu brüten, was
ich alles verloren hatte.
Helene hatte unsere alte Wohnung ausgeräumt, und obwohl es dort kaum
etwas von Wert gab, stellte sie sicher, dass ich Maries Opalring bekam, der
perfekt auf meinen Daumen passte und den ich den ganzen Tag rieb. Sie gab mir
auch eine Kiste mit Briefen, Dokumenten und Fotos aus Maries Jugend,
darunter ihr geliebtes Kookai-Poster. Ich habe die Briefe nie geöffnet. Von dem
Ring mal abgesehen bedeuten mir sentimentale Andenken nicht viel. Natürlich
konnte ich der Versuchung, nach einem Mord ein paar nette Souvenirs zu
behalten, niemals widerstehen, aber das kann man wohl kaum als sentimental
bezeichnen. Eines Tages, als ich unter Helenes Bett nach ihrem Glätteisen
suchte, fand ich eine weitere Kiste. Anders als die, die ich in meinem Zimmer
verwahrte, war sie nicht mit Blumen und Herzchen dekoriert. Sie sah aus wie die
Aktenkisten im Büro meines Schuldirektors: schmucklos und formell. Auf dem
Etikett stand in akkurater Schrift und mit roter Tinte »Grace/Simon«
geschrieben.
Natürlich schaute ich hinein. Ich zögerte keinen Moment. Ob andere etwas als
privat betrachten, ist mir auch heute noch egal – wenn jemand so fahrlässig ist, in
meiner Gegenwart etwas unbeobachtet zu lassen, dann sehe ich es mir an und
präge mir alles, was für mich von Interesse ist, ganz genau ein. Wer so
aufgewachsen ist, dass er sich nur auf eine einzige Person verlassen konnte, der
braucht vermutlich mehr Informationen als andere, um Vertrauen zu fassen.
Vielleicht will ich den Menschen ja auch nur in die Köpfe schauen, um ihnen
gegenüber im Vorteil zu sein. Leider funktioniert das nicht immer. Seit ich in
diesem Gefängnis sitze, lese ich Kellys Tagebuch, aber es ist verdammt schwer,
einen brauchbaren Einblick in die intimsten Gedanken zu bekommen, wenn sich
darunter kein einziger origineller findet.
Für den Fall, dass Helene unerwartet nach Hause kam, hockte ich mich auf ihre
Türschwelle. Obwohl die beste Freundin meiner Mutter die Beziehung meiner
Eltern von Anfang an miterlebt hatte, erzählte sie mir so gut wie nichts darüber.
Nicht einmal nach Maries Tod. Ich weiß, dass sie mich damit bloß schützen
wollte, deshalb habe ich sie auch nie bedrängt. Von daher war es also gut
möglich, dass mir diese Schachtel mehr verraten würde, als ich je von ihr
erfahren könnte. Helene war ein guter Mensch, aber keine Intelligenzbestie, und
sie hatte sicher nicht den größten Durchblick. Alle ihre Lieblingssendungen
liefen im Privatfernsehen – vielleicht verdeutlicht das, was ich damit meine.
Die Kiste war voller Papiere, größtenteils Zeitungsausschnitte, Briefe und
Fotos. Da sie völlig ungeordnet waren, verteilte ich sie auf mehrere thematisch
zusammenhängende Haufen. Erst danach betrachtete ich sie genauer. Einige der
Bilder zeigten meine Mutter und ihre Freundinnen in irgendwelchen dunklen
Londoner Klubs: Marie und Helene in Miniröcken und rauchend beim Tanzen.
Mir unbekannte Mädchen, die Champagnerflaschen schüttelten und damit
herumspritzten. Je öfter Simon auftauchte, desto weiter traten die Mädchen in
den Hintergrund. Es gab Fotografien von Simon mit anderen Männern, die
allesamt weiße Hemden, teure Markenjeans im Used-Look und Gürtel mit
großen goldenen Schnallen trugen. Sie kauten auf dicken Zigarren herum,
prosteten sich mit Schnapsgläsern zu, feixten in die Kamera und hatten einander
die Arme um die Schultern gelegt wie die Jungs in der Schule. Dann gab es
Schnappschüsse, auf denen nur meine Mum und Simon zu sehen waren: Er
wirbelte sie herum – ihr gepunkteter Rock verwackelt, ihr Gesicht hingegen
völlig scharf. Sie war total verzückt, verdrehte den Kopf, um den Blickkontakt
mit meinem Vater zu halten. Doch er sah sie gar nicht an, sondern grinste nur
selbstgefällig in die Kamera. Auf keinem einzigen dieser Fotos schaute er sie an.
Meistens griente er seinen Kumpels zu, die ihn offensichtlich genauso
anhimmelten, wie Marie es tat. Oder er zog Grimassen, trank Schnäpse, tanzte
unter dem Jubel seiner Entourage auf dem Tisch und nahm scherzhaft einen
gequält dreinblickenden Kellner in den Schwitzkasten, während die Menge um
ihn herum mit zerknautschten Gesichtern applaudierte.
Festzustellen, dass man den eigenen Vater verabscheut, ohne ihn je getroffen
zu haben, ist ein seltsames Gefühl. Natürlich wusste ich, dass er meine Mutter
schlecht behandelt hatte, aber das war nicht der einzige Grund. Eine Handvoll
Fotos reichten aus, mir kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Sein braun
gebranntes, strahlendes Gesicht verriet eine Selbstgefälligkeit, die mir in diesem
Ausmaß noch nie begegnet war. Sein offenkundiges Verlangen, alle
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war erbärmlich. Er raubte anderen
Menschen den Raum – Frauen wurden ins Abseits gedrängt, dienten nur noch
als hübsche Staffage für Simon Artemis. Seine Freunde wirkten so gierig und
hemmungslos, dass sie in der #MeToo-Ära bestimmt gut daran tun würden, sich
bedeckt zu halten. Beim Anblick dieser Bilder verspürte ich eine leichte Übelkeit.
Dieser Mann mit seinen schrecklich protzigen Klamotten und dem Drang, mit
jeder Pose seinen Testosteronspiegel zu demonstrieren … dieser Mann hatte zu
meiner DNA, meinem Charakter, meiner Existenz beigetragen. Nicht zum
ersten Mal fragte ich mich, ob Marie vielleicht eine schwere
Persönlichkeitsstörung vor mir verborgen hatte. Wie ließe sich sonst erklären,
dass sie sich diesem Mann an den Hals geworfen hatte? Wie hatte sie einen so
gewaltigen Fehler begehen können?
Ich war dreizehn, als ich diese Fotos zum ersten Mal sah. Ich wusste noch nicht
viel über die Beziehung zwischen Mann und Frau, über das Konzept des
Patriarchats, der emotionalen Manipulation, nicht einmal über die simpelsten
Grundlagen der sexuellen Anziehung. Ich sah nur, wie dieser widerliche Mann
seine abstoßendsten Charakterzüge vor der Kamera zur Schau stellte und meine
geliebte Mutter ihn dabei anschmachtete. In diesem Augenblick hasste ich sie
fast so sehr wie ihn.
Erst als ich die Bilder zurück in die Kiste stopfte, bemerkte ich meine geballte
Faust und ein leichtes Brennen im Nacken, das bei mir für gewöhnlich heftige
Kopfschmerzen ankündigt. Doch mir war klar, dass ich jetzt nicht aufhören
konnte, denn eine weitere Gelegenheit würde sich vielleicht so bald nicht bieten.
Wer wusste schon, was Helene mit dem Inhalt der Kiste vorhatte.
Als Nächstes nahm ich mir die vergilbten Zeitungsartikel vor. Manche waren
aus dem Wirtschafts-, andere aus dem Gesellschaftsteil oder aus Klatschblättern
ausgeschnitten, zumindest den Schlagzeilen nach zu urteilen: »Simon Artemis
kauft die Teenager-Modekette Sassy Girl«, »Artemis für Sweatshop-ähnliche
Arbeitsbedingungen kritisiert«, »Simon Artemis, Order of the British Empire?
Gerüchte um bevorstehende Auszeichnung des CEO von Artemis Holding«,
»Simon und Janine zeigen sich stolz mit ihrer Tochter«. Der letzte Artikel
stammte aus einem Hochglanzmagazin, die dazugehörigen Bilder zeigten meinen
Vater und seine Frau – von der ich nun wusste, dass sie Janine hieß –, umgeben
von flauschigen Hunden, flauschigen Teppichen und flankiert von einem
riesigen Weihnachtsbaum, der bis an die enorm hohe Decke des Raumes reichte.
In den Armen hielt Simon seine Tochter, die offenbar den Namen Bryony trug.
Sie sah aus, als wäre sie ungefähr drei Jahre alt. Ich schaute nach, wann der
Artikel erschienen war. Der Schmerz in meinen Nackenmuskeln wurde heftiger.
Ich war dreizehn Monate jünger als sie. Meine Halbschwester war also noch ein
Baby gewesen, als Simon sich in diesen Klubs herumgetrieben, meiner Mutter
den Hof gemacht und ihr was weiß ich was versprochen hatte. Die Fotos zeigten
dasselbe Anwesen, zu dem mich meine Mutter an diesem verregneten Tag in
Hampstead geschleppt hatte. Die Einrichtung war selbst für meine
Teenageraugen an Scheußlichkeit kaum zu überbieten. Janine (ich nehme einfach
mal an, dass sie die Schuldige war, denn die meisten Männer glauben immer
noch, es sei Frauensache, das Haus wohnlich zu gestalten) besaß augenscheinlich
eine überbordende Leidenschaft für Grau und Silber. Haben Sie schon mal eine
silberne Kaminumfassung gesehen? Ich spreche nicht von Edelstahl oder von
silberner Farbe, ich spreche von echtem, massivem Silber. Aus Wien importiert,
wie ich ein paar Jahre später erfuhr, als ich bei einer Mitarbeiterfeier kurzzeitig
im Haus weilte. Eine Gelegenheit, bei der sich Janine als hingebungsvolle
Gastgeberin erwies, die mit jedem ein paar Worte wechselte, als wäre sie die
Queen. Das gab mir die Möglichkeit, ein paar Fragen zu ihrer … sagen wir
mal … eigenwilligen Vorstellung von Innenarchitektur zu stellen. Vermutlich
wäre sie nicht so freundlich gewesen, wenn sie meine Pläne für sie und ihre
Lieben gekannt hätte. Wobei sie derart stolz auf den grauenhaften Kamin war,
dass ich mir da gar nicht so sicher bin.
Die Zeitungsausschnitte verrieten mir auch ein wenig darüber, womit Simon
sein Geld verdiente. Neben einer Klamottenmarke mit dem Namen Sassy Girl
gehörten ihm unter anderem die Billigfluglinie Sportus und im gesamten
Südosten Englands mehr als 1 800 Immobilien, deren Mieter ihm den wenig
schmeichelhaften Beinamen »Herr der Bruchbuden« verpasst hatten. Außerdem
besaß er diverse Hotels sowie ein paar Jachten, die man wochenweise chartern
konnte, wenn einem das Fünfsternehotel als Urlaubsdomizil zu anspruchslos
war. 1998 hatten Simon und Janine sich das Prestigeobjekt aller Prestigeobjekte
geleistet: ein Weingut. Dort produzierten sie einen Tropfen, dessen einzige
Abnehmer vermutlich ihre Freunde und Kumpanen waren: Chic Chablis. Der
Name sagt eigentlich alles, was man über diese Menschen wissen muss.
Ganz unten in der Kiste lag ein dicker, cremefarbener Umschlag. Darin
befanden sich zwei Schriftstücke. Das erste war ein mit schwarzer Tinte
geschriebener Brief, der offenbar von Simon persönlich stammte. Er war so
hastig dahingekritzelt, dass sich die Worte fast durchs Papier drückten.

Marie, danke für Deinen Brief. Es tut mir leid zu hören, dass Du krank bist, aber was Du
vorschlägst, ist unmöglich. Ich habe Dir schon viele Male gesagt, dass es ganz allein deine
Entscheidung war, das Baby zu bekommen. Du hattest kein Recht, Dir einzubilden, ich
würde für das Produkt einer sechswöchigen Romanze meine Familie und meinen guten Ruf
aufs Spiel setzen. Dennoch hast Du Dich entschlossen, es zu behalten, und seitdem versuchst
Du, mich zu nötigen, dieses Kind zu sehen – dabei gibt es nicht mal einen Beweis, dass es
überhaupt von mir ist. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben. Deine Tochter ist nicht Teil
meiner Familie und wird es auch niemals sein. Ich habe eine Frau, Marie! Ich habe eine
Tochter. Möglicherweise werde ich nächstes Jahr ehrenhalber in den Adelsstand erhoben. Es
muss endlich Schluss sein mit Deinen verzweifelten Versuchen, Dich in mein Leben
einzumischen! Ich habe diesem Brief einen Scheck über 5 000 Pfund beigelegt, was mehr als
großzügig ist, aber angesichts Deiner gesundheitlichen Probleme scheint es mir das Richtige zu
sein. Im Gegenzug erwarte ich, dass Du umgehend sämtliche Kontaktversuche einstellst. Simon.

Der zweite Brief, der sich in dem Umschlag befand, stammte von meiner Mutter
und war offenbar der Auslöser dieser albtraumhaften Tirade.
Obwohl ich ihre erbärmliche Schwäche für diesen Mann als demütigend und
beschämend empfand und ihre flehenden Appelle, die Verwundbarkeit sowie
den Kummer in ihrer Handschrift nicht sehen wollte, konnte ich nicht anders,
als ihn zu lesen. Denn sie war schwach, doch ich war stark. Ich würde das Feuer
der Wut in meinem Bauch weiter schüren und die Flamme am Brennen halten.

Liebster Simon,
ich weiß, Du hast mich gebeten, Dir nicht zu schreiben, und ich habe mich bemüht, Deine
Entscheidung zu respektieren, auch wenn sie mich traurig stimmt. Aber ich muss Dir leider
sagen, dass es mir nicht gut geht. Ich werde nicht mehr allzu lange leben, sagen zumindest die
Ärzte im Whittington Hospital (das ist gar nicht weit weg von Dir). Ich habe mich damit
abgefunden. Nicht, weil ich sterben will, sondern weil ich müde bin. Ich bin müde, und mir geht
es schon seit vielen Jahren schlecht. Das Leben war hart, seit Grace auf der Welt ist, und es
scheint kein bisschen leichter zu werden. Doch glaub bitte nicht für eine Sekunde, ich würde das
Grace anlasten. Sie war in all der Zeit mein Licht im Dunkel. Ich wünsche mir so sehr, Du
hättest sie erlebt, als Baby. Und als Kleinkind. Und als sie sechs war und unbedingt »Crystal«
genannt werden wollte. Ich wünschte, du hättest ihre Froschphase mitbekommen, in der sie eine
Woche lang nicht gesprochen, sondern nur noch gequakt hat. Oder als sie in der Schule den
Malwettbewerb gewonnen hat. Du hast so viel verpasst, aber den Rest musst Du nicht auch
noch verpassen. Ich schon. Ich werde alles verpassen, und das macht mir solche Angst, dass ich
nachts nicht schlafen kann – obwohl das Piepen des Monitors und der Lärm, der auf der
Station herrscht, sicher ihren Teil dazu beitragen. Simon, Du musst sie zu Dir nehmen. Du
musst Deiner Frau von ihr erzählen – für einen Fehltritt, der so viele Jahre zurückliegt, wird
sie Dir bestimmt verzeihen. Als Mutter wird sie doch sicher nicht wollen, dass ein Kind ohne
seine Eltern aufwächst? Ich habe nur wenig Geld. Zu wenig, um dafür zu sorgen, dass ihre
Teenagerzeit in geordneten Bahnen verläuft. Und meine Eltern haben nie aufgehört, mir die
Entscheidungen, die ich im Leben getroffen habe, übel zu nehmen – ich werde nicht zulassen,
dass ihr zart erblühender Geist von ihnen zerquetscht wird. Meine Freundin Helene hat
angeboten, Grace bei sich aufzunehmen, aber das wäre sicher nicht so wundervoll, wie im Kreis
der eigenen Familie aufzuwachsen. Ich möchte nicht betteln, mir bleibt jedoch keine andere
Wahl, um unserer Tochter willen. Bitte tu das Richtige. Ich weiß, dass Du ein guter Mensch
bist und Dein eigenes Kind nicht im Stich lassen wirst. Ich werde das Krankenhaus nicht mehr
verlassen, also schick Deine Antwort an mich bitte hierher: Whittington Hospital, 4. Stock,
Kolibri-Station.

Mit all meiner Liebe und Zuneigung


Marie

Ich verschloss die Kiste, schob sie zurück unters Bett und vergewisserte mich,
dass ich nicht aus Versehen etwas auf dem Boden liegen gelassen hatte, das
Helene meine Indiskretion verraten hätte. Anschließend muss ich die Wohnung
sofort verlassen haben, denn als ich wieder halbwegs klar denken konnte, fand
ich mich im Park wieder, wo ich mich auf eine Bank setzte und versuchte, mich
zu beruhigen. Ich legte zwei Finger auf die Innenseite des linken Handgelenks
und dann – als wollte ich den Kloß lösen, der sich dort hartnäckig festgesetzt
hatte – unterhalb des Kieferknochens an den Hals: Mein Puls raste noch immer.
Immerhin wusste ich nun mehr über meinen Vater als vorher. Ich wusste, dass
er reicher war, als ich es mir vorstellen konnte. Ich wusste, dass er eine Familie,
ein riesiges Haus und einen scheußlichen Kamin hatte. Und ein Unternehmen,
das sogar mir etwas sagte: Sassy Girl war eine Marke, die auch von den Mädchen
in meiner Schule getragen wurde. Ich wusste, dass er eine bekannte
Persönlichkeit war. Ich wusste, dass meine Mutter ihn auf dem Sterbebett um
Hilfe gebeten und dass er sie zurückgewiesen, beschimpft und ihr den Todesstoß
versetzt hatte. Ich wollte geradewegs zu seinem Haus marschieren und mich auf
ihn stürzen, auf ihn einprügeln, ihm meine Finger in die Augen stoßen und
seinen Kopf auf den grässlichen Marmorboden schmettern. Ich atmete langsam
durch und versuchte, mich auf die Wippe des Kinderspielplatzes zu
konzentrieren. Doch die Wut ließ nicht nach. Ich wusste, sie würde so bald nicht
abflauen, und sollte ich äußerlich auch noch so ruhig erscheinen. Mein Leben
lang hatte meine Mutter mich vor der Zurückweisung, der kalten Gefühllosigkeit
dieses Mannes bewahrt. Und in der Wärme, die von ihr ausging, hatte ich mich
behütet gefühlt. Aber im Tode konnte sie mir diesen Schmerz nicht mehr
abnehmen. Mir war natürlich klar, dass ich nicht einfach vor seinem Haus
auftauchen, dort klingeln und von ihm verlangen konnte, für seine Taten zu
bezahlen, wie immer der Preis auch aussehen mochte. Ich würde bloß bis zu
dem eisernen Tor kommen und dann abgewiesen werden. Die Familie Artemis
hatte fraglos Erfahrung darin, Mauern hochzuziehen und sich die Menschen
vom Leibe zu halten, die ihnen lästig waren: Schuldner, Fans, Bettler und
ungewollte Kinder. Mir wurde klar, dass ich Geduld brauchen würde. Ich würde
abwarten müssen, um in der Zwischenzeit einen Plan zu entwickeln, der in
Aktion treten konnte, wenn ich alt genug war, um leichter Kontakt mit ihnen
aufzunehmen. Dieser Gedanke tröstete mich. Bis zu meinem achtzehnten
Geburtstag blieben mir noch fünf Jahre. Fünf Jahre, um mir zu überlegen, wie
ich die Familie Artemis bluten lassen konnte. Ich erinnere mich noch lebhaft an
diesen Moment und habe seitdem oft daran zurückgedacht – immer mit einem
Lächeln auf den Lippen. Denn auch wenn ich mit dreizehn noch viel zu
gutmütig war, um diesen Gedanken so explizit zu fassen, bin ich mir sicher, dass
ich es unterschwellig schon damals als tröstend empfand, sie eines Tages spüren
zu lassen, wirklich spüren zu lassen, was für Qualen wir erlitten hatten.
kapitel 5

Ich war ganz und gar nicht versessen darauf, Andrew Artemis umzubringen.
Sicher, es musste erledigt werden, das stand außer Frage. Aber ich war nicht
darauf vorbereitet, dass einer von denen so … na ja … so nett war. Meine
Nachforschungen über seine Verwandten waren sorgfältig, akribisch, fast schon
obsessiv gewesen. Erst durch sie erkannte ich, wie verkommen diese Familie
tatsächlich war. Zu wissen, ich würde nichts vom Erdboden tilgen, das auch nur
ein Mindestmaß an Anstand besaß, machte es leichter, mich meiner anstehenden
Aufgabe voll und ganz zu widmen. Die Familie Artemis war die Verkörperung
des Raubtierkapitalismus, ein moralisches Vakuum, ein Totem der Gier. Im
Stillen hatte ich meinen persönlichen Rachefeldzug zwischenzeitlich sogar zum
Dienst an der Allgemeinheit glorifiziert. Gott, ich war halt noch unerträglich
jung.
Die Leichtigkeit, mit der ich Jeremy und Kathleen beseitigt hatte, machte mir
Mut. Eigentlich war es reines Glück: Einmal das Lenkrad herumgerissen, und
schon sausten sie über die Klippe. An Amirs Wagen war nicht einmal ein Kratzer
zurückgeblieben, der Verdacht erregen könnte. Dabei hätte so vieles schiefgehen
können. Wenn ich daran denke, muss ich heute noch zusammenzucken. Wäre
irgendetwas dazwischengekommen, dann hätte ich vielleicht die Nerven
verloren, hätte kurzfristig den Plan geändert oder Schlimmeres … und wäre
geschnappt worden. Aber alles lief glatt. In dieser Nacht hatte ich mehr Glück
als Verstand. Dass sich meine Großeltern so zügig und umstandslos aus dieser
Welt verabschiedet hatten, bestärkte mich enorm in meiner Entschlossenheit
weiterzumachen. Immerhin etwas, wofür ich den beiden Dank schulde.
Andrew war der Sohn von Simons Bruder Lee und vermutlich das
Familienmitglied, über das ich die wenigsten verlässlichen Informationen
zusammentragen konnte. Er war bei keiner der grotesken Familienfeiern
anwesend, bei denen Kellnerinnen Pfauenkostüme trugen (danke für diesen
Leckerbissen, liebe Klatschkolumnisten) und das Koks in akkurat gezogenen
Lines von Zylinder tragenden Zwergen auf dem Silbertablett serviert wurde. Er
verbrachte den Sommer nicht auf der Familienjacht, um sich, von oben bis
unten eingeölt, mit Bryonys klapperdürren, braun gebrannten Freundinnen auf
Deck zu aalen. Er bekleidete nicht einmal einen Gefälligkeitsposten im Artemis-
Komplex, der hoch aufragenden Firmenzentrale an der Portland Street, vor dem
immer, wenn Simon im Büro war, ein blank gewienerter grauer Bentley mit
laufendem Motor wartete. Die Luxuslimousine meines Vaters war quasi die
Artemis-Version der Flagge, die über dem Buckingham-Palast weht, wenn die
Queen zu Hause ist. Sogar meine Informantin Tina, mit der ich mich während
meiner Arbeit dort (dazu später mehr) aus taktischen Gründen angefreundet
hatte, konnte mir bei meinen Bemühungen, mehr über ihn in Erfahrung zu
bringen, kaum weiterhelfen. Als mir auffiel, dass Andrew in den Magazinartikeln
über die alljährliche Wohltätigkeitsgala der Familie nicht erwähnt wurde, schickte
ich ihr eine Textnachricht. Ihre Antwort beschränkte sich auf die vage
Vermutung, dass er vermutlich seinen eigenen Weg ging. Ich wusste, dass es
keinen Zweck hatte, weiter nachzuhaken. Wenn ich mich zu neugierig zeigte,
könnte sie skeptisch werden, und außerdem interessierte mein Cousin sie
offensichtlich überhaupt nicht.
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, als Andrew selbst der Beerdigung seiner
Großeltern (aus respektvoller Ferne beobachtet, eine seltsam ergötzliche
Angelegenheit) fernblieb. Und ich ließ nicht locker. Als ich ihn über Facebook
nicht ausfindig machen konnte, richtete ich einen Google Alert ein und wartete
geduldig ab. Schließlich tauchte sein Name in einem lokalen Onlinemagazin auf.
In dem Bericht ging es um eine Umweltinitiative, die irgend so ein alter Kauz im
Osten von London ins Leben gerufen hat. Ihre Mitglieder hatten sich dem
Schutz eines Feuchtgebiets verschrieben. Ich musste erst einmal recherchieren,
was ein Feuchtgebiet eigentlich genau ist. Doch dann wurde mir klar, dass
Andrew für einen Artemis ziemlich aus der Art geschlagen war – möglicherweise
sogar noch mehr, als ich es bin. Das will was heißen, schließlich leugnete diese
Familie meine gesamte Existenz, und zwar schon seit meiner Geburt.
Andrew hatte weder vor, das Feuchtgebiet zu planieren, um dort eine Fabrik
hochzuziehen, wo kleine Kinder leicht entflammbare Polyesterhemden
herstellen, noch wollte er die Sumpfkröten zusammentreiben, um aus ihrer Haut
Designerhandtaschen zu machen. Das wäre für die meisten Mitglieder seiner
Familie das Naheliegendste gewesen – vorausgesetzt, dass der Gewinn hoch
genug ausfiel. Nein, Andrew leistete ehrenamtliche Arbeit. Indem er das
Paarungsverhalten der örtlichen Kröten beobachtete, wollte er dazu beitragen,
dass diese grässlichen Kreaturen weiterhin einen Ort zum Leben und Gedeihen
haben. Und das ohne jegliche Gegenleistung. Hätte ich seine Großeltern nicht
von dieser staubigen spanischen Landstraße gedrängt, wären sie vermutlich an
einem Herzinfarkt gestorben, wenn sie gewusst hätten, womit ihr Enkelsohn
sein privilegiertes Leben verschwendete.
Mir wurde schnell klar, dass mein Job in der Firmenzentrale mir kein Stück
weiterhelfen würde, wenn ich an Andrew herankommen wollte. Vermutlich war
sogar das Gegenteil der Fall. Meine Erkundigungen dort fielen aufgrund meiner
untergeordneten Stellung leider frustrierend unergiebig aus. Immerhin erlaubten
sie mir zumindest den Schluss, dass mein Cousin vor ein paar Jahren die Bande
zu seiner Familie gekappt und von Jahr zu Jahr weniger Kontakt zu seinen
Eltern hatte. Die Ironie (wie Alanis Morissette sie definiert) daran war, dass ich
enorm viel Zeit und Energie darauf verwendet hatte, mir Zugang zum inneren
Zirkel des Hauses Artemis zu verschaffen, während mein Cousin nicht weniger
entschlossen daraus ausgebrochen war.
Andrew mochte zwar den klaren Willen zeigen, ein anderes Leben zu führen,
aber er würde immer einer von ihnen bleiben. Es war mehr als wahrscheinlich,
dass seine Familie ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen würde, wenn es ihn
irgendwann langweilen sollte, diesen ekligen Kröten dabei zu helfen, den
Londoner Osten zu gentrifizieren. Und das würde früher oder später passieren,
da brauchen wir uns gar nichts vorzumachen. Nicht zu vernachlässigen war
außerdem, dass Andrew ein potenzieller Nutznießer wäre, wenn der Rest der
Familie verstarb. Und wie Sie wissen, arbeitete ich emsig daran, diesen Tag
herbeizuführen. Mir blieb also keine andere Wahl: Ich las mir ein gewisses
Grundwissen über Amphibien an, kaufte mir eine scheußliche Outdoorjacke und
bewarb mich als ehrenamtliche Helferin bei der Initiative zur Rettung der
Sümpfe von Walthamstow.
Ich habe mal einen dieser halbdokumentarischen Filme gesehen, die
sonntagabends auf Channel 5 laufen und auf wahren Begebenheiten basieren.
Dabei ging es um eine Karrierefrau, die als Aussteigerin in die Berge zog. Sie
entsagte ihren Designerhandtaschen und ihrem oberflächlichen Großstadtleben,
dessen klischeehafte Inszenierung sofort verriet, dass im Regiestuhl ein Mann
gesessen hatte. Stattdessen züchtete sie Ziegen und lernte die Erdverbundenheit
des Landlebens, die unverfälschte Kraft der Natur zu schätzen. Der Film malte
dieses Bild in leuchtenden Farben, die Hauptdarstellerin trug immerzu
fleckenlose Arbeitsoveralls, und ununterbrochen schien die Sonne. Für einen
kurzen Augenblick führte er mich in Versuchung, doch dann fiel mir wieder ein,
dass ich mordsmäßig dringende Familienangelegenheiten zu erledigen hatte. Was
ich eigentlich sagen will: Die Sümpfe von Walthamstow werden niemals Drehort
für etwas annähernd Vergleichbares sein. Von diesem öden Flecken Natur wird
niemand mit einer inspirierenden Geschichte zurückkehren. Kein Mensch wird
je zu der Erkenntnis gelangen, dass es nichts Beglückenderes gibt, als Haarnetz
und Gummihandschuhe überzuziehen, um das heilige Krötenbiotop bloß nicht
zu kontaminieren.
Die Einführung in die ehrenamtliche Arbeit fand an einem schwülen Tag im
Mai statt. Ausgerüstet mit vernünftigem Schuhwerk, Parka, Anglerhut und einer
Brille mit klaren Gläsern, fühlte ich mich völlig unsichtbar, als ich in King’s
Cross die Regionalbahn bestieg. Eine zugleich irritierende und interessante
Erfahrung. Kein Mann blickte mir nach oder grinste mich an. Ich hatte sogar ein
Lunchpaket dabei, was ich bei Menschen, die älter als acht Jahre sind, immer als
alarmierendes Zeichen betrachtet habe. Doch laut Google Maps war das
Sumpfgebiet von jedem mir bekannten Café viel zu weit entfernt, und ich würde
den Teufel tun, irgendetwas zu mir zu nehmen, das Zutaten enthalten könnte,
die aus der freien Natur, vom Stadtrand oder schlimmstenfalls sogar aus der
freien Natur am Stadtrand kamen.
Das Besucherzentrum der Initiative war ein trostloser Anblick – und das ist
noch beschönigend formuliert. Stellen Sie sich also bitte keinen hell beleuchteten
Komplex mit freundlichen Hinweisschildern und einer funktionierenden Toilette
vor. Es war eine Baracke mit Wellblechdach, deren Inneres mit kindischen
Postern dekoriert war, die krakelige Abstraktionen von Unkräutern und Vögeln
zeigten. Dort wartete bereits Roger, der Leiter der Initiative, um mich und einen
weiteren Neuling zu begrüßen. Dass ich nicht die Einzige war, die sich
hierherbemüht hatte, um ehrenamtlich im Morast zu wühlen, brachte mich
ehrlich gesagt ziemlich aus der Fassung – schließlich war es wohl kaum die
motivierende Aussicht auf einen Mord, die meiner Mitbewerberin ihre
Entscheidung versüßt hatte. Lucy war, wie sie Roger und mir erzählte, dreißig
Jahre alt, arbeitete im IT-Bereich und hatte sich schon immer danach gesehnt,
mehr Zeit in der Natur zu verbringen. Ihr blasses und abgehärmtes Gesicht
erweckte den Eindruck, dass sie nur selten in Kontakt mit Vitamin D kam. Als
ich sah, wie Roberts Augen bei ihren Worten aufleuchteten und er jedem
einzelnen mit enthusiastischem Nicken zustimmte, bemühte ich mich
verzweifelt, keine Miene zu verziehen.
»Da bist du hier genau am richtigen Ort, Lucy! Wir sind zwar kein UNESCO-
Weltkulturerbe, aber ich sage immer gerne, dass diese Sümpfe das wahre achte
Weltwunder sind!«, verkündete er strahlend, und als er lachte, versanken seine
Augen in der faltigen Haut, die sie umgab. Ich konnte mir vorstellen, dass er
diese Floskel mindestens einmal am Tag zum Besten gab, und fragte mich, ob er
wohl eine Frau hatte, die vermutlich hocherfreut wäre, wenn ich ihn ihr vom
Hals schaffen würde.
Mit der Outdoorjacke hatte ich offensichtlich ins Schwarze getroffen. Lucy trug
ein ganz ähnliches Modell, und Roger setzte sogar noch einen drauf: Das Ding,
in das er sich hineingezwängt hatte, ließ sich nur als wasserdichter Strampelanzug
beschreiben. Er bot uns Tee aus der Thermoskanne an, lehnte sich an den
Empfangstisch und erläuterte uns unsere zukünftigen Aufgaben. Trotz seiner
wiederholten Beteuerungen, wir würden damit in die aufregende Welt des
Umweltschutzes eintauchen, beschränkten sie sich mehr oder weniger aufs
Unkrautjäten, das laut Roger überaus wichtig sei, um das empfindliche
ökologische Gleichgewicht des Biotops zu erhalten. Anschließend verließen wir
das Besucherzentrum für einen Rundgang über das Gelände. Nach
fünfundzwanzig Minuten hatte Roger uns alles gezeigt, was es in den
Walthamstow-Sümpfen zu sehen gab. Wobei Walthamstow-Sumpf
wahrscheinlich ein angemessenerer Name wäre.
Von einem Naturschauspiel war diese deprimierende Angelegenheit jedenfalls
weit entfernt: In einiger Distanz stand ein einsamer Reiher, im Schilf schwirrte
ein Schwarm Fliegen herum, davon abgesehen waren Tiere Mangelware.
Besucher allerdings auch. Unterwegs echauffierte sich Roger mit finsterem
Gesicht über das örtliche Kultur- und Freizeitzentrum und beklagte die unfaire
Verteilung der Fördermittel. Stellen Sie sich mal vor, ein Kulturzentrum wäre Ihr
Erzfeind.
Während Lucy ihr offenbar aufrichtiges Interesse an der Einweisung
demonstrierte, indem sie Roger mit umständlichen Fragen zu Themen wie
Krötenzäunen und Kompostierung löcherte, beschränkte ich mich darauf,
gelegentlich stumm zu nicken und dabei nach meinem Cousin Andrew Ausschau
zu halten. Die wenigen Fotos, die es von ihm gab, zeigten ihn als jungen Mann.
Er war groß, schlank, hatte sandfarbenes Haar und irritierend symmetrische
Zähne, insgesamt relativ gut aussehend. Ich würde sagen, nach Londoner
Maßstäben durchschnittlich attraktiv. Wäre ich ihm in einer Bar begegnet, hätte
ich vielleicht sogar einen zweiten Blick riskiert. Doch außer Roger und einer
alten Dame, die irgendwelche unidentifizierbaren Pflanzen ausrupfte und mich
ein wenig an die Protagonistin in Alan Bennetts Theaterstück The Lady in the Van
erinnerte, war niemand zu sehen.
Absurderweise ließ uns Roger an diesem Tag nicht einmal selbst Hand anlegen.
Diese Arbeit sei ausgesprochen heikel, so seine Begründung. Er bestand darauf,
dass wir stattdessen in die Baracke zurückkehrten, wo er uns eine geschlagene
Stunde lang die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften vorkaute. Diese
erschöpften sich im Wesentlichen in wiederholten Warnungen vor den Teichen,
die nichts weiter als ein paar mickrige Pfützen waren. Doch Roger schärfte uns
nachdrücklich ein, dass diese Tümpel sehr viel tiefer seien, als wir uns das
vorstellen würden, und dass man ihre eigentliche Größe im Schilf kaum
ausmachen könne. Bei der Arbeit in der Nähe der Teiche gelte es deshalb,
höllisch aufzupassen. Bereits ein einziger Fehltritt könne fatale Konsequenzen
haben. Nicht einmal Lucy wirkte sonderlich überzeugt davon.
Gegen Ende der Einweisung hielt Roger andachtsvoll inne und blickte gen
Himmel, als würde er um Erlaubnis ersuchen, dann verkündete er grinsend:
»Und jetzt kommt der Moment, auf den ihr sicher schon gewartet habt: die
FRÖSCHE.«
»In diesem Land gibt es nur zwei einheimische Froscharten, den Grasfrosch
und den Teichfrosch«, belehrte er uns mit breitem Lächeln. »Man findet sie vor
allem in seichten Gewässern und Gärten. Aber hier bei uns haben wir einen
exotischeren Gast. O ja! Den SEEFROSCH.« Wieder legte er eine Kunstpause
ein, offenbar in Erwartung jenes Raunens, das Lucy dann auch hören ließ. Erst
dann referierte er weiter. »Der Seefrosch ist ein ganz besonderes Kerlchen. Ein
gewisser Edward Percy Smith brachte 1935 zwölf davon aus Ungarn mit. Wie es
in ihrer Natur liegt, überwanden sie die Grenzen seines Gartens und vermehrten
sich. Wirklich clevere Bürschchen«, erklärte er mit anerkennendem Nicken, als
hätten diese Tiere eine Art Masterplan zur Kolonisierung der Britischen Inseln
verfolgt.
Anschließend führte er uns an den Rand des größten Tümpels und ermahnte
uns, mucksmäuschenstill zu sein. Roger wog locker hundert Kilo, bewegte sich
aber mit der katzenartigen Geschicklichkeit eines geübten Fassadenkletterers.
»Wir dürfen sie nicht erschrecken«, flüsterte er und ließ den Blick über die
Wasseroberfläche schweifen. Allmählich fragte ich mich, ob dies wirklich der
beste Weg war, um Andrew zu finden. Vor meinem inneren Auge sah ich mich
Wochenende für Wochenende stumm neben Roger im Regen stehen und auf die
Viecher warten, während mir der Schlamm in die Stiefel sickerte und die Kälte in
die Knochen fuhr. Plötzlich fühlte ich mich dem Aufgeben sehr nahe. Aber ich
hatte keine bessere Option. Andrew war der Nächste auf meiner Liste, und wenn
ich einen Plan habe, dann verwerfe ich den nur ungern. Das bringt alles
durcheinander.
Es folgten fünfzehn Minuten des unangenehmen Schweigens, in denen Roger
herumschlich und Ausschau hielt, während Lucy regungslos verharrte, dabei
aber aussah, als würde sie jeden Augenblick vor Erwartung explodieren. Dann
tat sich endlich etwas. Der alte Mann hob die Hand und winkte uns mit dem
gekrümmten Finger heran. Auf Zehenspitzen tappten wir durchs Schilf, um
einen Blick auf das versprochene Wunderwesen zu erhaschen. Nach Rogers
vollmundiger Beschreibung hätte ich mich nicht gewundert, ein riesiges Tier zu
sehen, dessen Haut in verschiedenen Farben funkelte, während es lustig
herumhüpfte. Was wir stattdessen zu Gesicht bekamen, war ein klitzekleiner,
schlammgrüner Fleck, dessen einziger Schmuck aus ein paar hellgrünen Linien
auf dem Rücken bestand. Es war so ziemlich das Überbewertetste, was ich je
gesehen habe, und das will ganz schön was heißen, denn Jimmys Mutter Sophie
hatte uns einmal gezwungen, Das Leben ist schön zu schauen. Als wir uns dem
Frosch näherten, hüpfte er eilig zurück ins Schilf, und Rogers Blick hätte kaum
vorwurfsvoller sein können, wenn wir versucht hätten, das Tier mit Pfeilen
aufzuspießen.
»Na ja, ihr habt das Verhalten der Frösche einfach noch nicht verinnerlicht.
Aber nächste Woche könnt ihr vielleicht eine Paarung erleben! Es ist gerade
genau die richtige Zeit dafür.« Ich nahm mir fest vor, niemals das Verhalten
eines so unspektakulär aussehenden Frosches zu verinnerlichen, und folgte den
beiden zurück zum Besucherzentrum, um meine Sachen zu holen.
Ich wollte mich gerade auf den Heimweg machen, da entdeckte ich eine
Pinnwand mit Fotos der festen und ehrenamtlichen Mitarbeiter. In Comic Sans
gedruckte Schildchen gaben Auskunft darüber, um wen es sich jeweils handelte.
Ich brauchte ein Weilchen, da ich nach dem adretten Prinzen suchte, den ich von
den Familienfotos kannte. Schließlich entdeckte ich ihn: Andrew hatte das Haar
zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug … einen Ohrring mit einem großen
Muschelanhänger. Solchen Hippie-Tand findet man nicht einmal mehr auf dem
Camden Market. Was war dem armen Kerl Schreckliches widerfahren, dass er
sich genötigt fühlte, so radikal mit seinem früheren Leben zu brechen? Er hatte
seine Entscheidung sogar noch untermauert – mit einem Ohrtunnel auf der
anderen Seite und einer hölzernen Halskette, die lauthals verkündete: »Nach der
Schule war ich ein Jahr im Ausland und hab diese Zeit nach Strich und Faden
verschwendet!«
Ich starrte länger auf das Foto, als es angebracht war, bevor ich mich bei Roger
betont beiläufig nach seinen Mitstreitern erkundigte. »Das ist Linda. Die hast du
vielleicht draußen beim Unkrautjäten gesehen.« Er senkte die Stimme: »Sie ist
einsam. Das arme Ding. Pflegt ihren demenzkranken Mann.« Ich fragte mich, ob
es wirklich so viel besser war, ein Froschbiotop vom Unkraut zu befreien, und
kam zu dem Schluss, dass vermutlich fast alles besser war, als dem Mann, den
man früher mal geliebt hat, auf die Toilette zu helfen.
»Dann wäre da Phyllis … Phil, wie wir sie nennen. Sie kann ein ziemlicher
Drachen sein, ist aber toll im Umgang mit Schulklassen. Und schließlich haben
wir noch den jungen Andrew. Er studiert die lokale Fauna und kennt sich sehr
gut mit dem Naturschutz aus. Wir können wirklich von Glück reden, ihn bei uns
zu haben. Er hat in Brighton seinen Abschluss in Umweltwissenschaften
gemacht und gerade ein Forschungsstipendium erhalten, um nächstes Jahr nach
Australien zu reisen und bislang nicht dokumentierte Froscharten zu
identifizieren. Dort gibt es bereits zweihundertvierzig bekannte Spezies«,
informierte er mich wehmütig.
»Ist Andrew hier?«, fragte ich.
»Heute nicht … er besucht ein Seminar. Es geht um Pilzbefall«, antwortete er,
worauf ich ihn ziemlich entsetzt angesehen haben muss. »Bei Fröschen«,
bemühte er sich, mich zu beruhigen, und lachte schallend.
Da der Probetag endlich vorbei war, raffte ich eilig meine Sachen zusammen
und trug mich in die Liste der ehrenamtlichen Helfer ein. Aus Angst, Lucy
könnte mit mir zurückfahren wollen, erklärte ich, dass ich noch einen
dringenden Termin hätte. Mir graute vor der Vorstellung, im Zug fünfundvierzig
lange Minuten die Ereignisse dieses ereignislosen Tages wiederkäuen zu müssen,
und das auch noch mit einer Person, die bei der Wahl einer neuen
Freizeitbeschäftigung dermaßen anspruchslos war. Seltsamerweise zog sie es vor,
noch etwas zu bleiben. Roger schien hocherfreut, bot ihr eine weitere Tasse Tee
an und erkundigte sich, was sie über Molche wisse. In der inständigen Hoffnung,
dass dies nicht Rogers Vorstellung von einem Anmachspruch war, trat ich die
Flucht an.
Das war also geschafft. Von nun an besuchte ich Roger jeden Samstag in
seinem trostlosen Mini-Königreich, um ihm zu Diensten zu sein. Samstag für
Samstag jätete ich Unkraut, hielt die Wege sauber und bemühte mich, es nicht
persönlich zu nehmen, dass Lucy bei der Hege und Pflege der Frösche Seite an
Seite mit Roger arbeitete, während ich bloß Handlangertätigkeiten verrichten
durfte. Wenn die beiden ihre Köpfe zusammensteckten, hörte ich sie kichern.
Die paar Worte, die ich aufschnappte, verrieten mir, dass er ihr beibrachte, wie
man die Frösche fing, um sie zu markieren. Keine Ahnung, wofür das gut sein
soll. Inzwischen wusste ich, dass der Gemeine Seefrosch alles andere als eine
seltene, gefährdete oder aus irgendeinem Grund wertvolle Art ist. In
Walthamstow existierten keine Amphibien, die aufgeschmissen gewesen wären,
wenn Roger sich nicht um sie gekümmert hätte. Diese Promenadenmischungen
der Sumpfwelt wären auch ohne einen Mann zurechtgekommen, der mit fünfzig
Jahren noch Hush Puppies an den Füßen trug.
Das Einzige, was mich davon abhielt, das Projekt auf der Stelle zu verlassen
und vorher möglichst vielen dieser Viecher mit voller Absicht den Hals
umzudrehen, war der Umstand, dass sie keinen hatten. Und natürlich Andrew,
den ich gleich bei meiner ersten Schicht entdeckte. Er fegte den Weg hinunter zu
den Teichen und summte dabei vor sich hin – zu welcher Musik, konnte ich
nicht herausfinden, da durch seine riesigen Kopfhörer kein Ton nach außen
drang. Vermutlich war es so etwas wie UB40. Da ich davon ausging, dass Roger
es sich nicht nehmen lassen würde, den Neulingen seinen Star persönlich
vorzustellen, wartete ich in aller Ruhe ab. Und tatsächlich: In der Pause führte er
ihn zu uns. Wir sagten Hallo, und Lucy quatschte sofort drauflos. Während sie
Andrew begeistert versicherte, dass die Arbeit ungeheuer interessant sei, sah ich
mir meinen Cousin genau an. Das lange Haar, das fast bis auf die Schultern
reichte, war ungepflegt und strähnig. Er trug eine kakifarbene Hose und eine alte
graue Weste. Seine Fingernägel waren von Schmutz und Dreck verkrustet. Aber
er war gut gebaut, und seine Muskeln waren nicht das Produkt eines schicken
Fitnessstudios, sondern ohne Zweifel das Ergebnis harter körperlicher Arbeit.
Hätte er sich etwas zurechtgemacht, wäre die familiäre Ähnlichkeit mit dem Rest
des Artemis-Clans sicher unverkennbar gewesen: Er hatte zwar ein freundliches
Gesicht, doch in seiner Iris sah ich den gleichen grauen Fleck wie bei meinem
Vater, und wenn er sich zur Seite drehte, erkannte ich das Profil meines
Großvaters. War da auch die gleiche Arroganz? Schwer zu sagen.
Ich erzählte Andrew dieselbe vage Geschichte, die ich schon Roger und Lucy
aufgetischt hatte: Mein Name war Lara. Ich war eine Immobilienmaklerin aus
Nordlondon, frisch getrennt von meinem langjährigen Freund und seit der Uni
fasziniert von Naturschutz. Mein Steckenpferd war die Renaturierung, und ich
suchte nach einer neuen Herausforderung. Für den Vornamen seiner Mutter
hatte ich mich entschieden, um zu sehen, ob ihn das verunsichern würde. Aber
er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen nickte er eifrig und bekannte,
dass er sich ebenfalls während des Studiums für unsere gemeinsame
Leidenschaft begeistert hatte. Das war zumindest ein guter Anfang.
Am Tag unserer ersten Begegnung war Andrew mit der Reparatur eines Zauns
beschäftigt, der sich gelöst hatte, während sich das ungleiche Paar Lucy und
Roger den Fröschen widmete und ich das Besucherzentrum putzte. An dieser
Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich bis dahin noch keinen einzigen
Besucher zu Gesicht bekommen hatte. Für den kommenden Montag war
allerdings ein Schulausflug angekündigt, und Roger konnte es kaum abwarten.
»Genau das brauchen unsere jungen Leute … die freie Natur … statt sich im
Freizeitzentrum herumzudrücken.« Ich beobachtete Andrew, der ohne größere
Anstrengung den Zaun wieder aufstellte und dabei völlig in seine Arbeit vertieft
war. Hätte er Jeremy nicht so ähnlich gesehen, wäre ich überzeugt gewesen, an
den Falschen geraten zu sein. Dieser Mann war arglos, fleißig und scheute sich
nicht, mit anzupacken. Ich würde wetten, dass seit 1963 kein Mitglied der
Artemis-Sippe auch nur einen Tag körperlich gearbeitet hatte. Es sei denn, es
galt neuerdings als harte Arbeit, wenn man andere Leute mit Füßen trat, um sich
zu bereichern.
Ich musste mir einen triftigen Grund einfallen lassen, um mit ihm ins Gespräch
zu kommen. Da es mir nicht sonderlich vielversprechend erschien, ihn um Tipps
zur Reinigung der winzigen Küche zu bitten, wartete ich die Mittagspause ab. Ich
holte mein Pausenbrot raus und setzte mich neben Andrew, der mit
geschlossenen Augen die Frühlingssonne aufsog.
»Es tut so gut, an der frischen Luft zu arbeiten«, sagte ich. »Ich hab’s echt satt,
den ganzen Tag im Büro zu hocken, immer nur dem Gewinn hinterherzujagen
und die Kunden eiskalt übers Ohr zu hauen.« Na gut, das war vielleicht ein
bisschen zu platt, aber es erfüllte seinen Zweck. Oft wollen die Menschen nur
ihre eigene Meinung bestätigt sehen. Für Männer gilt das ganz besonders, und
auch wenn Andrew sich als engagierter Ökokrieger präsentierte, war er dagegen
bestimmt nicht immun.
»Das ist verdammt WAHR«, pflichtete er mir lächelnd bei. »Dieser Ort hier ist
meine Zuflucht. Ich finde es unerträglich, dass diejenigen, die schon alles haben,
der Gesellschaft vorgaukeln, dass wir immer noch abstrusere Profite
erwirtschaften müssen. Nur damit die großen Konzerne noch mehr Kohle
machen können.«
Okay, das war einfacher, als ich dachte. Nach einem fünfzehnminütigen
Gespräch über den Kapitalismus und die dunkle Seite des britischen Empires
erzählte ich ein wenig von »meiner« Familie, den Latimers. Dass es sich bei
Sophie und John eigentlich um die Eltern meines Freundes Jimmy handelte,
behielt ich für mich und nannte sie natürlich auch nicht bei ihrem richtigen
Namen. Doch sie waren die ideale Besetzung für meine Mär von der liberalen
Familie, die gegen den Klimawandel demonstrierte und die Labour Party wählte.
Eine Story, mit der ich ihn dazu bewegen wollte, über seine eigene
Verwandtschaft zu sprechen.
»Ich nehme an, bei dir in der Familie war es ähnlich«, beendete ich meine
Geschichte und bediente mich an seiner Schale mit eingelegten Oliven aus dem
Supermarkt. Er versteifte sich ein wenig und kratzte sich mit dem kleinen Finger
am Hals.
»Eigentlich nicht. Ich musste das alles selbst rausfinden. Meine Eltern haben
mir nicht viel ideologisches Rüstzeug mitgegeben. Sie waren damit beschäftigt,
das Leben zu genießen und Geld zu machen … na ja, wohl eher Geld zu
verprassen. Ich ging auf die beste Privatschule, hatte nette Kindermädchen, ein
tolles Zuhause. Und eine Zeit lang gab das für mich die Richtung vor: Mit
sechzehn machte ich ein Praktikum bei einem Investmentfonds, genoss den
Luxus, den meine Familie mir ermöglichte. Aber durch das Studium habe ich
mich verändert. Damals habe ich zum ersten Mal Ungleichheit erlebt. Die Leute
denken immer, Brighton wäre wohlhabend. Aber es hat wirklich arme Ecken.
Und die anderen Studenten … die waren alle so engagiert, nicht so abgehoben,
weißt du? Da habe ich mich für mich selbst geschämt, weißt du?«
Ich entschuldigte seine »Weißt du?«-Fragerei als nervösen Tick und bemühte
mich, wohlwollend darüber hinwegzusehen.
»Gut für dich«, erwiderte ich und drückte seinen Arm. »Es gehört Mut dazu,
mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.« Außer natürlich, man kann auf
einen millionenschweren Treuhandfonds zurückgreifen, wenn man es
irgendwann leid ist, wie das gemeine Volk zu leben. Doch Andrew nahm meinen
Zuspruch dankbar an und rieb sich geistesabwesend die Stelle, die ich gerade
berührt hatte.
Von da an hatte ich seine Aufmerksamkeit. Nach zwei weiteren Wochen des
Unkrautjätens schien mir die Zeit reif, und ich schlug ihm vor, nach der Arbeit
noch gemeinsam etwas zu trinken. Er war sofort Feuer und Flamme. Lucy leider
auch. Und – noch schlimmer – Roger ebenfalls. Wir landeten in einer tristen
Pinte unweit des Schutzgebiets. Wäre das Gebäude nicht irgendwann in der
jüngeren Vergangenheit von einem Kreisverkehr umzingelt worden, hätte es
dort vermutlich sogar ganz nett sein können. Vorausgesetzt natürlich, die
Weinkarte hätte mehr als einen lauwarmen Chardonnay aus Australien geboten –
von der Kundschaft mal ganz zu schweigen. Das Gespräch drehte sich
hauptsächlich um gottverdammte Frösche, und Andrew erzählte begeistert von
seiner privaten Amphibiensammlung.
»Für den Typen sind unsere einheimischen Frösche nicht interessant genug«,
erklärte uns Roger und verdrehte die Augen, um sich dann Andrew zuzuwenden.
»Stimmt doch, oder? Du bist immer auf der Suche nach etwas … Exotischerem.«
Bei ihm klang das, als wären ausländische Frösche eine Bedrohung. Als ob sie
den anständigen, hart arbeitenden Exemplaren in den hiesigen Sümpfen deren
Kumpel Andrew wegnehmen wollten. Ich zweifelte keinen Augenblick daran,
dass Roger für den Brexit gestimmt hatte. Während Roger sich Lucy zuwandte,
um sie in eine Diskussion über das Thema Mutterboden zu verwickeln,
heuchelte ich Interesse und bat meinen Cousin, mir mehr über sein Hobby zu
erzählen.
»Die Initiative ist eine tolle Sache«, gestand er mit gesenkter Stimme und beugte
dann den Kopf zu mir, als ob er mir ein Geheimnis anvertrauen wollte. »Und
Roger ist ein guter Kerl. Aber er hat recht: Ich interessiere mich tatsächlich für
die exotischeren Arten. Das klingt vielleicht verrückt …« Als ich ihn interessiert
ansah, stockte er kurz, bevor er weiterredete. »Aber auf der Suche nach
Wirkstoffen gegen Depressionen habe ich mit Fröschen experimentiert. Hast du
schon mal von Kambo gehört?«
Scheiße nochmal, Andrew, natürlich hatte ich das nicht. Normale Menschen
bringen Frösche nicht mit Depressionen in Zusammenhang. Normale Menschen
verschwenden ihre Zeit nicht in matschigen Tümpeln neben einer Schnellstraße
und warten auf Besucher, die niemals kommen. Andererseits versuchen normale
Menschen auch nicht, ihre ganze Familie auszumerzen. Vielleicht sollte ich
einfach weniger urteilen und mehr zuhören. Ich machte große Augen und blickte
ihn weiterhin betont interessiert an.
»Kambo ist das Sekret einer Froschart, und es gibt eine ganze Reihe von
Studien zu seiner Wirksamkeit gegen Depressionen und Suchtkrankheiten. Wir
sind alle so abhängig von der westlichen Medizin, die uns von den großen
Pharmakonzernen aufgezwungen wird. Aber es wird zunehmend klarer, dass die
Natur sehr viel bessere Möglichkeiten bereithält, um uns Menschen in unserem
Ringen mit uns selbst und unseren Problemen zu helfen. Kambo, Mann …« Er
stockte erneut und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass Roger nicht
zuhörte, bevor er fortfuhr. »Das Zeug hat schon bei so vielen Menschen Wunder
bewirkt. Aber wenn man zu viel davon einnimmt, kann das zu unkontrolliertem
Erbrechen führen. Ich versuche, die Dosierung zu perfektionieren. Das ist eine
echt heikle Sache. Deshalb halte ich bei mir zu Hause diese Frösche. Ich züchte
sie, um meinen Kambo-Vorrat zu vergrößern. Dann kann ich mehr Menschen
helfen.«
Jetzt war mein Interesse nicht mehr gespielt. Was für eine bizarre Methode zur
Behandlung psychischer Probleme: sich mit Froschsaft abzuschießen. Andrew
hätte sich auch einfach einen netten Therapeuten suchen können, der
Depressionen auf eine weniger verrückte Weise behandelt. Aber Kinder reicher
Eltern betrachten ihre Antriebslosigkeit und Bequemlichkeit seit jeher als ein
Handicap, das ihnen harte Arbeit unmöglich macht, weshalb sie stets versuchen,
Sonderwege zu gehen. Manche probieren sich als Klubbesitzer. Andere kiffen
und werden Künstler. Warum also nicht Froschsekret-Dealer?
Ich bombardierte ihn mit Fragen und beteuerte dann, dass ich ihn
bewundernswert mutig fände. Ich zeigte mich ihm gegenüber verletzlich, indem
ich ihm von meinem eigenen Kampf gegen die Depression erzählte. Was
natürlich völliger Quatsch war, denn obwohl ich wirklich allen Grund zur
Schwermut hätte, konnte ich ihr immer ein Schnippchen schlagen. Aber Männer
mögen es, wenn sich Frauen verletzlich zeigen. Ihnen gefällt es, wenn wir ihnen
das Gefühl vermitteln, dass wir zwar nach außen hin selbstbewusst wirken,
während wir eigentlich auf ihre Hilfe angewiesen sind.
Beim Verlassen des Pubs hatte ich den Eindruck, ihn endlich geknackt zu
haben. Andrew war ein netter Typ, wenn auch ziemlich weltfremd. Bis dahin
hatte ich in seinen Zügen immer seinen Vater und seinen Großvater gesehen,
und sofort war diese überwältigende Wut in mir aufgeflammt, die mir wie Säure
die Kehle verätzte. Jetzt war sie plötzlich nicht mehr da. Dieser jahrelang
geschürte Zorn, das Brennen im Hals und Brausen in den Ohren, hatte es mir so
leicht gemacht, Jeremy und Kathleen umzubringen. Ihm allein war es zu
verdanken, dass ich beim Töten so etwas wie Erleichterung empfunden hatte.
Das Brennen in der Luftröhre blieb wochenlang erloschen. Wie sollte ich diese
bevorstehende, neue Herausforderung bewältigen, wenn es mir nicht mehr
gelang, diese Flammen der Wut zu schüren?
In der nächsten Schicht tauschten Andrew und ich Telefonnummern aus (eine
der Tücken von Wegwerfhandys besteht darin, dass man seine eigene Nummer
nie auswendig kennt), und im Laufe der Woche schickten wir uns gegenseitig
Textnachrichten mit Links zu Forschungsergebnissen, die den jeweils anderen
interessieren könnten. Ich habe keine der Arbeiten durchgelesen, die er mir
geschickt hat, aber um angemessen glaubwürdig zu reagieren, reichte auch ein
kurzer Blick auf das Resümee. Gott segne diese hirnverbrannten Akademiker,
die jahrelang an einer todlangweiligen Studie arbeiten, obwohl sich kein Schwein
dafür interessiert, und sie dann praktischerweise mit einer Fußnote versehen, die
den ganzen Mist in knapp zwei Minuten zusammenfasst. Dass wir uns
Nachrichten mit dem Handy schickten, mag vielleicht wirken, als hätten wir
geflirtet, aber Andrew war vermutlich einfach nur dankbar, jemanden gefunden
zu haben, der seine obskure Leidenschaft für Amphibien und Halluzinogene
teilte. Die Alternative hätte eine ansonsten – wie ich aufrichtig hoffte – simple
Liquidierung aufs Abscheulichste verkompliziert.
Nach vier Wochen waren wir gute Freunde. Ich kannte seinen Lieblingsroman
(irgendetwas von William Boyd – was genau, hab ich vergessen), wusste, wo er
wohnte (mit vier anderen Typen, die alle promovierten, in einer WG in
Tottenham), und dass er strikter Veganer war. Wir gingen jeden Samstag nach
der Arbeit in den trostlosen Pub, wo wir uns regelmäßig betranken und ich mich
über Roger lustig machte, bis es Andrew zu weit ging. Inzwischen wusste ich,
wie ich ihn töten würde. Ähnlich wie bei meinen Großeltern war der Plan nicht
bis ins Detail ausgefuchst und hatte deshalb seine Schwachstellen, doch mein
erfolgreiches Debüt stimmte mich zuversichtlich. Außerdem war Andrew
ungeheuer vertrauensselig. Eines Samstags, nach dem Pub, schlug ich ihm vor,
noch mal zum Schutzgebiet hinüberzugehen. Er zögerte, willigte dann aber ein,
wenn auch ein wenig nervös.
Die Nacht war lau, die Sterne leuchteten hell – was in dieser smoggeplagten
Stadt eine echte Seltenheit ist –, und wir hatten eine Flasche Wein dabei.
»Roger würde durchdrehen«, sagte er lachend, »aber was soll schon groß
schiefgehen.« Trotz seiner viel beschworenen radikalen Überzeugungen war
mein Cousin kein großer Rebell. Ich nehme an, das ist das Ergebnis von
vierzehn Jahren Privatunterricht. Mit der Aussicht, dass ihr Zögling anschließend
willentlich die unausgesprochenen Regeln der britischen Gesellschaft bricht,
hauen Eltern sicher keine 250.000 Pfund für dessen Erziehung auf den Kopf.
Die Sicherheitsvorkehrungen der Umweltinitiative waren … gleich null. Es gab
einfach keine Sicherheitsmaßnahmen. Keinen Stacheldrahtzaun. Keine
Videoüberwachung. Was hätte man auch stehlen sollen? Ein paar Elritzen? Aber
Andrew hatte ohnehin einen eigenen Schlüssel. Wir gingen zum größten Tümpel
und setzten uns auf die kleine Holzplattform, die Roger angelegt hatte, um die
Frösche besser beobachten zu können. Ich öffnete den Wein, nahm einen
Schluck und reichte die Flasche an Andrew weiter. Während wir sie leerten, kam
ich irgendwann auf das Thema zu sprechen, das mir schon seit geraumer Zeit im
Kopf herumschwirrte.
»Darf ich diese Froschdroge mal probieren, Andrew? Du hast so viel davon
erzählt, und das klingt nach einem Abenteuer, das ich mir nur ungern entgehen
lassen würde.« Nach kurzem Schweigen hörte ich, wie er einmal tief
durchatmete.
»Lieber nicht, Lara. Ich weiß viel zu wenig darüber und bin immer noch auf der
Suche nach der richtigen Menge. Letzte Woche hab ich zu viel eingenommen
und war eine Viertelstunde lang ohne Bewusstsein. Ich kann das noch nicht
präzise genug dosieren … und ich will dich nicht als Versuchskaninchen
missbrauchen.«
Ich nickte und gab mich einsichtig. »Das verstehe ich gut. Und ich will dich
nicht unter Druck setzen. Ich dachte nur, dass es vielleicht gegen meine
Panikattacken helfen könnte, zumindest ein wenig …« Ich setzte voll und ganz
auf diese betretene Hilflosigkeit, die britischen Männern bereits in die Wiege
gelegt wird. Und sein lautes Seufzen gab mir Anlass zur Hoffnung.
»Ich wusste gar nicht, dass du unter Panikattacken leidest. Ich hab auch welche,
schon seit meiner Kindheit. Meiner Mutter hab ich dann immer gesagt, dass ich
keine Luft kriege. Aber ich konnte nicht richtig erklären, woran es lag. Vor
Kurzem sind sie wiedergekommen, sogar noch heftiger als früher.« Er sah mich
verständnisvoll an, nahm meine Hand und rieb geistesabwesend meinen
Daumen.
»Was ist passiert?«, fragte ich und legte die angemessene Portion Besorgnis in
meinen Blick. Ich habe festgestellt, dass es Männern gefällt, wenn Frauen sie mit
großen Augen anschauen. Es vermittelt ihnen den Eindruck, dass man ganz in
ihre Worte vertieft ist.
»Meine Großeltern hatten einen Unfall …«, murmelte er, starrte zu Boden und
ließ meine Hand wieder los. Statt weiterzubohren, trank ich einen Schluck Wein
und tauchte meine Finger in den Tümpel.
»Wie tief ist das Wasser? Roger tut immer so, als könnte sich das Monster von
Loch Ness hier verstecken.«
Andrew lachte, und als er sich die Haare aus dem Gesicht strich, klimperte der
scheußliche Muschelohrring. Seine Anspannung löste sich. »Dieser Ort hier ist
sein Ein und Alles. Roger stellt ihn gerne etwas größer und aufregender dar, als
er vielleicht ist. Die Tümpel sind alle ziemlich seicht, aber diesen hier hab ich mal
durchwatet und war überrascht, wie tief er ist. In der Mitte geht dir das Wasser
vermutlich bis zur Hüfte. Aber glaub mir, du willst nicht, dass Roger dich dabei
erwischt. Denk an die armen Frösche, Lara«, ermahnte er mich mit gespielter
Empörung. Die Flasche war leer, und ich beschloss, ein Taxi zu rufen. Da ich
betrunkener war als erwartet, half Andrew mir auf die Beine. Kichernd taumelten
wir zum Eingang zurück. Ich bot an, ihn zu Hause abzusetzen, aber da er
beteuerte, dass die frische Luft ihm guttun würde, stieg ich allein in den Toyota
Prius, dessen Fahrer offenbar eine merkwürdige Vorliebe für
Instrumentalversionen von Musical-Klassikern hegte. Wir waren schon fast bei
mir zu Hause angekommen, da vibrierte es in meiner Tasche. Linkisch entsperrte
ich das Handy und starrte aufs Display:
»Also gut, ich bin dabei. Nächsten Samstag, nach der Arbeit. Du bringst den Wein mit –
ein Rosé würde gut passen. Aber das bleibt TOPSECRET. Niemand darf von meinen
Experimenten erfahren.«
Trotz der grauenhaften Interpretation von »All that Jazz«, mit der das Taxi vor
meiner Haustür hielt, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Hab ich dich.

Die folgende Woche ist hart. Es fällt mir schwer, zu schlafen, zu arbeiten,
überhaupt irgendetwas zu tun, außer mir die Ereignisse des kommenden
Samstags auszumalen. Ich erinnere mich daran, wie ich mit siebzehn einmal zur
Geburtstagsfeier eines Mitschülers eingeladen war. Jimmy und ich gingen
gemeinsam zum Ort der Party, einem Klub in Finsbury Park, und fühlten uns
dabei ungeheuer glamourös. Wir hatten uns bei der Auswahl der Klamotten
gegenseitig beraten, hatten Wochen damit verbracht, falsche Ausweise zu
besorgen, und uns für Sophie eine eloquente Lügengeschichte zurechtgelegt.
Deren Details hatten wir regelrecht gepaukt, damit wir nicht – wie so viele
andere idiotische Teenager – schon vor dem großen Tag aufflogen. Das ging
übrigens alles auf mein Konto, Jim hätte sich sofort verraten. Man konnte ihm
jede Lüge von der Nase ablesen. Am Montag vor der Party waren wir vor lauter
Vorfreude so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Ich hatte ein nervöses
Kribbeln im Bauch, mein Körper schüttete Unmengen von Adrenalin aus. Die
Sorge, ob unser Plan funktionieren würde, ob wir in den Klub kommen und den
Abend erleben dürften, auf den wir uns so lange gefreut hatten, war so groß,
dass ich mich die ganze Nacht unruhig von einer Seite auf die andere wälzte. Es
war erbärmlich. Letzten Endes lief alles wie am Schnürchen, aber die Party war
eine riesige Enttäuschung, und wir mussten nachts um eins im eisigen Regen auf
den Bus warten. Jimmy hatte Angst, krank zu werden, während ich befürchtete,
er könnte es schon sein, weshalb ich es vermied, ihm zu nahe zu kommen.
Dieses tagelange Wechselbad der Gefühle hatten wir für etwas in Kauf
genommen, das all die Sorgen und Ängste einfach nicht wert war. Was ich
augenblicklich empfinde, ist ganz ähnlich, nur dass jetzt viel mehr auf dem Spiel
steht und ich aus Prinzip keinen Fuß mehr in einen Nachtbus setze.
Abgesehen davon, dass ich unauffällige Handschuhe benötige, dreht sich die
Vorbereitung für den kommenden Samstag weniger um die passende Garderobe
als vielmehr um die Wahl der richtigen Weinflasche: Sie sollte einen
Schraubverschluss haben. Beides besorge ich bereits am Montag. Dann scharre
ich fünf Tage lang nervös mit den Füßen, ertrage das endlose Kreisen der
Gedanken und das Bild des lächelnden Andrew, das sich immer dann in meinen
Kopf stiehlt, wenn es kaum unpassender sein könnte. Sofern ich mich richtig
erinnere, kannte Patrick Bateman keine roten Linien beim Überschreiten
moralischer Grenzen und hatte dennoch keine Schuldgefühle. Ich muss
zugeben, dass die Ausführung des Plans schwieriger ist, als ich gedacht hätte.
Doch schließlich bricht unvermeidlich der Samstagmorgen an. Statt wie üblich
den Zug zu nehmen, laufe ich den ganzen Weg bis zum Schutzgebiet zu Fuß – in
der Hoffnung, dass der stete Rhythmus der Schritte meine Nerven beruhigt. Das
funktioniert so gut, dass mein Lächeln selbst dann nicht verfliegt, als Roger mich
mit dem Streichen der barrierefreien Toilettentür beauftragt. Andrew ist spät
dran, und dreißig bange Minuten lang befürchte ich, dass er gar nicht mehr
kommt. Als er schließlich auftaucht, hat er die Haare mit einem Streifen T-Shirt-
Stoff hochgebunden. Seine kurze Hose sieht aus, als wäre sie aus alten
Flanellhemden zusammengeflickt. Sein Vater ist bestimmt Stammkunde bei
einem der Edelschneider in der Jermyn Street. Ein Gedanke, der mich kurz
zusammenzucken lässt. Was für eine Verschwendung. Ich winke ihm zu, ohne
meine Arbeit zu unterbrechen. Falls er wegen unseres Vorhabens Zweifel haben
sollte, ist es sicher besser, ihn nicht zu bedrängen. Im Laufe des Tages wird es
immer heißer. Roger, Lucy und die alte Dame, die sich vor ihrem senilen,
altersschwachen Gatten hierherflüchtet, sitzen in ebenso altersschwachen
Liegestühlen vor dem Besucherzentrum und beschriften aus Stöckchen
gebastelte Hinweisschilder mit Pflanzennamen, als gälte es, die Flora eines
nationalen Naturerbes zu kartografieren. Aber die Hitze ist allemal besser als
Regen. Dann könnten wir die Baracke nicht verlassen, und mein Plan würde wie
ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
Ich glaube, ich habe noch nie so hart gearbeitet wie an diesem Tag. Nach zwei
Anstrichen mit wetterfester Farbe schrubbe ich sogar noch die Toilettenwände.
Nichts kann mich so motivieren wie die Aussicht auf einen Mord. Um siebzehn
Uhr legen wir das Werkzeug beiseite, und Roger setzt Tee auf, den wir auf der
Terrasse trinken. Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Ein Gefühl der
Zugehörigkeit. Etwas Banales und völlig Sinnloses, aber besser als nichts – vor
allem, wenn man so etwas noch nie erlebt hat. Im Verlauf meiner Mission gab es
ein paar dieser Momente – Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob Gott
mir damit sagen wollte, dass ich den eingeschlagenen Weg verlassen und mein
Leben ändern sollte. Doch dann fiel mir meistens wieder ein, dass ich nicht an
Gott glaube. Und wenn er doch existieren sollte, dann hat er mir dieses Leben
eingebrockt. Aus welchem Grund sollte ich also auf ihn hören?
Um achtzehn Uhr machen Andrew und ich uns auf den Weg zum Pub. Roger
und Lucy schließen sich spontan an. Lucy geht inzwischen deutlich mehr aus
sich heraus, und ihre karnickelhafte Nervosität hat sich gelegt. Sie trägt ein zum
Stirnband gebundenes Bandana und eine Latzhose. Ihr Gesicht ist braun
gebrannt von der Arbeit im Freien. Ob sie Roger wohl als eine Art Vaterfigur
betrachtet? Ich kann es nicht wirklich sagen. Aber angesichts der Alternative
hoffe ich inständig, dass es so ist.
Im Pub ist wenig los, ein paar einzelne Tische sind mit den üblichen Freaks
besetzt, ein junger Mann nippt an einem Bier. Mit seinem Buch wirkt er ein
wenig fehl am Platz. Der Laden ist nicht unbedingt die Art von Lokal, das man
zum Lesen und Nachdenken aufsucht. Andrew und ich teilen uns eine Flasche
ungenießbaren Weißwein, während Lucy und Roger Bier mit Limo trinken. Das
Gespräch ist so gezwungen, wie es bei Menschen, die nicht aus Sympathie,
sondern über die Arbeit zusammengefunden haben, häufig der Fall ist. Um
etwas Schwung in die Sache zu bringen, bestelle ich eine weitere Flasche Wein –
mit der Ausrede, ich müsse mir für ein späteres Date Mut antrinken. Leider sieht
Roger sich dadurch beflissen, mir Tipps zu geben. Zum Beispiel, dass die Frau
dem Mann stets die Rechnung überlassen sollte. Und seiner Meinung nach gibt
es keine bessere Methode, das Eis zu brechen, als sich nach dem
Lieblingsbrettspiel seines Dates zu erkundigen – kein Witz!
»Mein Lieblingsspiel ist … und das ist natürlich streitbar … Monopoly!«, klärt
er uns dann ungefragt auf. Allerdings will trotz seines erwartungsvollen Blicks
niemand von ihm wissen, was daran eigentlich streitbar sein soll. Seine
offensichtliche Enttäuschung ist wohltuend.
Andrew wippt mit den Füßen, und ich befürchte, er könnte einen Rückzieher
machen, wenn wir zu lange hier rumhängen. Also beschließe ich, aufs Ganze zu
gehen. Ich leere mein Glas und stehe mit einem strahlenden Lächeln auf.
»Also dann … drückt mir die Daumen. Ich muss um halb neun im Angel sein.
Hoffen wir mal, dieser Kerl ist es wert.« Ich hänge mir meine Tasche um und
klopfe Andrew freundschaftlich auf die Schulter. Roger hebt zum Abschied sein
Glas, und Lucy hat zumindest ein verzagtes Winken für mich übrig. Nachdem
ich den Pub verlassen habe, gehe ich von der Hauptstraße zurück Richtung
Besucherzentrum. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich, Andrew keine
SMS zu schreiben und es lieber ihm zu überlassen, die Initiative zu ergreifen.
Stattdessen setze ich mich auf den Bordstein und öffne den mitgebrachten
Flachmann.
Normalerweise würde ich niemals aus diesem Behältnis trinken, das so
offensichtlich nach Hilfeschrei aussieht, aber ich musste den Wein für mich
gesondert abfüllen. Den für Andrew habe ich nämlich mit Wodka versetzt, und
es ist wichtig, dass ich einen klaren Kopf behalte. Jetzt verstehen Sie sicher auch,
weshalb ich eine Weinflasche mit Schraubverschluss ausgewählt habe: Ein
Korken hätte die Panscherei deutlich komplizierter gestaltet. Ein Drittel des
Inhalts ist in meinen Flachmann gewandert, und den Rest der Flasche habe ich
mit dem edelsten Schnaps aufgefüllt, den ich finden konnte. Andrew wird zwar
morgen ohnehin keinen Kater mehr haben können, doch es ist einfach
respektvoller, als den Wein mit Abbeizmittel zu strecken. Ich betrachte es als
eine Art flüssige Henkersmahlzeit. Obwohl die Amerikaner diese Tradition
offenbar abgeschafft haben. Angeblich hatte einer der Todeskandidaten einen
Festschmaus im Wert von mehreren Hundert Dollar bestellt und wollte dann
nichts davon essen. Die Wärter waren über dieses Verhalten so erbost, dass nun
niemand mehr in den Genuss dieser letzten Mahlzeit kommt. Ich schätze, die
anderen Häftlinge im Todestrakt haben den Namen dieses Mannes verflucht.
Wobei ich die Entschlossenheit bewundere, mit der er bis zur letzten Sekunde
alle vor den Kopf gestoßen hat.
Nach ein paar Schlucken aus dem Flachmann sehe ich eine Silhouette auf mich
zukommen. Manche Männer haben einen so unentschlossenen Gang, dass sie
die wirre Ziellosigkeit einer Kinderzeichnung ausstrahlen. Andrew ist so ein
Mann. Seine Frisur beseitigt die letzten Zweifel, dass es sich bei der Gestalt auf
der Straße um ihn handelt. Das leichte Schwanken deutet darauf hin, dass er die
zweite Flasche Wein ausgetrunken hat. Ich stehe auf und winke ihm lachend zu.
»Du blöde Kuh! Mich einfach da sitzen zu lassen!«, schnauft er lachend und
knufft mich scherzhaft gegen den Oberarm. »Roger hat ohne Punkt und Komma
über das städtische Recycling-Konzept referiert, und Lucy hing dabei an seinen
Lippen, als würde er ihr Komplimente machen.«
Er lässt seinen Rucksack fallen und kramt den Schlüsselbund hervor. Kaum
sind wir auf dem Gelände, gehe ich schnurstracks in die Küche des
Besucherzentrums und fülle zwei Tassen. Er darf auf keinen Fall sehen, dass wir
aus unterschiedlichen Flaschen trinken. Nach kurzer Suche finde ich Andrew auf
der Terrasse am Teich, wo er bereits mit den Vorbereitungen begonnen hat.
Amüsiert registriere ich, dass er Gummihandschuhe trägt. Wir gehen also beide
auf Nummer sicher.
»Ich werde dir die Flüssigkeit aus einer Pipette geben, in Ordnung? Ich kann
mir nicht vorstellen, dass du wirklich an einem Frosch lecken willst.« Er grinst,
aber seine Besorgnis ist nicht zu übersehen.
»Zerbrich dir darüber jetzt nicht den Kopf – lass uns erst noch etwas trinken.
Wenn du so weit bist, können wir das Zeug ja später einnehmen«, schlage ich
lächelnd vor und reiche ihm eine Tasse mit der Aufschrift »Frogtastic!«. Er
nimmt sie dankbar entgegen und trinkt. Angespannt warte ich ab, ob ihm der
hohe Alkoholgehalt auffällt, doch er nimmt sofort einen weiteren Schluck und
stellt die Tasse dann neben sich auf der Terrasse ab. Während er das
Froschsekret abfüllt, sprechen wir über seine Feldstudien und seine Pläne für die
Zeit nach Australien. Da ich jetzt nichts mehr zu verlieren habe, frage ich ihn, ob
seine Eltern seine Pläne unterstützen.
»Wir sprechen nicht miteinander«, antwortet er unverblümt. »Schon seit ein
paar Jahren nicht mehr. Ist auch besser so. Meine Familie ist Gift für mich.«
Exzellent erkannt, denke ich im Stillen und streichele tröstend seinen Arm.
»Was ist schiefgegangen?«
»Ach, nichts. Alles. Ich bin einfach in die falsche Familie geboren worden.
Früher hab ich immer Witze darüber gemacht, dass ich bei der Geburt
vertauscht worden bin und der richtige Sohn meiner Eltern gerade irgendwo im
Bentley an einem Strand entlangbrettert. Sie sind keine schlechten Menschen.
Zumindest Mum. Eigentlich ist sie sogar ganz reizend. Aber ihre Erwartungen
an mich drehten sich immer nur ums Geld und um die Firma meines Onkels. Es
war einfach schrecklich, und es war falsch. Nachdem ich klargestellt hatte, dass
ich nicht für das Familienunternehmen arbeiten würde, hab ich noch eine Zeit
lang den Kontakt zu ihnen gehalten, aber irgendwann wurde es einfach zu hart.
Sie ließen nicht locker, warfen mir vor, ich hätte eine dumme Entscheidung
getroffen und würde mich wie ein verwöhntes Blag verhalten.« Er nimmt einen
tiefen Schluck Wein. Und dann noch einen. Alle Menschen sollten Wein aus
Tassen trinken. Man verliert dabei so schnell das richtige Maß.
Je lockerer mein Cousin wird, desto mehr geht er aus sich heraus. Nachdem ich
ihm nachgeschenkt habe, erzählt er mir, dass sein Vater von der Eifersucht auf
den eigenen Bruder zerfressen worden sei und seine Mutter emotional
vernachlässigt habe. Andrews Schwester ist im Alter von neun Monaten
gestorben, deshalb wurde er niemals das Gefühl los, für sie beide leben zu
müssen. Schweigend mime ich die aufmerksame Zuhörerin und mitfühlende
Freundin, während ich heimlich dem Universum danke, dass ich mich nur mit
diesem einen Cousin herumschlagen muss. Inzwischen trinke ich ausschließlich
Wasser, aber Andrew ist bereits so beschwipst, dass ihm das niemals auffallen
würde. Fest davon überzeugt, er könne mir seine intimsten und komplexesten
Gedanken anvertrauen, hat er komplett in den Beichtstuhlmodus geschaltet.
Glauben Sie mir: Jeder Pfennig, den ein Therapeut verdient, ist verdammt hart
erarbeitet. Ich will ihn nicht drängen, aber das, was er an Familieninterna
ausplaudert, ist einfach nicht explizit genug, um mir wirklich weiterzuhelfen, und
wenn ich ihm gezielte Fragen stelle, erhalte ich nur schwammige und wenig
erschöpfende Antworten. Also wird es Zeit für den Froschschleim, denn sonst
wird mein Cousin bald zu betrunken sein, um die Prozedur noch durchführen zu
können, und ich werde eine weitere Woche warten müssen. Noch so einen
Kneipenabend mit Roger würde ich nicht ertragen.
Andrew bleibt auch mit zunehmendem Alkoholpegel ganz der
zuvorkommende Gentleman, zu dem man ihn in der Privatschule erzogen hat,
und als ich ihn an den ursprünglichen Plan erinnere, zögert er nicht einen
Moment. Er holt die vorbereitete Pipette hervor und erklärt mir, dass er mir eine
kleine Verbrennung zufügen muss, damit das Serum leichter eindringen kann.
»Wo ist es dir am liebsten?«, fragt er. »Die meisten Menschen wählen eine
Stelle, die leicht zu kaschieren ist.« Ich entscheide mich für die Fußsohle, um das
Brandmal nicht verstecken oder mir ständig Ausreden einfallen lassen zu
müssen. Ich schlüpfe aus meinen Sneakern und ziehe die Socken aus, die ich in
die Schuhe stecke. Mit einem prüfenden Blick vergewissere ich mich, dass auf
der Terrasse nichts mehr von mir herumliegt. Mir wird nicht viel Zeit bleiben,
wenn wir alles erledigt haben. Wenn ich ihn erledigt habe. Der Rosé ist leer, und
ich stelle die Flasche neben meiner Tasche ab. Die Tassen stopfe ich in ein
Seitenfach, um sie mit in die Küche zu nehmen.
»Wir müssen es gemeinsam machen«, erinnere ich Andrew. »Ich hab zu viel
Schiss, es allein zu versuchen. Lass uns das Zeug bitte gleichzeitig einnehmen.
Komm, wir springen zusammen.«
Lächelnd klemmt er sich einen seiner Rastazöpfe hinters Ohr. »Keine Angst,
Lara, ich mach das nicht zum ersten Mal. Ich werde dich auf dieser Reise leiten.«
So ein Quatsch. Von wegen Reise. Bei einer Reise bewegt man sich von einem
Ort zum anderen. Obwohl … auf gewisse Weise wird er das gleich tun.
Er entscheidet sich für eine Stelle am Oberarm, direkt unterhalb eines Tattoos,
das verdächtig nach einem Traumfänger aussieht. Immer noch besser als ein
chinesisches Schriftzeichen. Er entzündet zwei Streichhölzer und hält eins davon
unter meine linke Fußsohle. Es ist heiß, aber nicht schmerzhaft – ein klares
Zeichen, dass ich dringend eine Pediküre brauche. Dann trägt er die Flüssigkeit
auf.
»Leg dich hin«, instruiert er mich. »Wart ein paar Minuten ab und konzentrier
dich ganz aufs Atmen.« Ich blicke in den Nachthimmel, und aus dem
Augenwinkel registriere ich, wie er sich die Verbrennung am Arm zufügt. Ich
höre ihn tief durchatmen, dann legt er sich neben mich. »Wenn du dich
übergeben musst, sag mir Bescheid, dann roll ich dich auf die Seite. Gott sei
Dank gibt’s hier einen Teich.« Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sein Kichern
verstummt. Still liegen wir in der Dunkelheit und warten. Ich weiß nicht, wie
lange es dauert, aber mit einem Mal durchflutet eine angenehme Wärme meinen
Körper. Mich umfängt ein Gefühl tiefer Behaglichkeit, als ob ich von der Natur
umarmt, vom Wind gehalten würde.
»Ich kann es spüren«, flüstere ich und drehe mich zu ihm um. Andrew hat die
Augen geschlossen und seufzt leise. Ich fasse den Entschluss, einfach
bewegungslos liegen zu bleiben, um diese innige Verbindung zur Natur um mich
herum nicht zu unterbrechen. Das ständige Geplapper in meinem Kopf
verstummt, und alles, was ich noch höre, ist mein eigener Herzschlag. Ich frage
mich, ob Andrew ihn auch hört. Langsam und gleichmäßig. Ein Tier streicht an
meinen Fingern vorbei, und ich versuche, einen Blick darauf zu erhaschen. Es ist
seine Hand, die sich mit meiner vereinigt. Solidarität. Eine Art Verwandtschaft.
Es fühlt sich gut an.
NEIN.
Ich wälze mich herum, und trotz des sofort einsetzenden Schwindelgefühls
gelingt es mir mühelos, seinen schlaffen Körper ins Wasser zu stoßen. Er ist so
entspannt, dass ich kaum Kraft aufwenden muss. Erst im Fallen öffnet er die
Augen, und als unsere Blicke sich für den Bruchteil einer Sekunde treffen, wird
er aus seinen Träumen gerissen. Überrascht reißt er den Mund auf, als ob er
schreien wollte, doch er bleibt stumm. Der Wein und das Froschsekret haben
ganze Arbeit geleistet. Mit dem Kopf voran stürzt er in den Tümpel. Ich setze
mich auf, stemme beide Füße ins Wasser und drücke seinen Kopf nach unten,
während ich mich an der Kante der Terrasse festhalte, um Druck auszuüben.
Meine Zehennägel glitzern im Mondlicht. Obwohl er einen kurzen Augenblick
strampelt, spritzt es kaum, bevor der Widerstand verebbt und sich das Wasser
beruhigt. Keine Ahnung, wie lange das Ganze dauert, aber es fühlt sich an, als
würde ich mich selbst dabei aus der Ferne beobachten. Ich beuge mich vor,
starre auf den bewegungslosen Körper im Wasser hinab und suche nach
Lebenszeichen. Unter dem Einfluss einer ungetesteten Amphibiendroge einen
Mord zu begehen, ist wohl nicht unbedingt empfehlenswert. Eher nachlässig.
Aber man muss mit dem wenigen arbeiten, was das Leben einem bietet.
Als ich mir halbwegs sicher bin, dass er mir nicht entgegenspringen wird, wie es
in den meisten Horrorfilmen offenbar zum Standardrepertoire gehört, stecke ich
die Hand in den Teich und taste nach seinem Hals. Ich spritze mir Wasser ins
Gesicht, stehe auf, ziehe meine Socken und Schuhe wieder an, hole das
Handtuch aus meiner Tasche und wische die Holzdielen ab. Die Flasche und die
Phiole mit dem Froschsekret lasse ich zurück, das restliche Zeug wandert in eine
Plastiktüte. Da ich einmal beobachtet habe, wie Andrew zum Entsperren seines
Handys sein Geburtsdatum eingab – ja, sogar Hippies haben iPhones –, ist es ein
Kinderspiel, meine letzten Textnachrichten an ihn zu löschen. Zwar habe ich
unser Vorhaben mit keinem Wort erwähnt, aber unsere Verabredung ist zur
Sprache gekommen, und ich bin nicht scharf darauf, deswegen Fragen zu
beantworten. Während Andrew hinter mir im Wasser treibt, überprüfe ich ein
letztes Mal die Umgebung, und was ich im Licht der Handytaschenlampe
erblicke, stimmt mich zufrieden. Alles sieht nach einem Unfall aus. Unglücklich,
aber unverdächtig – die perfekte Balance.
Ich bringe die Tassen zurück in die Küche, spüle sie, trockne sie ab und stelle
sie dann in den Schrank. Anschließend schlüpfe ich zur Tür hinaus, ziehe die
Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf und gehe zielstrebig in Richtung
Straße, wo bereits ein Uber auf mich wartet. Mit dem unheimlichen Gefühl,
beobachtet zu werden, verharre ich einen kurzen Moment und werfe einen Blick
über die Schulter. Vermutlich gaukelt die Droge mir Dinge vor, die gar nicht
existieren. Ich schüttele den Anflug von Paranoia ab und steige in den Wagen.
Wir kurven eine Weile durch ruhige Seitengassen, bis wir die Hauptstraße
erreichen, wo es um diese Zeit bereits von Nachtschwärmern wimmelt, deren
Silhouetten sich vor meinen Augen drehen und verschwimmen. Ich öffne das
Fenster, um besser atmen zu können. Um mich zu beruhigen, spielen meine
Finger während des gesamten Rückwegs mit den Perlen der Kette, die ich
Andrew abgenommen habe, als er im Wasser lag. Ein neues Souvenir.
Zugegeben: Das ist eine eitle Marotte, die ich mir aus einem dieser Filme über
Serienmörder abgeschaut habe. Größtenteils einsame Männer, die mordeten,
weil es ihnen sexuelle Befriedigung bereitete. Ich habe beim Töten immer ein
Ziel vor Augen. Und das ist nicht erreicht, wenn mein Fahndungsfoto in einer
reißerischen Fernsehdoku über sexy Mörderinnen zu sehen ist.
Gute zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt, steige ich aus dem Wagen
und werfe die Plastiktüte mit dem Handtuch und den Gummihandschuhen in
einen Mülleimer. Schlagartig wird mir ganz eng in der Brust. Ohne zu atmen,
bleibe ich einen Augenblick stehen. Dann erlaube ich mir, das Gefühl der Trauer
zuzulassen. Zumindest für die Dauer des Heimwegs. Exakt neun Minuten lang
ertrage ich das übermächtige Gefühl der Reue und lasse die Tränen ungehindert
übers Gesicht rinnen. Als ich den Schlüssel im Schloss meiner Wohnungstür
herumdrehe, wische ich mir mit dem linken Ärmel die Augen und schüttele den
Kopf. Genug ist genug. Nach zwei Gläsern Wein und zwei Episoden von Golden
Girls ist die auf dem Heimweg empfundene Reue verflogen und die Wirkung der
Droge so weit abgeklungen, dass ich keine Sorge habe, nicht schlafen zu können.
Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gilt nicht meinem süßen Cousin, der
nun mit dem Gesicht nach unten in einem schlammigen Tümpel treibt: Während
ich es mir bequem mache, indem ich das hintere Ende der Bettdecke unter
meinen Füßen feststecke und ein Kissen in einem ganz bestimmten Winkel unter
den Oberschenkel schiebe, freue ich mich darauf, mir am nächsten Tag einen
ausgiebigen Brunch und anschließend eine Pediküre zu gönnen, um die letzten
Spuren des Froschsekrets zu beseitigen. Selfcare ist der neueste Konsumtrend, der
uns Frauen unter dem Deckmäntelchen feministischen Empowerments
aufgedrängt wird, aber Spaß machen kann er natürlich trotzdem. Und nach einer
Woche harter Arbeit sollte man sich dringend etwas Gutes tun.
kapitel 6

Das Schlimmste am Gefängnis ist weder das stundenlange Warten in der Zelle,
noch ist es das Essen. Es sind auch nicht die Spar- und
Privatisierungsmaßnahmen, die dazu geführt haben, dass inkompetente
Schwachköpfe in Uniform für Schwerverbrecher verantwortlich sind. Oder die
alten, zugigen Gebäude, in denen Ratten so normal sind, wie sie es vermutlich im
mittelalterlichen Knast von Marshalsea waren. Ich würde das alles bereitwillig
ertragen, wenn ich darauf hoffen könnte, eines Tages nicht mehr unter einer
Frau schlafen zu müssen, die statt i-Punkten Herzchen malt. Das Schlimmste am
Gefängnis sind irgendwelche Politiker, die auf die Idee kommen, wir Insassen
bräuchten dringend etwas zur seelischen Erbauung, damit wir aufhören, so fies
und angsteinflößend zu sein. Diese Schnapsidee führt zu hektischem
Aktivismus, und ehe man sichs versieht, steht so ein linker Trottel (ein Tory
käme nie auf die Idee, uns beibringen zu wollen, wie wir mit Töpfern unser
Aggressionsproblem in den Griff kriegen) auf der Matte und veranstaltet einen
Kurs (für den stets Teilnahmepflicht besteht), in dem wir unsere Gefühle malen
oder ähnlichen Blödsinn anstellen sollen.
Nach der ersten Unterrichtsstunde tauchen sie gewöhnlich nicht wieder auf.
Entweder sie sind zu überwältigt, um wiederzukommen, oder sie glauben, sie
hätten genug getan, um den Rest des Jahres mit ihrem sozialen Engagement
protzen zu können. Die richtig Rührigen unter ihnen schreiben anschließend
einen Feuilleton-Artikel, in dem sie mehr Respekt und bessere Bildungschancen
für Häftlinge einfordern – ganz so, als hätten sie jahrelang in Gefängnissen
gearbeitet und nicht nur ein Stündchen, als sie mal etwas unausgelastet waren.
Heute mussten wir aufgereiht zum Klassentrakt marschieren, um eine Stunde
lang Holzlöffel zu schnitzen. Ganz ehrlich, nicht einmal Mord gehört so
drakonisch bestraft. Das einzig Gute daran war, dass ich zum ersten Mal seit
einer Ewigkeit ein Messer in die Hand bekam. Wirklich schade, dass sie beim
Einsammeln so pedantisch gezählt wurden. Was ich als erzwungene
Zeitverschwendung sehe, macht Kelly extrem neidisch. Als wir uns nach dem
Kurs über den Weg laufen, erzählt sie mir, wie gerne sie daran teilgenommen
hätte, und kriegt sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung über meinen Löffel.
»Das wäre ein tolles Weihnachtsgeschenk für deine Mutter!«, schwärmt sie. Ich
blicke sie fassungslos an und warte auf den Moment, in dem ihr einfallen wird,
dass meine Mutter tot ist. Darauf kann ich vermutlich ewig warten. Also werfe
ich ihr den Löffel zu und gebe ihr den Tipp, ihn ihrer eigenen Mum zu schenken
und zu behaupten, sie habe das alberne Ding selbst gemacht. Sie freut sich wie
ein Kind, und ich frage mich nicht zum ersten Mal, was ihre Mutter eigentlich
für ein Mensch ist. Wer sich über einen krummen Holzlöffel freut, den die als
Straftäterin verurteilte, erwachsene Tochter im Knast gebastelt hat, muss schon
verdammt niedrige Ansprüche haben. Sie kann das Ding zu den anderen
Geschenken packen, der traurigen Zuckerdose aus Knete zum Geburtstag und
dem gestickten Vogel zu Ostern. Wertloser Krempel, von dem der Löffel sich
nur durch die Kerben an seinem Stiel unterscheidet. Sie sehen ein wenig wie
Hieroglyphen aus, doch wenn jemand genau hinsähe, würde ihm vielleicht
auffallen, dass es die Initialen der Menschen sind, die ich umgebracht habe. Kein
besonders cleverer Schachzug, aber ich war mit der Schnitzerei lange vor den
anderen Kursteilnehmerinnen fertig und wollte das Messer nicht eher als nötig
aus der Hand legen. Ich frage mich, ob Kellys Mutter dieses Detail wohl zu
schätzen weiß.
Zurück in meiner Zelle, hole ich Stift und Papier aus einem Paar
zusammengerollter Socken. Privatsphäre gibt es hier nicht, schon gar nicht mit
einer Zellengenossin wie meiner. Alle versuchen, sich gegenseitig ihre
Geheimnisse abzujagen, um sie als Druckmittel einzusetzen. Nur Kelly bemüht
sich nicht einmal, ihr Tagebuch zu verstecken. Wäre man dumm oder
gelangweilt genug, danach zu fragen, würde einem diese Frau ihr komplettes
Leben erzählen. Wer Kelly einmal eine Frage gestellt hat, wird diesen Fehler
wahrscheinlich nicht noch einmal begehen. Habe ich bereits erwähnt, warum sie
im Knast sitzt? Nicht – wie manche von uns – wegen eines Gewaltverbrechens
oder wegen Diebstahls. Kelly ist eine Erpresserin. Sie besitzt offenbar das
Talent, verheiratete Männer dazu zu bewegen, ihr intime Fotos zu schicken.
Fotos, von denen die Frauen dieser Herren sicher nicht begeistert sind. Sie fing
klein an, mithilfe einer Dating-App. Dann entdeckte sie Twitter für sich, wurde
mutiger und suchte sich prominentere Opfer. Kelly ist attraktiv. Sie hat volle
Lippen, die vermutlich aufgespritzt sind, aber auf den ersten Blick ganz gut
aussehen, und eine üppige rote Mähne. Als einer der Männer den Mut
aufbrachte, ihr kein Geld mehr zu schicken und zur Polizei zu gehen, wurden die
Beamten dank Kellys beschränkter Intelligenz schnell fündig. Die dumme Kuh
hatte sich das erpresste Geld aufs Konto ihres Liebhabers überweisen lassen und
wurde in der Folge zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Kein besonders
elegantes Verbrechen, da gebe ich Ihnen recht, aber ich empfinde auch kein
Mitleid für ihre Opfer. Wer so verblendet ist zu glauben, dass irgendjemand ein
körniges Handyfoto seines schlaffen kleinen Freundes sehen will, der hat es
verdient, dafür zu bluten.
Nachdem ich das Papier ausgerollt habe, setze ich mich auf die Pritsche, um
vor dem Abendessen noch ein bisschen zu schreiben. Anfangs war ich mir nicht
sicher, ob mir diese Ausflüge in die Vergangenheit guttun würden, doch wie sich
herausstellte, macht es mir sogar Freude, die Ereignisse von damals noch einmal
zu rekapitulieren. Ich empfinde echten Stolz dabei, sie niederzuschreiben. Ich
erinnere mich, wie sehr ich als junger Mensch von meinen Gefühlen geleitet
wurde – an dieses dringende Bedürfnis, das Unrecht wiedergutzumachen. In den
Jahren danach hatte ich meine Gefühle ziemlich gut im Griff: Die bevorstehende
Aufgabe erforderte zu viel Disziplin, um mich ihnen hinzugeben.
Ein zufälliger Beobachter hätte zwischen dem Tod meiner Mutter und dem
Augenblick, in dem ich meinen Plan in die Tat umsetzte, keine große
Veränderung an mir bemerkt. Wer mir im Verlauf dieser knapp zehn Jahre
begegnete, dürfte mich als ziemlich normale Vertreterin meiner Generation
empfunden haben. Und auf gewisse Weise war ich das auch. Ich lebte noch etwa
ein Jahr bei Helene. Das war gut, denn sie war oft weg, weshalb ich viel Zeit für
mich selbst hatte. Dass sie es in Ordnung fand, einen trauernden Teenager so
häufig sich selbst zu überlassen, macht deutlich, wie wenig sie eigentlich zum
Vormund geeignet war. Ich habe mich dennoch nie beschwert. Ich bin gerne
allein. Der dümmliche Small Talk anderer Menschen macht mich rasend, und auf
ihre ungelenken Kennenlernversuche kann ich erst recht verzichten. Ich war
vierzehn Jahre alt, da bekam Helene einen Job in Paris angeboten. Als sie mir
davon erzählte, gestand sie mir, dass es sie tatsächlich zurück in die Heimat zog.
Sie ergriff meine Hand und beteuerte, sie würde selbstverständlich bleiben, wenn
das mein Wunsch wäre, aber Jimmys Eltern würden mir gerne ein Zimmer
überlassen und mich mit Freuden aufnehmen. Sie machte dabei einen wirklich
unglücklichen Eindruck. Deshalb erschien es mir nicht besonders einfühlsam,
die Gelegenheit auszunutzen und auf der Stelle meine Sachen zu packen.
Stattdessen verdrückte ich ein Tränchen, starrte mit gesenktem Kopf zu Boden
und erklärte mit trauriger Stimme, dass sie den Job unbedingt annehmen müsse.
Dass ich sie natürlich schrecklich vermissen, aber immer ein schlechtes
Gewissen haben würde, sollte ich ihr diese einmalige Gelegenheit verbauen.
Helene war wirklich ein lieber Mensch und außerdem eine der letzten
Verbindungen zu meiner Mutter, doch ich brannte darauf, mein Leben in die
eigenen Hände zu nehmen und meinen Plan zu konkretisieren, der damals erste
Formen annahm. Helene würde mir mit ihren beschränkten Kontakten keine
große Hilfe sein. Was das betraf, versprach ich mir von Jimmys Eltern deutlich
mehr. Obwohl sie mit ihrem privilegierten Leben haderten, verkehrten sie in
einer Welt, in der sich jederzeit Türen öffnen konnten, wenn man die richtigen
Leute kannte. Da ich selbst weder über hilfreiche Ressourcen noch über
Verbindungen zu solchen gesellschaftlichen Kreisen verfügte, hatte ich nichts zu
verlieren.
Einen Monat später waren meine Taschen gepackt. RIP und ich fuhren mit
dem Taxi zu Jimmy. Helene war mit den Vorbereitungen für den Umzug nach
Frankreich zugange und veranstaltete dabei so ein Chaos, dass ich die Chance
ergriff, die Kiste unter ihrem Bett an mich zu nehmen. Sie würde sie vermutlich
nicht mal vermissen. Ich machte mir aber auch keine großen Sorgen für den Fall,
dass ihr der Verlust irgendwann auffallen sollte. Diese Papiere betrafen
schließlich mein Leben und meine Familie, und ich bezweifelte, dass Helene mir
deswegen eine Szene machen würde. Zu diesem Zeitpunkt wäre sie längst auf
der anderen Seite des Kanals und damit beschäftigt, sich ein neues Leben
aufzubauen. Jimmy und Sophie empfingen mich an der Haustür. Ihr Hund
Angus schlug mir fast das Goldfischglas aus der Hand, als er an mir hochsprang
und mir das Gesicht ableckte.
»Wir haben zur Feier deines Einzugs für dich gekocht«, sagte Sophie.
»Gemüselasagne. Und Annabelle hat Nachtisch gemacht.«
Jimmy verdrehte die Augen. »Kann Grace wenigstens ihr Zimmer sehen, bevor
sie diesen missratenen Kuchen probieren muss?« Während ich mich bei Sophie
bedankte und Annabelle zuwinkte, die in der Küche mit einem Spritzbeutel
hantierte, schnappte sich Jimmy mein Gepäck und eilte, immer zwei Stufen auf
einmal nehmend, die Treppe hinauf. Seine nervige kleine Schwester war
spindeldürr und elf Jahre alt. Ich hatte sie damals länger nicht gesehen, wusste
aber von Jimmy, dass die Kleine schon zur Psychoanalyse ging. Sophie war eine
überzeugte Befürworterin von Kinder- und Jugendtherapien. Ich hoffte
inbrünstig, dass sie nicht versuchen würde, mir ebenfalls eine aufzudrängen.
Sollte es doch dazu kommen, würde ich einfach behaupten, dass ich bereits vom
Schulpsychologen betreut wurde.
Mein Zimmer befand sich im Dachgeschoss, das von Annabelle gleich
gegenüber und Jimmys ein Stockwerk darunter. Allerdings noch gar nicht so
lange, wie er mir verriet. Er und seine Schwester hatten erst vor einer Woche die
Zimmer getauscht, als Sophie und John eines Abends plötzlich in Panik gerieten,
weil Jimmy und ich auf derselben Etage schlafen würden. Ich konnte mir lebhaft
vorstellen, wie die beiden bei einer Flasche Rotwein lautstark über pubertierende
Jungs, Hormone, gegenseitiges Einverständnis und die Frage diskutierten, ob ihr
Haus für ein schutzbedürftiges junges Mädchen eine sichere Umgebung bot.
Dabei gab es gar keinen Grund zur Sorge, denn obwohl ich Jimmy sehr
gernhatte und unsere Freundschaft immens schätzte, war ich damals der
Meinung, dass er – je nachdem, aus welcher Perspektive man ihn betrachtete –
ein wenig wie eine Kartoffel aussah. Gott sei Dank ging die Ähnlichkeit mit dem
Knollengemüse mit der Zeit verloren. Außerdem konnte ich mit gängigen
Teenager-Interessen wie Sex und Alkohol ohnehin nicht viel anfangen. Ich hatte
nicht vor, zu einer dieser kiffenden Langzeitstudentinnen zu mutieren, die sich
an der Uni einen faulen Lenz machten und zwischendurch als Backpacker durch
die Weltgeschichte reisten, um sich vor der Verantwortung des
Erwachsenenlebens zu drücken. Ich konnte gar nicht früh genug erwachsen
werden.
Nachdem ich mein Gepäck verstaut und ein wenig mit Jimmy gequatscht hatte,
gingen wir zum Essen nach unten. John war gerade nach Hause gekommen. Mit
der einen Hand goss er sich ein Glas Rotwein ein, während er mit der anderen
geistesabwesend seine Krawatte lockerte. Als er mich sah, nahm er mich in den
Arm und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, um anschließend die Teller zu
verteilen, die Sophie ihm reichte. Die Begrüßung fühlte sich irgendwie
merkwürdig an. In Jimmys Familie gingen alle so liebevoll miteinander um. Seine
Eltern tauschten ständig Zärtlichkeiten aus oder hielten Händchen, und niemand
schien das als störend oder übergriffig zu empfinden. In diesem Haushalt war
immer jemand zugegen, war immer etwas los, verstummte das
Hintergrundrauschen des Alltags niemals. Johns Umarmung war mir nicht
unangenehm. Im Gegenteil, ich empfand sie als schön, warm und liebenswürdig.
Gleichzeitig irritierte sie mich, weil mir dadurch auffiel, was mir viele Jahre
gefehlt hatte. Das ärgerte mich. Gerade weil es normal war, denn eine solche
Normalität kannte ich nicht – auch wenn sich Marie noch so sehr bemüht hatte,
mir einen Anschein davon zu vermitteln. Ich fragte mich, ob ich wohl lernen
würde, diese Art von Familienleben zu schätzen. Ob ich wohl auch irgendwann
ganz selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken, Küsse und
Umarmungen verteilen würde? Ob ich die Zeit mit meiner Mutter vergessen und
mich voll und ganz in dieses neue Leben stürzen würde? Eine reizvolle
Vorstellung, wobei ich aufpassen musste, dass ich nicht vom Kurs abkam. Die
Latimers waren nette Menschen, und ich konnte mich glücklich schätzen, bei
ihnen wohnen zu dürfen. Aber hätte ich diesen Lebensstil anstandslos
übernommen, dann wäre ich Gefahr gelaufen, irgendwann den Guardian zu
abonnieren, im Kunstbetrieb zu arbeiten und meinen Freunden zu Weihnachten
britischen Bio-Wein zu schenken. Abgesehen von den Schuldgefühlen, die es mit
sich brachte, und der eklatanten Scheinheiligkeit, die vor allem Sophie an den
Tag legte, war dieses Leben wie ein schönes warmes Schaumbad – nur leider
völlig ohne Sinn und Zweck.
Obwohl ich befürchtete, es könnte mich zu sehr ausbremsen, lebte ich mich
schnell bei den Latimers ein. Sophie bemühte sich aufopfernd um mein
Wohlergehen.
»Setz dich, wohin du magst, Schatz. Und nimm dir, was immer du willst.«
Mit allem, was sie tat, wollte sie mir vermitteln, dass ich mich als Teil der
Familie fühlen sollte, und eben dadurch machte sie mir unmissverständlich klar,
dass ich genau das nicht war. Ich nahm ihr das nicht übel, denn Sophie machte
bloß, was das schlechte Gewissen ihr diktierte. Ich kehrte in meine alte Schule
zurück und bereitete mich auf die Abschlussprüfung der Mittelstufe vor. Ich
kniete mich so rein, dass ich schließlich überall Bestnoten und eine Empfehlung
von der Schuldirektorin bekam, und zwar – wie sie es formulierte – »in
Anbetracht hervorragender Leistungen unter besonders schwierigen
Umständen«. Als sie mir die Urkunde mit meinem schlecht kalligrafierten
Namen darauf überreichte, ließ ich mir nicht anmerken, wie sehr es mich
ankotzte, dass sie mit geneigtem Kopf ihr Mitgefühl zur Schau stellte.
Jimmy und ich verbrachten jede freie Minute miteinander. Obwohl ich mich
mit meinen Mitschülerinnen gut verstand, war ich nicht im Geringsten daran
interessiert, mich irgendeiner Clique unzertrennlicher Freundinnen
anzuschließen, die ihre Zeit damit verbrachten, pedantisch zu analysieren, was
die Begrüßung eines bestimmten Jungen tatsächlich bedeuten könnte. Jimmy
hatte schon seit der Grundschule einen festen Freundeskreis, Jungs, mit denen er
im Park um die Ecke Fußball spielte oder an Wochenenden zu Hause
Videospiele zockte. Mein Einzug degradierte sie allesamt zu Nebendarstellern.
Sophie war davon gar nicht begeistert. Regelmäßig schlug sie vor, eine Partie
Tennis zu spielen oder einen Pizzaabend zu veranstalten, und zwar mit »allen
unseren Freunden«, womit eigentlich nur Jimmys Freunde gemeint waren. Doch
er verdrehte nur die Augen und murmelte so etwas wie: »Vielleicht nächstes
Mal.« Ich konnte Sophies Sorge nicht teilen. Wenn sie sich nicht gerade
gegenseitig verarschten, waren Jimmys Freunde ziemlich einsilbig. Keiner von
ihnen sah mir in die Augen, wenn ich sie ansprach, als ob sie schon bei bloßem
Blickkontakt mit dem anderen Geschlecht eine bindende Verpflichtung
eingingen und dann bei der unvermeidlichen Scheidung ihre Xbox abgeben
müssten. Außerdem kamen Jimmy und ich gut alleine klar – wir brauchten sonst
niemanden. Wir liebten es, stundenlang zu quatschen oder auch nur schweigend
zusammen abzuhängen. Sogar unsere Hausaufgaben machten wir gerne
gemeinsam. Jimmy sprach mich nie auf meine Trauer an, aber wenn er mich
ansah, wusste ich, dass er sie verstand. Ohne dabei den Kopf schräg zu legen.
Ich fühlte mich bei den Latimers zu Hause. Sophie und John behandelten mich
fast wie eine eigene Tochter. Nur manchmal präsentierten sie mich stolz ihren
Freunden, als wäre ich ein Flüchtling, den sie selbstlos bei sich aufgenommen
hatten. Ich nehme an, auf gewisse Weise war ich das auch. Ich war immer gut
drauf, stets hilfsbereit und machte Jimmy glücklich. Dafür gaben die Latimers
mir zu essen, kleideten mich ein, überhäuften mich mit Liebenswürdigkeiten.
Und beide Parteien ersparten sich die unangenehme Frage, wie lange ich Teil
dieser Familie bleiben würde. Das war wohl der Deal. Ungeachtet meiner
Proteste, bestanden sie darauf, mir die Stunden bei einer befreundeten
Therapeutin namens Elsa zu bezahlen, einer plumpen Frau, die eine Brille mit
dickem schwarzen Rahmen und Ketten aus Holzperlen trug. Sie sprach kaum ein
Wort, und nachdem ich ihr mehrfach erzählt hatte, wie freudig ich der Zukunft
entgegenblickte, erklärte sie mich sechs Wochen später für therapiert.
Nach ein oder zwei Jahren hatte ich verstanden, wie wohlhabend die Latimers
wirklich waren. Es wurde nie über Geld gesprochen, und im Gegensatz zu
meinem Vater schmissen sie auch nicht damit um sich. Dass es im Überfluss
vorhanden war, ließ sich dennoch nicht ignorieren. Fast alle Lebensmittel
wurden von gehobenen Feinkostläden geliefert. Auf jedem Tisch im Haus
standen frische Blumen, große, kunstvoll arrangierte Sträuße, wie man sie im
Supermarkt vergeblich suchen würde. Sophie konnte Hunderte von Pfund für
Sofakissen aus einem Laden für persisches Kunsthandwerk in Crouch End
ausgeben und das ohne jede Ironie als Schnäppchen bezeichnen. Sie unterhielten
sich darüber, wie wichtig das »wahre Stadtleben« für sie war, hatten aber
eigentlich keinerlei Berührung mit dem »wahren Leben«. Ich wusste nicht mal,
was sie damit meinten. Vermutlich wussten sie es selbst nicht. Das Artemis-
Anwesen war durch riesige Tore geschützt. Die Latimers hätten das grauenhaft
gefunden, aber im Grunde tickten sie gar nicht so anders. Ich begriff, wie absurd
dieses Leben war, gleichzeitig fiel es schwer, seine Vorteile nicht zu genießen. Als
ich fünfzehn war, bediente ich mich an Sophies edlen Gesichtscremes und
dachte ernsthaft darüber nach, die Wände meines Zimmers in drei
verschiedenen Grüntönen von Farrow & Ball zu streichen. Bis dahin wäre ich
nie auf die Idee gekommen, dass ich einen teuren Geschmack haben könnte. Ich
hatte keine Gelegenheit, es herauszufinden. Kaum dass sie sich ergab, fand ich es
verdammt schnell heraus.
In den Sommerferien vor Beginn der Oberstufe durften Jimmy und ich zum
ersten Mal alleine Urlaub machen. Wir flogen nach Griechenland – mit Jimmys
Kumpel Alex und dessen Freundin Lucy, die auf eine Privatschule in
Westlondon ging und immer, wenn ich zugab, dass etwas neu für mich war, mit
einem schockierten Kommentar reagierte. UNFASSBAR, dass ich noch nie in
Griechenland gewesen war. Und ECHT TOTAL SCHRÄG, dass ich noch nie
im Meer geschwommen war. Wie konnte es sein, dass ich in meinem GANZEN
LEBEN noch keinen Macchiato getrunken hatte? Ich war froh und dankbar, als
sie am zweiten Tag von einer Lebensmittelvergiftung niedergestreckt wurde und
uns bis Tag sechs, also bis kurz vor unserer Heimreise, in Frieden ließ. Na gut,
Lebensmittelvergiftung klingt vielleicht ein wenig zufälliger, als es tatsächlich
war. Ein paar Spritzer Brechwurzelsirup im Frühstück, auf dessen Zubereitung
ich aus gutem Grund bestand, blieben halt nicht ohne Wirkung. Ich hatte
überhaupt keine Lust, mir meine Zeit von einer Person stehlen zu lassen, die am
Wochenende schießen ging und ihre Mutter allen Ernstes »Mutti« nannte. Selbst
Alex schien in ihrer Abwesenheit aufzublühen, und wir hatten einen
fantastischen Urlaub. Auf dem Rückflug war Lucy ganz kleinlaut und erschauerte
einen kurzen Augenblick, als ich mit der Hand über ihren Oberschenkel strich,
um nach meiner Tasche zu greifen. Sonst bekam niemand etwas davon mit. Sie
und Alex trennten sich ein paar Wochen darauf, was unter den gegebenen
Umständen sicher für alle das Beste war.
Zurück in London, beschloss ich, Englisch, Französisch und BWL als
Leistungskurse zu belegen. Jimmy verwendete eine Menge Zeit darauf, mit
seinen Eltern Broschüren der Unis von Oxford und Cambridge zu studieren.
Beim Abendessen diskutierten sie dann die Pros und Kontras, während
Annabelle und ich mit extralautem Seufzen die Augen verdrehten. Mich zog es
nicht auf die Uni, sehr zum Leidwesen von John und Sophie, für die es offenbar
überhaupt keine andere Option gab. Mit achtzehn die schulische Ausbildung zu
beenden, konnte in ihren Augen nur zu einem Job als Lagerarbeiter, einer
Schwangerschaft oder Drogenabhängigkeit führen. Es konnte sogar noch
schlimmer kommen, und man musste aus London wegziehen – an einen Ort, der
meilenweit vom nächsten Laden für handgemachten Biokäse entfernt war.
Ich wollte keine weiteren drei Jahre damit verschwenden, zu pauken, Schulden
anzuhäufen und mich mit anderen Studierenden rumzuschlagen, die ihre Freizeit
an regnerischen Tagen vermutlich mit Diskussionen über geschützte Räume und
dem Organisieren von unnützen Protestmärschen verbrachten. Ich hatte
Wichtigeres zu tun.
kapitel 7

Dass die meisten Gefängnisaktivitäten nicht auf freiwilliger Basis stattfinden,


wird wohl niemanden überraschen. Trotzdem wird uns meistens suggeriert, wir
hätten eine Wahl: »Suchen Sie sich bitte eine Partnerin für das Quiz im
Fernsehraum!« Lehnt man höflich ab, setzt die Wärterin dieses unnachgiebige
Lächeln auf und erwidert: »Punkt achtzehn Uhr, Grace. Mit Partnerin.« Das ist
der Augenblick, in dem Kelly meine Hand ergreift, um lauthals zu verkünden,
dass wir ein Team sind, und ich möchte auf der Stelle im Boden versinken. Der
Referent des heutigen Pflichtvortrags ist ein Streber im kurzärmeligen Hemd, der
in seinem vorher verteilten Pamphlet allen Ernstes erklärt: »Diese Frauen
brauchen mehr gesellschaftliche Teilhabe. Wir müssen sie ermutigen, ihre
besonderen Fähigkeiten für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu kanalisieren.« Als
ob Kelly und die anderen Frauen in meinem Trakt dort lernen würden,
Erpressung, Diebstahl, Betrug und andere Verbrechen auf respektablere Weise
zu nutzen. Vermutlich hätten einige dieser Girls in einem anderen Leben
großartige Banker abgegeben.
Schon den ganzen Morgen singt Kelly aus vollem Hals: »Who run the world?
GIRLS!« Offenbar glaubt sie, das Seminar wäre der erste Schritt zur Leitung
einer börsennotierten Aktiengesellschaft und keine Übung im Herunterbeten
von Plattitüden, die bestenfalls zum Ausfüllen von Behördenformularen taugen.
Mir bleiben noch ein paar Stunden, also nutze ich die Zeit zum Schreiben.
Nachdem ich die Schule beendet hatte, ging ich, wie bereits erwähnt, nicht auf
die Universität. Stattdessen nahm ich – zu Johns und Sophies Missfallen – einen
Job in einer Sassy-Girl-Boutique in Camden an. Eine naheliegende Storyline für
unsere Heldin, sagen Sie jetzt vermutlich. Ich war achtzehn, brauchte Arbeit und
dachte naiverweise, eine Anstellung bei einem von Simons Unternehmen würde
mir einen Vorteil verschaffen. Ich fing im Warenlager an, wo ich die Lieferungen
auspackte und mit Preisschildern versah. Bald hatte ich mich zur Kasse
hochgearbeitet. Die Arbeitstage waren lang und hektisch. Die Ware wurde uns
aus den Händen gerissen. Sassy Girl wusste genau, wie man die Teenager um den
Finger wickelte: Die Modekette hatte alles im Angebot, was die angesagtesten
Promis am Leib trugen, und das nur kurze Zeit nachdem sie sich mit den
Klamotten gezeigt hatten. Wie das funktionierte, war mir ein Rätsel. In meiner
Vorstellung hatten die Designer der Marke ihre Finger dermaßen am Puls der
Zeit, dass ihre Entwürfe ständig den allerneuesten Modetrends entsprachen.
Später erkannte ich, wie es tatsächlich lief: Im Firmensitz von Artemis Holdings
saßen Menschen, deren einzige Aufgabe darin bestand, an den aktuellsten
Couture-Entwürfen subtile Modifikationen vorzunehmen und diese
Veränderungen dann mit der Rechtsabteilung abzusprechen. Wenn die grünes
Licht gab, orderte die Firma große Mengen billiger Kunstfaser-Stoffe, und die
Textilien gingen in die Massenproduktion. Den Teenagern war die Qualität
scheißegal. Die glitzernden Jeans-Shorts, die meine Lieblingssängerin trägt, für
nur zwanzig Euro? Was interessiert mich da der Geruch von verbranntem
Gummi?
Ich war selbst überrascht, wie viel Spaß mir der Job im Verkauf machte. Ich
hatte keine Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen, sondern arbeitete, so hart ich
konnte, und tat, was immer von mir verlangt wurde. Das Zusammenfalten der
verknitterten Polyesterklamotten, die achtlos in den Umkleidekabinen liegen
gelassen wurden, verleidete mir Billigkleidung für den Rest meines Lebens, doch
meine Akkuratesse verschaffte mir die Aufmerksamkeit meiner Chefin. Zuerst
hielt ich die dürre Frau für uralt, aber vermutlich war sie noch keine dreißig. Auf
ihre Empfehlung hin wurde ich Mitglied im Artemis-Führungskräfte-Programm
für Auszubildende. Ein vollmundiger Titel, der im Grunde nur bedeutete, dass
man mir die Tageseinnahmen anvertrauen konnte. Mit neunzehn war ich also
eine Angestellte mit Auszeichnung, einem laminierten Namensschild an einem
Schlüsselband und der Macht, die Neulinge und Aushilfen zurechtzuweisen.
Jimmy studierte an der Universität, so wie der Großteil meiner Abschlussklasse.
Einige von ihnen schafften es nach Oxford oder Cambridge. Die meisten zog es
jedoch nach Sussex, weil es dort angeblich Drogen und Partys ohne Ende gab,
oder nach Manchester, wo sich die verhätschelten Londoner Bürgerkinder ein
wenig Street-Credibility erhofften. Der guten Sophie gelang es tatsächlich, den
Umstand, dass Jimmy es nicht nach Oxford geschafft hatte, zum moralischen
Triumph umzudeuten.
»Oxford ist viel zu muffig. Der Campus in Sussex, der ist dynamisch und
progressiv. Dort lernen die Kids viel mehr über die Welt als wir damals am St.
Hilda’s College. Jim kann sich wirklich glücklich schätzen!«
Ich blieb noch acht Monate bei den Latimers. Eine eher schwierige Erfahrung
für alle Beteiligten außer Annabelle, der es offenbar gefiel, jemanden um sich zu
wissen, der kein Latimer war. Nachdem Jimmy das Haus verlassen hatte, musste
Sophie erkennen, dass sie nur noch ein Kind von einem leeren Nest entfernt
war. Jetzt bemutterte sie ihre Tochter noch mehr. Jeden Morgen machte sie
Annabelle einen Leinsamen-Smoothie zum Frühstück (»Mein liebes Kind ist
bloß ein Strich in der Landschaft, es braucht immer noch keinen BH!«) und
dokterte wie besessen an ihr herum. Für eine Therapeutin war sie erstaunlich
begriffsstutzig, was die Ursachen für die psychischen Probleme ihrer Tochter
betraf. Allerdings ist es gut möglich, dass die Kinder anderer Therapeuten diese
Erfahrung teilen und es deshalb als völlig normal empfinden.
Uns allen war bewusst: Er pfiff aus dem letzten Loch, dieser Kuhhandel, den
wir eingegangen waren, als die Latimers mich bei sich aufgenommen hatten. Ich
war damals einfach schon zu alt, um noch wirklich Teil der Familie werden zu
können, und Jimmy fungierte als Klebstoff, der dieses wackelige Konstrukt
zusammenhielt. Als er nicht mehr da war, beschränkten sich unsere
Interaktionen schon bald nur noch aufs Nötigste. Ich verbrachte immer mehr
Zeit außer Haus oder in meinem Zimmer. Zum ersten Mal in meinem Leben
verdiente ich eigenes Geld und nahm mir deshalb gewisse Freiheiten gegenüber
Sophie und ihren unausgesprochenen Regeln heraus. Manchmal aß ich bei
McDonald’s, statt an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Und ich
schnitt mir die Haare zu einem Pagenkopf … was ich besser nicht getan hätte.
Mein Kiefer ist einfach zu markant. Jedes Mal, wenn ich nicht zum Abendessen
erschien, rieb mir Sophie unter die Nase, dass sie sich Sorgen um mich machte.
Sie war niemals sauer, das war ihr vermutlich viel zu profan. Aber sie äußerte
andauernd ihre Besorgnis. Über meine Frisur. Darüber, dass ich kaum Freunde
hatte. Was den Mangel an Freundschaften betraf, hatte sie recht. Auch in diesem
Fall war Jimmy derjenige, der alles zusammengehalten hatte. Schon damals fiel es
mir schwer, Freundschaften zu schließen. Das lag vermutlich zum Teil daran,
dass ich einfach nicht gut darin war. Der entscheidende Faktor war allerdings
meine tief empfundene Abneigung gegenüber Teenagern. Bereits in jungen
Jahren wollte ich die Teenagerzeit überspringen und am liebsten sofort
erwachsen werden, damit ich möglichst viel Zeit allein verbringen konnte. Ich
bin gerne auf mich selbst gestellt. Welche Schwäche die Menschen dazu treibt,
sich ständig nach Gesellschaft zu sehnen, habe ich nie verstanden. Vielleicht war
das einer der Gründe, warum Sophie und ich nie auf einer Wellenlänge lagen.
John war mir viel ähnlicher. Er konnte sich stundenlang in sein Arbeitszimmer
zurückziehen oder bis spätabends seine Nase in Bücher stecken. Sophie wollte
immer alle um sich haben, denn das gab ihr das Gefühl, eine erfolgreiche Frau zu
sein – mit einer Familie, deren Dreh- und Angelpunkt sie war.
Also zog ich aus. Die Latimers protestierten zuerst, was von beiden Seiten als
Geste der Höflichkeit verstanden wurde, dann gab mir John Geld, um einen
Umzugswagen zu mieten und eine neue Matratze zu kaufen. Sie steuerten auch
etwas zur Miete bei. Das fand ich anfangs unangenehm, freundete mich aber
damit an. Denn Menschen wie John und Sophie brauchen ein Ventil, um ihre
Schuldgefühle zu lindern. Eine der einfachsten und populärsten Methoden
besteht darin, ein Kind zu unterstützen, dem man niemals begegnen wird, weil es
in einem weit entfernten Land lebt. Eine (Halb-)Waise aufzunehmen, ist quasi
die Königsdisziplin. Ich hatte meinen Part erfüllt, warum also auf die finanzielle
Unterstützung verzichten? Ich fand eine Einzimmerwohnung in Hornsey, kaum
fünfzehn Minuten Fußweg von der Dachkammer entfernt, wo ich mit Marie
gewohnt hatte, und erduldete ein letztes gemeinsames Essen mit den Latimers.
Weil Sophie darauf bestand, kam Jimmy extra nach London, und nach einem
mittelprächtigen Moussaka (die Frau wollte partout nichts kochen, was sie nicht
irgendwie exotisch fand) ging er mit in meine neue Wohnung. Dort zauberte er
eine Flasche Wein hervor, die er aus dem Haus geschmuggelt hatte. In dieser
Nacht schliefen wir miteinander, und es fühlte sich so eigenartig wie
unvermeidlich an. Als wir älter wurden, war mit der wachsenden Intimität auch
unsere Neugierde auf Sex erwacht. Es erlaubte uns, das enge Band zwischen uns
noch weiter zu festigen. Vielleicht war meinerseits auch ein gewisses
Kontrollelement im Spiel, denn ich wusste, wenn ich mich ihm öffnete – und
ihm allein –, dann würde das sein ohnehin schon inniges Verhältnis zu mir noch
weiter vertiefen. Doch es war nicht nur Kalkül. Meine Gefühle für ihn
schwanken schon seit Jahren zwischen Bruderliebe und der Sehnsucht nach
einer echten Partnerschaft. Manchmal ist er bloß ein Trostpflaster, das ich schon
fast als selbstverständlich betrachte. Zugleich ist er der einzige Mensch, der mir
das Herz brechen könnte. Das ist alles sehr verwirrend. Ein ums andere Mal
stoße ich ihn weg und lasse ihn doch immer wieder an mich heran. Kein
Wunder, dass ich ihm nicht erlaubte, die Nacht bei mir zu verbringen. Ich wollte
in meinem neuen Zuhause nicht neben ihm aufwachen. Es sollte mir gehören,
mir ganz allein. Trotzdem, als ich an diesem Morgen die Augen aufschlug,
geschah das in der Erwartung, ihn neben mir liegen zu sehen.
In der darauffolgenden Zeit konzentrierte ich mich voll und ganz auf meine
Arbeit. Manchmal traf ich mich mit Klassenkameradinnen, die für ein paar Tage
in der Stadt waren, wenn sie nicht zur Uni mussten. Ich ging regelmäßig laufen
und kochte viel, was ich vorher nie gemacht hatte. Ich las Karriereratgeber für
den Einzelhandel. Einige der langweiligsten Lektüren, die man sich vorstellen
kann, aber durchaus hilfreich. Schon deshalb, weil die verwendeten Phrasen und
Akronyme mir bis heute treue Dienste leisten. Wenn man sie ins Gespräch
einflechtet, wird man sofort für kompetent gehalten. »Unser ICP wird den Deal
lieben« sagt dem Geschäftsführer zum Beispiel, dass man weiß, was ein ideales
Kundenprofil ist, und öffnet einem auf diese Weise allerlei Türen.
Fast jede Woche unternahm ich einen Spaziergang zum Artemis-Anwesen,
damit ich mein Ziel nicht aus den Augen verlor. Und plötzlich schien dieses Ziel
greifbarer denn je zu sein, denn die Zentrale nahm mich in den Bewerberkreis
für einen Job im Marketing-Team auf. Damals war ich seit gut einem Jahr bei
Sassy Girl, und obwohl ich über keinerlei Büro-Erfahrung verfügte, bat ich die
Geschäftsführerin regelmäßig, mich zu informieren, falls eine Stelle im
Mutterhaus frei werden sollte. Schließlich erbarmte sie sich meiner. In ihrer
Empfehlung betonte sie, dass ich keine Scheu vor harter Arbeit hätte, vom
Lernen gar nicht genug kriegen könnte und mich mit der Marke identifizieren
würde. Besonders lobend erwähnte sie meine Schaufenstergestaltung, was letzten
Endes wohl den Ausschlag zu meinen Gunsten gab. Dank der elementaren
Fähigkeit, einen Kunstlederparka mit einer neongelben Gürteltasche zu
kombinieren, bekam ich die Stelle. Es war ein Job ganz unten auf der
Karriereleiter, aber immerhin: Ich hatte es auf die verdammte Leiter geschafft.
Und ich würde im selben Gebäude arbeiten wie Simon. Zwischen uns lagen fünf
Stockwerke und eine Welt aus Marmor, und dennoch spürte ich eine
vermeintliche Nähe, die mir damals enorm wichtig war.
Ich hielt ganze dreizehn Monate durch. Die Arbeit war stupide und die
Kollegen peinlich. Ich hatte keinerlei Interesse daran, beim Brainstorming im
Konferenzraum »meine Kreativität sprudeln zu lassen«, endlos über
Schaufensterdekorationen zu diskutieren oder mir anzuhören, bei welchen
Artikeln »die Kundinnen feuchte Höschen kriegen«. Trotzdem konnte ich aus
dieser Erfahrung in dreifacher Hinsicht profitieren. Erstens: Ich habe für eine
Zwanzigjährige ungewöhnlich gut verdient und das Geld rigoros gespart.
Zweitens: Auf Simons alljährlichem Mitarbeiterfest durfte ich einen Blick in sein
Haus werfen. Ich hätte meine rechte Hand hergegeben, um mich in dem
Anwesen auf dem Hügel umzusehen. Und mit einem Mal war ich tatsächlich
dort, bediente mich an den Party-Snacks, und es kostete mich gar nichts. Wie die
sprichwörtliche Natter nährte ich mich am Busen der Familie.
Offiziell erfolgten die Einladungen nach dem Zufallsprinzip: Um niemanden
zu benachteiligen, wurden die Namen jedes Jahr aus einem Hut gezogen.
Demnach muss es reiner Zufall gewesen sein, dass sich auf der Party
mehrheitlich Angehörige des oberen Managements und hübsche junge Mädchen
aus deutlich niedrigeren Gehaltsklassen tummelten. Gary, der adipöse
Webdesigner, der drei Schreibtische weiter saß, war jedenfalls nie unter den
Glücklichen. Andererseits muss ich zugeben, dass sein Erscheinungsbild und
diese deprimierende Aura totaler Kapitulation zu den Dingen gehörten, die ich
bei einer Party ganz sicher nicht vermissen würde. Der Mann aß seine
Instantsuppe seit über einem Jahr mit demselben Plastiklöffel. Und glauben Sie
mir: In der Gemeinschaftsküche gab es mehr als genug andere Löffel. Das war
verstörend.
Das Artemis-Mitarbeiterfest war eine eher laue, zweistündige Gartenparty mit
Kanapees und warmem Sekt, serviert von gelangweilt dreinblickenden
studentischen Hilfskräften. Es gab eine Zuckerwattemaschine und ein Mini-
Labyrinth. Eine mit ihrem Hippie-Outfit reichlich deplatziert wirkende Alte
machte Haarkränze aus Wiesenblumen. Da manche der Gäste offensichtlich
kein Gratisangebot ablehnen konnten, griffen sie auch hier zu. Nicht unbedingt
zu ihrem Vorteil: Wie sich herausstellte, hat der totale Würdeverlust die Gestalt
eines leicht verschwitzten Mannes im grauen Anzug mit einem Blumenkranz im
schütteren Haar. Doch auch diese trostlosen Attraktionen konnten nicht
verschleiern, dass die Veranstaltung eine reine Pflichtübung war: Indem man die
Mitarbeiter zu sich nach Hause einlud und ihnen so eine gewisse Wertschätzung
vorgaukelte, stärkte man die Arbeitsmoral. Diese Wertschätzung ging natürlich
nicht so weit, dass wir die Toiletten im Haus benutzen durften, und für den Fall,
dass jemand auf die vorwitzige Idee kommen sollte, sich im Obergeschoss
umzusehen, war auf der Treppe eine streng dreinblickende Hausangestellte
postiert. Ich war trotzdem sehr aufgeregt. Man hatte mich mit einem Glas Sekt
und einem halbherzigen Lächeln empfangen und in das Haus geführt, das mir
meine Mutter gezeigt und zu dem ich mit großen Augen aufgeblickt hatte – in
dem Wissen, dass ich dort niemals willkommen sein würde. Ich verbrachte volle
zwanzig Minuten damit, das Hausmädchen zu beobachten, das den Gästen
diskret folgte und alles reinigte, was diese angefasst hatten. Es war ungeheuer
faszinierend.
Bryony, da war ich mir fast sicher, würde den Teufel tun, sich unter die
Angestellten zu mischen. Und sie war tatsächlich nirgends zu sehen. Simon stand
mit den leitenden Managern etwas abseits in einer Wolke aus Zigarrenrauch.
Soweit ich es beobachten konnte, gab es keinerlei Interaktion zwischen ihm und
seiner Frau. Gelegentlich winkte die Gruppe eine der jüngeren Angestellten
herbei, und lautes Gelächter schallte durch den Garten. Wie übergriffig die
derben Scherze dieser Männer in den dunkelbraunen Slippern und offenen
Hemden waren, konnte ich nur vermuten. Mit dem Glas in der Hand flanierte
ich über den Rasen, als würde ich nach jemandem Ausschau halten, und trat
schließlich durch die geöffneten Flügel der Terrassentür ins Wohnzimmer.
Wenige Sekunden nach mir hastete Janine in den Raum. Das Haar hatte sie zu
einer helmartigen Föhnfrisur gestylt, ihr Goldschmuck klirrte wie ein
Kettenhemd. Die Sorge, dass jemand ihren im Dutzend erworbenen Luxus-
Nippes klauen könnte, ließ ihr offenbar keine Ruhe.
Als sie an mir vorbeistolzierte, drehte ich den Kopf weg und tat so, als würde
ich das kitschige Porträt zweier Flamenco-Tänzer betrachten. Gefolgt von einer
nervös wirkenden Frau mit einer Schürze und weißen Handschuhen,
verschwand sie in der Küche. Offenbar nahm sie mich überhaupt nicht wahr:
Menschen wie Janine haben kein normales Sehvermögen. Sie sind blind für
Leute, die sie für irrelevant halten. Ich nehme ihnen das nicht übel, im Gegenteil:
In meinen Augen handelt es sich um ein bewundernswertes Talent. Warum
sollten wir unsere Zeit mit Menschen verschwenden, die keinen Wert für uns
haben? Der Flur war leer, also ging ich weiter, bis ich an eine große
Wendeltreppe kam, die vermutlich zu den Privaträumen im Obergeschoss
führte. Ich überlegte einen kurzen Moment, was wohl geschehen würde, sollte
ich beim Rumschnüffeln im ehelichen Schlafzimmer erwischt werden. Würden
sie mich vor die Tür setzen und feuern? Würden sie einen Background-Check
machen und mich überprüfen lassen? Obwohl die Versuchung groß war, schien
es mir das Risiko nicht wert.
Stattdessen probierte ich spontan die Tür rechts von der Treppe und betrat
einen Raum, der eindeutig als Arbeitszimmer zu erkennen war. Die Bücherregale
an den Wänden waren mit schweren Lederfolianten gefüllt. Alles reine Show: Ich
konnte mir nicht vorstellen, dass in dieser Familie irgendwer die gesammelten
Werke von Dickens gelesen hatte, geschweige denn ein einziges Buch von
Derrida. O Gott, die Bücher waren alphabetisch geordnet. Auf dem schweren
Mahagonischreibtisch lag ein Füllfederhalter neben Briefbögen aus Büttenpapier
und einem herzförmigen Briefbeschwerer, den ich sofort als Tiffany-Original
erkannte. Daneben standen in goldenen Rahmen zwei Fotos: Eins war offenbar
bei Bryonys Taufe aufgenommen worden, das andere – etwas jüngeren
Datums – zeigte das Familientrio auf einer Gartenparty des Buckingham Palace.
Das Gebäude war hinter Janines riesigem Hut gerade noch sichtbar. Ich wette,
dass sie sich immer wieder an diesem Moment aufgeilten, als wäre es ein privates
Treffen unter Freunden gewesen und kein riesiges Fest für Tausende von
Menschen, von denen die königliche Familie vermutlich angewidert war, obwohl
die Pflicht ihnen natürlich verbot, offen darüber zu sprechen. Ich nahm das Foto
und warf es zu Boden. Der dicke, cremefarbene Teppich dämpfte den Fall. Also
trat ich mit dem Absatz darauf, bis ich ein leises Knacken hörte, und stellte es
anschließend wieder auf den Schreibtisch. Mit einer Scherbe der zerbrochenen
Glasscheibe kratzte ich quer über Simons Gesicht. Dann stahl ich mich zurück
in den Flur.
Ich hatte es nicht eilig, zurück in den Garten zu gehen, deshalb lungerte ich
noch etwas im Wohnzimmer herum und nippte an meinem Sektglas. Janine kam
aus der Küche zurück, und jetzt war ich bereit, den Blickkontakt mit ihr zu
suchen. Schwer zu sagen, ob sie von meiner Aufdringlichkeit verärgert war oder
ob sich diese pathologische Unzufriedenheit der Reichen bereits so tief in ihr
Gesicht eingebrannt hatte, dass es gar nichts anderes mehr ausdrücken konnte.
Offenbar fühlte sie sich trotzdem genötigt, zu mir herüberzukommen, und sei es
nur, um sich zu vergewissern, dass ich mich nicht am Tafelsilber der Familie
vergriff. Für einen kurzen Moment geriet ich in Panik. Sophie beschwerte sich
oft, dass ich mir meine Gefühle nicht anmerken ließ. Sie war fast schon
persönlich beleidigt, weil ich ihr nicht auf einen Blick mein gesamtes Seelenleben
offenbarte. Doch in dieser Situation befürchtete ich für eine Millisekunde, dass
Janine mir meine Absichten an der Nasenspitze ablesen könnte. Ohne
nachzudenken, plapperte ich drauflos und schwärmte von ihrem Haus.
Allerdings sprach die Art, wie ich bei der Beschreibung ihres Einrichtungsstils
mit Adjektiven jonglierte, nicht unbedingt für aufrichtige Begeisterung. Da ich
mich anfangs auf nichts anderes als den monströsen Kamin konzentrieren
konnte, drehte sich unser Gespräch vor allem darum. Als ich sie schließlich nach
den unterschiedlichen Marmorsorten im Wohnzimmer fragte, entspannte sich
ihre Haltung ein wenig, aber ihr Lächeln blieb so schmallippig wie zuvor.
Vielleicht waren ihr spontane mimische Äußerungen durch die vielen
kosmetischen Eingriffe einfach nicht mehr möglich. Sie klagte darüber, wie
schwer es war, ein Haus dieser Größe wohnlich einzurichten, und verriet mir,
dass ihre liebsten Dekorationsobjekte sich gerade in ihrer Wohnung in Monaco
befänden. Als wäre ich vertraut damit, was für Probleme es aufwarf, wenn man
mal wieder vergessen hatte, in welcher Immobilie die goldenen Lieblingslüster
gerade hingen.
»Wohnen Sie schon immer hier?«, erkundigte ich mich. Dabei strich ich mit den
Fingern über den Kaminsims und hinterließ absichtlich einen verschmierten
Abdruck auf dem blank gewienerten Silber. Janines Hand zuckte, und ich konnte
ihr ansehen, wie sehr sie sich zusammenreißen musste, um mir nicht den Arm
wegzuschlagen.
»Ja, wir sind kurz vor Bryonys Geburt eingezogen, weil wir mehr Platz für
Kinder haben wollten.« Mir fiel auf, dass sie den Plural verwendete. Sie bezog
sich damit wohl kaum auf den unehelichen Nachwuchs, auch wenn der durchaus
zahlreich sein konnte. Möglicherweise hatten die beiden mit weiteren Kindern
gerechnet. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, sie darauf anzusprechen, doch
die Aussicht, von einem der zahlreichen kräftigen Sicherheitsleute aus dem Haus
eskortiert zu werden, überzeugte mich, es lieber zu lassen.
»Es war wirklich nett, Sie kennenzulernen. Simons Kinder können sich
glücklich schätzen, einen so fürsorglichen Vater zu haben«, sagte ich zum
Abschied und ging zurück in den Garten. Noch bevor ich an der Terrassentür
war, hörte ich sie nach dem Hausmädchen rufen.
Ich verließ die Party mit dem Gefühl, einen entscheidenden Schritt
weitergekommen zu sein. Ich war bei ihnen zu Hause gewesen. Mitten unter
ihnen. Es war kein ferner Traum mehr. So nahe war ich Simon bisher noch nie
gekommen, wenn man von meinen vereinzelten Ausflügen zum Tor seines
Anwesens absah … und dem einen Mal, als ich ihm in der Eingangshalle des
Firmensitzes über den Weg gelaufen war. Doch auch wenn es mich damals noch
so sehr danach dürstete, Fortschritte zu machen, hätte selbst ich das nicht als
persönliche Begegnung bezeichnet.
Es gab noch einen dritten Trumpf, den ich meinem Job bei Artemis Holdings
verdankte: meine heiß geliebte Informantin Tina. »Heiß geliebt« ist vielleicht ein
wenig irreführend, denn ich hätte keine Sekunde meiner Zeit an sie
verschwendet, wenn sie mir außer Freundschaft sonst nichts geboten hätte.
Allerdings waren mir die Informationen, die ich von ihr bekam, durchaus lieb
und teuer. Tina war die persönliche Assistentin des stellvertretenden
Geschäftsführers Graham Linton. Der enge Freund und Gefolgsmann von
Simon trug diese leicht changierenden grauen Anzüge, die man häufig in Läden
bekommt, in deren Schaufenster das ganze Jahr über ein
Räumungsverkaufsschild hängt. Nach ein paar Monaten im Job war ich während
einer Zigarettenpause zufällig mit Tina ins Gespräch gekommen. Die Chefetage
hatte eine eigene Raucherterrasse im vierten Stock. Wenn Graham, Simon oder
sein Bruder Lee sich eine kleine Auszeit gönnten, wehte der Zigarrenqualm von
dort durch unser Büro. Da der Büroleiter streng darauf achtete, dass in der Nähe
des Haupteingangs nicht geraucht wurde, waren alle anderen Mitarbeiter
gezwungen, ihre Raucherpausen am Lieferanteneingang hinterm Haus zu
verbringen. Eines Tages machte Tina mir ein Kompliment für meinen Schal. Als
ich darauf mit einem halbherzigen Lächeln reagierte, verstand sie das offenbar
als Einladung, sich neben mich zu setzen. Sie war so nett, dass es kaum zu
ertragen war. Das allein wäre Grund genug gewesen, mit dem Rauchen
aufzuhören und den Hintereingang künftig zu meiden. Und genau das hatte ich
vor. Aber just in dem Moment, in dem ich meine Kippe austrat, erwähnte sie, für
wen sie arbeitete. Ist das nicht schrecklich, wenn man einen Rückzieher machen
muss, weil einem klar wird, dass man dafür etwas von jemandem bekommt?
Wenn man einen potenziellen Spender, der einen schon den ganzen Abend mit
lüsternen Blicken verfolgt, plötzlich umschmeicheln und umwerben muss? Oder
wenn man nur deshalb über die Witze eines Kerls lacht, weil er auch die nächste
Runde Drinks bezahlt? Man fühlt sich irgendwie schmutzig. Aber im Grunde ist
das ganze Leben ein Tauschgeschäft. Und ich spekulierte darauf, dass Tina mir
Dinge über die Familie verraten konnte, die ich auf eigene Faust nicht
herausfinden würde, also riss ich mich zusammen und gab mich betont
freundlich. Schleimfreundlich. Ich holte ihr Kaffee, schickte ihr im Büro-Chat
fröhliche kleine Hallos, ging mit ihr zu Mittag essen und tat so, als hätte sie
abgenommen, wenn sie mich danach fragte. Es war ein guter Tausch.
Obwohl die anderen Frauen im Büro wegen seines schlecht sitzenden Toupets
ständig Witze über Graham machten und ihn einen Freak nannten, ließ Tina
nichts auf ihren Chef kommen. Gleichzeitig sang sie wie ein Vögelchen, wenn es
um die Familie Artemis ging. Nur wenig von dem, was sie mir erzählte, half mir
konkret weiter, aber es war ungeheuer faszinierend, mehr über diese Leute zu
erfahren, die ich schon so lange aus der Ferne verfolgte. Und nichts davon ließ
sie in einem guten Licht erscheinen, ganz im Gegenteil: Es verdeutlichte
eindrucksvoll, dass ich sie offenbar aus gutem Grund für Monster hielt. Tina war
ein echtes Geschenk, auch wenn ich meine Lungen ruinieren musste, um Zeit
mit ihr zu verbringen.
Entgegen meiner naiven Erwartung brachte mich der Job bei Artemis Holdings
meinem Vater leider nicht nennenswert näher. Ich hatte mir vorgestellt, mich
nach oben zu arbeiten, bis ich nach ein paar Jahren seine engste Beraterin wäre.
So wollte ich mir sein Vertrauen erschleichen, mich unentbehrlich machen, um
dann mit einem dramatischen Auftritt die Wahrheit zu enthüllen, damit ihm,
wenn ich ihn schließlich umbrachte, der Schock über den schändlichen Verrat
noch im Sterben ins Gesicht geschrieben stünde. Doch der Mann beschäftigte
Tausende von Mitarbeitern, und schließlich musste ich einsehen, dass er mich
ebenso wenig in seinen inneren Zirkel bitten würde, wie er jemals ein Buch in die
Hand nähme, das etwas anderes als wirtschaftlichen Erfolg versprach. Als mich
schließlich eine Mode-PR-Firma abwarb, sagte ich bereitwillig zu, immerhin
würde ich dort fast doppelt so viel verdienen. Ich war weiterhin fest
entschlossen, meinen Plan umzusetzen, hatte allerdings erkannt, dass es
womöglich nicht der allerklügste Schachzug war, ausgerechnet in der Firma jener
Familie zu arbeiten, die man mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte.
An diesem Punkt begann sich der Nebel, durch den ich mich bis dahin stets
kämpfen musste, endlich zu lichten, und allmählich konnte ich klarer sehen. Es
gelang mir, mein Leben so fest in den Griff zu bekommen, dass ich sehr viel
fokussierter in die Zukunft blicken konnte. In mancher Hinsicht hieß das, die
Dinge langsamer anzugehen und mich in Geduld zu üben. Seitdem habe ich stets
für dieselbe Firma gearbeitet. Ich habe in derselben Wohnung gelebt, vermietet
von einem uralten türkischen Herrn, der gleich über mir wohnt und die Miete
sehr zum Verdruss seines Sohnes seit meinem Einzug kein einziges Mal erhöht
hat. Ich legte Geld auf die Seite, verhielt mich unauffällig und lebte nicht auf
großem Fuß, während ich auf den richtigen Augenblick wartete, um meinen Plan
in die Tat umzusetzen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Diese Zeit wird
sicher niemanden zu Abenteuerromanen inspirieren, aber es gibt so viele
Menschen, die ihr ganzes Leben auf genau diese Weise führen und dabei gar
nicht das Bedürfnis haben, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Sie sind mit ihrem
kleinen, banalen Leben zufrieden, stellen keine großen Ansprüche und gönnen
sich hin und wieder eine Flasche Prosecco. Deshalb finde ich es weder seltsam
noch enttäuschend, dass ich eine Zeit lang einfach vor mich hin gelebt habe. Die
besten Jahre unseres Lebens sind angeblich unsere frühen Zwanziger, die wie im
Flug vergehen, während wir trinken, feiern und jeder spontanen Eingebung
folgen. Meine waren anders. Doch als ich meinen Plan endlich ausführte, folgte
ein atemberaubender Ritt, und ich bin mir sicher, dass die Jahre, die noch
kommen, genauso großartig und aufregend sein werden, wie ich es mir immer
erhofft habe.
Ich will damit nicht sagen, dass ich damals ein puritanisches Leben geführt
habe. Es gab durchaus den einen oder anderen kleinen Luxus. Dass ich die etwas
angenehmeren Seiten des Lebens durchaus zu genießen weiß, ist ein Erbe, das
ich vermutlich sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater zu verdanken habe.
Und bei den Latimers, mit ihrem Faible für Bio-Weine und unerschwingliche
Einrichtungsgegenstände, durfte ich es schätzen lernen. Deshalb gibt es in
meiner kleinen Wohnung ein ganzes Wandregal voller Schuhe – die gängigste
Einstiegsdroge für Frauen, die sich selbst etwas Gutes tun wollen. Als ich etwas
älter wurde, unternahm ich wundervolle Urlaubsreisen, wie ich sie mir in meiner
Kindheit niemals hätte träumen lassen. Wenn ich an einem dieser herrlichen
Orte auf einer Terrasse saß und ein Glas Wein trank, kam mir häufig der
Gedanke, dass sich mein Leben durch Maries Tod vielleicht sogar zum Besseren
entwickelt hatte. Sicher hatte ich angesichts dieses Verlustes ein schweres
Trauma erlitten, und die Latimers waren nie meine echte Familie gewesen. Aber
die Tatsache, dass ich dank ihnen irgendwann zur oberen Mittelschicht gehörte,
wirkte sich ebenso positiv auf meine Lebensqualität aus wie der über lange Jahre
gehegte, abgrundtiefe Hass. Meistens gelang es mir, diesen Gedanken zu
verdrängen.
Ein weiteres Mal schrillt der Alarm durch den Zellentrakt. Vermutlich wieder
nur wegen dieses seltsamen Mädchens, das einfach nicht mit seinem Geschrei
aufhört. Ich muss jetzt raus zum Appell. Fortsetzung folgt.
kapitel 8

Federnden Schrittes ging ich an diesem sonnigen Freitagmorgen zur Arbeit.


Hinter mir lag eine öde Woche, die sich beim Slogan-Brainstorming endlos
hingezogen hatte. Regelmäßig war ich spätabends noch laufen, um die lähmende
Langeweile abzuschütteln. Für dieses Wochenende hatte ich vorsorglich guten
Wein sowie schöne Kerzen gekauft und nur zwei Termine gemacht: Am Samstag
besuchte ich erst meinen als Masseur verkleideten Lieblingsmasochisten und am
selben Abend eine Sexparty. Jetzt tun Sie nicht so schockiert. Es gibt keinen
Grund, entsetzt oder – was noch schlimmer wäre – begeistert zu sein. Ich ging
keineswegs irgendwelchen obskuren Neigungen nach. Der Besuch diente
ausschließlich der Recherche.
Es war neun Monate her, dass ich zugesehen hatte, wie Andrew Artemis
davontrieb, um für immer bei seinen geliebten Fröschen zu sein. Anschließend
war ich auf Tauchstation gegangen, hatte mich auf meine Arbeit konzentriert
und erfolgreich dem Drang widerstanden, mit der Durchführung meines Plans
fortzufahren. Schon bevor ich damit begonnen hatte, war mir klar gewesen, dass
ich nichts überstürzen durfte – selbst wenn ich noch so gerne weitergemacht
hätte. Die ersten – und seien wir ehrlich – irrelevantesten Morde mussten in
sicheren zeitlichen Abständen geschehen, um nicht schon am Anfang Verdacht
zu wecken. Ich wollte, dass die Menschen sie als »tragische Unglücksfälle« sahen.
Daraus konnte sich dann »eine Pechsträhne für die Familie« entwickeln, die sich
schließlich zum »Fluch der Artemis« auswuchs.
Nach Andrews Tod wartete ich also, bis sich der Staub gelegt hatte. Im
Gegensatz zu der Euphorie, die ich empfand, als Kathleen und Jeremy über die
Klippe stürzten, erfüllte mich keine Freude, wenn ich an ihn zurückdachte.
Deshalb war ich dankbar, eine Zeit lang die Füße still zu halten. Aus der Presse
wusste ich, dass Andrews Beerdigung gut besucht war, von ernst
dreinblickenden Menschen in Funktionsjacken ebenso wie von rotgesichtigen
Privatschulkameraden. Seine Mutter Lara war am Boden zerstört. Ohne jeden
Kommentar hatte sie ihren Posten als Vizepräsidentin der Artemis Holding
aufgegeben und in Andrews Namen eine wohltätige Stiftung zum Schutz von
wilden Tieren gegründet. Ich fragte mich, ob der Tod ihres Sohnes nicht nur
zum Rückzug aus dem Unternehmen, sondern auch zum Bruch mit der Familie
geführt hatte. Während Lee weiterhin in den Klatschspalten auftauchte, hatte
Lara der Hauptstadt offenbar den Rücken zugekehrt. Sie verbrachte die meiste
Zeit in ihrem Landhaus in Oxfordshire. Ich hatte mir das Anwesen auf einem
Internet-Immobilienportal angesehen. Das Hauptgebäude war ganz in
gedämpften Grautönen gehalten, und überall lagen geschmackvolle persische
Teppiche aus. Allerdings gab es auf dem Grundstück auch eine Driving Range,
und auf den Kräutergarten blickte man vom größten Whirlpool, den ich je
gesehen habe. Es war nicht schwer zu erraten, wer von den beiden sich hier
durchgesetzt hatte. Zumindest wenn man wusste, dass Lee bevorzugt
Westernstiefel trug und sie sogar sein »Markenzeichen« nannte.
Nach allem, was ich über Lara gelesen hatte, war sie ganz und gar nicht der Typ
für den im Hause Artemis gepflegten Lebensstil. Vielleicht dachte ich deshalb
zuerst, Lee könne gar nicht so fürchterlich sein, wie er rüberkam. Dabei deutete
alles darauf hin, dass er es war. Lara war intelligent, hatte einen Top-Abschluss in
Cambridge und ihren MBA an einem amerikanischen Ivy-League-College
gemacht. Er war ein gieriger Abzocker und Emporkömmling. Vermutlich ließen
sich die meisten Mitglieder des Artemis-Clans als clever und gerissen bezeichnen,
aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Lara die Gespräche
bei Tisch als intelligent und stimulierend empfand. Laut Tina, die mich auch
nach meiner Kündigung noch bereitwillig mit reichlich Klatsch versorgte, war
ich nicht die Einzige, die sich über Laras Partnerwahl Gedanken machte. »Er war
attraktiv, das fanden alle. Jetzt verdreh nicht die Augen! Wenn man jung ist, ist
das nicht zu unterschätzen. Und er konnte sein Verhalten ziemlich gut an andere
Menschen anpassen, indem er sie einfach spiegelte. Wenn er ihr zuhörte, dann
bekam er vor Begeisterung große Augen, und er erzählte jedem, wie schlau sie
sei. Lara war zurückhaltend, aber man merkte ihr an, dass sie sich durch seine
Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlte. Dieses bezaubernd aussehende Mädchen,
so schüchtern, aber so intelligent. Auf einen Mann wie Lee war sie nicht
vorbereitet, und als sie endlich erkannte, mit wem sie es zu tun hatte, war es zu
spät. Natürlich waren seine Eltern nicht begeistert davon, dass sie gemischtrassig
war. Obwohl sie es nicht explizit aussprachen, war es offensichtlich. Doch er
verbat sich jede Bemerkung ihrerseits. Ich glaube, er hat sie geliebt. Auf seine
Art.« Es war eine schwache Ausrede, und sie reichte nicht aus, um Lara zu
entlasten. Mit achtzehn lässt man sich von so einem Mann vielleicht täuschen,
aber man lernt dazu. Und wer nicht schnell genug lernt, der sitzt irgendwann in
der Falle.
Als ich Laras Mann dann schließlich kennenlernte, erschien mir Tinas
Erklärung noch fadenscheiniger. Lee war Simons drei Jahre jüngerer Bruder.
Glaubte man den alten Ausgaben des Hello!-Magazins, von dem ich zu
Recherchezwecken sechs komplette Jahrgänge auf eBay ersteigert hatte, dann
galt Simon zu seiner Glanzzeit in den Neunzigern zwar als der ultimative
Playboy, aber Lee war sein hingebungsvoller Schatten. Mit seinem braun
gebrannten Gesicht und dem aalglatt nach hinten gestriegelten, pechschwarzen
Haar sah er gut aus, zumindest für die damalige Zeit, in der es offenbar als
besonders attraktiv galt, wenn man dem Klischee eines Psychopathen entsprach.
Auf Fotos war er immer von Frauen umgeben, oft mit einer Magnum-Flasche
Champagner in der Hand. Jung, schlank und ohne Falten, konnte er mit diesem
Image noch Eindruck schinden, doch zwanzig Jahre später wirkte die gleiche
Ästhetik irgendwie billig und ramponiert: Die weißen Kreise um seine Augen
verrieten, dass die Bräune von der Sonnenbank kam, und der bei
Schweißausbrüchen schwarz verschmierte Hemdkragen legte nahe, dass er fürs
Färben der Haare nicht genug Trinkgeld zahlte.
Lee hatte im Leben einiges verpfuscht, aber ein schwarzes Schaf war er nie. Er
hatte keine echten Suchtprobleme, obwohl er Drogen nicht abgeneigt war. Er
musste nie Insolvenz anmelden, obwohl er als Geschäftsführer von
siebenundzwanzig verschiedenen Unternehmen tätig war, die allesamt nach
wenigen Monaten den Betrieb eingestellt hatten. Eine Firma namens GoGoGirl
Pictures machte sogar schon nach dreiundsechzig Tagen dicht. Der Name ließ
nicht unbedingt vermuten, dass er vorhatte, künstlerisch wertvolle Filme zu
produzieren. Gut möglich, dass seine bigotte Mutter Wind davon bekommen
und der Sache ein Ende gesetzt hatte.
Wenn es darum ging, dem Familiennamen zu weiterem Glanz zu verhelfen,
vertrauten Kathleen und Jeremy allein auf Simon. Er war der erfolgreiche
Vorzeigesohn, der Mann, der sich einen Platz beim Dinner der königlichen
Familie erkauft hatte, der mit dem Bürgermeister, dem Premierminister und all
denen per Du war, die man mit Geld kriegen kann – also so ziemlich jedem. In
Gegenwart der Superreichen spielen sogar anständige Menschen verrückt. Selbst
wenn sie einen klaren Standpunkt zur Vermögensungleichheit haben und der
Überzeugung sind, dass kein System, in dem die Reichen auf Kosten aller
Gesellschaftsschichten immer noch reicher werden, wirklich fair sein kann:
Drücke ihnen ein Glas Champagner in die Hand und bitte sie um ein Foto mit
einem Millionär, der ihnen einen Job geben oder ihrer Organisation einen Scheck
ausstellen kann, und schon lächeln sie ihr breitestes Lächeln in die Kamera.
Bevor der Artemis-Konzern in diverse Skandale verwickelt war, hieß es sogar,
Simon Artemis würde demnächst mit dem königlichen Verdienstorden
ausgezeichnet. Das war natürlich absolut irrsinnig. Denn er hatte nie mehr für
die Allgemeinheit getan, als an der einen oder anderen Wohltätigkeits-Gala
teilzunehmen und dort auf alberne Preise zu bieten, die von anderen Geldsäcken
gespendet wurden. Einmal schaffte er es dank des Kunstwerks eines sehr
bekannten, aber umstrittenen Künstlers in die Schlagzeilen. Das Besondere
daran war allerdings nicht der Preis des Werks, sondern das auf dem Bild
abgebildete Pferd: Es sollte das Gesicht des meistbietenden Käufers bekommen.
Ein schönes, lebensechtes Gemälde, das Können und Erfahrung erforderte,
war Simon natürlich nicht genug. Irgendwo im Artemis-Anwesen hängt jetzt ein
gigantischer Zentaur mit seiner Visage. Obwohl der Schinken 300.000 Pfund
wert ist, würde ich diesen Teil des Erbes sicher höflich, aber bestimmt
ausschlagen.
Die Idee mit der Ordensverleihung wurde zwar stillschweigend beerdigt, aber
Simon galt weiterhin als respektabler Mann – eine Galionsfigur der britischen
Geschäftswelt. In der Folge blieb Lee nichts anderes übrig, als das Klischee vom
notorischen jüngeren Bruder zu erfüllen – gleichwohl ohne echte
Konsequenzen. Wenn er Mist baute, wurde ihm jedes Mal der Arsch gerettet.
Einmal fast buchstäblich, als er sich nach einem Fußballspiel betrunken auf die
Aussichtsplattform der St. Paul’s Cathedral schlich, um dort seine Kumpels zu
filmen, wie sie ihre Hosen herunterzogen und die nackten Hintern über die
Brüstung hängten. Ging es mit seiner Karriere mal wieder bergab, versorgte ihn
seine Familie stets mit neuen Posten oder Pöstchen, für die er keinen Finger
krumm machen musste. Ich glaube, sie bestärkten ihn sogar darin, seine Rolle
innerhalb der Firma nicht allzu ernst zu nehmen – aus Angst, er könnte sonst
echten Schaden anrichten.
Im Alter von neunundzwanzig Jahren lernte er Lara kennen, die damals bei der
Artemis Holding arbeitete. Acht Monate später heirateten die beiden. Die
opulente Hochzeitsfeier auf einer griechischen Insel dauerte ganze drei Tage, das
Ständchen spielte einer der Bee Gees. Dem Reporter eines Boulevardblatts
gelang es, sich, als Kellner verkleidet, Zugang zur Party zu verschaffen. In
seinem Artikel schilderte er genüsslich, wie diverse Promi-Gäste über die Stränge
schlugen. Ein bekanntes Model war so betrunken, dass es in den Pool stürzte –
in einem perlenbesetzten Haute-Couture-Kleid, das es sich extra für die Feier
geliehen hatte. Laut Tina, die zwar nicht dabei war, aber wie immer ihre
Hausaufgaben gemacht hatte, bekam Lara vor der Hochzeit wohl kalte Füße.
Daraufhin versprach Lee ihr hoch und heilig, dass es sich bei dem gewaltigen
Spektakel um eine einmalige Angelegenheit handele. Ein Zugeständnis an
Familie und Freunde. Lee versicherte ihr, dass sie sich anschließend aus dem
Rampenlicht zurückziehen würden, dass seine wilden Partyzeiten endgültig
vorüber seien und dass sie es im Familienunternehmen weit bringen würde.
Wie schnell uns die Männer Versprechen machen. Wie wenig sie davon halten.
Und wie sehr wir uns dennoch daran klammern.
Die Familie kaufte ihnen ein riesiges, stuckverziertes Haus in Chelsea, und es
dauerte nicht lange, bis Andrew ihnen dort Gesellschaft leistete. Lara arbeitete
sich in der Firmenhierarchie nach oben und verbrachte den Rest ihrer Zeit
offenbar damit, entweder für Gruppen ausgewählter Philanthropen
Wohltätigkeitsessen auszurichten oder sich bei Politikern für Kinder in Not
einzusetzen. Nachdem die Artemis erkannt hatten, dass es der Sippe einen
Anstrich von Ehrenhaftigkeit verlieh, konnten sie sich offenbar mit Laras
karitativer Ader arrangieren. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass die
Toleranz ihres Gatten gegenüber diesen Gutmenschen an der eigenen
Türschwelle endete. Denn Lee hatte das exzessive Leben seiner Jugendjahre
keineswegs aufgegeben. Auf den Partyseiten der Klatschmagazine tauchten
immer wieder Fotos auf, die ihn beim Feiern in Londons Klubs zeigten. Ständig
gondelte er in seinen neuesten Edelschlitten über die King’s Road und wurde als
Mitbesitzer diverser neuer Bars und Restaurants gehandelt, die regelmäßig
wieder dichtmachten, wenn der wahre Eigentümer nach sechs Monaten
feststellte, dass magere Gewinnmargen und lange Arbeitszeiten nicht so
glamourös waren, wie die Eröffnungsparty es noch vermuten ließ.
Ich nahm an, dass Lee sich beim Ausgehen nicht mit ein bis zwei Drinks oder
Flirts zufriedengab. Sein Gesicht war aufgedunsen, und auf den Fotos der
Paparazzi sahen seine Augen immer etwas glasig aus.
Nach einer hohen Geldstrafe wegen Alkohols am Steuer hatte sich ein
Chauffeur als umsichtige Investition erwiesen. Seitdem ließ er sich immer öfter
in seinem schreiend grünen Bentley herumkutschieren, statt selbst zu fahren.
Das machte es mir ziemlich einfach herauszufinden, wo er sich gerade aufhielt.
Der Wagen parkte selbst in den engsten Gassen der Londoner Innenstadt in der
zweiten Reihe. Gewöhnlich begann seine Runde in den schicksten Bars, die
Mayfair zu bieten hatte, dann ging es in die exklusiven Klubs, in denen nur
Mitglieder Zutritt hatten, und gegen drei Uhr am Morgen, wenn die Zahl der
Nachtschwärmer auf den Straßen zurückging, zog es ihn nach Chinatown in die
etwas zwielichtigeren Etablissements, die ihr Unterhaltungsangebot nur selten
offensiv anpriesen.
Das wusste ich so genau, weil ich dem Bentley in mehreren Nächten quer
durch die Stadt gefolgt war. Es war die einfachste Methode, etwas über Lee
herauszufinden. In den sozialen Medien war er nicht präsent – abgesehen von
einem Facebook-Profil, das offenbar seit 2010 nicht mehr gepflegt wurde, aber
eine amüsante Vorliebe für Spiele und Umfragen offenbarte. Dank ihm wusste
ich nun, was für ein Tier er gerne wäre und welche Superkräfte er gerne hätte:
Meerkatze und Laseraugen. Er verließ das Stadthaus nur selten vor fünfzehn
Uhr. Dann ging er zum Fitnesstraining, um anschließend jedes Mal in
Knightsbridge einzukehren, wo er sich mit Gucci-Slipper tragenden Männern in
einem Café traf, das die Heißgetränke in protzigen, vergoldeten Tassen servierte.
Alle hatten ihre Handys vor sich auf dem Tisch liegen, als würden sie das Land
regieren und könnten jede Minute zu einem wichtigen Termin gerufen werden.
Ich saß ein-, zweimal am Nebentisch und konnte hören, wie sie sich darüber
unterhielten, in welche Aktien sie investieren sollten oder wann sie das nächste
Mal nach Vegas fliegen würden. Zwischendurch streuten sie beiläufig
frauenfeindliche Bemerkungen ein, um das Gespräch aufzulockern. An diesen
Herren war überhaupt nichts staatsmännisch.
Die Nacht war die beste Zeit, meinen ungeratenen Onkel aufzustöbern. Je
mehr ich von seiner zwielichtigen Welt zu sehen bekam, desto mehr fragte ich
mich, ob er seinen Sohn je auf eine dieser Spritztouren mitgeschleppt hatte. Das
hätte Andrews Flucht ins Land der Frösche hinreichend erklärt. Nachdem ich
dem Wagen mehrere Nächte gefolgt war, ohne dabei eines der von Lee
frequentierten Etablissements zu betreten, änderte ich meine Taktik. Allerdings
versuchte ich nie, in die VIP-Bereiche der Klubs zu gelangen. Es erschien mir
entwürdigend, mich aufzubrezeln und die Türsteher zu bezirzen. Die Bars waren
unproblematischer, und in den Absteigen in Chinatown hatte ich besonders
leichtes Spiel. Manchmal saß ich direkt neben seiner Clique und konnte sie in
aller Ruhe bespitzeln.
Offenbar ging es ihnen in erster Linie darum, gesehen zu werden. Bei der
Begrüßung wurden junge Frauen mit in die Luft gehauchten Wangenküsschen
traktiert, die Männer umklammerten einander beim Handschlag die
Handgelenke. Champagner wurde flaschenweise bestellt, und die Lichtreflexe
der juwelenbesetzten Uhren zauberten Muster an die Decke. Dreißig Minuten
später zogen sie weiter. Ab Mitternacht wurden die Abstände zwischen den
Toilettenausflügen immer kürzer, und Lee drehte ordentlich auf. Ständig
forderte er seine Entourage lauthals zur »Party« auf und nahm seine stämmigen
Kumpels in den Schwitzkasten. Um drei Uhr nachts war ich zu Tode gelangweilt
und trank nur noch Wasser. Keinem von ihnen war ich einen Blick wert. Ich war
nicht ihr Typ. Nicht jung genug. Stellte meine »Qualitäten« nicht offensiv genug
zur Schau. Meistens trug ich einen schlichten schwarzen Hosenanzug und ein
weißes T-Shirt. Der rote Lippenstift und die High Heels waren mein einziges
Zugeständnis. Wenn in man Bars wie denen, die Lee besuchte, in flachen
Schuhen auftauchte, wurde man sofort schief angesehen und für eine
Zivilpolizistin gehalten.
Bei meiner dritten Aufklärungsmission kam ich mit Onkel Lee ins Gespräch.
Dabei hatte ich gar nicht geplant, ihn persönlich kennenzulernen. Allerdings
erschien es mir interessanter, als bloß zuzuschauen, wie er Schnäpse kippte und
so ungelenk tanzte, dass eine der jungen Frauen das Gesicht verzog und seinen
Arm von ihrer Schulter streifte.
Als Lee und seine Clique einen Klub am Berkeley Square besuchten, wo nur
Mitglieder Zutritt hatten, war mir sofort klar, dass ich niemals an dem alten
Herrn im Zylinder vorbeikommen würde, der die mit roten Samtkordeln
abgesperrte Tür bewachte. Also setzte ich mich in der Bar auf der anderen
Straßenseite ans Fenster, bestellte mir ein Glas Rosé und wartete auf den
Moment, in dem der Bentley vorfahren würde. An diesem Abend war in dem
Klub offenbar nicht viel los, denn der grüne Luxusschlitten erschien schon um
ein Uhr, um sie abzuholen. Ich eilte aus der Bar, winkte ein Taxi heran und bat
den Fahrer, meinen Freunden zu folgen, die bereits vorausgefahren seien. Die
Erklärung war so stumpf, dass ich mich fast dafür schämte, aber er akzeptierte
sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie erwartet ging es auf direktem Weg
nach Chinatown, wo der Bentley vor einer Lokalität hielt, die mir noch nie
aufgefallen war. Wie auch? Es war eindeutig keine Bar. Eindeutig war daran
überhaupt nichts. Man sah nur eine winzige, alte Tür ohne Schild oder
Speisekarte, eingequetscht zwischen zwei Dim-Sum-Restaurants. Ein Ort, an
dem man tausendmal vorbeilaufen könnte, ohne dass er einem auffallen würde.
Ich beobachtete, wie Lee mit zwei seiner Kumpels aus dem Wagen stieg, in eine
Gegensprechanlage sprach und dann die Tür aufdrückte. Bevor sie ins Schloss
fiel, schob ich meinen Fuß dazwischen und schob mich in das enge
Treppenhaus. Ich wartete, bis das Geräusch ihrer Schritte verebbte, bevor ich
ihnen folgte. Die dunkelrote Tapete und der ausgeblichene Teppich machten
einen schäbigen Eindruck. Alles hier schrie nach Bordell – abgesehen von der
lauten House-Musik im Obergeschoss. Sie überzeugte mich schließlich, mein
Glück zumindest zu versuchen. Bei völliger Stille wäre ich sofort von dort
verschwunden.
Ich wartete ein paar Minuten am Fuß der Treppe, dann stieg ich hinauf. Oben
erwartete mich eine massive schwarze Feuertür, die ich zögernd öffnete.
Dahinter befand sich ein kleiner Raum, vermutlich ehemals der
Empfangsbereich eines Büros, mit schwarzen Spitzengardinen vor den Fenstern.
Zwei attraktive Frauen meines Alters saßen auf Barhockern an einem Tisch mit
Champagnergläsern und einer Schale voller Kondome. Sie lächelten mich an.
»Hallo«, sagte diejenige mit Pagenkopf, deren Lidstrich sich bis zu den
Augenbrauen zog. »Willkommen in der Pleasure Parade. Haben Sie Ihre
Einladung dabei?«
Ich war schon immer gut darin, schnell zu reagieren, ohne zu stammeln oder
den Blickkontakt zu vermeiden. Der Trick besteht darin, zu lächeln und nicht ins
Faseln zu geraten. Ich hatte in den Frauenzeitschriften genug Artikel darüber
gelesen, dass Sexpartys bei den Reichen und Schönen gerade schwer in Mode
waren – weshalb ich ziemlich genau wusste, wo ich mich hier befand, ohne
bisher jemals auf einer gewesen zu sein. Selbst die Vogue hatte diese Partys zum
Trend erklärt. Warum also päpstlicher sein als der Papst?
»Es tut mir wirklich leid«, erwiderte ich und legte die Hand auf den Tisch. »Ich
war in Soho unterwegs, da ist mir eingefallen, dass ich heute hier verabredet bin.
Dummerweise habe ich die Einladung vergessen. Ich hoffe, das geht in
Ordnung … Flick hat gesagt, es sei okay.«
Die andere Frau, die ein Stirnband aus grüner Seide und große goldene Kreolen
trug, musterte mich von oben bis unten und wechselte dann einen Blick mit dem
Pagenkopf.
»Na ja, Sie wissen sicherlich, dass diese Veranstaltungen von Exklusivität
und … Diskretion leben«, sagte sie und legte mahnend den Finger auf die Lippe.
»Aber wenn Flick für Sie bürgt, dann sollte das in Ordnung gehen. Können Sie
bitte hier unterschreiben und Ihr Telefon in diese Kiste legen?«
Ich dankte Gott für diesen magischen Türöffner. »Flick«, dieser bei reichen
weißen Mädchen so beliebte Name, wirkt in manchen Situationen wie ein
»Sesam, öffne dich«. Es gibt immer eine Flick – es kann eine Party-Promoterin
sein, eine Galeristin oder einfach nur die Freundin einer Freundin. Sobald man
ihren Namen erwähnt, ist klar, dass man dazugehört … und vielleicht sogar
Floss oder India kennt.
Durch meine Unterschrift auf dem Formular verpflichtete ich mich, mit
niemandem über die Pleasure Parade zu sprechen, Stillschweigen über die
Namen der anderen Gäste zu wahren und keine Foto-, Film- oder
Tonaufnahmen zu machen. Außerdem garantierte ich, stets »Sicherheit und
Spaß« im Blick zu behalten und die Grenzen anderer zu respektieren.
Ich gab mein Telefon ab, und die junge Frau mit dem Stirnband reichte mir
augenzwinkernd ein Kondom. »Nicht vergessen: Der blaue Salon ist für
Rollenspiele reserviert. Und sollten Sie sich von jemandem belästigt fühlen,
finden Sie Marco in der Bar.«
»Na klar, ich bin im Bilde«, sagte ich, reichte ihr meinen Mantel und fühlte
mich längst nicht so selbstsicher, wie ich hoffentlich wirkte, als ich durch die Tür
hinter ihnen trat.
Ich mag Sex. Ich bin nicht prüde. Sex ist super, um Stress abzubauen, sogar
wenn er nicht besonders gut ist. Was leider ziemlich häufig passieren kann, wenn
man mit Männern ins Bett geht, die mit Pornos groß geworden sind und
glauben, dass Frauen nur ein kurzes Vorspiel, aber ständige Positionswechsel
brauchen. Orgasmen sind etwas Wundervolles. Ganz besonders, wenn man sie
alleine genießt und danach seine Ruhe hat, ohne dass man erst einen fremden
Kerl aus dem Haus werfen muss. Was mir allerdings gar nicht gefällt, ist dieser
Trend, sein erfülltes Sexleben wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Frauen,
die einem jedes Detail ihrer sexuellen Reise auf die Nase binden wollen, als wäre
Spaß am Sex eine charakterliche Stärke. Paare, die Fotos ihrer umschlungenen
Körper in den sozialen Medien präsentieren, als wäre ihre postkoitale
Aufschneiderei große Kunst. Grottenschlechte Essays und dilettantische
Gedichte übers Ficken. Tut es einfach, aber quatscht nicht die ganze Zeit
darüber.
Für mich waren Sexpartys immer etwas, womit langweilige Menschen anderen
beweisen wollen, dass sie doch eine interessante Seite haben. Vielleicht
funktioniert das ja bei spontanen Orgien im örtlichen Supermarkt, aber eine
schicke Geselligkeit für geladene Gäste, bei der die Damen Haarreife tragen,
finde ich nicht besonders exzentrisch.
Als ich in dieser Nacht auf die Party kam, fiel mir nichts auf, was mich von
dieser Überzeugung abgebracht hätte. Im ersten Raum befand sich die Bar, wo
vollständig bekleidete Menschen aus Kristallgläsern tranken. Das Licht war
gedämpft, und die Wolke aus zu vielen unterschiedlichen Tom-Ford-Düften
stieg mir zu Kopf, aber ich registrierte eine Gucci-Handtasche und das Funkeln
eines Diamantrings. Was ich sah, war ebenso dekadent wie banal, und der
Umstand, dass in den Nebenzimmern Körperflüssigkeiten ausgetauscht wurden,
änderte daran gar nichts.
Die Musik war sehr laut, vielleicht um die ekstatischen Geräusche von nebenan
zu übertönen. Während ich mir meinen Weg zum Tresen bahnte, versuchte ich,
im Halbdunkel Lee zu erblicken, in der Hoffnung, dass er noch nicht in einem
der Sexräume verschwunden war. Den Anblick meines nackten Onkels wollte
ich mir – wenn irgend möglich – ersparen. Sicher, meine Rachepläne waren
ambitioniert, und ich war bereit, eine Menge dafür zu tun, doch ich musste
Grenzen ziehen. Und wie ich in diesem Augenblick erkannte, war die Grenze
eindeutig überschritten, wenn ich mit ansehen musste, wie sich ein Verwandter
schwitzend an einer Frau zu schaffen machte, die mindestens zwanzig Jahre
jünger war als er. Nachdem ich drei Menschen umgebracht hatte, war ich selbst
überrascht, ausgerechnet in dieser Hinsicht so empfindlich zu sein, aber so war
es nun mal.
Während der Bartender mir einen Martini mixte, studierte ich die Gäste. Neben
mir am Tresen saß ein attraktives Pärchen, das ich auf Anfang dreißig schätzte.
Er trug ein hellblaues Hemd und eine beige Hose, sie ein grünes Seidenkleid und
pinkfarbene High Heels. Die Frau wirkte ein wenig eingeschüchtert. Ihr
Begleiter hielt ihre Hand und erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln. Ich
wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Die Art, wie er ihr zuflüsterte
und beruhigend den Rücken streichelte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie nur
ihm zuliebe dort war. Ich hoffte, sie hatten mich nicht als ideale Kandidatin für
ihren ersten, unglücklichen Dreier auserkoren.
Am anderen Ende des Raums saßen zwei Frauen, dünn und nervös wie
Windhunde, auf einem violetten Plüschsofa. Ein gedrungener Mann ging zu
ihren Füßen in die Hocke und redete auf sie ein. Seinen gestikulierenden Händen
nach zu urteilen, gab er sich alle Mühe, die beiden zu unterhalten, aber ihr
höfliches Lächeln und die suchenden Blicke verrieten, wie sehr sie sich
langweilten. Das sah ganz und gar nicht so aus, als könnten sie es kaum
abwarten, den Kerl wie einen Baum zu besteigen. Eigentlich strahlte keiner der
Anwesenden übermäßig viel sexuelle Energie aus. Die Stimmung im Raum
wirkte seltsam gedämpft und leicht betreten, als würden alle darauf warten, dass
endlich jemand den Anfang machte. Vielleicht war noch nicht genug Alkohol
geflossen.
Ein heftiger Stoß beförderte meinen Arm vom Tresen und riss mein Glas mit.
Einer von Lees Kumpels hatte sich an der Bar breitgemacht. Dass er dabei
jemand anderem rücksichtslos den Platz raubte, war ihm augenscheinlich egal.
Männer machen so etwas ständig: In der U-Bahn spreizen sie die Beine, als
würden sie einen inneren Drang verspüren, so viel Platz wie möglich zu belegen.
Sie laufen in der Mitte des Bürgersteigs, ganz egal wie schmal er ist, und sind fast
überrascht, wenn sie jemanden anrempeln. Holt man sich einen Kaffee, rücken
sie einem in der Schlange so dicht auf die Pelle wie beim Überholen auf der
Autobahn. Sie merken gar nicht, wie sie sich verhalten. Sie sind wichtig. Ihre
Bedürfnisse sind wichtig. Du als Frau bist unwichtig. Außer sie finden dich
attraktiv. Dann beschneiden sie deinen Platz auf andere Weise. Sie stellen sich
dir in den Weg, um deine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie fahren langsam neben
dir her, wenn du die Straße entlanggehst. In der Bar kommen sie dir so nahe,
dass sie deinen Arm berühren oder deine Hand anfassen. Und du kannst wirklich
froh sein, wenn es nur deine Hand ist.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter vom Fleck. Stattdessen heftete ich
meinen Blick auf das verschwitzte Profil des Typen, der gerade versuchte, die
Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erregen. Wenn Sie jemand lange genug
anstarrt, werden Sie den Blick irgendwann erwidern. Der Kerl brauchte zwar
eine gute Minute, aber schließlich sah er mich an.
»Sie haben mir das Glas aus der Hand geschlagen«, sagte ich seelenruhig mit
steinerner Miene.
»Geh mir nicht auf die Nerven, Schätzchen, ich will mir gerade was zu trinken
bestellen«, blaffte er und winkte erneut dem Barkeeper zu. Ich fühlte, wie mir die
Zornesröte ins Gesicht stieg.
»Sie haben meinen Drink verschüttet. Was haben Sie jetzt vor?«
Er drehte sich wieder zu mir und ballte die Hand zur Faust. »Für wie blöd
hältst du mich eigentlich? Ich werde dir sicher keinen ausgeben!«
Mit einer vagen Geste in meine Richtung und einem abschätzigen
Schulterzucken grinste er einem Kumpel zu. Ich wollte gerade in die Luft gehen,
als Lee sich zwischen uns schob und abwehrend die Hände hob, bevor er sie wie
zum Gebet zusammenlegte.
»Ich möchte mich für meinen Freund entschuldigen. Er ist einfach kein
Gentleman. Wie ich sehe, hat er deinen Drink auf dem Gewissen. Ich würde das
gerne wiedergutmachen und dir ein Glas Wein ausgeben.« Er lächelte breit, dann
nahm er meine Hände in die seinen und legte sie auf den Tresen, bevor er den
Barmann herbeiwinkte.
Und so kam ich mit meinem Onkel ins Gespräch. Er war ein Charmeur, der
dem Simon aus den Erzählungen meiner Mutter in nichts nachstand.
Selbstsicher bis zur Überheblichkeit, riss er alles an sich und nahm sich Dinge
heraus, allerdings ohne dabei je richtig übergriffig zu werden. Ich erlaubte ihm,
mir ein Glas Wein zu bestellen. Ich erhob keinen Einspruch, als er einen Wein
auswählte, den ich nicht besonders mochte, und sagte ihm auch nicht, dass ich
einen Martini getrunken hatte. Ich verzog keine Miene, als er ungefragt nach
meinen Händen griff. Sein Benehmen war weder liebenswert noch interessant –
es demonstrierte lediglich, dass er in der festen Überzeugung aufgewachsen war,
stets tun und lassen zu können, was er wollte. Und er verhielt sich, als müssten
alle anderen diese Überzeugung teilen. Männern dieses Schlages lässt man
unglaublich viel durchgehen. Man kann diese Attitüde verachten und sich ihr
trotzdem nicht erwehren. Später hasst man sich dann dafür.
Lee nötigte seinen Freund, den er »Scotty Dog« nannte, sich bei mir zu
entschuldigen, bevor er ihn ziehen ließ, worauf dieser prompt durch eine Tür
links von der Bar verschwand.
»Scott verschwendet keine Zeit«, lautete Lees augenzwinkernder Kommentar.
»Was bringt eine junge Frau wie dich an einen Ort wie diesen?«
Ich erzählte ihm, dass eine Freundin von mir diese Partys als gute Möglichkeit
beschrieben habe, in die Szene hineinzuschnuppern. Lee nickte. »Hier geht es
ziemlich gesittet zu. Allzu schmutzig wird es nicht. Ein bisschen vögeln, ein
wenig Gefummel unter Mädchen. Ich steh eigentlich auf die härtere Nummer,
aber für einen verregneten Donnerstag ist das hier gut genug.«
»Und worauf stehst du genau?«, fragte ich ihn. Als mir bewusst wurde, dass ich
vermutlich den Eindruck vermittelte, mit ihm zu flirten, verspürte ich einen
kurzen Anflug von Übelkeit. Wobei es verdammt schwer ist, auf einer Sexparty
nicht zu klingen, als würde man flirten. Selbst eine Diskussion über die
Grundsteuer klingt zweideutig, wenn nur zehn Meter entfernt wildfremde
Menschen Sex miteinander haben.
Er legte den Kopf zur Seite und lächelte mich an. Ich sah an seinem Blick, dass
ich jetzt erst seine volle Aufmerksamkeit hatte. Er versuchte einzuschätzen, ob
ich ihn gerade anbaggerte oder nur schräg drauf war. Ich trank einen Schluck
Wein und bemühte mich, möglichst nicht kokett zu erscheinen. Wenn er mir
von seinen sexuellen Vorlieben erzählen wollte … meinetwegen. Doch ich
würde ihn nicht verführen, um es zu erfahren.
»Ganz schön keck, Missy, wir haben schließlich noch unsere Klamotten an«,
feixte Lee und blickte auf seine Uhr, eine schwere silberne Rolex. »Glaub mir, ein
braves Mädchen wie du will das gar nicht hören. Für den Anfang solltest du dich
erst mal hier umsehen, dann reden wir weiter.«
Die Unschuldsnummer zog bei ihm nicht. Ich langweilte ihn bereits.
»Was denn? Lässt du dich vielleicht gerne erniedrigen? Ist das dein Ding? Der
große, reiche Mann, dem nie jemand Grenzen aufzeigt, der behandelt wird wie
ein Prinz, sich aber heimlich wünscht, dass ihm jemand sein still empfundenes
Gefühl des Versagens unter die Nase reibt? Oder es ihm um die Ohren haut?
Vielleicht wirst du ja gerne geschlagen, stehst auf eine ordentliche Tracht Prügel?
Oder wirst du lieber gefickt? Du bist nicht schwul, ganz sicher nicht. Aber
womöglich sehnst du dich ja danach, dominiert zu werden? Das ist nicht so
interessant, wie du denkst. Du hältst deine Fetische sicher für etwas Besonderes.
Sind sie aber nicht, Süßer, das kannst du mir glauben.«
Das brachte ihn zum Lachen. Wenn Männer Frauen witzig finden, hört man
ihrem Lachen oft die Überraschung an. Als wäre Humor eine Fähigkeit, die sie
nicht von uns erwarten. Offenbar hatte ich Lees Aufmerksamkeit
zurückgewonnen. Im Verlauf meiner Bemühungen, die Welt von dieser
schrecklichen Familie zu erlösen, musste meine Würde einiges einstecken. Das
Resultat würde das alles wert sein, da hatte ich keine Zweifel. Aber in Marbella
rumhängen, in einem Umweltzentrum Unkraut ausrupfen und jetzt auch noch
mit meinem Onkel über Sex reden … das waren echte Herausforderungen.
Komischerweise fühlte ich mich an eine Zeile aus Sinn und Sinnlichkeit erinnert:
»Es heißt, die Pacht für das Haus ist niedrig, aber wir bewohnen es zu sehr
harten Bedingungen.«
»Schwer zu beeindrucken, was?« Er blickte sich misstrauisch um, als würde er
mir gleich ein Staatsgeheimnis anvertrauen. »Na gut, Miss Ich-hab-alles-gesehen,
ich steh auf Atemkontrolle. Strangulation. Gürtel, Schals, alles, was seinen
Zweck erfüllt. Auf dem Weg zum Höhepunkt keine Luft mehr zu kriegen … ich
sag dir, das ist ein verdammt irres Gefühl. Da bin ich schon immer drauf
abgefahren. So ein superschlauer Psychologe würde vermutlich sagen, es liegt
daran, dass ich mit zehn fast im Swimmingpool unserer Familie ertrunken wäre,
oder irgend so einen Scheiß, aber wer weiß das schon.«
»Und deine Frau macht mit?«, fragte ich mit Blick auf seinen Ehering. »Ich
kann mir vorstellen, dass sie dir manchmal ganz gerne an die Gurgel gehen
würde.«
Zu seiner Verteidigung muss ich zugeben, dass er nicht einmal versuchte, so
etwas wie Scham zu zeigen. »Meine Frau … hat Klasse. Sie ignoriert einen Teil
meiner Freizeitaktivitäten, und dafür lasse ich sie zum achtzehnten Mal die
Küche umgestalten. Inzwischen verhält sie sich die Hälfte der Zeit wie eine alte
Dame. Ich verstehe das. Ich ermögliche ihr ein gutes Leben. Das ist der Deal,
den man mit einer Heirat eingeht. Aber Männer und Frauen sind nun mal
verschiedene Spezies. Meine Lust ist noch nicht versiegt. Wenn sie mir nicht
helfen will, meine Bedürfnisse zu befriedigen, dann darf sie sich nicht wundern,
dass ich mich woanders umsehe.«
In diesem Moment wankte uns Lees anderer Kumpel entgegen und taumelte
dabei in eine Gruppe von Leuten.
»Ach Gott. Sieht ganz so aus, als hätte Benji für heute genug«, bemerkte Lee.
»War nett, dich kennenzulernen, meine Liebe. Tu nichts, was ich nicht auch tun
würde.« Ich unterdrückte das Verlangen, diesen Spruch mit einem angeekelten
Gesichtsausdruck zu quittieren, und winkte ihm nach, als er seinen Freund aus
der Bar führte.
Ich wartete fünf Minuten, um sicherzugehen, dass sie wirklich weg waren, trank
den grauenhaften Wein aus und machte auf dem Weg zum Ausgang einen
großen Bogen um das nervöse Pärchen, das jetzt heftig diskutierend neben der
Tür stand. Der verschmierte Eyeliner der Frau sprach Bände. Die jungen Damen
an der Rezeption schenkten mir ein fröhliches Lächeln und waren offenbar kein
bisschen überrascht, dass ich sie schon wieder verlassen wollte. Sind Stippvisiten
bei Sexpartys vielleicht üblicher, als man denkt?
Auf der Taxifahrt nach Hause gingen mir eine Menge interessanter Ideen durch
den Kopf. Was war mein Onkel doch für ein großzügiger Mensch! In nur
zwanzig Minuten hatte er mir einen Drink spendiert und mir einen hilfreichen
Tipp gegeben, wie ich ihn umbringen konnte. Da soll noch mal einer sagen, dass
die Superreichen den Bedürftigen nicht helfen.


Obwohl der Masseur kräftig zupackte, schlief ich während der Behandlung ein.
Anschließend nahm ich ein ausgedehntes Bad, schmökerte dabei in meiner
zerfledderten Ausgabe von Beauvoirs Das andere Geschlecht, gönnte meinem Haar
eine Kur und rasierte mir die Beine. Ich habe mit sechzehn Jahren angefangen,
feministische Literatur zu lesen, als Jimmys Mum sich Sorgen machte, dass ich
zu viel Zeit mit Jimmy und seinen Freunden verbrachte. Ich glaube, sie dachte,
wenn ich zu wenig weibliche Vorbilder hätte, könnte das dazu führen, dass ich
später nicht ausreichend auf die Benachteiligungen vorbereitet wäre, mit denen
mein Geschlecht zu kämpfen hat. Wie so oft bei Sophie war das zwar gut
gemeint, zeigte aber auch, wie privilegiert sie war. Eine wohlhabende und
wohlbehütete weiße Frau, die von Diskriminierung in keiner Weise betroffen
war, sich jedoch ständig darüber ereifern musste. Die Latimers und ihre Freunde
beherrschten das meisterhaft: Sie schüttelten entrüstet die Köpfe, wenn einer der
örtlichen Läden dichtmachte, obwohl sie kaum einen Fuß hineinsetzten, sondern
schnurstracks zum nächsten Feinkostgeschäft gingen. Auf Dinnerpartys redeten
sie darüber, ihrer Putzfrau Krankengeld zu zahlen, aber als sie mittwochs nicht
mehr arbeiten konnte, wurde sie von ihnen gefeuert. »So eine Enttäuschung. Sie
ist seit zehn Jahren bei uns, aber der Dienstag passt uns einfach nicht so gut.«
Ob Sophie dachte, ich hätte keine Ahnung, wie die Welt mit Frauen umspringt?
Wie sehr unser Gesellschaftssystem uns Frauen benachteiligt, war mir schon
bewusst, bevor ich die richtigen Worte kannte, um beschreiben zu können, auf
welche Weise wir marginalisiert, herabgesetzt und ausgegrenzt werden. Ich habe
gesehen, wie es meine Mutter allmählich aufgefressen hat. Erzogen von strengen
Eltern, mit rigiden Ansichten darüber, wie Mädchen sich zu verhalten hatten.
Und später, als sie es wagte, eigene Wege zu gehen, von der eigenen Familie
verstoßen. So lange von Männern umschwärmt, bis ihr hartes Leben ihr gutes
Aussehen ruiniert hatte. Ausgenutzt von einem Mann, bis er ihrer überdrüssig
war. Unterbezahlt für Knochenjobs, in denen sie niemals Anerkennung erfuhr.
Keinerlei Unterstützung bei der Erziehung ihres Kindes, das sie ganz allein
großziehen musste.
Meine erste Berührung mit feministischer Literatur war eine Offenbarung, und
dafür werde ich Sophie ewig dankbar sein. Vielleicht habe ich damals wirklich zu
viel Zeit mit den Jungs verbracht und unbewusst mein Verhalten angepasst, um
von ihnen akzeptiert zu werden. Hätte sie mich nicht mit den Werken von Sylvia
Plath, Simone de Beauvoir und Mary Wollstonecraft vertraut gemacht, hätte ich
vielleicht das erste Aufflackern von Zorn erstickt und mich untergeordnet, wie es
uns Frauen ohne viel Worte von Geburt an vermittelt wird. Über andere zornige
Frauen zu lesen, machte mich wagemutiger, erlaubte mir, meinen Zorn zu
nähren, meine Wut als angemessen und gerecht zu erkennen. Natürlich wollte
ich diesen Frauen niemals eine Teilverantwortung für meine Taten aufbürden.
Ich gehe allerdings fest davon aus, dass die Boulevardpresse geifernd die
Legende einer »teuflischen Feministin« aus dem Hut zaubert, sollte meine Story
publik werden.
Tatsächlich gibt es ein Buch, das mir geholfen hat, Rachefantasien in einem
positiveren Licht zu sehen: Blaubarts Zimmer von Angela Carter. Es ist keins der
Bücher, die ich von Sophie bekommen habe, sondern ich fand es in einer
Buchhandlung in Soho, als ich an einem regnerischen Nachmittag kurz nach
meinem siebzehnten Geburtstag allein in der Stadt unterwegs war. Der Deckel
sprang mir sofort ins Auge. Mit seinem tiefen Kontrast zwischen Rot und
Schwarz erschien er mir wie die Illustration dessen, was in meinem Teenagerhirn
vorging. Ich überflog den Klappentext, ging zur Kasse, und in einem schäbigen
Touristencafé an der Tottenham Court Road las ich es in einem Rutsch durch.
Diese dunklen Märchen, in denen Frauen Ränke spinnen und täuschen, öffneten
eine Tür in meinem Kopf. Ich erkannte: Genauso wie wir nicht klein, still und
schwach sein müssen, müssen Frauen auch nicht gut oder stark sein. Oder
tugendhaft, um am Ende doch geopfert zu werden. Wir können gerissen sein,
egoistisch, getrieben von Begierden, die wir nicht auszusprechen wagen. Als ich
das Buch beendet hatte und auf die Straße hinaustrat, eröffneten sich plötzlich
ungeahnte Möglichkeiten. Zu Weihnachten schenkte ich Annabelle eine
Ausgabe, da ich der Meinung war, das neurotische Kind könnte einen kleinen
Impuls gut gebrauchen. Als Sophie sah, wie ihre Tochter das Buch auspackte,
spitzte sie den Mund. Nach dem Essen nahm sie mich zur Seite, um mir zu
sagen, dass Annabelle für solche blutrünstigen Geschichten noch viel zu jung sei.
»Ehrlich, Grace, ich weiß, dass du ein toughes Mädchen bist, aber Annabelle
leidet schrecklich unter ihren Ängsten, und ich finde, das hätte dir wirklich
bewusst sein sollen. Sie sieht zu dir auf, und jetzt wird sie natürlich unbedingt
dieses Buch lesen wollen. Und ich habe die undankbare Aufgabe, es ihr
abzunehmen, bis sie alt genug ist. Könntest du es nicht gegen Primo Levi
austauschen? Im nächsten Halbjahr nimmt sie in der Schule den Zweiten
Weltkrieg durch.« Ich starrte sie bloß an, bis sie in der Küche verschwand, um
die Soße umzurühren. Wie sie es verlangte, ersetzte ich ein Märchenbuch durch
eine wahre Leidensgeschichte über eine der grausamsten Untaten der
Menschheit. Annabelle hatte drei Tage lang Albträume, nachdem sie Ist das ein
Mensch? gelesen hatte.
Als mein Badewasser kalt wurde, griff ich zur Lockenbürste und föhnte mein
Haar so, dass es in sanften Wellen über meine Schultern fiel. Ich lackierte mir die
Nägel leuchtend orange und war beim Anziehen der neuen Strümpfe besonders
vorsichtig, um sie nicht sofort mit einer Laufmasche zu ruinieren. Das Kleid, das
ich für diesen Abend herausgelegt hatte, war ein kleines Schwarzes. Kurz, mit
langen Ärmeln und einem hohen Rüschenkragen. Darin sah ich streng, aber
auch verführerisch aus. Nach meiner ersten Stippvisite in der Welt der Sexklubs,
bei der mein Onkel mir so bereitwillig Anregungen für den Mord an ihm lieferte,
hatte ich gründlich im Internet recherchiert. In London gibt es Dutzende dieser
Klubs. Die Bandbreite reicht von »Maskenball mit Models« bis »Gegen den
allgegenwärtigen Schmierfilm der Trauer bitte Feuchttücher mitbringen«. Welche
Läden man besser meiden sollte, ist leicht zu erkennen: Beschreibungen wie
»Das Venue ist drei Minuten vom McDonald’s-Drive-in entfernt« und
»Alkoholische Getränke bitte selbst mitbringen, keine Dosen« sind natürlich
Ausschlusskriterien. Lee würde keine Sexparty an einer Umgehungsstraße in
Wembley besuchen. Was ich sogar nachvollziehen konnte: Denn auch wenn ich
keine Scheu hatte, mich vor Ort umzusehen, konnte ich dabei auf Ausflüge in
Industriegebiete gut verzichten. Ich hatte in meinem Leben schon mehr als
genug deprimierende Erlebnisse.
Nachdem ich mir einige Webseiten gewöhnlicher Sexklubs angesehen hatte, wo
so oft das Wörtchen »Spaß« fiel, dass man glauben musste, es ginge um einen
Besuch im Vergnügungspark, stieß ich schließlich auf drei Luxusklubs auf deren
Seiten Fesselspiele, BDSM und Atemkontrolle ausdrücklich erwähnt wurden und
in deren Mailinglisten ich mich eintrug. Hier ging es nicht ganz so locker zu wie
am Empfang des Klubs in Chinatown. Alle drei verlangten ein Foto und eine Art
persönliche Kurzbio, bevor man an einer ihrer Veranstaltungen teilnehmen
konnte. Ich schickte ein Instagram-Foto einer semiprominenten Influencerin, die
mir ähnlich genug sah, um am Einlass keine Fragen aufzuwerfen, und drei
Zeilen, in denen ich mich als PR-Girl beschrieb, das neue Erfahrungen mit
attraktiven fremden Männern machen wolle. Als halbwegs attraktive Frau ist es
nicht sonderlich schwer, in diese Klubs zu kommen – anders als für männliche
Singles, denen man nicht ganz zu Unrecht unterstellt, dass sie nur in der Ecke
stehen und die anderen Gäste verunsichern.
Ich besuchte auch noch einen Erste-Hilfe-Kurs, so absurd das rückblickend
auch klingen mag. Irgendwie dachte ich, wenn ich jemanden erdrosseln will,
könnte es hilfreich sein herauszufinden, worauf die Experten achten, wenn sie
einen Menschen vor diesem Schicksal bewahren möchten. Ich wollte wissen, was
der entscheidende Moment ist. Ab wann die blutunterlaufenen Augen und der
Bewusstseinsverlust nicht mehr umkehrbar sind. Dafür musste ich leider einen
öden, zweistündigen Aufenthalt in einem Gemeindezentrum in Peckham
erdulden. Dort demonstrierte uns eine eifrige Dame namens Deirdre eines
Dienstagabends an einem Dummy, der mindestens so alt wie sie aussah, wie man
eine Herz-Lungen-Reanimation durchführt. Bei dieser Gelegenheit möglichst
beiläufig das Thema Strangulation anzusprechen, erwies sich als schwieriger als
gedacht. Immerhin habe ich gelernt, dass Menschen zwar innerhalb von
Sekunden das Bewusstsein verlieren, bis zu ihrem Tod aber volle vier Minuten
vergehen können, selbst wenn es so aussieht, als wären sie längst abgetreten. Wie
man eine Hand verbindet, hätte ich allerdings auch googeln können. Das hätte
mir die feuchten Grapscher eines Kerls namens Anthony erspart, der mich
ununterbrochen anstarrte, als ich seine Wurstfinger bandagierte. Immerhin weiß
ich jetzt, dass Frischhaltefolie bei leichten Verbrennungen hilft. Danke, Deirdre.
Nachdem ich mich zurechtgemacht hatte, trank ich ein Glas Wein in der
Küche. Solche Partys beginnen immer erst spät am Abend, und ich befürchtete,
dass sie völlig nüchtern nur schwer zu ertragen wären. Ich hatte mich für eine
entschieden, deren Veranstalter ein Adelsspross war, der immer wieder in der
Presse auftauchte. Dort rührte er die Werbetrommel für seine exzentrischen
Klubnächte. Was seine Sexpartys betraf, hielt er sich allerdings eher bedeckt.
Dass er involviert war, wusste ich nur deshalb, weil sie in demselben Gebäude an
der Regent Street stattfanden, wo auch seine Firma gemeldet war. Das ergab
durchaus Sinn: Unterhalte die Reichen und Schönen auf deinen Partys und hab
ein Auge auf sie. Such nach denen, die zwar alles haben, aber nicht genug
bekommen können. Wenn sie ihren exorbitanten Champagner-Deckel bezahlen,
überreiche ihnen mit der horrenden Rechnung eine diskrete schwarze
Visitenkarte, auf der in Prägeschrift eine Internetadresse steht. Superexklusiv.
Für Gäste mit ganz besonderen Ansprüchen. Ein kleines Nebengeschäft, das
sich für den ehrenwerten Felix Forth ordentlich bezahlt machen dürfte. Der
Mann kennt seine Kunden. Er ist einer von ihnen. Nachdem ich meinen Antrag
abgeschickt hatte, wartete ich drei Wochen auf eine Antwort.
Sie kam in Form einer schlichten Einladungsmail mit dem Ort und dem
Datum. Sonst nichts, keine Anrede, keine Anweisungen. Nachzufragen, ob ich
meinen eigenen Ballknebel mitbringen sollte, war vermutlich nicht
empfehlenswert, also tat ich, was jeder Millennial getan hätte, und googelte es.
Von den drei Klubs, die ich mir näher angesehen hatte, war dies der exklusivste.
In den blasierten Reviews auf einer Website namens Sleekexperts wurde immer
wieder betont, wie opulent die Einrichtung sei, wie »dark« es dort zugehe – und
vor allem, wie schwer es sei, eine Einladung zu bekommen. Zumindest Letzteres
hatte ich zweifelsfrei widerlegt. Alles war entsetzlich vage formuliert, dennoch
wurde ziemlich klar, dass man sich auf diesen Partys gut aufgehoben fühlte,
wenn man sich gerne an härteren Praktiken bis hin zum Fetischsex erfreute. In
mehr als einem der Kommentare schwärmten die Verfasser, dass sie noch
nirgendwo so versauten Sex erlebt hätten wie dort. Auf einer Website, die
gestaltet war wie ein TripAdvisor-Abklatsch, wirkte diese Formulierung
irgendwie befremdlich.
Ich hatte keine Ahnung, ob ich meinen Onkel tatsächlich dort antreffen würde,
doch das war auch gar nicht entscheidend. Mir ging es hauptsächlich darum
herauszufinden, wo bei solchen Partys die Grenzen lagen. Lee hatte mir erzählt,
dass er gerne gewürgt wurde. Das hätte allerdings auch reine Aufschneiderei sein
können, die ihn exzentrischer erscheinen lassen sollte, als er eigentlich war. Oder
genoss er es wirklich, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu
wandeln? Falls das stimmte, erlaubten es ihm diese Partys dann, dieser Neigung
nachzugehen, oder musste er sie in diskreten Hotelzimmern ausleben?
Ich fuhr mit der U-Bahn bis zur Tottenham Court Road und ging den Rest des
Weges zu Fuß. Ich bin immer schon gerne durch die Stadt gelaufen. Als ich
jünger war und mir bei den Latimers die Decke auf den Kopf fiel, streifte ich mit
ihrem alten Hund Angus stundenlang durch Hampstead Heath und ließ meinen
Gedanken freien Lauf. Wenn ich in Bewegung bin, ist auch mein Geist in
Bewegung. Deshalb liebe ich es, meine Laufschuhe anzuziehen und loszurennen.
Dann lasse ich meine obsessiven Gedanken hinter mir, löse mich von fixen
Ideen, von meinem Drang zur Eile, und denke nach vorne. Wenn ich mir diese
Auszeiten nicht nehmen würde, hätte mich mein ruhelos ratterndes Hirn
vermutlich längst in die Schlaflosigkeit getrieben.
Um 23:45 Uhr kam ich an meinem Ziel an. Spät genug, um nicht zum Opfer
derjenigen zu werden, die schon vor Geilheit mit den Hufen scharrten, aber früh
genug, um mir einen Überblick zu verschaffen, bevor alle übereinander herfielen.
Wenn die Bar in Chinatown die Billigfluglinie unter den Erotikpartys war, dann
war dies der Privatjet. Freigetränke inklusive. Und Nüsse natürlich. Die große
Flügeltür wurde von einer Frau geöffnet, deren Kleid ganz so aussah, als wäre es
vor Kurzem noch auf einem Laufsteg von Chanel zu bestaunen gewesen. Der
Fußboden war aus Marmor, und eine eiserne Treppe führte in einen
palastartigen Empfangsraum. Dort reichte mir ein Mann, der einen Smoking und
eine schwarze Maske trug, wortlos ein Glas Champagner und eine identische
Maske aus dünner schwarzer Seide, die ich anlegen musste. Ich strich mein Haar
nach hinten und betrat den Hauptraum, wo es bereits von Menschen wimmelte,
hinter denen die riesigen Fenster den Blick auf die Leuchtreklamen der Regent
Street freigaben. Einen kurzen Moment lang fragte ich mich, wer es stimulierend
finden konnte, beim Orgasmus auf einen Apple Store zu blicken, und kam dann
zu der Einsicht, dass ich die Antwort direkt vor mir hatte: Reiche Leute fanden
diesen Ausblick vermutlich wirklich erotisch.
Ich leerte mein Glas und ließ mir dann von einer Frau, die gekleidet war, als
wollte sie zu einer Benefizgala mit Krawattenpflicht, ein neues reichen. Links
von mir streichelten drei Menschen einander die Arme. Ich sah eine Frau, die
eine andere küsste, während das Gesicht eines Mannes, der eine Fliege trug, sich
den ihren näherte, um mitzumischen. Der Teppich war so dick, dass meine
Absätze mit jedem Schritt darin versanken. Das viele Streicheln und Küssen war
nicht gerade aufregend. Die Masken wirkten ein wenig billig. Wenn ich mich
schon so spät hierherbemühte, dann wollte ich auch ein wenig Action sehen.
Ich trat durch eine mit schwarzem Stoff verhangene Tür und kam in einen
Korridor, von dem weitere Türen abgingen. Die Räume waren mit Schildern
versehen, die ich im schummerigen Licht gerade noch lesen konnte. Vermutlich
waren sie irgendwann einmal Büros für rechtschaffene viktorianische Bürger
gewesen. Jetzt trugen sie Namen wie »Playroom«. Immerhin gibt es keine
Schwindsucht mehr, manche Dinge haben sich also seit damals gebessert.
Meine Selbstachtung war zu groß, um diesen Raum zu betreten, also ging ich
weiter und blieb vor dem »Darkroom« stehen. Dank meiner Recherchen im
Internet wusste ich, was sich dahinter verbarg. Darkrooms waren in den
Schwulenbars der Siebzigerjahre aufgekommen, auf Partys wie dieser gehörten
sie inzwischen zum Standard. Meistens dienten diese abgedunkelten Räume als
Treffpunkte für jene Gäste, die sich besonders sündigen Vergnügungen
hingeben wollten. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Falls der Raum gerade genutzt
wurde, waren Besucher vielleicht nicht unbedingt willkommen.
Drinnen verlief ein blauer Lichtschlauch entlang der Fußbodenleisten. Ich
stand mit dem Rücken zur Tür, die sich geräuschlos hinter mir schloss, und
wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich hörte
jemanden wimmern und keuchen, und dann war da ein anderes, lauteres
Geräusch … das Rasseln von Ketten. Allmählich konnte ich erkennen, was sich
vor mir abspielte. Eine Frau war an der Wand festgeschnallt, als hätte jemand
versucht, da Vincis vitruvianischen Menschen nachzustellen. Neben ihr stand ein
Mann, der außer seiner Hose nur noch die Maske trug. In der Hand hielt er eine
schwere Kette, mit der er gerade zum Schlag ausholte.
Ich hielt den Atem an und wartete, was passieren würde.
Der Mann hob den Arm, und eh ich michs versah, schoss die Kette herab und
landete auf ihrem Unterleib. Sie schrie kurz auf, bevor sie die Zähne
zusammenbiss und die Augen schloss. Er küsste ihre Schulter und beobachtete,
wie sie um Atem rang. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass sich
auf ihrem Bauch eine blutige Strieme bildete. Vermutlich galt die
unausgesprochene Regel, nur auf solche Körperstellen zu zielen, die sich
problemlos verhüllen lassen, wenn man am Montag wieder ins Büro geht.
Ungeachtet dessen, was ich vor nicht allzu langer Zeit getan hatte, finde ich
Gewaltakte keineswegs erregend. Auch nicht solche, die im beiderseitigen
Einvernehmen geschehen. Bei Serienkillern scheint es schon fast eine
Grundvoraussetzung zu sein, dass sie in ihrer Kindheit Tiere quälen, bevor sie
dazu übergehen, Menschen zu töten, weil es ihnen einen Kick gibt, sie leiden zu
sehen.
Die Sinnlosigkeit solcher Taten bringt mich aus der Fassung. Der Anblick
dieser Frau und ihres blutigen Unterleibes brachte mich aus der Fassung. Es gibt
Situationen, in denen Gewalt und Bestrafung nötig sind, aber ich kann nicht
begreifen, wie man Menschen quälen und terrorisieren kann, weil man dabei
Befriedigung empfindet. Vergeltung ist befriedigend. Ein Unrecht
wiedergutzumachen, ist befriedigend. Jemanden zu bestrafen, der es wirklich
verdient hat, ist befriedigend. Meine Taten machen mich stärker. Ich begehe sie
nicht, um mich an den Schmerzen anderer Menschen zu erfreuen.
Ja, als ich zusah, wie mein grauer alter Großvater mit jeder Sekunde schwächer
wurde, während seine tote, enthauptete Frau neben ihm lag, empfand ich eine
gewisse Befriedigung, doch sie verblasste angesichts der von mir ausgelösten
Kette der Ereignisse. Ich befreite die Gesellschaft von einer zerstörerischen
Gruppe von Menschen. Einer Familie, die sich alles unter den Nagel reißt, was
sie kriegen kann, und die für andere nur Verachtung übrig hat.
Ich war so in Gedanken versunken, dass mich das laute Klirren der Kette
erschrocken zusammenzucken ließ. Diesmal rief die Frau das Wort »mächtig!«,
und der Mann ließ das Folterwerkzeug fallen. Er hielt ihr eine Flasche Wasser an
die Lippen und strich ihr übers Haar. Ein elegantes Safeword, dachte ich, als ich
den Raum verließ. Während ich ihnen zuschaute, hatte mich das Paar kaum eines
Blickes gewürdigt. Ich konnte Zärtlichkeit und Vertrauen zwischen ihnen
spüren. Eine partnerschaftliche Übereinkunft. Mir wurde klar, wie essenziell
diese unausgesprochenen Richtlinien für die Sexparty-Community waren. Sie
ermöglichten es, Schwellen zu überschreiten und dabei das Schamgefühl
abzulegen, das normalerweise damit einherging. Dank ihnen konnte man
jemandem Schmerzen zufügen und ihn danach trösten. Und fünf Minuten später
konnte man zur Tür hinausspazieren, ohne je den Namen seines Opfers zu
erfahren. Doch auch wenn die Scham innerhalb der vier Wände dieses
palastähnlichen Gebäudes keinen Platz hatte: Was war dort draußen? Dort
lauerte sie auf einen. Wenn Lee an einem Ort wie diesem sterben würde, würde
die Artemis-Sippe alles tun, um das zu verschleiern und zu verheimlichen.
Niemand würde einen Pfifferling darauf geben, was Lee in diesen dunklen
Räumen gewollt hatte. Niemand würde nach Antworten suchen.
Ich spähte noch in eine Reihe anderer Räume. In einem experimentierte ein
Paar mit einem Latexanzug, in einem anderen versuchte sich eine gemischte
Gruppe unbeholfen an einer Orgie, haderte allerdings mit der körperlichen
Koordination. Aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Und diese Leute
augenscheinlich auch nicht. Lee in diesen dunklen Räumen aufzustöbern, schien
mir nicht sehr aussichtsreich – falls er überhaupt hier war. Und ehrlich gesagt
hatte ich wenig Lust darauf, für einen Blick auf meinen maskierten und
möglicherweise nackten Onkel mühsam jeden Winkel abzusuchen.
Ich kehrte in die Bar zurück und kam mit einer anderen Frau ins Gespräch.
Offenbar war sie allein, und mir gefiel ihr Outfit, ein eleganter schwarzer
Smoking, mit dem ich selbst vor ein paar Tagen geliebäugelt hatte, um mich
dann schweren Herzens dagegen zu entscheiden. Auf einer Sexparty im
Gedränge zu stehen und nur Augen für schicke Klamotten zu haben, das war
mein persönlicher Sündenfall. Ich fragte sie, wie der Abend so lief, und sie
zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich einen zugekoksten Banker vögeln wollte, könnte ich mich ebenso
gut donnerstagabends am Bahnhof Liverpool Street rumtreiben«, antwortete sie.
Ich musste lachen und signalisierte der Barfrau, mir einen Drink zu bringen.
»Wo würdest du hingehen, wenn du mehr willst als das hier?«, fragte ich. »Ich
habe das Gefühl, dass hier zwar jeder extremer als der andere sein will, aber
eigentlich sehen diese Partys alle aus wie die Gin-Werbung in einem
Hochglanzmagazin.« Sie nickte zustimmend und ließ den Blick durch die Bar
schweifen, die sich jetzt leerte, weil die Menschen sich allmählich in die hinteren
Räume verzogen.
»Das einzig Gute hier ist die zentrale Lage und dass man vom Wein keine
Kopfschmerzen kriegt. Aber alles ist so supersafe. Sie locken einen mit den
schmutzigsten Versprechen, aber für die meisten Männer hier bedeutet das bloß,
sich endlich mal als Loser outen zu dürfen und sich auch noch einen darauf
runterzuholen. Das ist es, was reiche Männer unter dunklen Abgründen
verstehen. Worauf bist du denn aus?«
Sie war wunderschön, das konnte auch die Maske nicht verbergen. Sie hatte
ausgeprägte Wangenknochen, die beim Lächeln nicht verschwanden, und ihre
Sommersprossen nahmen ihrem Gesicht etwas von seiner Strenge. Die vollen
Lippen waren nicht aufgespritzt wie bei der Hälfte der Frauen, die ich an diesem
Abend gesehen hatte. Besuchte sie diese Partys, um reiche Männer
kennenzulernen? Oder suchte sie tatsächlich nach einer Form der sexuellen
Befriedigung, die ich wohl niemals verstehen würde? Was immer sie hier wollte,
sie bevorzugte es fraglos, wenn man Klartext mit ihr redete. Also tat ich ihr den
Gefallen.
»Ich möchte jemanden fesseln, sodass er völlig hilflos ist. Dann möchte ich ihn
so lange strangulieren, bis er das Bewusstsein verliert. Ihn macht es an, für mich
ist es Teil des Heilungsprozesses. Kennst du einen Ort, wo so etwas möglich
ist?«
Auf dem Heimweg öffnete ich den Browser auf meinem Smartphone und
suchte nach dem Namen des Klubs, den sie mir genannt hatte. »Tja, da kommt
nur einer infrage, Darling. Mit Schuppen wie diesem hier verschwendest du nur
deine Zeit«, hatte sie auf meine Frage geantwortet. »Wobei du offensichtlich ein
Amateur bist, denn sonst wärst du nicht hier. Und glaub mir, du tust dir keinen
Gefallen, wenn du dich an dem Ort, von dem ich dir jetzt erzählen werde, als
Anfänger zu erkennen gibst. Überleg dir gut, ob es dir damit wirklich ernst ist.«
Sie hatte ja keine Ahnung, wie ernst es mir war. Und sie ritt auch nicht weiter
darauf herum, sondern verschwand bald darauf in Richtung »Playroom«. Genau,
wie sie es gesagt hatte, ließ sich online über ihre Empfehlung nicht viel in
Erfahrung bringen. Nur eine Anfahrtskarte und eine Mobilnummer.
Möglicherweise würde ich meinem Ziel nun endlich näher kommen. Lee zu
überzeugen, sich von einer wildfremden Frau fesseln und würgen zu lassen,
schien mir der leichtere Teil zu sein. Deutlich schwerer war es vermutlich, ihn
nach Mile End zu locken.


Schließlich hatte ich Glück. Eines Dienstagabends nötigten mich meine
Kolleginnen, nach der Arbeit noch etwas mit ihnen zu trinken. Ich hielt ganze
dreißig Minuten durch. Unsere Runde bestand aus sieben Frauen und Gavin,
einem süßen, irgendwie tuntigen Typen vom Digitalvertrieb, der öfter
Strickjacken trug, als er sollte. Ihr kreischendes Gelächter war bis zur Bar zu
hören, wo ich mir gerade ein großes Glas Brunello bestellte, denn diese
Menschen hätten sich in keinem vorstellbaren Universum für etwas anderes als
eine Flasche weißen Hauswein entschieden. Als ich mich schließlich zu ihnen
setzte, sah ich, dass mein Instinkt mich nicht getäuscht hatte. Mein einziger
Fehler bestand darin, sie zu unterschätzen: Auf dem Tisch standen ganze drei
Flaschen, und nur eine war noch nicht völlig geleert. Ich wurde lauthals begrüßt,
und sie boten mir einen Stuhl an.
»Wir sprechen gerade darüber, welcher der Hemsworth-Brüder der heißere ist«,
säuselte Jenny, die im Büro kein Wort mit mir wechselte, aber immer lächelte,
wenn ich in ihre Richtung blickte.
»Oh, schade«, sagte ich und nahm meinen Schal ab. »Ich weiß gar nicht, wer
das ist.« Natürlich wusste ich es. Ich finde es erbärmlich, popkulturelle
Phänomene vorsätzlich zu ignorieren. Doch ich wollte nicht, dass sie mich für
jemanden hielten, der solche Gespräche genießt. Damit hätte ich mich auf
verdammt dünnes Eis begeben, denn als Nächstes hätte man von mir erwartet,
mich bei der Arbeit mehr einzubringen. Nicht, dass ich eine längere Karriere bei
der Firma anstrebte: Sobald ich meinen Plan ausgeführt hatte, wollte ich
schnellstmöglich und ohne Abschiedsmail das Weite suchen.
Die Diskussion ging hin und her. Irgendwann zückte jemand ein Handy, um
mir die entscheidenden Unterschiede zwischen den Hemsworth-Brüdern zu
demonstrieren. Ich hörte zu und blockte jeden Versuch ab, mich in
Zweiergespräche zu verwickeln. Als Christie auf die Toilette ging und Gavin eine
weitere Runde orderte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich zu verabschieden.
Sie versuchten, mich zum Bleiben zu überreden, und ich gab mir alle Mühe,
Ruhe zu bewahren. Doch dann griff Jenny nach meiner Hand und wollte mir
den Schal abnehmen. Da verlor ich für einen kurzen Augenblick die Kontrolle.
Ich grub meine Nägel in ihre Handfläche und befreite mich gewaltsam aus ihrem
Griff. Sie zuckte zusammen, rieb ihre Hand und blickte mich entsetzt an. Eilig
wünschte ich allen einen schönen Abend und warf auf dem Weg zur Tür noch
einmal einen Blick über die Schulter. Nach dem zu schließen, was Magda mit der
leeren Weinflasche anstellte, erzählte sie gerade etwas, was mit Fellatio zu tun
hatte. Alle lauschten ihr gebannt. Alle … außer Jenny. Die hatte die Hand in die
Achselhöhle gesteckt und starrte mir fassungslos hinterher. Ich musste mich sehr
zusammenreißen, ihr nicht zuzuzwinkern.
Da ich mich nicht durchringen konnte, schon nach Hause zu gehen, steckte ich
mir vor der Tür erst einmal eine Zigarette an. Es dauerte nicht lange, und jemand
bat mich um Feuer. Der lästige Schnorrer war recht attraktiv, wenn auch eher ein
Durchschnittstyp, und wollte offensichtlich mit mir ins Gespräch kommen, aber
das Alter machte sich bereits bemerkbar. Erst verlieren sie die Haare, dann
hängen die Wangen. Eine unattraktive Aussicht, in die ich nicht eine Minute
meiner Zeit investieren wollte. Also streifte ich noch etwas durch Soho, guckte
mir die Schaufenster an und fasste den Entschluss, etwas essen zu gehen. Es war
erst zwanzig Uhr, und ich entschied mich für meinen Lieblingsitaliener, bei dem
man nicht alleine am Tisch sitzen muss, sondern seine Mahlzeit an der Theke
einnehmen kann. In Ruhe zu essen, ohne sich dabei mit jemandem unterhalten
zu müssen, gehört zu den großen Freuden im Leben. Was kann schlimmer sein
als ein mieses Date mit gutem Essen? Wie soll man seine Mahlzeit genießen,
wenn einem jemand erzählt, dass er einfach nicht versteht, was am Lesen so toll
sein soll. Oder – noch schlimmer – dass sein Lieblingsfilm Goodfellas ist. Wenn
jemand Goodfellas jedem anderen Film vorzieht, dann hat er es nie für nötig
gehalten, eine eigene Persönlichkeit zu kultivieren.
Nach einem Teller Cacio e Pepe, einem weiteren Glas Wein und einem
Macchiato warf ich einen Blick auf meine Uhr. Inzwischen war es kurz vor zehn.
Schon komisch, dass sich dreißig Minuten mit Arbeitskollegen wie eine Ewigkeit
anfühlen können und zwei unbeschwerte Stunden allein mit den eigenen
Gedanken wie im Flug vergehen. Ich glaube, unterschwellig war mir die Idee,
dem von Lee frequentierten Club in Chinatown einen spontanen Besuch
abzustatten, schon vor dem Essen beim Italiener gekommen. Vielleicht hatte ich
mich deshalb so lange in der Stadt herumgetrieben. Es war nicht geplant, aber
nachdem ich bezahlt hatte und auf die Straße hinaustrat, wurde mir plötzlich
bewusst, dass mir der Gedanke schon geraume Zeit durch den Kopf ging.
Allerdings war es für meinen Onkel noch ein bisschen früh, und ich wusste nicht
einmal, ob der Club dienstags überhaupt geöffnet hatte. Egal: Lee war kein
Stubenhocker, und Sex haben die Menschen nicht nur am Wochenende. Einen
Versuch war es also wert. Außerdem wollte ich endlich den nächsten Teil meines
Plans umsetzen, und dafür würde ich von nun an etwas forscher vorgehen
müssen. Ich musste Lee davon überzeugen, mit mir ins East End zu kommen.
Da wir beide uns kaum kannten, klang das vielleicht nach einem unmöglichen
Unterfangen, doch ich spekulierte darauf, dass seine Risikofreude und seine
extreme Abneigung gegen Langeweile mir in die Karten spielen würden. Für
Männer wie Lee ist Vertrauen nicht so wichtig wie für andere Menschen. Simon
hätte das Angebot, das ich Lee machen würde, niemals angenommen. Lee
dagegen hielt sich für besonders schlau, ohne es wirklich zu sein. Das war die
perfekte Voraussetzung. Die aus dieser Kombination resultierende
Unbesonnenheit stimmte mich ziemlich zuversichtlich, dass er auf meinen
Vorschlag eingehen würde. Dafür musste ich meinen Onkel nur noch finden.
Ich machte mich auf den Weg nach Chinatown. Mit meinen Arbeitsklamotten,
dem Schal und der Wollmütze war ich für eine Sexparty nicht unbedingt ideal
angezogen. Aber es war Dienstag Abend, und ein Schuppen, dessen Betreiber
glaubten, es würde opulent wirken, wenn man alles mit rotem Teppich
zupflasterte, konnte wohl kaum auf Ballkleider bestehen.
Wie erwartet war es verhältnismäßig leer. Einige Pärchen hatten sich mit einem
Drink in den tiefen Samtsesseln niedergelassen, und an der Bar stand ein
angetrunkener Mann mit Lederjacke, der sich bei meinem Anblick sofort in
Positur schmiss.
»Darf ich …«, stammelte er, als ich den Schal ablegte.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte ich, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Seien Sie niemals nett zu Männern, die Sie in ein Gespräch verwickeln wollen –
die fassen selbst ein freundliches Nein noch als Herausforderung auf. Ganz
besonders in einem Sexklub.
Ich gab mir eine Stunde. Falls Lee um dreiundzwanzig Uhr noch nicht da war,
würde ich den Heimweg antreten. Ich halte mich an die Redensart, dass nach
zwei Uhr morgens nichts Gutes mehr passiert, und in einem Laden wie diesem
schien es mir umsichtig, den Zeitpunkt noch um ein paar Stunden nach vorne zu
verlegen. Um dem Mann neben mir keine weitere Gelegenheit zu geben, mich
anzusprechen, nahm ich meinen Drink und sah mich etwas um. In einem Raum
gleich neben der behindertengerechten Toilette vergnügten sich zwei Männer
und eine Frau bei einem Dreier. Wenn drei Menschen versuchen, sich
gegenseitig zu befriedigen, scheint mir das immer einer zu viel zu sein. Wie kann
man sich auf seinen eigenen Orgasmus konzentrieren, wenn man darüber
nachdenken muss, ob jemand anderes zu kurz kommt? Mir sprang ins Auge,
dass einer der beiden Männer sehr viel attraktiver als der andere war. Ein
Umstand, der – wie ich annahm – zwar allen Beteiligten bewusst war, aber
vermutlich von niemandem angesprochen wurde. Das Erscheinungsbild des
einen Mannes legte nahe, dass er sehr viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte, um
den Anschein von großer Körperkraft zu erwecken, die er vermutlich gar nicht
besaß. Er sah aus, als ob er mit seinen bloßen Händen Holz hacken könnte,
doch seine manikürten Fingernägel ließen darauf schließen, dass ihn schon die
bloße Vorstellung körperlicher Arbeit abschreckte. Der andere Kerl hatte eine
beachtliche Wampe und einen haarigen Rücken. Etwas, das heutzutage
unmöglich jemand schön finden kann. Schon seit der Steinzeit gibt es keine
Pluspunkte mehr dafür, dass man in der Lage ist, sich warm zu halten. Das
Schlimmste an ihm war die Akne auf seinem Hintern. Sie war so heftig, dass
selbst das gedämpfte Licht sie nicht verbergen konnte. Das Selbstbewusstsein
eines Mannes, der mit einem pickeligen Arsch in einen Sexklub geht, würde ich
auch gerne haben.
Die Frau schien sich allerdings nicht sonderlich daran zu stören. Schließlich
legte der Kerl sich ordentlich ins Zeug. Sein Kopf verschwand zwischen ihren
Beinen, während sie sich zurücklehnte, um den Schönling zu verwöhnen. Der
Anblick erinnerte ein wenig an Dominosteine, und sie musste sich dabei so
verdrehen, dass Rückenschmerzen unvermeidlich waren. Der Muskelprotz
genoss dabei offenbar vor allem den performativen Aspekt. Ich beobachtete, wie
er seine Bauchmuskeln anspannte. Als er meinen Blick bemerkte, forderte er
mich mit einem Nicken zum Mitmachen auf, was mir ein kurzes Lachen
entlockte. Daraufhin funkelte die Frau mich verärgert an. Zugegeben nicht ganz
zu Unrecht, schließlich war es nicht gerade schwesterlich von mir, sie aus ihrer
Ekstase zu reißen. Diese Leute konnten nicht ernsthaft glauben, dass ich ihnen
bei ihrem bizarren Treiben Gesellschaft leisten wollte. Das war absurd.
Andererseits war ich diejenige, die einen Wintermantel trug und drei Fremden
dabei zusah, wie sie sich gegenseitig befriedigten. Vielleicht war mein Lachen
also unangebracht.
Ich verließ den Raum und kehrte an die Bar zurück, wo der Lederjackentyp
inzwischen eine andere gefunden hatte, die er langweilen konnte. Während ich
noch auf meinen Drink wartete, schwang die Tür auf, und eine sehr schöne Frau
kam herein. Hinter ihr folgte Lee, wie immer in Cowboystiefeln. Mein Herz
machte einen freudigen Satz, erhielt aber sofort einen Dämpfer. Seine Hand
ruhte in ihrem Kreuz, und mir schwante, dass es schwierig werden würde, ihn
alleine zu erwischen, wenn seine Begleiterin, die definitiv nicht seine Frau war, all
seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Selbst mir fiel es schwer, den Blick von ihr
abzuwenden. Lee war vierundfünfzig. Er bemühte sich zwar, jünger zu wirken,
indem er sich die Haare färbte und zum Fitnesstraining ging, doch sein Alter war
eine Tatsache. Und die war unübersehbar, wenn er neben dieser jungen Frau
stand, die eigentlich noch ein Mädchen war. Ein Mädchen, das mich um
fünfzehn Zentimeter überragte und dessen Lippen aussahen, als hätte sie Gott
persönlich modelliert – aber nichtsdestotrotz ein Mädchen. Es hat mich schon
immer fasziniert, dass alte Männer kein Problem damit haben, wie es wirkt, wenn
sie sich mit einer so jungen Frau zeigen. Bekommen sie denn gar nicht mit, wie
die Leute lachen und tuscheln? Wie sie rätseln, ob es sich um ihre Tochter oder
Geliebte handelt? Oder vielleicht sogar glauben, dass sie die Kleine emotional
manipuliert oder mit Geld gefügig gemacht haben? Allerdings bin ich eine Frau.
Gut möglich, dass diese Männer von Vertretern ihres Geschlechts und ihres
Alters mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung betrachtet werden.
Häufig scheint es mir besser zu sein, keine Ahnung zu haben, was in einem
männlichen Hirn so vor sich geht. Ich befürchte, wenn wir es wüssten, würden
wir einen noch größeren Teil unseres Lebens in Angst und Verzweiflung
verbringen.
Das Mädchen, das jung genug war, um seine Tochter zu sein, raunte ihm etwas
zu. Dann reichte sie ihm ihre Chanel-Clutch und verschwand durch eine
Seitentür. Als er an die Theke kam, zerknautschte Lee die fast dreitausend Pfund
teure Tasche in seiner fleischigen Hand, als wäre sie aus Papier. Er war eindeutig
ziemlich betrunken. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Augen
waren schon leicht glasig. Er lächelte, als er mich erkannte. Lee war geschickt
darin, Leute zu begrüßen, als wären sie alte Freunde. Ein versierter Blender, dem
zwar dein Name nicht einfiel, der dir aber für fünfzehn Sekunden das Gefühl
gab, sich ehrlich zu freuen, dich zu treffen, bevor er sich jemand anderem
zuwandte.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte er und hauchte mir einen Kuss auf die
Wange. »Ich dachte, du suchst etwas Extremeres als das hier?«
»Ich habe es gefunden«, antwortete ich. »Ich bin nur hier, um dich einzuladen.
Sieht aber ganz so aus, als hättest du heute Abend schon Verpflichtungen.«
Er wirkte leicht verwirrt, dann wanderte sein Blick zu der Tasche in seiner
Hand. »Ach so. Die Kleine ist beruflich hier. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich nickte und hoffte, er würde mir eine detaillierte Erklärung dafür ersparen,
dass er eine dreißig Jahre jüngere Sexarbeiterin engagierte. Leider dachte er
offenbar, ich hätte seinen Wink mit dem Zaunpfahl nicht kapiert, denn er beugte
sich zu mir runter, bis seine Lippen fast mein Ohr berührten.
»Virginie ist eine Nutte«, flüsterte er, und ich konnte seine Whisky-Fahne
riechen. »Eine Nutte, mit dem Gesicht einer … Putte.« Er kicherte über seinen
eigenen Reim und schnippte mit den Fingern in Richtung des Barkeepers, der
die Augen zusammenkniff und ihn ignorierte.
»Also? Kommst du mit mir, diesen neuen Laden ausprobieren? Oder willst du
weiter bloß große Reden schwingen, auf was für düsteren und harten Scheiß du
stehst, ohne dich je woanders hinzuwagen? Ich schätze, Virginie macht eh alles,
was du willst. Denn für alles, was sie wegsteckt, steckt sie sich was ein. Das klingt
für mich nicht besonders aufregend.«
Wieder lachte er. Doch so betrunken, wie er war, würde ich ihn wohl nicht aus
diesem Schuppen rauskriegen, bevor seine Begleiterin zurückkam.
»Sie ist wie alle Weiber. Ihr tut immer so, als wärt ihr superunkonventionell,
dabei machen euch meine Vorlieben in Wahrheit eine Heidenangst. Aber wenn
ich dafür bezahle, ist es plötzlich gar kein Problem. Wetten, dass ich der Kleinen
nur genug Geld bieten muss?«
»Na gut, ich werde hier nicht meine Zeit verschwenden. Ich habe einen Klub
gefunden, in dem kein Wunsch unerfüllt bleibt und keine Fragen gestellt werden.
Dagegen ist das, was hier geboten wird, ein Yoga-Kurs für gelangweilte
Hausfrauen. Allerdings habe ich wenig Lust, allein dorthin zu gehen – das wäre
ja öde. Zusammen könnten wir da richtig Spaß haben. Falls du dich lieber mit
jemandem amüsierst, der kein Geld von dir will, sondern voll bei der Sache ist,
dann ruf mich einfach an.« Ich schenkte dem Barmann ein Lächeln, der
daraufhin sofort zu mir kam. »Tut mir leid, dass dieser Herr vorhin so unhöflich
war. Ich glaube, er möchte sich bei Ihnen entschuldigen. Bringen Sie ihm bitte
einen Whisky auf Eis, und Ihr nächster Drink geht auf ihn. Ach, und könnten
wir bitte einen Stift haben?« Er brachte mir einen Kugelschreiber, mit dem ich
meine Telefonnummer auf eine Cocktailserviette schrieb, die ich Lee in die
Jackentasche steckte. »Pass auf, dass sie nicht vom Hausmädchen gefunden wird.
Oder sogar von deiner Frau. Obwohl es sie vermutlich kaum überraschen dürfte,
die Handynummer einer Fremden in deiner Tasche zu finden.«
Er warf mir einen finsteren Blick zu. »Du bist eine echte Bitch, weißt du das?«,
sagte er mit der überdeutlichen Aussprache, die typisch für Betrunkene ist.
»Und ob ich das weiß«, erwiderte ich und schickte mich zum Gehen an. »Aber
das gefällt dir doch … nicht wahr, Lee?«
Ich verließ den Klub und rief ein Taxi. Er würde mich anrufen. Da war ich mir
sicher. Jetzt musste ich nur noch die allerletzten Vorbereitungen treffen.


Sich darauf vorzubereiten, einen Menschen umzubringen, ist merkwürdig. Ich
wünschte, es gäbe eine Online-Gruppe, wo man Anfängertipps bekommt – zum
Beispiel, welche Handschuhe am praktischsten sind – oder sich darüber
austauschen kann, ob es eine effektive Mordmethode ist, jemanden die Treppe
hinunterzustoßen. So etwas wie das Netzwerk für Mörder. Irgendwo im Darknet
wird es so was vermutlich geben, aber ich werde mich nicht auf die Suche
danach machen. Das ist ein einsames Geschäft. Man muss sich systematisch
durchs Netz klicken, und es gehört eine Menge Warterei dazu.
Was Lee anging, blieben mir noch zwei Dinge zu erledigen. Nummer eins hatte
ich bereits abgehakt: ein Besuch des Klubs in Mile End, in dem er das Zeitliche
segnen würde. Nach diesem Ausflug erschien es mir durchaus möglich, dass
seiner Familie der Ort seines Ablebens peinlicher sein könnte als die Art seines
Ablebens. Der Klub lag abseits der belebten Straßen unter einer Brücke, in deren
Bögen sich die Eingangstür verbarg. Am Empfang wartete keine glamouröse
junge Frau mit einem Klemmbrett, nur zwei finstere Gestalten, die zwanzig
Pfund verlangten, mein Handy einkassierten und wortlos auf eine Kellertreppe
zeigten. Es war absolut perfekt. Der Boden war klebrig, die düsteren,
fensterlosen Räume voll mit mehr oder weniger entkleideten Menschen und die
Musik so laut, dass sie fast das Stöhnen übertönte, dem man nirgends entkam.
Es gab keinen manierlichen Barbereich, wo man sich erst einmal akklimatisieren
konnte, bevor man sich in diesen Sumpf der Lüste begab. Überall wälzten sich
nackte und halb nackte Körper in allen Formen und Größen herum, als befände
man sich bei einer römischen Orgie und nicht in einem ehemaligen
Eisenbahndepot. Trotz der Befürchtung, angegrapscht und angetatscht zu
werden, bahnte ich mir einen Weg durch das Gewimmel und war angenehm
überrascht, wie viel Wert offenbar auch hier auf gegenseitiges Einvernehmen
gelegt wurde. Ich war zwar nicht interessiert, doch es ist natürlich immer nett,
vorher gefragt zu werden.
Wie in den anderen Klubs, die ich besucht hatte, gingen vom Hauptraum
verschiedene Türen ab, und ich überprüfte jede einzelne davon, um
herauszufinden, wie sich die Räume dahinter für meine Zwecke eigneten. Die
meisten waren klein, stickig und je nach Thema rudimentär eingerichtet. Einer
war mit schwarzem Gummi ausgekleidet. In einem anderen hing von der Decke
eine große Schaukel, deren Belastbarkeit gerade von vier tatkräftigen Gästen auf
eine harte Probe gestellt wurde. Im Endeffekt ging es mir jedoch überall zu
harmlos zu. Ich suchte immer weiter. Je mehr ich mich vom Hauptraum
entfernte, desto weniger Besucher traf ich an. Und schließlich fand ich den
richtigen Ort. Durch eine schwarz lackierte Tür betrat ich ein Zimmerchen, das
aussah wie eine ehemalige Abstellkammer. An der unverputzten Ziegelmauer
waren große Ösen mit Seilen befestigt. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich,
dass sie in der Form eines menschlichen Körpers arrangiert waren. Die Öse an
der Decke kam mir besonders zupass. An einer Wand stand ein Metallhocker.
Ich setzte mich und sah mir alles genau an. Da im Club weder Handys noch
Kameras erlaubt waren, musste ich mir jedes Detail einprägen. Der Hocker war
unentbehrlich für meinen Plan, und ich konnte nur hoffen, dass ihn bis dahin
niemand entfernte. Wenn ich erst noch nach einem Ersatz suchen müsste, wäre
das Lees Stimmung sicher nicht zuträglich.
Als sich die Tür einen Spaltbreit öffnete, rief ich mit strenger Stimme:
»Privatsession!«, worauf sie sich sofort wieder schloss. Das ist typisch für die
Vorschriftshörigkeit der Briten. Sogar während sie übereinander herfallen, sind
alle herrlich rücksichtsvoll. Falls Lee und ich zwischendurch gestört werden
sollten, wäre das also nicht weiter schlimm. Es würde aussehen wie eine ganz
normale BDSM-Session. Trotzdem hoffte ich, dass es nicht dazu kam.
Die zweite Sache, die ich noch tun musste, war … üben. Denn wir wissen alle:
Übung macht den Meister.
Dank des aufmerksamen Studiums eines alten Schinkens mit dem Titel 25
Knoten, die Sie kennen müssen, den ich zufällig in einem Antiquariat gefunden hatte,
lernte ich, dass ein Seil mit jedem Knoten weniger belastbar wird. Ich brauchte
also einen besonders starken Knoten. Keine Ahnung, warum, aber ich fand das
wirklich faszinierend. Ich kam zu dem Schluss, dass der Henkersknoten für
meine Zwecke der geeignetste war. Woher er seinen Namen hat, muss ich wohl
kaum näher ausführen. Dieser Knoten sah einigermaßen kompliziert aus, und
ich werde vermutlich nur unzureichend beschreiben können, wie er gebunden
wird, doch wenn ich mich recht erinnere, ging es ungefähr so: Man formt eine
Schlaufe, führt dann das verbliebene Seil mindestens dreimal um diese Schlaufe
herum, bevor man es durch die Windungen hindurch und anschließend zuzieht.
Den zweiten Knoten, einen sogenannten Stopperknoten, musste ich viele Male
üben, bis ich ihn perfekt beherrschte, da er gebunden werden musste, nachdem
ich das Seil durch die Öse gezogen hatte. Ich verbrachte einen ganzen Sonntag
und frustrierende Stunden des Scheiterns damit, es richtig hinzubekommen. Als
ich den Dreh endlich raushatte, erforderte das immer noch drei Minuten
höchster Konzentration. Im Ernstfall würden mir keine drei Minuten bleiben,
denn selbst ein williges Opfer wie Lee würde Verdacht schöpfen, wenn ich zu
lange brauchte. Irgendwann hatte ich mich schließlich auf vierzig Sekunden
verbessert. Das schien mir eine akzeptable Zeit zu sein.
Des Weiteren verdankte ich dem Buch die wichtige Information, dass beim
Auffangen eines fallenden Objekts ein Vielfaches des Gewichts auf das Seil
einwirkt. Mit diesem Wissen entschied ich mich für den Kauf eines Nylonseils
mit einer Stärke von zehn Millimetern. Es war etwas teurer, aber ich ging lieber
auf Nummer sicher.
Schwangere Frauen, die kurz vor der Geburt stehen, stellen für alle Fälle eine
fertig gepackte Tasche in den Flur. Als ich darauf wartete, dass Lee sich bei mir
meldete, machte ich etwas Ähnliches. Ich besaß eine mittelgroße Tragetasche
von Celine in einem schicken Schokoladenbraun, die mir für meinen Zweck
ideal erschien, da sie nicht zu auffällig und noch dazu schön geräumig war. Auf
Celine war eben Verlass. In diese Tasche packte ich das Seil, ein Paar modische
Handschuhe, die – wie ich hoffte – nicht zu sehr nach Killer aussahen, einen
mützenähnlichen, wollenen Schlapphut und eine Packung Desinfektionstücher.
Es war sicher übervorsichtig, eine Tasche zu packen, noch bevor die
Verabredung stand, aber wie immer, wenn der Mord in greifbare Nähe rückte,
wurde ich allmählich ungeduldig und nervös.
In den nächsten zehn Tagen joggte ich häufig ziellos durch die Stadt, rannte
kreuz und quer über Brücken und Hügel hinauf – in der Hoffnung, auf diese
Weise etwas überschüssige Energie loszuwerden. Einen Abend verbrachte ich
mit Jimmy im Pub, wo er sich mehrfach darüber lustig machte, dass ich
gedankenverloren ins Leere starrte. Ich redete mich damit heraus, dass ich einen
Anruf von einem Mann erwartete, was nicht einmal gelogen war. Zwischendurch
schaltete ich mein Telefon immer wieder für mehrere Stunden in den
Flugmodus, damit ich nicht ununterbrochen nachschaute, ob Lee sich gemeldet
hatte. So langsam wurde es zur Qual. Bis mich eines Freitagmorgens eine
Textnachricht meines Onkels weckte. Er hatte sie um 3:48 Uhr abgeschickt, und
sie lautete: Okay, Fräulein Oberschlau, mir ist langweilig. Lass uns ausgehen.
Ich setzte mich auf und las sie gleich noch einmal. Anschließend legte ich das
Handy zur Seite, machte hundert Kniebeugen, nahm eine lange Dusche und
brühte einen Kaffee auf. Erst dann formulierte ich eine Antwort. Als ich sie
geschrieben hatte, erschien es mir allerdings zu früh, um sie abzuschicken. Ich
ging davon aus, dass Lee noch schlafen würde, und ich wollte auch nicht
übereifrig wirken. Erst mittags, als ich zur Pause das Büro verlassen hatte, fand
ich die Ruhe, mich erneut damit zu beschäftigen. Ich warf noch einmal einen
kritischen Blick auf meine Antwort und drückte dann auf »Senden«.
Ich verspreche dir: Das, was mir vorschwebt, wird nicht langweilig. Triff mich am Samstag an
der U-Bahn-Station Mile End, um Mitternacht. Schick mir eine SMS, wenn du da bist. Sei
pünktlich.
Zwei Minuten später bekam ich erneut eine Nachricht: Musste erst mal auf dem
Stadtplan nachsehen. Ich hoffe, das lohnt sich. Bis dann.
Ich hatte ein Date am Freitagabend, das ich vorsichtshalber absagte. Gut
möglich, dass es mich ein wenig entspannt hätte, doch ich brauchte die
Anspannung. Ich wollte mich so kribbelig wie möglich fühlen. Ich war so
angeödet davon, ständig warten zu müssen, bis diese Leute endlich so weit
waren, dass ich meine Pläne umsetzen konnte. Der Moment, kurz bevor ich
endlich zur Tat schreiten konnte, war immer besonders delikat: zu wissen, dass
es bald den Nächsten erwischen würde und ich einen weiteren Namen von der
Liste streichen konnte. Sich zu fragen, wie der Rest der Sippe wohl reagieren
würde. Ich spürte dann eine Euphorie, die manchmal tagelang anhielt. Natürlich
immer begleitet von einer unterschwelligen Angst, dass mein Plan scheitern
könnte und ich wieder von vorne beginnen müsste. Genau das machte aber den
Rausch aus. Wenn es alles glattlief, würde ich das Date vielleicht nachholen,
doch vermutlich eher nicht: Der Typ wirkte arg zartbesaitet. Er schrieb sofort,
wie enttäuscht er sei, mich nicht sehen zu können, und zu allem Überfluss fügte
er der SMS noch einen weinenden Smiley hinzu.
Am Samstag lief ich von Shadwell nach Battersea und dann weiter bis St.
Paul’s. Mein schnellster Fünfzehn-Kilometer-Lauf bisher – wie mir meine App
verriet. Ein klein wenig aus der Puste, setzte ich mich auf die Treppenstufen der
Kirche und beobachtete die Touristen. Ein anderer Läufer tat es mir gleich. Er
saß nur ein paar Stufen weiter und streckte seine Beine. Als er mir zulächelte,
lächelte ich zurück, ohne mir etwas dabei zu denken. Er sah gut aus, wenn auch
ein klein wenig geckenhaft. Aber da lag etwas in seinem Blick, das ich bei seinem
geschniegelten Äußeren nicht erwartet hätte. Ich bemerkte, dass er sich extra viel
Zeit ließ, und als mir klar wurde, dass er offenbar mit dem Gedanken spielte,
mich anzuquatschen, machte ich mich eilig auf den Weg zur U-Bahn. Eigentlich
schade. Er war ziemlich sicher kein komplettes Arschloch, doch ich hatte weder
die Zeit noch die Energie, um mich auf einer Kirchentreppe in der Sonne zu
aalen und romantische Spielchen zu spielen. Heute war definitiv nicht der
richtige Tag dafür. Eigentlich war für mich kein Tag der richtige Tag dafür.
Bestenfalls wären wir ein- oder zweimal ins Bett gestiegen, bis er mich dann
irgendwann gebeten hätte, mit ihm nach Putney zu kommen, um seine Rugby-
Kumpels zu treffen, und dann hätte ich seine Nummer löschen müssen. So
einem Horrorszenario entzog man sich besser früher als später.


Eine Viertelstunde vor Mitternacht ziehe ich fröstelnd den Mantel enger und
krame die Mütze aus meiner Tasche. Glücklicherweise habe ich ein
Mützengesicht. Entweder man kann Mützen tragen oder eben nicht. Wem die
eine Mütze nicht steht, dem steht auch keine andere. Viel zu viele Frauen
denken, dass sie mit Bommelmützen niedlich aussehen. Tun sie nicht. Wer eine
Bommelmütze trägt, vermittelt damit nichts weiter als den verzweifelten
Wunsch, mit einer Bommelmütze niedlich auszusehen. Solche
Abscheulichkeiten einmal ausgenommen, kann ich an Mützen und Hüten
wirklich alles tragen, und diese hier wird mir außerdem helfen, meine
Anonymität zu wahren. Der bewährte Perückenladen in Finsbury Park hat mich
auch diesmal nicht enttäuscht: Heute Nacht bin ich eine Femme fatale mit
herrlichem, rabenschwarzem Haar. Ich bin zuversichtlich, dass im
Zusammenhang mit Lees Tod niemand ein Fremdverschulden vermuten wird –
trotzdem habe ich nicht vor, einfach so mit ihm in den Klub zu spazieren, in
dem er das Zeitliche segnet. Ein Hut und eine Perücke sind vernünftige und
dazu auch noch kleidsame Vorsichtsmaßnahmen.
In einem nahe gelegenen Pub warte ich auf Lees SMS. Der Laden erweist sich
als die erste und vermutlich auch letzte Kneipe im East End, die von der
Gentrifizierung völlig unberührt geblieben ist. Dass an der Wand kein frisch
gebürsteter Hirschkopf hängt und nirgendwo Brettspiele ausliegen, ist irgendwie
wohltuend. Um fünf Minuten vor Mitternacht, als ich schon fast befürchte, Lee
hätte es vergessen oder es sich anders überlegt, kommt endlich die SMS, in der er
mir mitteilt, dass er an der U-Bahn-Station ist.
Prima. Lass uns an der Bushell Street treffen, schreibe ich zurück. Zwei Minuten
später fährt er in einem schwarzen Mercedes-Geländewagen vor, und ich zucke
merklich zusammen – keine Chance, dass seine Ankunft in diesem Monstrum
unbemerkt bleibt.
Der Fahrer öffnet ihm die Tür und entlässt ihn in die Nacht. Lee trägt einen
ausladenden Schaffellmantel mit einem gestickten Drachen auf dem Rücken.
Seine schwarzen Westernstiefel sind aus Schlangenleder. Offensichtlich hat er
für diesen Abend sein schickstes Paar angezogen. Er blickt sich suchend nach
mir um. Ich warte in einem Hauseingang nur ein paar Meter weiter und lasse ihn
noch ein bisschen schmoren. So weit von seinem üblichen Jagdrevier entfernt,
ist er verletzlich. Das will ich ihn spüren lassen. Ihm deutlich machen, dass ich
hier den Ton angebe. Also warte ich ein paar Minuten ab, während er immer
unsicherer wirkt und sich vermutlich fragt, ob er versetzt oder – noch
schlimmer – sogar reingelegt wurde. Ich kann förmlich sehen, wie er überlegt, ob
er sich wieder in die Sicherheit des Wagens zurückziehen und die Türen
verschließen soll. Als er kurz davorsteht, das Weite zu suchen, trete ich aus dem
Dunkel, um leise zu pfeifen. Wie nach einem entlaufenen Hund.
Mein Anblick entlockt ihm ein erleichtertes Grinsen. Er kommt mir entgegen
und küsst mir die Hand. »Gott sei Dank, das ist ja die reinste Müllhalde. Ich
dachte schon, ich hätte mir die Fahrt hier raus schenken können.« So höflich wie
möglich ziehe ich meine Hand zurück und zwinge meine Mundwinkel nach
oben, um sein Lächeln zu erwidern. »Schicker Look, steht dir. Die Haare machen
dich jünger. Schwing dich in die Karre, Baby, das ist keine Gegend, in der man
ohne Auto unterwegs sein sollte. Für meine Patek Philippe könnte man in
diesem Drecksloch ein ganzes Haus kaufen.«
Ich ziehe ihn damit auf, dass er zu feige ist, fünf Minuten zu Fuß zu gehen. Sein
finsterer Blick verrät mir, dass ihm die Vorstellung gar nicht gefällt. Trotzdem
winkt er dem Fahrer zu, und der Wagen fährt weg.
»Wie funktioniert das?«, frage ich ihn. »Wartet er überall, wo du hingehst? Oder
zahlst du ihn stundenweise und musst manchmal mit dem Pöbel im Nachtbus
nach Hause fahren?«
Das findet er so komisch, dass er vor Lachen den Kopf in den Nacken wirft.
Es ist wirklich leicht, Lee zum Lachen zu bringen. Eigentlich reicht es, sich über
seinen Reichtum lustig zu machen. Ich schätze, wenn man nicht selbst damit
fahren muss, ist das Konzept eines Nachtbusses wirklich lustig.
»Der gute Ke ist rund um die Uhr für mich da. Ich bin ein viel beschäftigter
Mann, und wie heißt es doch so schön: Zeit ist Geld. Er bringt mich innerhalb
von zwanzig Minuten überallhin und wird von mir so gut bezahlt, dass er
bereitwillig tagelang im Auto auf mich warten würde. Wenn du ein braves
Mädchen bist, fahre ich dich später nach Hause.«
Glücklicherweise werde ich kein braves Mädchen sein und deshalb auch nicht
auf sein Angebot zurückkommen können. Hinter der nächsten Straßenecke
taucht der Brückenbogen auf. Wir haben unser Ziel erreicht.
»Ta-dah!«, rufe ich und breite die Hände aus. Lee bleibt stehen und starrt mich
entsetzt an.
»Das ist nicht lustig, Süße. Was soll das sein? So eine Art Tunnel?« Ungeduldig
verdrehe ich die Augen und öffne die Tür.
»Ich weiß ja, dass Klubs ohne Butler für dich gewöhnungsbedürftig sind, aber
du hast selbst gesagt, dass du gelangweilt bist. Dieser Laden wird dir den
Angstschweiß auf die Stirn treiben, aber ich verspreche dir, dass du voll auf deine
Kosten kommen und Spaß haben wirst. Versuch einfach, dich drauf einzulassen.
Und wenn du weiche Knie bekommst, wartet dein treuer Fahrer um die Ecke
und bringt dich zurück ins sichere Chelsea.«
»Sorg besser dafür, dass es so hart zur Sache geht, wie du gesagt hast«, brummt
er und folgt mir die Treppe runter in den Club.
Unten weigert sich Lee, seinen Mantel abzugeben. Das begründet er gegenüber
der gelangweilten Garderobenfrau augenzwinkernd damit, dass er ihr leider nicht
trauen könne, schließlich handele es sich um ein maßgeschneidertes Einzelstück
von Gucci. Zu meiner Erleichterung ist es brechend voll. An der Bar bildet sich
bereits eine Schlange, und während wir auf unsere Drinks warten, ziehen sich die
ersten Leute aus. Ich nehme die Mütze ab und prüfe mit dem Finger unauffällig,
ob die Perücke noch richtig sitzt. Lees Stimmung bessert sich sofort. Der
Anblick ist vielleicht nicht das, was er gewohnt ist, doch er erkennt Exzesse und
Ausschweifungen, wenn sie sich anbahnen. Mit dem Mantel über seinem Arm,
schaut er sich um und zieht den Bauch ein. Egal, wie oft Männer über fünfzig
Sport treiben, sie haben fast immer einen Bauchansatz. So werden sie bei einem
Blick auf ihren Schwanz ständig daran erinnert, dass sie nicht jünger werden. An
Lees zusammengekniffenen Augen kann ich erkennen, dass er bereits auf
Brautschau ist. Wenn ich jetzt einfach gehen würde, dürfte ihm das kaum
auffallen. Ich nehme unsere doppelten Wodkas entgegen und führe Lee in die
Mitte des Raums. Ich habe entschieden, dass er sich ruhig ein wenig austoben
soll. Schließlich gibt es keinen Grund zur Eile.
»Der Hauptraum ist harmlos«, erkläre ich und deute auf eine Seitentür. »Lass
uns die anderen ausprobieren.«
Der Mann kann es gar nicht erwarten, er schiebt mich quasi vor sich her. Im
ersten Raum, den wir betreten, befindet sich eine Wand voller Glory Holes. Lee
zieht eine angeekelte Grimasse und lenkt mich sofort wieder hinaus. »Ich steh
nicht drauf, Frauen beim Schwanzlutschen zuzuschauen. Es sei denn, es ist
meiner!«
Als wir weitergehen, muss ich mich sehr zurückhalten, ihn nicht aufs Übelste
zu beleidigen. Im nächsten Raum, der schon sehr viel besser bei ihm ankommt,
befindet sich eine Gefängniszelle, die eindeutig nur eine Kulisse ist. Trotzdem
veranstalten die drei Frauen darin ein maßlos übertriebenes Bohei darum, dass
sie angeblich nicht herauskommen, während ein Mann sie beschimpft und
verspottet. Ich rufe Lee zu, dass ich mal auf die Toilette muss, und lasse ihn
stehen. Er sieht mich nicht mal an, sondern geht sofort zu den Gitterstäben. Ich
gebe ihm fünfzehn Minuten. Die sollten ihm eigentlich reichen, um irgendeine
Schweinerei zu Ende zu bringen, gleichzeitig rechne ich bei meiner Rückkehr mit
dem Schlimmsten. Doch als ich den Raum betrete, ist Lee verschwunden, und
neue Besucher amüsieren sich mit Knastspielchen. Ich kämpfe kurz gegen einen
Anflug von Panik, dann eile ich weiter zur nächsten Tür, hinter der er mit dem
Gesicht nach unten auf einem Tisch liegt, während eine Frau mit einer
Sturmhaube über dem Kopf ihn mit Peitschenhieben bearbeitet. Seine Jeans
hängen um seine Knöchel – vermutlich, weil er seine Stiefel nicht ausziehen
wollte –, und sein schwarzes Hemd ist bis unter die Achselhöhlen
hochgeschoben. Der Anblick ist so grotesk, dass ich fast Mitleid bekomme und
mich mühsam beherrschen muss, um nicht loszuprusten. Lee liegt zwar mit dem
Kopf zu mir, aber vor lauter Wollust hat er die Augen geschlossen. Statt die
beiden zu unterbrechen, stehe ich da wie hinter einer verspiegelten Glasscheibe
und schaue zu, wie mein Onkel von einer Frau ausgepeitscht wird, die aussieht,
als hätte sie gerade in einem Schmuddelporno eine Bank ausgeraubt. Ach,
Mum … gut, dass du mich jetzt nicht sehen kannst.
Weitere Partygäste betreten den Raum. Irgendwann wird mir klar, dass sich
gerade eine Schlange bildet. Schon räuspert sich der Erste, um Lee auf diesen
Umstand aufmerksam zu machen. Schlange stehen – so ziemlich das Einzige,
was Engländer nicht ignorieren können. Ganz egal, wo. Als er registriert, dass
die Peitschenhiebe aufgehört haben, hebt Lee grunzend den Blick, kommt
widerstrebend auf die Beine und zieht seine Hose hoch. Der ungeduldig
wartende Mann streckt sich derweil erwartungsvoll auf der Liege aus.
»Wohin jetzt?«, fragt mich Lee, streicht sich das Hemd glatt, greift nach seinem
Mantel und nimmt mir den Drink aus der Hand. »Dieser Laden ist echt
abgefahren, du hast völlig recht. Diese verdammten Striemen werde ich
wochenlang vor meiner Frau verstecken müssen. Auch wenn sie sonst kaum
etwas interessiert. Wenn es nicht gerade um Schmuck, Klamotten oder darum
geht, für irgendwelche Schmarotzer Geld zu sammeln, ist ihr inzwischen
eigentlich alles egal.«
Ist das eine verborgene Anspielung auf den Tod ihres Sohnes? Ich habe Lee
bewusst nicht darauf angesprochen, und ehrlich gesagt gelingt es mir nicht,
diesen Mann auf irgendeine Weise mit Andrew in Verbindung zu bringen.
Während Lara der Verlust ihres Sohnes unerträglich schmerzt, scheint Lee ihn
kaum wahrzunehmen. Natürlich trauern Menschen auf sehr unterschiedliche
Weise, und ich schließe nicht aus, dass diese nächtlichen Eskapaden dazu dienen,
all das zu bewältigen. Aber wenn ich ihn mir so ansehe, kann ich es mir kaum
vorstellen. Urplötzlich überkommt mich ein heftiger Zorn darüber, dass sein
Vater die Erinnerung an Andrew anscheinend komplett ausradiert hat. Völlig
irrational, wenn man bedenkt, dass ich diejenige bin, die dafür verantwortlich ist.
Aber ich bin nicht diejenige, die ihn aufgezogen hat. Und selbst in der kurzen
Zeit, die ich Andrew kannte, wurde mir bewusst, welchen Schaden das bei ihm
angerichtet hat.
»Hast du Kinder?«, frage ich Lee, als wir einen Raum betreten, in dem eine
Frau, deren Schuhe beängstigend spitze Bleistiftabsätze haben, auf dem Rücken
eines Mannes herumtrampelt. Erstaunlich, in wie vielen dieser Räume die
Männer von den Frauen erniedrigt werden.
»Privatsession!«, blafft sie uns an, während sie damit fortfährt, ihren Absatz
zwischen seine Arschbacken zu drücken. Kichernd treten wir den Rückzug an.
»Nein«, antwortet Lee, ohne mich anzusehen. »Wir hatten zwei. Eins ist als
Baby gestorben, das arme Scheißerchen, und das andere vor gar nicht so langer
Zeit. Er wollte eh nichts mit uns zu tun haben. Er hat uns verteufelt, wegen
unseres Geldes. Was ihn anfangs nicht davon abhielt, es zu genießen. Meine
Frau hat das schwer mitgenommen. Aber was will man machen? Egal, wie hart
es einen trifft: Das Leben wartet nicht auf dich. Sie nutzt es als Ausrede, sich zu
verkriechen, und ich mache weiter, so gut ich kann.«
Mir fehlen die Worte. Der Mann braucht nur drei lapidare Sätze, um seinen
Sohn abzuschreiben. Ich weiß einfach nicht, was ich dazu noch sagen soll. Lee
und Simon sind wirklich in jeder Beziehung Brüder. Schweigend erreichen wir
die Tür zu »unserem« Raum.
»Was ist das? Kommen wir hier endlich zur Sache?«, fragt er grinsend und
öffnet die Tür. Das war verdammt riskant von mir. Wäre Lee auch nur ein
bisschen weniger Unmensch, hätte ihm meine Frage vielleicht so gründlich die
Stimmung verhagelt, dass es diese Chance ein für alle Male zunichtegemacht
hätte. Ich kann von Glück reden, dass ich es mit einem Mann zu tun habe,
dessen Geilheit es keinen Abbruch tut, wenn man ihn auf seinen toten Sohn
anspricht. Der Raum ist leer, möglicherweise weil er weiter von der Bar entfernt
ist als jeder andere. Lee schaltet das Licht an, und ich sehe, dass der Hocker noch
an seinem Platz steht. Ich atme tief durch und setze meine Tasche ab. Dann
ziehe ich meine Handschuhe über und erkläre im Befehlston: »In diesem Raum
habe ich das Sagen. Du wirst tun, was ich von dir will, hast du verstanden?« Ein
Lächeln umspielt seine Lippen. »Das war keine Frage. Du wirst mir aufs Wort
gehorchen. SOFORT!«
Lee salutiert mit einem spöttischen Grinsen. Ohne zu blinzeln, starre ich ihn
an, bis er den Arm sinken lässt.
»Zieh dich aus«, sage ich und hole das Seil aus meiner Tasche. Er tut wie
geheißen, hat aber nicht ganz überraschend etwas Schwierigkeiten mit seinen
Stiefeln. Während er an ihnen herumzerrt, binde ich den Knoten und prüfe, ob
er hält. Mit einem dünneren Seil fessele ich ihm die Hände, und zwar exakt so
locker, dass es ihm ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt und er glaubt, sich
jederzeit befreien zu können. »Stell dich auf den Hocker und lass dich ansehen.«
Jetzt fügt er sich willig in die Rolle und gibt sich so unterwürfig, wie ich ihn
brauche. Ich stopfe ihm die Seilschlinge in den Mund, gehe langsam um ihn
herum und mustere ihn von allen Seiten. Auf den einen Bizeps hat er ein
Spinnennetz tätowiert, darunter erkenne ich die Buchstaben K und A. Die
Initialen seiner Mutter. Meine Mum wäre sicher entsetzt, mich jetzt zu sehen.
Was Kathleen bei seinem Anblick empfinden würde, kann ich nur vermuten.
Sein Hintern ist erstaunlich straff und sein restlicher Körper so tief gebräunt,
dass er noch vor Kurzem auf der Sonnenbank gewesen sein muss. Um nicht
schwach zu erscheinen, zwinge ich mich, einen Blick auf seinen erigierten Penis
zu werfen. Dann nehme ich ihm das Seil aus dem Mund und drücke es ihm in
die Hände. »Safeword?«
»Barbados«, antwortet er grinsend und erklärt dann, dass ihm das Wort einfach
gefällt. Soll mir recht sein. Ich werde eh jedes Safeword ignorieren, ganz egal, für
welches er sich entscheidet. »Du könntest Geld dafür nehmen. Du bist zwar
keine Professionelle, aber du hast es echt drauf«, sagt er mit gönnerhafter Miene.
Ich ignoriere ihn und lege ihm die Schlinge um den Hals.
»Ich befestige das Seil jetzt an diesem Haken, und du wirst dich selbst
befriedigen, während sich die Schlinge zuzieht. Ich kontrolliere, wie viel Luft du
kriegst, und sehe zu, wie du dem Ersticken immer näher kommst. Du wirst dich
drehen und winden, aber du wirst gefälligst weitermachen! Wehe, du
verschwendest meine Zeit! Ich erwarte, dass du alles gibst! Und wenn du fertig
bist, bin ich an der Reihe.«
Ich befördere das Ende des Seils durch die Öse an der Decke, binde einen
weiteren Knoten und nehme mir einen kurzen Augenblick Zeit, um voller Stolz
mein Werk zu betrachten. Dann umfasse ich das Ende des Seils mit beiden
Händen und ziehe daran. Als die Schlinge enger wird, beginnt Lee zu
masturbieren. Er schließt die Augen und atmet schwer. Ich ziehe fester an dem
Seil, und er reißt die Augen wieder auf, worauf ich ihn barsch zurechtweise. Ich
halte die Hände ruhig und gebe ihm Gelegenheit, sich an den Druck zu
gewöhnen. Nach dreißig Sekunden beginnt er zu stöhnen, und ich befehle ihm,
sich mehr anzustrengen. Dann nähere ich mich seinem krebsroten Gesicht, bis
meine Nase fast seine berührt, bevor ich ihm schließlich den Hocker unter den
Füßen wegtrete. Ich lasse los, und er fällt, bis der Knoten im Seil seinen Sturz
stoppt. Lee windet sich, zuckt und tritt so heftig aus, dass ich einen Schritt
zurückweichen muss. Als seine gefesselten Hände nach dem Seil um seinen Hals
tasten und vergeblich versuchen, die Schlinge zu lockern, trete ich hinter ihn,
lege meine Arme um seine Hüfte und ziehe, so fest ich kann. Dabei achte ich
darauf, keine Schrammen zu hinterlassen. Es dauert nicht lange. Das Ganze ist
kurz, aber qualvoll – für ihn genauso wie für mich, da ich ständig auf die Tür
achten muss. Seine Augen sehen aus, als würden sie jeden Augenblick aus den
Höhlen treten, und zwischen seinen Lippen quillt die geschwollene Zunge
hervor, während er verzweifelt um Atem ringt. Für eine Sekunde spiele ich mit
dem Gedanken, ihm zu sagen, wer ich bin. Doch wozu soll das gut sein? Lee ist
mir völlig gleichgültig. Ihn umzubringen, dient einem höheren Zweck und
erfordert keine Erklärung. Nach vierzig Sekunden verliert er das Bewusstsein,
und bald darauf ist er tot. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass es insgesamt
keine vier Minuten gedauert hat – ganz so, wie ich es bei Deirdre im Erste-Hilfe-
Kurs gelernt habe. Ta-dah! Ein ziemlich widerlicher Kerl stirbt auf ziemlich
widerliche Weise. Sicher kein Ereignis von großer Tragweite. Außer für ihn
selbst, nehme ich an.
Nachdem ich mich nochmals vergewissert habe, dass er wirklich abgetreten ist,
muss ich mich beeilen. Wenn während unseres kleinen Rollenspiels jemand in
den Raum gekommen wäre, hätte ich nur sagen müssen, dass es sich um eine
private Session handelt, und derjenige wäre sofort wieder verschwunden. Ein
Toter ist deutlich schwerer zu erklären. Ich binde seine Hände los und wische sie
mit den Feuchttüchern ab. Ich schiebe den Hocker etwas näher heran, damit es
aussieht, als hätte er ihn selbst umgetreten, und packe sorgfältig meinen Kram
zusammen. Nur das Seil um seinen Hals lasse ich zurück. Ich habe es
ausschließlich mit Handschuhen angefasst, und er hat es selbst gut eine Minute
in den Händen gehalten, das sollte eigentlich ausreichen. Ich streife die Tasche
über meine Schulter und werfe einen letzten Blick auf den schlaffen Körper, der
nun bewegungslos von der Decke baumelt. Schade, dass hier keine Handys
erlaubt sind. Ein letztes Foto zur Erinnerung an meinen Onkel Lee wäre nett
gewesen. Allerdings nicht zum Einrahmen, dafür sieht er einfach zu bizarr aus.
Ich schließe die Tür hinter mir. Ein großer Kerl mit einer Tiermaske lehnt an der
Wand, und als ich an ihm vorbeigehe, streckt er die Hand aus und berührt meine
Finger. Ich streife sie ab und frage mich, welche der geilen Gestalten, die im Flur
rumlungern, sich küssen oder miteinander flirten, Lee wohl finden wird.
Vielleicht das Mädchen mit der arschfreien Hose? Oder die zwei Turteltauben
mit den billigen Karnevalsmasken, die eindeutig beide mehr Sport treiben
sollten, bevor sie sich in solch hautenge Latexanzüge zwängen? Die Antwort
kennen nur die Götter, aber ich hoffe inständig, dass derjenige sich an die Presse
wenden wird. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, verschwinde ich in die Nacht.


Der Mord an Lee hatte den bisher größten Arbeitsaufwand erfordert, aber das
Nachspiel war die Mühe absolut wert. Die Berichterstattung in den Medien
machte sogar Zumutungen wie das endlose Warten in schicken Bars und den
Anblick entblößter Fremder, die sich selbst erniedrigten, mehr als wett. Die
ersten Schlagzeilen begegneten mir am Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit.
»Bruder von Großindustriellem: Tod bei Sexspiel«, titelte die Daily Mail, und der
Mirror krakeelte: »Artemis bei perversen Spielchen erstickt«. Selbst der Guardian
konnte nicht widerstehen, allerdings hätte sich die Redaktion bei der Überschrift
etwas mehr ins Zeug legen können. »Bruder von Geschäftsmann stirbt bei
Unfall« war ein vergleichsweise lahmer Anreißer. Das Wort »Unfall« fand in fast
allen Zeitungsartikeln prominent Verwendung. Die PR-Abteilung von Artemis
hatte offenbar rasch reagiert. Indem sie Lees Tod zu einem tragischen Ereignis
erklärten, versuchten sie, von den Fragen abzulenken, die dadurch aufgeworfen
wurden, dass man den Bruder des milliardenschweren Firmenchefs tot in einem
Sexklub in Mile End gefunden hatte. »Das ist unfassbar«, wurde ein nicht
namentlich genannter Freund der Familie zitiert. »Lee war ein glücklich
verheirateter Mann und verbrachte seine Wochenenden am liebsten mit
Freunden auf dem Land. Der einzige Grund, den ich mir dafür vorstellen kann,
ist die tiefe Trauer über den Tod seines Sohnes Andrew. Wir können nicht
ermessen, was solch ein Verlust mit einem Menschen macht.« Geschickter Kniff,
dachte ich. Wer stellt schon unangenehme Fragen, wenn ein totes Kind im Spiel
ist?
Die Presse berichtete noch ein paar Tage, aber der gut geölten PR-Maschinerie
der Familie gelang es erfolgreich, jeden ruhigzustellen, der den Mund aufmachen
könnte. Und der gerichtsmedizinische Bericht lieferte offenbar auch kein neues
Futter. Kurz bedauerte ich es, den Schauplatz nicht ein wenig aufgemotzt zu
haben. Doch obwohl eine Orange im Mund und ein paar schöne Stilettos
bestimmt ein paar Zeilen mehr herausgekitzelt hätten, war ich letzten Endes
froh, auf die Stimme der Vernunft gehört zu haben. Es gab keinen Grund,
übermütig zu werden. Er sollte sterben – am besten so, dass möglichst niemand
genau hinsah. Und exakt das hatte ich erreicht. In den Wochen darauf musste ich
oft an Lara denken. Ich fragte mich, ob sie heimlich oder vielleicht auch gar
nicht so heimlich erleichtert war. Der Tod ihres Sohnes dürfte ein immenser
Verlust gewesen sein. Aber den ihres notorisch untreuen Ehemanns, der sich ihr
gegenüber so kalt wie ein Fisch verhielt, musste sie eigentlich als Geschenk
empfunden haben. Vielleicht konnte sie sich nun endlich vom Artemis-Clan
lossagen und das Potenzial ausschöpfen, das sie verkümmern ließ, seit sie in die
Fänge dieser Monster geraten war. Mir gefiel die Vorstellung, dass nun eine
bessere Zukunft auf sie wartete – was eigentlich absurd war, weil sie noch immer
auf meiner Liste stand. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger war
ich davon überzeugt, dass sie noch dort hingehörte. In vielerlei Hinsicht schien
sie mir ebenso sehr ein Opfer zu sein, wie meine Mutter es war. Ihr ganzes
Leben vereinnahmt von einem selbstsüchtigen und verantwortungslosen Mann,
der sich um ihr Glück und Wohlergehen einen Dreck scherte, wenn es nicht
auch sein eigenes betraf. Und rein praktisch betrachtet, gab es mit Sicherheit
einen knallharten Ehevertrag, der sie von jedem Anspruch auf Simons
Vermögen ausschloss, weshalb ich mir keine großen Sorgen machen musste,
wegen ihr auf meine Abschlussgratifikation verzichten zu müssen.
Meine endgültige Entscheidung fällte ich am Tag der Beerdigung, die eigentlich
im kleinen Kreis stattfinden sollte, aber letztlich ein einziges großes Schaulaufen
für diverse B-Promis, eine Handvoll Größen der Modewelt und eine Menge
Geschäftsleute war, die sich in der St. Peter’s Church einfanden, um Lee dort
ihren Respekt zu zollen. Keine Ahnung, wie viel Respekt diese Trauergemeinde
tatsächlich für ihn hegte. Als ich aus der Zeitung von der Feier erfuhr,
verlängerte ich meine Mittagspause, indem ich einen Zahnarzttermin vorschob,
und fuhr mit der U-Bahn nach Kensington. In die Kirche zu kommen, war
überhaupt kein Problem. Zielstrebig folgte ich einer Frau im Pelzmantel, die mit
so vielen Diamanten behängt war, dass es sogar Joan Collins zu viel des Guten
gewesen wäre, und die vor der Tür postierten Männer mit den schwarzen
Poloshirts und den Knöpfen im Ohr sahen offenbar keinen Grund, eine elegant
gekleidete junge Dame in Schwarz abzuweisen.
Ich setzte mich natürlich ganz nach hinten, und während weitere Gäste
eintrudelten, studierte ich mit gesenktem Kopf das Programm. Von Zeit zu Zeit
blickte ich mich um. Janine saß neben Bryony in der ersten Reihe. Bryony starrte
so unauffällig wie möglich auf ihr Handy, während Janine sich mit einem
grauhaarigen Mann im blauen Nadelstreifenanzug unterhielt, der links von ihr
Platz genommen hatte. Als sie bemerkte, womit sich ihre Tochter beschäftigte,
schürzte sie abfällig die Lippen und nahm ihr das Telefon ab, um es in der
Handtasche verschwinden zu lassen. Janine sah umwerfend aus. Ihre Föhnfrisur
war so perfekt, dass sich das Haar mit den glänzenden karamellfarbenen
Highlights kaum bewegte, wenn sie den Kopf drehte, und nur die riesigen
Smaragdklunker an ihren Ohrläppchen schaukelten. Sie trug eine cremeweiße
Bluse und dazu tiefroten Nagellack. Man merkte ihrem Look an, wie viel Geld
sie in ihn investierte, und zwar auf eine Weise, die sie offenbar für subtil und
gleichzeitig unmissverständlich hielt. Ihre Kleidung erzählte jedoch nur die halbe
Wahrheit. Selbst von der hinteren Bank reichte ein Blick ins Gesicht, um die
Handschrift des Schönheitschirurgen zu erkennen. Die Nasenkorrektur war in
Ordnung. Sie lag offenbar lange Jahre zurück. Damals galt es noch als hohe
Schule, möglichst jede Andeutung von Charakter zu eliminieren, sodass nur
noch eine mädchenhafte Stupsnase übrig blieb. Davon abgesehen war hier nichts
subtil. Die Haut war straff über die Wangenknochen gezogen, wodurch sich ihre
Augen in bösartige Schlitze verwandelten. Ihre Lippen waren so stark
aufgespritzt, dass ihr Mund immer leicht offen stand. Und ihr Teint hatte einen
wachsartigen Glanz, was den Eindruck erzeugte, dass sie eine Maske ihres
Gesichts über ihrem Gesicht trug. Alles in allem wirkte es einfach nur grotesk.
Es war ein Gesicht, das man nur als normal empfinden konnte, wenn alle, die
man kannte, genauso aussahen. Diesbezüglich hatte Monaco unbestreitbar seine
Vorzüge.
Die Zeremonie begann mit Verspätung, was für einen Mann, der niemals
pünktlich sein musste, eigentlich ganz passend war. Als Letzte kamen Lara,
Simon und ein Mann, den ich nicht kannte. Er hielt Laras Arm, als sie das
Gotteshaus betraten, und rieb ihr aufmunternd die Schulter. Simon quittierte das
mit einem missbilligenden Blick und folgte ihnen dann nach vorne, wo sie ein
überraschend junger Vikar erwartete.
Lara machte keineswegs den Eindruck einer gebrochenen Frau, als die Lee sie
erscheinen lassen wollte. Sie ging sehr aufrecht, trug einen bordeauxroten
Hosenanzug, und an jedem anderen Tag wäre ich versucht gewesen, sie zu
fragen, wo sie ihre hellrosafarbenen Schuhe gekauft hatte. Der Mann, der sie auf
ihrem Weg nach vorne begleitete, war in so ziemlich jeder Beziehung das
Gegenteil ihres verstorbenen Gatten: Hochgewachsen und schlank trug er einen
gut geschnittenen, aber leicht knitterigen, dunkelgrauen Anzug, ordentliche
Schuhe und eine runde Brille mit gerahmten Gläsern. Sein braunes Haar hatte
bereits graue Strähnen. Nirgendwo sonst hätte er Aufmerksamkeit erregt, doch
hier fiel er völlig aus der Reihe. Er sah aus wie ein Professor in einem Raum
voller Gebrauchtwagenhändler.
Der Gottesdienst war öde und altbacken: Kirchenlieder und biblisches
Blablabla. Der Sarg stand ganz vorn vor dem Altar und war von einem goldenen
Seidenschal bedeckt. Verschiedene Menschen beschrieben Lee als echte
Persönlichkeit, die jeder Feier Glanz verlieh. Alles nur Plattitüden. Es fiel kein
einziges Wort, das etwas über seinen wahren Charakter verriet. Als das letzte
Lied verklungen war, erhob sich der Vikar, um das Schlusswort zu sprechen,
doch dann zögerte er. Ich reckte den Kopf, um zu sehen, was geschah. Lara war
aufgestanden, sagte etwas zu dem Priester und ging dann zum Sarg. Der Vikar
setzte sich wieder, und für einen Moment herrschte gespannte Stille. Alle
warteten darauf, dass Lara das Wort ergriff. Ein, zwei Sekunden stand sie bloß
da, strich sich eine Falte aus der Hose und wirkte leicht besorgt. Erst da
schwante mir, dass sie das nicht geplant hatte. Ich suchte im Programm nach
einer Erwähnung der trauernden Witwe. Nichts. Halleluja.
»Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute hier sind«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Mein Mann hätte sich gefreut, von so vielen Menschen zu hören, was für ein
toller Kerl er war.« Es ertönte leises Gelächter. »Aber leider war er das nicht.
Habe ich recht? Klar, er feierte gerne mal die Nacht durch. Zahllose Nächte. So
ziemlich jede Nacht. Aber er war kein anständiger Mensch – wie immer Sie das
definieren wollen. Für Sie war er ein toller Kerl, weil er stets Ihren Deckel
bezahlte, in Ihr Unternehmen investierte, Sie in den Urlaub eingeladen hat. Aber
ich habe mit ihm zusammengelebt und musste seinen Egoismus und seine
Respektlosigkeiten ertragen. Tagtäglich. Wirklich jeden einzelnen Tag.
Jahrelang.« Sie betrachtete den Sarg. »Ich war noch jung, als wir uns
kennenlernten, eigentlich zu jung. Und er war charmant. Aber Sie wissen ja alle,
was für ein Charmeur er sein konnte. Wie leicht er es einem machte, seine
schlimmsten Seiten zu ignorieren. Doch je länger sie unwidersprochen blieben,
desto schlimmer wurden sie, nicht wahr? Lees einzige Reaktion auf den Tod
unserer Tochter bestand darin, drei Tage auf Sauftour zu gehen. Und als er völlig
high nach Hause zurückkam, hatte er eine neunzehnjährige Lettin in Hotpants
im Schlepptau und bat unser Hausmädchen, ihnen Frühstück zu machen.
Damals habe ich es auf seine Trauer geschoben, so dumm das vielleicht klingen
mag. Aber als unser Sohn starb, war es das gleiche Spiel. Immerhin blieb er sich
treu, das muss man ihm lassen. Wie sich herausstellte, verbarg sich hinter seiner
charmanten Fassade ein grausamer und herzloser Mensch. Auf gewisse Weise
war es sogar noch schlimmer. Weil ich bei ihm blieb und es ihm dadurch
ermöglichte, sich so zu verhalten. Jetzt ist er tot. Durch sein eigenes
Verschulden. Tot, weil ihn nie etwas anderes interessiert hat als die Befriedigung
seiner eigenen Bedürfnisse. Und ich kann nicht tatenlos mit anhören, wie sein
Leben umgeschrieben wird. Er kann euch nichts mehr dafür zustecken, also hört
bitte damit auf. Hört einfach auf.«
Lara zitterte leicht. Das Adrenalin, nahm ich an, nicht die Trauer. Manche
Trauergäste bissen sich auf die Unterlippe, andere schauten betreten zu Boden.
Die Verlegenheit war mit Händen zu greifen. Es war wundervoll. Der große
Mann mit der Brille stand auf und ergriff ihre Hand. Dann gingen sie gemeinsam
den Mittelgang hinunter und verließen die Kirche. Ich hätte am liebsten
geklatscht. Stattdessen folgte ich ihnen, während der Vikar sich erhob und
verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Draußen lagen sich Lara und der
Mann in den Armen. Er streichelte ihr übers Haar, küsste sie auf die Wange und
lobte sie für ihren Mut. Sie sah zu ihm auf und schenkte ihm ein tränennasses
Lächeln, bevor sie zusammen in einen wartenden Mercedes stiegen. Ich blickte
dem Wagen nach, wie er davonfuhr, und in diesem Augenblick wusste ich, dass
ich sie verschonen würde. Sie hatte in ihrem Leben schon genug verloren, durch
Lee, durch mich. Mein Hauptziel waren nicht die Frauen, die in die Fänge dieser
Familie geraten waren. Meine Mutter war schließlich eine von ihnen. Gut
möglich, dass sie es nie erfahren würde, aber Lara hatte an diesem Tag ihr
eigenes Leben gerettet.
kapitel 9

Oscar Wilde schrieb De Profundis in den letzten drei Monaten seines zweijährigen
Gefängnisaufenthalts. Das viel gerühmte Werk ist eine Art Liebesbrief an Lord
Alfred Douglas, in dem er seinen Adressaten abwechselnd beschimpft und in die
Arme schließt. Oscar Wilde hat zweifellos seine Verdienste. Seine letzten Worte
auf dem Sterbebett – »Die Tapete ist schrecklich, entweder sie geht oder ich« –
sind sogar richtig gut, aber er war ja auch ein gebildeter weißer Mann. Die Latte
für sein Genie liegt also nicht so unerreichbar hoch, wie man meinen könnte.
Wilde schlief in einer winzigen Zelle auf einer Pritsche ohne Matratze. Jeden
Tag durfte er seine Zelle nur für eine Stunde zur körperlichen Ertüchtigung
verlassen und litt ständig Hunger. Nach allem, was man weiß, hat ihn das
Gefängnis zugrunde gerichtet. Wilde starb drei Jahre nach seiner Entlassung.
Die Vorstellung, ich läge in einem kuscheligen Sweatshirt auf einem
gemütlichen Etagenbett, würde auf dem Flachbildfernseher Netflix glotzen und
dabei genüsslich in einen Marsriegel beißen, den ich mir am Automaten gezogen
habe, ist sicher verführerisch. Kein Wunder, schließlich spinnen die
Boulevardzeitungen fleißig an der Legende, dass jeder Gefangene schon beim
Betreten der Haftanstalt eine Spielekonsole bekommt. So viele Linke halten sich
für ach so aufgeschlossen, tolerant und progressiv. Diese Menschen diskutieren
bei Wein und gutem Essen darüber, welche Vorzüge es hätte, Häftlinge nicht
durch Strafe, sondern pädagogische Maßnahmen auf den rechten Weg zu
bringen. Sie faseln vom nordischen Modell, ohne zu wissen, was das bedeutet.
Doch tief in ihrem Inneren, in jenem Teil ihres Denkens, zu dem sie sich niemals
öffentlich bekennen würden, glauben sie immer noch, dass es sich bei denen, die
hinter Gittern landen, schlicht und einfach um Abschaum handelt – obwohl
dieses Wort sie erschaudern lassen würde, sollte es jemand laut aussprechen.
Verantwortlich ist derselbe Teil von ihnen, der sie insgeheim Mitleid mit Frauen
in Hijabs empfinden und einen weiten Bogen um Bullterrier machen lässt. Sie
spenden an Amnesty International, aber eigentlich sind sie froh, dass
Gefängnismauern so hoch sind, und wenn sie in der Zeitung lesen, dass die
konservative Regierung sich dafür ausspricht, die Haftstrafen für Ersttäter
auszuweiten, können sie sich die Andeutung eines zustimmenden Nickens nicht
verkneifen.
Und das Schlimmste daran ist: Völlig unrecht haben sie nicht. Häftlinge sind
Abschaum. Zumindest lehrt mich das meine Erfahrung hier drinnen. Bei diesen
Frauen ist der zivilisatorische Firnis sehr viel dünner als bei anderen Menschen.
Sie haben schlechte Zähne, irre Augen und schreien zu jeder Tages- und
Nachtzeit aggressiv herum. Wenn sie auch nur den Hauch einer Chance dazu
hätten, würden sie jedwede Regel und Struktur ignorieren, die auf die
herrschenden Klassen zurückgeht, und nach ihren eigenen unausgesprochenen
Gesetzen leben. Das ist zwar faszinierend zu beobachten, aber sobald ich
entlassen bin, werde ich die Sicherheitsmaßnahmen in meiner Wohnung
verstärken.
Da wir das ja nun geklärt haben, überlassen Sie mich bitte wieder den
vermeintlichen Annehmlichkeiten meiner behaglichen Zelle. Was ebenjene
betrifft, liegen diese scheinheiligen Linken allerdings falsch. Denn abgesehen von
der fehlenden Matratze sah Oscar Wildes Zelle kaum anders aus als meine. Ja,
ich habe eine dünne Unterlage aus grobem Schaumstoff, auf der ich liegen kann,
doch es gibt weder einen Fernseher noch einen Snackautomaten, und außerdem
muss ich jeden Mittwochnachmittag ganz spezielle Qualen ertragen. Im
Gefängnis wiederholt sich der Essensplan jede Woche – ungefähr wie in der
Schule, nur dass seit dem Gabel-Vorfall von 1996 kein richtiges Besteck mehr zu
den Mahlzeiten gereicht wird –, und mittwochs gibt es immer Chili con Carne.
Ich kann die Uhr danach stellen, dass Kelly spätestens drei Stunden nach dem
Essen auf dem Klo unserer winzigen Zelle hockt, wo sie bis zu dreißig Minuten
stöhnt und furzt. Ihr würde nie einfallen, dass ihr Chili con Carne vielleicht nicht
gut bekommt. Und schon gar nicht darauf, dass mir ihre albtraumhafte
Toilettenperformance nicht gut bekommt.
Genau wie Oscar Wilde dürfen auch wir einmal am Tag für eine Stunde an die
frische Luft, um Sport zu treiben. Die meisten Frauen hier interessiert das nicht.
Ich nutze es. Ich brauche es. Ich plane meinen ganzen Tag danach. Im normalen
Leben – dem Leben in meiner eigenen Wohnung mit ausreichend Tageslicht,
Weinen, die man nicht im Supermarkt bekommt, und Büchern, die nicht in
Frauenmagazinen angepriesen werden – war ich jeden Tag laufen. Ich lief, um
meine Wut rauszulassen, meinen ratternden Gedanken zu entkommen, gegen die
Schwermut anzukämpfen und – seien wir ehrlich – um schlank zu bleiben. Der
letzte Punkt geht den meisten Frauen hier buchstäblich am Arsch vorbei, wie
ihre unerklärliche Vorliebe für fettes Chili con Carne beweist, und ihre Wut
halten sie offenbar für ein Zeichen von Charakterstärke. Dafür sprechen
zumindest die regelmäßigen Fehden um fünf Uhr nachmittags. Das scheint exakt
die Tageszeit zu sein, zu der meinen Genossinnen schmerzhaft bewusst wird,
dass sie inhaftiert sind. Als würden sie einem stinknormalen Job nachgehen, und
immer wenn sie gerade nach Hause gehen wollen, um dort vor dem Fernseher
einzupennen, wird ihnen schlagartig klar, dass sie gar nicht nach Hause dürfen.
So wird jeder Tag zum Murmeltiertag, ohne dass jemand etwas aus dieser
Erfahrung lernt. In solchen Momenten fällt mir hier drin schon mal die Decke
auf den Kopf.
Da ich mich weigere, auf dem Gefängnishof winzige Runden zu drehen, wie
ein Hamster in seinem Rad, fällt das Laufen flach. Stattdessen mache ich
Liegestütze, Kniebeugen, Hampelmänner, Strecksprünge und Hanteltraining –
alles, was den Kreislauf in Schwung bringt. Alles, was mich genug schlaucht, um
trotz Kellys lautem Schnarchen schlafen zu können. Eine Stunde Sport reicht
natürlich bei Weitem nicht aus, um hier drin bei Verstand zu bleiben. Deshalb
trainiere ich in meiner Zelle weiter, wann immer Kelly einen ihrer Kurse besucht.
Weil ich neben dem Laufen seit eh und je Yoga gemacht habe, waren meine
Arme und Beine immer schon drahtig. Doch inzwischen zeichnen sich die
Muskeln deutlich ab, und nichts wabbelt mehr. Die weiblichen Rundungen
schmelzen dahin. Und das gefällt mir. Mit Instagram-Trends wie »strong &
skinny« hat das nichts zu tun – die kaschieren Essstörungen mit obsessivem
Fitnesstraining. So ersetzen sie nicht nur die eine Neurose durch eine andere,
sondern durch eine regelrechte Neurosen-Matrjoschka. Ich dagegen fühle mich,
als hätte ich mir einen Panzer zugelegt, abgehärtet und imstande, andere
Menschen nicht nur durch geistige Anstrengung, sondern durch pure
Körperkraft zu verletzen. Männern ist dieses Gefühl vertraut, denn sie kennen es
von Geburt an. Ob ich irgendetwas anders gemacht hätte, wenn es mir möglich
gewesen wäre, meine physische Stärke zu nutzen, um meine Familie
auszulöschen? Wäre es einfacher gewesen? Oder befriedigender?
Abgesehen von diesen sportlichen Aktivitäten, gehe ich nur noch zu den
verordneten Therapiesitzungen. Ich ertrage Kelly und ihre Clique, so gut ich
kann. Außerdem schreibe ich dieser Tage sehr viel.
Wir werden nicht vom Wachpersonal verprügelt, und obwohl man angesichts
des Kantinenessens manchmal lieber verhungern möchte, laufen wir niemals
Gefahr, es wirklich zu tun. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob Oscar Wilde
heutzutage vielleicht noch mehr leiden würde als damals, wenn er ein Etagenbett
mit Kelly teilen, an Töpferkursen teilnehmen, mit heulenden Frauen in
Gummisandalen über ihre Traumata sprechen oder stundenlang in der Zelle
sitzen und hören müsste, wie die anderen stöhnen und schreien. Dass es
aufgrund der Sparpolitik der Regierung an Aufsichtspersonal mangelt, macht die
Situation nicht unbedingt besser.
Obwohl diese in den letzten Jahren so populär gewordenen Gefängnis-Serien
suggerieren, dass im Knast kaum eine Minute ohne Action vergeht, ist mein
Aufenthalt hier ziemlich öde. Es gibt lesbische Schäferstündchen, hin und
wieder kommt es zu Prügeleien, aber meistens liegt man einfach nur allein herum
und zählt die Minuten, bis wieder eine Stunde vergangen ist, die Stunden bis zum
nächsten Tag, die Wochen, Monate, manchmal die Jahre. Ich schätze,
irgendwann kann man auch einfach damit aufhören. Ich kann es nicht. Denn ich
warte auf das Urteil in meinem Berufungsverfahren.
Davon abgesehen wird niemand mein Buch mit De Profundis vergleichen.
Schließlich bin ich kein Mann, und ich bin auch nicht so verblendet, mich für
eine Intellektuelle zu halten. Ich schreibe keine albernen Liebesbriefe aus dem
Gefängnis. Hier festzusitzen, macht mich keinen Deut weiser. Aber ich werde
auch nicht als gebrochene Frau hier rauskommen, sondern ein erfülltes Leben
haben. Meine Zeit hier wird mich niemals prägen.
Außerdem habe ich einen entscheidenden Vorteil gegenüber Oscar Wilde. Sein
Brief aus dem Gefängnis gilt zwar als grundlegend und sogar als
genredefinierend, doch über weite Teile davon schwelgt er in Selbstmitleid und
beklagt sich über das durch einen Mann erlittene Unrecht. Lord Douglas stand in
dem Ruf, verwöhnt, dünkelhaft und achtlos gegenüber den Gefühlen anderer zu
sein. Er vergaß Wildes Liebesbriefe in den Taschen von Kleidungsstücken, die er
an Strichjungen verschenkte. Nach Wildes Tod leugnete er die Beziehung zu ihm
und verurteilte ihn. Douglas erinnert mich an meinen Vater: Er war charmant,
arrogant und musste immer im Mittelpunkt stehen. Diese Männer richten ihre
Aufmerksamkeit für ein paar Sekunden wie einen Scheinwerfer auf dich, und
anschließend jagst du den Rest deines Lebens der Wärme dieses künstlichen
Lichts hinterher. Es zerstört dich, und sie lässt das völlig unberührt. Verzehre
dich nie danach, im Licht eines Mannes zu stehen. Blas ihm das Licht lieber aus.


Heute habe ich gefrühstückt, meinen Putzdienst in der Gefängnisküche
verrichtet und mich dann mit Kelly und ihrer Freundin Nico getroffen. Ich hätte
zwar gern darauf verzichtet, aber Kelly hat versprochen, mir Zigaretten zu
kaufen, und die gibt es in der Kantine nur einmal pro Woche. Rauchen ist das
Beste, was man im Knast machen kann.
Wenn man sich draußen eine Kippe ansteckt, wird man inzwischen fast überall
schief angeguckt. Hier drin sind Zigaretten ein probates Mittel, um sich Freunde
oder Gefallen zu erkaufen und die Eintönigkeit des Knastalltags aufzulockern.
Also tranken wir zusammen lauwarmen Tee. Nico bot mir ein Stück Kuchen an,
zumindest behauptete sie, es sei welcher. Es war brauner Papp mit Marmelade.
Alles, was es hier gibt, ist ekliger Papp. Alles ist braun. Es ist ein komisches
Gefühl, wenn man merkt, wie sich der gedankliche Fokus zu einer Art
Tunnelblick verengt und man vor dem inneren Auge plötzlich nur noch Bilder
von Mahlzeiten oder Kleidungsstücken sieht, die man vermisst. Ich würde gerne
frische Pasta von La Bandit essen und etwas tragen, das nicht jeden Moment in
Flammen aufgehen könnte und meinen Körper luftig umspielt, statt sich durch
Reibung elektrisch aufzuladen. Bestimmt zehnmal am Tag male ich mir aus, ein
Bad zu nehmen, und fange an, mich panisch zu kratzen, obwohl ich mir immer
wieder vornehme, mich zusammenzureißen. Ich darf mich nicht gehen lassen.
Ich darf nicht zulassen, dass ich bei meiner Entlassung nur blinzelnd ins Licht
sehe und mich erst wieder an das Leben da draußen gewöhnen muss. Ich will
bereit sein, wenn mein Raumschiff auf dem Planeten aufsetzt, statt erst rebooten
zu müssen.
Nico zuzuhören, fällt mir leichter als erwartet, und das nicht nur, weil ihre
Stimme weniger nasal ist als die von Kelly. Sie ist auch aus einem interessanten
Grund hier drin: Nico erschlug den Lebensgefährten ihrer Mutter mit einem
Hammer, weil der Scheißkerl ihre Mum misshandelte. Ich würde hier nie
jemanden auf seine Taten ansprechen, aber sie hat es selbst mehrfach erwähnt.
Voller Stolz erzählt sie, dass ihre Mutter inzwischen in therapeutischer
Behandlung ist und dass sie sogar studiert, um eines Tages selbst Therapeutin zu
werden. Nico ruft ihre Mum zweimal die Woche an und weint oft leise am
Telefon. Ich mag Nico. Mit ihrer verwirrten, manischen Art würde ich draußen
sicher einen Bogen um sie machen, aber ich respektiere, was sie für ihre Mutter
getan hat. Die Ausführung ihrer Tat bleibt zwar weit hinter der meines
Racheplans zurück, doch offenbar hatte sie der Impuls so überwältigt, dass sie
sich keine Gedanken darüber machte. Unglücklicherweise führte das auch dazu,
dass sie immer noch neben dem Leichnam stand, als zehn Minuten später die
Polizei auftauchte. Nico hatte nicht den Hauch eines Alibis. Das ist jetzt ein Jahr
her, und sie wird noch zwölf weitere im Gefängnis verbringen müssen. Ihre
Mutter ist sechzig. Bei Nicos Entlassung wird die Frau zweiundsiebzig Jahre alt
sein. Ihre Tochter hat die eigene Jugend für eine Rentnerin geopfert. Das ist
Liebe. Aber auch eine himmelschreiende Dummheit.
Heute unterhalten sich Nico und Kelly über ihre Titten. Kelly will sich ihre
nach der Entlassung aufmöbeln lassen, und mit der Hingabe eines
Wissenschaftlers, der auf seinen ersten Nobelpreis hinarbeitet, hat sie alles
studiert, was sie über Brust-OPs finden konnte. Offenbar gibt es dafür keinen
besseren Ort als die Türkei: Die Operation ist nur halb so teuer wie anderswo,
und im Anschluss gibt es sogar noch eine Woche Gratisurlaub. Ein gewisser
Clint bezahlt – wer auch immer das ist. Oder vielleicht ist sie beim nächsten
Erpressungsversuch erfolgreicher, und das arme Opfer bezahlt die Operation.
Nico macht sich Sorgen wegen der Narkose und hat von einer Methode gehört,
bei der man allein durch Injektionen eine volle Körbchengröße zulegt. Kelly hält
augenscheinlich wenig von der Idee. »Das Gesicht lass ich mir aufspritzen, Babe,
aber bei den Titten reicht mir das nicht.«
»Grace, was würdest du bei dir machen lassen?«, will Nico von mir wissen, und
beide mustern mein Gesicht, bevor ihre prüfenden Blicke zu meinen Brüsten
wandern. Ich habe noch nie über eine Schönheitsoperation nachgedacht. Den
Trend, sein Gesicht in eine aufgeplusterte Plastikmaske zu verwandeln, finde ich
obszön. Wobei es durchaus ein paar kleine Eingriffe gibt, auf die ich nicht
zwangsläufig mit Entsetzen reagiere. Und ich halte sie auch nicht für
Verstümmelungen oder einen Affront gegen den Feminismus. Wenn man etwas,
womit man jeden Tag leben muss, abgrundtief hasst, dann sollte man es ändern.
Ich mag meine Titten. Sie sind klein, und deshalb kann ich tragen, was ich will,
ohne wie eine Fünfzigerjahre-Matrone auszusehen. Ich mag fast alles an mir.
Nicht wie diese verzweifelten Millennials, die ihre Schwangerschaftsstreifen und
ihre Cellulite so stolz präsentieren, als wären es Kriegsverletzungen – aber ich
weiß, dass ich nicht unattraktiv bin. Eines Tages werde ich so verknittert und
ramponiert aussehen wie alle anderen, momentan habe ich allerdings einen
kosmetischen Vorteil. Und den nutze ich, so gut ich kann. Die Leute sind
nachsichtiger mit mir als mit anderen, warum sollte ich das nicht zugeben?
Deshalb wäre es reine Zeitverschwendung, Energie in eine Inventur meiner
physischen Unzulänglichkeiten zu investieren.
Das Einzige, was ich wirklich hasse, ist meine Nase. Dabei wird sie sämtlichen
Ansprüchen gerecht. Für ihre klare und gerade Silhouette habe ich von anderen
Frauen sogar schon Komplimente bekommen. Aber sie ist eine Artemis-Nase,
und das ist alles, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Wenn ich nicht
artig gewesen bin, hat Marie mich immer in diese Nase gekniffen und gesagt, ich
käme auf meinen Vater. Ansonsten bin ich meiner Mutter wie aus dem Gesicht
geschnitten. Kurz nach ihrem Tod verbrachte ich manchmal eine gefühlte
Ewigkeit damit, in den Badezimmerspiegel in Helenes Wohnung zu starren. Ich
ging extra so weit in die Hocke, dass ich nur meine Augen erkennen konnte. In
diesen Momenten bildete ich mir ein, dass die Augen, die mich aus dem Spiegel
anblickten, die meiner Mutter wären. Es erinnerte mich daran, wie geborgen ich
mich bei ihr gefühlt hatte. Wenn ich in dieser anstrengenden Position vor dem
Spiegel hockte, bekam ich irgendwann wackelige Knie. Dann musste ich mich
aufrichten und sah mein ganzes Gesicht. Sofort war dieses tröstliche Gefühl
verpufft.
Bryony hatte die Nase ihrer Mutter. Klein, niedlich und mit chirurgischer Hilfe
ein kleines bisschen optimiert. Wenn ich beim Blick in den Spiegel nicht Simon
sehen würde, wäre ich vermutlich dankbar für mein klassisches Profil. Ich wäre
stolz, eine Nase zu haben, die keinen überzogenen Schönheitsidealen entspricht.
Doch unter den gegebenen Umständen würde ich keine Sekunde zögern, sie
operativ korrigieren zu lassen. Ich habe deshalb schon mit Ärzten gesprochen –
echte Koryphäen auf ihrem Gebiet –, und sie zeigten mir, wie verändert ich
nach einem klitzekleinen Eingriff aussehen könnte: Alles, was mich noch zur
Artemis macht, würde dem Skalpell zum Opfer fallen. Ich habe mich nur
deshalb noch nicht unters Messer gelegt, weil ich wollte, dass mein Vater seine
Tochter erkannte, als ich mich endlich über ihn beugte und ihm sagte, wer ich
bin.
Ich löse den Blick von meiner Teetasse. Kellys erwartungsvolle Miene verrät
mir, dass sie die Begutachtung meines Gesichts abgeschlossen hat und nun
wissen will, inwieweit meine Antwort den Verbesserungsvorschlägen entspricht,
die ihr zweifellos schon auf der Zunge liegen. »Gar nichts«, sage ich und trinke
einen Schluck lauwarmes Wasser. »Ich halte generell nichts von kosmetischer
Chirurgie.«
Am Nachmittag kommt mein Anwalt. Eine der seltenen Gelegenheiten, mal ein
anderes Gesicht zu sehen als das von Kelly oder einer der trübseligen, niemals
lächelnden Wärterinnen, denen ich ehrlich gesagt dankbar bin, dass sie hier und
nicht in einem Lehr- oder Pflegeberuf arbeiten. Ich kann mir vorstellen, dass
manche dieser Frauen einmal an einem Punkt waren, an dem eine andere
Entscheidung dazu geführt hätte, dass sie heute in einer Schule oder Klinik
arbeiten würden. Nachdem ich erlebt habe, wie sie mit psychischen
Erkrankungen, körperlichen Gebrechen oder auch nur mit verängstigten jungen
Mädchen umspringen, die ein wenig Trost brauchen, kann ich aus tiefster
Überzeugung sagen, dass sie die richtige Wahl getroffen haben. Als ich in den
Besuchsraum geführt werde, wartet George Thorpe bereits auf mich. Passend
zur wärmer werdenden Jahreszeit, ist sein heutiger Anzug aus leichter
marineblauer Wolle, und so geschmackvoll wie immer. Als er sich zur
Begrüßung erhebt, blitzt kurz das dezente terrakottafarbene Futter auf. Den
Blick auf seine sicher nicht weniger feinen Schuhe schenke ich mir. Im Kontrast
zu seiner eleganten Erscheinung trage ich den gleichen grauen Trainingsanzug
wie die meisten anderen Frauen im Raum. Ich frage mich, ob ein
Außenstehender einen Unterschied zwischen ihnen und mir wahrnehmen
würde. Ich konnte wildfremden Menschen immer schon ihren Reichtum, ihre
Bildung und aufgrund ihrer Haltung auch ihre Kultiviertheit ansehen. Es ist
typisch für das englische Klassenbewusstsein, dass wir den sozialen Status
unseres Gegenübers erkennen, noch bevor wir ein Wort miteinander gewechselt
haben. Manche Leute behaupten, sie würden gar nicht davon Notiz nehmen,
aber das sind dieselben Wichtigtuer, die auch behaupten, sie würden nicht auf die
Hautfarbe achten – was meistens daran liegt, dass sie weiß sind und überhaupt
keinen Grund dazu haben. Der graue Trainingsanzug macht uns alle gleich.
Wenn man ein Outfit aus leicht entflammbarem Material trägt, das auch nach
hundert Jahren auf der Müllkippe nicht verrottet sein wird, ist es höllisch schwer
zu vermitteln, dass man nicht wie die anderen Gefangenen ist. Doch obwohl
George Thorpe meinen Werdegang kennt – und trotz des üppigen
Stundenlohns, den ich ihm zahle –, verspüre ich immer noch den lächerlichen
Drang, ihm genau das zu beweisen. Dass ich etwas Besseres bin. Der Artemis-
Clan hat mir gezeigt, wie das geht: Ich muss den Mann nur wie ein Stück Dreck
behandeln.
Er steht auf und reicht mir zur Begrüßung die Hand. Ich ignoriere sie und setze
mich. »Zeit ist Geld, George. Also warum bringst du mich nicht einfach auf den
neuesten Stand?«
Männer wie George Thorpe können ihre guten Manieren nicht einfach ablegen.
Das Eliteinternat, die Universität in Cambridge oder Oxford, ihre
Kindermädchen, denen sie den Mutterkomplex zu verdanken haben – sie alle
haben ihnen dieses Bedürfnis nach Höflichkeit, Korrektheit und Etikette
eingehämmert. Diese Ordnung habe ich gerade erschüttert. Er wirkt leicht
verstört, als er sich wieder hinsetzt, und ich verstärke das noch, indem ich ihn
ungeduldig anstarre, während er seine Aktentasche öffnet.
»Ja, also … ähm«, stammelt er und setzt sich die Brille auf die Nase. Nicht zum
ersten Mal bezweifle ich, dass dieser Mann ein Bluthund ist. Ich brauche einen
Bluthund. Einen, der mit allen Wassern gewaschen ist. Als sich dieses Desaster
anbahnte, habe ich wie besessen Anwälte gecheckt, und so ziemlich jeder
Mensch, den ich gefragt habe, sagte mir, dass Thorpe exakt das sei, wonach ich
suchte. Dass er darüber hinaus aussah, als ließen sich in seinem Stammbaum
diverse Regenten des britischen Empires finden, konnte sicher nichts schaden.
Der Mann hatte zu viele Fälle gewonnen, um sie hier alle aufzulisten. Auch
Berufungsprozesse. Unter seinen Mandanten sind wirklich schlechte Menschen.
Menschen, die eigentlich für den Rest ihres Lebens hinter Gitter gehören. Sie
kommen davon, weil er jede Schwachstelle in der Aussage eines überarbeiteten
Polizeibeamten offenlegt und sofort erkennt, wenn ein Geschworener zaudert,
jemanden lebenslänglich ins Gefängnis zu bringen. George Thorpe ist der Beste.
Aber was ist mit dem Bluthund in ihm? Bisher hat er den jedenfalls gut versteckt.
Es wird Zeit, dass er endlich Blut riecht.
Er geht noch einmal das Berufungsverfahren mit mir durch und versichert mir,
dass wir gut aufgestellt sind, wenn nächste Woche die große Entscheidung
ansteht. Es gibt einen Grund dafür, dass diese True-Crime-Dokus immer so
ausführlich auf die Verbrechen eingehen und das anschließende
Gerichtsverfahren beinahe ausblenden: So ein Prozess ist komplex, langweilig,
demoralisierend und besteht hauptsächlich aus monatelangem Warten. Drei
Tage nach meiner Verurteilung haben wir Berufung eingelegt. Wir beantragten,
dass ich für die Dauer des Berufungsverfahrens auf Kaution freikommen würde,
hatten damit aber keinen Erfolg. Vermutlich wegen des enormen öffentlichen
Interesses an meinem Fall. Inzwischen rotte ich seit über einem Jahr in dieser
Zelle vor mich hin. Für Sie als Leser wäre es vermutlich nicht sehr spannend,
wenn ich nur darüber schreiben würde, wie ich auf diesem Bett liege und
verzweifelt versuche, mich vor Gruppentherapiestunden zu drücken, in denen
eine Frau unter Tränen erzählt, wie sie auf unmenschliche Weise sexuell
missbraucht wurde, und daraufhin von drei anderen beschuldigt wird, alle
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Dass ich Ihnen noch nicht viel darüber erzählt habe, warum ich eigentlich hier
drin bin, liegt daran, dass ich mich damit schwertue. Es ist nicht die
Ungerechtigkeit, die mich zurückhält. Es wäre ziemlich schwachsinnig, mich
darüber zu beklagen, wie ungerecht ich behandelt werde, wenn das, womit ich
davongekommen bin, um so viel schlimmer ist als das, wofür ich verurteilt
wurde. Nein, es ist die schiere Banalität: Mir wird ein Motiv unterstellt, das kaum
erbärmlicher sein könnte. Und die Tat soll ich in einem Wutanfall begangen
haben, ohne jegliche Planung – was mir zutiefst zuwider ist. Ich bin ja schließlich
nicht Nico. Allerdings konnte ich das wohl kaum zu meiner Verteidigung
anführen, oder? »Sorry, Euer Ehren, aber wenn ich Menschen ermorde, dann
gehe ich dabei schon ein wenig präziser vor.« Stattdessen musste ich die Zähne
zusammenbeißen und einen Gerichtsprozess durchstehen, der sich über Monate
hinzog. Wie heißt es so schön? Der Mensch plant, und Gott lacht. Ich habe den
Mord an sieben Menschen geplant, aber ich sitze im Gefängnis, weil man mir
den Tod von jemandem zur Last legt, den ich nicht einmal angefasst habe. Gott
würde sich vor Lachen einen Leistenbruch zuziehen.
kapitel 10

Als wir beide sechsundzwanzig waren, lernte Jimmy jemanden kennen. Er hatte
schon vorher Freundinnen gehabt. Stille, zurückhaltende Mädchen, die
Jutetaschen mit den Logos von Buchhandlungen trugen und für gemeinnützige
Einrichtungen, NGOs oder unabhängige Verlage arbeiteten – ich schätze, Sie
wissen, welchen Typ Frau ich meine: Brille, kleine Silberohrringe, ihr Tee darf
gerne etwas länger ziehen. Sie waren alle nett. Wirklich nett. Aber Jim war selbst
so liebenswürdig und gutmütig, so ein entspannter Kerl, dass diesen
Beziehungen irgendwie der Schwung fehlte. Da war Louise, die sich wie
besessen um ihren Schrebergarten kümmerte, jedoch für nichts anderes die
gleiche Leidenschaft aufbringen konnte und nach einem Jahr wieder der
Vergangenheit angehörte. Dann gab es Harriet, die es schon ernster meinte, sich
mit Jim und ein paar Freunden von der Uni sogar ein Haus in Balham teilte. Ihre
Trennung war so schmerzlos, dass ich kaum etwas davon mitbekam. Zum
Zeitpunkt ihres Auszugs arbeitete ich rund um die Uhr. Als Jimmy und ich uns
dann das nächste Mal trafen, machte er den Eindruck, er wäre bereits komplett
darüber hinweg. Ich war erleichtert, dass ich meine wertvolle Zeit nicht damit
verplempern musste, ihn wegen des Verlusts einer Frau zu trösten, an deren
Gesicht ich mich schon nicht mehr erinnern konnte.
Seine nächste Freundin hieß Simone, und eine Zeit lang dachte ich, sie wäre die
Richtige. Sie arbeitete als Kuratorin in einer Galerie und trug gerne auffälligen
Schmuck, insbesondere bunte, kantige Broschen. Sie war ein ziemlich ernsthafter
Mensch. Das waren sie alle. Aber sie mochte meinen Sinn für Humor und war
sehr locker, was meine lange, manchmal etwas unklare Beziehung zu ihrem
Freund anging. Vor allem hatte sie Jimmy offenbar wirklich lieb, und wenn sie
über ihre gemeinsame Zukunft sprach, dann ohne diese gekünstelte
Unverbindlichkeit, die manche Frauen gerne an den Tag legen, um die Männer
nicht zu verschrecken. Sie fuhren übers Wochenende nach Norfolk, adoptierten
eine Katze und überlegten, eine gemeinsame Wohnung zu kaufen. Ich gewöhnte
mich an Simone. Jimmy mit ihr zu teilen, fühlte sich nicht nach einem
Kompromiss an. Zu erleben, wie sie miteinander alt wurden, hätte mich
vielleicht sogar mit einer gewissen Zufriedenheit erfüllt. Doch Simone war
ehrgeiziger, als ich gedacht hatte, und gerade, als sie sich die ersten Wohnungen
ansahen, bekam sie einen Job in einer neu eröffneten Galerie in New York
angeboten. Ich glaube, sie ging fest davon aus, dass Jimmy alles
zusammenpacken und mit wehenden Fahnen nach Brooklyn ziehen würde.
Jimmy hingegen hatte gerade erst beim Guardian angefangen und tat sich schwer
damit, eine Festanstellung bei einer Zeitung aufzugeben, bei der er immer schon
hatte arbeiten wollen. So eine Chance würde er nicht noch einmal kriegen,
protestierte er, stattdessen müsse er sich als Freelancer durchschlagen, in einer
Stadt, wo es von freiberuflichen Journalisten nur so wimmele. Simone hörte ihm
geduldig zu, versuchte, seine Ängste mit konstruktiven Vorschlägen zu
zerstreuen, und betonte immer wieder, wie viel ihr dieser Umzug bedeuten
würde. Aber Jimmy wurde immer störrischer. Nach einer Woche kommunizierte
er so gut wie gar nicht mehr mit ihr. Von da an führten sie ein stilles Faksimile
ihrer bisherigen Beziehung. In der Zwischenzeit kümmerte sie sich um ihr
Visum, verkaufte ihre Möbel und gab eine Abschiedsparty. Von Jimmy hatte sie
immer noch kein klares Nein gehört, und ich kann mir vorstellen, dass sie
dachte, er würde vielleicht nur zögern, auf den Moment warten, in dem Simones
Abwesenheit Realität wurde, zur unbestreitbaren Tatsache, bevor er schließlich
nachgab und ihr nach New York folgte. Ihr Flug ging an einem Samstag, und am
Dienstag darauf schickte er ihr eine E-Mail, in der er ihr mit knappen Worten
mitteilte, es tue ihm leid, er liebe sie, könne aber nicht mitkommen. Das weiß
ich, weil er sie wenige Minuten später an mich weitergeleitet hat – mit dem
Betreff »Ich hasse mich«.
Das Problem mit Jimmy ist, dass es ihm zu gut geht, und das macht ihn feige.
Er hat nette Eltern, ein stabiles familiäres Umfeld, das ihm Liebe und Sicherheit
gibt. Er ist zwischen lauter schlauen, einflussreichen Menschen groß geworden,
die ihm stets das Gefühl gaben, er könne in dieser Welt alles erreichen. Er
verlebte wundervolle Urlaube, spricht fließend Deutsch und spielt zwei
Instrumente. Derart gerüstet, standen ihm alle Türen offen. Nur dass es ihn
ängstigte, durch diese Türen hindurchzugehen und die Welt zu erobern. Denn
wo sonst wäre die Welt so vertraut und er so anerkannt? Jimmy genießt so viele
Vorteile, so viele Privilegien – und alles, was er will, ist, zwei Straßen von Mum
und Dad entfernt möglichst genauso wie seine Eltern zu leben. Trotzdem
komme ich nicht von ihm los. Dieser vertraute Geruch, seine Arme, die gerade
so kräftig sind, dass ich mich in ihnen sicher und geborgen fühle … das ist
dermaßen lächerlich klischeehaft, und ich verabscheue mich für diese Gefühle.
Aber sie sind nun mal da. Ich kenne niemanden so lange wie Jimmy. Ich toleriere
niemanden so wie ihn. Weil er geduldig und liebenswürdig ist, erlaube ich mir,
mich auf ihn zu verlassen, mich ihm gegenüber, soweit es geht, zu öffnen und
mich auf unsere langjährige Freundschaft zu stützen. Ich habe ihm nie erzählt,
wer wirklich mein Vater ist, und es immer vorgezogen, diese beiden Aspekte
meines Lebens klar voneinander zu trennen. Davon abgesehen kennt er mich
wie niemand sonst. Und wenn er die Welt nicht erobern will, dann werde ich es
eben tun und mich damit begnügen, dass er an meiner Seite ist. Früher konnte
ich oft nicht einschlafen. Dann hat er mich gestreichelt, denn er wusste, wie sehr
es mir manchmal aufs Gemüt schlug, wenn wieder ein Tag zu Ende ging. Er lag
neben mir und fuhr mit dem Finger über die Sommersprossen auf meinem Arm.
»Du bist so weich, Gray. Sooooo weich!«, sang er dabei zur Melodie eines Songs,
den wir beide sehr mochten. Dann konnte ich schlafen.
Simone hat jetzt eine eigene Galerie. Sie ist mit einem bekannten Dramatiker
verheiratet, und die beiden haben einen Dobermann. Arroganter geht es nicht,
wenn man in einer Stadt lebt, die eigentlich nur Platz für Chihuahuas hat. Das
weiß ich, weil Jimmy ihren Instagram-Account besucht, wenn er betrunken ist.
Dann hält er mir sein Smartphone unter die Nase und tut so, als ob er sich für sie
freute, fragt mich aber, ob ihr Mann in diesem T-Shirt mit V-Ausschnitt nicht
wie ein Arschloch aussieht.
Sechs Monate nachdem Simone nach New York und er ganz in die Nähe seiner
Eltern gezogen war, lernte er jemand Neues kennen. Ich würde gerne sagen, dass
er nach der Trennung etwas wagemutiger geworden und ihr bei einem
dreitägigen Besäufnis in einer von der Gentrifizierung verschonten Ecke
Südlondons über den Weg gelaufen ist, aber so war es leider nicht. Denn er
verlässt den Londoner Norden inzwischen nur noch alle Jubeljahre mal für eine
Buchpräsentation. Die beiden begegneten sich bei einer Dinnerparty im Haus
seines Patenonkels in Notting Hill. Horace veranstaltet monatliche Empfänge,
zu denen er »interessante junge Menschen« einlädt, um über das Weltgeschehen
zu sprechen und sich als eine Art Hobby-Talentscout für die bessere
Gesellschaft zu profilieren. Da er mir den Kontakt zu Thorpe verschafft hat,
mache ich mich wohl ebenso schuldig wie Jimmy, das elitäre Netzwerk seiner
Eltern auszunutzen. Ich war nie zu einem dieser sicher scheußlichen Salons
eingeladen. Das habe ich kompensiert, indem ich mir einredete, dass Horace ein
muffiger alter Snob ist, weshalb ich ihm während eines Besuchs bei den Latimers
auch prompt fünfzig Pfund aus der Brieftasche stibitzte.
Danach sah ich Jimmy ein paar Wochen lang nicht, weil ich Wichtigeres im
Kopf hatte. Ich hatte gerade Bryony zum Teufel geschickt – dazu später mehr –
und schwankte zwischen Euphorie über meine Fortschritte und Frustration,
weil ich immer noch keinen praktikablen Weg gefunden hatte, an Simon
heranzukommen. Das alles ließ mir nicht viel Zeit für Jimmy. Außerdem fiel es
mir schwer, mit meinem besten Freund zu sprechen, ohne auch nur ein Wort
über meine Aktivitäten verlieren zu dürfen. Trotzdem hätte ich merken müssen,
dass irgendwas im Busch war, denn erst wurden seine Textnachrichten immer
weniger, dann herrschte acht Tage lang Funkstille. Bis er eines Samstagmorgens
mit Kaffee und Croissants vor meiner Tür stand. Nichts schreit so laut »Ich habe
Neuigkeiten!« wie ein unangekündigter Besuch. Das ist so egozentrisch, dass es
sich nur entschuldigen lässt, wenn man einen furchtbaren Unfall oder eine neue
Liebe zu verkünden hat. Da ich ihm ansah, dass seine Mutter nicht mit dem
Jetski verunglückt war, gab es eigentlich nur eine Alternative. Deshalb spannte
ich ihn ein wenig auf die Folter. Statt mich zu erkundigen, was es so Wichtiges zu
erzählen gab, plapperte ich ewig über meine Pläne zur Renovierung der Küche.
Ich hatte gar nicht vor, die Küche zu renovieren. Ich lebte in dieser Wohnung,
weil ich nichts an ihr tun musste. Menschen, die ständig über Umbaupläne
reden, sind unerträglich.
Als ich gerade zu einem besonders monotonen Monolog über Schubladengriffe
ansetzte, knickte er schließlich ein und erzählte mir von Caro. Caro Morton war
eine junge Anwältin in der Kanzlei von Horace. Bei besagter Dinnerparty hatten
sie nebeneinandergesessen, und Jimmy hatte sich, wie er mehrfach erwähnte, in
Minutenschnelle in sie verknallt. In den folgenden Wochen hatten sie mehrere
Verabredungen und sprachen bereits darüber zusammenzuziehen. Caro gehörte
anscheinend nicht zu den Frauen, die lieber den Ball flach halten und so tun, als
würden sie keinen Wert auf Verpflichtungen legen.
»Du musst sie unbedingt kennenlernen, Gray«, sagte er. »John und Sophie habe
ich sie schon vorgestellt, aber ich brauche deinen Segen.« Ich war erschüttert. Er
hatte sie seinen Eltern vorgestellt? Darauf hatte Simone monatelang warten
müssen. Allerdings verkehrte Caro ja auch in denselben Kreisen wie die
Latimers. Eine Kollegin von Horace. Eine Anwältin, die zweifellos in Oxford
oder Cambridge studiert hatte und mit deren Eltern Sophie und John entweder
persönlich befreundet waren oder deren Bekanntschaft sie zumindest gerne
machen würden. Für Simone, so reizend sie auch war, galt das nicht. Als Tochter
einer Krankenschwester und eines städtischen Angestellten aus Nordlondon
hatte sie nie richtig dazugehört, auch wenn Sophie und John sie mit Lob
überschütteten. Einmal war sie mit im Ferienhaus der Latimers gewesen, wo sie
den ganzen Tag mit Sophie Marmelade kochen musste. Aber wirklich
selbstverständlich hatte sich das alles nie angefühlt. Ich muss es wissen. Von
dieser Familie mit offenen Armen aufgenommen zu werden, heißt noch lange
nicht, dass man von ihr als eine der Ihren respektiert wird. Jemandem zu helfen,
weil man sich gut dabei fühlt, ist nicht dasselbe, wie ihn zu lieben.
Aber lassen Sie uns keine Zeit verschwenden und endlich auf den Punkt
kommen: Ich habe Caro vom ersten Moment an gehasst. Aus vollem Herzen.
Vermutlich fragen Sie sich jetzt, ob es daran lag, dass ich Angst hatte, sie könnte
mir meinen engsten und ältesten Freund wegnehmen, den Mann, der seit
Kindertagen meine einzige Stütze war. Ich sage Ihnen: Sie machen es sich zu
einfach. Für banale Küchenpsychologie ist hier kein Platz. Einen Monat
nachdem ich zum ersten Mal von seiner neuen Freundin gehört hatte, waren wir
drei miteinander verabredet.
Wir trafen uns an einem Mittwochabend in einer Bar in Maida Vale. Im Stillen
ärgerte ich mich darüber, dass ich überhaupt eingewilligt hatte, denn mit meinem
großen Finale war ich immer noch keinen Schritt weiter. Doch Jimmy ließ
keinen Zweifel daran, wie wichtig es ihm war, und mir fiel keine Ausrede ein, die
überzeugend genug war, um schon wieder abzusagen. Während wir auf Caro
warteten, leerten Jimmy und ich eine Flasche Wein. Sie habe enorm viel zu tun,
erklärte er und blickte auf sein Telefon, um zu sehen, ob sie sich inzwischen
gemeldet hatte. Zehn Minuten später kam sie herein. Ich wusste sofort, dass sie
es war. Ohne ein Wort und das Handy am Ohr drängelte sie sich an einer
Gruppe von Leuten vorbei, die auf einen Sitzplatz warteten. Sie hatte langes
rotes Haar, das sehr natürlich aussah, jedoch – wie ich später erfahren sollte –
gefärbt war. Trauen Sie niemals einer Frau mit rot gefärbtem Haar. Ihr Drang,
anders zu sein und sich interessant zu machen, beweist vor allem eins: dass sie
nichts davon ist. Caro trug eine cremefarbene Seidenbluse und eine weit
geschnittene Hose. Abgesehen von ihrem roten Lippenstift, wirkte sie
ungeschminkt. Und selbstverständlich war sie bildhübsch, hinreißend,
zauberhaft, bla, bla, bla. Was sie ganz genau wusste. Wie jede schöne Frau. Doch
weil sie keine engen Klamotten trug und auf Nagellack verzichtete, dachte Jimmy
vermutlich, dass ihre wahre Schönheit nur ihm auffiel. Männer halten einen
oberflächlichen Mangel an Eitelkeit immer für eine gewinnende Eigenschaft.
Dabei betreiben Frauen wie Caro genauso viel Aufwand um ihr
Erscheinungsbild wie die aufgedonnerten Mädchen, die samstagabends die
britischen Straßen bevölkern. Lediglich die Herangehensweise ist eine andere.
Ihre Attraktivität ist immer noch offensichtlich, trotzdem halten Männer sie für
subtiler. In ihren Augen ist weibliche Schönheit nur dann vollkommen, wenn die
Frauen so tun, als wüssten sie nicht, wie gut sie aussehen.
Na so was, jetzt habe ich doch noch kostbare Zeit verschwendet. Aber es kann
nichts schaden, eine bessere Vorstellung von ihr zu haben – und sei es nur, damit
ich mir in Anbetracht dessen, was letztendlich passieren sollte, zu meiner
Zurückhaltung gratulieren kann. Für ihr Alter – sie war jünger als Jimmy und
ich – hatte Caro schon erstaunlich viel erreicht. Sie war Anwältin, wie schon
erwähnt, und auf komplizierte Firmenübernahmen spezialisiert. Sie erklärte mir
ihren Job mit den Worten: »Wenn Nike versucht, Adidas zu kaufen, kann ich das
organisieren.« Ich hatte nicht um eine Erklärung gebeten. Ich glaube, diese
extrem herablassende Beschreibung markierte exakt den Augenblick, in dem mir
klar wurde, dass ich sie hasste. Sie versuchte weder, mich für sich einzunehmen,
noch rückte sie Jimmy auf die Pelle, um zu demonstrieren, dass er ihr gehörte –
was seine Leidenschaft nur noch weiter anfachte. Wir belauerten uns ein paar
Stunden, aber ich war nicht voll bei der Sache, denn ich kam einfach nicht
darüber weg, wie Jimmy sie anschmachtete. Wie viel nervöse Energie er
ausstrahlte. Wie verzweifelt er sich wünschte, dass Caro und ich uns gut
verstehen würden. Dass wir echte Freundinnen werden würden. Ich spürte, wie
ein beklemmendes Gefühl wachsender Unruhe in mir aufstieg, wie sich meine
Hand zum Hals hob und ich mich unbedingt kratzen wollte. Um dreiundzwanzig
Uhr, als Jimmy gerade von einem Familienurlaub erzählte, in dem wir auf einen
Berg klettern mussten, weil wir uns verlaufen hatten, legte Caro ihre Hand auf
seine, rieb die Hand zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger und
verkündete, dass sie nun ins Bett müsse. Damit war der Abend vorbei. Die
Rechnung wurde verlangt, und zwei Uber wurden gerufen, bevor Jimmy mich
mit einer ungestümen Umarmung verabschiedete, wohingegen Caro mich mit
einem in die Luft gehauchten Küsschen abfertigte. Ihr Wagen kam zuerst, und
als sie davonfuhren, starrte Caro auf das Display ihres Handys, ohne auch nur
einmal zurückzublicken. Keiner von beiden hatte ein weiteres Treffen
vorgeschlagen.
Ich wusste, dass ich dieses Spiel nicht gewinnen konnte. Jimmy war völlig
vernarrt in diese Frau, und jedes Anzeichen von Abneigung meinerseits hätte ihn
noch tiefer in ihre Arme getrieben. Ich habe mich schon immer gefragt, warum
Menschen so empfindlich auf Kritik an ihren Partnern reagieren. Wieso sollte ich
es ignorieren, wenn meine Mutter den Menschen an meiner Seite für leicht
daneben hält? Schließlich kennt sie mich, seit ich eine speckige kleine Heulboje
im Strampelanzug war. Ich würde doch wissen wollen, ob die Person, in die ich
mich verliebt habe, wie ein Monster wirkt. Und auch, warum. Und zwar ganz
genau. Gerne durch Diagramme veranschaulicht. Immer her mit den Infos!
Doch außer mir will das kein Mensch hören. Jimmy schien da keine Ausnahme
zu sein. Mir blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu
machen und darauf zu hoffen, dass Caro irgendwann gelangweilt sein würde. Sie
verhielt sich nicht gerade, als wäre sie ihm hoffnungslos verfallen. Eine Weile
klammerte ich mich an diesen Strohhalm.
Bald darauf raubte mir ein Abend bei den Latimers auch diese Hoffnung. Ich
war schon lange ausgezogen. Der Preis, den ich für meine Freiheit zahlte,
bestand darin, dass ich Sophie versprechen musste, mindestens zweimal im
Monat zum Essen zu kommen. Es war nicht meine Absicht, mich an dieses
Versprechen zu halten, warum auch? Nach meiner Erfahrung sind in
fünfundsiebzig Prozent der Fälle beide Parteien erleichtert, wenn Abmachungen
dieser Art über den Haufen geworfen werden – so ist das moderne Leben nun
mal. Allerdings hatte ich unterschätzt, wie groß Sophies Bedürfnis war, sich im
Leben ihrer Lieben unentbehrlich zu machen. Anfangs versuchte ich noch, die
Verabredungen abzusagen, indem ich Kopfschmerzen und Spätschichten
vorschob. Jedes Mal, wenn ich eine plausible Entschuldigung vorbrachte, die uns
beiden die Mühe erspart hätte, sprach sie mir ihr Mitgefühl aus und schlug
prompt einen anderen Termin vor. Sagte ich diesen dann ab, bot sie mir sofort
einen neuen an. Eigentlich legte sie gar keinen Wert auf meine Anwesenheit,
aber es machte einen guten Eindruck, wenn man weiterhin engen Kontakt zu
dem Waisenkind hielt, das man so selbstlos bei sich aufgenommen hatte. Mir
wurde schnell klar, dass ich besser damit fuhr, in den sauren Apfel zu beißen und
mir die Termine rauszusuchen, die mir gelegen kamen. Jahrelang waren das der
zweite und der letzte Sonntag im Monat. Immer bei den Latimers zu Hause. Und
jedes Mal kochte Sophie Gerichte aus einem ihrer Ottolenghi-Kochbücher. Fast
immer verlangten die Rezepte nach Gewürzen, die selbst Sophie nicht auftreiben
konnte, obwohl Lebensmittelläden auf sie einen ähnlichen Effekt hatten wie ein
Schaufenster voller Diamanten auf die meisten anderen Menschen. Häufig
schmeckte das Essen dann hauptsächlich nach Basilikum – das bekam sie in
jedem Supermarkt.
Der Sonntag, an dem ich schließlich realisierte, dass Caro längst Nägel mit
Köpfen machte, war insofern ungewöhnlich, als weder John noch Annabelle
anwesend waren – und Jimmy übrigens auch nicht. Normalerweise überließ ich
den anderen das Wort, wenn sie sich in sinnlosen Gesprächen darüber ergingen,
wie fürchterlich es doch war, dass die öffentliche Bibliothek dichtgemacht hatte
und nun endlich die wahren Opfer der Sparpolitik ans Licht kämen. Diese Art
von politischem Gerede bringt gar nichts, wird aber von einem bestimmten
Schlag Menschen beharrlich geführt. Sie müssen ein Problem nur ansprechen,
und schon sind sie der Überzeugung, etwas zu unternehmen. In den Jahren, die
ich bei den Latimers verbrachte, hat ganz sicher keiner von ihnen jemals eine
öffentliche Bibliothek betreten.
Sophie schien es nichts auszumachen, dass wir beide die Konversation nun
ganz allein bestreiten mussten. Sie fühlt sich in Gesprächssituationen niemals
unwohl. Sophie glaubt, dass sie immer etwas Interessantes beizusteuern hat, und
wie um alles in der Welt könnte sie sich, mit dieser Überzeugung gewappnet,
jemals unqualifiziert fühlen?
Während sie mir ein Glas Wein einschenkte und die alte Katze vom Sofa
schob, begann sie, von Caro zu schwärmen. »Ein reizendes Mädchen. Jimmy
meinte, du hast sie schon kennengelernt. Sie ist die Tochter von Anne Morton –
du weißt schon, die letzte Außenministerin – und Lionel Ferguson. Er schreibt
fabelhafte Bücher über das britische Empire. Wir kennen uns aus einem
Geburtsvorbereitungskurs, wenn auch nicht besonders gut. Ich war gerade mit
Annabelle schwanger. Wir hatten beide diese Kugelbäuche, und die gemeinsame
Abneigung gegen die schreckliche Voreingenommenheit der Kursleiterin
verband uns miteinander. Über die Jahre haben wir die Mortons gelegentlich auf
Partys gesehen. Anne wurde von ihrem Job natürlich sehr in Beschlag
genommen, und inzwischen waren sie nach Richmond gezogen. Ist es nicht
bemerkenswert, dass unser Junge jetzt ausgerechnet mit der kleinen Caro
zusammen ist?«
O Gott. Ja, natürlich. Ein Selbstbewusstsein, wie Caro es an den Tag legte, kam
nicht von irgendwoher. Ihr Vater hieß allen Ernstes LIONEL. Ihre Mutter war
Politikerin. Als wäre sie nicht schon privilegiert genug zur Welt gekommen, war
sie auch noch hinreißend schön und intelligent. Im Büro blätterte ich manchmal
durch die Klatschseiten des Tatler, meistens auf der Suche nach Berichten über
Bryony. Die Frauen auf den Fotos waren fast immer Töchter irgendwelcher
Dukes und Earls. Am meisten regte mich allerdings auf, dass sie außerdem auch
noch hübsch waren und endlos lange Beine hatten. Wie kann es sein, dass die
sozialen Eliten uns auch noch körperlich überlegen sind? Ich habe stets
angenommen, der Genpool dieser Leute wäre so klein, dass erblich bedingte
Schwächen quasi vorprogrammiert sind, aber nein – die Caros dieser Welt sind
auch noch strahlend schön. Die beruhigende Gewissheit, in der Geburtslotterie
das große Los gezogen zu haben, sieht man ihnen auf Schritt und Tritt an.
Sophie kam gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Caro hatte ihr letzte
Woche eine limitierte Ausgabe von Toni Morrisons Essays geschickt. Caro hatte
bei Jimmy für die Familie gekocht. Das Huhn war perfekt gewesen. Caro hatte
für das Frühjahr ein gemeinsames Wochenende in Frankreich vorgeschlagen. Ich
fuhr mit den Fingern über die Kratzspuren, die die boshafte alte Katze auf der
Sofalehne hinterlassen hatte, und nickte. Es hatte nicht den Anschein, als würde
Sophie eine Reaktion von mir erwarten. Und das, was ich beizutragen hatte,
hätte sie ohnehin nicht hören wollen.
»Das ist natürlich ziemlich früh. Aber John und ich waren auch erst ein paar
Monate zusammen, als wir in diese kleine Bude gezogen sind«, sagte sie und riss
mich damit aus meiner Lethargie. Wie bitte? In Gedanken spulte ich das
Gespräch zurück. Sie zogen zusammen! Seit ihrer ersten Begegnung
waren … ich zählte nach … wenig mehr als zwei Monate vergangen. Wie
verzweifelt muss man sein, um mit jemandem zusammenzuziehen, der nicht mal
zugibt, dass sein Lieblingsfilm Stirb langsam ist und nicht – wie er beim zweiten
Date behauptete – Il Postino. Ich glaube, Jimmy hat Il Postino gar nicht gesehen.
Vielleicht dachte er, es wäre ein Tarantino-Film.
Caro machte auf mich keinen verzweifelten Eindruck. Anders als so viele
erfolgreiche Frauen, die sich in Wahrheit nach einem guten Ehemann und der
Gelegenheit sehnen, sich stundenlang Farbmuster für die alte Vintage-
Kommode anzusehen, die sie gemeinsam gekauft haben. Warum hatte sie es so
eilig? Jimmy mochte sich zwar in sie verknallt haben, aber er hätte ihr niemals
vorgeschlagen zusammenzuziehen. Dafür fehlte ihm der Antrieb. Wenn alles
ruhig vor sich hin plätscherte, war das für ihn der Idealzustand.
»Natürlich bricht es mir das Herz, dass er zu ihr zieht – Clapham ist meilenweit
entfernt. Aber ich kann es verstehen: Ihre Wohnung ist fantastisch, und von dort
ist es nicht so weit zur Arbeit für sie.« Sophie hörte auf, in ihrem Risotto
herumzustochern, und lächelte mich an. »Du bist vermutlich etwas beunruhigt,
dass du ihn nicht mehr so häufig sehen kannst. Es wird Zeit, dass wir eine eigene
Caro für dich finden.«
Und ob ich beunruhigt war. Was ich gegenüber Sophie, die meine enge
Beziehung zu ihrem Sohn immer schon ein wenig nervös gemacht hatte,
natürlich keinesfalls zugeben wollte. Nicht, dass sie sich jemals offen dagegen
ausgesprochen hätte. Ich glaube, sie fand es einfach seltsam, dass ihr Sohn seine
gesamte Teenagerzeit mit einem Mädchen rumhing, ohne sich in sie zu
verlieben. Weder Sophie noch John haben alleinstehende Freunde vom anderen
Geschlecht – wenn sie zum Essen einladen, sind eigentlich immer nur Paare zu
Gast.
Ich habe immer noch den Verdacht, dass Sophie damals vor unseren Zimmern
gelauert hat, um irgendwann die Tür aufzureißen und uns nackt vorzufinden.
Doch es passierte nie. Wobei es vielleicht besser gewesen wäre, sie hätte es getan.
Vielleicht hätte sie die Beziehung zwischen Jimmy und mir dann ja verstanden.
Die Sache ist die: Jimmy war wahrscheinlich immer schon in mich verliebt.
Natürlich hat er es nie gesagt. Vermutlich ist er sich dessen nicht einmal bewusst.
Jimmy ist kein Mensch, der ständig in sich hineinschaut. Das ist einfach nicht
seine Art. Ich habe es dennoch immer gewusst. So etwas weiß man einfach.
Normalerweise würde eine Freundschaft daran scheitern – an irgendeinem
Punkt würde man es aussprechen, sich auf den anderen stürzen oder seinen
Gefühlen sonst irgendwie freien Lauf lassen. Nicht Jimmy. Er liebt mich heiß
und innig. Ich bin ein Teil von ihm. Trotzdem hat sich daraus nie etwas
Nennenswertes entwickelt. Na schön, einmal sind wir ins Wanken gekommen.
Wir waren schon so gut wie erwachsen, und ich wollte nicht, dass er sich ganz
von mir zurückzog. Meistens hielt ich mich jedoch zurück – ich deutete ihm
gegenüber weder an, da wäre mehr, noch ermutigte ich ihn, dieser Möglichkeit
nachzugehen. Keine tiefen Blicke, keine angetrunkenen Umarmungen, die
vielleicht einen Tick zu intensiv waren. Ich habe mich zusammengerissen und
meinen Freund behalten. Wenn wir uns darauf eingelassen hätten, die Tiefe
unserer Gefühle auszuloten, und es wäre zum Bruch zwischen uns gekommen,
dann wäre dieser Bruch irreparabel gewesen. Das wusste ich. Warum hätte ich
das alles für eine Beziehung ruinieren sollen, die so flüchtig gewesen wäre wie
alles andere in der Teenagerzeit? Ich hob es mir für später auf, weil ich hoffte,
irgendwann – wenn wir älter wären – daran anknüpfen zu können. Eines Tages,
wenn die Mission, die mein Leben bestimmte, abgeschlossen sein würde. Dieses
über lange Jahre gefestigte Band wäre dann eine solide Basis für eine sichere und
unkomplizierte Zukunft. Doch daran konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch
nicht denken. Nicht, solange es noch so viel zu tun gab. Bis dahin hatte ich mir
nicht einmal erlaubt, darin mehr als eine Option zu sehen, geschweige denn mir
die Einzelheiten dieses Lebens auszumalen. Es war nur eine vage Ahnung,
gleichzeitig war sie sehr präsent und ließ mich nie im Stich. Und jetzt wurde mir
klar, dass Caro alles zum Scheitern bringen würde. Egal, wie sehr man sich auch
bemüht, die Kontrolle zu behalten: Menschen wie Caro sind unberechenbar. Sie
haben Freude daran, in deine Welt einzudringen und sich alles zu nehmen, was
ihnen gefällt. Und das nicht einmal vorsätzlich, dein Verlust ist für sie bloß ein
hübscher Bonus. Ich war vielleicht imstande, unbarmherzig eine Reihe epischer
Racheakte auszuführen. Aber der Liebe stand ich völlig hilflos gegenüber. Ihr
fühlte ich mich nicht gewachsen, und das gab mir das Gefühl zu ertrinken.

Ich habe den Faden verloren. Meiner Mutter passierte das ständig, und es
machte mich jedes Mal rasend. Während ich mir ungeduldig den Arm kratzte
und hoffte, sie würde endlich zum Punkt kommen, mutierte die Schilderung
eines Supermarktbesuchs zur traurigen Geschichte einer Cafébesitzerin mit
Rückenproblemen. Niemand schert sich einen Dreck um die blöde
Cafébesitzerin, hätte ich am liebsten gesagt. Überleg dir lieber, wie wir die
Heizung in Gang bekommen, statt dich um wildfremde Menschen zu kümmern,
die nicht mal deinen Namen kennen.
Worauf ich damit eigentlich hinauswill, ist Folgendes: Über die
Herausforderungen, vor die Caro mich stellte, könnte ich ein ganzes Buch
schreiben. Allerdings habe ich wirklich Interessanteres zu erzählen, und
außerdem ist sie tot. Also habe ich gewonnen. Dachte ich zumindest. Denn Caro
hätte mich niemals so einfach gewinnen lassen.
Das sind die Fakten: Jimmy zog zu Caro nach Clapham. Kaum war er in ihre
Traumwohnung umgesiedelt, brach die Kommunikation zwischen uns
allmählich zusammen. Als Erstes mussten die langen nächtlichen Telefonate
dran glauben. Dann spontane Treffen auf einen Kaffee oder in dem Pub, den
wir besuchten, seit wir alt genug dafür waren. Denn lebt man nördlich der
Themse, könnte Clapham auch ein anderes Land sein. Die SMS-Chats rissen
zwar nicht komplett ab, aber dass sie so gut wie nie von ihm ausgingen, machte
mich traurig und wütend. Und es kam noch schlimmer: Sah ich Jim doch einmal,
lief es immer nach ihrer Nase. Zu den Verabredungen in der Kneipe tauchte sie
mit ihren Freundinnen im Schlepptau auf. Wenn ich bei den Latimers zum
Abendessen war, begrüßte sie mich an der Tür. Und bei ihren Partys machte sie
eine große Show daraus, mich unglaublich langweiligen Männern mit roten
Gesichtern und spießigen beigen Hosen vorzustellen, um sich dann sichtlich
amüsiert aus dem Staub zu machen.
Ich habe das alles hingenommen und mich nicht auf das Spiel eingelassen. Ich
hatte Wichtigeres zu tun: Ich bereitete mich auf das letzte Gefecht gegen den
Artemis-Clan vor und war schon frustriert genug, weil ich immer noch keinen
richtigen Plan hatte. Das würde ich nicht für eine gelangweilte, reiche Ziege aufs
Spiel setzen, die mich eifersüchtig und Jimmy zur Trophäe machen wollte.
Stattdessen beobachtete ich sie. Und ich lernte vier Dinge:

Caro hatte eine heftige Essstörung.


Caro hatte ein gar nicht so kleines Drogenproblem.
Caro geriet mit Jim aneinander, und manchmal wurde sie dabei handgreiflich.
Caro war schrecklich unglücklich.

Was für ein erbärmliches Klischee.


An ihrem Geburtstag hielt er um ihre Hand an. Ich will Jimmy nicht
unterstellen, dass es ihm an Spontaneität mangelt, aber Leuten, die ihren
Heiratsantrag vorsätzlich auf ein bedeutsames Datum legen, fehlt es gewöhnlich
an Fantasie. Ich kann mir keinen schlechteren Tag vorstellen, um auf die Knie zu
fallen, als ein Familienweihnachtsfest, an dem der Vater schon um elf Uhr den
ersten Cocktail in der Hand hat. Sophie war völlig aus dem Häuschen. Der
Antrag wurde mit einem Festessen gefeiert, bei dem selbst John übers ganze
Gesicht strahlte. Die Familie Morton war eingeladen, und bei Couscous und
einer Auswahl exquisiter italienischer Weißweine aus Lionels Keller lebte die alte
Freundschaft schnell wieder auf. Caro zeigte sich beherrscht wie immer, trug
einen Seidenoverall und präsentierte ihren Ring nur, wenn sie darum gebeten
wurde. Jimmy lächelte sie oft an. Doch er war still, blieb stets an ihrer Seite und
machte nur den Mund auf, wenn sie ihn etwas fragte.
Es gab einen lustigen Moment beim Mittagessen, als Caros Mutter sich
schockiert zum Tod von Bryony Artemis äußerte. Sofort steckten alle am Tisch
die Köpfe zusammen und tratschten wie die Waschweiber über eine junge Frau,
der sie nie begegnet waren, stellten Theorien über ihr Ableben auf und
echauffierten sich über ihre grässliche Familie.
»Ich habe gehört, er hat der Regierung fünfzigtausend Pfund gespendet, um in
den Adelsstand erhoben zu werden. Als ob wir im House of Lords noch mehr
solcher Höker bräuchten. Männer wie er machen das ganze System zum
Gespött.« Ich saß schweigend dabei, nippte an meinem Wein und amüsierte
mich über die Heuchelei dieser Leute, die immer vorgaben, sie wären sich zu fein
für Klatsch und Tratsch – und plötzlich waren sie so munter wie den ganzen Tag
noch nicht. Bei der anschließenden Diskussion über den neuesten Roman von
Ian McEwan ging es nicht annähernd so lebhaft zur Sache.
Zwei Tage nach diesem Essen machte ich einen folgenschweren Patzer.
Aufgrund der mangelnden Fortschritte bei meinem großen Plan und meiner
wachsenden Ohnmacht angesichts des Umstands, dass ich immer noch nicht
wusste, wie ich an Simon herankommen sollte, geriet ich so in Panik, dass ich
mich gehen ließ. Dummerweise hatte ich angenommen, mir bliebe etwas mehr
Zeit, mich um das Caro-Problem zu kümmern, doch da irrte ich mich gewaltig.
Ich bat Jim, sich in Southbank mit mir zu treffen. Ich hatte für uns beide Kaffee
geholt, und wir machten einen Spaziergang am Fluss. Er strich geistesabwesend
über die Sommersprossen auf meinem Arm – wie früher, als wir noch Teenager
waren und es uns nur im Doppelpack gab. Als mich dabei kein kalter Schauder
der Vorahnung erfasste, sondern ein warmes Gefühl der Vertrautheit. Er nannte
mich »Gray«, wie er es immer getan hatte, und neckte mich wegen meiner neuen
Schuhe.
»Ziemlich auffällig, Gray. Moderne Kunst gehört an die Wand und nicht an die
Füße.«
Ich erwiderte, dass er mit seinem neuen Seidenschal wie ein greiser italienischer
Graf aussah. Er war so clever, so zu tun, als würde ihn das treffen. Wir wussten
beide, dass Caro ihn ausgesucht hatte. Nach einer Weile erkundigte ich mich –
eher beiläufig – nach ihren Hochzeitsplänen. Er blieb vage, erzählte von Caros
Wunsch, das Dinner in einem privaten Klub abzuhalten, dem ihr Dad angehörte.
Er klang dabei nicht eben enthusiastisch. Ein kurzer Moment der Stille gab mir
den Anstoß, das Thema anzusprechen.
Ich sagte ihm, dass mir Caros Wutausbrüche Sorgen bereiteten und dass ich
beim großen Festessen die Kratzer an seinem Hals gesehen hätte. Ich versuchte,
ihm klarzumachen, dass seine Freundin ihn monopolisiert hatte, dass sie alles
ausradierte, was ihn auszeichnete, und dass ich die Heirat für keine gute Idee
hielt. Irgendwie hatte ich mir eingeredet, diese Schnapsidee wäre aufrichtig und
couragiert und Jimmy würde es zu schätzen wissen, dass ich ihm die Wahrheit
sagte. Er warf seinen Becher in einen Mülleimer, ging zum Geländer und blickte
auf den Fluss hinaus.
»Ich verstehe, dass du dich schwer damit tust«, erwiderte er dann. »Uns
verbindet eine sehr intensive Freundschaft, und das ist wundervoll. Du bist
meine Familie, mein bester Kumpel und so etwas wie meine
Ersatzfreundin … nehme ich an. Ich war lange überzeugt, wir beide wären
füreinander bestimmt. Aber du hast das nie zugelassen.« Ich muss wohl das
Gesicht verzogen haben, denn er wurde lauter. »Das hast du nicht, Grace! Um
dir ja nicht die Finger zu verbrennen, hast du unsere Beziehung immer auf
kleiner Flamme gehalten. Es gibt Menschen, die dich lieben, und du stößt sie
weg.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch. »Egal, du
hast es jedenfalls mehr als deutlich gemacht, und ich habe mich darauf
eingelassen, weil ich weiß, dass du gibst, was du kannst. Aber Caro will mehr. Ich
liebe Caro, und sie liebt mich. Und was du gerade tust, Grace, das kann ich nicht
erlauben. Ich kann es einfach nicht. Ich wusste, dass du es nicht schaffen
würdest, dich einfach für uns zu freuen. Mum hat mich gewarnt. Caro hat mich
gewarnt. Ich verstehe dich. Aber das heißt nicht, dass du so über sie reden
kannst.«
Dann sah er mich mit einem sanften Lächeln an und ergriff meine Hand. »Das
ändert nichts an unserer Freundschaft. Doch du musst der Wahrheit ins Gesicht
sehen. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Ich bin nicht dein Vater. Aber so ist
das Leben nun einmal.« Er umarmte mich und ging Richtung Waterloo. Ich
sagte kein Wort. Ich hasste mich dafür, dass ich so schwach war. Ich hasste es,
dass er recht hatte. Ich hasste es, dass ich klein beigegeben hatte. Ich hasste sie
alle.
Einen Monat später feierten Caro und Jimmy offiziell ihre Verlobung. In den
dazwischenliegenden Wochen hatten wir kaum Kontakt. Ich ging hin, weil ich
nun einmal eingeladen war. Und weil es für Spekulationen gesorgt hätte, wenn
ich nicht erschienen wäre. Außerdem hätte Caro dann auf die Idee kommen
können, ich wäre am Boden zerstört. Und das hätte sie zweifellos gefreut. Ich
trug einen flaschengrünen Samtanzug mit einem weißen Seiden-T-Shirt und
ignorierte das flaue Gefühl, das mich bei der Erinnerung an den Preis des Outfits
beschlich. Roter Lippenstift durfte nicht fehlen. Wenn wir uns rausputzen, dann
hauptsächlich für andere Frauen. Das ist ein banales Klischee, aber es ist wahr.
Caro würde verstehen, was ich ihr damit sagen wollte. Das machte die
Kreditkartenrechnung mehr als wett.
Ich traf um zweiundzwanzig Uhr ein. Vorher hatte ich in einer Bar um die Ecke
noch etwas getrunken, nachdem mir bewusst wurde, dass ich zu früh dran war.
Caros Partys gingen in der Regel erst um halb zehn los, und ich wollte meine
Zeit nicht damit verschwenden, nüchtern dem wiehernden Gelächter ihrer
Freunde zu lauschen. Die Wohnung befand sich im vierten Stock eines schicken
Altbaukomplexes mit Blick auf den Park. Das Haus war traumhaft, mit einer
Marmortreppe und einem schönen alten Aufzug mit Messinggittern. In der
Lobby und auf den Fluren ist mir nie jemand begegnet. So wohnen reiche Leute.
Reiche Leute, die auf der ganzen Welt Immobilien besitzen, die sie »Wohnsitze«
nennen. Überquellende Schubladen oder alte Fahrräder, die die Flure verstopfen,
sucht man dort vergeblich.
Die Party war schon in vollem Gange, als ich zur Tür hereinkam. In der Küche
standen einige von Jimmys Kumpels zusammen: alte Schulfreunde, die ich sehr
mochte, aber auch ein paar langweilige Ex-Kommilitonen. Die meisten Gäste
waren allerdings Freunde von Caro. Junge Frauen, krankhaft dünn, in gedeckten
Seidenkleidern. Sie alle hatten Reiche-Leute-Haare: fest, glänzend, lang. Das
sieht pflegeleicht aus, dabei kosten allein die Strähnchen fünfhundert Pfund. Die
Männer trugen alle die gleichen beigen Chinos und blauen Hemden. Vereinzelt
sah ich Slipper, doch die meisten hatten Sportschuhe an, um zu zeigen, was für
lockere Typen sie waren. Fast alle Gäste waren weiß. Die Musik war sehr laut,
obwohl niemand tanzte.
Ich nickte ein paar vertrauten Gesichtern zu, ging aber schnurstracks zum
Tisch mit den Getränken, nahm mir ein Glas Wein und verschwand dann auf
den Balkon. Ich bin noch nie gern auf Partys gegangen. Der viele Small Talk
raubt mir die Energie und lässt meinen ganzen Körper verkrampfen. Nicht, weil
ich schüchtern bin, sondern, weil es so langweilig ist, dass ich am liebsten sterben
würde. Wir verbringen so viel von unserer knapp bemessenen Lebenszeit damit,
mit schrecklichen Menschen über die Nichtigkeiten ihrer belanglosen Existenz
zu reden. Dafür fehlt mir jeder Enthusiasmus. Im Gefängnis ist es nicht besser.
Man könnte meinen, es gäbe weniger leeres Geschwätz. Im Gefängnis muss man
nicht über das Wetter, die Fahrt zur Arbeit oder das Referat des Kindes reden.
Doch im Gefängnis machen sich die Menschen noch kleiner als sonst und
versuchen verzweifelt, sich an die beruhigende Normalität zu klammern. Das
heißt, es wird über das Frühstücksangebot palavert oder über das
Fernsehprogramm diskutiert. Und anders als draußen kann ich mich dem nicht
entziehen.


Auf dem Balkon zünde ich mir eine Zigarette an. Mein Ziel ist es, wie Gwyneth
Paltrow eine pro Woche zu rauchen – da enden unsere Gemeinsamkeiten auch
schon. Rechts und links von mir stehen Menschen, die sich miteinander
unterhalten. Ich drehe mich zur Brüstung, damit keiner auf die Idee kommt, ich
wäre an einem Gespräch interessiert. Ein gewisser Archie fährt über Ostern mit
seiner neuen Freundin in den Skiurlaub, und eine Frau namens Laura tut so, als
fände sie das süß, verrät aber durch immer schrilleres Gurren, dass sie eigentlich
hofft, besagte Freundin würde den Berg hinunterstürzen. Rechts von mir erzählt
jemand, wie er in einer Bar an der King’s Road mal unserem grässlichen
Premierminister begegnet ist und dass er ihn für »einen echt witzigen Kerl« hält.
Sämtliche Gespräche werden unterbrochen, als Caro auf den Balkon hinaustritt.
Der winzige Körper ist in ein smaragdgrünes Hängerchen gehüllt, das keinen BH
erfordert (vornehme Mädchen brauchen keine BHs). Ihr Haar ist offen, und sie
ist barfuß. Das suggeriert eine ganz besondere Nonchalance. Als würde sie ihre
Ferien gewöhnlich in Villen verbringen, wo Hausangestellte rund um die Uhr
den Boden wischen und regelmäßig jemand für die Pediküre kommt.
Caro stellt sich zu der Gruppe neben mir und wird überschwänglich
empfangen. Von allen Seiten bekommt sie Kippen oder Wein angeboten. Sie
sieht mich und ergreift meinen Arm.
»Hallo, Darling. Schön, dass du es einrichten konntest. Wie ich sehe, hast du
was zu trinken. Jimmy ist schon in Panik, dass die Gläser nicht reichen. Er ist
drinnen und freut sich bestimmt riesig, dich zu sehen – na, geh schon zu ihm. Er
wird so erleichtert sein, dass alles … in Ordnung ist.« Die Andeutung eines
Lächelns umspielt ihre Lippen, und eine Augenbraue hebt sich ganz leicht, als sie
mich ansieht. Er hat es ihr erzählt. Natürlich.
Ich gehe wieder rein. Nicht, um mit Jim zu reden, sondern um von Archie,
Laura und einem Typen namens Phillip wegzukommen, der gerade lautstark
vorschlägt, jemand solle das Koks auspacken. Peinlicher geht’s nicht. Offenbar
ist der Idiot in den Achtzigern hängen geblieben.
Ich finde Jimmy auf dem Sofa, wo er sich mit einer netten Kollegin namens Iris
unterhält. Er begrüßt mich mit einer innigen Umarmung. Ich weiß, dass er
entschlossen ist, unser Gespräch zu vergessen. Gleichzeitig will er mich spüren
lassen, wie sehr er sich dasselbe von mir wünscht. Also erfülle ich ihm den
Wunsch. Er klopft mir auf die Schulter und grinst vor Erleichterung, dass
zwischen uns wieder alles in Butter ist. Die Wohnung füllt sich zusehends, und
es wird reichlich getrunken. Irgendwann ist nur noch der Chardonnay aus dem
Supermarkt übrig, und ich steige auf Wodka um. Um ein Uhr sind die meisten
Leute nicht nur betrunken, sondern high. Ich nehme keine Drogen –
Kontrollverlust ist nicht mein Ding – und bekomme auch nie welche
angeboten. Doch ich erkenne die Anzeichen, die glasigen Pupillen, das Mahlen
der Kiefer, die völlig beknackten Gespräche. Caro wiegt sich in der Mitte des
Raumes und reibt sich den Arm. Jim geht zu ihr hinüber und ergreift ihre Hand.
Sie weicht abrupt zurück, sagt etwas und wendet sich ab. Er versucht es erneut,
und sie schubst ihn weg. Nicht heftig, eher fahrig, aber für jeden sichtbar.
»Wie wäre es mit einem kleinen Muntermacher, Leute? Sonst macht ihr mir
noch schlapp«, ruft sie in die Runde und verschwindet in der Küche. Um Jimmy
zu zeigen, dass ich da bin, wenn er mich braucht, werfe ich ihm einen Blick zu
und verziehe dabei vielleicht ein klein wenig das Gesicht, weil ich wieder mal
feststellen muss, dass seine Verlobte ein Albtraum ist. Doch er sieht mich nur
verärgert an und setzt sich. Als Caro mit einem Silbertablett voller Schnapsgläser
aus der Küche kommt, scharen sich die Gäste um sie.
»Auf meinen Verlobten«, ruft sie, trinkt ihr Glas in einem Zug aus und schlingt
den Arm um die Brünette neben ihr. Jimmy bietet sie keinen Schnaps an. Ich
spüre, wie die Wut in mir aufsteigt, weil sie so ein Miststück ist und weil Jimmy
nichts dagegen unternimmt. Jemand hat einen Kuchen mitgebracht und über das
dringende Bedürfnis, sich zu betrinken, offenbar vergessen, ihn anzuschneiden.
Ich greife zum Messer und schneide die mit einer dicken Schokoladenganache
überzogene Torte, auf der in pinkfarbenem Zuckerguss die Buchstaben C und J
prangen, in mehrere grobe Stücke. Dann lege ich eins auf eine Serviette und halte
es Caro entgegen.
»Hier, nimm ein Stück Kuchen, Caro. Ich weiß, dass du so was normalerweise
nicht isst, aber du musst bei Kräften bleiben. Du willst doch nicht deinen
berüchtigten rechten Haken verlieren.« Aus dem Grüppchen auf der Schwelle
zum Balkon ertönt Gekicher. Caro starrt mich mit wutverzerrtem Gesicht an
und stakst davon. Jimmy, der zu weit weg ist, um zu hören, was ich gesagt habe,
kommt zielstrebig auf mich zu und zerrt mich in die Toilette.
»Was soll das?«, zischt er. »Willst du dich auf unserer Verlobungsfeier mit ihr
streiten? Ich habe wirklich gehofft, dass du wenigstens versuchst, dich für uns zu
freuen.«
»Wie könnte ich das, wenn du vorhast, eine Narzisstin zu heiraten, die dich
offensichtlich nicht leiden kann?«, entgegne ich. »Ich will dich respektieren und
nicht hilflos mit ansehen müssen, wie du dich in dein Unglück stürzt. Warum
verlangst du von mir, dass ich nett und freundlich bin, aber von Caro nicht?« Ich
dränge mich an ihm und der Schlange von Leuten vorbei, die darauf warten, dass
die Toilette frei wird.
Die Party hat jetzt gewaltig an Fahrt aufgenommen, alles wirkt überdreht und
überzogen. Dies ist keine ausgelassene Huldigung der Liebe. Wir sind nicht hier,
um zu feiern, dass sich zwei Menschen gefunden haben. Wir sind hier, um Caro
zu umschwärmen, wie die Motten das Licht. Ich will gehen, aber ich kann Jimmy
nicht mit seiner betrunkenen Verlobten und einem Haufen Leute zurücklassen,
die wahrscheinlich nicht einmal seinen vollen Namen kennen. Ich hocke in einer
Ecke des Wohnzimmers – nicht völlig abgesondert, sondern immer so, dass man
denken könnte, ich würde irgendwo dazugehören – und gebe vor, ich würde
meine E-Mails checken. Ich halte mich nicht an mein selbst auferlegtes Limit
und rauche weitere Zigaretten. Schließlich lichtet sich die Party. Ein Gast nach
dem anderen taumelt ins Schlafzimmer, um seinen Mantel zu holen, obwohl
Caro versucht, jeden einzelnen zum Bleiben zu überreden. Sie folgt ihrem
eigenen Tempo, ihr kleiner Körper kann nicht still halten. Jimmy hat keinen
weiteren Versuch unternommen, sie anzusprechen, und mich sieht er nicht
einmal an. Schließlich, um drei Uhr früh, ist außer uns dreien nur noch eine Frau
in der Wohnung. Sie ist in ein ernstes Gespräch mit Jimmy vertieft, und da Caro
die Musik noch lauter gedreht hat, verstehe ich nur einzelne Worte: »… Sorgen.«
»… gegessen?« »Schon wieder …« Beiden scheint diese Seite von Caro nicht
unbekannt zu sein, und ich habe den Eindruck, dass sie auf die richtige
Gelegenheit warten, um sie dazu zu bewegen, ins Bett zu gehen. Aber Caro ist in
ihrer eigenen Welt. Sie wechselt etwa jede Minute den Song, gießt sich noch
einen Drink ein, betäubt sich. Ich beobachte sie und überlege, ob ich ein Taxi
rufen soll, damit die beiden anderen sich in Ruhe um sie kümmern können.
Dann hört sie plötzlich auf zu tanzen und sieht mich an.
»Hast du was zu rauchen dabei? Ich brauche eine Kippe. Es ist so heiß hier
drin.« Jimmy steht auf, wohl um vorzuschlagen, dass wir für heute Schluss
machen, doch sie lässt ihn nicht ausreden. »Ich komme mit«, sage ich zu ihr und
hole meine Zigaretten raus. Jetzt sieht Jimmy mich an.
»Schon in Ordnung. Bleib hier. Ich kümmere mich darum«, beruhige ich ihn
und verschwinde mit ihr Richtung Balkon.
Caro stolpert nach draußen und lehnt sich gegen die Brüstung. Ich zünde ihr
eine Zigarette an, bevor ich mir selbst eine anstecke. Als ich so vor ihr stehe, fällt
mir wieder auf, wie klein und dünn sie wirkt.
»Du benimmst dich wie eine Verrückte«, sage ich zu ihr, während ich an meiner
Kippe ziehe. Sie sieht mich nicht an. »Du hast diesen Abend in einen Albtraum
verwandelt. Du musst wirklich unglücklich sein, um dich so zu benehmen.
Warum heiratest du Jim? Mach Schluss und such dir einen reichen Erben, der
dich nach Herzenslust hungern lässt, solange du an seinem Arm eine gute Figur
abgibst. Das wird alles viel einfacher machen. Du wirst dabei glücklicher sein,
Jim geht nicht allmählich zugrunde, und ich muss nicht mehr so tun, als würde
ich dich akzeptieren. Komm schon, Caro … du weißt, dass ich recht habe.«
Sie zieht sich auf die Balkonbrüstung, schwingt ein Bein hinüber, sodass sie
rittlings darauf sitzt, und wirft lachend den Kopf in den Nacken. So natürlich
war sie den ganzen Abend noch nicht. Sie hustet, macht sich gerade und streicht
sich das Haar hinters Ohr.
»Du bist so dumm«, lallt sie. »Du bist SO dumm. Ich will keinen Trottel mit
einem Treuhandfonds heiraten. Schon klar, das ist genau das, was ich tun sollte,
aber dann würde ich vor Langeweile sterben. Jimmy ist ein netter Kerl, und er
betet mich an. Ich will ihn heiraten und nicht so einen verstaubten Banker, der
mich wie Dreck behandelt und bei jeder Gelegenheit seine Sekretärin fickt. Ich
will Jimmy.«
Ich verdrehe die Augen. »So ein Klischee, Caro. Wäre eine Therapie nicht
billiger gewesen? Wenigstens könnte sie dir bei manchen deiner anderen
Probleme helfen. Die werden nicht verschwinden, egal wie sehr Jim dir helfen
will. Warum musst du ihn auch noch kaputtmachen?«
Das ist sinnlos, denke ich. Sie hasst mich. Wir versuchen, uns gegenseitig mit
Worten zu verletzen, aber keiner von uns beiden wird es gelingen, der anderen
den Todesstoß zu versetzen. Caros Pupillen sind riesig und schwarz, ihr Blick
durchbohrt mich.
»Ach, lass gut sein, Mrs. Weiblich-ledig-jung-sucht. Dich hat niemand um deine
Meinung gebeten. Kommst extra ganz in Grün, um mir auf meiner eigenen
Verlobungsparty die Schau zu stehlen. Herrgott, eigentlich sollte ich auf deine
Eifersucht und deine Wahnvorstellungen überhaupt keine Rücksicht nehmen
müssen. Wir sind alle kaputt, Grace, gerade du müsstest das wissen. Aber Jim
und ich sind erwachsene Menschen. Wir werden uns schon arrangieren. Ich
verdiene das Geld, er ist ein anständiger Kerl, und wir werden ein schönes Leben
haben. Ein normales Leben. Es soll einfach nur normal sein. Jimmy ist kein
Lionel, der niemals da ist, niemals liebevoll ist und sich nur für die verzweifelte
Suche nach dem nächsten großen Ding interessiert.« Sie zieht an ihrer Zigarette.
»Alles wird einfach fantastisch sein. Doch es wird immer klarer, dass du unserem
Glück IM WEG STEHST.« Die letzten drei Worte betont sie und sieht mich
dabei an. Jetzt lacht sie nicht mehr. »Jimmy liebt dich wie eine schräge Mischung
aus Schwester und Ehefrau. Du bist immer zugegen, aber nie zu haben. Du
gehörst zur Familie und doch wieder nicht – nicht richtig. Warum hast du dich
mit achtzehn nicht einfach aus dem Staub gemacht? Hast du den Wink mit dem
Zaunpfahl nicht kapiert? Eine erwachsene junge Frau mit einem langweiligen
Job taugt nicht so gut zum Aushängeschild wie ein Waisenkind. Du bist nutzlos.«
Sie schreit jetzt fast und rudert dabei mit ihrer Zigarette in der Luft herum. Ich
balle die Fäuste und spüre erneut diesen Drang, mich am Hals zu kratzen. Ich
mache einen Schritt auf sie zu. Sie lehnt sich zurück, und ihre Augen weiten sich
ein ganz kleines bisschen. Mein Kopf droht zu platzen, und als ich spüre, wie das
Adrenalin meinen Körper flutet, atme ich tief durch. Aber es hilft nichts.


Was hätte ich in diesem Moment anders machen können? Hätte ich ihr einen
Stoß geben und sie rücklings vom Balkon schubsen sollen? Hätte ich nach ihrem
Fuß greifen sollen, als sie fiel, während ich noch versuchte, meine aufsteigende
Wut zu kontrollieren … alles innerhalb eines Sekundenbruchteils? Oder hätte ich
ihre Gemeinheit mit genauso brutalen Worten kontern sollen, um sie in die
Schranken zu weisen? Diese Fragen habe ich mir unzählige Male gestellt. Wie in
einem Adventure-Game, wo jede Entscheidung über den Weg, den man
einschlägt, zu einem völlig anderen Ausgang führt. In den Szenarien, die ich
durchgespielt habe, reagierte ich weniger impulsiv und mit etwas mehr Klasse. In
Wirklichkeit habe ich gar nichts getan. Caro stürzte völlig ohne mein Zutun vom
Balkon, und ihr zierlicher kleiner Körper war nicht in der Lage, ihren Aufprall zu
dämpfen. Sie war sofort tot. Wie ich schon sagte: Ich habe gewonnen. Allerdings
währte dieser Sieg nicht lange.
kapitel 11

George Thorpe geht detailliert auf jede Entwicklung ein, die für meine Berufung
relevant sein könnte, und ich quittiere alle seine Ausführungen mit einem
stummen Nicken. Er ist überaus akribisch. Das muss ich ihm lassen. So
akribisch, dass ich mir im Stillen wünsche, er würde sich beeilen und sich auf das
Nötigste beschränken. Der Mann denkt offenbar, er müsse jeden Aspekt des
Falls beleuchten, bevor er endlich auf den Teil zu sprechen kommt, der mich
hoffentlich hier rausbefördert. Kann es wirklich sein, dass mich das Unrecht, das
mir widerfahren ist, langweilt? Obwohl ich deswegen im Gefängnis sitze?
Schließlich schneidet ihm ein lautes Summen das Wort ab und kündigt das
Ende der Besuchszeit an. Thorpe muss gehen. Wir anderen werden schweigend
zurück in unsere Zellen geführt. Ich würde mir gerne notieren, was er gesagt hat,
um es dann in Ruhe zu rekapitulieren, aber im Gefängnis spielt es keine Rolle, ob
du alleine sein möchtest. Klar, man kann sich hier drin schrecklich alleine fühlen,
aber man ist es so gut wie nie. In meinem Fall schon deshalb, weil Kelly immer
in der Nähe ist. Diesmal sitzt sie auf meiner Pritsche, als ich zurückkomme.
Obwohl ich kein religiöser Mensch bin, beschleicht mich manchmal der
Gedanke, dass sie von einem rachsüchtigen Gott geschickt wurde, um mich in
den Wahnsinn zu treiben. Wenn im Himmel tatsächlich ein allmächtiges Wesen
residiert, dann muss man ihm wohl gratulieren, in Gestalt von Kelly McIntosh
eine angemessene Strafe für meine Taten gefunden zu haben. Über ihre Füße
gebeugt, ist sie in ihre Pediküre vertieft. Auf der Matratze liegen abgeschnittene
Zehennägel.
»Was geht?«, ruft sie mir entgegen, ohne den Blick von der Nagelfeile zu lösen.
»Wie lief’s mit dem Rechtsverdreher?«
Soweit ich weiß, hat Kelly ihr Urteil niemals angefochten, sich einen Anwalt
genommen oder auch nur behauptet, sie sei unschuldig, wie so viele andere
meiner Mitgefangenen. Als würde das hier, wo sich alle mit dem eigenen
Schicksal arrangieren müssen, irgendjemanden interessieren. Das ist, als würden
andere Leute einem von ihren Kindern oder ihren gesundheitlichen Problemen
erzählen. Kelly ist nicht zum ersten Mal im Knast. Diesmal ist sie hier, weil sie
Männer mit Sexfotos erpresst hat. Als sie jünger war, saß sie ein, weil sie auf der
Caledonian Road Leute ausgeraubt hat. Sie behauptet gerne, dass die
Kriminalitätsrate in Islington und Angel nach ihrer Verhaftung um achtzig
Prozent gesunken sei. Kelly ist keine Freundin von Veränderungen. Sie sieht
einfach nicht ein, warum sie einen bewährten Modus Operandi wechseln sollte,
und ignoriert dabei fröhlich ihre wiederholten Ausflüge in den Strafvollzug.
Allerdings würde sie den Begriff »Modus Operandi« niemals benutzen, da sie ihn
zweifellos für den Titel einer südamerikanischen Telenovela hält.
»Ach, wie üblich«, antworte ich und starre betont angewidert auf das
Zehennagelmassaker auf meinem Bett. Doch an Kelly prallt alles ab. Man kann
sie nicht beschämen, provozieren oder in Verlegenheit bringen. Ein Psychologe
könnte Stunden mit ihr verbringen, um anschließend widerstrebend einräumen
zu müssen, dass in den Tiefen der menschlichen Psyche nicht immer etwas
versteckt ist. Manche Menschen haben ein etwas seichteres Unterbewusstsein als
andere. Das von Kelly ist so flach wie ein Planschbecken.
»Also, kommst du jetzt raus oder was? Hat dein Anwalt gefunden, was er
gesucht hat? Du brauchst bestimmt ’nen Zeugen, oder? Spricht dein Kumpel
immer noch nicht mit dir?« Kellys Interesse irritiert mich. Ich bin mir sicher,
dass sie sich mit meinem Fall beschäftigt hat. Obwohl ich ihr so gut wie nichts
erzähle, verraten ihre Fragen, dass sie mehr weiß, als sie sollte. Die Daily Mail
hatte für meinen Prozess Vollzeit einen Reporter abgestellt – die Story lässt sich
also jederzeit nachlesen. Dass manche dadurch erst auf den Geschmack
kommen und mehr wissen wollen, war zu erwarten. Aber ich möchte nicht, dass
irgendjemand hier etwas aufschnappt, um es dann auszuschmücken und dem
nächstbesten Journalisten unter die Nase zu reiben. Wenn ich rauskomme, will
ich in mein altes Leben zurückkehren. Oder vielmehr in das Leben, das ich für
mich geplant hatte, bevor mich diese ärgerliche Angelegenheit aus dem Tritt
brachte.
Ich gebe Kelly eine vage Zusammenfassung meines Treffens: dass wir auf eine
baldige Entscheidung hoffen und dass ich zuversichtlich bin, was den Ausgang
meiner Berufung angeht. Als ich das Laken ausschüttele und – in der
verzweifelten Hoffnung, dass ihre Füße es verschont haben – das Kopfkissen
glatt streiche, setzt Kelly sich wie ein kleines Mädchen auf den Boden.
»Ist es nicht verrückt«, sagt sie und lackiert ihre Zehennägel in einem grellen
Korallenrot, »dass ich so viel üble Scheiße angestellt habe, aber niemand kennt
meinen Namen, während du so ’ne Art Promi bist, wegen einer Sache, die du
nicht mal getan hast?«
Offenbar ist sie verärgert, dass ich so viele Menschen fasziniere, obwohl ich
diese fragwürdige Aufmerksamkeit gar nicht verdiene. Als würde mir dieser
Umstand einen Werbevertrag für ein Haarpflegeprodukt verschaffen und mich
geradewegs in eine Fernsehshow wie Let’s Dance oder in eine Fotostory des OK!-
Magazins katapultieren, wo ich mich dann tränenreich über meinen Leidensweg
auslasse. Da ich mit dieser Frau seit Monaten auf engstem Raum lebe, weiß ich,
dass es sich dabei exakt um ihren Lebenstraum handelt.
Frauen wie sie gibt es wie Sand am Meer. Sie wird es nie auf die Titelseiten der
Klatschmagazine schaffen, weil ihre Geschichte nicht schlüpfrig genug ist.
Sicher, Kelly ist nicht unattraktiv, und ihre Taten haben einen sexuellen Aspekt,
aber sich nach einem schweren Start ins Leben mit Gaunereien durchzuschlagen,
ist nichts Besonderes. Nell Gwyn hat das schon vor Jahrhunderten gemacht, und
zwar mit mehr Stil, als Kelly jemals haben wird.
»Ich hatte wohl einfach Glück«, antworte ich und verdrehe dabei die Augen.
»Hast du denn vorher nie etwas Kriminelles getan? Nicht einmal
Ladendiebstahl? Wir haben ständig geklaut. Am liebsten bei Sassy Girl um die
Ecke. Ich habe haufenweise Zeug in meine Jogginghose gesteckt und es
samstags auf dem Flohmarkt verkauft. Meine Mum konnte gar nicht glauben,
wie fleißig ich mein Taschengeld sparte. Später wurde der Laden total spießig
und machte Sicherungsetiketten an die Klamotten. Da mussten wir uns was
anderes suchen.« Die Erinnerung zaubert ihr ein breites Grinsen ins Gesicht, als
wäre es eine Heile-Welt-Geschichte von Enid Blyton. Ich erwidere ihr Lächeln.
Das kann ich inzwischen ziemlich überzeugend. Ein falsches Lächeln erfordert
Übung, wenn die Augen mitspielen sollen. Die Gesichtsmuskeln scheinen zu
spüren, dass man sie zu einer Gefühlsäußerung zwingen will, von der sie nicht
überzeugt sind. Und sarkastisch darf es natürlich auch nicht wirken, das ist bei
einem künstlichen Lächeln nämlich häufig der Fall.
»Nö«, sage ich. »Eigentlich nicht. Ich war immer eher langweilig.«
Ich weiß, das ist nur ein Zufall. Mir ist klar, dass sie Sassy Girl nur erwähnt, weil
es an jeder Einkaufsstraße eine Filiale gibt. Sie hat ganz bestimmt keine Ahnung,
dass Simon Artemis mein Vater ist. Sie weiß vermutlich nicht einmal, wer Simon
Artemis ist. Und sie weiß schon gar nicht, dass ihm der Laden gehörte, den sie
beklaut hat, um anschließend die Beute zu verhökern. Ich sehe Kelly an, doch sie
hat schon wieder das Interesse verloren und ist voll und ganz mit dem Finish
ihrer frisch lackierten Zehennägel beschäftigt. Ich schnappe mir meinen
Schreibblock und mache mich auf den Weg zum Computerraum, um mir dort in
Ruhe ein paar Anmerkungen zu meinem Treffen mit Thorpe zu notieren. Meine
Finger kratzen allerdings schon wieder nervös an meinem Hals. Ich mag keine
Zufälle.


Im sogenannten Computerraum suche ich mir einen freien Platz möglichst weit
von den anderen Besuchern entfernt. Hier gibt es drei klobige Monitore, die
aussehen, als hätte die Herstellerfirma, die schon lange nicht mehr existiert, sie
irgendwann in den Achtzigern gestiftet. Angeblich lassen immer mehr
Gefängnisse Computer auch in den Zellen zu, aber Limehouse scheint ganz
unten auf der Liste der Anstalten zu stehen, denen solche Privilegien
zuteilwerden. Dafür werden hier Computerkurse angeboten. Als ob
irgendjemand lernen möchte, wie man E-Mails verschickt und ein Word-
Dokument erstellt, wenn die meisten von uns diesen Raum nur aufsuchen, um
den Ex und seine Neue aus der Personalabteilung auf Facebook zu stalken.
Stichpunktweise schreibe ich mir alles auf, was mein Anwalt gesagt hat, und
gehe es so oft durch, bis ich es komplett verinnerlicht habe. Ist das nicht absurd?
Alles, was ich in den letzten Jahren getan habe, all die Pläne, all der Tod, all die
Arbeit und Zeit, die ich investiert hatte, um mein ganzes Leben auf ein Ziel
auszurichten – und dann das.
Sie stürzt, und ich werde verhaftet, angeklagt und wegen Mordes verurteilt. Sie
stürzt, weil sie ein betrunkenes, bulimisches Nervenwrack ist, und ich lande hier,
wo ich einen schäbigen Trainingsanzug tragen und einem Mann mit
Schildpattbrille ein Vermögen zahlen muss, damit er meine Unschuld beweist.
Wie soll man einen Vorwurf widerlegen, wenn man selbst der einzige Zeuge ist?
Caro wird niemals erzählen können, was in dieser Nacht wirklich geschah, und
vermutlich würde sie es selbst dann nicht tun, wenn sie könnte. Sie hätte ihren
Spaß daran.
Ich habe den Tod aus nächster Nähe erlebt, wenn Sie mir diese perverse
Prahlerei vergeben. Das Sterben mit anzusehen, führt bei vielen Menschen dazu,
dass sie panisch werden, regelrecht durchdrehen: Sie schreien, heulen, fallen in
Ohnmacht und rennen im Kreis herum. Glücklicherweise hatte es auf mich nie
diesen Effekt. Weil ich immer wusste, was auf mich zukam? Nur bei Caro, da
geschah es für mich völlig unerwartet. Sicher, sie schwankte, aber ich hätte nie
damit gerechnet, dass sie wirklich fallen würde. Betrunken vom Balkon fallen –
das macht man in Magaluf, aber doch nicht in Clapham. Außerdem geschah es
urplötzlich … und in völliger Stille. Kein Aufschrei, nichts. Nicht einmal eine
ausgestreckte Hand, nach der man greifen konnte, so wie im Kino. Eben war sie
noch da und im nächsten Augenblick schon nicht mehr. Wäre ich dabei nicht
wenige Zentimeter von ihr entfernt gewesen – ich hätte es selbst nicht geglaubt.
Also geriet ich in Panik. Die Distanz, mit der ich dem Tod gewöhnlich
beiwohne, war wie weggefegt, und mir wurde schwummrig im Kopf. Ich sank
auf die Knie, klammerte mich an die steinernen Streben der Brüstung und starrte
hindurch, um sie irgendwo zu entdecken. Doch alles, was ich sah, war die
akkurat getrimmte Hecke, die sich um den Wohnblock herumzog. Ich habe nicht
nach Hilfe geschrien und bin auch nicht losgerannt, um jemanden zu holen. Ich
bemerkte nicht einmal das Smartphone in meiner Hand. Niemand weiß, wie
lange ich dort saß, doch es können nicht mehr als ein paar Minuten gewesen
sein. Jimmy sagte den Polizisten, er habe nachgeschaut, wo wir blieben, weil die
Zeit, die es gebraucht hätte, um eine Zigarette zu rauchen, schon längst vorbei
gewesen sei. Er sagte ihnen auch, dass ich Caro gehasst hätte. Jimmy sagte ihnen
so einiges.


Ich hörte Schritte und blickte auf. Er stand in der Balkontür. Schlagartig wurde
mir bewusst, was passiert war.
»Wo ist Caro? Grace?«
Ich deutete auf die Brüstung, und er beugte sich hinüber. Keine Ahnung,
welcher Anblick sich ihm bot. Ich hatte ja selbst nichts gesehen. Und als mir an
diesem Morgen erlaubt wurde, die Wohnung zu verlassen, war sie
verschwunden. Aber Jimmy hat sie gesehen. Er hat nicht geschrien, nicht
gestöhnt, nicht einmal so einen gutturalen Klagelaut von sich gegeben, wie man
es sich vielleicht vorstellen würde. Er ging in die Hocke, ergriff meine Hände
und zerrte daran, als ob er mir die Arme abreißen wollte.
»Was hast du getan?«, flüsterte er. Schock und Verwirrung standen ihm ins
Gesicht geschrieben. »Was zum Teufel HAST DU GETAN?«
Ich starrte ihn nur wortlos an. Er stand auf und taumelte polternd durch die
Balkontür. Dann hörte ich, wie die Wohnungstür zuschlug. Die junge Frau,
deren Gesicht ich komplett vergessen habe, musste den Notruf gewählt haben.
Als die Polizei mit heulenden Sirenen vorfuhr, kauerte ich noch immer auf dem
Balkon. Drei Beamte betraten das Haus. Dem Streifenwagen folgte eine
Ambulanz, was mir ziemlich grotesk erschien. Wie ein Triumph der Hoffnung
über die Erfahrung. Caro war schließlich tot, nicht wahr? Was für ein Spektakel.
Mir wurde auf die Füße geholfen. Dann bekam ich eine Decke, wurde ins
Wohnzimmer geführt und dort der Obhut einer Beamtin anvertraut, die darauf
bestand, dass ich einen Schluck Wasser trank. Sie stellte sich als Asha vor und
erklärte mir, ich hätte einen Schock. Auch das erschien mir grotesk. Schließlich
hatte ich Caro nicht leiden können, und dieser Vorfall löste ein großes Problem
für mich. Außerdem hatte ich überhaupt nichts gesehen. Doch im Nachhinein
muss ich ihr wohl recht geben: Mir war fürchterlich kalt, ich zitterte am ganzen
Körper und musste alle fünfzehn Minuten pinkeln. Jimmy kehrte nicht mehr
zurück, und ich fragte immer wieder, wo er sei. Caros Freundin war ebenfalls
verschwunden. Asha bestand darauf, dass ich in meiner Verfassung nicht nach
den beiden suchen könne, und ich war zu erschöpft, um ihr zu widersprechen.
In Gedanken spielte ich immer wieder den Moment von Caros lautlosem Sturz
durch. Wie nahe war ich ihr gekommen? Hatte ich ihr Angst gemacht? Hätte ich
irgendwas tun können?
Je mehr Details ich mir ins Gedächtnis rief, desto mehr entspannte sich mein
Körper, und ich spürte, wie die Panik nachließ. Indem ich die Ereigniskette
rekonstruierte, gewann ich die Kontrolle zurück. Es war akzeptabel, für einen
Moment in Panik zu verfallen. Schließlich passiert es nicht jeden Tag, dass man
jemandem den Tod wünscht und diese Person dann tatsächlich stirbt. Doch
alles, was über diesen einen Moment hinausging, war nachlässig und potenziell
gefährlich. Obwohl es sich bei dem Sturz offensichtlich um einen Unfall
handelte, würde ich Fragen beantworten müssen. Ich würde ins Visier der Polizei
geraten, und das konnte katastrophale Folgen haben. Ich musste mich
zusammenreißen, um diese Situation nicht noch schlimmer zu machen, als sie
bereits war.
Ich hatte mich aufgewärmt, mir meine Aussage zurechtgelegt und war wieder
völlig nüchtern, als sich ein Beamter zu mir setzte, der sich als Detective Greg
Barker vorstellte, es aber offenbar nicht für nötig hielt, sich nach meinem
Namen zu erkundigen. Er sprach mich sofort mit Grace an, als er auf dem
blauen Samtsofa Platz nahm und dabei ein Paar gelber Socken entblößte. Bei
genauem Hinsehen erwiesen sich die bunten Flecken darauf als kleine Hotdogs.
Ich hoffe, seine Kinder haben sie ihm zum Vatertag geschenkt. Ich hoffe, dass er
sie in der Dunkelheit aus Versehen angezogen hat. Für einen erwachsenen Mann
gibt es keine Entschuldigung dafür, witzige Motivsocken zu tragen. Schon gar
nicht, wenn er um fünf Uhr morgens in einem tragischen Todesfall ermittelt.
Detective Barker war sehr direkt, aber nicht unfreundlich. Ich fand seine Art
sogar ganz angenehm. Ashas mitfühlendes Säuseln und Rückenstreicheln hätte
ich nicht mehr viel länger ertragen. Manchmal wünschte ich, ich könnte eins
dieser Hinweisschilder tragen, die man gelegentlich an Zwingern im Tierheim
findet: »Vorsicht, bissiger Hund! Bitte nicht streicheln!«
»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Rettungssanitäter heute
Morgen den Tod von Ms. Caroline Morton festgestellt haben. Es ist
offensichtlich, Grace, dass Sie einen schweren Schock erlitten haben. Leider ist
es trotzdem zwingend erforderlich, dass wir uns ein klares Bild davon machen,
was hier heute Nacht geschehen ist, und zu diesem Zweck müssen wir Ihnen
früher oder später ein paar Fragen stellen.«
Er blickte mich mit seinen grauen Augen an, und ich überlegte kurz, ob ich ihn
abblitzen lassen und darauf bestehen sollte, sofort nach Hause zu gehen, um eine
heiße Dusche zu nehmen und endlich dieses Outfit abzulegen, das mir im
Morgenlicht absurd luftig erschien. Ich wollte einen dicken Pulli und eine Hose
mit hoher Taille anziehen. Und einen Blazer mit Schulterpolstern überstreifen,
um mich zu wappnen, bevor ich mit der Polizei sprach. Doch Greg Barker
starrte mich immer noch an. Polizisten sind nicht unbedingt bekannt für ihre
Aufgeschlossenheit und die strikte Weigerung, voreilige Schlüsse zu ziehen.
Daher konnte ich mir vorstellen, dass sich jedes Mauern meinerseits zu meinen
Ungunsten auswirken würde.
»Es ist einfach so verdammt schrecklich«, klagte ich und stützte meinen Kopf
in die Hand. »So unnötig. Arme Caro. Armer Jim. Kann ich ihn sehen, bevor ich
mit Ihnen spreche?«
Barkers Blick wurde ein bisschen weniger stechend. »Ich fürchte, das wird
heute nicht mehr möglich sein. Aber Mr. Latimers Familie wurde verständigt,
und er ist in guten Händen. Es gibt keinen Grund, sich übermäßig Sorgen zu
machen.«
Ich war seine gottverdammte Familie. Seine Mutter würde vermutlich zum
Klageweib mutieren, heulen und jammern und immer wieder herunterbeten, wie
furchtbar doch alles war. Seine Schwester würde von ihrer Angststörung
überwältigt werden und sich total zurückziehen. Und John würde versuchen, es
praktisch anzugehen, indem er half, Dinge zu organisieren, und mit anpackte, wo
er konnte. Freunde der Familien würden ihre Aufwartung machen, als bräuchte
jemand ihren Beistand, obwohl sie in Wahrheit nur aufkreuzten, um sich zu
profilieren und ihr Gutmenschentum raushängen zu lassen. Solche Leute
erscheinen bei Trauerfeiern gerne besonders früh, um in der Kirche möglichst
weit vorne zu sitzen und denen weiter hinten so zu zeigen, wie wichtig sie sind.
Was Jimmy brauchte, war jemand, den er anschreien konnte. Jemand, mit dem er
schweigen konnte. Mit dem er in seinem alten Zimmer sitzen und Die Sopranos
schauen konnte, wenn gar nichts anderes mehr half.
Und wieder musste ich mich entscheiden: insistieren oder nachgeben? Diesmal
kam ich zu dem Schluss, dass es mitfühlender wirken würde, wenn ich weiter
darauf bestand, Jimmy zu sehen.
»Sir.« Männer mögen es, wenn man sie »Sir« nennt. »Sir, ich will nur
sichergehen, dass es meinem Freund gut geht. Er hat gerade seine Verlobte
verloren, da werde ich ihn doch wohl für fünf Minuten sehen können. Seine
Familie kann unmöglich schon hier sein, und ich glaube, dass er mich jetzt
braucht.«
Diesmal senkte Barker seinen stechenden Blick so weit, dass er nur noch mein
Ohrläppchen durchbohrte, und gab ein kurzes Grunzen von sich. »Wie gesagt:
Ich befürchte, das ist heute nicht mehr möglich. Meine Kollegen werden sich um
ihn kümmern.«
Aha. Was hieß das? Dass Jimmy schon weg war? Oder wollte die Polizei bloß
verhindern, dass wir miteinander sprachen, bevor sie uns separat befragen
konnte? Oder schlimmer, viel schlimmer noch: Bedeutete es, dass Jimmy nicht
mit mir sprechen wollte?
»Was zum Teufel HAST DU GETAN?« Das war das Letzte, was er zu mir
gesagt hatte. Ich hatte angenommen, es wären der Schock und die Panik, die in
diesem Augenblick aus ihm gesprochen hatten. Diese spezielle Verwirrung, die
unser Hirn in Momenten befällt, die es nicht normal verarbeiten kann. Und
wenn es kein vorübergehender Aussetzer war? Konnte es sein, dass diese
Zweifel bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen waren? Hatten sie in Jimmys
vertrauensvollem Hirn vielleicht sogar Wurzeln geschlagen? Würde Jimmy –
nachdem der erste Schock sich gelegt und er etwas Schlaf gefunden hatte –
morgen aufwachen und von meiner Schuld überzeugt sein?
Jimmy gehört nicht zu den Menschen, die ihre eigenen Gedankengänge
skeptisch betrachten. Im Gegensatz zu mir. Ich habe immer wieder Gedanken
verworfen, weil ich sie für fehlgeleitet, kontraproduktiv oder selbstzerstörerisch
hielt. Einflüsterungen und invasive Ideen, die sich mit reichlich Ellbogeneinsatz
ihren Weg in unseren Geist bahnen und sich dort als unsere eigenen ausgeben.
Ich glaube, Sie wissen, wovon ich rede. Jimmy käme niemals darauf, seinen
eigenen Gedanken zu misstrauen. Schließlich hatte er nie welche, die
beängstigend oder pervers genug waren, ihn davon zu überzeugen, dass sein
Hirn nicht immer sein Verbündeter ist. Wenn er sich also fragte, ob ich eventuell
eine Schuld an Caros Tod trug, welchen Grund sollte er dann haben, diese
Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen? Und wenn sein Hirn ihn auf diese Spur
führte, würde er den Weg dann auch bis zu Ende gehen? Der Detective sah mich
immer noch abwartend an. Hoffentlich hatte ich mich durch mein Verhalten
nicht verdächtig gemacht. Draußen stieg die Sonne immer höher.
»Okay«, sagte ich. »Wie kann ich helfen?«


Ich wurde zur Polizeiwache in Battersea gebracht und schwor mir im Stillen, die
Viertel unterhalb der Themse künftig zu meiden. Betrunkene Männer taumelten
durch die Straßen, betrunkene Frauen fielen vom Balkon. Hier geschah nichts
Gutes.
Trotz der sorgfältig inszenierten lauschigen Atmosphäre – ständig wurde mir
Tee angeboten, und die gut gelaunte Dame am Empfang wollte mir sogar einen
Pulli holen – fühlte ich mich sofort, als steckte ich in der Falle. Warum saßen
Jimmy, ich und diese farblose Freundin von Caro nicht zusammen, teilten
unseren Schock, schilderten die Ereignisse und wurden dann entlassen, um uns
von dieser fürchterlichen Nacht zu erholen? Ich wurde in ein Verhörzimmer
geführt, das wie eine hastig zusammengezimmerte Kulisse für eine mittelmäßige
TV-Fernsehserie aussah. Suchend blickte ich mich nach einer verspiegelten
Scheibe oder einem versteckten Mikrofon um, aber da war nichts dergleichen.
Nur ich und der dünne Tee, der mir regelrecht aufgezwungen wurde. Kann man
einer Verdächtigen, der das Gefängnis droht, nicht wenigstens einen Wodka
anbieten? Dann wäre ich beim Beantworten der Fragen vielleicht auch etwas
lockerer gewesen.
Als sich die Tür schließlich öffnete, betrat nicht Detective Barker, sondern eine
junge Frau in Polohemd und Seidenrock den Raum. Angesichts ihres Outfits
verspürte ich ein kurzes Aufwallen dieser internalisierten Frauenfeindlichkeit, die
ich mir selbst nur ungern zugestehe. Es ist leider so gut wie unmöglich, in
unserer Gesellschaft aufzuwachsen, ohne dass ihre Misogynie auf einen abfärbt.
Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich es entschuldbar finde, dass ich beim
Anblick einer Pilotin immer noch zusammenzucke.
Bei genauerer Betrachtung war die Polizistin gar nicht so jung, aber sie war
auch keine Jane Tennison. Kein Ehering. Elegante Nägel. Was war das für ein
Farbton? Rote Gefahr? Ich bin permanent auf der Suche nach dem perfekten
Rot.
»Hallo, Grace. Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Heute Morgen geht es
drunter und drüber. Normalerweise ist es sonntags hier ruhiger. Aber sämtliche
Zellen sind voll, und wir kommen gar nicht mehr hinterher. Ich bin Gemma
Adebayo, und die Kollegin, die sich gleich zu uns gesellt, heißt Sandra
Chisholm.« Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da betrat eine
plumpe Blondine in Uniform den Raum und setzte sich neben Adebayo. Sie
lächelte verkniffen.
»Wir möchten mit Ihnen gerne über die tragischen Ereignisse von heute Nacht
sprechen, Grace. Dies ist keine offizielle Vernehmung oder etwas in der Art. Es
geht uns nur darum, die Verkettung der Umstände zu verstehen, damit Carolines
Familie hoffentlich ein wenig Frieden findet.« In einer – wie ich vermutete –
aufmunternden Geste hob Gemma die Augenbrauen, startete die Aufnahme
und gab zuerst das Datum, die Uhrzeit und Namen der Anwesenden zu
Protokoll.
Mit leiser Stimme schilderte ich alles, was auf der Party passiert war. Ich
erzählte den Beamtinnen, dass Caro stark dem Alkohol zugesprochen und auch
Drogen genommen hatte, dass sie überspannt, launisch und nervös wirkte. Ich
erzählte ihnen nicht, worüber wir gesprochen hatten, sondern sagte, wir hätten
uns beschwipst über Hochzeiten und Kleider unterhalten. So wie es eine Braut
auf ihrer Verlobungsparty mit der besten Freundin ihres Zukünftigen
gewöhnlich machen würde. Zumindest, wenn diese Braut eine normale junge
Frau gewesen wäre, die sich darauf freute, Einladungskarten mit Turteltauben
und goldgeprägten Lettern zu gestalten. Und keine verwöhnte Schlampe, die
meinen besten Freund nur deshalb heiratete, weil sie von jemandem geliebt
werden wollte, der nicht ihr eigener Vater war. Herrgott, was stimmt nicht mit
uns Frauen, dass wir so dürftige Ansprüche haben? Noch anspruchsloser als
»nicht mein Vater« geht es nun wirklich kaum. Wen von uns hat der eigene Vater
nicht auf irgendeine scheinbar harmlose, aber auf lange Sicht leider fatale Weise
enttäuscht? Oscar Wilde (mal wieder) hat gesagt: »Alle Frauen werden wie ihre
Mütter, das ist ihre Tragödie. Kein Mann wird wie seine Mutter, das ist seine
Tragödie.« Daran ist zu viel falsch, um es aufzuschlüsseln. Doch es lässt sich
zweifellos sagen, dass er besser daran getan hätte, sich diese Männer, die genauso
wie ihre Väter enden, einmal genauer anzuschauen. Würden wir uns auf diesen
Komplex konzentrieren, wären wir der Lösung für unsere gesellschaftlichen
Probleme bald ein ganzes Stück näher.
Ich brachte mein aufrichtiges Entsetzen darüber zum Ausdruck, dass Caro
mitten in unserer netten Plauderei in den Tod gestürzt war. »Ich bin erst zweimal
in ihrer Wohnung gewesen, und dabei ist mir der Balkon gar nicht aufgefallen.
Ich habe Höhenangst, deshalb habe ich nicht nach unten gesehen und wusste
nicht, wie tief es hinuntergeht oder wie riskant es ist, sich auf die Brüstung zu
setzen. Und ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwann gedacht zu haben,
es könnte gefährlich für sie sein. Das ist alles so … furchtbar.«
Jetzt waren sie am Zug. Ich legte meine Hände aufs Gesicht, atmete durch die
Nase ein, und beim Ausatmen zitterte ich leicht. Das, dachte ich, sollte
hinreichend traumatisiert wirken, selbst auf diese Polizistinnen, die schon alles
gesehen hatten. Die Blondine nickte. Sie empfand eindeutig Sympathie für mich.
Und ich war ja tatsächlich bemitleidenswert: eine aufgewühlte, erschöpfte junge
Frau, in Sorge um ihren besten Freund, völlig überfordert von der Situation. Das
war nicht einmal gelogen. Zumindest größtenteils. Adebayo lächelte verhalten,
hatte es allerdings nicht eilig, mich von der Leine zu lassen.
»Vielen Dank, Grace. Ich weiß, Sie müssen müde sein. Ich gehe nur noch ein
paar Fragen mit Ihnen durch, und dann können Sie gehen – Sie wollen sicher so
schnell wie möglich nach Hause.«
kapitel 12

Bryony starb bereits vor Caros Unfall. Rückblickend entbehrt es nicht einer
gewissen Komik, dass Caros Eltern nur wenige Wochen vor dem Tod der
eigenen Tochter über das tragische Ende von Bryony getratscht hatten. Ich frage
mich, ob die beiden von Caros Dahinscheiden genauso hart getroffen wurden
wie Simon vom Verlust Bryonys. Ich hatte vorher schon vermutet, dass es ihm
den entscheidenden Schlag versetzen könnte. Und ich sollte recht behalten. Ein
Mann, der seine Frau verloren hatte, konnte jederzeit wieder heiraten, und mein
Vater würde damit sicher nicht lange warten. Noch ehe ihr Grabstein stand,
hätte er seine nächste Eroberung – die vermutlich halb so alt war wie er – der
Öffentlichkeit präsentiert. Daran zweifelte ich keine Sekunde. Aber Bryony war
sein einziges Kind. Im Gegensatz zu seiner Frau, die ihre Zeit damit verbrachte,
zwischen den Beratungszimmern diverser Schönheitschirurgen und
irgendwelchen schnöseligen Restaurants in Monaco zu pendeln, hatte sich seine
Tochter für ein Leben bei ihrem Vater entschieden. Ich hoffte, ihr Tod würde
ihn zum Handeln zwingen. Deshalb musste Janine zuerst dran glauben.
Noch bevor die Pläne für das Ableben der anderen Familienmitglieder Gestalt
annahmen, war mir bereits klar, wie ich Janine umbringen würde. Das mag
absurd klingen, aber so läuft das manchmal. Ich tüftelte schon als Teenager an
möglichst ausgefeilten Methoden, um diese Leute ins Jenseits zu befördern.
Doch letztendlich gehört immer ein Quäntchen Glück dazu. Der Zufall oder
eine spontane Eingebung um drei Uhr nachts sind für das Gelingen häufig
entscheidender, als man das im Vorfeld denken würde. Beim Mord an Janine war
es eine Mischung aus beidem. Vor drei Jahren habe ich in der Sonntagsbeilage
irgendeiner Tageszeitung einen Artikel über den Siegeszug des sogenannten
»Internets der Dinge« gelesen. Ein Begriff, den manche Nerds gerne zum
Allheilmittel verklären. Dabei bezeichnet er im Grunde nur ein paar ans Internet
angeschlossene Gerätschaften, die miteinander kommunizieren, selbstständig
Daten sammeln und in der Lage sind, spezielle Aufgaben auszuführen.
Beispielsweise eine Einkaufsliste zusammenzustellen, wenn einem die Putzmittel
ausgehen, oder die Heizung einzuschalten, wenn man aus dem Urlaub
zurückkehrt. Das ist weit von der Vorstellung entfernt, die wir uns mal von der
nahen Zukunft gemacht haben: Mit den Jetsons hat das nichts zu tun, und
fliegende Skateboards gibt es immer noch nicht. Aber immerhin: Unsere Häuser
und Wohnungen sind inzwischen imstande, uns ein klein wenig Arbeit
abzunehmen. Rein theoretisch brauchen wir keinen Haustürschlüssel mehr – ein
Fingerabdruck reicht. Und das Staubsaugen erledigt ein Roboter, während wir
unterwegs sind. Doch das Einzige, was im Alltag der meisten normalen
Menschen heutzutage einem Smart Home auch nur annähernd nahekommt, sind
in Wahrheit Apparate wie Alexa, denen man selbstgefällig befehlen kann, Musik
abzuspielen oder irgendwelche Begriffe zu googeln. Am liebsten in Gegenwart
gelangweilter Freunde, die davon bald so genervt und gelangweilt sind, dass sie
sich vor Besuchen drücken. Wer im Geld schwimmt, der hat allerdings die
Möglichkeit, sein gesamtes Haus und sämtliche technischen Geräte miteinander
zu vernetzen.
Und jetzt raten Sie mal, was Janine mit ihrem Penthouse in Monaco gemacht
hat. Das meine ich mit »Zufall«. Als ich eines Morgens den erwähnten
Zeitungsartikel las, hatte ich einen leichten Kater, und mein Interesse hielt sich
in Grenzen. Doch drei Wochen später widmete die Zeitschrift Lifestyle! Janine
eine Homestory. Neben Prominenten interviewte das monatlich erscheinende
Hochglanzmagazin bevorzugt steinreiche Frauen. Normalerweise posierten die
derart Porträtierten auf protzigen Sofas und fabulierten dabei von
Wohltätigkeitsfesten oder irgendwelchen kostspieligen Renovierungsprojekten,
die eine Menge Glas, Marmor und den übermäßigen Gebrauch des Wortes
»authentisch« erforderten. Ich glaube, solche Zeitschriften werden von
niemandem gekauft als von anderen reichen Frauen, die sich von den
Homestorys über ihre Rivalinnen einen Vorteil im gnadenlosen Wettlauf der
Eitelkeiten erhoffen. Trotzdem schalten exklusive Möbelhäuser und
Luxusmarken darin gerne und zahlreich Anzeigen für ihre überteuerten
Produkte, womit sich die Katze in den Schwanz beißt und das Magazin im
Geschäft bleibt.
Das Interview mit Janine drehte sich um ihre neue Terrasse, die sie anbauen
ließ, um ihre Yogaübungen in der Morgensonne machen zu können. Denn leider
war der Dachgarten nach Westen hin ausgerichtet, weshalb dort eher die
Abendsonne zur Geltung kam. Ich fragte mich, ob die Reporterin auf diese
tragische Offenbarung wohl voller Mitgefühl reagiert hatte. Bei der Führung
durch ihr Reich beschränkte sich Janine nicht auf die Terrasse, für deren
Gestaltung mit riesigen Terrakottatöpfen und einem weißer als weißen, alles
überragenden Marmorspringbrunnen sie sich offenbar vom antiken
Griechenland inspirieren ließ. Es folgte eine Tour durch den Rest des Domizils.
Es erstreckte sich über drei Etagen mit neun Schlafzimmern, sechs
Badezimmern und einem – halten Sie sich fest – Raum der inneren Einkehr. Die
erreichte man wohl am besten auf einem cremefarbenen Sofa vor einem
deckenhohen Spiegel, denn das riesige Zimmer enthielt ansonsten keinerlei
Mobiliar. Janine erläuterte in dem Artikel, dass sie sich dorthin zurückzog, um
»der Hektik des Alltags zu entfliehen und ihre Mitte zu finden«. Das war zwar
keine Erklärung für den Spiegel, aber manchmal ist es besser, wenn man nicht
alles weiß. Nach Monaco, erzählte Janine, sei sie aus gesundheitlichen Gründen
gezogen. Aufgrund der wachsenden Sorge vor einer Verschlimmerung ihrer
Herzbeschwerden habe sie »ihren Lebensstil neu beurteilt«. Das Fürstentum
scheint ja der reinste Kurort zu sein. Steuervermeidung? I wo!
Wohl in der verzweifelten Hoffnung, von Janine vielleicht doch noch etwas
Neues und Originelles zu hören, sprach die Interviewerin sie schließlich auf
ihren smarten Kleiderschrank an, der sich auf dem dazugehörigen Foto als
riesiges Ankleidezimmer entpuppte. »Erzählen Sie uns doch etwas dazu. Er hat
ein paar Sonderfunktionen, über die unsere Leserinnen bestimmt gerne mehr
erfahren würden.« Janine erklärte, dass jedes Kleidungsstück und jedes
Accessoire in ihren Schränken einzeln aufgelistet, von allen Seiten fotografiert
und in eine Datenbank eingetragen wurde, auf die sie von ihrem iPad aus
zugreifen konnte. Auf diese Weise wurde das morgendliche Ankleiden zu einem
Erlebnis, das sie immer wieder aufs Neue begeisterte – denn der smarte
Kleiderschrank gab ihr Tipps, was sich gut kombinieren ließ und was eher nicht
zueinanderpasste. »Und er erinnert mich an Kleidungsstücke, die ich völlig
vergessen habe. Erst letzte Woche habe ich mir eine wunderschöne, königsblaue
Bouclé-Jacke von Chanel gekauft. Und nachdem sie in die Datenbank
eingetragen war, stellte ich fest, dass ich genau das gleiche Modell schon zweimal
habe!« So eine Jacke kostet 5 000 Pfund. Unfassbar! Der Kleiderschrank war
jedoch nur die Spitze des Eisbergs: Bei Janine zu Hause war offenbar fast alles
ans Internet angeschlossen. Für das Licht waren keine Schalter mehr nötig, der
Ofen hatte keine Knöpfe – und das nicht nur, weil sie nie kochte –, und sogar
bei ihrem morgendlichen Saunagang wurde die Temperatur digital geregelt. Dass
sich im Fall eines Einbruchs jede einzelne Tür per App verriegeln ließ, so Janine,
gab ihr ein ungeheuer beruhigendes Gefühl. »Ich verstehe zwar nicht so richtig,
wie das alles funktioniert, aber unsere wundervolle Haushälterin hat alles im
Griff. Wir müssen uns damit nicht rumschlagen.« Wenn das mal nicht ihr
Lebensmotto war.
Es war die Erwähnung der Sauna, die mein Interesse weckte. Ich fühlte mich
an den Plot eines Krimis erinnert und malte mir aus, wie ich in ihr Penthouse
eindrang – vielleicht als Hausmädchen verkleidet –, Janine in der Sauna
einschloss und dann zusah, wie sie um Gnade flehte. Auch wenn ich Zweifel
daran hegte, dass sich diese Schnapsidee wirklich umsetzen ließ, hatte ich einen
Narren an der Fernsteuerungssache gefressen, und eine komplett vernetzte
Wohnung schien mir zumindest ein wenig Recherche wert zu sein. War diese
Technologie absolut sicher? Oder ließ sie sich womöglich hacken, wenn man
sich etwas intensiver damit auseinandersetzte? Ließ sie sich vielleicht doch für
meine mörderischen Zwecke missbrauchen?
Das Internet war voll von Geschichten über vernetzte Geräte, die
Fehlfunktionen hatten, den Geist aufgaben oder sogar Schäden verursachten.
Frauen, die sich von ihren Männern trennten, weil Alexa die Namen ihrer
Geliebten preisgegeben hatte. Kinder, die schlimme Schimpfwörter zu hören
bekamen. Durchgeschmorte Wasserkocher und versagende Heizungsanlagen.
Aber die interessantesten Schwachstellen fanden sich im Sicherheitsbereich. Es
gab Unmengen von Horrorgeschichten über Leute, die Babyfone hackten und
nachts auf die Kinder wildfremder Menschen einredeten. Berichte über
Alarmanlagen, die über das Internet entschärft wurden, bevor dann die
Einbrecher ins Haus eindrangen. Entnervte Familien, die behaupteten, dass ihr
Smart Home von Kriminellen kontrolliert wurde, die Tag und Nacht Musik
abspielten oder die Heizung aufdrehten und eine üppige Geldsumme forderten,
um damit aufzuhören. Meistens war das nur möglich, weil die Hersteller ihre
Systeme nicht durch Verschlüsselung geschützt oder Updates versäumt hatten.
Manche nahmen die Sache zwar etwas ernster, aber viele verkauften ihren
Kunden einfach die Geräte ohne weitere Sicherheitsmaßnahmen. Bestenfalls
schärften sie ihnen ein, ein sicheres Passwort zu wählen.
Ich musste herausfinden, ob es möglich war, Janines System zu hacken. Aber
wo sollte ich anfangen? Ich konnte wohl kaum »Wie finde ich einen Hacker?« in
die Google-Suche eingeben und dann mein Glück probieren. Okay, wenn ich
ehrlich bin, habe ich genau das getan und mich tagelang dafür geschämt.
Anschließend unternahm ich einen neuen Anlauf und suchte konkret nach
Wissenschaftlern, die zum Thema Smart Home forschten. So stieß ich
tatsächlich auf eine Frau, die eine Abhandlung über die Anforderungen von
Sicherheitssystemen und Alarmanlagen in der Smart-Home-Ära verfasst hatte.
Sie hieß Kiran Singh und arbeitete am University College London, auf dessen
Webseite ich – Gott schütze unser Hochschulwesen – ihren Kontakt gleich
unter ihrem Namen fand. Ich sicherte mir die E-Mail-Adresse
sarah.summers@journo.com, schrieb Kiran an und gab mich als Reporterin aus.
Ich behauptete, an einem Artikel über die potenziellen Gefahren von Smart-
Home-Technologien zu arbeiten, den ich dem renommierten Evening Standard
anbieten wolle. Ob sie Zeit und Lust habe, mir ein Interview zu geben?
Jeder möchte gerne seinen Namen in der Zeitung lesen. Dass die
Zeitungsbranche mit dem Tode ringt, ändert daran gar nichts. Online-Ruhm ist
schon nach Minuten wieder verflogen. Aber eine Zeitungsseite kann Ihre Oma
herausreißen und beim Kaffeeklatsch zeigen. Sie kann sie sogar gerahmt in der
Gästetoilette aufhängen, wo das Papier mit jedem Besuch ein wenig vergilbter
aussieht. Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Es war noch keine Stunde
verstrichen, als Kiran antwortete. Sie wollte gerne mit mir sprechen und fragte,
ob mir der kommende Freitag recht sei.
Wir trafen uns im Café des British Museum. Das war ihre Idee, und ich
empfand es als angenehme Abwechslung, mich mal an einem anderen Ort als in
einer der acht Millionen Pret-a-Manger-Filialen zu verabreden. Ich wappnete
mich mit einem Laptop sowie einem Diktafon, das ich mir noch am selben
Morgen gekauft hatte – in der Hoffnung, Kiran würde mir damit die Journalistin
eher abnehmen. In dem Technikshop, eingezwängt zwischen zwei
Möbelmärkten, die in ihren Schaufenstern nahezu identisch aussehende,
zartrosafarbene Samtsofas präsentierten, hatte mir der etwas übereifrige
Verkäufer versichert, das Gerät sei kinderleicht zu bedienen.
Als ich das Café betrat, saß Kiran an einem der Tische und trank grünen Tee.
Sie machte einen sympathischen, wenn auch etwas ernsten Eindruck und war auf
den ersten Blick als Akademikerin zu erkennen. Normale Menschen tragen keine
Cordhosen. Sie spielen vielleicht mit dem Gedanken und probieren unter
Umständen bei Gap sogar mal eine an, schließlich sind die Dinger meistens im
Preis reduziert. Doch am Ende sehen die Leute ein, dass Cord an der Haut klebt,
wie kein anderer Stoff Flusen und Fusseln anzieht – und vor allem, dass man
darin immer wie ein Akademiker aussieht. Nach einem kurzen Small Talk kam
Kiran ohne Umschweife zur Sache und versorgte mich mit einer Menge
hilfreicher Informationen. Sie identifizierte eine klare Schwachstelle, die Hacker
nutzen können, um Smart-Home-Geräte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren:
Wer einmal Zugriff auf den Smart Hub des Besitzers hat, dem stehen Tür und
Tor offen.
Dieser Hub, sagte sie – nachdem ich sie gebeten hatte, es einem Laien wie mir
möglichst verständlich zu erklären –, sei die Schaltstelle, über die sämtliche
Smart-Home-Geräte gesteuert würden. Der Hub kann ein Thermostat anweisen,
die Temperatur im Haus zu erhöhen, oder dem Fernseher sagen, er solle die
Senderauswahl auf den neuesten Stand bringen. Wird ein Gerät vom Hub als
»vertrauenswürdig« eingestuft, ist es Teil des Netzwerks und kann mit allen
anderen Geräten interagieren.
»Amazon ist in Sachen Cloud-Security generell ziemlich zuverlässig, aber die
Geräte von Ergos würde ich nicht mit der Kneifzange anfassen«, sagte sie.
Manche Smart-Home-Geräte sind offenbar mit End-to-End-Verschlüsselung
gesichert, aber viele kleinere Firmen mit eher limitierten Mitteln verzichten
offenbar auf diese Sicherheitsmaßnahme. Dadurch, verriet mir Kiran, sei es
relativ leicht, Zugang zu einem Hub zu bekommen. Wenn der Besitzer die
Seriennummer preisgebe, sei der Rest ein Kinderspiel.
»Ich erlebe ständig, dass Menschen diese Nummer online posten«, schnaubte
sie und verdrehte die Augen. »Aber auch, wenn sie einem nicht auf dem
Silbertablett serviert wird, gibt es Mittel und Wege, da ranzukommen –
zumindest, wenn man über Grundkenntnisse im Hacken verfügt.«
Hat ein Hacker erst einmal die Kontrolle über den Smart Hub und die damit
vernetzten Geräte erlangt, kann er das Smart Home gegen dessen Besitzer
einsetzen.
»Man könnte die Kameras benutzen, um ihn auszuspionieren«, erklärte sie,
»oder ihn in den Wahnsinn treiben, indem man zu bestimmten Zeiten die Musik
anschaltet, Türen öffnet und Fensterläden schließt.« Ich verkniff mir ein
Grinsen, um ihr nicht zu verraten, wie sehr mich diese Beispiele begeisterten.
»Aber die meisten Leute besitzen höchstens einen Alexa- oder Google-
Lautsprecher, der ihnen Musik oder Filme vorschlägt und Klamotten im Internet
bestellt. Klar, auch die Dinger kann man hacken, richtig gefährlich wird es
allerdings erst, wenn alles im Haus miteinander vernetzt ist. Und an dem Punkt
sind wir längst nicht. Die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen und ist
so teuer, dass sie nur für sehr vermögende Menschen attraktiv ist.«
Ich fragte sie, wie ich mir diese Hacker vorzustellen hätte, und sofort blickte sie
sich verstohlen um, als warteten die anderen Gäste des Cafés nur auf diese
wichtige Information. Wir saßen zwischen einer älteren Frau in einer geblümten
Jacke, die Blaubeerkuchen aß, und einem japanischen Pärchen, das emsig Selfies
machte. Drei Tische vor uns war ein junger Mann mit dunklem Haar und elegant
geschnittenem Mantel in ein Buch vertieft.
»Meistens stecken andere Staaten dahinter … China, Russland, die
USA … auch wenn sie es abstreiten. Die zweite große Gruppe ist der
Organisierten Kriminalität zuzuordnen. Sie nutzen beispielsweise Webcams, um
Homosexuelle oder Transmenschen im Nahen Osten zu erpressen. Und dann
wären da noch die Teenager, die sich das Hacken im Kinderzimmer selbst
beigebracht haben. Die manipulieren aus Spaß oder aus Langeweile die
Türklingel anderer Leute oder drehen deren Heizung auf und prahlen dann bei
Reddit oder 4Chan damit …«
Ich stellte noch eine Handvoll Fragen. Dann versicherte ich ihr, mich zu
melden, wenn der Artikel fertig sei, und verabschiedete mich. Als ich ging,
machte ich einen Bogen um die beiden Japaner, die noch immer versuchten, das
perfekte Selfie zu schießen. Während ich zügigen Schrittes durch die
Seitenstraßen der Oxford Street eilte, überlegte ich fieberhaft, ob ich es riskieren
konnte, einen Komplizen zu rekrutieren, um Janines Penthouse zu hacken. Ich
hatte es von Anfang an vermieden, irgendeinen Teil meines Plans auszulagern,
denn ich wollte potenzielle Risikofaktoren so weit wie möglich vermeiden –
davon gab es bereits zu viele. Leider musste ich einsehen, dass ich diese neue
Aufgabe niemals alleine bewältigen konnte. Mein technisches Verständnis geriet
bereits an seine Grenzen, wenn ich das Betriebssystem meines Smartphones
aktualisieren musste. Und die Idee, dass sich Janines eigene Wohnung gegen sie
wenden würde, gefiel mir einfach zu gut, um sie wieder zu verwerfen. War es
möglich, einen Helfer zu finden, dem ich vertrauen konnte?


An diesem Wochenende verbrachte ich achtundzwanzig Stunden online, rieb
mir alle fünf Minuten die Augen und trank je nach Energielevel abwechselnd
Kaffee und Wein. Ich sah mir die von Kiran erwähnten Webseiten an und las
Tausende Posts von Amateurhackern, die in den einschlägigen Foren mit ihren
Erfolgen prahlten. Mit Worten, die für mich größtenteils böhmische Dörfer
waren, schilderten sie voller Häme, wie sie Clouds, Hubs, Smartphones und
Kameras infiltrierten. Vielleicht machte ich es mir ja zu leicht, wenn ich sie mir
ausnahmslos als verpickelte Sechzehnjährige vorstellte, die seit Wochen kein
Tageslicht mehr gesehen hatten, aber ich war mir sicher, dass es den Nagel auf
den Kopf traf. Immer wieder stieß ich auf Anfragen von Leuten, die einen
Hacker engagieren wollten. Meistens zu dem Zweck, ihre Lebenspartner
auszuspionieren, die sie des Fremdgehens verdächtigten. »Junge Frau (22)
braucht Unterstützung, um zu beweisen, dass ihr Mann (28) sie mit Kollegin
betrügt. Hilfe!« war ein typisches Beispiel für so einen Post. Rückmeldungen auf
diese Inserate beschränkten sich meistens auf ein kurzes »Ich kontaktier dich per
PN!«. Die entscheidende Information, ob und zu welchen Bedingungen sich ein
Hacker der vorliegenden Aufgabe annahm, war für mich also nicht sichtbar.
Erschöpft und vollgepumpt mit Koffein, verfasste ich ein eigenes Posting.
Selbst auf die Gefahr hin, dass sich niemand dafür interessieren würde, war es
einen Versuch wert. Ich blieb vage und fasste mich kurz: Ich gab mich als
sechzehnjähriges Mädchen aus, das Hilfe benötigte, um seiner fürchterlichen
Stiefmutter einen heilsamen Schreck einzujagen. Meine Hoffnung, das würde in
dem einen oder anderen Nerd den weißen Ritter hervorkehren, erwies sich als
naiv. Ich erspare Ihnen die Details mancher Antworten, die mich in den
folgenden Tagen erreichten. Es genügt wohl zu sagen, dass mein Post widerliche
alte Säcke anzog wie Motten das Licht. Ich beantwortete die wenigen
Nachrichten, die sich nicht komplett unter der Gürtellinie bewegten, und blockte
alle anderen Absender. Die nächste Woche über fütterte ich drei User
häppchenweise mit Details, um zu sehen, wie sie reagieren würden, was sie über
das Hacken wussten und welche Gegenleistung sie von mir erwarteten.
Derjenige, auf den ich die geringsten Hoffnungen setzte, war ColdStoner17. Er
hatte einen ziemlich beschränkten Wortschatz und antwortete zu den
unmöglichsten Zeiten, meistens in Form von GIFs, die ich nicht kapierte. Ich
wollte ihn bereits in die Wüste schicken, da meldete er sich eines Tages um
sieben Uhr früh, als ich gerade zur Arbeit gehen wollte.
Yo, schrieb er, wann steigt denn die Horrorshow für die Alte? Ich schieb auch ’nen
tierischen Hass auf meine Stiefmutter! Ist vielleicht ein guter Ersatz für die Therapie, die mein
Dad mir nicht bezahlen will. Vollständige Sätze. Das war immerhin ein Anfang. Ich
fand heraus, dass er siebzehn war (deshalb der Username), bei seinem Vater und
der erwähnten Stiefmutter in Iowa lebte und eine Menge Zeit im Internet
vertrödelte, wenn er eigentlich Hausaufgaben machen sollte. Ich gestand ihm
unverblümt, dass er mir kaum wie ein Superstar der Hackerszene erschien.
Offenbar hatte ich keine Ahnung, wie Siebzehnjährige ticken. Er bombardierte
mich den ganzen Tag mit Beweisen für erfolgreiche Hacks von Notebook-
Kameras, Babyfonen oder Heizungssystemen. Das war zwar verhältnismäßig
harmlos, übertraf aber alles, was ich je zustande bringen würde – und zwar bei
Weitem. Statt ihn wie geplant abzuwimmeln, suchte ich das Gespräch mit ihm.
Über einen verschlüsselten Messengerdienst chatteten wir bis in den späten
Abend. Er gestand mir, wie einsam er war, und ich erzählte ihm, wie sehr ich
angeblich meine Eltern hasste. Je länger wir schrieben, desto lockerer wurde
er … und drückte sich sogar verständlich aus. Er war eine Leseratte, und uns
verband die Begeisterung für Jack Kerouac. In Wahrheit hatte ich noch nie etwas
von Kerouac gelesen, doch dank Google fiel das nicht weiter ins Gewicht. Was
meinen Plan betraf, ging ich so wenig wie möglich ins Detail und bemühte mich
zunächst, eine Beziehung zu ihm aufzubauen – wenn auch eine, die auf Lügen
und sexistischen Böse-Stiefmutter-Klischees basierte.
So ging es zwei, drei Wochen weiter. Stets darauf bedacht, mich wie die
Sechzehnjährige zu verhalten, für die er mich hielt, sprach ich ihm Trost und
Selbstvertrauen zu. Ich spekulierte darauf, dass er sich mir dann umso mehr
verpflichtet fühlte, und tatsächlich wurde er mit der Zeit immer
vertrauensseliger. Er erzählte mir, dass er früher in der Schule gemobbt wurde,
weil seine Eltern geschieden waren. Iowa war offenbar kein Hort progressiven
Denkens. Obwohl ich ihm keinerlei romantische Hoffnungen machte, erhielt ich
immer wieder nächtliche Voicemails, in denen er davon schwärmte, wie viel ich
ihm bedeutete, und die ich regelmäßig mit Smiley-Emojis abbügelte. Davon
abgesehen lief es ziemlich gut mit Pete. Als er mir am vierten Tag seinen
richtigen Namen nannte, sagte ich ihm, ich würde Eve heißen. Ich hatte ganz
vergessen, wie leicht es war, einen Teenager zu manipulieren. Als ich mir sicher
war, dass er sich in mich verknallt hatte, schaltete ich einen Gang höher und
erzählte mehr von meiner bösen Stiefmutter. Dass sie in Monaco lebte und von
Anfang an bei meinem Vater gegen mich intrigiert hatte. Dass er und ich uns
wegen ihr völlig entfremdet hätten. Dass ich ihr eine Lektion erteilen wollte. Ich
fragte ihn, ob er sich mit Smart Homes auskannte. Ein bisschen, antwortete er,
aber schon einen Tag später referierte er ausgiebig über die Unterschiede
zwischen den Geräten verschiedener Hersteller. Offenbar hatte er die ganze
Nacht recherchiert, welche Mittel und Wege es gab, ein Smart Home wie das
von Janine zu infiltrieren. Und er war sich sicher, dass es uns gelingen könnte,
ihren Hub zu hacken. Die vielversprechendste Möglichkeit wäre es, ein neues
Gerät ins Haus zu schmuggeln und in das bestehende Netz zu integrieren – so
könnten wir es komplett unter Kontrolle bringen. Bist du in nächster Zeit
zufällig mal bei ihr zu Besuch? Seine Antwort brachte mich völlig aus dem Tritt.
Bis zu diesem Moment hatte ich gehofft, wir könnten auf den Hub zugreifen,
ohne einen Fuß in das Penthouse zu setzen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich
hineingelangen sollte, ohne alles zu riskieren. Ich war keine Fassadenkletterin
und gab mich auch nicht der Illusion hin, die Wohnung könnte unzureichend
gesichert sein. Aber ich war auch noch nie in Monaco gewesen, um mit eigenen
Augen zu sehen, wie Janine dort lebte. Glücklicherweise standen mir noch
Urlaubstage zu. Sie zu nutzen, um mir ein Bild von der Lage vor Ort zu machen,
konnte bestimmt nichts schaden. Selbst auf die Gefahr hin, desillusioniert
feststellen zu müssen, dass diese Idee unmöglich in die Tat umzusetzen war.
Ich erzählte Pete, dass ich in wenigen Wochen nach Monaco zu meiner
Stiefmutter reisen würde. Sie hasst mich – lol, schrieb ich, normalerweise wohne ich mit
meiner richtigen Mum im Hotel und sehe meinen Dad nur, wenn sie nicht da ist. Falls Pete
diese Verhältnisse suspekt erschienen, so sparte er sich einen entsprechenden
Kommentar. Er war schon fast erwachsen, wurde aber von seiner Familie
genötigt, zweimal pro Woche – und in den Ferien sogar täglich – in die Kirche
zu gehen. Vermutlich fehlten ihm normale Maßstäbe für ein gesundes
Familienleben.
Ich nahm mir eine Woche Urlaub von meinem Job und buchte ein Hotel in
Monaco, was gewaltig ins Geld ging. Es schmerzte, dem Projekt nach und nach
einen Großteil meiner Ersparnisse zu opfern. Dank Johns und Sophies Apanage
hatte ich seit meinem Auszug aus dem Hause Latimer jeden Monat etwas zur
Seite legen können, was mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte – mehr als
sonst irgendwas. Zugleich schürte der Blick auf mein Sparkonto die Wut über
das Ungleichgewicht zwischen meiner wirtschaftlichen Lage und dem Reichtum
der Artemis jedes Mal aufs Neue. Angesichts des Umstands, dass ich das Geld
ausgab, um sie zu töten, mag das vielleicht absurd anmuten, aber nicht jedes
Gefühl lässt sich rational begründen.
Natürlich gab es Schlimmeres als eine Woche in der Sonne. Monaco ist winzig,
kaum größer als der Central Park. Es würde also kein Problem sein, ein
»zufälliges« Zusammentreffen mit Janine zu arrangieren. Zumindest, solange sie
in der Stadt war. Nur existierten dafür leider keine Garantien, denn der Jetset –
das verrät bereits diese Bezeichnung – neigt dazu, von einem Moment auf den
anderen davonzujetten. Janines Instagram-Konto war zwar privat, doch sie hatte
eine Anfrage von »Monaco Deluxe« angenommen. Für diesen Account hatte ich
mich bei diversen Lifestyle- und Society-Seiten bedient und dort Fotos der
Reichen und Mächtigen gestohlen. Die Reposts dieser Schnappschüsse von
Partys und Wohltätigkeitsveranstaltungen garnierte ich mit überschwänglichen
Lobeshymnen auf »Mrs. Daphne Baptiste, die großzügig einen wunderschönen
Nerzmantel für den Children’s Care Fund gespendet hat« oder »Mrs. Lorna
Gold, die in ihrem schönen Penthouse eine elegante Abendgesellschaft für den
Verein zur Rettung von Straßenhunden ausgerichtet hat«. Selbst wenn diese
Frauen je einen Blick auf die Instagram-Seite von »Monaco Deluxe« geworfen
hätten, wäre ihnen daran vermutlich nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Sie
waren Säulen der monegassischen Gesellschaft, warum hätte man sich nicht bei
ihnen bedanken sollen? Dank dieses Accounts konnte ich Janines Instagram-
Aktivitäten nachverfolgen. Allerdings war sie weder besonders aktiv, noch war
sie eine talentierte Fotografin. Abgesehen von ein paar inszenierten Fotos, die
zweifellos von Profis stammten, postete sie hauptsächlich verschwommene
Handyaufnahmen von Sonnenuntergängen (meistens aus Flugzeugfenstern
aufgenommen), vom Lunch mit Freunden (versehen mit Bildunterschriften wie
»Lecker Essen mit Bob und Lily im Café Flore«) oder von irgendwelchen
Familienzusammenkünften. Wogegen Bryony ihr komplettes Leben in Echtzeit
auf Instagram ausstellte – für mich von unschätzbarem Wert. Ihre Mutter war da
altmodischer. Ihr letztes Bild hatte Janine vor drei Tagen hochgeladen. Eine
Nahaufnahme ihrer leicht pummeligen, schmuckbehängten Hände und der
dunkelrot lackierten Nägel. Die Bildunterschrift lautete: »Nochmals vielen Dank
an @MonacoManis für die tolle Arbeit.« Offenbar war sie in der Stadt.
Ich flog an einem Samstag. Im Hotel angekommen, nahm ich eine kurze
Dusche, um den traurigen Mief nach Billigflug und Shuttlebus loszuwerden.
Dann zog ich los und erkundete die Umgebung. Ich wusste natürlich, wo Janine
wohnte. Die Adressen fremder Menschen herauszufinden, ist erstaunlich
einfach. Sogar wenn sie nicht im Wählerverzeichnis stehen. Viele Leute
markieren ihren Wohnort mit einem Geotag oder folgen in den sozialen Medien
diversen Accounts aus ihrer Nachbarschaft. Herauszufinden, wo jemand, der
acht verschiedenen Accounts mit »Islington« im Namen folgt, seine
Morgenzeitung kauft, ist kein Hexenwerk. Manche sind sogar so vertrauensselig,
dass sie Fotos von ihrer eigenen Haustür oder der Aussicht aus ihrem
Schlafzimmerfenster posten. Und bei Prominenten ist es noch einfacher. Nicht
selten berichten die Medien über den genauen Standort der Promi-Domizile. Ist
der Anlass skandalös genug, machen sie womöglich sogar ein Luftbild aus dem
Hubschrauber oder bilden den Grundriss ab. Wie jedem Leser von Hello! hatte
Janine auch mir ihre Adresse bereitwillig überlassen, als sie das Magazin zwei
Jahre zuvor zu einem Empfang eingeladen hatte, bei dem eine türkische
Geschäftsfrau für die Erfindung eines potenziellen Heilmittels gegen Ekzeme
geehrt wurde. Der Beitrag über die Feier begann mit den Worten »Monaco, der
Spielplatz der Superreichen: Janine Artemis heißt uns in ihrem wunderschönen
Penthouse im Exodora-Gebäude willkommen«. Besagte Geschäftsfrau wurde
später zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie wissenschaftliche Studien
gefälscht und fast hundert Millionen Pfund an Forschungsgeldern veruntreut
hatte. Die Suche nach einem Heilmittel gegen Ekzeme geht weiter.
Es war ein herrlich warmer Tag, und mithilfe der Navi-App meines Handys
machte ich mich auf den Weg zum Exodora-Gebäude. Ich flanierte vorbei an
Cafés voller dicker Männer in Hemden mit farblich abgesetzten Kragen und
katzengesichtiger Frauen, denen es gutgetan hätte, wenn sie deutlich früher im
Leben zu Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor fünfzig gegriffen hätten. Janines
Adresse war nur zehn Minuten von meinem Hotel entfernt, was ich durchaus
mit Erleichterung registrierte, denn es wurde immer heißer. Die protzigen
Luxussportwagen, die mich jedes Mal in einer nach Benzin stinkenden
Abgaswolke stehen ließen, wenn sie an mir vorbeirauschten, machten die
Hoffnung auf einen schönen Spaziergang endgültig zunichte. Angeblich ist jeder
dritte Einwohner Monacos Millionär. Ich verstehe, dass die Reichen ihren
Lebenszweck darin sehen, ihr Geld zu behalten, und mir ist klar, dass es unter
diesen Umständen hilfreich ist, wenn man in einem Steuerparadies wie Monaco
lebt. Leider fühlte sich das Fürstentum wie eine große Gated Community an, in
der Platz oder frische Luft keine Prioritäten sind. Wem der Sinn danach steht,
kann schließlich jederzeit in den Hubschrauber steigen, um in die Schweiz oder
die Provence zu fliegen.
Das cremefarbene Stuckhaus – wobei »Haus« es nicht annähernd traf –, in dem
Janine wohnte, war ein beeindruckender, wenn auch ziemlich kitschiger Anblick.
Ich hatte mich bereits gefragt, warum sich die Sippe für eine Stadtwohnung und
nicht für eine abgelegene Villa entschieden hatte. Beim Betrachten des riesigen
Komplexes verstand ich die Beweggründe. Das Gebäude war mindestens so lang
wie sechs Häuser, und mit jeder Etage wurden die Balkone und Terrassen
größer. Sie waren von Rosen bewachsen, die so üppig über die Brüstungen und
die Wände hinunter rankten, als würden sie unkontrolliert wuchern. Doch der
wildromantische Eindruck war eindeutig sorgfältig inszeniert: Das Rosenmeer
war entschieden zu symmetrisch. Die bodentiefen Fenster der Wohnungen
ließen sich hinter den Jalousien nur erahnen. An einer hohen Fahnenstange auf
dem Dach hing die Flagge des Fürstentums. Ich trat einen Schritt zurück, um die
Stockwerke zu zählen. Insgesamt waren es acht. Dank des Zeitschriftenartikels
wusste ich, dass sich das Artemis-Penthouse über drei Etagen erstreckte. Ganz
oben konnte ich, wenn ich den Kopf in den Nacken legte, gerade noch die
gläserne Terrasse sehen, auf der Janine in der Morgensonne gerne ihre
Yogaübungen machte. Ich ging um den Komplex herum zur Rückseite, die
jedoch von einer imposanten Mauer umgeben war, in der es nur ein Tor gab, das
vermutlich zur Tiefgarage führte. An einer Seite befand sich eine große
Metalltür, die auf einen Lastenaufzug schließen ließ.
Überall waren Überwachungskameras angebracht. Mindestens fünf konnte ich
ohne große Mühe entdecken. Dafür wirkte der Haupteingang auf den ersten
Blick erstaunlich ungeschützt: Nur ein schmiedeeisernes Tor mit einem massiven
goldenen Türklopfer trennte mich von der Gegensprechanlage. Oh, und der
Securitymann vor der Tür. Im Eingangsbereich gab es vermutlich noch Pförtner,
die rund um die Uhr die Augen offen hielten. Keine Chance, dort einfach
hineinzuspazieren. Die Sicherheitsmaßnahmen waren zweifellos einer der
Gründe dafür, dass die Artemis sich für diese Immobilie entschieden hatten. Sie
war die reinste Festung.
Entmutigt setzte ich mich ein paar Meter weiter in ein Straßencafé und schickte
Pete eine Nachricht. Hatte einen heftigen Streit mit Dad und kann nicht hierbleiben. Keine
Chance, ins Haus der bösen Stiefmutter zu kommen. Das war’s dann wohl. Ich fügte ein
weinendes Emoji hinzu und zündete mir eine Zigarette an. Er schrieb sofort
zurück: O nein, was fürn Scheiß. Kannst du deinem Vater nicht etwas geben, das er mit nach
Hause nimmt? Keine schlechte Idee: Selbst wenn ich nicht in die Wohnung kam,
gab es vermutlich Personal, das dort ein und aus ging. Janine hatte im Haushalt
bestimmt seit Jahrzehnten keinen Finger mehr gerührt. Höchstens, um damit zu
schnippen, wenn sie den Hausangestellten ihre Anweisungen gab. Unter diesen
Angestellten musste es doch jemanden geben, der für eine angemessene
Entlohnung ein kleines Gerät in die Wohnung schmuggeln würde.
Die nächsten zwei Tage beobachtete ich, wer das Gebäude durch den
Seiteneingang betrat. Es war schwer zu sagen, wer in welche Wohnung wollte.
Also erstellte ich von jedem Einzelnen ein Profil. Dank meiner Adleraugen und
meines Scharfsinns fand ich schließlich heraus, wer wo arbeitete. Ich mache
natürlich nur Spaß. Wie sich herausstellte, trugen Janines Angestellte weiße
Hausmädchenuniformen. Darauf war in Kursivschrift der Name »Artemis«
gestickt. Wer unterbezahlte Arbeitsimmigrantinnen zwingt, seinen
Familiennamen über dem Herzen zu tragen, sagt damit vor allem eins: »Ich habe
meine Menschlichkeit verloren.« Das war bei dieser Familie nicht weiter
verwunderlich. Die uniformierten Frauen übergaben regelmäßig Wäschesäcke an
die Fahrer von Wäschereitransportern oder nahmen Pakete von Lieferdiensten
entgegen, um dann so eilig wieder im Haus zu verschwinden, als müssten sie
über jede Minute Rechenschaft ablegen. Ich hatte keine Chance, mit einer von
ihnen zu sprechen. Aber dreimal täglich, immer pünktlich um acht Uhr, um
vierzehn Uhr und um achtzehn Uhr, verließ eine von ihnen das Haus mit einem
Bichon Frisé, um mit dem kleinen Kläffer an der Uferpromenade Gassi zu
gehen. Ich hasse diese flauschigen Wadenbeißer. Sie sind so verdammt
aufmerksamkeitsheischend und selbstverliebt. Vermutlich kommen sie einfach
nur nach ihren Besitzern. Ich habe noch nie einen netten, ausgeglichenen
Menschen mit einem Bichon Frisé gesehen. Nur permanent nörgelnde Frauen
mittleren Alters, die über ihren Hund die eigene Unzufriedenheit vermitteln.
»Betty kann hier nicht sitzen, es ist zu heiß, und das tut ihr nicht gut.« Betty geht
es prima. Aber vielleicht sollten Sie mal einen Therapeuten aufsuchen.
Am zweiten Tag meiner Observation holte ich mir einen Kaffee zum
Mitnehmen und machte mich kurz vor achtzehn Uhr auf den Weg zur
Promenade. Tatsächlich musste ich nicht lange warten, bis die Frau in der
weißen Uniform auftauchte, die das widerspenstige Fellbündel hinter sich
herzerrte. Ich wartete, bis sie an mir vorbei war, um ihr ein paar Minuten zu
folgen, bevor ich zu ihr aufschloss.
»Niedlicher Hund«, sagte ich und lächelte sie an. Die Frau war winzig. Das
schwarze Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Sie reagierte kaum, und
vermutlich wäre sie einfach weitergelaufen, aber der Hund sprang an mir hoch
und hinterließ leichte Schmutzflecken auf meiner hellen Hose.
»Nein, Henry. Lass das!«, rief sie und bückte sich zu dem Hund herab, um ihn
zu ermahnen. Der zeigte sich davon allerdings bemerkenswert unberührt. Ich
versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei, doch sie zog sofort ein Taschentuch
hervor, um damit meine Hosenbeine abzurubbeln.
»Ist das Ihr Hund?«, fragte ich, obwohl ihr Gesichtsausdruck keinen Zweifel
daran ließ, dass sie für das Tier keinerlei Zuneigung empfand. Sie erzählte mir,
dass sie den Hund für ihren Arbeitgeber ausführe. Auf meine Bemerkung, dass
es doch sicher langweilig sei, jeden Tag mit einem Hund Gassi zu gehen – vor
allem mit einem so unerzogenen –, reagierte sie mit einem Lächeln, schaute sich
aber sofort um, als könne Janine jeden Augenblick auftauchen und sie
zurechtweisen, weil sie den kleinen Kerl nicht in den höchsten Tönen gelobt
hatte.
Wir gingen weiter. Ich erzählte ihr, dass ich erst vor Kurzem in Monaco
angekommen sei und alles ein wenig überwältigend fände. Dann fragte ich sie,
was sie von Land und Leuten hielt.
»Die Leute sind unhöflich«, schimpfte sie unvermittelt. »Alle haben nur Geld
im Kopf, und niemand ist freundlich.« Als ich sie fragte, ob ihre Arbeitgeber
auch unfreundlich seien, wurde sie gesprächig. Sie erzählte, wie Janine sie wegen
Lappalien schikanierte, dass sie sechs Tage in der Woche schuftete und nur
donnerstags freihatte. Und selbst an ihrem freien Tag rief Janine bei ihr an.
»Letzte Woche hat sie mir den Lohn gekürzt, weil in der Reinigung ein Hemd
eingelaufen war«, klagte sie kopfschüttelnd. Lacey, so hieß die Frau, schickte den
größten Teil des Geldes nach Hause, wo drei Kinder im Teenageralter auf sie
warteten. Vor drei Jahren war sie aus Dubai gekommen. Auch dort hatte sie als
Hausmädchen für eine Familie gearbeitet. Die Umstände waren nicht viel besser
gewesen, doch sie hatte wenigstens eine eigene Unterkunft gehabt. Wir liefen bis
ans Ende der Promenade, bevor sie sich umdrehte und den kläffenden Hund
zurückzerrte.
Ich zeigte mich mitfühlend, indem ich sagte, dass ihre Arbeitgeberin ein
ziemlicher Unmensch sein müsse, vermied aber natürlich, Janine beim Namen
zu nennen oder irgendwie anzudeuten, dass ich sie kannte. So erreichte ich, dass
Lacey allmählich ihr Misstrauen ablegte.
»Ich schreibe für eine englische Zeitung. Dass reiche Frauen wie Ihre
Arbeitgeberin hart arbeitende Hausmädchen ausbeuten, ist ein Skandal. Darüber
würde ich gerne einen Artikel schreiben. So könnten wir diese Leute öffentlich
an den Pranger stellen und sie zwingen, ihr Verhalten zu ändern.«
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich brauche diesen Job. Ich kann nicht
weiter mit Ihnen reden.«
Lacey eilte davon, doch ich hielt mit ihr Schritt.
»Ich würde niemals Ihren Namen nennen oder verraten, für wen Sie arbeiten.
Aber wir können diesen Ausbeutern einen Spiegel vorhalten. Die Zeitung, für
die ich schreibe, ist sehr bekannt, und sie wird auch von diesen Frauen gelesen.
Wenn man ihnen vor Augen führt, dass die Gesellschaft ihr Verhalten
inakzeptabel findet, dann würden sie es wahrscheinlich ändern.« Das war
natürlich ausgemachter Schwachsinn. Darüber, wie die Superreichen ihre
Angestellten ausbeuten, waren schon Hunderte von Artikeln erschienen, und
nichts hatte sich geändert. Im Gegenteil, es wurde sogar schlimmer: Ständig gab
es neue Enthüllungen über Dienstmädchen, die vor unwürdigen und
unmenschlichen Arbeitsbedingungen geflohen waren, während ihre ehemaligen
Chefs wenig bis gar keine Konsequenzen zu tragen hatten. Mir war klar, dass ich
Lacey ebenfalls ausnutzte. Aber ich hatte keine andere Wahl, und ich konnte ihr
für ihre Kooperation zumindest eine Gegenleistung anbieten.
Abermals schüttelte sie den Kopf, diesmal noch entschiedener. »Ich kann das
nicht tun. Ich brauche meinen Job.« Inzwischen waren wir fast wieder am
Ausgangspunkt unseres Spaziergangs angekommen.
»Okay, ich respektiere das. Aber ich bräuchte nur ein paar Auskünfte von
Ihnen, und selbstverständlich würde ich Sie für Ihre Mühe bezahlen. In bar. Das
Geld kann Ihre Familie sicher gut gebrauchen.« Sie verlangsamte den Schritt, sah
mich jedoch nicht an. »Bitte denken Sie darüber nach, ja? Wenn Sie interessiert
sind, finden Sie mich morgen Mittag um zwei Uhr gleich hier. Sie würden damit
so vielen Menschen helfen, die sich in der gleichen Situation befinden wie Sie.«
Mit einem letzten Ruck an der Leine zog sie Henry zurück ins Haus. Der Blick,
den sie mir zuwarf, als sie in der Tür verschwand, stimmte mich zuversichtlich.
Wenn Janine ihr gegenüber einen Funken Anstand bewiesen hätte, hätte ich bei
Lacey vermutlich auf Granit gebissen. Glücklicherweise war das nicht der Fall.
An diesem Abend gönnte ich mir ein Essen im Restaurant und machte mich,
dem Anlass entsprechend, schick. Selbst in meinem knielangen schwarzen Kleid
und den neonpinken Stöckelschuhen sah ich für monegassische Verhältnisse
verhältnismäßig leger aus. Trotz der Hitze erblickte ich Pelzmäntel in Hülle und
Fülle. PETA hatte offenbar vor den Mauern des Fürstentums kapituliert. An
Fingern und Ohrläppchen funkelten Diamanten, groß wie Wachteleier, und an
den Handgelenken prangten Uhren, mit denen man locker die Anzahlung für
eine Wohnung in London leisten könnte. Würde ich mich auch so verhalten,
wenn ich Geld hätte? Mir wollte kein Superreicher einfallen, der einen anderen
Weg eingeschlagen hatte. Bill Gates vielleicht. Aber wer will schon hässliche
Turnschuhe zu Chinos tragen und sich jedes Lächeln verkneifen? Keiner von
denen machte einen glücklichen Eindruck. Dass sich Glück nicht mit Geld
kaufen lässt, ist ein Klischee – sagen Sie das mal jemandem, der von seinem
Lohn kaum die Miete bezahlen kann. Es bestand allerdings kein Zweifel daran,
dass Reichtum die Menschen nicht unbedingt zufriedener machte. Das fiel mir
besonders bei Frauen auf. Trotzdem hoffte ich aus gutem Grund, dass das bei
mir anders sein würde. Denn mein Geld würde mir allein gehören. Ein Großteil
dieser Frauen partizipierte bloß am Reichtum ihrer Ehemänner. Die daraus
resultierende Unsicherheit begleitete sie ihr ganzes Leben. Denn reiche Männer
neigen nicht dazu, bei einer Frau zu bleiben. Manche von ihnen wechseln sie wie
die Unterhosen. Und nur sehr selten sagen sie: »Danke, Liebling, dass du mir
immer treu zur Seite gestanden hast. Danke, dass du unsere Kinder
großgezogen, dich um den Haushalt gekümmert, die ganze emotionale Last
getragen und mir so ermöglicht hast, mich ganz meiner Arbeit und dem
Geldscheffeln zu widmen. Jetzt ist es Zeit für etwas Neues, aber hier hast du
fünfzig Prozent von allem, was wir gemeinsam aufgebaut haben.« o nein! Sie
nehmen sich einen Anwalt und versuchen, uns übers Ohr zu hauen, indem sie
ihr Vermögen im Ausland verstecken und behaupten, sie wären bettelarm. Oder
sie beharren darauf, wir hätten nie etwas dazu beigetragen und dass die Kinder
auch mit weniger Geld auskommen. Oder sie machen es wie mein Vater und
stehlen sich so schnell wie möglich aus der Verantwortung.
Auf dem Weg nach Monaco hatte ich zwei Frauen gesehen, die sich im Duty-
free-Shop eine Vitrine mit Ringen anschauten. Ich hörte, wie die eine zur
anderen sagte: »Einmal im Leben würde ich mir gerne so etwas kaufen, ohne
vorher meinen Mann zu fragen.« Das war ein Problem, das ich niemals haben
würde. Ich würde niemals derartig von jemandem abhängig, eingeschüchtert
oder fremdbestimmt sein. Und wenn ich eines Tages einen Lebenspartner hätte,
würde ich mit dem Geld großzügig sein. Wir würden gleichberechtigt darüber
verfügen, und wir würden zu genießen wissen, was wir uns dank dieses Geldes
erlauben konnten. Keine Diamantringe, die bloß die Angst vor Raub und
Diebstahl schürten, sondern ein erlebnisreiches, komfortables Leben mit
unendlichen Möglichkeiten. Solange das Geld noch nicht mir gehörte, konnte
ich natürlich nicht hundertprozentig wissen, was ich anders machen würde,
wenn ich endlich darin schwimmen sollte. Doch als ich mir die Leute im
Restaurant ansah, war ich mir sicher, dass ich versuchen würde, mich ständig
daran zu erinnern, wie man es nicht macht. Und das beste Vorbild dafür lieferte
zweifellos die Familie Artemis. Es würde ihre Untaten nicht aus der Welt
schaffen, aber schon weil ich wusste, dass sie es gehasst hätten, plante ich,
regelmäßig große Teile ihres Geldes für wohltätige Zwecke zu spenden. In ihrem
Namen eine Stiftung zu gründen, die Hausbesetzern half, sich gegen
Räumungsbefehle zur Wehr zu setzen, wäre mir sicher ein steter Quell der
Freude.
Zurück im Hotel, schrieb ich Pete, dass ich eine Möglichkeit gefunden hatte,
meinen Vater – ohne dessen Wissen – dazu zu bringen, etwas in die Wohnung
zu schmuggeln. Ich fragte ihn, was für ein Gerät dazu am besten geeignet sei,
dann schaltete ich mein Handy aus und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Pete hatte mir bereits zahlreiche
Nachrichten geschickt, in denen er sich ausführlich und voller unverständlicher
Fachtermini über Smart Hubs, unverschlüsselte Geräte und Router ausließ. Ich
bat ihn darum, sich klarer auszudrücken, und ging dann joggen. Anschließend
schnappte ich mir ein Buch und setzte mich in ein Café an der Promenade, um
in Ruhe auf Lacey zu warten. Es war schön, mal einen ganzen Vormittag lang
nichts zu tun. Mal abgesehen von einem flauen Gefühl in der Magengegend, das
mir verriet, dass ich leicht nervös war, kam es mir vor, als wäre ich wirklich im
Urlaub. Ich las ein paar Kapitel von Israel Rank: Die Autobiografie eines
Serienkillers. Auf das Buch war ich vor etlichen Jahren gestoßen, als meine Pläne
für die Familie Artemis noch in den Kinderschuhen steckten. Seitdem stand es
unberührt in meinem Bücherregal, und als ich meine Tasche für die Reise nach
Monaco gepackt hatte, war ich zufällig darüber gestolpert. Es erzählt die
Geschichte eines Mannes im edwardianischen England, der aus Rache seine
Familie ermordet. Na, können Sie erraten, was mich an dieser Geschichte
angesprochen hat? Um 13:45 Uhr bezahlte ich meine drei Tassen Kaffee und
den Mini-Donut. Als die Kellnerin mir sechsundzwanzig Euro abknöpfte,
musste ich mich sehr beherrschen, sie nicht anzuschreien. Dann machte ich
mich auf den Weg zu Janine.
Kurz nach vierzehn Uhr erblickte ich Lacey und Henry. Ich winkte Lacey zu
und ging ihr entgegen. Wir begrüßten uns kurz, und auf dem Weg zur
Promenade plauderten wir ein paar Minuten über die Hitze, bis der Hund sich
erleichtern musste und uns so zum Stehenbleiben zwang.
»Was brauchen Sie von mir?«, fragte Lacey nervös, während sie in ihrer Tasche
nach einem Plastikbeutel kramte. Am liebsten hätte ich sie umarmt, aber ich bin
nicht der Typ für spontanen Körperkontakt.
»Am einfachsten wäre es vermutlich, ein kleines Mikrofon in der Wohnung
anzubringen und alles aufzuzeichnen, was Ihre Chefin mit Ihnen spricht. So
hätten wir belastbare Quellen für den Artikel. Natürlich werde ich trotzdem
nicht Ihren Namen nennen oder irgendetwas schreiben, was sich auf Sie
zurückführen lässt. Abschließend könnten Sie und ich dann ein kurzes Gespräch
führen und uns darüber unterhalten, was sich in Ihrer Branche ändern muss. Wie
hört sich das an?«
Lacey bückte sich, um den Hundehaufen aufzuheben, und murmelte etwas, das
ich nicht ganz verstand. Als ich sie bat, es zu wiederholen, sagte sie: »Ich habe
gefragt: wie viel?« Ich dachte kurz nach. Ich konnte es mir nicht leisten, zu
großzügig zu sein. Zumal es möglich war, dass sie sich dann ermutigt fühlte,
noch mehr zu verlangen. Aber welche Summe erwartete sie?
»Tausend«, sagte ich. »Sie können das Geld in jeder beliebigen Währung haben,
bar auf die Hand. Aber mehr als das wird mein Redakteur nicht absegnen. Wäre
Ihrer Familie damit geholfen, Lacey?« Während wir weitergingen, verriet sie mit
keiner Miene, ob sie den Betrag für angemessen hielt.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Aber ich will es im Voraus, und Sie müssen
versprechen, weder meinen Namen noch den von Madame zu nennen oder
Henry zu erwähnen.« Ich war verwirrt, und das sah sie mir offenbar an. »Er ist
ein ungezogener Hund, trotzdem mag ich ihn«, erklärte sie kurz angebunden.
»Na gut, nichts über Henry«, versprach ich und bemühte mich, nicht allzu
fassungslos dreinzuschauen. Sie ließ zu, dass ein Fremder eine Wanze im Haus
ihrer Arbeitgeberin installierte, sorgte sich aber um den fiesen kleinen Kläffer,
der sie eindeutig hasste. Menschen sind mir wirklich ein Rätsel.
Ich verabredete mich mit ihr für den nächsten Tag zur gleichen Zeit, um ihr
das Gerät zu übergeben, das sie mit dem Hub vernetzen sollte – ob sie denn
wüsste, wie man das macht? Sie wusste es. Wie sich herausstellte, war sie die
»wundervolle Haushälterin«, die Janine in dem Lifestyle!-Artikel erwähnt hatte.
»Madame versteht nicht, wie es funktioniert, aber sie kann jetzt Sprachbefehle
verwenden.« Schön, schön. War die Verbindung einmal hergestellt, erklärte ich
Lacey, dann bräuchte sie nichts weiter zu tun. Das Gerät würde die Gespräche
selbstständig aufzeichnen und an mich übermitteln. An ihrem freien Tag würden
wir für den Artikel dann noch ein kurzes Interview führen, und das war auch
schon alles. Lacey nickte.
»Bringen Sie morgen das Geld mit … in Euro. Bevor ich das Geld nicht habe,
mache ich gar nichts.« Respekt. Sie war nicht auf den Kopf gefallen.
»Selbstverständlich«, erwiderte ich und wünschte ihr noch einen schönen Tag.
Zum Abschied fletschte Henry grimmig die winzigen Zähne.
In dem Bemühen herauszufinden, welches Gerät für meine Zwecke am besten
geeignet war, wechselte ich während der nächsten Stunde zahllose
Textnachrichten mit Pete. Es musste etwas sein, so hatte ich es ihm erklärt, das
ich meinem Vater schenken konnte, der technische Gadgets liebte, und das klein
genug war, damit es der bösen Stiefmutter nicht auffiel (und damit Lacey es
unauffällig ins Haus schmuggeln konnte, aber das sagte ich Pete natürlich nicht).
Ein kabelloser Staubsauger war zu groß und auffällig, eine Glühbirne zu banal
und zu anfällig. Nachdem Pete ein paar Minuten nichts von sich hören ließ,
meldete er sich schließlich mit einem Link zu einer Art Wi-Fi-gesteuerten
Steckdosenleiste. Eigentlich nur eine schicke Doppelsteckdose mit USB-
Anschlüssen für Rechner und Handy, die problemlos in jede Tasche passte.
Du bist ein Genie!, schrieb ich zurück und begann sofort zu googeln, wo man so
ein Ding in Monaco finden könnte. Pete wollte noch weiterchatten. Er hatte eine
Prüfung vor sich und machte sich deshalb Sorgen, aber ich redete mich damit
heraus, dass der Akku meines Telefons leer sei. Kein Wunder, dass der Junge
Angst hatte, keine Freundin abzubekommen, wenn er außer Nerdtalk nichts zu
bieten hatte.
Da sich meine Google-Suche als erfolglos erwies, bestellte ich die Steckdose
online. Für die Expresslieferung am nächsten Tag musste ich einiges extra
zahlen. Dann warf ich einen Blick auf Janines Instagram-Feed, wo es tatsächlich
ein neues Posting gab. Ein Foto von zwei nebeneinanderhängenden Kleidern.
Das eine war aus blassgoldenem Stoff und hatte lange paillettenbesetzte Ärmel,
das andere war vom Schnitt her ähnlich, aber dunkelrot und ohne Pailletten.
Dafür hatte es eine dünne flauschige Borte auf der Brust. Ich konnte mir nicht
vorstellen, dass es irgendwelchen Zierrat gab, der Janine nicht gefallen würde.
Die Bildunterschrift lautete: »Ich gehe heute Abend aus, für welche dieser
Schönheiten soll ich mich entscheiden?« Die Kommentare waren
überschwänglich. Ihre Verfasser betonten ausnahmslos, wie schwer diese
Entscheidung sei, und versicherten Janine, dass sie in beiden Kleidern
umwerfend aussehen würde. Dolly Parton hätte zweifellos zugestimmt.
Immerhin stammt von ihr das Zitat: »Man braucht eine Menge Geld, um so billig
auszusehen.«
Ich fasste den Entschluss, die Chance zu ergreifen. Ich zog einen schwarzen
Anzug mit einem weißen T-Shirt und dazu die neonfarbenen Stilettos vom
Vorabend an. Dann fuhr ich mit dem Taxi zu Janine. Der Fahrer hielt auf der
gegenüberliegenden Straßenseite, und ich bat ihn, auf meine Freundin zu warten.
Um 19:45 Uhr war es so weit. Janine hatte sich für das goldene Kleid
entschieden. In Begleitung eines Mannes in einem extravaganten silbernen
Blazer stieg sie die Eingangstreppe hinunter und in einen wartenden Mercedes.
Als der Wagen losfuhr, stieß ich einen theatralischen Seufzer aus und
entschuldigte mich bei dem Taxifahrer. Meine Freundin hatte offenbar
vergessen, dass ich sie abholen sollte. Wir folgten dem Mercedes etwa acht
Minuten lang, bis dieser vor einem Restaurant mit einem großen roten Vordach
hielt. Ihr junger Begleiter half Janine aus dem Auto und führte sie zwischen zwei
Ständern mit Blumengestecken hindurch zur Tür des Restaurants, die der Portier
mit der Andeutung einer Verbeugung für sie öffnete. Als sie hineingingen,
würdigten ihn die beiden keines Blickes. Ich wartete einen kurzen Augenblick,
bevor ich ihnen folgte. Drinnen begrüßte mich eine Frau in einem engen
Rollkragenpullover ohne ein Lächeln. Wenn solche Leute versuchen, einen
einzuschüchtern, verhält man sich am besten genau wie sie. Ohne ein »Hallo«
oder »Guten Abend« fragte ich nach einem Tisch.
»Haben Sie reserviert?«, wollte sie wissen und musterte mich von oben bis
unten.
»Nein. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das für einen Einzeltisch
nötig ist«, erwiderte ich und starrte betont desinteressiert auf mein Handy. Sie
zog eine Schnute und hielt dann Zwiesprache mit dem Oberkellner. Ein paar
Minuten später führte sie mich zu einem Platz an der Bar. Janine saß in einem
mit rotem Samt verkleideten Separee. Farbe und Stoff der Polster verliehen
ihrem Outfit eine unglücklich weihnachtliche Aura. Ihr auffällig gekleideter
Begleiter saß neben ihr. Zwei weitere Frauen vervollständigten die Gruppe. Ich
war zu weit weg, um von ihrer Unterhaltung viel verstehen zu können, und
begnügte mich damit, sie zu beobachten. Dass mir dabei ein interessantes
Gespräch entging, erschien mir mehr als unwahrscheinlich. Aber es war schön,
Janine in Fleisch und Blut zu sehen. Ich hätte es als nachlässig empfunden, ihr
nicht diesen letzten Respekt zu erweisen.
Ich aß ein eher ekliges Hühnchen-Gericht, trank dazu zwei Gläser Wein und
beobachtete, wie der junge Mann gelegentlich Janines Haar zurechtstrich oder
ihr einen Happen von seinem Essen anbot. Es wirkte seltsam kokett, obwohl er
ganz offensichtlich schwul und mindestens zwanzig Jahre jünger war als sie.
Vielleicht bestand ihre Abmachung darin, dass er sie in die Stadt begleitete und
ihr die Aufmerksamkeit schenkte, die sie von Simon nicht bekam. Im Gegenzug
lud sie ihn zum Essen ein und machte ihm kleine Geschenke. Wie altmodisch.
Gelegentlich brachen alle in schallendes Gelächter aus, und Janines Gesicht
verzerrte sich zu einem Lächeln. Als ich sah, wie sie um die Rechnung bat, tat ich
es ihr gleich. Dann folgte ich ihnen hinaus in die Nacht. Der Mann zündete sich
eine Zigarette an, während die Frauen noch etwas plauderten. Eine von ihnen
wollte am Donnerstag auf einen Kaffee bei Janine vorbeikommen. Doch die
schüttelte den Kopf: »Nein, komm lieber morgen. Das Hausmädchen hat
donnerstags frei, und ich werde den ganzen Tag schlafen. Ich reise am Freitag
nach Marokko und muss mich vor dem frühen Flug etwas ausruhen.«
Ich kehrte zu Fuß ins Hotel zurück. Ob Pete es schaffen würde, bis
Donnerstag alles vorzubereiten? Oder war das ein voreiliger Schnellschuss? Eile
führt zu Nachlässigkeit. Aber mir gefiel die Vorstellung, bei ihrem Tod hier in
Monaco zu sein. Das würde mir ein Gefühl von Kontrolle geben, das ich bei
diesem Plan schmerzlich vermisste. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie lange
sie wegbleiben wollte. Vielleicht würde ich wochenlang auf meine nächste
Gelegenheit warten müssen. Was wäre, wenn Lacey in der Zwischenzeit kalte
Füße bekäme? Am Geldautomaten neben dem Hotel hob ich den maximalen
Betrag ab, den meine Bank pro Tag zuließ: fünfhundert Euro. Eine Regelung,
die die Einwohner von Monaco offenbar zutiefst entsetzt hätte, denn weniger als
fünfhundert Euro konnte man hier gar nicht abheben. Zumindest waren keine
kleineren Summen vorgegeben. Das war wohl die Mindestmenge an Cash, die
man in der Tasche haben musste, um den Kellnern auf den Jachten im Hafen
Trinkgeld zu geben.
Pete war sauer, dass er mich den ganzen Abend nicht erreichen konnte. Bis ich
ihn so weit beruhigt hatte, dass er sich wieder der bevorstehenden Aufgabe
widmete, musste ich zwanzig Minuten lang sein Gejammer ertragen. Alles nur,
weil sein Vater ihm nicht erlaubte, seine Zimmertür abzuschließen. Teenager
sind unglaublich egozentrisch. Ich musste mich sehr zusammenreißen, ihn nicht
darauf hinzuweisen, dass die Freiheit, rund um die Uhr zu masturbieren, kein
grundlegendes Menschenrecht ist. Und dass es keine Verletzung der
Privatsphäre darstellt, wenn man kein Schloss an seiner Tür anbringen darf.
Selbst wenn man noch so oft den vierzehnten Verfassungszusatz beschwört. Ich
erzählte ihm von dem Doppelstecker, den ich bestellt hatte, und dass er morgen
geliefert würde. Dann eröffnete ich ihm, dass ich die Sache mit meiner
Stiefmutter durchziehen wollte, bevor ich am Samstag abreiste. Ich probierte es
mit umgekehrter Psychologie und versicherte Pete, dass es völlig in Ordnung sei,
sollte er der technischen Herausforderung nicht gewachsen sein.
Das Wichtigste ist doch, dass du mein Freund bist, schrieb ich ihm. Ich finde sicher noch
jemand anders, der kurzfristig helfen kann.
Das brachte ihn wieder auf Spur. Pete war einfach zu vorhersehbar: Er
antwortete mit einem Emoji – einem gebrochenen Herzen – und versicherte mir
dann, dass er bereit sei, die ganze Nacht an unserem Plan zu arbeiten. In Bezug
auf mein Vorhaben wusste er inzwischen relativ viel. Zum Beispiel, dass ich
Janine in ihre Sauna sperren und dann die Hitze aufdrehen wollte. Er wusste
allerdings nicht, dass ich die Sauna erst wieder öffnen würde, wenn sie am Boden
lag. Und auch nicht, dass sie ein Herzleiden hatte, dass ihren Tod noch
beschleunigen konnte. Obwohl er den Mund sehr voll nahm, konnte ich mir
nicht vorstellen, dass er meine wahren Absichten verstehen würde – egal wie
sehr er mich beeindrucken wollte. Mir schien es klüger, ihn in dem Glauben zu
lassen, ich wäre versehentlich zu weit gegangen, und ihm die ganze
Verantwortung erst aufzubürden, wenn er in Panik geriet.
Wir brauchen Zugang zu den Überwachungskameras, um zu wissen, wo sie sich aufhält,
schrieb er. Die sollten im selben Netzwerk sein, aber das wissen wir erst sicher, wenn die
Steckdose aktiv ist. Ab da können wir alles mit dem Smartphone kontrollieren. Dann sagst du
mir einfach, was passieren soll, und ich sorge dafür, dass es geschieht. Wenn du willst, kannst
du sogar mit ihr sprechen. Dann macht sie sich bestimmt vor Angst in die Hose!
Wir chatteten noch ein paar Stunden. Es ging immer hin und her: Pete
schilderte mir, wie das Ganze funktionierte, und ich bat ihn wieder und wieder,
Klartext zu reden. Um drei Uhr nachts versuchte er dann, das Gespräch in eine
persönlichere Richtung zu lenken, und schickte mir mal wieder diese grässlichen
Sprachnachrichten. Also schaltete ich das WLAN aus und ging schlafen, ohne
ihm Gute Nacht zu sagen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne durch die Fenster.
Ich blieb noch ein Weilchen liegen und freute mich, dass es endlich
vorwärtsging. Janines Tod war ein entscheidender Schritt. Simon mochte
vielleicht kein treuer oder hingebungsvoller Ehemann sein, aber die beiden
waren seit Jahrzehnten verheiratet, und in vielerlei Hinsicht hatte sie ihm den
Rücken freigehalten. Seine Eltern waren sicher ein Verlust, sein Bruder
vermutlich weniger. Ich bezweifelte, dass der Tod seines Neffen ihn in
irgendeiner Weise emotional tangiert hatte. Doch seine Frau zu verlieren, das
würde ihn hart treffen. Ob er dann wohl allmählich ein Muster erkannte und die
Zufälligkeit dieser Todesfälle infrage stellte? Auf mich wirkte er nicht wie
jemand, der an Flüche glaubt. Vielleicht ja daran, dass da draußen ein Feind
lauerte, der Simons Familie auslöschte, ohne sich zu erkennen zu geben? Ich
hoffte sehr, dass ihm solche Gedanken durch den Kopf gehen und keine Ruhe
mehr lassen würden. Simon hatte sich im Berufsleben Feinde gemacht. Hatte
Geschäftspartner bei Deals über den Tisch gezogen. Firmen gekauft, um sie
dann umzustrukturieren. Eine höfliche Umschreibung dafür, eine Menge Leute
zu feuern. Meine Mutter war definitiv nicht seine letzte Geliebte gewesen, das
ließ sich der Klatschpresse entnehmen. Möglicherweise würde er sich fragen, ob
ihn eine seiner Mätressen genug hasste, um sich auf so dramatische Weise an ihm
zu rächen. Reiche Leute sind paranoid. Vielleicht würde er die
Sicherheitsvorkehrungen verstärken. Womöglich einen Privatdetektiv
engagieren, der potenzielle Feinde ausspähte. Eventuell würde er sich sogar an
die Polizei wenden. Alles vernünftige Strategien, letztendlich jedoch sinnlos.
Jeremy und Kathleen waren längst unter der Erde, und ihr Autounfall würde sich
nie auf etwas anderes als auf ihre eigene Unachtsamkeit zurückführen lassen.
Andrew war in den Augen der Familie ein gestörter Spinner. Sein Tod war eine
Tragödie, aber wohl kaum verdächtig. Lee? Nun ja … je weniger die Behörden
über sein unschönes Ende herausfanden, desto besser. Und Janine hatte seit
Langem Herzprobleme, sie hätte eigentlich gar nicht in die Sauna gehen dürfen.
Den Opfern einen Teil der Schuld zuzuschustern, hat immer einen ganz
besonderen Reiz.
Ich warf einen Blick auf mein Smartphone: eine Nachricht von Jimmy, der
wissen wollte, ob ich Lust hätte, abends etwas mit ihm zu trinken. Eine von
meiner Nachbarin, die mich informierte, dass sie ein Paket für mich
angenommen hatte. Zwei E-Mails von Arbeitskollegen, die ich ignorierte. Dann
schaltete ich das Wi-Fi an meinem anderen Handy ein, das ich nur benutzte,
wenn es um die Artemis-Sache ging. Sofort informierte mich eine Reihe von
Pieptönen über neue Textnachrichten: neun an der Zahl, und alle waren von
Pete. In der ersten bat er mich herauszufinden, auf welchem System der Hub
lief. Ich nahm mir vor, Lacey danach zu fragen. Die folgenden Nachrichten
enthielten Links zu Artikeln über Smart-Home-Türklingeln, die gehackt worden
waren. In der nächsten wollte er wissen, wohin ich verschwunden sei. Die letzte
enthielt ein Foto von Pete vor dem Spiegel. Sein Kopf war nicht im Bild, aber
der Bund seiner Jogginghose war heruntergezogen, und ich konnte seinen Penis
sehen, den er wie ein großzügiges Geschenk in die Kamera hielt. Warum
verschicken Männer unaufgefordert Bilder von ihren Schwänzen?
Ich habe nicht viele Freundinnen. Dennoch bin ich zuversichtlich, für die
meisten meiner Geschlechtsgenossinnen zu sprechen, wenn ich sage, dass
niemand solche Fotos braucht. Schon gar nicht beim Aufwachen und erst recht
nicht von einem minderjährigen Teenager mit zu viel Schamhaar und einem
bedauernswerten Fall von Brustakne. Ich empfand gleichzeitig Abscheu und
Mitleid, denn Pete hielt diese übergriffige Peinlichkeit offenbar für ein
obligatorisches Ritual, um mit Mädchen in Kontakt zu treten. Ich speicherte das
Foto und schickte eine Kopie an mein privates Handy. Sollte der Junge später
eine Gewissenskrise bekommen, konnte es nicht schaden, es in der Hinterhand
zu haben. Dann fragte ich ihn höflich, ob wir die Sache vielleicht ein bisschen
langsamer angehen könnten. Dabei bemühte ich mich, einen Ton anzuschlagen,
der ihn mehr als nur ein wenig verlegen machte, ihm aber gleichzeitig die
Hoffnung gab, ich würde mich später vielleicht doch irgendwie erkenntlich
zeigen. So weit würde es natürlich niemals kommen, wobei sich mein Mitgefühl
mit dem einsamen Teenager in Grenzen hielt. Wer sich mit Softwarehacks
Freundschaften erkauft, der hat es verdient, übers Ohr gehauen zu werden. Er
sollte sogar damit rechnen.


Sobald das Päckchen angekommen war, nahm ich es mit auf mein Zimmer,
öffnete es und las die Anleitung. Ich schrieb sie in abgekürzter Form auf einen
Zettel und packte die Doppelsteckdose zusammen mit den fünfhundert Euro in
einen kleinen Kulturbeutel, der problemlos in Laceys Tasche passen würde.
Wenn sie mit dem Hund vom Spaziergang zurückkehrte, würde Janine das Gerät
niemals entdecken. Am Geldautomaten hob ich weitere fünfhundert Euro ab,
steckte sie mit in den Beutel und ging dann zur Promenade, wo mir Lacey bereits
entgegenkam. Ihre Laune hatte sich gebessert. Vielleicht hatte sie Pläne gemacht,
was sie mit dem vielen Geld anstellen würde. Oder Janine war an diesem Morgen
besonders gemein gewesen, und Lacey freute sich darauf, es ihr heimzuzahlen.
Vermutlich war es ein bisschen von beidem.
Ich gab ihr das Geld und erklärte ihr, was sie zu tun hatte. »In dem Beutel ist
eine Anleitung, falls nötig. Und meine Handynummer. Sobald Sie das Gerät
installiert haben, schreiben Sie mir bitte eine SMS mit der Marke und der
Seriennummer des Hubs. Es müssen sechzehn Ziffern sein.« Sie nickte. Dann
erzählte sie mir, dass Janine am Freitag verreisen würde. Ich tat, als wäre das
völlig neu für mich, und versicherte ihr, dass wir den Abhörmodus während
dieser Zeit ausschalten und erst bei Janines Rückkehr wieder aktivieren würden.
Ich fragte mich, ob Lacey sich in Janines Abwesenheit wohl auf der
Wohnzimmercouch die Zehennägel lackierte, in der Küche rauchte und lange
Bäder in der riesigen Wanne nahm. Ich hätte es ihr von Herzen gegönnt, aber
vermutlich war sie dafür viel zu verängstigt.
»Wir müssen nur eine Woche lang mitschneiden – erfahrungsgemäß haben wir
dann mehr als genug Beispiele für schikanöses Verhalten. Anschließend können
Sie die Steckdose einfach wegwerfen, in Ordnung?« Sie nickte erneut und beugte
sich zu Henry hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen.
»Ich mache das für meine Familie und damit andere Frauen von ihren
Arbeitgebern nicht so schlecht behandelt werden wie ich. Es wäre schön, wenn
andere es künftig besser haben.« Henry knabberte an ihren Fingern herum, und
plötzlich quälten mich Schuldgefühle. Ihre mutige Tat würde niemandem
helfen … außer mir. Und dann würde sie auch noch ihren Job verlieren.
»Wie heißen Sie mit Nachnamen?«, fragte ich sie aus einer Laune heraus.
Überrascht schaute sie zu mir auf. In ihrem Blick lag tiefes Misstrauen. In
Henrys ebenfalls, aber bei dem kleinen Scheißer war das normal. »Ich
verspreche, dass ich den Namen nur für die eigenen Unterlagen brauche.
Niemand wird ihn je erfahren.« Ihr Unbehagen stand ihr noch immer ins Gesicht
geschrieben. »Wenn die Geschichte weltweit verkauft wird, bekommen Sie eine
Beteiligung.« Meine Argumentation war komplett improvisiert. Doch sie ging
auf, das sah ich Lacey an. Nichts ist überzeugender als Geld.
»Phan«, sagte sie. »Lacey Phan.« Dann buchstabierte sie den Namen. Ich
bedankte mich und erinnerte sie daran, mir eine SMS zu schicken, sobald sie den
Stecker installiert hatte. Mit ernster Miene versprach sie mir, es keinesfalls zu
vergessen, und ich kehrte zurück ins Hotel.
Vier Stunden später – ich hatte inzwischen ein Online-Work-out absolviert, ein
Bad genommen und mir eine Stunde lang Instagram-Clips von Bryony
angesehen – erhielt ich die ersehnte SMS. Alles erledigt, lautete die Nachricht.
Gerät ist installiert, blaues Licht blinkt. Markenname: Henbarg. Seriennummer: 1
365 448 449 412 564.
Vor Freude und Erleichterung rollte ich auf dem Bett herum und schlug dreißig
Sekunden lang aufs Kopfkissen ein, bevor ich mich aufsetzte und tief
durchatmete. Dann schrieb ich eine Textnachricht an Pete, von dem ich den
ganzen Tag noch nichts gehört hatte. Zeitverschiebung hin oder her: Das war
untypisch für ihn. Normalerweise war er die halbe Nacht wach und surfte im
Internet. An den blauen Häkchen hinter meiner letzten Message erkannte ich,
dass er sie gelesen hatte. Möglicherweise war ihm das Foto im Nachhinein
peinlich, vielleicht war er auch wütend oder verletzt. Es geht nichts über eine
höfliche Abfuhr, wenn man einen Mann auf die Palme bringen will. Ich
informierte ihn, dass der Doppelstecker installiert war. Dann gab ich ihm Marke
und Seriennummer des Hubs. Zum Schluss schrieb ich: Sollen wir’s morgen krachen
lassen? Die alte Hexe kriegt bestimmt voll die Panik. Das wird soooo lustig, lol.
Es war kurz vor neunzehn Uhr, und da ich trotz des anstrengenden
Fitnesstrainings voller Adrenalin war, zog ich erneut meine Sportklamotten an
und ging eine Runde laufen. Auf den sauberen Straßen und den von gepflegten
Pflanzen gesäumten Fußwegen vergingen die zehn Kilometer wie im Flug.
Monaco hat etwas von einer Spielzeugstadt, die einem das Gefühl vermittelt, der
Rest der Welt wäre weit weg und könnte einem nichts anhaben. Ich kaufte mir
ein Eis und genoss den Zuckerkick auf dem Weg zurück ins Hotel.
Immer noch keine Antwort von Pete. Aber er hatte meine letzte Nachricht
gelesen: zwei blaue Häkchen. Ob sein Vater ihm das Handy abgenommen hatte?
Oder suchte mein pubertierender Komplize immer noch nach dem besten Weg,
Janines Hub zu hacken? Gab es womöglich einen schwerwiegenderen Grund für
sein Schweigen? Hatte er mithilfe der Seriennummer herausgefunden, wer Janine
war? Wenn ja, dann wusste er inzwischen sicher, dass ich ihn auch über meine
Identität und meine Absichten belogen hatte.
Die Gefahr, dass es dazu kommen konnte, war mir von Anfang an bewusst
gewesen. Pete war der Experte, der über das nötige technische Fachwissen
verfügte – falls man einen siebzehnjährigen Teenie als Experten für irgendetwas
anderes als eklige Körperausscheidungen bezeichnen kann. An diesen Experten
gab ich einen großen Teil der Kontrolle ab, und ich konnte nicht wissen,
inwieweit er mich durchschauen würde. Ich hatte darauf spekuliert, dass er mir
half, Janines Smart Home zu hacken, und hoffte, ihr Tod würde ihm solch einen
Schock versetzen, dass er danach nichts mehr mit der Sache zu tun haben wollte.
Das war das Best-Case-Szenario. Aber ich war nicht naiv. Ich wusste: Sollte er
herausfinden, dass ich Janine nicht bloß einen »heilsamen Schreck« einjagen
wollte, dann könnte er Antworten von mir verlangen. Oder sich
schlimmstenfalls sogar an die Behörden wenden.
Dieses Risiko geht man ein, wenn man einen Außenstehenden um Hilfe bittet.
Trotzdem: Alles in allem hielt ich es immer noch für klüger, ein idiotisches Kind
zu manipulieren und zu behaupten, ich hätte nicht gewusst, was passieren
könnte, als einen »Profi« zu engagieren, der sich über meine Absichten im Klaren
gewesen wäre. So jemandem könnte es womöglich gelingen, meine wahre
Identität herauszufinden, um mich dann zu erpressen und beispielsweise einen
exorbitanten Geldbetrag von mir zu verlangen. Wenn Pete wirklich der einsame
gelangweilte Teenager war, für den ich ihn hielt, dann dürfte es nicht allzu
schwer sein, ihn zum Schweigen zu bringen.
Aber wo steckte er bloß? Es war inzwischen einundzwanzig Uhr. Ich hatte
mich geduscht und mich in Schale geschmissen, um essen zu gehen, doch es gab
immer noch kein Lebenszeichen von ihm. Ich schrieb ihm eine weitere
Nachricht, in der ich mich erkundigte, ob ich ihn irgendwie verärgert hätte, und
beteuerte, ihn zu vermissen. Bitte melde dich! Mir ist sooo langweilig hier, und ich brauche
dich. Xx.
Das Restaurant, für das ich mich entschied, entpuppte sich als Touristenfalle.
Das hätte mir schon der Umstand verraten müssen, dass sämtliche Gerichte auf
der Speisekarte mit Fotos abgebildet waren. Ich war allerdings nicht bei der
Sache und hatte es eilig, den Abend hinter mich zu bringen. Nach einem welken
Salat und zwei Gläsern Wein bezahlte ich die Rechnung und kehrte ins Hotel
zurück. Unterwegs schrieb ich eine SMS an Lacey, um zu erfahren, wer sich am
nächsten Tag alles im Penthouse aufhalten würde. Ich müsse das wissen, um die
O-Töne der Aufnahme später richtig zuordnen zu können. Die Antwort ließ
nicht lange auf sich warten: Sie habe von neun bis achtzehn Uhr frei, informierte
sie mich, erst dann werde sie in die Wohnung zurückkehren. Gewöhnlich
komme an ihrem freien Tag morgens ein Mädchen, um Janine das Frühstück zu
bereiten und kurz durchzuputzen, danach sei bis zum Abend kein Personal mehr
im Haus. Madame verbringt den Donnerstag gern allein, um sich zu entspannen.
Sie sagt, es sei schön, ihr Haus mal ganz für sich zu haben. Manchmal lässt sie
sich die Nägel oder die Haare machen. Wenn ich wieder da bin, räume ich auf.
Erstaunlich, dass sich Janine einmal in der Woche einen ganzen Tag
freinehmen musste, um sich zu entspannen, wo sich doch eigentlich ihr ganzes
Leben um nichts anderes drehte. Wobei es mir natürlich recht sein sollte, dass
das, was man heutzutage euphemistisch Selfcare nennt, bei ihr absolute Priorität
genoss: Dadurch hatte ich sie genau dort, wo ich sie haben wollte.
Um dreiundzwanzig Uhr ging ich zu Bett – für meine Verhältnisse fast schon
lächerlich früh. Die Frühaufsteher hatten den Kampf um Gut und Böse zwar
schon lange für sich entschieden, aber normalerweise ließ ich mich davon nicht
beeindrucken: In der Regel ging ich um zwei Uhr ins Bett und stand – wenn
irgend möglich – nicht vor elf Uhr auf. Doch wie ein Kind, das auf den
Weihnachtsmann wartet, wollte ich diese Nacht so schnell wie möglich hinter
mich bringen. Nur dass ich leider keinen Schlaf finden konnte. Ich hatte seit
sechzehn Stunden nichts von Pete gehört. Allmählich dämmerte mir die
Erkenntnis, dass meine Chance, Janine morgen zu töten, ungenutzt verstreichen
würde, wenn er sich nicht bald meldete. So wie es aussah, bräuchte ich dann
einen völlig neuen Plan. Zur Beruhigung hörte ich eine Playlist mit
Wellenplätschern und Meeresrauschen – das führte allerdings nur dazu, dass ich
pinkeln musste. Ich machte Atemübungen, aber auch die konnten die Nervosität
nicht vertreiben. Um zwei Uhr sprang ich aus dem Bett und nahm eine
Sprachnachricht für Pete auf. Um jünger zu klingen, sprach ich eine Oktave
höher. Das theatralische Zittern in meiner Stimme würde ihn hoffentlich
überzeugen.
»Ich weiß nicht, wo du steckst und ob es dir gut geht. Ich habe stundenlang
geweint, weil ich mir solche Sorgen mache, dass ich dir wehgetan oder alles
vermasselt habe. Ich habe Angst vor meinen Gefühlen für dich, Baby! Ich
glaube, deshalb habe ich dich weggestoßen. Aber ich wollte dich nicht traurig
machen. Bitte melde dich. Mir ist egal, was mit der bösen Stiefmutter passiert,
ich muss nur wissen, ob es dir gut geht! Du kannst mich jederzeit erreichen, bitte
antworte einfach.«
Fünf Minuten später schrieb er zurück. Ich war voll down, als du mir gesagt hast, dass
ich es langsamer angehen soll, lol. Dachte, du fändest mich eklig, und hab mich total entblößt
gefühlt. Ich war so angepisst, dass ich ’nen krassen Incel-Trip gefahren hab: Scheiß auf Weiber,
scheiß drauf, ein netter Typ zu sein, die verarschen dich doch alle. Die Nummer. Ich dachte, du
wärst voll link, und wollte es dir so richtig zeigen. Lol, ich bin echt schräg drauf. Aber hey, du
bedeutest mir auch echt voll viel bb. Tut mir megaleid, wenn ich zu weit gegangen bin. Als ich
deine Stimme hörte, hab ich kapiert, was fürn verdammter Vollarsch ich bin. Aber ich tu alles,
um es wiedergutzumachen.
Ziemlich verstörend, dieser Einblick in seine Gedankenwelt. Dieser irre Drang,
ein Mädchen zu bestrafen, weil es sein Penisfoto nicht sofort abfeiert, war
erschreckend. Und das sage ich als jemand, der sechs Menschen getötet hat.
Wenn das alles vorbei war, würde ich lieber früher als später aus seinem
armseligen Leben verschwinden, allerdings nicht ohne das deprimierende
Schwanzfoto als Sicherheit zu behalten.
Wir chatteten eine Stunde lang. Ich schlüpfte in die Rolle des verletzten und
schüchternen Teenagermädchens, während er sich angesichts meiner zur Schau
gestellten Zuneigung aufplusterte und sich als mein Beschützer aufspielte. Ich
wartete, bis er von allein auf den Hack bei Janine zu sprechen kam, denn er sollte
das Gefühl haben, das Ruder in der Hand zu haben. Schließlich machte er sich
an die Arbeit. Haarklein und wie immer mit unverständlichen Fachtermini
gespickt, beschrieb er mir, wie er gerade ihr Netzwerk infiltrierte. Diese zähen
und öden Ausführungen unterbrach er manchmal minutenlang, wenn das Smart-
Home-System seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Irgendwann
wurde mir die endlose Warterei so langweilig, dass ich offenbar wegdämmerte.
Als ich um neun Uhr morgens aus dem Schlaf schreckte, brauchte ich erst
einen kurzen Moment, um mich daran zu erinnern, was an diesem Tag Wichtiges
bevorstand. Ein Blick auf mein Artemis-Handy verriet mir, dass Pete fleißig
gewesen war: zweiundzwanzig neue Nachrichten. Hoffentlich gute und keine
neuen Penisfotos. Die erste war ein Bild von einer muskulösen Comicfigur, die
einen goldenen Pokal in die Höhe hielt. Typisch Teenager: Pete kommunizierte
lieber über Memes als über Sprache. Hoffentlich war er nicht schon wieder zum
Incel mutiert, sondern wollte mir auf diese Weise mitteilen, dass er erfolgreich in
Janines Smart Home eingedrungen war. Die nächste Nachricht enthielt ein
Video. Das Vorschaubild war unscharf. Ich kniff die Augen zusammen und
klickte auf »Play«. Der Clip war dunkel, und ich konnte kaum etwas erkennen.
Blinzelnd starrte ich auf den blassen Fleck in der Bildmitte. In diesem Schemen
bewegte sich etwas. Es war nur ein kurzes Zucken. Und ich hörte ein Rascheln.
Mehr war da nicht. Ich spielte das Video noch einmal ab. Da war etwas. Es
war … ja, es war ein Bett. Und die Bewegung … das war ein Mensch. Jetzt
konnte ich den Umriss der Matratze deutlicher erkennen. Das Zucken war ein
Bein. Oder vielleicht ein Arm? Schickte mir Pete jetzt Videos von sich?
Verdammt, das lief nicht ganz so gut, wie ich es mir erhofft hatte.
Leicht beunruhigt öffnete ich die dritte Nachricht. Eine Audiodatei. »Bitte
mach noch das Bett, bevor du gehst. Für den Rest des Tages würde ich gern auf
den Anblick zerknautschter Laken verzichten. Ach, und ruf die Maniküre an. Sie
soll nicht vor Mittag kommen. Nein, ich weiß nicht, bei wem ich sie gebucht
habe. Wahrscheinlich bei Monaco Manicures. Finde es einfach raus. Das kann ja
nicht so schwer sein, Lacey! Ich gehe jetzt unter die Dusche. Und sag dem
Portier, er soll anrufen, wenn mein Paket da ist.«
Die gebieterische Stimme noch immer in den Ohren, starrte ich bewegungslos
auf mein Handy. Das war Janine. Keine Frage. Ich scrollte zurück und schaute
mir noch einmal den kurzen Videoclip an. Das musste die schlafende Janine sein.
Ich sah nach, zu welcher Uhrzeit mir Pete den Clip geschickt hatte. Sechs Uhr
morgens. Und die Sprachaufnahme um acht Uhr morgens. Die nächsten
Nachrichten enthielten Fotos von der Wohnung, aufgenommen von den
Überwachungskameras: Die ganz in Beigetönen gehaltene Lounge mit den
überladenen goldenen Akzenten sah aus wie eine Versandhaus-Version von
Versailles. Die Flure hingen voll mit goldgerahmten Gemälden, wie Leute, die
sich nicht für Kunst interessieren, sie kaufen, um kultiviert zu wirken.
Landschaften, Pferde, ein paar kitschige Skizzen von Balletttänzerinnen. Die
Küche mit den weißen Schränken und dem Marmorfußboden war der einzige
halbwegs schlichte Raum. Sie wirkte, als wäre sie noch nie benutzt worden. Der
Anblick des Esszimmers tat in den Augen weh: dunkelrot gestrichene Wände,
ein flauschiger Teppich unter einem riesigen Mahagoni-Tisch, der vollständig
eingedeckt war. Was gibt es Tragischeres als den Irrglauben, ein rund um die Uhr
gedeckter Tisch wäre der Gipfel der Eleganz? Als ob jeden Moment ein
Angehöriger des Königshauses vorbeischneien und sich über das Fehlen von
Tellern mokieren könnte.
Die Aufnahme des großzügigen Badezimmers schoss für mich den Vogel ab.
Sie zeigte einen komplett mit weißem Marmor verkleideten Raum, fast so groß
wie meine Wohnung, mit einem riesigen runden Duschkopf, einer frei stehenden
Wanne, zwei Waschbecken und einem gewaltigen Spiegel in einem üppig
verzierten Rahmen. Die Mosaikfliesen an der Wand hinter dem Spiegel fügten
sich zur Darstellung einer Gruppe von Nymphen beim Bad in einem kleinen
See. Von der Dusche führte eine Glastür in die mit Holz ausgekleidete Sauna.
In weiteren Nachrichten brachte Pete vor allem den Stolz auf seine Arbeit zum
Ausdruck – meistens GIFs. Die letzte enthielt erneut ein Video, angekündigt mit
dem Satz: Und hier kommt mein Meisterwerk …
Ich klickte auf den Clip. Es handelte sich um eine weitere Aufnahme des
Schlafzimmers. Allerdings waren die Vorhänge diesmal offen, und Lacey hatte
anscheinend das Bett gemacht. Ich konnte klar und deutlich sehen, wie sich die
Tür von alleine öffnete, dann schloss und nochmals öffnete. Pete wollte mir
zeigen, was er alles tun konnte. Er hatte die Kontrolle über die Wohnung. Und
damit hatte ich die Kontrolle über Janines Leben.
Ich zeigte mich so dankbar wie möglich und schickte ihm ein Foto von einer
sexy Cheerleaderin, die ihre Pompoms in die Luft warf. Er antwortete sofort und
schrieb, er habe keine Minute geschlafen.
Das ist total irre, Eve. Ich kann in diesem Haus buchstäblich alles machen, was ich will.
Das System hat keine End-to-End-Verschlüsselung. Nachdem ich die Herstellerfirma
gecheckt hatte, wusste ich sofort: Volltreffer! Dahinter steckt so ein alter Knacker in
Deutschland, der den Kram nur an superreiche Leute verkauft. Aber er kümmert sich weder
um regelmäßige Updates noch darum, die Daten zu sichern. Diese Idioten zahlen eine
sechsstellige Summe für Zeug, das weniger Sicherheit bietet als ein beschissener Fitnesstracker.
Ich fragte ihn, ob es möglich sei, über das System mit Janine zu sprechen, und
er machte sich darüber lustig, wie wenig Ahnung ich von der Materie hätte. »Über
das System«, lol. Du klingst voll wie meine Mutter. Aber ja, du kannst sie ein bisschen
anzicken, wenn sie im Duschraum eingesperrt ist. Hast du übrigens das Mosaik gesehen?
Ganz schön sexy, diese Nymphen. Ist deine Stiefmutter nackt auch so sexy?
Seine letzte Bemerkung ignorierte ich und erkundigte mich stattdessen, was ich
tun musste, um auch von meinem Handy auf das System zugreifen zu können.
Er schickte mir einen Link zu einer App, die ich herunterlud und installierte. Mit
ihrer Hilfe konnte ich eine Website öffnen, die mir ein Livebild des Flurs in
Janines Penthouse zeigte. Pete erklärte mir, wie ich auf die Kameras in den
verschiedenen Räumen zugreifen konnte.
Alles andere werde ich von hier aus steuern. Aber wenn ich die Verbindung herstelle, kannst
über das Handy zu ihr sprechen.
Ist sie jetzt zu Hause?, wollte ich wissen und schaute mich staunend in der
Wohnung um.
Nein, sie ist vor etwa zehn Minuten gegangen. Du hast mir gar nicht gesagt, wie scheißreich
dein Vater ist. Die Wohnung ist ja voll der Wahnsinn.
Sie ist diejenige mit dem Geld, schrieb ich zurück, um ihn von dem Gedanken
abzubringen, ich könnte so etwas wie eine reiche Erbin sein.
Dann ist Daddy wohl ein Glückspilz. Soll ich dir ein paar coole Tricks zeigen, solange
niemand in der Wohnung ist?
Ich sah zu, wie die Jalousien im Wohnzimmer rauf- und runterfuhren, während
aus einem unsichtbaren Lautsprecher laute Housemusic dröhnte. Damit war
zweifelsfrei klar: Er war nicht bloß ein pubertärer Aufschneider, er konnte das
wirklich. Trotzdem bat ich ihn, damit aufzuhören, denn ich wollte verhindern,
dass die Nachbarn etwas bemerkten und Janine davon erzählten, wenn sie nach
Hause kam. Ich hatte den Verdacht, dass Janine morgens nur selten mit voller
Lautstärke Housemusic spielte. Eigentlich sollte niemand House spielen, schon
gar nicht mit voller Lautstärke.
Ich bat Pete, alles im Blick zu behalten und mir Bescheid zu geben, sobald
Janine zurückkehrte. Dann duschte ich, zog mich in weniger als fünf Minuten an
und schnappte mir Handy, Ladegerät und Kopfhörer, um schließlich hinunter
zum Strand zu gehen, wo ich mir das schönste Café aussuchte. Ich setzte mich
draußen unter einen Sonnenschirm und sah eine Weile zu, wie die Wellen ans
Ufer schlugen. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den Kameras in
Janines Wohnung zu, in der Hoffnung, dass es bereits ein Lebenszeichen von ihr
gab. Aber ich musste mich wohl noch etwas gedulden. Pete hatte sich auch nicht
gemeldet, also bestellte ich mir einen Kaffee und ein Croissant, ließ den Blick
über den Strand schweifen und zwang mich, nicht alle zehn Sekunden auf mein
Telefon zu schauen. Diese Disziplin musste ich nicht allzu lange
aufrechterhalten. Gerade als ich die letzten Krümel des Croissants verzehrt hatte,
ertönte ein »Pling«, und ich wischte mir eilig die fettigen Hände an einer Serviette
ab, bevor ich die Nachricht öffnete.
Sie ist wieder da, schrieb Pete.


Ich klicke zurück in die Kameraansicht und verfolge, wie Janine in ihr
Schlafzimmer geht. Sie stellt ihre große orangefarbene Hermès-Tasche aufs Bett,
außerdem eine kleine Einkaufstüte aus Papier, der sie eine goldverzierte Kerze
entnimmt, um sie auf dem Tisch neben ihrem Bett zu platzieren. Sie läuft ein
paar Minuten im Zimmer umher, schüttelt ein Kissen mit goldenen Quasten auf
und fährt mit dem Finger prüfend über die Fensterbank. Sie ist gelangweilt. Es
ist nicht die Art von Langeweile, die man empfindet, wenn man an einem seiner
seltenen freien Tage das Gefühl hat, die Zeit zu vergeuden. Es ist jahrelang
aufgestaute Langeweile. Das Produkt eines Lebens, das sich weitestgehend auf
die Organisation des Alltags, mittägliche Restaurantbesuche und stundenlange
Körperpflege beschränkt: eine Kerze kaufen; die Haare föhnen lassen; einen
Yogakurs besuchen; zu einem anderen Wohnsitz fliegen. Eine Routine, die sich
ewig und drei Tage wiederholt. Janine füllt ihre Zeit mit Aktivitäten, aber nichts
davon erfüllt ihr Leben mit Sinn. Ihr Leben ist ein Karussell der Banalität. Also
wandert sie durch ihre menschenleere Wohnung, um etwas zu finden, worüber
sie sich später bei Lacey beschweren kann. Wenn ihr klar wäre, wie deprimierend
das alles ist, würde sie vermutlich von ihrem Yoga-Balkon springen.
Eine neue Nachricht von Pete: Haustürkamera zeigt Frau mit Tasche.
Janine geht den Flur entlang. Plötzlich taucht Henry hinter ihr auf und kläfft
wie wild drauflos. Sie verscheucht den Hund und öffnet die Tür. Eine junge Frau
in einem schwarzen T-Shirt und Jeans tritt ein und folgt Janine wortlos ins
Wohnzimmer. Als sie ihre Tasche auspackt, wird mir klar, dass sie die Maniküre
ist, die der Hausherrin für eine Stunde die Langeweile vertreiben soll.
Während Janine sich die Nägel machen lässt, chatten Pete und ich miteinander.
Wir machen Witze über die Einrichtung des Wohnzimmers. Als er mich fragt,
was ich am scheußlichsten finde, entscheide ich mich für das kleine Neonschild
mit dem Wort »Love«, offenbar die Kopie eines älteren Werks von Tracey Emin
und in diesem protzigen Raum das einzige Zugeständnis an die Moderne. Wenn
ich es mir recht überlege, könnte es durchaus ein Original sein. Dadurch wird es
allerdings nicht weniger grässlich. Petes Wahl fällt auf den Couchtisch. Als ich
auf die Tischbeine zoome, entpuppen sie sich als kleine Putten, die scheinbar
alles geben, um die schwere Glasplatte zu stemmen. Ich bestelle noch einen
Kaffee, und wir schauen gebannt weiter zu. Zwei Fremde, die in eine Wohnung
einbrechen, ohne dafür ihren Platz zu verlassen.
Schließlich beendet die Maniküre ihre Arbeit. Als sie zusammenpackt, stürzt
sich Henry bellend auf sie und wirft dabei ein Fläschchen um, das ein paar
Tropfen roten Nagellacks auf dem Oberteil der Frau hinterlässt. Doch statt sich
für den ungezogenen Hund zu entschuldigen, macht Janine ihr Vorwürfe, weil
sie zurückgeschreckt ist, als Henry sie angefallen hat. »Wenn Sie Angst vor
Hunden haben, dann bleiben Sie gefälligst zu Hause«, weist sie die arme Frau
zurecht und schiebt sie Richtung Haustür. »Ihr Verhalten ist überaus
unprofessionell, schließlich hätte der Nagellack auch auf dem Teppich landen
können.«
Mit einem lauten Seufzen schließt Janine die Tür hinter der gezüchtigten
Maniküre und geht ins Bad. Sie lässt Wasser in die Wanne laufen und steckt vor
dem Spiegel sorgfältig das Haar hoch.
Kannst du die Sauna jetzt einschalten, ohne dass das Licht angeht?, frage ich Pete.
Ich kehre zur Kameraansicht zurück. Janine trägt gerade eine glitschige
Gesichtscreme auf.
Erledigt, schreibt Pete.
Sehr gut. Wenn sie mit dem Bad fertig ist, schalte das Licht in der Sauna an. Sie soll
reingehen, um es auszumachen. Und dann verschließen wir die Tür. Er antwortet sofort
mit einem hochgereckten Daumen.
Ich verzichte darauf, Janine beim Baden zuzusehen, um ihr in ihren letzten
Momenten ein wenig Privatsphäre zu gönnen. Pete hat solche Skrupel nicht. Er
kommentiert jedes Detail und macht sich darüber lustig, dass sie in der Wanne
Celine-Dion-Songs trällert. Sie verbringt fast eine Stunde in der Wanne, lässt
immer wieder heißes Wasser nachlaufen und gibt verschiedene Öle hinein.
Während ich warte, werde ich vom vielen Kaffee allmählich nervös. Also bestelle
ich ein Glas Rosé, um dem Koffein etwas entgegenzusetzen.
Irgendwann schreibt Pete mir, dass sie aus der Wanne steigt. Er macht einen
plumpen Witz über ihre Brüste, wodurch ich mich fast zu einer höhnischen
Bemerkung über sein Schwanzfoto hinreißen lasse. Aber ich kann mich gerade
noch beherrschen. Der Junge schafft es tatsächlich, dass ich mich für Janine
einsetze. Ein deutliches Zeichen, dass die beiden so schnell wie möglich aus
meinem Leben verschwinden sollten.
Die Sauna müsste jetzt brütend heiß sein. Ich atme tief durch und schreibe
Pete, dass er das Licht anschalten soll. Und tatsächlich: In der Kameraansicht ist
die Sauna plötzlich hell erleuchtet. Janine hat noch nichts bemerkt. In ein
Handtuch gewickelt, steht sie am Waschbecken und wischt sich die Creme aus
dem Gesicht.
Lass das Licht flackern, tippe ich. Die Beleuchtung geht in rascher Folge an
und wieder aus. Janine stutzt und runzelt die Stirn. Mit verdrießlicher Miene geht
sie zur Sauna. Achtung, Pete. Mach dich bereit, die Tür zu schließen.
Schon klar, bb, ich hab alles unter Kontrolle.
Als sie hineingeht, halte ich den Atem an und kratze mich am Hals. Hinter ihr
schließt sich leise die massive Glastür. Sie scheint nichts zu bemerken. Ich kann
sehen, wie sie sich Luft zufächelt, als ihr auffällt, dass die Sauna auf Hochtouren
läuft. Ich beobachte, wie sie an der Tür zieht.
Lol, sie merkt, dass sie feststeckt, schreibt Pete. Ich verfolge gebannt, wie eine
zunehmend panische Janine mehrfach hintereinander auf einen Knopf drückt.
Das ist der Alarm, informiert mich Pete. Den habe ich natürlich deaktiviert. Ha!
Niemand kann dich schreien hören, Lady.
Janine hat sich jetzt hingesetzt. Dadurch befindet sie sich in einem toten
Winkel der Kamera. Ich sehe nur noch ihre Faust, die gegen das Glas hämmert.
Aufgeschreckt durch den Lärm, kommt Henry ins Bad gerannt. Sie hört sein
Bellen und steht wieder auf. Ihre Augen spähen über den Milchglasstreifen an
der Tür. Sie ruft dem Hund zu, er solle Hilfe holen. Ein völlig absurdes
Unterfangen, das mir klarmacht, wie verzweifelt sie schon ist. Henry sieht zu ihr
auf, spitzt die Ohren, sein kleiner Körper zittert vor Aufregung. Dann legt er den
Kopf schief, dreht sich um und rennt aus dem Bad. Die Kamera im Flur zeigt
mir, wie er sich in sein Hundebettchen legt und auf der Stelle einschläft.
Vielleicht ist Henry doch ein besserer Menschenkenner, als ich dachte.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Ist sie schon seit einer Viertelstunde in der
Sauna? Wie heiß ist es jetzt da drin?, frage ich Pete.
Ich schau mal nach. Zwei Minuten später kommt seine Antwort: Sorry, musste
erst eure komischen Gradzahlen umrechnen. Die Temperatur beträgt 110 Grad. Soll ich sie
erhöhen? Dann könnte sie aber ohnmächtig werden.
Ich denke nach. Uns fehlt die Zeit, sie stundenlang auf kleiner Flamme
schmoren zu lassen. Aber ich möchte auch vermeiden, dass sie schwere
Verbrennungen erleidet – denn das wäre ein Indiz, dass sie sich nicht aus eigener
Kraft befreien konnte. Dreh noch ein bisschen auf, von mir aus kann sie ruhig umkippen.
Das wird der alten Hexe eine Lehre sein.
Ich trinke einen Schluck Wein und genieße die sanfte Brise, die vom Meer
herüberweht – umso mehr, da ich weiß, dass sich Janines ganzer Körper danach
verzehren würde. Im Chat schlage ich Pete vor, ihn in Iowa zu besuchen, und
lenke ihn so davon ab, ständig die Kamera im Blick zu behalten. Er ist sofort
begeistert von der Idee. Euphorisch schwärmt er davon, wie cool es wäre, im
echten Leben zusammen abzuhängen, und was wir alles unternehmen könnten.
Dabei wird er immer anzüglicher, worauf ich ausschließlich Aktivitäten
vorschlage, die auch sein Pastor gutheißen würde.
Die ganze Zeit über behalte ich Janine im Auge. Sie sitzt bewegungslos in ihrer
Holzkiste fest, und mir wird klar, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, um mit ihr
zu reden. Als ich Pete bitte, mich zu ihr durchzustellen, ist mir bewusst, dass das,
was ich zu ihr sagen werde, später Fragen aufwerfen könnte.
Es dauert einen kurzen Moment, bis Pete mir grünes Licht gibt und ich mit ihr
reden kann. Ich trinke noch einen Schluck Wein, dann vergewissere ich mich,
dass niemand in Hörweite ist. Ich hebe das Handy an die Lippen und spreche
leise, aber deutlich hinein.
»Du bist jetzt sicher nicht in der Stimmung für eine große Aussprache.« Ihr
Kopf hebt sich über das Milchglas, und sie wischt mit einer Hand über die
beschlagene Scheibe. »Aber ich will, dass du weißt, warum du in dieser Lage bist.
Sie ist nämlich kein Zufall. Doch auf die Idee bist du vermutlich auch schon
selbst gekommen. Keine Angst, ich bin kein kriminelles Superhirn, das dir deine
Diamanten stehlen will. Ganz im Gegenteil: Es gibt nichts, was du mir geben
könntest, um das zu verhindern, was dich erwartet.«
Wieder hämmert sie verzweifelt auf die Glastür ein und schreit um Hilfe. »Sei
still und spar dir deine Energie. Dein untreuer Ehemann hat meine Mutter mit
einem Baby sitzen lassen. Mich hat er verleugnet, und sie hat er im Stich
gelassen. Meine arme Mutter nahm einen beschissenen Job nach dem anderen
an, und mit jedem Tag, den sie sich kaputtschuftete, wurde sie schwächer und
schwächer, während deine Familie in Saus und Braus lebte. Findest du das
gerecht? Ich nicht! Ist es etwa gerecht, dass deine Tochter alles hatte, was das
Herz begehrt, während ich von Leuten großgezogen wurde, die mich nur
aufnahmen, um sich selbst gut zu fühlen?«
Sie sieht jetzt extrem verzweifelt aus. Eine Hand krallt sich um ihren Hals.
»Das Atmen wird immer schwieriger, stimmt’s? Keine Sorge, das Problem hat
sich bald erledigt. Also beruhig dich, denn wenn du in Panik gerätst, wird es nur
noch schlimmer. Ich will ehrlich sein: Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dich
völlig im Ungewissen zu lassen. Aber ich finde, die Höflichkeit gebietet, dass du
erfährst, worum es hier geht. Um meinen Vater. Deinen Ehemann. Ist es nicht
schön zu wissen, wem man die Schuld geben kann?«
Megawitzig, schreibt mir Pete, aber sie ist jetzt schon voll lang da drin. Ich glaub, der
Alten geht’s echt scheiße, bb, sollen wir sie rauslassen? Mir egal, wenn sie zusammenklappt,
aber es ist deine Entscheidung.
Eine Minute noch. Es geht ihr gut. Heiz ihr noch ein bisschen ein, antworte ich und
starre Janine an, die mit ihrem Finger eine Linie auf die beschlagene Scheibe
zeichnet. Ich strenge meine Augen an und versuche zu erkennen, was das
werden soll. Ich höre ein gedämpftes Geräusch – sie versucht, etwas zu sagen.
»Willst du mir etwas mitteilen?«, frage ich. Wieder flüstert sie irgendwas. Ich
werde immer gereizter. »Lauter, bitte, du hast wahrscheinlich nicht mehr viel
Zeit. Also sprich laut und deutlich, wenn du etwas zu sagen hast.«
Schweigend fährt sie weiter mit dem Finger über die Glasscheibe. Sie schafft
kaum einen Millimeter am Stück, ohne eine Pause einzulegen. Wir sehen
schweigend zu, bis sich eine erste konkrete Form andeutet. Der Buchstabe G.
Krakelig und klein, aber deutlich zu erkennen. Ich spüre ganz kurz einen
stechenden Schmerz. Pete ist fasziniert. Was macht die da? Ist das eine SOS-
Nachricht? Der nächste Buchstabe nimmt Gestalt an. Eine lange Linie und
dann – sie versucht, am Türrahmen Halt zu finden – ein Halbkreis. Das wird ein
R. Die Wellen plätschern an den Strand, und mir wird ein bisschen schummrig
vor Augen. Janine schreibt meinen Namen. Grace. Sie weiß es. Sie weiß alles.
Wahrscheinlich hat sie immer schon von mir und von meiner Mutter gewusst.
Hat uns in Armut dahinvegetieren lassen, während es ihrer Tochter an nichts
mangelte. Und jetzt wird sie mich entlarven.
NOCH HEISSER!, schreibe ich Pete. Bis zum Anschlag. Die Hexe hat es verdient.
Gott, du musst sie wirklich hassen! Deine Story war der Wahnsinn. Dagegen ist meine
Stiefmutter ein verdammter Engel. Ich dreh jetzt voll auf.
Janine versucht, das R zu beenden. Ihr perfekt frisiertes Haar klebt an ihrem
Gesicht. Es ist fleckig und verfärbt sich violett. Ich sitze in der prallen Sonne,
meine rechte Hand umklammert das Telefon, die andere meinen Hals. Ich starre
so angestrengt aufs Display, dass ich spüre, wie meine Augen hervortreten. Dann
rutscht ihr Finger endlich die Scheibe hinunter, ihr Kopf verschwindet hinter
dem Milchglas, und ich höre einen lauten Schlag. Stille. Ich trinke ein ganzes
Glas Wasser. Immer noch keine Bewegung.
Das war großes Kino, schreibt Pete. Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Soll ich die Türen
öffnen?
Mit einem Wink signalisiere ich dem Kellner, mir noch ein Glas Wein zu
bringen. Mach das.
Das Geräusch des Aufpralls … das war nicht nur ihr Körper, der zu Boden fiel.
Dafür war es zu laut. Ich nehme an, sie hat sich den Kopf angeschlagen. Ein
Blick auf die Uhr verrät mir, dass Lacey erst in zwei Stunden zurückkommt.
Sollte Janine jetzt noch nicht tot sein, dann ist sie es bis dahin mit Sicherheit. Die
Tür der Sauna öffnet sich, Dampf strömt heraus. Als der Kellner mir eine
Minute später ein neues Glas Wein bringt, kann ich allmählich mehr erkennen.
Janines Füße liegen neben der Tür, der bewegungslose Körper ist größtenteils
außer Sicht. Das krakelige G hat sich bereits in nichts aufgelöst.
Henry hat alles verschlafen. Braver Hund!


Sie war tot. Die extreme Hitze und der Schock wären auch ohne das Herzleiden
zu viel für sie gewesen. Lacey, diese gute Seele, stellte nicht eine einzige Frage, als
ich mich am nächsten Tag an der Promenade mit ihr traf. Ob sie Verdacht
schöpfte? Schwer zu sagen. Ich gab mich geschockt und betroffen angesichts der
schrecklichen Neuigkeit. Doch sie schien völlig unbeeindruckt von dem
Schreckensszenario, das sich ihr bei der Rückkehr ins Penthouse geboten haben
muss. Wenn überhaupt, dann wirkte sie stolzer, aufrechter. Statt ihrer Uniform
trug sie nun Jeans und T-Shirt, dazu goldene Flip-Flops, in denen sie leuchtend
orangefarbene Zehennägel präsentierte.
»Lassen Sie mich Ihnen noch etwas Geld geben. Das ist das Mindeste, was ich
in dieser schwierigen Zeit für Sie tun kann«, sagte ich zu ihr. »Was haben Sie jetzt
vor? Werden Sie nach Hause zurückkehren? Oder will die Familie Sie weiter
beschäftigen?«
»Monsieur Artemis zahlt mir noch ein Monatsgehalt. Er sagt, dass ich eine
Woche bleiben kann. Aber das geht in Ordnung. Susan, die beste Freundin von
Madame Janine, hat mir angeboten, für sie zu arbeiten. Sie hat ein viel größeres
Haus oben am Berg, und sie bezahlt auch besser. Sie wollte mich wohl schon
länger bitten, in ihre Dienste zu treten. Sie ist kein Miststück wie die tote
Madame.« Sie nahm Henry auf den Arm, streichelte seine seidigen kleinen Ohren
und sah mich mit einem strahlenden Lächeln an. »Und Henry nehme ich mit.
Sollen sie doch versuchen, mich aufzuhalten.« Während ich Lacey nachblickte,
musste ich schmunzeln. Was für eine unglaubliche Chuzpe, keine
vierundzwanzig Stunden nach dem Tod der besten Freundin deren
Hausmädchen einzustellen! In einem anderen Leben wären diese Susan und ich
vielleicht Freundinnen geworden.


Mit Pete lief es nicht ganz so rund. Obwohl er nicht zusammenbrach oder in
Panik geriet, wie ich es befürchtet hatte. Stattdessen legte er eine an Besessenheit
grenzende Euphorie an den Tag. Immer wieder wollte er über die Ereignisse des
Tages reden, schickte mir Memes mit Grill-Allegorien und fragte, wen wir uns
als Nächstes vorknöpfen würden.
Baby, das könnte ein echtes Geschäft werden, schrieb er mir eine Woche später, als ich
gerade darüber sinnierte, in welcher Farbe ich meine Fußnägel lackieren sollte.
Mit den Hormonen eines Teenagers ist nicht zu spaßen. Statt das Handy einfach
in einen Fluss zu werfen, beschloss ich, die Verbindung zu ihm vorerst
aufrechtzuerhalten. Der Junge war total vernarrt in mich, und ich legte keinen
Wert darauf, sein technisches Know-how am eigenen Leib zu spüren, weshalb
ich einen vorsichtigen Abnabelungsprozess einleitete. Mit Gottes Hilfe.
Nachdem ich seine übergriffigen Annäherungsversuche regelmäßig mit
Bibelzitaten kommentierte, wurden sie weniger. Es gibt keine effektivere
Maßnahme gegen die spontane Erektion eines notgeilen Teenagers als einen
kräftigen Schlag auf die gierigen Grapscher. Trotzdem: Auch drei Monate später
hatte er nicht völlig kapituliert. Der Gedanke an unser gemeinsames Abenteuer
versetzte ihm immer noch einen Kick. Also wählte ich einen radikaleren Weg.
Ich tat so, als hätte ich ihn gecatfisht. Na gut, ich hatte ihn tatsächlich gecatfisht,
aber diesmal spielte ich die Kugel über eine weitere Bande: Ich wusste, dass eine
umgekehrte Bildersuche für ihn die leichteste Übung war. Deshalb meldete ich
mich bei einem weltweiten Chatforum an und klickte mich durch die Accounts,
bis ich den grimmigsten Typen fand, der ein paar Brocken Englisch sprach. Ich
ertrug einen fünfminütigen Videochat, in dem sich der Beitrag dieses Kerls auf
ziemlich eindeutige Gesten beschränkte, mit denen er mich aufforderte, ihm
meine Brüste zu zeigen. Ich verlangte von ihm, mir zuerst ein Selfie zu schicken.
Das auf diese Weise ergatterte Bild zeigte einen kahlköpfigen Riesen, der
zähnefletschend in die Kamera winkte. Ich speicherte es auf meinem Handy und
löschte anschließend meinen Account. Als bald darauf die nächste
Videobotschaft von Pete eintrudelte, die sich, wie zu erwarten, als
Masturbationsvideo entpuppte, schickte ich ihm besagtes Foto.
Wir sind ein Kollektiv, schrieb ich dazu. Wenn du nicht willst, dass wir deine
erbärmlichen Videos und die Beweise für dein Verbrechen deiner Familie schicken, wirst du
auf der Stelle jeglichen Kontaktversuch einstellen, absolutes Stillschweigen bewahren. Du kannst
dankbar sein, dass wir dich überhaupt vom Haken lassen. Er rief an diesem Abend
zweiundzwanzig Mal bei mir an. Statt dranzugehen, sendete ich ihm dieselbe
Nachricht noch einmal. Diesmal mit dem Betreff: LETZTE WARNUNG.
Daraufhin schickte er eine SMS, in der er hoch und heilig beteuerte, keiner
Menschenseele etwas zu erzählen, und mich anflehte, die Videos nicht seinem
Vater zu schicken. Mit einem Mal war all sein leeres Imponiergehabe dahin. Dass
sein Erzeuger denken könnte, Pete hätte einem fünfzigjährigen Hundertzwanzig-
Kilo-Mann Wichsvideos geschickt, schien ihm unerträglich zu sein. Manche
Dinge ändern sich einfach nie. Er hatte geholfen, jemanden zu töten, doch
nichts war schlimmer als die Vorstellung, seine Eltern könnten herausfinden,
dass er ein Sexleben hatte. Das war das letzte Mal, dass ich von ColdStoner17
gehört habe. Es war eine Teenager-Leidenschaft, wie sie sein sollte: Sie brannte
nur kurz, aber mit lodernder Flamme.
kapitel 13

Kelly hat ein Handy. Sie protzt schon seit Wochen damit herum, aber nur mir
gegenüber. Vermutlich ist es das erste Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie es
geschafft hat, etwas geheim zu halten. Zu Recht, denn wenn die anderen Frauen
hier davon wüssten, würden sie alles daransetzen, es in die Finger zu bekommen.
Kelly hütet es wie ein Terrier seinen Knochen. Sie zieht sich die Bettdecke über
den Kopf und tippt unablässig. Trotzdem höre ich das Klappern ihrer langen
Nägel und sehe das schwache Leuchten des kleinen Bildschirms. Ich frage sie
nicht, woher sie das Gerät hat oder wie sie drangekommen ist. Vielleicht hat der
dämliche Clint es ihr besorgt. Und die beiden schicken sich ständig
Textnachrichten. Was haben die sich so Wichtiges mitzuteilen? Ich hoffe
inständig, dass es nichts Sexuelles ist. Ich könnte es nicht ertragen, diese winzige
Zelle mit einer Frau zu teilen, die Sex-Chats mit einem Mann führt, der sich
seinen Pony mit Gel in die Stirn kleistert. Normalerweise ist Kelly recht
großzügig mit ihrem Eigentum, aber sie hat mir noch kein einziges Mal
angeboten, mir ihren neuen kostbaren Besitz zu leihen. Ich würde sie nicht
einmal darum bitten, wenn es jemanden gäbe, den ich anrufen könnte. Bei einem
Menschen wie Kelly will man nicht in der Schuld stehen. Sie würde nicht zögern,
einen Gefallen einzufordern. Um die Tipp-Geräusche auszublenden, presse ich
mir ein Kissen auf den Kopf und wünsche mir sehnlichst, das Gleiche mit ihr
tun zu können.


Wollen Sie etwas Witziges hören? Meine erste Begegnung mit meiner Schwester
war in einem Nagelstudio. Es war Zufall, kein sorgfältig ausgeklügelter Plan, sie
auf möglichst unverdächtige Weise zu treffen. Vielleicht war es auch Fügung,
wenn es so etwas überhaupt gibt. Ich glaube nicht an Schicksal. Dass sich zwei
Frauen gleichen Alters in der Londoner Innenstadt über den Weg laufen, ist
nicht ungewöhnlich. Und es ersparte mir eine Menge Arbeit. Was ja auch mal
ganz schön war. Sie und ihre Familie reisten mit Chauffeur und Privatflugzeug.
Sie waren durch Sicherheitsschleusen, Wachhunde und Security-Leute geschützt.
Die Superreichen leben in einer anderen Sphäre als der Rest von uns. Da sie
noch nicht in der Lage sind, einen anderen Planeten zu besiedeln, sind sie
gezwungen, sich durch dieselben Straßen zu bewegen wie Sie, liebe Leser –
zumindest, wenn diese Straßen King’s Road, Champs-Élysées oder Rodeo Drive
heißen. Aber sie erleben sie nicht auf dieselbe Art und Weise wie unsereins. Die
Türen von Geschäften öffnen sich für sie lautlos und innerhalb von
Nanosekunden, Bürgersteige sind bloß Docks für wartende Autos, Restaurants
halten private Rückzugsräume für sie bereit, und Museen haben für sie rund um
die Uhr geöffnet. Sie erleben diese Orte völlig anders als wir. Für uns sind diese
Menschen normalerweise außer Reichweite. Und doch saß meine Schwester
gerade neben mir und verlangte eine Gel-Maniküre. Natürlich, ohne »bitte« zu
sagen.
Bryony Artemis besaß eins dieser Gesichter, die man schon einmal gesehen hat.
Ich meine damit nicht, dass sie aussah wie jemand, den Sie kennen – auf keinen
Fall. Doch ihr Look ist heutzutage in den sozialen Medien allgegenwärtig:
aufgespritzte Lippen, langes, glänzendes Haar, der in sportliche Freizeitkleidung
gehüllte Körper ist viel zu dünn – obwohl Bryony ihn mit Verweis auf ihren
Bizeps und ihren »Knackarsch« zweifellos als »durchtrainiert« bezeichnet hätte.
Sie war auf diese spezielle Weise dünn, mit der ihresgleichen gerne suggeriert,
nicht darüber nachzudenken. Dabei denken sie kaum an etwas anderes. Frauen
wie Bryony sehen auf Fotos hinreißend schön aus, doch im wahren Leben
sorgen sie für diesen Uncanny-Valley-Effekt. Diesen Begriff prägte der
Robotiker Masahiro Mori in den Siebzigerjahren, um das Unbehagen zu
beschreiben, das Roboter oder computergenerierte Abbilder, die zwar
menschenähnlich, aber eben nicht hundertprozentig menschlich aussehen, bei
uns auslösen. Die Bryonys dieser Welt sind scheinbar makellos, ihre
Gesichtszüge nahezu perfekt modelliert und geglättet. Auf Fotos funktioniert
das, in der Realität wirkt es indifferent. Beim Anblick solcher Gesichter sehne
ich mich zurück nach den Zeiten verrutschter Brustimplantate und zu straffer
Faceliftings. Damals manifestierte sich die Unsicherheit, die Frauen dazu
brachte, sich selbst zu verstümmeln, wenigstens noch in ihrem Erscheinungsbild.
Man konnte über die Katzenfrau Jocelyn Wildenstein lachen oder den Kopf
darüber schütteln, was sie sich angetan hatte. Die heutige Generation ist unfähig,
mit ihren operierten Gesichtern Emotionen zu transportieren, die einen dazu
bewegen würden, echtes Mitgefühl für sie zu empfinden.
Bryony trug teure Sneaker, die noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen
hatten, und hautenge Leggings mit hellblauen Streifen an der Seite. Sie war in
eine riesige Daunenjacke gehüllt, die den Eindruck vermittelte, als hätte sie
keinen Reißverschluss, sondern wäre einfach um den dürren Oberkörper
gewickelt worden, wo sie dann von einer riesigen Umhängetasche gehalten
wurde. Im Grunde sah Bryony also aus wie jedes zweite Mädchen auf Instagram.
Nur dass die Tasche von Chanel war und sie ihren Look mit goldenen Ringen,
Diamantohrsteckern und einer kleinen Rolex gepimpt hatte – Details, die
unmissverständlich verraten, dass Sie sich diesen Look niemals leisten könnten,
denn er kostet mehr, als Sie in einem ganzen Jahr verdienen. Ach was, er kostet
mehr, als Ihre Eltern für ihr Haus bezahlt haben. Mehr, als Sie jemals
zusammenkratzen werden, um ein eigenes Haus zu kaufen. Ich mache natürlich
nur Spaß: Schließlich werden Sie sich niemals ein eigenes Haus leisten können.
Ich wusste sofort, dass es Bryony war. Es wäre erbärmlich gewesen, wenn ich
sie nicht aus jedem Blickwinkel erkannt hätte, immerhin hatte ich Jahre damit
zugebracht, online zu verfolgen, wie sie aufwuchs. Was für eine deprimierende
Verschwendung von Gehirnschmalz. »Grace, was hast du in deinen Zwanzigern
so getrieben?« »Ich habe mir Vlogs von diesem arroganten Dummchen
angesehen. Dabei habe ich eine Menge über Lippenbalsam und ihre fünf liebsten
Sonnenbrillenmodelle gelernt.« Vielleicht sollte ich mich auch umbringen.
Bryony starrte auf ihr Handy und tippte konzentriert darauf herum. Dabei
streckte sie der Kosmetikerin ihre Hand entgegen, als würde sie ihr ein kostbares
Präsent überreichen. Was reden die Angestellten eines Beautysalons wohl nach
getaner Arbeit über ihre Kundinnen? Klagen sie darüber, dass sie ihnen nicht in
die Augen schauen? Machen sie sich über sie lustig? Oder sind sie schon so
abgestumpft, dass solche Unhöflichkeiten ihnen keine Erwähnung wert sind?
Ich bat Bryony um die Farbpalette für die Nagellacke, und sie reichte sie mir,
ohne den Blick vom Display ihres Telefons zu lösen. Das einzelne
Kopfhörerkabel, das von ihrem Ohr herunterbaumelte, signalisierte deutlich,
dass sie nicht für Gespräche zur Verfügung stand. Eine Taktik, auf die ich selbst
gerne zurückgreife und die ich deshalb nicht verurteilen werde. Gott segne den
Erfinder – ich nehme an, es war ein Mann – der Kopfhörer. Er hat sicher nicht
geahnt, dass Frauen auf der ganzen Welt seine Erfindung dazu missbrauchen
würden, sich vor aufdringlichen Männern zu schützen. Wie überall, wo Frauen
unter sich sind, herrschte in dem Salon geschäftiges Treiben, aber ich blendete
die Umgebung aus und fokussierte mich voll und ganz auf Bryony. Es war
überhaupt kein Problem, sie zu beobachten. Sie erinnerte mich an einen Hund,
der immer, wenn er einem Fremden begegnet, stehen bleibt, weil er gestreichelt
werden will. Sie war es gewohnt, dass die Leute sie bewundernd anschauten. Sie
erwartete es sogar. Und sie begrüßte es. Ignoriert zu werden, wäre viel
irritierender für sie gewesen. Das hieß jedoch nicht, dass sie diese
Aufmerksamkeit erwidert hätte, sondern lediglich, dass ich einen Freibrief hatte,
sie in aller Seelenruhe zu betrachten. Von wegen Seelenruhe: Das Adrenalin
rauschte durch meine Blutbahn. Ich fühlte mich zur Tatenlosigkeit verdammt
und hatte das Gefühl, mir würde die Zeit davonlaufen. Nicht mehr lange, und sie
würde aus dem Salon stolzieren und in eine wartende Limousine steigen,
während ich ihr nachstarrte und darauf wartete, dass meine Nägel trockneten.
Das war meine Halbschwester! Wie hätte man sich ein Treffen mit seiner lange
vermissten Schwester normalerweise vorzustellen? Ich nehme an, dass man sie
nervös mustert, vielleicht einen albernen Scherz macht und irgendwann zaghaft
nach ihrer Hand greift. Alles nur Vorgeplänkel, um ihr schließlich in die Arme zu
fallen und sich einzugestehen, dass dieser Mensch das fehlende Puzzlestück im
Leben ist.
»AUTSCH!« Erbost zog Bryony ihre Hand weg, schaute auf ihre Finger und
rieb sich die Nagelhaut. »OMG, Sie haben mich geschnitten!« Die Dame
entschuldigte sich mit gesenktem Kopf, obwohl ich keine Blutspuren erkennen
konnte. Eine andere Frau, vermutlich die Geschäftsführerin, eilte herbei und
musterte Bryonys Finger, um den Schaden zu begutachten. »Das tut mir leid,
Miss. Tut mir wirklich leid. Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser, ja?«
Meine Schwester nickte missmutig. Dabei scrollte sie weiter durch ihren
Instagram-Feed. Sie likte eine Reihe Fotos von Blondinen, die in schummrigen
Nachtklubs auf Ledersofas hockten wie Hühner auf der Stange. Dann öffnete sie
die Kamera-App, verzog ihre Miene zu einem Ausdruck aufgesetzter Verachtung
und knipste ein Selfie nach dem anderen. Anschließend wischte sie durch die
Fotos, bis sie sich schließlich für eins entschied. Mit einem tiefen Seufzer legte
Bryony ihr Smartphone wieder zur Seite, konnte ihre schlanken Finger jedoch
nicht davon lassen, sondern nutzte die freie Hand, um die Kommentare immer
wieder zu aktualisieren. Ich holte mein eigenes Telefon heraus und öffnete die
Instagram-App. Ich hatte einen weiteren Fake-Account eingerichtet, wo ich
mich als junge Mutter mit zwei kleinen Jungen ausgab. In meiner Bio stand:
»Frauchen eines großen Kerls und Mutti von zwei kleinen Nervensägen,
wohnhaft in Hertfordshire und immer für ein Glas (hier ein albernes Wein-
Emoji einfügen) zu haben.« Ich war ziemlich stolz auf das unterirdische Niveau,
das mein Alter Ego Jane Field bei Instagram an den Tag legte. Keine
Menschenseele würde ihrem Account freiwillig folgen. Ich klickte auf Bryonys
Insta-Storys, und schon sah ich das Selfie, das sie gerade gemacht hatte: Die Stirn
war gerunzelt, die Oberlippe verächtlich gekräuselt, das Bild stark gefiltert, um
ihrer Haut einen schimmernden Glanz zu verleihen. Der Text über dem Foto
lautete: Wenn du dir eine dringend benötigte Maniküre gönnst und die tollpatschige Bitch dir
fast den Finger abschneidet. #servicewüste #allesidiotenhier
Das erzähle ich Ihnen nur, damit Sie begreifen, warum das Wiedersehens-
Szenario, bei dem sich die beiden Schwestern in die Arme fallen, niemals zur
Debatte stand. Ich empfand für sie nichts weiter als eine starke, aber völlig
unpersönliche Faszination. Wäre ich wie sie geworden, wenn ich im Schoße
dieser Familie aufgewachsen wäre? Wahrscheinlich schon. Sagen Sie es mir.
Kennen Sie viele unermesslich reiche Menschen, für die Sie aufrichtige
Bewunderung hegen? Ich spreche von Menschen, die in diesen Überfluss
hineingeboren wurden – nicht Oprah Winfrey. Ich rede mir nicht ein, dass ich
irgendetwas anders gemacht hätte als Bryony. Ihr Cousin, Gott sei seiner Seele
gnädig, hatte es versucht. Die Frösche waren eine Ablenkung gewesen, aber sie
hatten ihm nicht geholfen, ein eigenes Leben unabhängig von seiner Familie
aufzubauen. Er begnügte sich damit, das Leben abzulehnen, das ihm gegeben
war. Ein Leben der Macht und der Vereinnahmung, gegen das er den Rest seiner
Tage hätte kämpfen müssen. Und dieser Kampf hätte sich zweifellos als überaus
kräftezehrend erwiesen. Irgendwann wäre er der Tatsache überdrüssig gewesen,
in trostlosen Wohngemeinschaften zu leben und scheußlichen Tieren zu helfen,
die ihm niemals Dank zeigten. Dann hätte ihn sein Vater zum Essen eingeladen.
Erschöpft, wie Andrew war, hätte die Rüstung, die er sich zum Schutz vor den
Übeln seines früheren Daseins zugelegt hatte, erste Risse gezeigt. Seine Familie
hätte ihm ihre Unterstützung angeboten. Vorsichtig, ohne es zu übertreiben,
versteht sich. Denn sie wussten genau, wie weit sie gehen konnten. Vielleicht
hätten sie ihm für einen Monat die Miete gezahlt. Und er hätte mit sich
gerungen, aber schließlich eingewilligt, weil er einfach mal durchatmen musste.
Von diesem Moment an hätten sie wieder ihren Fuß in der Tür gehabt. Der Weg,
den er eingeschlagen hatte, war ein einziger Affront gegen sie, also hätte die
Artemis-Sippe alles darangesetzt, den verlorenen Spross erneut in ihren Sog zu
ziehen – und letztendlich hätte er seinen Widerstand aufgegeben. Vielleicht hätte
er seine Mitarbeiter nicht schikaniert und wäre nicht mit Models ausgegangen,
die halb so alt waren wie er, denn er hatte trotz seiner Herkunft einen gewissen
moralischen Kompass entwickelt. Aber früher oder später hätte er eine leitende
Position im Familienunternehmen besetzt und sich damit begnügt, regelmäßige
Wohltätigkeitsveranstaltungen zu organisieren, um sein Gewissen zu entlasten.
Selbst Andrew war also niemals ganz davon losgekommen, und Bryony hatte
sich voll darauf eingelassen. Ich bin mir sicher, ich wäre irgendwo dazwischen
gelandet.
Die Kosmetikerin lackierte meine Nägel in einem tiefen Rot. Derselben Farbe,
für die sich meine Schwester entschieden hatte. Diese bescheidenen Rituale, die
sich Frauen auf der ganzen Welt gönnen, sind keineswegs sinnlos, sie sind eine
kleine Auszeit von der Last, die wir tragen. Eine winzige Atempause von einer
Gesellschaft, die uns zwingt, die emotionale Arbeit zu leisten und eine berufliche
Karriere zu meistern, aber gleichzeitig zu zeigen, dass wir nicht zu emotional
sind. Nagellack ist nicht banal. Er ist ein Firnis, eine Schutzschicht.
Ich war unfähig. Statt diese zufällige Begegnung zu nutzen, um möglichst viel
in Erfahrung zu bringen, saß ich wie ein Klotz da und sah stumm zu, wie meine
Halbschwester sich mit ihrem Handy beschäftigte, gelegentlich seufzte und sich
ständig über die Haare strich. Dann wurde mir klar, dass das Problem
möglicherweise gar nicht bei mir lag. Vielleicht gab es über Bryony überhaupt
nichts zu erfahren. Vielleicht ging es mir wie manchen Frauen, die auf der
verzweifelten Suche nach Gründen dafür, warum der Mann, mit dem sie
ausgehen, nicht anruft, labyrinthische Theorien wie diese entwickeln: Er liebt
dich, aber weil er so früh seinen Vater verlor, hat er große Probleme mit
emotionaler Intimität, und er ruft nicht an, weil er seinen Freiraum braucht,
allerdings nicht zu viel Freiraum … vielleicht solltest du ihm ein hübsches
Geschenk aus deinem eigenen Haar flechten. In Wahrheit hat er einen natürlich
einfach vergessen.
Vermutlich war es gar nicht nötig, mehr über Bryony zu erfahren. Bei ihr
spielte sich das ganze Leben online ab. Auf Insta und TikTok konnte ich es quasi
live mitverfolgen – obwohl es ehrlicherweise nichts Besonderes zu sehen gab.
Früher scheuten die Reichen das Rampenlicht und waren gar nicht begeistert,
wenn sie in irgendwelchen Rankings auftauchten. Der Pöbel sollte gar nicht
wissen, wie reich sie wirklich waren. Und schon gar nicht, wo sie lebten und wie
sie sich die Zeit vertrieben. Ganz nach Jean Paul Gettys Motto Ȇber Geld
spricht man nicht, man hat es«. Hätte der Artemis-Clan sich daran gehalten, wäre
mein Job unendlich komplizierter gewesen. Und glücklicherweise wollte Bryony
nicht nur darüber sprechen, sie wollte es immerzu in die Welt hinausschreien.
Besonders auf Instagram. Leute, die zu viele Netflix-Serien wie Black Mirror
gesehen haben, orakeln gerne von einer Zukunft, in der das ganze Leben vom
Smartphone diktiert wird. Dabei ist dieser dystopische Scheiß längst Realität:
Bryony lebte ihn vor.
Die Kosmetikerin massierte ihrer Klientin die Hände mit Pflegeöl und
signalisierte ihr dann, dass sie fertig war. Als würde es eine gewaltige
Kraftanstrengung erfordern, hob Bryony unendlich langsam den Kopf und
begutachtete ihre Nägel. Sie unterzog jeden einzelnen Finger einer ausgiebigen
Prüfung, bevor sie sich in ihrem Stuhl aufrichtete, hämisch lachte und die arme
Frau böse anstarrte.
»Sie haben mir die Nagelhaut eingerissen. Überall. An jedem beschissenen
Finger. Sind Sie überhaupt qualifiziert für diesen Job? Im Ernst? Wie haben Sie
das hingekriegt? Haben Sie ein Brecheisen benutzt?« Mit einem verzweifelten
Blick wendete sich die Kosmetikerin der Geschäftsführerin zu, die allerdings
bloß stumm um Worte rang. Innerhalb von Sekunden herrschte im gesamten
Salon betretenes Schweigen. Niemand sah Bryony an, aber alle hatten die Ohren
gespitzt. An ihrer Stelle wären die meisten Menschen vermutlich peinlich berührt
gewesen und hätten die Situation als unangenehm empfunden, doch Bryony
kannte keine Scham. Es gibt die Theorie, dass sich die Schüler des Elite-
Internats Eton weniger durch Klugheit als durch ein gewaltiges
Selbstbewusstsein auszeichnen. Nur deshalb trauen sich all diese
fleischgewordenen Knack-und-Back-Männchen zu, Premierminister zu werden.
Und genau dafür zahlt man, wenn man seine Söhne auf diese Schule schickt.
Bryony verfügte über das gleiche ungesunde Selbstvertrauen. Sie konnte sich
furchtbar danebenbenehmen, und es war ihr scheißegal.
Die Geschäftsführerin eilte herbei. Sie kannte diesen Kundentyp, der es auf
Teufel komm raus darauf anlegt, eine Szene zu machen. Sie lotste Bryony zum
Empfangstresen, damit alle anderen möglichst wenig davon mitbekamen.
Vergebens: Bryony hatte eine kräftige Stimme und machte effektiv davon
Gebrauch.
»Das ist einfach nur peinlich. Finden Sie es etwa gut, Ihre Kundinnen mit
ruinierten Nägeln nach Hause zu schicken? Meine Freundin hat mir diesen
Laden empfohlen, aber sie muss wohl betrunken gewesen sein, denn so eine
schlechte Maniküre hatte ich noch nie. Ich muss gleich noch ein Video drehen –
soll ich meine Hände vielleicht so vor der Kamera präsentieren?« Offensichtlich
bemüht, sie zu beruhigen, redete die Geschäftsführerin leise auf Bryony ein.
Vermutlich entschuldigte sie sich oder machte ihr sogar ein Angebot, sie zu
entschädigen. Dass mit ihren Nägeln alles in bester Ordnung war, brauche ich
Ihnen sicher nicht zu sagen, oder? Sie sahen gut aus, sogar sehr gut. Bryony war
einfach nur eine gelangweilte junge Frau, die andere Menschen ihre Macht
spüren ließ. Denn im Gegensatz zu Freundlichkeit macht sich Unzufriedenheit
immer bezahlt. »Ich wüsste nicht, warum Sie dafür auch nur einen Penny von
mir kriegen sollten«, schimpfte sie und blickte die Geschäftsführerin dabei nicht
einmal an, sondern musterte den Nagellack in der Auslage, um sich dann eins der
Fläschchen zu schnappen. »Den hier nehme ich mit nach Hause. Ich werde ihn
brauchen, wenn meine Nägel in ein paar Stunden abplatzen. Sie können von
Glück reden, dass ich Besseres zu tun habe, als mich in den sozialen Medien
über Sie aufzuregen.«
Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie nichts Besseres zu tun.

Ich habe es ja bereits angedeutet: Über Bryony gab es nicht viel zu wissen. Sie
war weder ein stilles noch ein tiefes Wasser. Ganz im Gegenteil. Sie führte ein
Leben wie die Made im Speck und bekam alles, was sie sich wünschte, auf dem
Silbertablett serviert, ohne dass sie dafür jemals einen Finger krümmen musste.
Soweit ich das beurteilen kann, war sie nicht wirklich dumm. Sie hatte es nur
nicht nötig, klug zu sein. Und genauso wenig hatte sie es nötig, nett zu sein. Sie
war alles andere als nett. Ein echtes Miststück. Es bringt nichts, solche Leute zu
verharmlosen, indem man sie der Höflichkeit halber als unsympathisch oder
ungehobelt bezeichnet. Jane Austen beherrschte die Kunst, Worte zu finden, die
so vernichtend waren, dass einem der Atem stockte, ohne dabei ins Obszöne zu
verfallen. Wobei sie auch nicht in Limehouse einsaß. Falls doch, hätte sie George
Wickham wohl Schlimmeres nachgesagt, als bloß »verschwenderisch und
leichtsinnig« zu sein.
Möglicherweise hätte ich mich dennoch bemühen sollen, Bryony besser
kennenzulernen. Einige von Ihnen werden sich fragen, warum ich sie fast einzig
und allein nach ihrer Online-Präsenz beurteilt habe – schließlich ist allgemein
bekannt, dass im Internet niemand sein wahres Ich zeigt. Mehr als meine
anderen Morde könnte ihr Tod für Kopfschütteln sorgen. »Ich kann
nachvollziehen, dass man die schäbigen alten Großeltern tötet, aber dieses
Mädchen ist noch so jung … wahrscheinlich verbindet die beiden mehr
miteinander, als sie trennt.« Aber diese Geschichte erzählt nicht von der
glücklichen Rückkehr der verlorenen Tochter in den Schoß der Familie. Und ich
bin kein verstoßenes Vögelchen, das sich verzweifelt danach sehnt, ins warme
Nest zurückzukehren. Ich will, dass diese Leute verschwinden. Ich halte es wie
Königin Elisabeth I.: Ich habe keinerlei Interesse daran, Fenster zu den Seelen
dieser Menschen zu öffnen. Oder gar zu ergründen, warum diese Fenster ins
Leere führen.


Bryony lebte noch bei ihren Eltern. Wenn man in einem Haus mit sechzehn
Schlafzimmern und zwei Treppenhäusern wohnt, kann man sich wahrscheinlich
einreden, man würde alleine leben. Ich nehme an, sie bewohnte ein ganzes
Stockwerk oder sogar einen Flügel – sollte die Artemis-Villa über so etwas
verfügen. Trotzdem: Sie war erwachsen und wohnte noch bei den Eltern. Statt
ein richtiges Studium zu absolvieren und sich ins Studentenleben zu stürzen,
blieb sie in London und besuchte einen Schmuckdesign-Kurs. Dafür musste sie
nicht ausziehen. Als sie einundzwanzig wurde, kauften ihre Eltern ihr ein Haus
in Chelsea, wo sie aber nie mehr als ein paar Nächte verbrachte. Sie veranstaltete
dort Partys für die Jungen und Schönen, kehrte jedoch immer wieder in die
Familienenklave zurück. Was sagt uns das über Bryonys Charakter? Vielleicht
suche ich erneut nach Sinn, wo keiner zu finden ist. Dennoch: Ohne Not die
Nähe der Eltern zu suchen und die vielfältigen Möglichkeiten auszuschlagen, die
uns die Welt der Erwachsenen bietet, scheint mir nicht nur reine
Verschwendung zu sein. Wenn diese Eltern Janine und Simon Artemis heißen,
deutet es darüber hinaus auf ein schwerwiegendes Persönlichkeitsproblem hin.
Bryony hatte keinen Lebenspartner. Zumindest keinen, über den sie sich
öffentlich äußerte. Da sie ihre früheren Liebesbeziehungen hemmungslos in den
sozialen Medien und der Klatschpresse ausgebreitet hatte, nahm ich an, dass sie
single war. Obwohl sie sich selbst als pansexuell bezeichnete, ging sie offenbar
nur mit Männern aus. Auch das wunderte mich nicht.
Sie hatte mal einen kleinen Hund, der in ihrem Leben eine Zeit lang eine
prominente Rolle einnahm. Von einem Tag auf den anderen dann nicht mehr.
Sein plötzliches Verschwinden sorgte für einigen Rummel. Der Hashtag
#WOISTFENDI trendete bei Twitter, und schließlich sah Bryony sich genötigt,
öffentlich einzuräumen, das Tier wegen seines aggressiven Temperaments an
ihren Personal Trainer abgegeben zu haben.
Im Internet hatte sie eine Million Freunde, im echten Leben keinen einzigen.
Wenn sie mit anderen reichen jungen Frauen um die Häuser zog, präsentierten
sie sich auf Selfies mit leerem Blick und Wange an Wange, ohne sich dabei
wirklich zu berühren. Die meisten Bilder zeigten sie allein, wie sie in den Spiegel
schaute und dabei so tat, als würde sie für einen imaginären Fotografen posieren.
Sie hatte keinen Job. Na gut, sie hatte sich als Model versucht: Neben dem
Sohn eines alternden Rockstars und eines unbedeutenden Mitglieds des
Königshauses spielte sie eine Saison lang Markenbotschafterin für ein in die
Jahre gekommenes britisches Modehaus. Aber sie hatte niemals einen Job, den
man von ihr nicht erwartet hätte. Diese Milliardärstochter? Oh, die arbeitet
neuerdings beim örtlichen Maklerbüro und fängt ganz unten an. Nein, natürlich
nicht. Ihr »beruflicher« Tiefpunkt war erreicht, als sie eine Reihe mit reichlich
Strass verzierter Stirnbänder für Sassy Girl entwarf und von der hauseigenen PR-
Abteilung als »Edelstein-Künstlerin« angepriesen wurde. Kann man es den
Zeitungen verübeln, dass sie von ihrer sogenannten Ausbildung Wind bekamen,
um sich dann über das sechswöchige »Studium« lustig zu machen und ihr den
Spitznamen »Daddys Kunstdiamant« zu verpassen?
Nicht, dass Bryony für Kritik empfänglich gewesen wäre. Ein überprivilegiertes
weißes Mädchen lässt sich nichts gefallen. Außerdem kam sie hervorragend ohne
Job zurecht. Handtaschen-Shopping und Fitnesskurse waren weiß Gott
schweißtreibend genug.
Doch in einer Welt, in der Frauen ständig angehalten werden, es den Männern
zu zeigen, musste sie irgendetwas tun, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass
Handtaschen-Shopping und Fitness reiner Selbstzweck für sie waren. Also
machte sie es wie heutzutage jeder halbwegs anständige Vertreter ihrer
Generation und wurde Influencerin.
Manche Leute wissen vielleicht immer noch nicht, was das eigentlich ist.
Glauben Sie mir, es gibt keinen Grund, mit dieser Bildungslücke zu protzen.
Denn schlimmer als jemand, der sämtliche Auswüchse der Popkultur
unreflektiert abfeiert und nachbetet, ist jemand, der stolz darauf ist, neue Trends
nicht zu verstehen. Solche Leute sind nicht besser als diese Idioten, die in einem
T-Shirt mit der Aufschrift »Feminismus ist die Zukunft« stundenlang für die
neuesten Sneaker anstehen, die von unterbezahlten Frauen in einem Sweatshop
hergestellt wurden. Wenn Sie vorsätzlich ignorieren, was um Sie herum passiert,
bekommen Sie von mir jedenfalls kein Wort des Lobes. Dabei haben Sie im
letzten Monat sicher mal einen Blick auf die Website der Daily Mail geworfen –
also seien Sie nicht so selbstgefällig. Ein Influencer ist jemand, der seine Präsenz
in den sozialen Medien nutzt, um gegen Bezahlung Marken anzupreisen.
Eigentlich dasselbe Prinzip wie in den wilden Neunzigern, als Hollywoodgrößen
ihren Ruhm vergoldeten, indem sie für Zahnpasta warben. Nur dass Influencer
keine Talente oder Erfolge im Sport, im Kino, in der Literatur, in der Kunst oder
in der Popmusik vorweisen können. Sie verdanken ihren Ruhm ganz allein ihrer
großen Followerzahl und sind in der Regel dürre weiße Frauen mit einem
übernatürlich strahlenden Lächeln und einem nervtötend beigen Zuhause, das
offenbar ideal ist, um darin allen möglichen Plunder zu fotografieren. Wenn sie
nicht gerade versuchen, ihre Anhänger davon zu überzeugen, ihrem Lebensstil
nachzueifern, schwadronieren sie bevorzugt über »Dankbarkeit« oder »das
Leben im Augenblick«. Auf Teufel komm raus um Sympathien heischend, geben
sie gerne vor, unter leichten Angststörungen zu leiden oder mit irgendwelchen
nicht näher bezeichneten Problemen zu ringen. In der Flut ihrer Plattitüden
könnte man das halbe Land ertränken – und angesichts ihrer Videoclips oder der
Kommentare ihrer Follower würde man das am liebsten auch wirklich tun.
Der Job war also wie gemacht für Bryony. Na gut, »Job« ist vielleicht etwas
übertrieben. Es war die perfekte Aufgabe für Bryony. Sie hielt ihre täglichen
Aktivitäten detailliert in einem Videotagebuch fest: In einem Clip, der ganze 180
000 Aufrufe generierte, ging es zum Beispiel ausschließlich um einen Besuch
beim Osteopathen. Außerdem postete sie Unmengen von Selfies in allen
möglichen langweilig aussehenden Posen, mit einer Vielzahl von Requisiten vor
den unterschiedlichsten Hintergründen. Mit Requisiten meine ich ihren blöden
flauschigen Teppich, ihre Spiegelwand und ihren begehbaren Kleiderschrank.
Mit Hintergründen meine ich Luxus-Resorts und andere exklusive Urlaubsziele,
die sie häufig mit Hashtags wie #dasbrauchteich garnierte, die suggerieren
sollten, dass sie diese Auszeit dringend nötig hatte. Als hätte dieses ewige
Karussell aus Gesichtsbehandlungen, Fitnesskursen und Nachtklubbesuchen sie
gefährlich nahe an den Rand eines Burn-outs gebracht. Ich gehe davon aus, dass
ihre vermutlich sehr viel schlechter verdienenden Follower mitfühlend nickten
und nicht mit Lob dafür sparten, dass sie dem Thema Selfcare solche Bedeutung
beimaß.
Zu diesen Urlaubsfotos kamen gesponserte Beiträge, die kaum als solche
gekennzeichnet waren und sich deshalb durch nichts vom Rest ihres Feeds
unterschieden. Diese bezahlten Posts sollten zeigen, wie jeder von uns ein
bisschen Bryony sein kann – mithilfe von Zahnbleichsets, dünnen Kleidchen aus
dem Onlineversand oder einem als »Must-have« bezeichneten Ring mit ihren
Initialen. Die Instagram-Herde kaufte bereitwillig all diesen Schund – dankbar,
dass man ihr sagte, was gut war, was funktionierte und was sie von ihrem tristen
Leben ablenkte.
Natürlich war das alles eine große Verarschung. Da Spott und Schadenfreude
in Bryonys Leben so ziemlich das Einzige waren, was sie zum Lachen brachte,
hatte sie sicher ihre helle Freude daran. Denn wenn meine Halbschwester sich
die Zähne bleichen ließ, dann ging sie zum besten Zahnarzt in der Harley Street.
Wenn sie ein neues Kleid kaufte, legte sie einen Tausender hin und ließ es sich
innerhalb einer Stunde in einer mit Seidenpapier ausgelegten Schachtel liefern.
Ihr Schmuck hätte niemals grüne Flecken an ihren Fingern hinterlassen, denn er
war von Cartier. Das Zeug, für das sie Werbung machte, wurde fotografiert und
anschließend entweder gnädig den Hausangestellten überlassen oder einfach in
den Müll geworfen.
Bryonys Lebensstil hat mich gleichzeitig angewidert und fasziniert. Okay, das
ist nicht ganz richtig. Die Faszination überwog. Ich habe zahllose Stunden damit
vergeudet, durch ihr sorgsam kuratiertes Online-Leben zu scrollen, habe mir ihre
langweiligen Make-up-Videos angesehen und an ihren Q&A-Sessions
teilgenommen. In diesen Liveschalten stellte sie sich regelmäßig fünfzehn
Minuten lang knallharten Fan-Fragen wie zum Beispiel »Warum glänzen Ihre
Haare so?« und beantwortete diese mit der Ernsthaftigkeit einer Zeugin vor dem
UN-Kriegsverbrechertribunal. Das Internet ist ein Ort, an dem man seinen
Helden und Idolen näherkommt. Aber es ist auch ein Ort, an dem man sich
exzessiv mit dem Output von Leuten beschäftigt, die man so sehr hasst, dass
man sie im wirklichen Leben tunlichst meiden würde. Ich habe es mir immer als
notwendige Recherche schöngeredet, aber nach so langer Zeit fühlt man sich
irgendwann demoralisiert und schmutzig. Das ist, als würde man zwanghaft an
einer verschorften Wunde herumkratzen und sich am Ende über die hässliche
Narbe wundern.
Dass Bryony ihr Leben in den sozialen Medien öffentlich zur Schau stellte,
eröffnete mir ungeahnte Chancen. Und viel zu viele: Ich verrannte mich
dermaßen in diesem Labyrinth der Möglichkeiten, dass ich sogar recherchierte,
wie ich auf dem schnellsten Weg den Pilotenschein für einen Hubschrauber
erwerben konnte. Spätestens da wurde mir klar: Ich musste die Sache neu
überdenken. Meine Pläne waren nicht alle elegant, aber sie waren effektiv.
Manchmal ging mir der Mangel an Stil ein wenig gegen den Strich. Wer zeigt
nicht gern ein wenig Klasse, wenn er jemanden ins Jenseits befördert? Trotzdem
wäre es der Gipfel der Eitelkeit gewesen, alle meine fragilen Pläne nach dieser
Aufmerksamkeitsökonomie auszurichten. Und Eitelkeit führt dazu, dass man
geschnappt wird – denken Sie nur an die vielen Mörder, die im Knast landen,
weil sie sich am Tatort herumtreiben, um ihr Werk zu bewundern, und dabei die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Schlussendlich wählte ich ein Vorgehen, das sogar eine humoristische Seite
besaß. Denn eine Sache, die ich über Bryony wusste, hatte ich anfangs als alberne
Effekthascherei abgetan: Influencer legen sich gerne eine Macke zu, eine kleine
Schwäche, mit der sie in den sozialen Medien gekonnt kokettieren. Im Prinzip ist
es ein Alleinstellungsmerkmal, das die Marke stärkt. Einige tun zum Beispiel so,
als hätten sie eine harmlose psychische Krankheit. Besonderer Beliebtheit erfreut
sich die bereits erwähnte Angststörung, wogegen sich Psychosen in der Regel als
weniger vorteilhaft erweisen. Manche Influencer leiden angeblich unter
Borreliose oder chronischen Schmerzen. Krankheiten, deren Symptome so vage
sind, dass niemand diese Behauptung widerlegen kann. Bryony hatte sich für
etwas Originelleres entschieden. In einem sehr persönlichen Video offenbarte sie
eine Diagnose, die ihr ganzes Leben völlig auf den Kopf stellte. Wie ernst es war,
erkannte man an ihrem schlichten schwarzen Pullover und daran, dass sie nur
ganz wenig Make-up aufgetragen hatte. Mit bebender Stimme berichtete sie
ihren Followern, dass sie nach einem Abend im Vardo – einem kürzlich mit
großem Trara in Chelsea eröffneten Restaurant – zusammengebrochen war und
keine Luft mehr bekam. Nach umfangreichen Tests war der Übeltäter schließlich
gefunden: eine Allergie. Das arme Ding durfte nie wieder einen Pfirsich essen.
Während dieser Offenbarung flossen sogar Tränen, denn Pfirsiche waren
Bryonys absolutes Lieblingsobst. Als ich den Clip sah, verdrehte ich die Augen
und maß der Geschichte keinerlei Bedeutung bei. Doch ihre öffentlichen
Verlautbarungen zu den Gefahren von Steinobst nahmen kein Ende. Die
nationale Stiftung für Lebensmittelallergien setzte sich mit ihr in Verbindung,
und endlich hatte Bryony ein Steckenpferd, das sie sozial engagiert und seriös
erscheinen ließ. Sie veranstaltete einen Galaabend, um Geld für die Allergie-
Forschung zu sammeln, und beschwatzte diverse Modedesigner, Klamotten für
eine Modenschau im British Museum zu spenden, bei der sie und ihre
Freundinnen vor antiken Sarkophagen posierten und sich um Marmorstatuen
drapierten. Immer wieder beschwor sie ihre Follower, auf Freunde mit Allergien
Rücksicht zu nehmen. Ein Fingerzeig, dessen Selbstlosigkeit nur durch den
Umstand untergraben wurde, dass sie sich mit einem privaten Allergietest-
Hersteller zusammentat, dessen neunundsiebzig Pfund teures Testkit sie anpries,
damit »auch Sie endlich wissen, ob ein scheinbar harmloses Stückchen Obst Sie
umbringen könnte. #AD«.
Schon bald darauf füllte sich ihr Feed wieder mit Fotos von Haute Couture und
Sonnenuntergängen. Ich hatte ihren Kreuzzug gegen das Steinobst schon fast
vergessen, als sie eines Abends live aus der Notaufnahme streamte. Fairerweise
muss man wohl sagen, dass sie trotz Filter erschreckend aussah: Mit
geschwollenen Augen und fleckiger Haut flüsterte sie röchelnd in die Kamera,
dass sie gerade drei Adrenalinspritzen bekommen hatte, nachdem sie fast erstickt
war. In einem Nachtklub hatte ihr wohl jemand einen Cocktail in die Hand
gedrückt und voller Überzeugung versichert, das Getränk sei pfirsichfrei. Sie
hatte es in einem Schluck heruntergekippt, dabei allerdings sofort den markanten
Geschmack bemerkt und war in wilder Panik zum Ausgang gerannt. Weil ihre
Freunde Idioten waren oder – was noch tragischer ist – kaum etwas über Bryony
wussten, kam niemand auf die naheliegende Idee, dass sie eine schwere
allergische Reaktion hatte. Stattdessen vermutete der Türsteher eine
Panikattacke, während die anderen sie schlicht für betrunken hielten. Erst als
sich ihr Gesicht lila färbte und sie zu Boden fiel, rief jemand einen
Krankenwagen. Gut möglich, dass die Notaufnahme des städtischen
Krankenhauses für Bryony noch traumatischer war als der Vorfall selbst. Sie
befand sich auf einer öffentlichen Station mit nur einem Vorhang als
Sichtschutz, als sie ihrer Handykamera flüsternd gestand, wie verängstigt sie war.
Nicht, weil sie fast gestorben wäre, sondern wegen des blutüberströmten
Betrunkenen im Nachbarbett, der laut und schief einen Song von David Bowie
grölte und einfach nicht damit aufhören wollte. Sie hatte natürlich keine Ahnung,
dass es ein Bowie-Song war. Hätte sie Bowie gekannt, hätte sie ihn vermutlich als
Freak abgetan.
Ahnen Sie, worauf ich hinauswill? Das sollten Sie nämlich, denn es ist mehr als
offensichtlich. Und verdammt genial, wenn ich das sagen darf. Auch wenn mir
die Idee quasi auf dem Silbertablett serviert wurde. In Großbritannien sterben
jedes Jahr durchschnittlich zehn Menschen an lebensmittelbedingter
Anaphylaxie. Warum nicht auch Bryony? Eine tödliche Pfirsichunverträglichkeit
kann man schlecht einem unsichtbaren Feind anhängen.
Und was war gegen eine einfache Lösung einzuwenden? Manche meiner Morde
erforderten akribische Planung – die wochenlange Plackerei im Krötensumpf
und die nervenaufreibende Recherche in der Londoner Sexparty-Szene nicht zu
vergessen. Um an Janine heranzukommen, hatte ich mich sogar monatelang in
Hacker-Foren herumgetrieben. Das ist gar nicht so einfach, wenn man einen
Vollzeitjob hat und zunehmend obsessiv Langstrecken läuft. Während Lady
Macbeth schlafwandelt und sich imaginäres Blut von den Händen schrubbt,
renne ich meilenweit durch die Stadt. Ja, ich weiß: weg von meinen Verbrechen.
Um das zu kapieren, braucht es keinen Therapeuten. Danke. Nicht gerade
hilfreich ist auch meine Neigung zur Paranoia. Sie ist zwar nicht so ausgeprägt,
dass man sie als Charakterschwäche bezeichnen könnte, aber beim Jonglieren
mit Verantwortlichkeiten eher hinderlich.
Obwohl ich die Familie so gut wie möglich studiert hatte, blieb sie mir stets
fremd. Sie lebte in einer Welt, zu der ich nie Zugang finden würde – egal wie
lange ich diese Leute stalkte oder wie hoch ich die soziale Leiter hinaufstieg.
Eigentlich wusste ich kaum etwas über Bryonys Familienleben: Sie war ein
Einzelkind und wohnte noch immer bei den Eltern, die sie in den sozialen
Medien niemals erwähnte. Ich hatte keine Ahnung, ob Bryony ihren Eltern
nahestand. Ihre Mutter hatte zuletzt mindestens acht Monate im Jahr in Monaco
verbracht. Simon pendelte zwischen den Wohnsitzen hin und her, sein
Lebensmittelpunkt war aber offenbar London. Wie alle jungen Frauen in ihren
Kreisen flog Bryony häufig nach Saint-Tropez, nutzte diese Gelegenheiten aber
nur äußerst selten für einen Abstecher zu »Maman«. Ihr letzter offizieller
Besuch – offiziell, weil sie ihn auf Instagram gepostet hatte – fand zwei Jahre vor
Janines unglücklichem Unfall statt. Selbst der Tod ihrer Mutter war für Bryony
offenbar kein Anlass, sie in den sozialen Medien zu erwähnen. Sie legte eine
dreiwöchige Posting-Pause ein, die sie mit einem Foto der eigenen Silhouette vor
einer untergehenden Sonne beendete. Schon zwei Tage später postete sie wieder
gesponserte Inhalte. Janines Beerdigung fand in England statt, das Penthouse in
Monaco stand seitdem leer. Dass Simon es nicht verkaufte, hatte vermutlich
keine sentimentalen Gründe, sondern war allein dem Umstand geschuldet, dass
die Firma dort registriert war.
Diese Informationen erlaubten mir gewisse Schlussfolgerungen: So hatte ich
den Verdacht, dass Simon und Janine getrennt voneinander lebten, und das
bereits seit langer Zeit. Denn wer verbringt schon den Großteil des Jahres
getrennt von seinem Partner, wenn er nicht muss? Es wurde gemunkelt, dass
Janine, Simons ständiger Untreue überdrüssig, Maßnahmen ergriffen hatte, um
sich und ihre Anteile am Unternehmen zu schützen. Dieses von Tina bestätigte
Gerücht ging wohl darauf zurück, dass Simon eine zweite Jacht für seine
Geliebten besaß. Im Familienurlaub wurde er angeblich mit dem Speedboot von
einem Schiff zum anderen kutschiert. Als Janine davon Wind bekam, drohte sie
ihm mit Scheidung. Das hätte ihn die Hälfte seines Geldes gekostet. Mit
Unterstützung einer Wagenladung hervorragend bezahlter Buchhalter gelang es
ihr, Simon zu überzeugen, dass ihm nur eine Möglichkeit blieb, die Scheidung
und damit den Verlust des Vermögens zu umgehen: indem er ihr sein Geschäft
überschrieb. Simon dürfte bewusst gewesen sein, dass er durch diesen Deal
Janines Gefangener wurde, doch er unterschrieb trotzdem. Die Aussicht, ein
reicher Gefangener zu sein, erschien ihm offenbar erträglicher, als erleben zu
müssen, wie die Boulevardpresse über sein Privatleben herfiel, und obendrein
noch einen dicken Batzen Geld zu verlieren. Denn die Vereinbarung hatte einen
entscheidenden Vorteil – da Janine in Monaco lebte, sparten sie eine Menge
Steuern. Für die Reichen sind Steuern so etwas wie für viele andere der
Klimawandel: ein soziales Anliegen, für das es sich lohnt, auf die Straße zu
gehen. In der Regel sind sie der Überzeugung, dass ihnen ihr Vermögen zusteht.
Sie haben keine Zeit für theoretische Diskussionen darüber, ob es wirklich
möglich ist, dass jemand so eine individuelle Anhäufung von Reichtum verdient.
Wie Gollum sind sie voll und ganz davon eingenommen, ihren Schatz zu
bewahren.
Janine führte in Monaco ihr Traumleben, das sich vor allem dadurch
auszeichnete, dass Mittagessen wochenlang geplant wurden und sie das Personal
nach Herzenslust drangsalierte, während Simon in London tun und lassen
konnte, was er wollte. Im Grunde spielte Bryony in dieser Gleichung keine Rolle.
Als Tochter der beiden trug sie zwar den Familiennamen und war das
verbliebene Bindeglied zwischen ihren Eltern, aber ich hatte nicht den Eindruck,
als würde sie an Weihnachten mit ihnen vor dem Kamin Monopoly spielen.
Vielleicht lag ich auch falsch. Weil ich keine Chance hatte, ihnen jemals
nahezukommen, war es mir unmöglich, diese Menschen und ihre innersten
Gedanken wirklich kennenzulernen. Andererseits war ich überzeugt, ich würde
Jimmy in- und auswendig kennen. Überraschenderweise hatte er mich eines
Besseren belehrt. Sein Treuebruch machte ihn für mich fast noch ein bisschen
interessanter. Vielleicht empfanden Janine und Simon ja eine tiefe und aufrechte
Liebe für ihre Tochter. Ich konnte mich allerdings nur auf die wenigen
Informationen stützen, die ich aus der Ferne zusammengetragen hatte. Mir ging
es nicht darum, mir selbst Absolution zu erteilen, und ich hoffte schon gar nicht
darauf, dass es Simon nicht zu sehr schmerzen würde, seine Tochter zu verlieren.
Wenn ich ihm diese Qual ersparen wollte, hätte ich ihn vor ihr umgebracht.
Nein, die Reihenfolge, in der ich seine Angehörigen auslöschte, war
entscheidend. Deshalb musste er als Letzter dran glauben. Er sollte jeden Mord
miterleben. Die Enthüllung meiner Identität und meines Motivs würde ihm dann
den Rest geben.

Ich wusste, dass es ein Schuss ins Blaue war, doch ich wollte die Idee nicht
verwerfen, ohne es wenigstens versucht zu haben. Allerdings hatte ich nicht viel
Zeit, also musste es schnell gehen. In der Mittagspause machte ich mich auf den
Weg, um in verschiedenen Kaufhäusern sechs Beautyprodukte zur
Gesichtspflege zu kaufen. Es waren durch die Bank Luxusartikel. Eine
Reinigungsmilch enthielt Pfirsichkernöl. Zurück im Büro, schloss ich mich in der
Toilette ein, verteilte meine Einkäufe auf dem Boden und machte mich an die
Arbeit. Das mit Abstand teuerste Produkt war eine Gesichtsmaske, die angeblich
aus echten Perlen hergestellt wurde. Gibt es eigentlich etwas, das noch nicht in
Pflegeprodukten verwurstet wurde, um diese für ihre verwöhnte Klientel
interessanter zu machen? Irgendwann wird ein gerissener Marketing-Manager
auf die Idee kommen, Nachtcreme mit Antimaterie zu verkaufen. Wetten, dass
die Millionärsgattinnen in London, Moskau und New York sogar darauf
hereinfallen?
Die anderen Sachen waren zwar auch teuer, aber längst nicht so exklusiv, und
die meisten davon hatte Bryony vermutlich schon einmal ausprobiert. Ich packte
sie mit in die schicke Schachtel, allerdings nur als Staffage. Alle meine
Hoffnungen ruhten auf der Gesichtsmaske. Sie war ein Baum, den ich in einem
Wald versteckte. Für eine eitle Influencerin ist nichts so verlockend wie ein
neues Luxus-Pflegeprodukt, das einen unübertroffen strahlenden Teint
verspricht.
Die Gesichtsmaske und die Reinigungsmilch mit dem Pfirsichkernöl waren
vom selben Hersteller. Das war wichtig, falls es später zu einer Untersuchung
kommen sollte. Bei den anderen Produkten handelte es sich um ein
Sammelsurium von Marken. Ich füllte vier Tropfen der Reinigungsmilch in den
Tiegel mit der Gesichtsmaske. Dafür verwendete ich eine Pipette, die ich ein
paar Wochen zuvor in einer Tierarztpraxis gekauft hatte – vorgeblich wegen
eines Augenleidens meines armen Hundes. Ich musste das tränende Auge in
allen Details schildern, denn die schmächtige Arzthelferin zeigte sich unerwartet
interessiert. Tierfreunde sind offenbar ganz versessen darauf, über die
Krankheiten ihrer kleinen Lieblinge zu reden.
Ich schnupperte an der Flüssigkeit. Hätte sie nach Pfirsich gerochen, wäre das
ein Problem gewesen. Doch der Geruch war nicht weiter auffällig. Süß,
allerdings nicht erkennbar fruchtig. Um auf Nummer sicher zu gehen, fügte ich
einen Tropfen Mandelessenz hinzu, wie man sie zum Aromatisieren von
Kuchenteig verwendet. Beim Backen überdeckt das Zeug alles andere. Ich rührte
einmal um und schnupperte erneut daran. Mit Erfolg. Jetzt erinnerte mich der
Geruch an eine Bäckerei. Er war angenehm warm und beruhigend, was ich in
Anbetracht meines Vorhabens herrlich unpassend fand.
Ich wischte den Tiegel vorsichtig mit einem Babytuch ab und warf die
Pfirsichkernmilch in den Mülleimer. Alle anderen Artikel packte ich in eine mit
Seidenpapier ausgelegte, weiße Pappschachtel. Auf der beiliegenden Karte stand:
Hallo Bryony, hoffentlich gefallen dir diese Goodies – die Perlenmaske ist ein Traum! XX.
Am liebsten hätte ich geschrieben, die Maske sei zum Sterben schön, das war mir
dann allerdings doch zu riskant. Anschließend verstaute ich die Schachtel in
einer Tasche unter meinem Schreibtisch.
Normalerweise gehöre ich nicht zu denen, die Punkt 17:30 Uhr ihre Arbeit
liegen lassen. Das sind meistens dieselben nervigen Kollegen, die in unwichtigen
Besprechungen stundenlang auf ein Ordnungssystem für den
Gemeinschaftskühlschrank pochen, sich aber vor verantwortungsvollen
Tätigkeiten drücken. Gewöhnlich sind sie auch diejenigen, die von allen
Angestellten am schwersten zu feuern sind, denn sie haben das Kleingedruckte
in ihren Arbeitsverträgen genau studiert und wissen deshalb, was sie sich
rausnehmen können. Es tut zwar nichts zur Sache, aber diese Kollegen sind
niemals attraktiv oder charismatisch. Sie gehen also ganz bestimmt nicht so früh,
weil sie sich noch für eine aufregende Party umziehen müssen.
Doch diesmal packte ich pünktlich um halb sechs meine Sachen und murmelte
beiläufig etwas von einem Arzttermin, nur für den Fall, dass sich jemand
wundern sollte. Was natürlich nicht der Fall war. Die Leute verschwanden
ständig unangekündigt, um irgendwelche Termine wahrzunehmen. Manche
Mitarbeiter verließen das Büro für sogenannte Verwöhnstunden, die sie für eine
Zahnaufhellung oder Augenbrauenfärbung nutzten. »Das kommt dem
Kundenkontakt zugute«, erklärte meine Chefin. Im Prinzip war das eine
Einladung, sich während der Arbeitszeit Botox spritzen zu lassen.
Fünf Minuten vor Ladenschluss war ich am Paketshop. Da ich davon ausging,
dass eines der Hausmädchen den Empfang quittieren würde, ließ ich die
Angaben zum Absender einfach weg. Bryony würde ohnehin nicht darauf
achten. Leute wie sie erhalten jede Woche hundert solcher Pakete. Als ich in das
schwindende Herbstlicht hinaustrat und die Tür hinter mir zuschlug, bimmelte
die Ladenglocke. Ich nahm das als Zeichen: Statt voller Erwartung stündlich
Bryonys Social-Media-Konten zu checken, würde ich den Dingen ihren Lauf
lassen. Ob mein Anschlag von Erfolg gekrönt sein würde, lag nun nicht mehr in
meiner Hand.


Im darauffolgenden Monat gab es im Job ungeheuer viel zu tun. Die
Schlussverkaufssaison rückte näher. Ich organisierte die Kampagnen in den
sozialen Medien und bereitete den Versand der Discount-E-Mails an die
Newsletter-Abonnenten vor. Fünfundneunzig Prozent dieser E-Mails landen
ungelesen in den Spam-Postfächern der Empfänger. Es handelte sich also um
eine sprichwörtliche Sisyphusarbeit, doch angeblich waren die Daten, die die
Kunden uns bei der Anmeldung gaben, für das Unternehmen von
unschätzbarem Wert. Der in diesen Werbemails angeschlagene Ton war
geeignet, selbst den kauffreudigsten Menschen zum bekennenden Anti-
Konsumenten zu machen. In einer von ihnen tauchte tatsächlich der Begriff
»Sale-a-Bration« auf – zumindest, bis ich ihn ersatzlos gestrichen hatte. Wenn ich
nicht gerade damit beschäftigt war, die englische Sprache und meine eigene
Würde zu bewahren, suchte ich nach einer neuen Möglichkeit, Bryony zu töten.
Auch in ihrem Fall war es mir wichtig, dass sie bei einer für sie möglichst
alltäglichen Tätigkeit starb. Das verlieh dem Unfallszenario größere
Glaubwürdigkeit, und es war sehr viel weniger aufwendig zu planen. Ich wollte
diese Dinge erledigt haben – zwar möglichst professionell, aber vor allem
erledigt. Denn ich morde nicht aus Freude und suche auch nicht nach der
faszinierendsten oder der grausamsten Todesart. Einen guten Mord zu begehen,
ist eine Kunst. Ich gebe zu, dass es mich beeindruckt, wie weit manche dabei
gehen. Aber ich hatte nicht vor, an einer Zipline hängend, durch die
Häuserschluchten von London zu sausen oder meine Opfer mit einem Samurai-
Schwert zu enthaupten, nur um Eindruck zu schinden.
Nach einer Reihe von Fehlstarts stieß ich schließlich auf eine vielversprechende
Möglichkeit – dank eines Mannes, der einigen von Ihnen ein Begriff sein dürfte.
Er heißt Russell Chan und hat mit einem Ernährungskonzept namens »Moment
& Methode« Millionen verdient. Falls Sie jedoch noch nie von diesem Quatsch
gehört haben sollten, können Sie tausend Jahre damit verbringen zu erraten,
wofür dieser Name steht, und werden es dennoch nie herausfinden. Sein
Konzept beziehungsweise seine »Innovation« – wie er es mal in einem TED-
Vortrag bezeichnete, den ich mir ganze drei Minuten lang angesehen habe, um
festzustellen, dass ich lieber sterben würde – besteht aus zwei Grundpfeilern.
Wenn Sie sich für das Programm anmelden, schickt er Ihnen spezielle
pastellfarbene Post-it-Zettel mit positiven Affirmationen, die Sie in der ganzen
Wohnung verteilen sollen. Außerdem erhalten Sie jeden Morgen ein neues
Rezept für einen Smoothie, den Sie trinken, um anschließend fünfundachtzig
Minuten lang Sport zu treiben. Jedes Jahr dreihundertfünfundsechzig
verschiedene Obst- und Gemüsemischungen zusammenzustellen, ist eine
Respekt einflößende kreative Leistung – und zweifellos eine schändliche
Verschwendung der Ressourcen eines diplomierten Ernährungswissenschaftlers.
Die Post-it-Zettel sind reine Nebelkerzen und lenken davon ab, dass es sich
eigentlich um einen simplen Diätplan handelt. Die M&M-App kostet einmalig
8,99 Pfund für den Download sowie jeden Monat weitere vier Pfund … und
zwar für den Rest des Lebens. Ich weiß von etlichen Menschen, die ihr
Abonnement kündigen wollten, aber von keinem einzigen, dem das auch
gelungen ist. Allerdings versuchen die meisten es gar nicht erst, denn diese
Idioten vergöttern Russell Chan. Wenn sie tatsächlich abnehmen, kriegen sie sich
vor Begeisterung gar nicht mehr ein – als wäre es Hexenwerk und nicht das
Ergebnis eines nahezu kalorienfreien Mahlzeitenersatzprogramms. Sie
schwärmen davon, wie viel Inspiration und Selbstvertrauen sie aus den
computergenerierten Pseudozitaten schöpfen, die sie an die Schränke, Türen und
Wände ihrer bücherlosen Wohnungen pappen, wo die geistlosen Sprüche
vermutlich um den Platz zwischen dem alten Holzschild mit der Aufschrift
»Liebe« und den rosé-goldenen Übertöpfen kämpfen.
Ich bewundere Chan. Er ist ein Monster, doch er nimmt nur diejenigen aus, die
sich bereitwillig von ihm schröpfen lassen. Als vor ein paar Jahren der große
Crash kam, kehrte er dem Finanzwesen den Rücken und rollte den
Wellnessmarkt auf. Er dachte wie ein Banker und verdiente sich eine goldene
Nase, weil er erkannte, was die Massen in einer Zeit der finanziellen Unsicherheit
wirklich wollen: sich kleine Annehmlichkeiten gönnen, Ruhe und Bestätigung in
Plattitüden finden und vor allem … besser aussehen. Die Bank gibt einem zwar
kein Geld mehr, aber dank des neu gewonnenen Selbstvertrauens kann man
zumindest glänzende Leggins tragen.
Die M&M-Ideologie spricht also die breite Masse an, gibt sich aber einen
exklusiven Anstrich. Chan war von Anfang an klar, dass sein System nur
funktionieren würde, wenn die Reichen und Schönen für ihn die Werbetrommel
rühren. Jedes Jahr im Mai lädt er hundert der einflussreichsten Entscheider und
Trendsetter zu einem Klausur-Wochenende mit Fitnesskursen, Saft-Workshops
und Achtsamkeits-Seminaren in sein Anwesen auf Ibiza ein. Alljährlich
durchforsten die Klatschblätter atemlos die Instagram-Accounts der Teilnehmer.
Dort gibt es Fotos attraktiver Menschen, die am Infinitypool den Sonnengruß
üben, sich zu Knäueln unterernährter, gebräunter Gliedmaßen verknoten und
davon schwärmen, wie viel sie auf diesem dreitägigen Trip über sich selbst
erfahren haben. Laut einer Bekannten, die in der Beauty-PR tätig ist, werden auf
der Party, die immer am letzten Abend des Events stattfindet und auf der
Smartphones verboten sind, Unmengen von Alkohol und Drogen in die
Smoothies gemischt. Vermutlich soll diese exzessive letzte Nacht für die
langweiligen Wanderungen und Meditationssitzungen der vorangegangenen zwei
Tage entschädigen.
Raten Sie mal, wer beim nächsten Workshop-Wochenende dabei sein würde.
Ich hatte von Bryonys Plänen erfahren, weil mein Instagram-Fake-Mutti-
Account fast jedem folgte, dem sie folgte. Chan stimmte seine acht Millionen
Follower schon Monate vorher mit Fotos auf das Ibiza-Wochenende ein. Die
Schnappschüsse von ordentlich aufgereihten Yogamatten auf dem Sonnendeck
und Videoclips von Mitarbeitern in weißen Leinenklamotten beim Rasenmähen
versah er mit dem zweifelhaften Hashtag #cleanhedonism. Bryony
kommentierte das Bild eines neonfarbenen Luftballons, der an einen Baum
gebunden war, mit den Worten: »Kann es kaum erwarten, mich meinem Soul-
Tribe anzuschließen.«
Ich machte mich an die Arbeit. Eine Teilnahme an dem Seminar-Wochenende
konnte ich vergessen, aber die Party schien mir ein vielversprechender Ansatz zu
sein. Da sich in den sozialen Medien alle gegenseitig taggen, war es relativ
einfach herauszufinden, dass eine Agentur namens Bespoke Bangers in Watford
mit der Organisation beauftragt war. Logisch, wenn ich eine authentisch
balearische Atmosphäre will, dann engagiere ich am besten ein paar Hipster aus
dem Speckgürtel von London. Mit Anfang zwanzig hatte ich oft bei
Veranstaltungen gekellnert. Deshalb war ich zuversichtlich, dass man mir
zutrauen würde, einen Haufen zugekokster Models und Influencer zu bedienen.
Auf der Website des Unternehmens gab es ein Bewerbungsformular, das ich
ausfüllte und in dem ich auf die vielen exklusiven Events hinwies, bei denen ich
angeblich gearbeitet hatte. Ich schrieb, mir sei zu Ohren gekommen, dass die
Agentur viele Kunden auf Ibiza habe, und gab an, zum Zeitpunkt der Party auf
der Insel zu sein. Keine vierundzwanzig Stunden später erhielt ich eine E-Mail
von einer gewissen Sasha. Sie bat mich um einen Videochat, vermutlich um
sicherzustellen, dass ich für den Job auch attraktiv genug war.
Ich schminkte mich, zog meine Augenbrauen dunkel nach und trug roten
Lippenstift auf – zwei Kniffe, die das Gesicht subtil, aber wirkungsvoll
verändern. Da Sasha neunzig Minuten später anrief, als wir vereinbart hatten,
musste ich aus dem Bus springen und das Gespräch in einem Café
entgegennehmen. Sehr bestimmt und nicht besonders freundlich bot sie mir an,
in der folgenden Woche probeweise einige Schichten in London zu übernehmen.
Der Videocall dauerte keine fünf Minuten, und ich fühlte mich in meiner
Vermutung bestätigt, dass es dabei in erster Linie um mein Aussehen ging. Am
Dienstag darauf sollte ich bei einem Event im The Shard arbeiten. Ich erfuhr
keine Details, doch es handelte sich wohl um die Veranstaltung eines bekannten
YouTubers, der gerade ein Selbstbräunungsprodukt auf den Markt brachte. Ich
sollte um siebzehn Uhr dort sein und eine schwarze Hose tragen – ein Hemd
würde gestellt.
»Schau den Gästen nicht in die Augen, es sei denn, du bietest ihnen ein
Getränk an. Gruselige Kellnerinnen, die einen anstarren, braucht kein Mensch«,
instruierte mich Sasha, tippte auf ihrer Tastatur herum und hielt sich dabei an
ihren eigenen Rat, keinen Blickkontakt herzustellen.
Der Abend verlief reibungslos. Vom Büro, wo ich leider schon wieder früher
Feierabend machen musste, eilte ich nach Southwark. Der Raum war in
apricotfarbenes Licht getaucht und mit Blumenarrangements dekoriert. Unter
den Tischen stapelten sich Goodie-Bags mit Keksen, auf deren Glasur das
Markenlogo prangte. Es war nicht sonderlich voll, aber alle machten emsig
Selfies mit dem Gastgeber, der sich offenbar darüber freute, dass die Gäste
begeistert Fotos der Ballonwand posteten. Während ich ihnen Champagner
einschenkte, hielt ich brav meinen Kopf gesenkt. Ich hätte ohnehin keinen von
ihnen erkannt. Andy Warhols Prophezeiung wurde durch den Siegeszug der
Online-Promis völlig über den Haufen geworfen. Angesichts dieser
hohlköpfigen Kids und ihres verzweifelten Ringens um maximale
Aufmerksamkeit erscheinen fünfzehn Minuten Ruhm schon fast exzessiv.
Das Feedback stellte Sasha offenbar zufrieden, und ich wurde für drei weitere
Veranstaltungen in London gebucht. Den Lohn gab es bar auf die Hand, was
mir sehr gelegen kam, und nach zwei Stunden war der Spuk vorbei. Die
Londoner Jugend weiß offenbar, wann es genug ist, und geht lieber nach Hause,
um eine Gesichtsmaske aufzutragen und den neuesten Netflix-Film zu glotzen.
Einen Monat später erkundigte sich Sasha nach meiner Verfügbarkeit für drei
bevorstehende Events auf Ibiza. Sie gab mir die Termine durch, und einer davon
fiel tatsächlich auf den letzten Abend von Russell Chans Wellness-Wochenende.
Weitergehende Informationen bekam ich nicht, war aber ziemlich zuversichtlich,
dass Bespoke Bangers keine zwei Partys in derselben Nacht organisierte. Ich
sagte sofort zu und buchte auch gleich die Flüge sowie eine Unterkunft für den
entsprechenden Abend. Mein Plan war simpel. Bryony liebte Cocktails, und eine
so hedonistische Feier wie die von M&M lief vermutlich schnell aus dem Ruder.
Nach dreitägigem Saftfasten würde es ganz sicher niemanden wundern, wenn
Bryony in kürzester Zeit so betrunken wäre, dass sie auf der Tanzfläche
zusammenbrach. Ein paar Tropfen Pfirsichpüree im Glas sollten ihren Zweck
erfüllen. Ich war mir vollkommen sicher, dass keiner dieser Gesundheitsfanatiker
über das nötige medizinische Grundwissen verfügte, um ihr zu helfen. Mir blieb
nichts weiter zu tun, als mich die nächsten sechs Wochen in Geduld zu üben.
Allerdings war das überhaupt nicht nötig. Denn Bryony starb noch in derselben
Nacht.


Ich erfuhr erst am nächsten Abend davon. Obwohl wir den ganzen Tag mit
Nachrichten bombardiert werden, ist es bemerkenswert leicht, nichts von der
Welt mitzubekommen, wenn man einfach nur vergessen hat, sein Handy
aufzuladen. An besagtem Mittwoch war ich nicht im Büro, sondern nahm an
einer Fortbildung mit dem Titel »Geschäftsfrauen sind Powerfrauen« teil. Da es
eine Pflichtveranstaltung war, diente sie vermutlich weniger dem Zweck, die
Frauen im Unternehmen zu stärken, sondern sollte vielmehr davon ablenken,
dass einer der Teamleiter erst vor Kurzem der sexuellen Belästigung beschuldigt
worden war. Nachdem ich acht Stunden lang an Arbeitsgruppen teilgenommen
hatte, wo ich mit dreizehn Kollegen im Kreis herumsitzen und »kritische
Bürosituationen« in Form von albernen Rollenspielen bewältigen musste,
verzichtete ich am Schluss auf das lockere Beisammensein bei Kaffee und
Kuchen, um mich stattdessen auf den Weg zur U-Bahn zu machen. Mein
Telefon war tot, und so verbrachte ich die Fahrt damit, die Auseinandersetzung
eines jungen Paares zu verfolgen. Die beiden wurden sich nicht einig, ob der
Umstand, dass sie ihre Zimmerpflanze erfolgreich durch den Winter gebracht
hatten, sie bereits für die Anschaffung eines Hundes qualifizierte. Sie verdrehte
ständig die Augen, während er genervt aus dem Fenster starrte. Der Hund tat
mir jetzt schon leid. Ich empfand sogar Mitleid für die Zimmerpflanze.
Beim Verlassen der U-Bahn-Station nahm ich einen Evening Standard mit, rollte
ihn zusammen und verstaute ihn in meiner Tasche. Zwanzig Minuten später war
ich zu Hause, räumte die im Bioladen gekauften Lebensmittel ein und drehte die
Heizung auf. Erst dann setzte ich mich mit der Zeitung an den Küchentisch. Der
Aufmacher war ein langweiliger Artikel über fehlende Sozialwohnungen, den ich
nur überflog. Jeder weiß, dass die Titelseite dieser kostenlosen Lokalpostille nur
ein Feigenblatt ist. Die restlichen Seiten glänzen gewöhnlich mit Berichten über
die Eröffnung einer weiteren gnadenlos überteuerten Eisdiele in Kensington
oder Lobeshymnen auf Fitnessstudios, in denen offenbar mit goldenen
Gewichten trainiert wird. Ein kleines Foto am Rand der Titelseite hätte ich fast
übersehen. Das Porträt einer jungen Frau war eindeutig ein Selfie: Es war schräg
von unten aufgenommen und bestand zu fünfundsiebzig Prozent aus Mund.
Beim Anblick des Fotos rauschte sofort das Adrenalin durch meine Adern,
versetzte mir einen blitzartigen Energieschub und ließ gleichzeitig die Zeit
einfrieren. Alles verlangsamte sich, wurde schwammig und stumpf. Ich wusste
instinktiv, wen ich vor mir hatte, doch für den Bruchteil einer Sekunde war ich
so benebelt, dass mein Hirn nicht mehr richtig hinterherkam. »Unternehmens-
Erbin mit siebenundzwanzig Jahren gestorben«. Ich blätterte weiter, und auf
Seite drei war noch ein Bild von ihr, darauf stand sie zwischen ihren Eltern und
war noch deutlich jünger.
Bryony.
Der Artikel war nicht besonders aufschlussreich. Nachdem eine
Hausangestellte sie um 19:30 Uhr bewusstlos in ihrem Schlafzimmer
aufgefunden hatte, war sie von den herbeigerufenen Sanitätern noch an Ort und
Stelle für tot erklärt worden. Mit der Erwähnung des tragischen Todes ihrer
Mutter nur wenige Monate zuvor sollte wohl angedeutet werden, dass auch ein
Suizid infrage kam. Was natürlich völliger Unsinn war. Niemals hätte Bryony
sich aus Gram oder Trauer umgebracht. Zu derart tiefen und komplexen
Emotionen war sie gar nicht in der Lage. Ihre Gefühlswelt beschränkte sich auf
Langeweile, Schadenfreude und Verlangen. Rudimentäres Zeug. Abgesehen von
wenigen Worten zum geschäftlichen und gesellschaftlichen Erfolg sowie einer
kurzen Erwähnung von Simon, hieß es zur Familie nur, dass sie um respektvolle
Zurückhaltung und die Wahrung ihrer Privatsphäre gebeten habe.
In der folgenden Stunde arbeitete ich mich hektisch durch Nachrichtenportale,
Klatschblogs und Instagram. Bryonys letzter Post zeigte sie in innigem
Blickkontakt mit einem – hoffentlich geliehenen – Dackel, der neben ihr auf
dem Teppich saß. Die Bildunterschrift lautete: »Wenn meine ABF Liebe will!
#WOISTFENDI«. Auch hier gab es also keinerlei Hinweise, die geeignet waren,
die Armes-reiches-Mädchen-Theorie des Standard zu untermauern. An anderer
Stelle bekundeten einige Instagram-Follower ihre Trauer mit Emojis wie
betenden Händen oder weinenden Smileys, oft in Verbindung mit einem »R.I.P.«
oder den Worten »Ruhe in Frieden«. Eine Formulierung, die ich immer schon
verabscheut habe. Egal, wie lebenslustig oder lebenshungrig du warst: Gib
endlich Ruhe. Was für ein lapidarer und verallgemeinernder Kommentar. Aber
auch hier: keine neuen Informationen, keine Gerüchte, nicht mal ein Strohhalm,
an den ich mich klammern konnte. Wo war Simon gewesen, als es passierte? War
er zu Hause, oder amüsierte er sich mit einer neuen Affäre? Dinierte er in seinem
Herrenklub, oder war er geschäftlich unterwegs? Wie hatte er es erfahren – vom
Hausmädchen oder der Polizei? Fühlte er sich allein ohne seine Frau und ohne
seine Tochter – das einzige von ihm anerkannte Kind? Die Eltern tot. Der
Bruder auch. Ob er inzwischen etwas ahnte? Wie sollte er? Er hatte meine
Existenz genauso erfolgreich verdrängt wie alles andere, was ihm in seinem
privilegierten Leben lästig erschien.
Ich war ebenfalls allein. Als die anderen starben, war ich bis zum letzten
Atemzug dabei gewesen und hatte immer alles unter Kontrolle. Diesmal musste
ich es aus der Zeitung erfahren. Ich wusste keinen Deut mehr als der Rest der
Welt und hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Zum ersten Mal
seit langer Zeit hatte ich das Bedürfnis, mit meiner Mutter zu sprechen. Ich
wollte sie wissen lassen, dass ihre Tochter am Leben war. Dass ich das alles für
sie tat. Und dass keiner der Unmenschen, die Mums Leben ruiniert und sie dann
vergessen hatten, ungestraft davonkommen würde. Aber ich wollte keiner von
diesen Losern sein, die sich einreden, ihre toten Angehörigen würden lächelnd
auf sie herabblicken. Und ich hatte gewiss nicht vor, mich vom Selbstmitleid
überwältigen zu lassen. Ich öffnete eine Flasche Wein und ließ mir ein Bad ein.
Bryony war tot. Die Umstände ihres Todes konnte ich auch später noch in
Erfahrung bringen. Ihr Ableben bedeutete nicht nur, dass ich einen weiteren
Namen auf meiner Liste mit einem Haken versehen konnte. Es bedeutete auch,
dass ich meine Aufgabe so gut wie erfüllt hatte. Denn es war nur noch ein Name
übrig. Daddy, liebster Daddy, du bist der Nächste.
kapitel 14

Beim Schreiben musste ich immer wieder schmunzeln. Der Cliffhanger war
vielleicht einen Tick zu dramatisch. Gegen zwei Uhr nachts hatte ich die Story
von Bryonys Ableben fertig. Es herrschte völlige Dunkelheit und absolute Stille,
die nicht einmal von Kellys Schnarchen gestört wurde. Das Ende hatte mich
aufgewühlt, vor allem die Erinnerung an den Augenblick, in dem mir bewusst
wurde, dass nur noch ein Opfer übrig war. Dass mein Ziel zum Greifen nah war.
Es war ein bombastisches Gefühl. Eingesperrt in dieser Zelle, wünschte ich mir,
ich hätte solche Momente mehr ausgekostet. Ich hätte nach jedem Mord tanzen
gehen oder mir für jeden Namen, den ich von der Liste gestrichen hatte, ein
hübsches Schmuckstück kaufen sollen. Ich führte wirklich eine Liste. Habe ich
das schon erwähnt? Eine richtige Liste, nicht nur im Kopf. Ich schrieb sie mit
einem Bleistift auf die Rückseite eines Fotos von mir und meiner Mutter. Die
Latimers hatten es mir zu Weihnachten geschenkt, kurz nachdem ich bei ihnen
eingezogen war. Da das Foto mir gehörte, hielt sich meine Überraschung in
Grenzen. Sophie hatte es in meiner Schreibtischschublade gefunden und es
professionell rahmen lassen.
»Du solltest dir dieses Bild jeden Tag ansehen können, Schatz«, sagte sie, als ich
es auspackte. »Deine Mutter hat dich so sehr geliebt.« Das wusste ich. Dafür
brauchte ich keine Sophie. Ich war mir auch gar nicht sicher, ob Sophie viel mit
meiner Mutter geredet hatte. Eigentlich nur, wenn es darum ging, dass Jimmy
und ich uns zum Spielen trafen. Meistens bei den Latimers zu Hause, weil – wie
Sophie nicht müde wurde zu betonen – »die Kleinen dort einfach mehr Platz
zum Spielen haben«. Dass sie meinte, mich ständig daran erinnern zu müssen,
wie sehr ich geliebt worden bin, empfand ich irgendwann als ziemlich nervig.
Wenn mir Sophie mal wieder versicherte, wie stolz Marie auf meine
Prüfungsergebnisse oder die »exzellenten« Törtchen gewesen wäre, verdrehte
selbst Jimmy die Augen. Was hätte ich nur ohne ihn gemacht.
Aber der Rahmen war hübsch, und ich hängte das Bild in meinem Zimmer
übers Bett. Auch nach meinem Auszug bei den Latimers platzierte ich es immer
so, dass ich es sehen konnte, wenn ich morgens die Augen aufschlug. Eines
Tages, als ich gerade plante, Kathleen und Jeremy zu töten, nahm ich es von der
Wand, betrachtete es und fragte mich, was Marie wohl von meinem Vorhaben
halten würde. Wahrscheinlich wäre sie entsetzt. Am Boden zerstört, dass ich
mein Leben wegwarf, um sie zu rächen. Aber da sie nicht mehr hier war, um es
mir zu sagen, maß ich ihrer Meinung nicht viel Gewicht bei. Und außerdem
beging ich diese Morde nicht für sie allein, sondern auch für mich selbst. Marie
war tot. Zu ihren Lebzeiten hatte sie nie um Wiedergutmachung für das Unrecht
gekämpft, das ihr angetan wurde. Auch nicht für das Unrecht, das mir angetan
wurde. Wir haben beide gelitten, weil sie zu schwach war, das zu verlangen, was
uns zugestanden hätte. Deshalb strandete ich als Statistin in einer Familie, die
nicht meine eigene war. Ich hatte meine Mutter verloren, und wo ich auch
hinsah, präsentierte mein Vater seine glückliche Familie. Wenn ich das
Gleichgewicht wiederherstellen, wollte, konnte Marie wohl kaum Protest
einlegen.
Bevor ich das Bild wieder an die Wand hing, griff ich zum Bleistift und notierte
auf der Rückseite des Rahmens die Namen all jener Mitglieder des Artemis-
Clans, die ich umbringen musste, um mein Ziel zu erreichen. Die Schrift war so
dünn, dass man sie kaum lesen konnte, wenn man nicht ganz genau hinsah. Jedes
Mal, wenn ich einen der Namen durchstrich, drückte ich so fest mit dem Bleistift
und fuhr so oft über die einzelnen Buchstaben, bis sie völlig unlesbar waren. Das
war nicht besonders feierlich, aber für mich war es wichtig. Ich hätte natürlich
auch Schmuck kaufen können.
Nachdem ich die Geschichte von Bryony und ihrer fatalen Begegnung mit dem
Pfirsichöl niedergeschrieben hatte, schlief ich tief und fest ein. Als ich vom
allmorgendlichen Weckruf erwachte, geriet ich kurz in Panik. Ich hielt immer
noch den Notizblock in der Hand, und Kelly war bereits auf den Beinen.
Fröhlich trällerte sie einen One-Direction-Song, der im Original schon schlimm,
in ihrer Version allerdings schlicht unerträglich war. Während ich »Guten
Morgen« brummelte, schob ich das Papier zwischen Matratze und Bettrahmen.
Zu riskieren, dass Kelly meine Aufzeichnungen las, war dumm und leichtsinnig.
Ich beobachtete, wie sich meine Zellengenossin die Zähne putzte und eine für
ihren Teint zu dunkle Foundation auftrug. Als ich hier ankam, war ich
überrascht, wie viele Frauen sich schminken und zurechtmachen, um gut
auszusehen, obwohl sie eingesperrt sind. Inzwischen kann ich sie besser
verstehen. Wenn man nicht höllisch aufpasst, diktiert einem das Gefängnis bald
jeden noch so kleinen Teil des Lebens. Es fängt prosaisch an, zum Beispiel mit
der Anzahl der Sockenpaare, die wir besitzen dürfen, und dringt dann bis in die
intimsten Bereiche vor: Irgendwann beherrscht es unsere Träume. Bevor ich
hierherkam, hatte ich lebhafte, surreale Träume. Jetzt träume ich fast jede Nacht
dasselbe. Ich laufe den Weg am Fluss entlang, den Wind im Rücken und über
mir der weite Himmel. Um zu analysieren, was das bedeutet, muss man nicht
Freud heißen. Wem also ein bisschen Make-up das Gefühl gibt, sich noch nicht
völlig aufgegeben zu haben, den kann ich gut verstehen. Pass es doch wenigstens
deinem Teint an, Kelly. Das würde mir schon reichen.
Ich war mir sicher, dass sie den Notizblock nicht bemerkt hatte. Sie stellte die
gleiche dumpfe Fröhlichkeit wie immer zur Schau und plapperte etwas von
einem Besucher, den sie später erwartete. »Nur ein Freund«, flötete sie, während
sie eine dicke Schicht Mascara nach der anderen auftrug, »aber vielleicht will er ja
doch mehr. Ich würde es ihm nicht übel nehmen.« Kelly blickte in den Spiegel,
und ich sah ihr an, wie sehr sie sich wünschte, ich würde ihr ein paar Fragen zu
ihrem mysteriösen Besucher stellen. Doch ich war nicht in der Stimmung für
einen ins Wahnhafte abdriftenden Monolog über Kellys unwiderstehliche
Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. Also zog ich meinen
Trainingsanzug über, wünschte ihr viel Erfolg und verschwand in die Bibliothek.
Vielleicht sollte ich noch erzählen, wie es nach Caros Tod weiterging.
Schließlich sitze ich ihretwegen hier ein, trage statt eines schicken Outfits von
Max Mara diese Schlabberuniform und habe niemanden mehr außer Kelly.
Jimmy antwortet nicht auf meine Briefe, und da mir immer die nötige Zeit fehlte,
um andere Beziehungen zu pflegen, hatte ich sonst keine richtigen Freunde. Das
war mir vorher schon klar, aber jetzt wird mir das tatsächliche Ausmaß meiner
Besessenheit allmählich bewusst. Ich habe mich ausschließlich auf die
Durchführung meines Plans konzentriert und hatte nicht einmal den Weitblick,
mir ein Leben aufzubauen, das anschließend auf mich warten würde. Das war
einfältig. Ich habe mich darauf verlassen, dass Jimmy für mich da sein würde,
wenn ich mein Ziel erreicht hätte. Denn ich war überzeugt, er sei alles, was ich
dann noch zu meinem Glück bräuchte, und der Rest würde sich von selbst
ergeben. Außerdem sind die meisten Menschen ohnehin schreckliche
Zeitgenossen. Langweilig oder begriffsstutzig oder eine grässliche Kombination
aus beidem. Solche Leute konnte ich noch nie ertragen, und ich habe es auch nie
versucht. Meine derzeitige Lage hat nicht gerade dazu beigetragen, mich von
dieser Überzeugung abzubringen.
Leider erwies sich Jimmy nicht als die Konstante in meinem Leben, die ich
immer in ihm gesehen hatte. Zwei Tage nachdem Gemma Adebayo mir eröffnet
hatte, dass ich die Polizeiwache verlassen könne, wurde ich von einem lauten
und energischen Klopfen geweckt. Als ich verschlafen die Wohnungstür öffnete,
wurde ich prompt für den Mord an Caro Morton verhaftet. Abermals wurde ich
auf die Polizeiwache gebracht, wo ich eine ungleich ruppigere Behandlung erfuhr
als beim ersten Mal. Die Ermittler setzten sich mehrere Stunden mit mir
zusammen. Dabei erfuhr ich allmählich, was vorgefallen war. Offenbar hatte
Jimmy ihnen gegenüber keine Zweifel daran gelassen, dass er Caros Tod für
Mord hielt, und immer wieder betont, wie sehr ich seine Verlobte gehasst hätte.
Die Polizei unterstellte mir, ich hätte Caro aus Eifersucht vom Balkon gestoßen
und darauf gehofft, dass es wie ein tragischer Unfall aussehen würde. Die junge
Frau, die zum Zeitpunkt des Geschehens noch in der Wohnung war, hatte zu
Protokoll gegeben, dass ich wegen seiner Verlobung mit Jimmy in Streit geraten
sei. Anschließend hätte ich Caro gefragt, ob sie mit mir nach draußen kommen
würde, um eine Zigarette zu rauchen. Dieses graue Mäuschen, das – wie ich
später erfuhr – Angelica hieß, war lange nicht so harmlos, wie ihr schmächtiges
Äußeres und ihr Haarreif es vermuten ließen. Angelicas Aussage hatte
entscheidend dazu beigetragen, dass ich des Mordes angeklagt wurde.
Mit der Begründung, dass von mir eine Gefahr für die Öffentlichkeit ausgehe,
verweigerte man mir eine Freilassung auf Kaution. Mein ungläubiges Lachen und
lautes Schimpfen nahmen den Richter nicht unbedingt für mich ein. Mein
Pflichtverteidiger, der frisch von der Uni kam und nicht einmal meine Notizen
gelesen hatte, bevor er den Gerichtssaal betrat, unternahm rein gar nichts und
wurde von mir gekündigt, noch bevor ich das Gebäude wieder verlassen hatte.
Damals bekam ich meinen ersten Vorgeschmack auf das Gefängnis. Zunächst
war es ein furchtbarer Schock. Die Haftanstalt, in die ich gebracht wurde, war
ein düsterer Betonklotz hinter einer riesigen Mauer im Süden Londons. Dort
wurde ich einer Leibesvisitation unterzogen, meiner Habseligkeiten beraubt und
in eine eiskalte Arrestzelle gesteckt. In diesem Loch verbrachte ich drei Tage
damit, darüber nachzudenken, ob ich zu Hause irgendwelche Hinweise
hinterlassen hatte, durch die die Polizei meinen wahren Verbrechen auf die Spur
kommen könnte. Ich versuchte, die Wohnung zu visualisieren, ließ sie vor
meinem inneren Auge auferstehen, rief mir jeden Winkel ins Gedächtnis und
suchte jedes einzelne Zimmer ab. Ich konnte nicht schlafen, und in meinem
Kopf drehte sich alles im Kreis, sodass meine Konzentration immer wieder
nachließ und ich die Bilder ein ums andere Mal von Neuem abrufen musste, bis
ich schließlich vor Frustration in Tränen ausbrach. Am dritten Tag wurde ich
allmählich ruhiger, nachdem ich mich gezwungen hatte, eine Stunde lang tief und
gleichmäßig zu atmen. Inzwischen war ich überzeugt, keine Spuren hinterlassen
zu haben, die zu den toten Mitgliedern der Familie Artemis geführt hätten. Mein
Optimismus wurde dadurch bestärkt, dass die Polizisten mich in den
Vernehmungen kein einziges Mal nach etwas fragten, das nicht mit Caro in
Verbindung stand. Außerdem war ich mir hundertprozentig sicher, dass niemand
von meiner Verbindung zu den Morden wusste. Soweit es die Ermittler betraf,
hatte ich in einem Anfall von Eifersucht spontan eine Rivalin vom Balkon
gestoßen. Es liegt im Wesen einer solchen Tat aus Leidenschaft, dass sie sich nur
sehr schwer beweisen lässt, wenn der Täter nicht gerade Tagebuch führt. Was
für ein Pech, dass ich damit erst begonnen habe, als ich längst in den Fängen des
Strafjustizsystems war.
Ich engagierte eine neue Anwältin, Victoria Herbert, und hoffte inständig, dass
sie wirklich der Bluthund war, der sie vorgab zu sein. Ein Rottweiler mit
Hermès-Schal und High Heels von Louboutin war ganz nach meinem
Geschmack. Sie zeigte sich ausgesprochen zuversichtlich, was meine Chancen
auf einen Freispruch anging. DNA-Spuren an Caros Kleidung ließen sich
dadurch erklären, dass sie und ich am Abend ihres Todes mehrfach Kontakt
hatten. Andere forensische Indizien gab es nicht. Deshalb stand und fiel der Fall
mit den Zeugenaussagen von Jimmy und Angelica Saunders. Jimmy, der einzige
Mensch, der mir wirklich etwas bedeutete und der nun gegen mich Partei ergriff.
Jimmy, der sich vor Gericht überzeugt davon zeigte, ich hätte seine Verlobte
vom Balkon gestoßen, und der mich während des Prozesses kein einziges Mal
ansah. Jimmy, dessen Foto eines Freitags in der Sun erschien: auf dem Weg ins
Gericht, Hand in Hand mit Angelica, die Ballerinas und einen scheußlichen
Bleistiftrock aus Tweed trug. Sie blickte stolz in die Kamera. Während mich
Jimmys Verhalten einigermaßen verwirrt zurückließ, begann ich allmählich,
Angelicas Eifer zu respektieren.
Die Geschworenen berieten sich sechs Stunden lang. Meine Anwältin leistete
mir Gesellschaft, während ich wartete. Es fühlte sich an wie ein Jahr. Als wir
endlich die erlösende Nachricht erhielten, dass die Geschworenen ihre Beratung
abgeschlossen hatten, versicherte Victoria mir überschwänglich, eine derart
schnelle Entscheidungsfindung sei immer ein gutes Zeichen. Dafür, dass sie den
Mund so voll nahm, lag sie ganz schön daneben. Schuldig. Schuldig. Schuldig.
Das Wort hallte durch den Gerichtssaal, die Besucher stöhnten auf, und auf der
Zuschauertribüne machte ein Mann seinem Protest lautstark Luft. Ich erstarrte,
griff instinktiv mit der Hand an die Kehle und rang nach Atem. Jimmy hatte den
Kopf auf Sophies Schulter gelegt, und John tätschelte ihm mechanisch den Arm.
Nur Jimmys Schwester Annabelle blickte mich an. Mit schräg gelegtem Kopf
musterte sie mich, als ob sie mich in einem völlig neuen Licht sehen würde.
Ich wurde zu sechzehn Jahren Haft verurteilt und eine Woche später ins
Gefängnis von Limehouse gebracht. Immer noch unter Schock, versäumte ich
die Frist, um Berufung einzulegen. Victoria Herbert brüstete sich derweil in der
Grazia mit meinem Fall. Dabei benutzte sie für meinen Geschmack etwas zu oft
das Wort »Selbstermächtigung«. Spätestens da erkannte ich, dass sie mehr daran
interessiert war, sich als glamouröser Kampfhund zu präsentieren, als diesem
Ruf tatsächlich gerecht zu werden.
Ich war völlig verzweifelt und wusste mir nicht mehr zu helfen. Just in diesem
Moment erschien George Thorpe auf der Bildfläche, um – wie er es für seine
Bestimmung hielt – den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Also verpflichtete ich
ihn … und tatsächlich: Mit dem Argument, dass es weitere Zeugenaussagen gab,
die von der Polizei nicht berücksichtigt wurden, erreichte er, dass der Berufung
stattgegeben wurde.
Thorpe verlangte zwar ein horrendes Honorar, wollte aber erst nach dem
Berufungsprozess bezahlt werden. Eine Übereinkunft, von der wir beide
profitierten, denn er brauchte Publicity, und die bot ich ihm in Hülle und Fülle.
Ich nehme an, er war auf die Position des stellvertretenden Staatsanwalts aus und
spekulierte darauf, dass ein viel beachteter Mordfall seine Chancen erhöhte. Dies
war nicht der erste Prozess, bei dem er im Fokus der Öffentlichkeit stand, und er
hatte sich stets verdammt gut verkauft. Jedes Mal berichtete die Presse
hingerissen über seine geschickte Argumentation, seine blumige Sprache und die
Angewohnheit, mit der Faust auf den Tisch zu hauen, wenn er seine Klienten
mit flammenden Worten verteidigte. Thorpe hatte eine überragende
Erfolgsquote. Die war allerdings nicht der einzige Grund, warum ich seiner
Abschlussrechnung gelassen entgegenblickte. Denn egal was geschah: Sobald ich
meinen Anspruch auf das Artemis-Imperium geltend gemacht hatte, würde ich
vermögend genug sein, um ihn dauerhaft zu engagieren. Thorpe gelang es, im
Prozess jeden noch so kleinen Fehler aufzudecken. Und um diese Fehler ins
richtige Licht zu rücken, nutzte er gekonnt die Medien, die ganz verrückt waren
nach Storys über die Morton-Mörderin. Während des Prozesses hatten sie mich
als psychisch labile und verbitterte junge Frau dargestellt, die in ihren Stiefbruder
verliebt war. Der Aspekt, dass diese Liebe unerwidert blieb, wurde dabei bewusst
vernachlässigt, denn die Boulevardpresse hat eine Schwäche für
Inzestgeschichten. Doch meine Verurteilung erforderte offenbar einen neuen
Blickwinkel. Die Berichte beschrieben mich zwar immer noch als labil, aber
nicht mehr als verbittert. Stattdessen wurde meine Verwundbarkeit beschworen:
»Außer Jimmy hatte sie niemanden mehr.« Statt kalt und arrogant zeigten mich
die Fotos nun schüchtern und verletzlich. Nach meiner Kleidung zu urteilen
kamen diese Bilder vor allem von ehemaligen Arbeitskollegen. Es ist erstaunlich,
wie sehr ein Foto das Image eines Menschen bestimmen kann. Thorpe hatte
einen alten Schulfreund, der im PR-Bereich tätig war und ein paar Gerüchte über
Caros psychische Probleme, ihre Essstörung, ihre Launen und ihre Party-
Vorliebe – sprich: Drogen – streute. Zugegeben, eine wirklich hinterhältige
Taktik. Aber dies ist kein Seminar über Medien-Ethik, und ehrlich gesagt hätte
ich mich über jede noch so infame Caro-Geschichte gefreut, solange sie meinem
Fall zuträglich war. Und selbst wenn nicht, hätte ich sie immer noch begeistert
gelesen.
Ich sitze nun schon seit vierzehn Monaten in Limehouse, und fast die Hälfte
dieser Zeit habe ich auf den Beginn der Berufung gewartet. Als ich Thorpe
gerade engagiert hatte, rief ich ihn täglich an und schrieb ihm lange Briefe, in
denen ich ihn drängte, noch einmal den Balkon zu untersuchen oder Caros
Therapeuten zu bewegen, über den Geisteszustand seiner Patientin auszusagen.
Ich war so darauf versessen, nicht erst in ein paar Wochen, sondern auf der
Stelle entlassen zu werden, dass ich stinkwütend wurde, wenn mein Anwalt mir
wieder einmal riet, mich in Geduld zu üben. Als ich schließlich nicht mehr
ignorieren konnte, dass ich noch eine ganze Weile im Gefängnis bleiben würde,
verfiel ich in eine Art Depression. Eigentlich bin ich kein depressiver Mensch.
Manchmal spüre ich, wie mich eine Welle der Panik überkommt, mir den Hals
zuschnürt und ich nur noch wegwill, aber ich habe nie verstanden, wie man so
traurig sein kann, dass man sich völlig vom Leben zurückzieht. Vielleicht wird
man im Gefängnis zwangsläufig empathischer. Oder vielleicht ist es an einem
Ort mit flackernden Neonröhren und Gemeinschaftsduschen ganz natürlich,
depressiv zu werden. Ich schlief immer mehr, und eine Zeit lang hatte ich das
Gefühl, mein Gehirn würde in Sirup schwimmen. Meine Gedankengänge
verlangsamten sich, und ich hörte auf, Sport zu treiben. An einem besonders
trüben Tag schaute ich von morgens bis abends Emmerdale, und obwohl Kelly
mir dabei die Vorgeschichte jeder einzelnen Figur erzählte, verspürte ich kein
einziges Mal den Drang, ihren Kopf gegen die Wand zu schlagen.
Nach rund acht Monaten erwachte ich eines Morgens und machte fünfhundert
Liegestütze. Ich hatte die Nase voll von dieser Lethargie und befürchtete, sie
könnte mich den Rest meines Lebens in den Fängen halten, sollte es mir nicht
ganz schnell gelingen, mich von ihr zu befreien. Also taktete ich meinen
Tagesablauf rigoros durch: Ich stand immer zur gleichen Zeit auf, stählte meinen
Körper mit immer härteren Fitnessübungen und drehte endlose Runden im Hof.
Ich verbrachte Stunden in der Bibliothek, las alles, was es meinem Geist
ermöglichte, diesem Ort zu entfliehen, und machte meinem Anwalt erneut
Druck, diesmal etwas energischer.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht jetzt kurz bevor, und ich
schreibe das alles auf, um mich abzulenken. Ich bin zuversichtlich, dass ich
freikommen werde, und habe bereits eine Rede verfasst, die ich auf den Stufen
des Gerichts verlesen werde. Ich finde, ich habe den richtigen Ton getroffen:
verletzt, aber großmütig. Und ich werde gerade genug Make-up tragen, um gut
auszusehen. Allerdings nicht so viel, dass man den Eindruck bekommen könnte,
ich hätte mich im Gefängnis vierzehn Monate lang erholt. Ich möchte, dass Sie
die dunklen Ringe unter meinen Augen sehen, und ich will nicht verhehlen, dass
die Qual der Gefangenschaft eine traumatische Erfahrung war, die mich an
meine Grenzen gebracht hat. Doch ich werde Sie auch daran erinnern, dass es
neben mir noch ein weiteres Opfer gibt: Caro. »Ich habe durch diese
Ungerechtigkeit fast zwei Jahre meines Lebens verloren«, werde ich sagen und
dabei direkt in die Kameras blicken, »aber Caro hat in dieser Nacht ihr ganzes
Leben verloren, und das dürfen wir niemals vergessen.« Vielleicht schließe ich
mit der Ankündigung, in ihrem Namen ein Betreuungsprogramm für weibliche
Häftlinge mit Essstörungen zu finanzieren. »Auch wenn ich für Caro nichts
mehr tun kann, helfe ich damit zumindest anderen schutzbedürftigen Frauen.«
Sie würde es abgrundtief hassen, als »schutzbedürftig« bezeichnet zu werden.
Ich glaube, dass ich allen Grund habe, auf meine Entlassung zu hoffen. Die
Polizei war dank Angelicas tatkräftiger Unterstützung so überzeugt von meiner
Schuld, dass sie es offenbar nicht für nötig hielt, ihren Verdacht mit Indizien zu
belegen. Ich kann weiß Gott nicht behaupten, dass ich in jeder Beziehung frei
von Schuld wäre, aber in diesem Fall bin ich wirklich das Opfer eines gewaltigen
Justizirrtums. George Thorpe erkannte sofort, wie nachlässig die Beweisführung
der Staatsanwaltschaft war, und deckte über den gesamten Prozessverlauf
hinweg zahlreiche Fehler auf. Das allein sollte eigentlich reichen, damit der
Berufung stattgegeben wird, aber es ist keine Wunderwaffe. Die hat Thorpe mir
erst vor ein paar Wochen präsentiert. Mein Anwalt hatte seinen Besuch bereits
vor geraumer Zeit angekündigt: Er wollte mich über die neuesten Entwicklungen
informieren. Doch schon als er den Besucherraum betrat, wusste ich, dass er
etwas Spektakuläres zu verkünden hatte. Ihm stieg eine hektische Röte ins
Gesicht, und sein langer Wollmantel flatterte dramatisch hinter ihm her, als er so
zielstrebig auf mich zumarschierte, dass er dabei gleich mehrere Leute
anrempelte. Die große Neuigkeit war das Ergebnis von zwei Monaten
hartnäckiger Recherche.
»In der Nacht von Mrs. Mortons unglücklichem Sturz hat die Polizei in jeder
Wohnung des Gebäudes Nachforschungen angestellt«, berichtete er und zog
eine Liste aus seiner Aktentasche. »Auf jeder Etage befinden sich fünf
Wohnungen, die fast wie ein Fünfeck angeordnet sind. Aber nur drei davon sind
zum Garten hin ausgerichtet, die anderen beiden zur Straße hin. Die Wohnung
von Frau Morton ist die mittlere der drei, die zum Garten hin liegen. Ihre
Nachbarn rechter Hand sind ältere Leute. Ein Ehepaar Mitte sechzig, das seit
dreißig Jahren dort wohnt und das in der Nacht des Vorfalls zu Hause war.«
Wenn möglich vermied Thorpe das Wort »Tod« und wählte eine weniger
drastische Alternative.
»Sie waren die Partys von Mrs. Morton gewohnt, und angesichts ihres
tragischen Unfalls zeigten sie – vielleicht genau deshalb – einen
bemerkenswerten Mangel an Anteilnahme. Die beiden ließen keinen Zweifel
daran, dass sie weder etwas gesehen noch etwas gehört hatten, denn sie hatten
sich bereits um zweiundzwanzig Uhr mit Ohrstöpseln bewaffnet ins Bett
zurückzogen.« Ich konnte gut nachvollziehen, wie nervig es gewesen sein muss,
neben dieser verzogenen Egomanin zu wohnen. »In der Nummer 22 – links von
Mrs. Mortons Wohnung – traf die Polizei niemanden an. Weder am Morgen
nach dem Unfall noch später am Tag. Die Beamten erkundigten sich bei der
Hausverwaltung nach den Eigentümern und erfuhren, dass diese im Ausland
leben und eigentlich nie im Lande sind. Dabei ließ es die Polizei offenbar
bewenden.« Mit seinem goldenen Füllfederhalter stach Thorpe auf das Papier
vor ihm ein. »Das war eine EKLATANTE Nachlässigkeit, die für unsere
Strafverfolgungsbehörden leider typisch ist. Wir sind dieser Sache nur deshalb
nicht schon früher nachgegangen, weil die Unterlagen darauf hindeuteten, dass
man den Eigentümer von Wohnung Nummer 22 kontaktiert und er versichert
hatte, sich zum Zeitpunkt der tragischen Ereignisse außer Landes aufgehalten zu
haben. Eigentlich sahen wir keinen Grund, daran zu zweifeln, da Ihr früherer
Rechtsbeistand den entsprechenden Bericht gründlich überprüft hatte. Doch ein
kluger Kopf in meinem Büro ging die Protokolle des fraglichen Abends noch
einmal durch und stellte dabei fest, dass die Besitzer der Nachbarwohnung
niemals persönlich befragt wurden.« Ich hoffte inständig, Victoria Herbert würde
mit ihren schwindelerregenden Stöckelschuhen eine Rolltreppe hinunterstürzen,
und spielte mit dem Gedanken, persönlich dafür Sorge zu tragen, wenn ich hier
endlich rauskam. Thorpe blickte mich fragend an, und ich widmete ihm wieder
meine volle Aufmerksamkeit. »Und hier wird es interessant. Der junge Mann aus
meinem Team hat ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass die
Wohnung auf eine Firma mit Sitz auf den Kaimaninseln registriert ist. Wissen
Sie, was eine Offshore-Firma ist, Grace?« Ich verdrehte die Augen und
versicherte ihm dann mit einem süßen Lächeln, dass mir dieses Konzept
durchaus vertraut sei. Arroganter Arsch. »Nun, nach geltendem britischen Recht
können ausländische Unternehmen hierzulande Immobilien kaufen, ohne ihre
Identität preiszugeben. Dieses skandalöse System ermöglicht eine Vielzahl
zwielichtiger Geschäftspraktiken, in erster Linie natürlich Geldwäscherei. Unsere
Regierung will diese anonymen Eigentümer zwar gesetzlich zwingen, sich zu
erkennen zu geben, aber bis dahin wird es wohl noch eine Weile dauern.«
Ich unterbrach ihn. »Danke, ich glaube, ich habe jetzt genug über die
Feinheiten des Immobilienrechts erfahren. Was hat Ihr Mitarbeiter denn nun
herausgefunden?« Er räusperte sich, und auf mich wirkte er leidlich zerknirscht.
Aber wer kann das schon beurteilen? Vielleicht gucken diese feinen Pinkel ja
ständig so konsterniert aus der Wäsche.
»Wie gesagt, es war ein hartes Stück Arbeit. Wir mussten ein ziemlich
verwickeltes Firmenkonstrukt entwirren. David – so heißt der besagte Kollege –
bemühte sich geschlagene zwei Monate, einen Kontakt mit dem Unternehmen
herzustellen. Aber eine Telefonnummer auf den Kaimaninseln ist keine große
Hilfe … vor allem, wenn sie gar nicht aktiv ist. Häufig findet sich unter der
Adresse solcher Briefkastenfirmen nicht einmal ein Büro. David hat schließlich
einen Privatermittler engagiert, der darauf spezialisiert ist, die Hintermänner
derartiger Unternehmen ausfindig zu machen.«
Ich wurde allmählich ungeduldig, und die Besuchszeit war bald vorbei. »Bei
allem Respekt, George, ich habe Sie engagiert, damit Sie sich genau um diese
Dinge kümmern. Und tatsächlich habe ich den Eindruck, dass Sie einen
großartigen Job machen. Aber nur weil der Speck schmeckt, muss man nicht
unbedingt wissen, wie die Sau geschlachtet wird. Und ich habe heute Nachmittag
noch diverse Termine im Wellnessbereich. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Natürlich, ja, tut mir leid. Also gut. Nach mehreren Fehlschlägen gelang es
David schließlich doch noch, die Eigentümer der Wohnung aufzustöbern. Sie
leben in Moskau und sind offenbar nicht gerade wild darauf, E-Mails zu
beantworten. Deshalb ist er letzte Woche nach Russland geflogen, wo es ihm am
Donnerstag tatsächlich gelang, mit ihnen zu sprechen. David schilderte ihnen
Ihre Notlage und erkundigte sich nach Informationen, die uns weiterhelfen
könnten – zum Beispiel, ob womöglich eine Haushälterin in der Wohnung war
oder ob es dort eine Überwachungskamera gibt. Die Chancen waren natürlich
nicht besonders groß, aber es war einen Versuch wert. Und soll ich Ihnen was
sagen?« Thorpe strahlte mittlerweile wie ein Honigkuchenpferd. »Sie haben jede
Menge Überwachungskameras installiert! In ihren Immobilien gehört das
offenbar zum Sicherheitsstandard. David sagt, er habe sich wirklich
zusammenreißen müssen, um einen ruhigen, professionellen Eindruck zu
bewahren, als sie ihm von einer Kamera auf ihrem Balkon berichteten, die wohl
hinter einem kleinen Busch versteckt ist. Natürlich wollte er wissen, ob sie die
Aufnahmen aufbewahren. Und tatsächlich speichern die Russen alles in einer
Datenbank. Nur für den Fall der Fälle. Wie immer der aussehen mag.« Er
grinste, und ich hielt erwartungsvoll den Atem an. »David hat eine Kopie der
Aufnahme. Er hat sie sich angesehen, und sobald sie von einem Experten
überprüft wurde, steht sie uns als Beweismittel zur Verfügung. Die Bilder zeigen
nicht den gesamten Balkon, aber was sie zeigen, reicht völlig aus: Bei Caros Sturz
sind Sie nicht im Bild.«
Der Stein, der mir in diesem Moment vom Herzen fiel, war so riesig, dass man
ihn hätte hören müssen. Es war ein Gefühl wie am ersten Sommertag, wenn
einen die warme Sonne regelrecht umhüllt. Ohne nachzudenken, ergriff ich
Thorpes Hand.
»Danke. Danke vielmals. Mir fehlen die Worte. Was soll ich noch sagen
außer … ich danke Ihnen. Und David. Und diesen Russen. Danke!« Er konnte
nicht verbergen, wie zufrieden er war, und errötete leicht.
»Nun, wir haben bloß unsere Arbeit getan, aber das ist wirklich eine sehr gute
Nachricht. Leider kann ich Sie heute noch nicht mitnehmen, doch Sie werden
nicht mehr lange hierbleiben müssen, denn es besteht nicht der geringste
Zweifel, dass diese Aufnahmen Sie vollständig entlasten werden.« Als der Gong
das Ende der Besuchszeit verkündete, schaute er auf seine Uhr und sammelte
seine Papiere ein. »Ich melde mich, sobald wir Neuigkeiten haben. In der
Zwischenzeit halten Sie die Ohren steif. Und behalten Sie bitte alles für sich, bis
es offiziell ist.« Ich bedankte mich nochmals und schüttelte ihm die Hand. Als er
sich zum Gehen wandte, sah George Thorpe mich an und fragte etwas verlegen:
»Haben die hier wirklich einen Wellnessbereich?«


Die Fäuste vor Aufregung geballt und kaum in der Lage, mich darauf zu
konzentrieren, wohin ich ging oder was ich tat, kehrte ich in meine Zelle zurück.
Kelly saß auf der unteren Pritsche, zupfte sich mithilfe der Fadentechnik die
Augenbrauen und trällerte dabei einen Song von Beyoncé, der diese Tonart
vermutlich völlig neu gewesen wäre.
»Du bist ja bleich wie ein Gespenst«, sagte sie bei meinem Anblick. »Ist das
Meeting nicht gut gelaufen?«
Zu aufgewühlt, um es für mich zu behalten, erzählte ich ihr brühwarm, was
Thorpe herausgefunden hatte. Meine übliche Coolness war dahin. Kelly etwas
anzuvertrauen, war eigentlich nicht besonders clever, aber was konnte es schon
schaden? Außerdem reagierte sie wirklich sehr nett. Sie nahm meine Hand und
bot sogar an, den Kontakt zu einer Freundin herzustellen, die Zimmer
vermietete und dafür keine Referenzen verlangte. Allerdings hatte ich es gegen
alle Widrigkeiten geschafft, während der Zeit in Limehouse meine Wohnung zu
halten. Denn es war wichtig für mich, dass da draußen etwas auf mich wartete,
damit ich vor der Gefangenschaft nicht kapitulierte. Auch wenn sie wohl nicht
mehr lange mein Zuhause sein würde. Denn sobald ich über das Geld verfügen
könnte, würde ich mir so schnell wie möglich eine neue Bleibe suchen. So oder
so stand es außer Frage, dass ich jemals verzweifelt genug sein würde, mir ein
Zimmer bei der zwielichtigen Bekannten meiner Zellengenossin zu mieten.
Vermutlich, um sie über eine potenzielle neue Mieterin zu informieren, holte
Kelly ihr geheimes Handy hervor und begann zu tippen. Hoffentlich hatte sie
nicht vor, mich auch außerhalb des Knasts mit ihrer Freundschaft zu behelligen.
Kelly war eine echte Klette, und ich fand es hier drin schon schwer genug,
zumindest ein klein wenig Abstand zu wahren. Wenn sie die Freiheit hätte, zu
reisen und mich jederzeit anzurufen, wäre ich ihr völlig ausgeliefert. Voller
Entsetzten malte ich mir aus, wie sie mit Gesichtsmasken und einer billigen
Flasche Wein bei mir zu Hause auftauchte. So hatte ich mir mein neues Leben
eigentlich nicht vorgestellt.
Kaum war meine Verurteilung aufgehoben, meldete sich Jimmy bei mir. Die
Staatsanwaltschaft hatte sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Da er einer der
beiden Hauptzeugen war, wollten sie ihn über die neuen Beweise informieren.
Daraufhin hatte Jimmy meinem Anwalt einen Brief für mich zukommen lassen,
den Thorpe mir bei der nächsten Gelegenheit überreichte. Er war ganze drei
Seiten lang, deshalb werde ich hier nicht den gesamten Inhalt wiedergeben.
Jimmy wurde nicht zum Schriftsteller geboren. Aufgrund seiner ständigen – man
könnte fast meinen mutwilligen – Missachtung der Grammatik hatte ich es
immer schon anstrengend gefunden, seine E-Mails und Texte zu lesen. Der
Guardian pflegte offenbar ein entspannteres Verhältnis zur Rechtschreibung als
manch andere Publikation. Wäre der Brief nicht mit Flüchtigkeitsfehlern
gespickt gewesen, hätte er sehr bewegend sein können. So aber zuckte ich bei
jedem zweiten Wort zusammen. Es genügt vielleicht zu sagen, dass Jimmys
schlechtes Gewissen aus jeder Zeile sprach: Er schrieb, dass er mich auf die
unverzeihlichste Weise im Stich gelassen hatte, was ja auch stimmte, und dass er
seit meiner Verurteilung kaum schlafen konnte, was, wie ich wusste, absoluter
Blödsinn war. Denn dieser Mann verfügt über die außergewöhnliche Gabe, in
den problematischsten Momenten einschlafen zu können. Dennoch, ich wusste
die Geste zu schätzen. Nach endlosen Entschuldigungen erzählte er schließlich,
dass er sich zwei Monate Urlaub genommen und in dieser Zeit wieder bei seinen
Eltern gewohnt habe, um in Ruhe um Caro zu trauern. Angelica erwähnte er mit
keinem Wort. Ich nehme an, er hatte sie in die Wüste geschickt, als ihm klar
wurde, dass sie eine falsche Schlange war, die ihm nur an die Wäsche wollte. Was
sie vermutlich auch geschafft hatte, bevor Jimmy sie schließlich durchschaute.
Nicht umsonst heißt es ja, dass der Kummer die Menschen zu seltsamen Dingen
treibt. Dafür spricht auch Jims anderer Weg zur Trauerbewältigung: ein
Polsterkurs – so absurd das auch klingen mag. Vermutlich bekommen wir dieses
Jahr alle einen windschiefen Sessel zu Weihnachten. Caro ist also nicht
vergebens gestorben.
Im letzten Absatz des Briefs verstieg sich Jim zu der abgedroschenen
Behauptung, er würde nicht erwarten, dass ich ihm vergebe – warum schreibt
man so etwas, wenn der bloße Versuch der Kontaktaufnahme bereits verrät, dass
man sich durchaus Vergebung erhofft? Zudem gelobte er, sich den Rest seines
Lebens zu bemühen, dieses Unrecht wiedergutzumachen. Er versprach, am Tag
meiner Entlassung am Gefängnis auf mich zu warten, und beendete den Brief
mit den Worten: Ich hab dich lieb, Gray, und ich freu mich schon drauf, dir wieder beim
Einschlafen zu helfen. Ob Sophie dann wohl darauf bestehen würde
mitzukommen? Wie eh und je verzweifelt darauf bedacht, meine Geschichte zu
ihrer eigenen zu machen? Vielleicht würden wir zur Feier des Tages ja alle
zusammen beim Bäcker an der Ecke frühstücken. Jimmy würde wie immer sein
Portemonnaie vergessen, und Sophie würde kopfschüttelnd die Rechnung
begleichen, um sich dann bei der leidgeprüften Café-Besitzerin zu beklagen, dass
ihre Kinder »echte Ekel« seien. Ich war eindeutig zu lange im Gefängnis, denn
bei der bloßen Vorstellung überkam mich sofort ein warmer Schauer. Es war nur
ein Faksimile einer Familie, doch es war alles, was ich hatte.
Zwei Tage nachdem ich den Brief gelesen hatte, rief ich Jim an, was ihn hörbar
in Panik versetzte. Aber schon bald fielen wir mit einer seltsamen
Selbstverständlichkeit in den Trott unserer früheren Beziehung zurück und
redeten miteinander, wann immer es ging. Ich zeigte mich ihm gegenüber
großherzig. Von Schuldgefühlen geplagt, wollte er mich überzeugen, zu ihm zu
ziehen, um mich dann – so seine Idee – schrittweise ins Leben zurückzuführen.
Als wäre ich eine Aussätzige, die monatelang in einer Leprakolonie gehaust hat,
statt unschuldig im Gefängnis zu schmoren, weil er mich des Mordes an seiner
grässlichen Verlobten beschuldigt hatte. Ich schlug sein Angebot dankend, aber
entschieden aus. Meinen nächsten Schritt wollte ich an einem vertrauten Ort
planen, und wenn Jimmy mir dabei Tee servierte, würde das mein Vorhaben
unnötig erschweren. Mit dem Zusammenziehen sollten wir vielleicht warten, bis
wir uns dank meines Vermögens ein Haus leisten konnten, das groß genug war,
um sich auch mal aus dem Weg zu gehen.
Thorpe erhielt viele Anrufe von den Medien, vor allem von der
Boulevardpresse, die mich vom Saulus zum Paulus erhoben hatte. Eine
Hundertachtzig-Grad-Wende, die so plötzlich geschah, dass sich der eine oder
andere Reporter eine schmerzhafte Zerrung zugezogen haben dürfte. Da sie
mich jetzt nicht mehr die »Morton-Mörderin« nennen können, werden sie
vermutlich schon bald einen neuen Spitznamen aus dem Hut zaubern –
zweifellos nicht weniger grässlich als der alte. Hätte ich Zugang zu einem
Buchmacher, würde ich darauf wetten, dass »Amazing Grace« zumindest als
Schlagzeile anlässlich meiner Entlassung herhalten muss. Garniert mit einem
Foto, das mich zeigt, wie ich meine Erklärung verlese: gelassen, leidgeprüft,
würdevoll. Die Presse ist einfach zu berechenbar. Natürlich werde ich anfangs
kein Wort mit ihr reden. Ich bin schließlich keine blutige Anfängerin, die nach
dem erstbesten Scheck greift, den sie kriegen kann. Ich werde meine Story zu
meinen Bedingungen erzählen. Und damit werde ich warten, bis es an der Zeit
ist, mich nicht nur als unschuldiges Justizopfer, sondern auch als trauernde
Tochter zu erkennen zu geben. Das ist erstklassiges Material für
Sensationsjournalismus vom Allerfeinsten: eine Schicksalsgeschichte, die dafür
sorgt, dass mein Name noch Jahrzehnte unvergessen sein wird.
Sobald sich der Staub ein wenig gelegt hat, werde ich gegenüber Thorpe ein
paar erste vorsichtige Bemerkungen zu meinem Vater fallen lassen. Natürlich
werde ich mich dabei äußerst zurückhaltend ausdrücken. Ich werde nur sagen,
dass sein Tod mich dazu gebracht hat, mein Leben zu überdenken, und dass ich
über diesen Teil meiner Familie gerne mehr erfahren würde. Dass es zwar zu
spät sei, meinen Vater kennenzulernen, ich aber gerne wissen würde, woher ich
komme und wer ich bin. Dabei werde ich mir mit einem Taschentuch die Tränen
aus den Augenwinkeln tupfen. Nur ist von dieser Familie außer mir und Lara
niemand mehr übrig. Und mit ihr bin ich nicht einmal blutsverwandt. Sie ist bloß
eine von ihrem verstorbenen Gatten entfremdete Ehefrau – und zwar eine, die
ich gnädigerweise verschont habe. Schon seit jenem Moment, in dem ich den
Entschluss gefasst habe, sie am Leben zu lassen, war mir klar, dass sie eines
Tages noch nützlich sein würde. Ich werde mich ihr gegenüber so charmant und
liebenswürdig verhalten, dass sie gar nicht anders kann, als sich mit mir zu
solidarisieren. Zwei Frauen, denen von Artemis-Männern übel mitgespielt wurde
und die gegen alle Widerstände darum kämpfen, aus dem düsteren Schatten
dieser Familie herauszutreten. Frauen, die sich für Frauen einsetzen – das wollen
wir doch alle sehen. Vielleicht werden Lara und ich sogar Freundinnen.
Immerhin verbindet uns der Umstand, dass die Männer, die unser Leben zur
Hölle machten, Brüder waren. Als einzige Gemeinsamkeit scheint mir das
allerdings keine besonders gesunde Grundlage für eine lang anhaltende
Freundschaft zu sein. Andererseits sind Verbindungen, die aus Hass erwachsen,
oft stärker als alles andere. Stärker als die gemeinsame Leidenschaft für edle
Keramik oder avantgardistische Opern. Vielleicht sogar stärker als die Liebe zum
Geld. Zumal mir die Auslöschung der Familie immer wichtiger war als der
schnöde Mammon. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich hatte keinesfalls
vor, leer auszugehen. Und sollte Lara nicht mitspielen, gibt es auch noch andere
Möglichkeiten. Ich habe ihr Leben zwar verschont, aber das ist nicht in Stein
gemeißelt.
Ich verbrachte weitere acht Tage in Limehouse. Einen habe ich noch vor mir.
Und damit sind Sie auf dem neuesten Stand. Denn morgen, pünktlich um zwölf
Uhr, soll ich entlassen werden. Das verkündete mir heute eine gelangweilt
aussehende Wärterin, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Das ist nicht
ungewöhnlich, denn das Personal hier wechselt ständig. Kein Mensch, der bei
klarem Verstand ist, will sich zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn mit
einem Haufen angepisster Frauen rumschlagen, wenn er ebenso gut in einem
Starbucks anfangen könnte, um sich dort mit etwas weniger angepissten Frauen
rumzuschlagen und auch noch kostenlosen Kaffee zu bekommen. Da der
Wärterin meine Privatsphäre am Arsch vorbeiging, verkündete sie mir meine
bevorstehende Entlassung in Kellys Beisein, die sofort darauf bestand, im
Gemeinschaftsraum eine Party für mich zu schmeißen. Sie nötigte mich, zu ihrer
Freundin Dionne zu gehen, um mich schminken zu lassen. Wie nicht anders zu
erwarten, traf mein heftiger Protest bei ihr auf taube Ohren.
Jetzt liege ich in meiner Zelle, meine Gedanken kreisen, und ich finde keinen
Schlaf. Ich erinnere mich, in meiner Kindheit ähnlich aufgeregt gewesen zu sein,
wenn Marie an Heiligabend durch das Zimmer schlich, um einen Strumpf für
mich aufzuhängen. Wie alle Kinder wollte ich wach bleiben, auf den
Weihnachtsmann warten und mit eigenen Augen sehen, wie er die Geschenke
bringt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern hatte ich dabei Erfolg
und durchschaute den Schwindel entsprechend früh. Meine Enttäuschung hielt
sich in Grenzen. Ich bekam ja weiterhin Geschenke.
Erwartungsgemäß war mein Make-over eine Erfahrung, die ich nicht
wiederholen möchte. Als ich nach zwanzig nervenaufreibenden Minuten die
Zelle von Dionne verließ, hatte sie meine Haare zu Tode gekämmt, und mein
Gesicht erinnerte entfernt an eine aufblasbare Sexpuppe. Dass ich mich so
verunstalten ließ, war sicher dem Rausch der bevorstehenden Freiheit geschuldet
und allein mit dem Wissen zu entschuldigen, dass es von der fraglichen Nacht
keine Fotos geben würde. Obwohl ich den Vorsatz, mich während meines
Gefängnisaufenthalts nicht mit neuen Freundinnen zu belasten, erfolgreich
durchgezogen hatte, erschienen eine Handvoll Frauen zu der Party – vermutlich
in der Hoffnung auf ein wenig Ablenkung vom tristen Knastalltag und angelockt
von Kellys Versprechen, es gebe Softdrinks und Kuchen. Wie sich herausstellte,
gab es keinen Kuchen, trotzdem dauerte die Veranstaltung ganze fünfundvierzig
Minuten, in denen Kelly allen erzählte, wie sehr sie mich vermissen würde.
Natürlich hütete ich mich davor, dieses Kompliment zu erwidern. Obwohl ich
bezweifle, dass meine Botschaft bei ihr ankam, denn Kellys Fell ist so dick wie
das eines gefälschten Nerzmantels. Nach der Party zog ich mich in meine Zelle
zurück. Um 20:30 Uhr legte ich mich auf die Pritsche und stellte mich schlafend.
Ich schreibe diese Zeilen unter der Bettdecke. In wenigen Stunden werde ich
entlassen, und ich will Kelly auf keinen Fall die Gelegenheit bieten, mich ein
letztes Mal in eins ihrer tiefsinnigen Gespräche zu verwickeln. Morgen früh
werde ich meine spärlichen Habseligkeiten zusammenpacken und zurückkehren
in eine Welt, die für mich von nun an eine völlig andere sein wird.
kapitel 15

Letzte Nacht habe ich von meiner Mutter geträumt. Es war nicht angenehm. Ich
habe nur selten angenehme Träume, allerdings auch keine schrecklichen
Albträume. Stattdessen führen sie mich an schwierige oder traurige Momente
meines Lebens zurück, die ich erneut durchlebe, bis ich schließlich aufwache.
Vermutlich besitze ich keine besonders ausgeprägte Vorstellungskraft, aber ich
weiß es zu schätzen, dass mein fantasieloses Hirn mich nicht unnötig ablenkt,
indem es mich auf nächtliche Abenteuerreisen schickt. Ich werde Sie nicht mit
der Erinnerung langweilen, die es mich stattdessen wiederkäuen ließ, doch eines
kann ich Ihnen verraten: Als ich erwachte, vermisste ich meine Mutter so heftig
wie schon lange nicht mehr, und sie erschien mir sogar noch weiter weg als
sonst. Beim Schmieden meiner Pläne und bei jedem meiner Morde hatte ich
mich ihr nahe gefühlt. So, als wäre sie an meiner Seite und würde mir Kraft
geben. Aber in Limehouse ist sie nicht bei mir, und das kann ich ihr nicht
verübeln. Dies ist kein Ort für umherstreifende Seelen. Einem Geist würde ein
Blick auf dieses Gefängnis reichen, um sich sofort durch die nächste Wand zu
verpissen. Wenn Marie keine Ruhe findet, weil sie zwischen dieser und der
nächsten Welt festsitzt, dann hoffe ich, dass sie bei Fortnum & Mason
herumspukt oder die Schaufensterpuppen bei Harvey Nichols umdekoriert.
Im Übrigen glaube ich nicht an solchen Blödsinn. Auf diesen Fluren treiben
keine Geister ihr Unwesen, und als ich für meine arme Mutter Rache nahm, hat
Marie bestimmt nicht mit dem Nachtwind geheult. Aber solange mein
Rachedurst nicht gestillt war, blieb sie in meiner Erinnerung omnipräsent. Jetzt,
wo alles vorbei ist, denke ich immer weniger an sie. Ihr Gesicht wird unscharf
und verblasst allmählich. Ein Psychotherapeut würde vermutlich sagen, ich hätte
meinen Frieden gemacht. Und ich schätze, es verschafft mir tatsächlich so etwas
wie Frieden, dass ich ungestraft mit mehrfachem Mord davongekommen bin.
Obwohl die Schulpsychologie meine Methode sicher nicht guten Gewissens
empfehlen würde.
Ich muss Ihnen noch erzählen, wie Simon gestorben ist. Ich weiß natürlich,
dass der letzte Mord eines Romans normalerweise das Sahnehäubchen ist. Eine
spannende und hochdramatische Angelegenheit. Das ist einer der Gründe dafür,
dass ich bis jetzt damit gewartet habe, ihn zu Papier zu bringen.
Bei der Planung von Simons Tod ging es mir nicht darum, einen möglichst
spektakulären Effekt zu erzielen. Ich habe ihn weder aus einem Heißluftballon
geworfen, noch habe ich ihn bei Sonnenuntergang von der Waterloo Bridge
gestoßen. Vielleicht hätte ich etwas Derartiges planen sollen, nur um die
Dramatik zu erhöhen, aber ich war noch nie ein Freund von unnötigen
Kunststückchen.
Nachdem das letzte wichtige Mitglied von Simons Familie beseitigt war, ließ
meine Besessenheit etwas nach. Wie ein Marathonläufer, der weiß, dass nur noch
eine Meile vor ihm liegt, beschloss ich, die Strecke noch ein wenig zu genießen –
indem ich mir einen persönlichen Eindruck von Simons Gemütszustand
verschaffte. In Anbetracht der Umstände schien mir Bryonys Beerdigung die
perfekte Gelegenheit zu sein. Ein Besuch der Trauerfeier war zwar nicht ohne
Risiko, aber ich hatte Für und Wider ausgiebig gegeneinander abgewogen und
war zu dem Schluss gekommen, dass ich aufgrund der vielen jungen Frauen
unter den Trauergästen nicht weiter auffallen würde. Es war eine einmalige
Chance, hautnah mitzuerleben, wie sehr Simon der Tod seiner Tochter an die
Nieren ging. Alles, was mir dafür noch fehlte, war das passende Outfit. Am Tag
vor der Beerdigung plünderte ich im Büro den Firmen-Fundus. Dort lagerten
exklusive Kleidungsstücke und Accessoires, die wir zu besonderen Anlässen und
exklusiven Events an wichtige Kunden verliehen. Beim Anblick der Schätze, die
in diesem schmucklosen Zimmerchen gehortet wurden, stockte mir der Atem:
An der Wand stapelten sich Kartons mit Designerschuhen. Handtaschen, die
mehr als zweitausend Pfund kosteten, lagen achtlos auf dem Boden herum.
Darüber hingen paillettenbesetzte Kleider, und neben einem Regal mit bunten
Overalls prangte ein Schild mit der Aufschrift »Je höher der Absatz, desto näher
bist du bei Gott«. Wenn Augäpfel bluten könnten, hätte ich angesichts der vielen
gerahmten Sinnsprüche in diesem Büro jeden Tag blutige Tränen weinen
müssen.
Ich wusste, wie man sich für diese Art von Veranstaltung kleidet. Ich hatte
mich mein gesamtes Erwachsenenleben lang in Mimikry geübt und konnte mich
jeder Situation anpassen. Im Berufsleben hieß das, Kleidung zu tragen, die fast
schon langweilig, aber auch nicht zu altbacken daherkam. Im Alltag bedeutete es,
dass ich wie jede Frau meines Alters regelmäßig bei Zara einkaufte, um mir die
vorgeschriebene Rüstung aus Jeans, übergroßen Pullovern und klobigen Stiefeln
zuzulegen. Doch in Gesellschaft superreicher Instagram-Doofchen musste man
schon etwas mehr investieren, um dazuzugehören. Diese Mädchen gaben sich
nicht damit zufrieden, unverschämt viel Geld für Kleidung auszugeben – das
könnte ja jeder, der reich genug ist. Schauen Sie sich nur diese lächerlichen
Idioten auf der Bond Street an, die lammfellgefütterte Gucci-Loafer und
pelzbesetzte Daunenjacken für den Inbegriff von Stil halten, und Sie werden
verstehen, was ich meine. Nein, diese Frauen kannten weder Spaß noch
Kompromisse, wenn es um die Garderobe ging. Eine x-beliebige Prada-Tasche
reichte nicht aus, es musste genau das Modell sein, das ein gewisser italienischer
Instagram-Star drei Monate vor dem offiziellen Verkaufsstart geschenkt
bekommen hatte. Mir war natürlich völlig egal, was diese Schnepfen von meinem
Outfit hielten, doch ich wollte auf keinen Fall unnötige Aufmerksamkeit erregen
und Fragen über die Rechtmäßigkeit meiner Anwesenheit aufwerfen. Also
entwendete ich einen brandneuen burgunderroten Seidenhosenanzug eines
aufstrebenden italienischen Designers, den die Vogue gerade abfeierte, und dazu
ein Paar gelbe Lederpumps ohne Fersenriemchen. Außerdem eine Celine-Clutch
aus Schlangenleder, deren Fehlen, wäre es bemerkt worden, meine sofortige
Entlassung zur Folge gehabt hätte. Ich hoffte inständig, dass bei Bryonys
Beerdigung nicht alle Schwarz tragen würden.
Die eigentliche Beisetzung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt,
weshalb ich gar keinen Gedanken daran verschwendete, mich irgendwie unter
die Teilnehmer zu mogeln. Aber der Gedenkgottesdienst war ein Spektakel, das
im Evening Standard angekündigt wurde, als wäre es die Eröffnung einer neuen
Szene-Bar.
Wenn man sich für die Paparazzi in Szene setzen möchte, geht offenbar nichts
über das Begräbnis einer jungen Frau. Alternativ kann man seine Follower
natürlich auch mit einem Selfie oder Filmchen beglücken und theatralisch in die
Handykamera schluchzen. Die Trauerfeier fand in einer riesigen alten Kirche an
der Marylebone Road statt, allerdings hatte dieser Ort nichts Sakrales oder gar
Heiliges mehr. Er war vor einigen Jahren in eine Event-Location umgewandelt
worden, die man nun zu einem mehr als stattlichen Preis mieten konnte – egal
ob für eine Promi-Hochzeit oder anlässlich des einundzwanzigsten Geburtstags
einer ukrainischen Oligarchentochter, deren Party nach ihrem Einzug auf einem
leuchtend rosa lackierten Pferd leider abgebrochen werden musste. Vor dem
Faible der Millennials für die Farbe Pink sind selbst unsere Einhufer-Freunde
nicht gefeit.
Ich betrat die Kirche in einem Pulk aus Menschen, in deren schwarz getönten
Brillen sich andere schwarz getönte Brillen spiegelten. Ihre Diamantenklunker
funkelten in der Sonne und warfen juwelenförmige Schatten auf den Steinboden.
Der Gottesdienst dauerte ewig: Neunzig Minuten lang wurde Musik gespielt,
gesungen, gelesen, und in einer Diashow wurde Bryonys denkwürdigster
Momente gedacht – natürlich in Form unzähliger beschissener Selfies. Den
wahren Tiefpunkt markierte jedoch der Auftritt einer entsetzlich mageren jungen
Frau, die sich in einem nahezu durchsichtigen Etuikleid, unter dem man ihre
neonfarbene Unterwäsche sah, zum Rednerpult begab, wo sie ankündigte, einen
Auszug aus Bryonys Lieblingsbuch vorzulesen. Die zitternde Stimme, mit der sie
dann ein paar Zeilen aus The Secret – Das Geheimnis zum Besten gab, brachte mich
fast um den Verstand. Es folgte ein Gedicht von E. E. Cummings, dem
Schutzpatron aller jungen Frauen, die gerne tiefgründig erscheinen wollen, aber
keinen anderen Dichter kennen: »Ich trage dein Herz (ich trage es in meinem
Herzen)«. Zum Glück war das sprichwörtliche Trauerspiel danach schnell
vorbei. Ein Gospelchor sang eine wirklich schöne Version von »Stand By Me«,
zu der sich die Trauergemeinde fotogen in den Armen lag. Währenddessen
flossen auffällig wenige Tränen. Die meisten Gesichter blieben, trotz der von
ihnen zur Schau getragenen Betroffenheit, erstaunlich trocken.
Meine Aufmerksamkeit galt vor allem Simon. Wie ein Moderator – dank eines
Anzugs mit goldenen Litzen sah er tatsächlich aus wie ein Bingo-Conférencier –
verkündete er zu Beginn der Feier das Programm und wies darauf hin, dass
diejenigen, die sich von der Wucht ihrer Gefühle überwältigt fühlten, jederzeit
im Garten frische Luft schnappen könnten.
Dies hatte zur Folge, dass während der gesamten Zeremonie ein stetiger Strom
von Leuten durch die Tür nach draußen verschwand, nur um dann nach Tabak
stinkend zurückzukehren. Deshalb versperrte mir die Hälfte der Zeit
irgendjemand die Sicht auf Simon. Während eines Adele-Songs sah ich, wie er
die Schultern hob und einem jungen Mann, der neben ihm saß, ziemlich
aggressiv in den Nacken griff, was diesem eindeutig unangenehm war. Trauer ist
definitiv nicht gut für die Haut. Simon wirkte locker zehn Jahre älter. Ich
empfinde bis heute eigentlich nichts außer Abscheu für ihn, aber bei seinem
Anblick verspürte ich fast so etwas wie einen Anflug von Mitleid. Gleichzeitig
machte mich sein hilfloser Kummer auch wütend. Simon empfand Traurigkeit
und Verletzlichkeit nur dann, wenn ihm selbst ein geliebter Mensch genommen
wurde. Nach dem Tod meiner Mutter muss er gewusst haben, dass ich
niemanden mehr hatte und völlig allein zurückblieb. Er dagegen konnte sich
aussuchen, welchem Kind er seine Gunst schenkte und welchem er sie
verweigerte. Damit war es jetzt vorbei.
Einige Tage später saß ich zu Hause, las Zeitung und aß ein Plunderteilchen.
Eines pro Woche gestand ich mir zu. Eine dumme Regel, um die Grenzen
meiner Selbstverleugnung zu testen. Beim Aufschlagen der Wochenendbeilage
stolperte ich über einen Artikel, aus dem hervorging, dass Simons Freunde sich
um seine geistige Gesundheit sorgten. Die Quellen wurden nicht namentlich
genannt, aber die Zitate waren überaus aufschlussreich. Simon sei »paranoid und
zurückgezogen«, murmele von »Feinden, die es auf ihn abgesehen hätten«. Das
klang erfreulich überspannt, als hätte ihn Bryonys Tod völlig aus der Bahn
geworfen. Offenbar behauptete er immer wieder, seine Tochter sei ermordet
worden, obwohl die Polizei darauf beharrte, dass es sich um einen tragischen
Unfall handelte. Wie fürchterlich muss es sein, wenn man weiß, dass die eigenen
Angehörigen einer nach dem anderen umgebracht wurden und man selbst als
Nächster an der Reihe ist … doch niemand hört einem zu. Was für eine
niederschmetternde Erfahrung für einen reichen, weißen Machtmenschen.
Leider hatte ich nicht weit genug vorausgedacht, um mich an der Aussicht
erfreuen zu können, dass Simon eines Tages um sein eigenes Leben fürchten
würde. All die Jahre hatte ich meine Hoffnung allein auf die Trauer und
Verzweiflung gesetzt, die er ob eines so umfassenden Verlustes empfinden
musste. Seine panische Paranoia war ein unerwarteter Bonus. Ich fragte mich, ob
seine Selbstsucht so groß war, dass diese Angst die Trauer überwog. Und kam zu
dem Schluss, dass es zweifellos so war. Mein Vater würde den Verlust seiner
Familie zwar schmerzhaft spüren, aber eine Frau und eine Tochter können
ersetzt werden: Simon wäre wohl kaum der erste Mann um die fünfzig, der eine
neue Familie gründet. Allerdings hatte er sich stets für unverwundbar gehalten
und musste noch nie um seine Sicherheit bangen. Die Vorstellung, dass sein
eigenes Leben in Gefahr sein könnte, erschütterte seine Welt vermutlich bis in
ihre Grundfesten. Diese Erkenntnis erheiterte mich so sehr, dass ich mir zur
Feier des Tages ein zweites Gebäckstück gönnte.


Damals genoss ich es, das nahe Ziel vor Augen zu haben. Jetzt blicke ich zurück
und sehe nur, wie fürchterlich es kurz darauf werden sollte. Ich hatte bereits
sechs Namen von meiner kleinen Liste gestrichen. Es fehlte nur noch einer. Der
Druck war von mir abgefallen, und ich führte wieder so etwas wie ein Leben. Ich
ging regelmäßig joggen, nahm mir die Zeit, ein paar der Bücher zu lesen, die sich
auf meinem Nachttisch gestapelt hatten, und hatte sogar ein paar Dates. Die
waren allerdings kein bisschen zufriedenstellender als früher. Wer trifft sich
schon freiwillig mit einem Mann, in dessen Wohnzimmer alte Playboy-Poster
hängen? Solche Typen glauben, sie wären etwas Besseres, wenn sie den Krempel,
den sie kaufen, als »vintage« bezeichnen. Aber alte Playboy-Hefte sind nichts
weiter als Wichsvorlagen mit verblassten Fotos. Und Playboy-Fantasien von
Männern, die sich einen trockenen Martini bestellen, bleiben in meiner
Gegenwart garantiert unbefriedigt.
Egal, jedenfalls gehörten diese Dates nicht zu den Highlights jener Zeit. Das
Großartigste war dieses Gefühl, dass eine gewaltige Last von mir abfiel. Ich bin
extrem stur. So stur, dass ich an einem Plan, den ich als Kind gefasst hatte, bis
ins Erwachsenenalter hinein festhielt und für seine Verwirklichung alles andere
vernachlässigte. Wenn ich nicht beschlossen hätte, den Pfad der Rache
einzuschlagen, wäre mein Leben unvorstellbar anders verlaufen. Unvorstellbar
deshalb, weil schon die bloße Idee, wie es hätte sein können, viel zu schmerzhaft
war. Deshalb habe ich so gut wie nie darüber nachgedacht. Ich habe mir keine
Gedanken über eine berufliche Karriere gemacht. Ich habe nie an das
gemeinsame Leben gedacht, das Jimmy und ich uns hätten aufbauen können,
wenn ich ihn nicht immerzu auf Abstand gehalten hätte, um mein eigenes Ding
durchzuziehen. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass ich mein Leben
absichtlich kleingehalten habe – angetrieben von Wut und Hass auf Menschen,
die keinen Gedanken an mich verschwendeten.
Nichtsdestotrotz brannte diese Wut kein bisschen weniger hell. Jedes Mal,
wenn ich vor Simons riesiger Villa stand – und das tat ich als Teenager sehr oft,
denn es war zwar eine ganze Welt, aber nur fünfzehn Minuten von der Latimer-
Enklave entfernt –, loderte sie auf. Jedes Mal, wenn ich eine Google-
Benachrichtigung erhielt, weil in einem Online-Feature der Daily Mail mal wieder
Bryonys Name gefallen war. Jedes Mal, wenn Janine eine Wohltätigkeitsgala
veranstaltete und die Klatschpresse darüber berichtete. Jedes Mal, wenn diese
Familie in meine Welt projiziert wurde, wuchs mein Hass aufs Neue. Wie eine
Giftpflanze, die plötzlich eine weitere Ranke entrollt.
Doch in dieser seltsamen Phase ließ mein Zorn etwas nach. Zudem war Caro
gerade auf der Bildfläche erschienen: ein Stein im Schuh, den ich nicht ignorieren
konnte. Als ich notgedrungen meinen Fokus erweiterte, bemerkte ich, dass ich
viel weniger Zeit damit verbrachte, über den Artemis-Clan nachzudenken – von
dem ja eigentlich nicht mehr viel übrig war –, und mehr über die Welt im
Allgemeinen. Sowie über die Möglichkeiten, die sie mir bot.
Bis dahin zählte allein der vage Plan, den ich im Kopf hatte. Und der sah
ungefähr so aus:

– Meine Familie töten.


– Anspruch auf das Familienvermögen erheben. (Ich wollte nicht das ganze
toxische Imperium, sondern nur ein paar Millionen, um ein Leben nach meinen
Vorstellungen zu führen.)
– Mit Jimmy zusammenkommen. (Das hätte Caro beinahe verhindert, aber
durch ihr hilfreiches Ableben und die Aufhebung meines Urteils war wieder alles
möglich.)
– Ein Haus kaufen, reisen, Freunde finden, einen Hund adoptieren.
– Ungestraft davonkommen.
Es war der Plan eines Kindes, hochfliegend und lächerlich, ohne Details oder
Alternativen. Das Geld war darin nur ein Bonus. Denn als ich meinen
Entschluss fasste, hatte ich noch keine Ahnung, dass dieses Geld irgendwann
zum Greifen nahe sein würde. Mein Plan diente allein meiner Rache. Ich zog ihn
durch, wobei ich mir gelegentlich eingestehen musste, dass diese Besessenheit
nicht ganz gesund war. Trotzdem hielt ich daran fest. Die Großeltern: ein
Kinderspiel. Andrew: qualvoll, aber sauber ausgeführt. Lee: pffft. Janine und
Bryony: triumphal. Und jetzt war ich überzeugt, dass ich ihn zu Ende bringen
würde. Nachdem ich jahrelang dem Adrenalinkick nachgejagt war, genoss ich
dieses Hochgefühl und ließ mich davon einlullen. Anstatt mich an die Arbeit zu
machen, verbrachte ich Stunden auf den Internetseiten von Immobilienmaklern.
St. John’s Wood war zu protzig, voller schöner Häuser, bewohnt von
schmierigen Typen, die Chromgeländer für den Gipfel der Eleganz halten.
Primrose Hill ist dasselbe in Grün, nur dass die Menschen, die dort leben, teuren
Vintage-Krempel kaufen, den sie schicker als Chrom finden. Kensington ist ein
durch und durch fürchterlicher Stadtteil, und ich würde niemals in Erwägung
ziehen, in Clapham, Dulwich oder einem anderen Viertel zu wohnen, wo es
mehr Kinderwagen als Erwachsene gibt. Ich brauchte drei Tage, um mich zu
entscheiden, dass mein künftiges Heim in Bloomsbury stehen sollte.
Ich war in den lähmenden Sog der Selbstgefälligkeit geraten und suhlte mich
sogar noch darin, reckte mich, streckte mich und wackelte mit den Zehen. Ich
hielt mir selbst eine strenge Standpauke, löschte die Dating-Apps und packte
Bücher, Nagellacke sowie alles andere weg, was mich ablenken könnte. Dann
räumte ich die Wohnung auf, bis auch im letzten Winkel Ordnung herrschte.
Anschließend pinnte ich ein DIN-A3-Blatt an meine Schlafzimmerwand und
machte mich wieder an die Arbeit.
Eine Stunde später hatte ich zehn Ideen notiert, und sie waren alle lächerlich.
Plötzlich schien mir dieser Teil des Plans der mühsamste zu sein, dabei hatte ich
mich darauf immer am meisten gefreut. Töte die langweilige Verwandtschaft, um
an Simon ranzukommen. Arbeite dich durch die Vorspeisen, um zum
Hauptgang zu kommen. Von wegen … für eine Belohnung war das eine
verdammt zähe Angelegenheit. Also zog ich meine Laufsachen an und machte
mich auf den Weg nach Hampstead. Die Strecke kannte ich wie meine
Westentasche. Vor dem Tor der Artemis-Villa angekommen, hoffte ich auf
Inspiration. Die Straße war menschenleer, abgesehen von einem
Sicherheitsmann mit einer gelben Weste, der rauchend an mir vorübertrottete.
Er sah mich kaum an, was meinen lang gehegten Verdacht bestätigte, dass
private Wachdienste zu nichts weiter gut sind, als paranoiden reichen Leuten ein
falsches Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Wenn diese Typen in der Lage
sind, einen Einbrecher zu entwaffnen, dann kann Ihre Großmutter das auch.
Unter Umständen hätte sie dabei sogar mehr Erfolg.
Ich verharrte knapp außerhalb der Reichweite der Überwachungskamera und
beobachtete das Haus, das inmitten eines großen Gartens lag, dessen Bäume mir
teilweise die Sicht nahmen. An allen Fenstern waren die Jalousien
heruntergelassen und schlossen die Welt aus. Die massive Eingangstür wurde
von einem riesigen Range Rover verdeckt. Das Innere der Villa schien ohne
Leben zu sein. Nicht nur, weil es ein Trauerhaus war. Die Häuser der
Superreichen sehen oft unbewohnt aus. Und meistens sind sie das auch. Wenn
man vier oder fünf Wohnsitze hat, hält man sich gewöhnlich nicht so häufig am
selben Ort auf. Sollte Simon beschließen, sich in seinen Unterschlupf auf
Barbados zu verkriechen oder monatelang in Monaco rumzuhängen, um Janine
hinterherzujammern, dann hätte ich ein Problem. Wobei Letzteres eher
unwahrscheinlich war, denn offenbar verbrachte er nicht allzu viel Zeit mit der
Trauer um seine Frau. Ich konnte mir auch nur schwer vorstellen, dass er sich
ausgerechnet an den Ort zurückzog, an dem sie ein ziemlich groteskes Ende
gefunden hatte. Doch plötzlich öffnete sich summend das Tor und gab den
Blick auf einen Sportwagen mit Stoffverdeck frei. Am Steuer saß ein junger
Mann, den ich für einen Assistenten hielt. Seine Anwesenheit sprach dafür, dass
Simon zu Hause war, und gab mir etwas Hoffnung.
Zurück in meiner Wohnung, verwarf ich sämtliche Mordpläne, die ich im Laufe
der Jahre für ihn geschmiedet hatte. Einige waren schlicht naiv,
wirklichkeitsfremd und einfach nicht umsetzbar. Mich als Mitglied der
Kabinencrew seines Privatflugzeugs auszugeben – eine meiner ersten Ideen –,
war mir besonders peinlich. Wie hätte ich jemals die elementarsten
Voraussetzungen für eine derartige Anstellung erfüllen sollen? Dumme, dumme
Grace. Andere waren realistischer. Die Überlegung, ihm ein Kondolenzpaket zu
schicken, das eine Substanz enthielt, die ihn innerhalb von Sekunden umbringen
würde, hatte ich noch nicht komplett ad acta gelegt. Trotzdem überwog das
ungute Gefühl, mit dem Entschluss, den Rest seiner Familie vor ihm zu töten,
eine kapitale Fehlentscheidung getroffen zu haben. Ich hatte ihn verängstigt und
ihm so die Gelegenheit gegeben, sich zu verkriechen. Weil ich so darauf fixiert
gewesen war, alles auf den vermeintlichen Höhepunkt hin auszurichten, schien
es nun beinahe doch unmöglich, dieses Ziel überhaupt zu erreichen.
Meine Niedergeschlagenheit nahm mir jegliche Zuversicht. Jimmys Verlobung
mit Caro drückte zusätzlich auf meine Stimmung. Nachts wachte ich immer
wieder durchgeschwitzt auf und legte schwer atmend die Hände um den Hals, als
müsste ich mich von einer Schlinge befreien, die sich plötzlich zuzog. Mich
erfasste ein übermächtiges Gefühl drohenden Unheils. Eine Ahnung, dass mir
die Dinge zunehmend entglitten und ich allmählich die Kontrolle verlor.
Und diese Ahnung sollte sich leider bestätigen. Erinnern Sie sich daran, dass
ich zu Beginn dieses Textes schrieb, ich hätte sechs Mitglieder meiner Familie
getötet? Ist Ihnen aufgefallen, dass diese magische Zahl bereits erreicht wurde?
Sehr gut, aber erwarten Sie dafür bitte kein Lob von mir. Seien Sie um Gottes
willen nicht so selbstgefällig und halten Sie mich nicht für dumm. Denn ich bin
mir meines Scheiterns schon seit etlichen Monaten bewusst. Das gab mir
ausreichend Zeit, mich damit auseinanderzusetzen und so dem Gefühl, alles sei
umsonst gewesen, auf konstruktive Weise zu begegnen.
Für diejenigen unter Ihnen, bei denen der Groschen gewöhnlich etwas
langsamer fällt, sage ich es noch einmal in aller Klarheit: Ich habe Simon Artemis
nicht getötet. Ich werde mein Lebensziel nicht mehr erreichen. Und warum
nicht? Weil er nicht durch meine Hand gestorben, sondern tragisch verunglückt
ist. Mir wäre es lieber, er hätte weitere fünfzig Jahre in Schande und Trauer
gelebt, statt bei einem gottverdammten Unfall draufzugehen. Was für ein
grausamer Witz des Schicksals.
Drei Tage nach meiner Verhaftung wegen des Mordes an Caro Morton
verkündete die Times, dass Simon vermisst werde. Anfangs war es der Presse
nicht mal eine Schlagzeile wert. Der Artikel nahm nur die Hälfte der Seite drei
ein. Immerhin – meine Festnahme hatte es nur auf Seite sechs geschafft. Doch
schon am nächsten Tag blickte mir sein Gesicht von der Titelseite jeder Zeitung
entgegen. Warum auch nicht? Die Story hatte alles zu bieten: Geld, Macht, Tod,
Skandale und ein faszinierendes Geheimnis. Die Medien griffen ihre
Berichterstattung über das Unglücksjahr des Artemis-Clans wieder auf. Lee,
dessen Tod die Familie damals erfolgreich vertuscht hatte, wurde als sexueller
Perverser geoutet. Der Reporter einer Boulevardzeitung verschaffte sich Zugang
zu Janines leer stehender Wohnung, wo er Fotos von der Sauna knipste. Die
Bildunterschrift dieser düsteren Schnappschüsse lautete: »Bei lebendigem Leibe
gekocht – nahm sich Simon nach dem grausamen Tod seiner Frau das Leben?«
Noch bevor sein Tod bestätigt war, posteten Bryonys Follower Fotos von ihr
mit dem Hashtag #imhimmelvereint. Wenn der Himmel ausbeuterische
Raubtierkapitalisten und bösartige Wichtigtuerinnen mit offenen Armen
empfängt, dann läuft in der Personalabteilung des Elysiums augenscheinlich
etwas fürchterlich schief.
Simon war auf See verschollen. Das klingt, als wäre mein Vater ein alter Seebär
gewesen. Die Wirklichkeit war weniger romantisch. Trotz eindringlicher
Warnungen der Crew seiner Jacht war er betrunken mit seinem Schnellboot
rausgefahren. Das Schiff lag im Hafen von Saint-Tropez, wo die Familie
offenbar eine Villa besaß, in die sich Simon geflüchtet hatte und von der ich bis
dahin überhaupt nichts wusste. Vielleicht brauchte Janine einen Rückzugsort zur
Erholung von der stickigen Enge Monacos, das nur einen Katzensprung entfernt
war. Die Reichen kennen alle Tricks: Solche Immobilien sind nie auf den Namen
des Besitzers eingetragen – zu diesem Zweck gibt es anonyme Offshore-Trusts.
Aus Sorge, er könnte sich etwas antun, wurde Simon auf dieser Reise wohl von
einem Assistenten begleitet. Laut dessen Aussage fuhr das Boot viel zu schnell,
sodass es sich in einer Kurve gefährlich weit auf die Seite legte. Dabei war mein
betrunkener Vater wohl über Bord gegangen. Sein Assistent brauchte eine Weile,
um das Boot wieder unter Kontrolle zu bringen. Als es ihm schließlich gelang zu
wenden, war von Simon nichts mehr zu sehen. Der Assistent hielt dreißig
Minuten lang vergeblich nach einem Lebenszeichen seines Arbeitgebers
Ausschau, bevor er schließlich zur Jacht zurückkehrte, um Hilfe zu rufen. Die
Küstenwache wurde alarmiert und startete eine groß angelegte Suchaktion, die
sie mit der einsetzenden Dunkelheit erfolglos abbrach. Simon Artemis wurde für
vermisst erklärt. Bald darauf wurde das Wörtchen »vermisst« durch »totgeglaubt«
ersetzt. Und »tot geglaubt« bedeutet im Grunde nichts anderes als »tot«. Zwar
hatte niemand seine aufgedunsene Leiche gefunden, aber das war vermutlich nur
eine Frage der Zeit. Es sei denn, sein Körper war auf dem Meeresgrund so
schnell von den Fischen gefressen worden, dass er nie wieder auftauchte. Beides
lief auf dasselbe hinaus. Und während ich diese Zeilen schreibe, hat sich daran
noch nichts geändert: Bis jetzt haben die Behörden keine Spur von ihm
gefunden. Nicht einmal ein Manschettenknopf mit Monogramm ist von ihm
übrig geblieben. Er bleibt verschwunden. Simon hat nie erfahren, was ich ihm
angetan habe.
Ich weinte wie ein Baby. Zwei volle Tage lang heulte ich mir die Augen aus
dem Kopf. Der Schmerz war größer als beim Tod meiner Mutter. Ich weinte
nicht um Simon, sondern um all das, was ich mir davon versprochen hatte, ihn
eigenhändig zu töten. Diese Tat hätte meinem Leben einen Sinn geben sollen.
Sie hätte Marie rächen und beweisen sollen, dass ich mich über Umstände
erheben konnte, die das Schicksal mir zugedacht hatte. Sie hätte Gerechtigkeit
herstellen sollen. Stattdessen hatte ich ein Rentnerpärchen umgebracht, einen
netten Jungen ertränkt, der sich für bedrohte Amphibien einsetzte, meinen
Onkel in eine tödliche Sexfalle gelockt und zwei verwöhnte Giftspritzen
abserviert, die kein Mensch vermissen würde.
Nicht gerade der glorreiche Sieg, den ich mir ausgemalt hatte.
Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, zur Musik von The Cure deprimiert
durch meine Wohnung zu schleichen und dabei Wein aus der Flasche zu trinken.
Mir war rein gar nichts vergönnt. Im Gegenteil, man machte mich für den Tod
von Caro Morton verantwortlich und stellte mich vor Gericht. Dass mir für
einen Mord, den ich nicht begangen hatte, der Prozess gemacht wurde, erschien
mir wie ein surrealer Witz. Das Schicksal hatte mich verarscht. Hätte ich an
Karma geglaubt – was nicht der Fall war, schließlich glaube ich auch nicht an so
einen esoterischen Mist wie Kraftsteine –, dann wäre ich zweifellos überzeugt
gewesen, dass man mir einen ganzen Koffer davon mitten ins Gesicht geknallt
hatte.
Ich erwähnte ja bereits, dass ich zu Beginn meines Gefängnisaufenthalts in eine
Art Depression verfiel. Vielleicht wird Ihnen jetzt ein bisschen klarer, warum
mich meine Verhaftung so hart getroffen hat. Dass ich sie so tatenlos hinnahm,
lag daran, dass ich den Glauben daran verloren hatte, mich würde im Leben
noch etwas erwarten, das es wert wäre, sich abermals Hoffnungen zu machen.
Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, sehe ich nur eine apathisch
umhertaumelnde, leere Hülle meiner selbst. Ein erbärmliches Häuflein Elend.
Glücklicherweise legte sich diese Schockstarre mit der Zeit, und die stupide
Routine wurde zunehmend erträglicher. Hat man sich erst einmal mit dem
Gefängnis arrangiert, fügt man sich verblüffend schnell in den Häftlingsalltag.
Ich fand ihn von Tag zu Tag weniger bedrohlich und zunehmend langweiliger.
Als die Alarmsirenen in meinem Hirn nicht mehr rund um die Uhr schrillten,
gelang es mir immer öfter, über andere Dinge nachzudenken als darüber, wie ich
noch atmen sollte, wenn sich nachts die Zellentüren schlossen. Ich begann, mich
mit meinem Fall auseinanderzusetzen, und entdeckte erste Schwachstellen in der
Urteilsfindung. Während der Verhandlung hatte ich mich wie ein Zombie
gefühlt. Ich war von meinen eigenen Fehlern so entmutigt und paralysiert, dass
ich von dem Prozess kaum etwas mitbekam. Doch nun erkannte ich, dass ich
Möglichkeiten hatte, mich zur Wehr zu setzen. Das war der Moment, in dem ich
George Thorpe hinzuzog. Wie in so vielen Bereichen des britischen Lebens gilt
auch vor Gericht: Wenn Sie angehört, ernst genommen und mit Respekt
behandelt werden wollen, dann sollten Sie einen gut situierten, erfolgreichen
weißen Mann mittleren Alters beauftragen, in Ihrem Namen zu sprechen. Je
privilegierter, desto besser.
Thorpe machte mir klar, dass eine Urteilsbegründung nicht in Stein gemeißelt
ist.
»Geschworene, liebe Grace, sind nicht immer die Art von Menschen, auf die
man unbedingt hören muss. Sie liegen häufig falsch, sind meistens von kleinen
persönlichen Animositäten motiviert und haben ein bemerkenswert schlichtes
Verständnis der eigentlichen Faktenlage. Es stehen uns also viele Möglichkeiten
offen, unseren Hebel anzusetzen. Deshalb sollten wir das Urteil einfach als ein
erstes Angebot betrachten.« Ich hätte den Mann küssen können, wenn er unter
seiner Anzugjacke nicht allen Ernstes Hosenträger getragen hätte.
Was mir letzten Endes meinen Optimismus zurückgab, war Laras
Ankündigung, eine Stiftung zu gründen, um Migrantenkindern zu helfen: die
Artemis Foundation. Ich erkannte darin einen bitterbösen Abschiedsgruß an
eine Familie, der die Nöte hilfsbedürftiger Minderjähriger etwa so sehr am
Herzen lagen wie der Hexe in ihrem Lebkuchenhaus … was mich diebisch
freute. Gleichzeitig verunsicherte es mich. Wie viel Gutes wollte Lara tun? Wenn
das Vermögen in wohltätige Stiftungen floss, würde es für mich schwerer sein,
an meinen Teil heranzukommen. Dass mich die Sorge umtrieb, mein Geld
könnte verängstigten Flüchtlingen zukommen, spricht sicher nicht für meinen
Charakter, aber wir sind nun einmal, wer wir sind. In Anbetracht des Umstands,
dass ich sechs Menschen auf dem Gewissen habe, scheint es mir ohnehin ein
wenig spät, um meine Moralvorstellungen zu erörtern.
Dank Thorpe und Lara machte ich mich mit frischem Mut an die Arbeit, und
meine Depressionen waren im Nu wieder verschwunden. Mir gelang es sogar,
mein Scheitern in einem neuen Licht zu betrachten. Ich hatte keinen Erfolg
darin, Simon zu töten, das muss man sich nicht schönreden, doch ich habe in
ziemlich kurzer Zeit sechs Mitglieder seiner Familie umgebracht. Damit habe ich
ihm schreckliche Angst eingejagt und Höllenqualen bereitet, die ihn bis zum
letzten Atemzug begleiteten. Ich tröste mich mit der Gewissheit, dass er ohne
mein Zutun niemals betrunken und halb verrückt vor Kummer in sein
Speedboot gestiegen wäre. Auch wenn ich den glorreichen Moment seines
Ablebens nicht miterleben durfte, war meine Rolle bei seinem Tod also
keinesfalls zu unterschätzen. Ich mag keine Boote, also hatte das alles vielleicht
sogar sein Gutes. Auch wenn ich keinen Royal Flush auf der Hand hatte, habe
ich am Ende mit einem starken Blatt gewonnen.
kapitel 16

Vermutlich sollte ich damit beginnen, mich vorzustellen, sonst könnte das für
dich noch merkwürdiger werden, als es bereits ist. Mein Name ist Henry, und ich
bin dein Bruder. Meine Güte, klingt das bescheuert. Als wollte ich einen auf
Darth Vader machen. Allerdings ist es wahr. Natürlich haben wir nicht dieselbe
Mutter, das wäre ja Quatsch. Aber denselben Vater, was dann ja irgendwie auf
der Hand liegt. Tut mir leid, mein hilfloser Erklärungsversuch macht das alles
vermutlich nur noch verwirrender.
Vielleicht fange ich einfach von vorne an. Ich habe erst mit dreiundzwanzig
herausgefunden, wer mein Vater ist. Okay, das ist nicht ganz richtig. Denn
eigentlich hatte ich damals bereits einen tollen Vater. Christopher war ein prima
Kerl, der mich immer zum Rugbytraining gefahren hat und mir das Schießen
beibrachte, als ich gerade alt genug war, ein Jagdgewehr zu halten. Jeden Abend,
nachdem unsere Nanny mich gebadet hatte, kam er zu mir nach oben und zog
mir den Schlafanzug an. Ein Glas Whisky in der Hand, setzte er sich an mein
Bett und las mir eine Gutenachtgeschichte vor. Er war kein Freund
zeitgenössischer Kinderbücher, sondern bevorzugte Geschichten von Arthur
Ransome und John Buchan. Er hatte eine tiefe Stimme, und wenn er beim Lesen
mit den Händen gestikulierte – was er ausgiebig tat –, klackerte das Eis in seinem
Glas. Ich liebe dieses Geräusch bis heute.
Ich habe noch zwei Schwestern. Sie sind um einiges jünger als ich, Molly um
fünf und Belle sogar um sieben Jahre. Meine Eltern haben mir immer erzählt, sie
hätten deshalb so lange gewartet, weil sie mir ihre volle Aufmerksamkeit und ihre
ganze Liebe schenken wollten. Glaub mir, das habe ich meinen Schwestern oft
aufs Brot geschmiert. Geschwister zu haben, ist schön, trotz des
Altersunterschieds. Du bist ein Einzelkind, oder? Ich kann mir gar nicht
vorstellen, wie das ist, ohne Mitverschwörer aufzuwachsen. Ich hatte immer
Spielkameraden.
Meine Mum ist eine wunderbare Frau, wenn auch etwas nervenschwach. Bevor
ich zur Welt kam, arbeitete sie als Grundschullehrerin, aber ich glaube, sie wollte
immer schon eine Familie haben und auf dem Land leben. Mir ist bewusst, dass
man das heute für altmodisch hält, doch für uns erwies es sich als goldrichtig.
Und Daddy tat alles, damit es funktionierte. Ich glaube, Mum war einfach nicht
fürs Arbeitsleben gemacht. Sie war nicht stark genug. Du findest das vermutlich
lächerlich. Ich weiß, dass du hart im Nehmen bist. Das findest du bestimmt
genauso lächerlich, schließlich sind wir uns noch nie begegnet. Aber ich habe
recht, nicht wahr?
Pardon, ich schweife ab. Wie bereits erwähnt, habe ich erst als Erwachsener
herausgefunden, wer mein wirklicher Vater ist. Ich habe in Exeter studiert und
dort meinen Abschluss in Philosophie, Politik und Wirtschaft gemacht.
Anschließend zog ich nach London, um im Finanzdistrikt zu arbeiten … und
auch, um ein bisschen Spaß zu haben. Du bist in London geboren, oder? Du
Glückliche! Ich könnte mir vorstellen, dass du die Stadt manchmal überhast, dass
sich ihr Reiz irgendwann abnutzt. Ich bin in Surrey aufgewachsen – das
Großstadtleben war ein großes Abenteuer für mich. Und eigentlich ist das immer
noch so. Aber natürlich bin ich in erster Linie zum Geldverdienen hier. Unsere
Familie war alles andere als arm. Christopher arbeitete als Direktor eines
mittelständischen Wirtschaftsprüfungsunternehmens, und er verdiente mehr als
gut. Mir fehlte es an nichts. Zumindest so lange, bis eines Tages, als ich ungefähr
acht Jahre alt war, ein Schulkamerad zum Tee bei uns war und wissen wollte, ob
unser Fahrer ihn später noch heimfahren könne. Grinsend versprach meine
Mutter, ihn heil nach Hause zu bringen, doch er wirkte leicht irritiert. In diesem
Moment wurde mir klar, dass mir doch etwas fehlte. Schon lustig, wenn man mit
acht Jahren bemerkt, dass man gerne einen Chauffeur hätte. Die meisten
Achtjährigen wünschen sich vermutlich eher eine Xbox.
Die Ausbildung zum Börsenmakler ist kein Zuckerschlecken. Meistens
verschlang ich mein Mittagessen vor dem Bildschirm, während ich die Kurse
verfolgte. In genau so einem Moment erhielt ich eines Tages einen Anruf meiner
Mum. Dad hatte einen Herzinfarkt erlitten, und Lottie, wie alle in der Familie sie
nennen, obwohl sie eigentlich Charlotte heißt, war mit meinen Schwestern bei
ihm im Krankenhaus. Ich rief mir an der Liverpool Street ein Taxi und bat den
Fahrer, mich so schnell wie möglich ins Royal Surrey Hospital zu bringen. Ich
kam trotzdem zu spät. Als ich eintraf, war Dad bereits tot. Du hast deine Mutter
so jung verloren, du verstehst sicher, wie ich mich an diesem Tag gefühlt habe.
Wir waren alle untröstlich. Obwohl Mum sich ins Bett verkroch und kaum ein
Wort mit uns redete, nahm ich mir drei Tage frei, um bei ihr und bei meinen
Schwestern zu sein. Aber ich musste zurück an die Arbeit. Deshalb bat ich meine
Großmutter, aus York nach Surrey zu kommen und sich um die drei zu
kümmern. Bei der Trauerfeier, die eine Woche später stattfand, war die Kirche
voll bis auf den letzten Platz. Christopher hatte so viele Freunde: Egal, ob er sie
während der Schulzeit in Eton, auf der Arbeit oder bei einer anderen
Gelegenheit kennengelernt hatte, sie waren alle gekommen. Der Chor sang
»Jerusalem«, und alle Redner beteuerten, dass mein Vater ein Gentleman
gewesen sei, wie er im Buche stehe. Meine Mutter nahm ein Beruhigungsmittel,
um das Ganze zu überstehen, und meine Schwestern weinten sehr viel. Doch es
war ein berührender Abschied, ein wirklich schöner Tag, trotz der Trauer.
Zumindest bis siebzehn Uhr. Meine Mutter war zu angeschlagen, um zu kochen,
deshalb hatten wir für das anschließende Zusammensein bei uns zu Hause ein
Catering-Unternehmen beauftragt. Wir hatten also weiter nichts zu tun, als die
Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegenzunehmen. Doch Mum zog sich
schon eine halbe Stunde vorher in ihr Zimmer zurück, und die Mädchen saßen
mit Granny im Wohnzimmer. Sie wirkten völlig erschöpft. Also kümmerte ich
mich um die Gäste. Ich hatte mich gerade von einem langweiligen Mann im grau
karierten Anzug losgeeist – offenbar ein Kollege von Dad – und war auf dem
Weg zur Toilette, da tippte mir jemand auf die Schulter. Es war meine Tante
Jean. Obwohl ich sie immer schon Tante nenne, war sie eigentlich keine
Verwandte, sondern die älteste Freundin meiner Mutter. Die beiden standen sich
allerdings wirklich so nahe wie Schwestern. In meiner Kindheit war sie
omnipräsent gewesen, in den vorherigen Jahren hatte ich sie allerdings kaum
noch zu Gesicht bekommen. Sie sah alt aus, hatte große Ringe unter ihren
eingefallenen Augen und knochige Finger, mit denen sie nun nach meiner Hand
griff.
»Es tut mir so leid um den lieben Christopher«, schniefte sie. Ich murmelte ein
Dankeschön, und wir unterhielten uns noch etwas über die Trauerfeier. Dann
sagte sie: »Er hat dich immer wie einen Sohn behandelt. Immer. Er war ein
wunderbarer Mann.« Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für beschränkt, aber ich
hätte vermutlich überhaupt nicht gemerkt, was ihre Worte implizierten, wenn sie
nicht sofort zusammengezuckt wäre und meine Hand losgelassen hätte, kaum
dass ihr die Worte über die Lippen kamen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde,
verstehst du? Aber ich sah den Schreck in ihren Augen. Mit einem Mal hatte sie
es sehr eilig zu gehen. Ich verabschiedete mich von ihr, umarmte sie und
versicherte ihr, dass ich Mum von ihr drücken würde. Dann flüchtete ich ins
Gästeklo. Für den Fall, dass ich an diesem Tag mal eine Minute für mich allein
brauchen sollte, hatte ich wohlweislich eine Packung Zigaretten eingesteckt. Die
angelte ich nun mit zittrigen Fingern aus meiner Jackentasche. Du machst das
genauso, oder? Ich weiß, dass du keine von denen bist, die sich schon morgens
zum Kaffee eine Kippe anstecken. Du rauchst nur, wenn du eine Pause von der
Welt brauchst. An der Kneipe um die Ecke deines Büros habe ich mir mal Feuer
von dir geschnorrt. Wenn man jemanden ein oder zwei Sekunden lang ansehen
will, ohne dass diese Person sich beobachtet fühlt, ist das eine gute Taktik.
Ich öffnete die Küchentür und ging hinaus in Mums Gemüsegarten, wo sich
keine Besucher aufhielten. Dort steckte ich die Kippe an, lehnte mich an die
Wand und ließ mir Jeans Bemerkung immer wieder durch den Kopf gehen. Die
Worte einer traurigen alten Frau. Normalerweise hätte ich sie vermutlich als
wirres Gefasel abgetan. Aber sie war darüber so in Panik geraten, dass ich sie
unmöglich ignorieren konnte. Weißt du, Grace, ich würde mich als rationalen
Menschen bezeichnen. Ich bilde mir ein, dass mir so schnell niemand ein X für
ein U verkauft und dass ich mir auch selbst nichts vormache. Es gab nur eine
einzige vernünftige Schlussfolgerung, so schmerzhaft sie auch sein mochte:
Christopher war nicht mein leiblicher Vater.
Ich wartete, bis der letzte Gast gegangen war, vergewisserte mich, dass meine
Schwestern vor dem Fernseher saßen, und stieg die schmale Treppe zum
Schlafzimmer meiner Mutter hinauf. War deine Mutter ein schwacher Mensch,
Grace? Vermutlich schon. Ich wette, dass sie meiner Mutter in vielerlei Hinsicht
ähnlich war. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass meine Mum einen
Ehemann hatte, der sie vor der Welt beschützte. Es lag nicht in meiner Absicht,
ihr ausgerechnet an diesem Tag einen weiteren harten Schlag zu versetzen. Doch
ich hatte es so satt, sie immerzu wie ein rohes Ei zu behandeln und jede
Unannehmlichkeit – wie sie es nannte – von ihr fernzuhalten. Ich wollte einmal
im Leben völlig offen zu ihr sein.
Lottie schlief nicht. Sie lag im Halbdunkel und schmiegte sich an ein Kissen, als
wäre es ein schlafendes Haustier. Sie sah winzig aus. Ihr dünnes blondes Haar
war zerstrubbelt wie bei einem Kind. Ich setzte mich auf die Bettkante und sagte,
ich wisse, dass Christopher nicht mein richtiger Vater sei. Sollte ich allerdings
erwartet haben, dass sie alles zugab und um Vergebung bat, wurde ich
enttäuscht. Sie empörte sich mit einer Entschlossenheit, die ich bei ihr noch nie
gesehen hatte. Um ehrlich zu sein, hätte ich nie gedacht, dass sie über so viel
Willenskraft verfügt.
Zehn Minuten lang erklärte sie immer wieder, wie erschüttert sie sei, »so etwas«
aus meinem Mund zu hören. Nachdem diese Phase überwunden war, flehte sie
mich zwanzig Minuten lang tränenreich an, doch bitte nicht ausgerechnet an
diesem Tag über solche Dinge zu sprechen. Eine halbe Stunde später umarmte
mich Lottie und beteuerte, dass Christopher mein Vater sei, ganz egal, was die
anderen behaupteten. Erst nach weiteren zehn Minuten rückte sie endlich mit
der Wahrheit raus.
Meine Mutter war behütet in Somerset aufgewachsen, in einem schönen alten
Herrenhaus, das schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie war, die einen
angesehenen Namen hatte. Mit zwanzig zog sie nach London, um in einer
Kunstgalerie in der Savile Row zu arbeiten. Sie ging auf Partys, besuchte
Nachtklubs und machte mit ihren reichen Freunden Ausflüge nach
Südfrankreich. Ich wusste, dass sie in London gelebt hatte, bevor ich geboren
wurde, doch ich war überrascht von dem ausschweifenden Lebensstil, den sie
damals pflegte. Denn ich kannte meine Mutter nur mit Strickjacke und
Gummistiefeln. Mir fällt es immer noch schwer, sie mir in den gleichen Klubs
vorzustellen, die ich heute besuche. Zu jener Zeit waren Christopher und sie
bereits Freunde, mehr allerdings nicht. Mein Dad ist sein ganzes Leben lang eher
schüchtern gewesen.
Eines Abends zog sie mit ihren Freundinnen um die Häuser. In einem Klub
namens Vanessa’s brachte der Kellner ihr ein Glas Champagner und sagte, es
komme »von dem Herrn an der Bar«. Sie drehte sich um und sah einen
dunkelhaarigen Mann, bekleidet mit einem T-Shirt und einer schwarzen Hose,
der sie ungeniert anstarrte. Das, gestand mir meine Mutter mit bebender Stimme,
habe sie neugierig gemacht. Dieser Mann war anders als die meisten, die sie
kannte. Ihre Freundinnen machten einen riesigen Wirbel um seine Avancen und
überredeten sie schließlich, mit ihm zu sprechen. Und meine ängstliche,
übervorsichtige Mutter, die sich stets ins Bett verkroch, wenn sie vom Leben mal
wieder überfordert war, ging zu diesem Fremden und begann ein Gespräch.
Den Rest muss ich dir sicher nicht erzählen, oder? Denn du weißt, was passiert
ist. Es ist zwar die Geschichte meiner Mutter, aber auf gewisse Weise ist es auch
die Geschichte deiner Mutter. Als Lottie erfuhr, dass sie schwanger war, hatte
dieser Mann sie bereits sitzen gelassen. Und sie war nicht so stark wie deine
Mum. Sie hatte große Angst davor, was ihre Eltern denken würden. Also ging sie
jeden Morgen zur Arbeit und tat, als wäre nichts geschehen. Bis eines Tages
Christopher bei ihr in der WG auftauchte und Lottie gestand, von ihrer
Schwangerschaft zu wissen. Keine Ahnung, woher er es erfahren hatte. Vielleicht
hatte er es ihr einfach angesehen. Meine Mutter war in Tränen aufgelöst, als sie
mir davon erzählte, deshalb beließ ich es dabei. Christopher kümmerte sich
aufopfernd um sie, und schließlich machte er ihr einen Heiratsantrag. Ein
Kavalier der alten Schule! Ich muss heute noch lächeln, wenn ich daran denke.
Ich meine, wir sprechen hier von den Neunzigern! Aber meine Großeltern
waren ausgesprochen altmodische Leute, und ich bin mir sicher, dass sie auf
Klatsch nicht gerade erpicht waren. Meine Mutter übrigens auch nicht. Ein Teil
der britischen Oberschicht findet Skandale unterhaltsam. Meine Familie gehört
definitiv nicht dazu. Bei der Erinnerung an Christophers Antrag musste Lottie
lächeln und schloss das Kissen noch etwas fester in ihre Arme.
Ich weiß nicht, ob ihre Gefühle für ihn damals romantischer Natur waren.
Vielleicht hat sie ihn nie wirklich leidenschaftlich geliebt. Aber die beiden waren
glücklich miteinander. Wirklich glücklich. Und dieses Glück finde ich wichtiger
als das Feuerwerk der Leidenschaft, auf das Frauen in der Liebe – zumindest
glauben das die Männer – angeblich hoffen. Prinz Charles, der ein anständiger
Kerl zu sein scheint, wurde einmal von einem Reporter gefragt, ob er Diana
liebe. Seine Antwort lautete: »Was immer Liebe ist.« Damit handelte er sich eine
Menge Ärger ein.
Ich wusste an diesem Abend nicht, wie ich auf Mums Offenbarung reagieren
sollte. Es tat weh, sie weinen zu sehen. Also nahm ich sie in den Arm, gab ihr ein
Beruhigungsmittel, das der Hausarzt ihr verschrieben hatte, und ließ sie schlafen.
Den Rest der Geschichte erfuhr ich im Laufe der nächsten Wochen. Ich ging
wieder arbeiten und fuhr jeden Freitag nach Surrey, wo ich mit meinen
Schwestern den Hund ausführte und mich vergewisserte, dass meine Mutter
genug aß – wenn es ihr nicht gut geht, vergisst sie das häufig. Wenn ich ihr
Fragen über meinen leiblichen Vater stellte, errötete sie und sackte in sich
zusammen. Manchmal bekam ich eine Auskunft, aber häufig wollte oder konnte
sie mir nicht antworten. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, die Sache
einfach auf sich beruhen zu lassen. Mir fiel plötzlich auf, wie sich die
Gesichtszüge meiner Schwestern von meinen unterschieden. Ich fragte mich,
welche meiner Eigenarten ich von meiner Mutter geerbt hatte und welche nicht.
Mit meiner Reizbarkeit, die in meiner Familie immer schon für Gesprächsbedarf
sorgte, stand ich völlig alleine da. Christopher war zu sanftmütig, Lottie zu
hasenherzig. Jetzt verstand ich, woher ich mein überschäumendes Temperament
hatte.
Weißt du, Grace – meine Herkunft ist mir wichtig. Nicht aus denselben
Gründen wie bei manchen meiner bornierten Schulkameraden, die damals allen
Ernstes darüber diskutierten, wessen Familie im 16. Jahrhundert größere
Ländereien besessen hatte. Sie ist mir wichtig, weil deine Abstammung dir Dinge
über dich verrät, die du auf andere Weise nie erfahren würdest. Ich habe immer
gedacht, ich sei der Sohn von Christopher und Lottie Hawthorne. Und ich
wusste stets, was das bedeutet. Ich wusste, wer ich war und wer ich einmal sein
würde. Jetzt musste ich herausfinden, inwiefern ich mich in alledem geirrt hatte.
Mum verriet mir den Namen meines Vaters an einem Sonntag. Ich belud
gerade das Auto für die Rückfahrt nach London. Als ich die letzte Tasche in den
Kofferraum hievte, stand sie auf einmal neben mir, die Arme um ihren Körper
geschlungen, als wolle sie sich vor mir schützen, und küsste mich auf die Wange.
»Simon. Simon Artemis«, flüsterte sie und eilte zurück in die Küche, wo meine
Schwestern einen Kuchen backten.
Die Welt der Prominenten ist mir ein Buch mit sieben Siegeln. Frag mich nach
den Kardashians, und ich gestehe bereitwillig, dass ich sie bis vor zwei Jahren für
eine Dynastie aus dem Nahen Osten hielt. Doch ich kenne mich in der
Geschäftswelt aus, und dieser Name traf mich wie eine Faust in die Magengrube.
Auf der Heimfahrt versuchte ich krampfhaft, mich an jedes Detail zu erinnern,
das ich über ihn wusste. Seine Eltern stammten aus der gehobenen Mittelschicht,
hatten es zu einigem Wohlstand gebracht und waren enorm stolz auf das
Erreichte, aber Simon wollte es noch viel weiter bringen. Er besaß immer schon
einen ausgeprägten Geschäftssinn. Anfangs verkaufte er gebrauchte
Elektrogeräte auf dem Flohmarkt, dann stieg er auf Secondhandkleidung um
und stellte schnell fest, dass der Wiederverkaufswert eines schmuddeligen alten
Ponchos rapide in die Höhe schnellte, wenn man den Kunden erzählte, Jane
Birkin habe so ein Stück in den Sechzigern getragen.
Im Alter von neunzehn Jahren machte er in einem schäbigen Viertel von
Westlondon seinen ersten Laden auf, den er mit alten, auf Flohmärkten
zusammengekauften Klamotten bestückte. Auf magersüchtigen
Schaufensterpuppen drapiert und in kühles Neonlicht getaucht, sahen sie
plötzlich gar nicht mehr so schmuddelig aus. Dass Simon schon als Student ein
kleines Imperium aufbauen konnte, hatte er allein dem Wohlstand seiner Familie
zu verdanken. Vieles an seinem »Selfmade-Image« war genau das: bloßes Image.
Seinem Ruf half es jedoch ungemein.
Wobei die Textilbranche nicht Simons wichtigstes Geschäftsfeld blieb. Das
meiste Geld verdiente er anschließend mit Investment- und Immobiliendeals,
und seine Modemarke hatte das alles ins Rollen gebracht. Das Artemis-
Imperium wuchs immer weiter und machte ihn zu einem der reichsten Männer
des Landes. Außerdem war Simon Artemis Regierungsberater für Handel und
Gewerbe – ein reiner Alibi-Job, für den er nur sein Gesicht hinhalten musste.
Der Posten verlieh ihm einen Anstrich von Seriosität, der ihm ehrlich gesagt
nicht zustand.
Ich weiß nicht, wie viel du über seine Geschäfte weißt oder wie sehr du dich
dafür interessierst, aber Simon war immer schon ein gerissenes Schlitzohr, und
daran hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht viel geändert. Sein Modegeschäft
prosperierte – obwohl so viele andere scheiterten –, weil er ein scharfes Auge auf
die Gewinnspannen hatte und jedes ihm zur Verfügung stehende Schlupfloch
nutzte. Er kaufte Sassy Girl mit dem Geld von Privatinvestoren. Investitionen,
die er über den Verkauf von Ladenlokalen und anderen Aktiva beglich. Der Deal
hat ihn keinen verdammten Penny gekostet! Als er entdeckte, wie günstig man in
exotischen Ländern, wo es kaum Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer gab,
Textilien herstellen konnte, ging er dazu über, fabrikneue Kleidung zu
produzieren. Mitte der Neunzigerjahre gab es einen Aufschrei über die
Arbeitsbedingungen in solchen Sweatshops, worauf Simon die Produktion
einfach in ein anderes Land verlagerte, das eher bereit war, ein Auge
zuzudrücken und dafür zu sorgen, dass Journalisten und Aktivisten sich von
seinen Zulieferbetrieben fernhielten. In Simons Diensten stand ein ganzes Heer
von Anwälten und Buchhaltern, die sicherstellten, dass er in Großbritannien so
wenig Steuern wie möglich zahlte. Er beschäftigte seine Angestellten mit
dubiosen Arbeitsverträgen, die oft endeten, bevor er zur Zahlung von
Sozialleistungen verpflichtet gewesen wäre. Geheimhaltungsklauseln waren in
seinem Unternehmen gang und gäbe – und nur Gott allein weiß, was sie alles
abdeckten. Mir sind mindestens acht Fälle bekannt, in denen Frauen entlassen
wurden, als sie schwanger wurden. Obwohl Simons Rechtsvertreter für diese
Entlassungen vorgeblich legitime Gründe anführten, wusste inzwischen jeder,
dass der Artemis-Clan aus einem Haufen von Ausbeutern bestand. Allen voran
Simon selbst.
Ich habe damit übrigens kein Problem. Ich bin der Meinung, dass sich die
Wirtschaft selbst regulieren sollte und dass Rechtsvorschriften zum Schutz von
Arbeitnehmern Innovation und Wachstum exponentiell hemmen. Bindet man
einem Unternehmen zu sehr die Hände, dann hat es keine andere Wahl, als
seinen Hauptsitz in ein anderes Land zu verlegen – eine Katastrophe für die
britische Wirtschaft. Simon hat sich an die Gesetze gehalten, und dass er deren
Grenzen ausgelotet hat, kann ich ihm nicht verübeln.
Mir fiel es aus einem anderen Grund schwer zu akzeptieren, wer mein Vater
war, und ich bin mir bewusst, dass mich das vielleicht in ein schlechtes Licht
rückt, Grace. Doch ich will aufrichtig sein, und da dir diese Information ohnehin
nichts nutzt, habe ich die Freiheit, völlig offen zu sein. Als ich nach
dreiundzwanzig Jahren die Wahrheit über meinen Erzeuger herausfand, war ich
vor allem peinlich berührt. Christopher achtete sogar bei seinen Gummistiefeln
darauf, dass sie den richtigen Grünton hatten, um nicht aufzufallen. Er trug
dezente Wollanzüge und bezahlte niemals mit seiner goldenen Kreditkarte, weil
er befürchtete, das könnte großspurig wirken. Ich wuchs in einer Familie auf, der
Stil und Etikette in die Wiege gelegt wurden. Darüber musste nicht diskutiert
werden, weil es nie einen Anlass gab, der das erforderlich gemacht hätte. Simon
Artemis verkörperte das Gegenteil von allem, wofür ich stand. Ich suchte im
Internet nach weiteren Informationen über ihn, und alles, was ich anklickte,
erfüllte mich mit Abscheu und Entsetzen. Er besaß eine ganze Flotte von Autos
mit personalisierten Nummernschildern. Der Siegelring an seinem kleinen Finger
stammte von einem besonders bei russischen Kunden gefragten Juwelier, der das
mit Steinen geschmückte Familienwappen ganz nach Simons Wünschen gestaltet
hatte. Ich fand mehrere Hello!-Artikel, die den Familiensitz des Artemis-Clans in
all seiner Pracht aus Gold und Cremeweiß zeigten. Die Einrichtung sah so
unbeschreiblich kitschig aus, dass ich laut aufstöhnte. Das waren keine
Antiquitäten, sondern neue Möbel. Neues Geld. Neureiche Aufsteiger. Alles das,
was ich niemals war, ohne dass ich je darauf hinweisen musste.
Ich hatte keine Ahnung, wie Lottie sich von so einem Kerl hatte verführen
lassen können. Sicher, sie war damals jung und schwach, aber dieser Mann
repräsentierte das Gegenteil von allem, was sie je gekannt hatte. Ich war
richtiggehend angewidert. Meine Schwestern waren in eine glückliche Familie
hineingeboren worden – eine Familie, der Konventionen und Traditionen viel
bedeuteten. Und dasselbe hätte ich bis zu jenem Zeitpunkt auch über mich
gesagt. Stattdessen saß ich nun in dieser Bredouille, weil meine Mutter so dumm
gewesen war, sich für eine Nacht mit einem Playboy abzugeben, der in Marbella
Urlaub machte und sich in einer Unterhaltungssendung namens Löwengrube als
Promi-Investor inszenierte.
Klasse ist wichtig, Grace. Mir ist klar, dass man das heute nicht mehr gerne
hört, aber ich halte es für blanken Irrsinn, eine Wahrheit zu leugnen, nur weil sie
unbequem ist. Ich weiß nicht, was du von Simons Werdegang hältst oder von
seiner Vorliebe für Uhren, die so groß sind, dass sie als Wecker dienen
könnten – doch ich könnte mir vorstellen, dass du ähnliche Vorbehalte hast. Ich
will deine bitteren Erfahrungen nicht kleinreden, trotzdem glaube ich, dass diese
Erkenntnis für mich ein härterer Schlag war. Ich bin zwischen den Stühlen jenes
rigiden Klassensystems aufgewachsen, das für uns Briten tausend Jahre lang
identitätsstiftend war. Diejenigen von uns, die nicht genau wissen, wo sie
hingehören, haben es immer besonders schwer. Du kanntest wenigstens deinen
Platz in der Gesellschaftsordnung.
In dem Bemühen, meinen Schwestern – und wenn ich ehrlich bin, auch mir
selbst – ein Gefühl von Normalität zu vermitteln, pendelte ich einige Monate
lang zwischen London und meinem Elternhaus. Beruflich lief es sehr gut, ich
verdiente inzwischen ganz ordentlich. Aber je mehr Zeit ich in Surrey
verbrachte, desto offensichtlicher wurde es, dass Christopher in finanzieller
Hinsicht nicht ganz so gut dastand, wie wir angenommen hatten. In seinem
Testament vermachte er Lottie all seinen Besitz – das Haus, das Auto und seine
Kapitalanlagen. Allerdings hatte er das Haus drei Jahre zuvor mit einer Hypothek
belastet, um das Schulgeld für die Mädchen zu zahlen. Und er hatte seine
Altersvorsorge angezapft, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Keinen
unnötigen Luxus – Christopher pflegte keinen verschwenderischen Lebensstil –,
aber wie schon erwähnt, besaß man in unserem gesellschaftlichen Umfeld
ziemlich hohe Ansprüche, und Dad war natürlich darauf bedacht, Schritt zu
halten. Was durchaus Herausforderungen birgt, wenn das besagte Umfeld aus
Familien besteht, die Namen wie Guinness, Montefiore und Ascot tragen.
Lottie zog es vor, den Kopf in den Sand zu stecken und sich durch
Gartenarbeit von den unmittelbaren Problemen abzulenken, die der Tod ihres
Mannes aufgeworfen hatte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, das Thema
anzusprechen, drückte sie mir Blumenzwiebeln in die Hand oder warf Unkraut
nach mir. Einmal flüchtete sie durch eine Dornenhecke, nur um nicht darüber
reden zu müssen. Ich hatte mir die Zahlen genau angeschaut und wusste, dass
wir dringend eine Finanzspritze benötigten. Der Verlust des Familiensitzes wäre
eine Demütigung, von der sich keiner von uns so leicht erholen würde. Da Lottie
den Tatsachen nicht ins Auge blicken wollte und wir in gewissen Dingen recht
konservativ sind, übernahm ich die Rolle des Familienoberhaupts.
Ich bin ein eher praktisch veranlagter Mensch. Meine Englischlehrerin hat oft
bemängelt, mir fehle es an der nötigen Fantasie, um große Literatur zu
verstehen. Die meisten Romane sagen mir einfach nichts. Wenn ich Bücher lese,
dann bevorzugt Autobiografien. Am liebsten zum Thema Sport. Ich hatte noch
nie das Gefühl, dass meine Lebensqualität darunter leidet. Ich bin kein Träumer.
Ich weiß, was ich vom Leben will. Und ich werde mir den Arsch aufreißen, um
meine Ziele zu erreichen. Aber während ich meine Karriere vorantrieb, fehlte
mir die Zeit, um die Zukunft meiner Familie zu sichern. Also entschied ich mich
für einen anderen Weg.
Na, ahnst du bereits, worauf das hinausläuft? Ich glaube, es ist offensichtlich.
Ich fasste den Entschluss, Simon als Rettungsanker zu nutzen. Der Gedanke
kam mir eines Abends, als ich in meinem Zimmer in Surrey die Finanzunterlagen
durchging und dabei die enormen laufenden Kosten bemerkte. Nicht nur für die
Hypothek und die Schulgebühren, sondern auch für die Instandhaltung des
großen alten Hauses. Die Ausgaben waren gewaltig, und in absehbarer Zukunft
waren keinerlei Einkünfte zu erwarten, die ausgereicht hätten, diese enormen
Kosten zu decken. Frag einfach deinen biologischen Vater, flüsterte eine Stimme
in meinem Kopf. Ich musste fast lachen. Es war eine absurde Vorstellung, diesen
Mann aus heiterem Himmel zu kontaktieren und ihn um Unterstützung für
meine Familie zu bitten, mit der er nichts am Hut hatte. Und selbst wenn ich
einen Weg finden würde, mit ihm in Kontakt zu treten, wollte ich mich auf
keinen Fall mit Simon Artemis gemein machen. Nicht aus moralischen
Bedenken – Geld ist Geld, und er hatte mehr als genug davon –, sondern weil
alles an dieser Angelegenheit billig und geschmacklos war. Ein Mann, der sich
dabei fotografieren ließ, wie er in zwielichtigen Privatklubs mit Oligarchen
Brüderschaft trank. Sein unehelicher Sohn. Ein Bentley mit Chauffeur. Einfach
alles.
Ich verwarf den Gedanken zunächst. Doch jedes Mal, wenn ich einen Blick auf
die Finanzen riskierte, schoss er mir wieder durch den Kopf. Nach einem
unangenehmen Gespräch mit unserem Buchhalter, der mir unverblümt erklärte,
dass die Mädchen am Ende des Jahres die Schule wechseln müssten, wenn nicht
sofort etwas unternommen würde, knickte ich schließlich ein.
Einem Mann wie Simon Artemis schickt man keine E-Mail. Das habe ich in
meiner kurzen Zeit in der Finanzbranche gelernt. Solche Leute sind zu wichtig.
Sie haben fünf Assistenten. Ihr Posteingang wird vorsortiert und bereinigt.
Nachrichten werden nach Prioritäten geordnet und in Minutenschnelle
abgearbeitet. Vermutlich würde jeder meiner Versuche, ihn schriftlich zu
erreichen, ungelesen auf dem »Spinner und Bittsteller«-Stapel landen. Also
tauchte ich persönlich bei ihm im Büro auf. Es war ein riskanter Schritt, aber ich
war überzeugt, auf diese Weise meine Stärken besser ausspielen zu können. Aus
der täglichen Lektüre des Wirtschaftsteils wusste ich, dass der Artemis-Clan ein
Auge auf ein kleineres Bekleidungsunternehmen namens Re’belle geworfen
hatte, das in Soho und Kensington einige Immobilien in bester Lage besaß. Der
steinalte Firmeneigner ließ allerdings nicht mit sich reden. Sein Unternehmen
war seit Ewigkeiten in Familienbesitz, und dabei sollte es bleiben. Am Empfang
gab ich vor, der Sohn dieses Mannes zu sein, und behauptete, ich sei gekommen,
um einen neuen Kommunikationskanal zu eröffnen. Das hätte natürlich auch
gründlich in die Hose gehen können, doch der Empfangsdame schien der Name
Benny Fairstein geläufig zu sein, denn sie hob sofort den Telefonhörer ab. Keine
zehn Minuten später wurde ich in Simons Büro geführt. Sein wütender Blick
verriet mir sofort, dass ich aufgeflogen war und mir nicht viel Zeit blieb, wenn
ich ihm erklären wollte, wer ich wirklich war.
Grace, du bist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem ich diese
Geschichte je erzählen wollte. Denn du wirst sie faszinierend finden, obwohl
dich Klatsch und Tratsch nicht interessieren. Ich habe mich bei Simon nicht
dafür entschuldigt, mich als jemand anders ausgegeben zu haben, sondern kam
ohne Umwege zur Sache. Ich setzte mich ihm gegenüber in den Sessel, sah ihm
direkt in die Augen und sagte ihm, dass ich sein Sohn sei. Er machte keinen
besonders überraschten Eindruck. Vermutlich hatte er damit gerechnet, dass
früher oder später ein uneheliches Kind vor seiner Tür stehen würde.
Ich erzählte ihm von Lottie und bat ihn, sich an damals zu erinnern. Er
musterte mein Gesicht und ich seins. Unsere Blicke blieben zeitgleich an der
Nase des Gegenübers hängen. Im Kino wäre in diesem Moment dramatische
Musik erklungen. Wir starrten uns nur schweigend an. Dann fragte er mich, was
ich von ihm wolle. Im Geschäftsleben gibt es zwei Möglichkeiten, auf diese
Frage zu reagieren. Man kann verschleiern, andeuten, schmeicheln und mit
unausgegorenen Ideen um sich werfen – oder man entscheidet sich für den
direkten Weg. Für die erste Möglichkeit fehlte mir die Zeit. Ich erwiderte, dass
ich nicht die Absicht hegte, ihn öffentlich bloßzustellen, und ich sähe mich auch
nicht in der Rolle des lange vermissten Sohns, der seinen Platz im
Familienimperium beansprucht. Ich beteuerte, dass ich nicht respektlos
erscheinen wolle, aber die Zukunft meiner Familie stehe auf dem Spiel und er sei
der Einzige, der mir helfen könne. Ich schlug ihm ein einmaliges Geschäft vor.
Ich hatte eine Zahl auf einem Briefbogen notiert und diesen in einen Umschlag
gesteckt, den ich nun über den Tisch schob. Dann wartete ich ab. Lachend
öffnete er den Briefumschlag. Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet hatte, auf
Lachen hätte ich vermutlich nicht als Erstes getippt. Ich schätze, dass meine
Chuzpe ihn beeindruckte. Möglicherweise hielt er meinen Schachzug für ein
Machtspielchen. Doch mir ging es einfach nur ums Geld. Und ich wusste, dass
ich ein Druckmittel besaß. Möglicherweise machte mich dieses Wissen etwas
übermütig.
Es mag seltsam klingen, aber rückblickend würde ich sagen, dass genau dieses
nassforsche Auftreten das Eis gebrochen hat. Wer so reich ist, unterstellt
anderen Menschen ständig, dass sie etwas von einem wollen. Bekommt man das
freiheraus bestätigt, ist eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen. Statt auf mein
Anliegen einzugehen, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück, drückte
eine Taste der Sprechanlage und bat seine Assistentin, das nächste Meeting
abzusagen. Dann löcherte er mich mit Fragen. Er wollte wissen, wo ich wohnte,
was ich beruflich machte und ob ich Fußballfan sei. Obwohl ich mich dabei
anfangs ein bisschen unwohl fühlte, ließ ich mich darauf ein. Er nickte, als ich
von Christopher sprach, und lächelte, als ich erzählte, dass ich in der
Finanzbranche arbeitete. Wie sich herausstellte, waren wir beide Fans der
Queens Park Rangers. Wir diskutierten eine Weile über den Trainer, und Simon
rüffelte mich dafür, dass ich ein entscheidendes Spiel verpasst hatte. Für einen
Außenstehenden hätte es vermutlich wie eine ganz normale Vater-Sohn-
Begegnung ausgesehen. Ein Gedanke, der mir die ganze Zeit nicht aus dem
Kopf ging. Ich musste mir während des Gesprächs immer wieder bewusst
machen, dass dieser Mann mein Vater war. Dieser braun gebrannte,
durchtrainierte Kerl im stahlgrauen Anzug, dessen goldene Uhr mich blendete,
wenn er seinen Arm bewegte.
Tut mir leid, wenn ich dich langweile, Grace. Aber die ganze Situation war total
schräg für mich, und ich bin einfach nicht der Typ, der sich einem Therapeuten
anvertraut. Mein Motto lautet: Augen zu und durch. Worüber könnte ich mich
auch groß beklagen? Ich habe eine tolle Familie, einen guten Job und bin
finanziell abgesichert. Ach ja – dazu sollte ich noch kommen: Simon hat mir das
Geld gegeben. Mit dieser einen Verhandlungsrunde war es zwar nicht getan,
doch das Tauziehen verlief in erstaunlich entspannter Atmosphäre. Nach sechs
Wochen einigten wir uns schließlich auf eine schöne sechsstellige Summe, die
Mum über Wasser halten sollte, bis ich es beruflich so weit gebracht hatte, dass
ich die Last alleine schultern konnte. Simons einzige Bedingung war ein DNA-
Test. Das konnte ich zwar nachvollziehen, dennoch ärgerte ich mich im Stillen
darüber. Ich hatte das Gefühl, dass dadurch Lotties Ehre in Zweifel gezogen
wurde. Aber Geschäftsleute wie er legen keinen großen Wert auf Ehre. Nicht
wahr, Grace? Davon können wir beide ein Lied singen.
In diesen anderthalb Monaten traf ich mich noch einige Male mit Simon. Oft in
seinem Büro, aber hin und wieder auch in einem privaten Klub am Berkeley
Square. Einmal gingen wir zusammen ins Stadion, allerdings sahen wir uns das
Spiel nicht in seiner Loge, sondern auf der Tribüne an – vermutlich wollte er
vermeiden, mich seinen Freunden vorzustellen, und dafür hatte ich sogar
Verständnis. Wie stellst du einer Gruppe von Immobilienmagnaten, die sich
gerade an deinem Buffet bedienen, aber jede Art von Verwundbarkeit gnadenlos
ausnutzen würden, den der Öffentlichkeit und deiner Familie verheimlichten
unehelichen Sohn vor? QPR gewann die Partie mit 2:1, und unsere Beziehung
trat in eine neue Phase ein. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass
Simon es genoss, einen Sohn zu haben. Er hatte mich zwar nicht großgezogen,
und eigentlich kannte er mich kaum, aber er hatte trotzdem seinen Spaß daran,
Zeit mit mir zu verbringen. Er alberte mit mir herum, machte sich über mein
Sakko lustig und bot mir an, mich seinen Freunden aus der Finanzbranche
vorzustellen. Manchmal verabredete er sich mit mir unter dem Vorwand, die
Bedingungen unserer kleinen Vereinbarung zu diskutieren, sprach sie dann
allerdings gar nicht an, sondern lud mich lieber auf einen Drink ein und erzählte
von seinem neuesten Deal. Hin und wieder spielten wir auch Karten.
Unser alter Vater hatte einen gewissen Charme. Na gut, er war nicht wirklich
charmant, aber mit seinem zähnefletschenden Grinsen und seinem
überwältigenden Selbstbewusstsein gab er dir das Gefühl, dass es ganz gut für
dich laufen könnte … natürlich nur, solange es nach seinen Vorstellungen lief.
Sein kräftiger Händedruck vermittelte Macht und Stärke, wirkte jedoch
irgendwie aufgesetzt – so als hätte er ein Handbuch darüber gelesen, wie man
mittels Körperkontakt Dominanz demonstriert. Er kannte die Namen der
Portiers, der Parkservice-Mitarbeiter, sogar der Reinigungskraft in seinem Büro,
und mehr als ein Mal bemerkte ich, wie er ihnen mit einer Art aggressiver
Galanterie Geld in die Hand drückte. Und trotzdem reagierte jeder, der ihm
begegnete, leicht verängstigt auf diesen Mann. Ehrlich gesagt genoss ich seine
Gesellschaft sogar. Meistens jedenfalls. Ich empfand Respekt für ihn. Und die
Leute nickten mir zu, als würde ich den gleichen Respekt verdienen, nur weil ich
zu Simons innerem Zirkel gehörte.
Dass ich mich von seiner Macht dennoch nicht blenden ließ, lag auch an den
regelmäßigen Hinweisen darauf, dass er nicht von allen Menschen so respektiert
wurde, wie es ihm lieb gewesen wäre. Meine Kollegen im Finanzdistrikt
registrierten seine Rüpel-Taktiken mit Argwohn. Und in der Öffentlichkeit kam
es gar nicht gut an, als der Evening Standard darüber berichtete, wie er seinen
neuesten Supersportwagen vor der Notaufnahme eines Krankenhauses parkte,
um ein Massagestudio zu besuchen. Oder als er in einem gut besuchten
Restaurant lauthals einen Kellner beschimpfte, der ihm die Teller nicht schnell
genug abräumte. Wenn ich mich recht erinnere, geriet Simon darüber dermaßen
in Rage, dass er einen Tisch umwarf. Mit Abstand am unappetitlichsten war
seine Angewohnheit, vom Dach seines Bürogebäudes zu pinkeln. Ob unten
gerade jemand auf dem Bürgersteig stand, war ihm völlig egal. Zum Glück
bekam die Presse davon keinen Wind. Journalisten, die kritisch über ihn
schrieben, rief Simon persönlich an, beschimpfte sie und warf ihnen vor, sie
würden »diesen Bockmist« aus purem Neid verbreiten. Nachdem er anlässlich
des fünfzigsten Geburtstags seiner Frau das Kolosseum gemietet hatte –
wirklich, Grace, das Kolosseum in Rom! –, berichtete irgendein Revolverblatt,
die Location-Miete habe 500.000 Pfund betragen. Daraufhin schickte Simon der
Reporterin ein Flugticket nach Rom, dazu eine Notiz mit den Worten: »Du
musst dich leider mit dem Rest der ungewaschenen Pisser in die Schlange stellen.
Dabei hätte es dir sicher gefallen, diesen magischen Ort im Sonnenuntergang mit
einem Glas Schampus in der Hand zu erleben – so wie wir.« Ich frage mich, ob
sie den Flug wohl angetreten hat.
Er wollte so gerne zum Establishment gehören, schaffte es aber einfach nicht,
seine Herkunft zu verbergen. Einmal fiel mir auf, dass seine Fingernägel
glänzten, als wären sie poliert – wie nach einer Maniküre. Und ich kann mir gut
vorstellen, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag. Manche Männer lassen ihre
Hände regelmäßig pflegen. Ich bin zwar nicht metrosexuell, habe allerdings auch
kein Problem damit. Die alte Garde hatte vermutlich weniger Verständnis für
derart exzentrische Macken. Das muss er eigentlich gewusst haben, und
trotzdem hat er nichts an seinem Verhalten geändert. Ganz im Gegenteil. Es
war, als hätte er unbewusst akzeptiert, dass er nie ganz dazugehören würde, und
haute deshalb nun doppelt so laut auf die Pauke. Bei einem Wohltätigkeitsdinner
fuhr er in einem so protzigen Auto vor, dass die anderen Gäste das Gesicht
verzogen. Bei der Auktion nach dem Essen ließ er dann doppelt so viel Geld
springen wie sie. Denn er wusste genau, dass er der High Society dadurch keine
andere Wahl ließ, als mit ihm zu reden. Um ihm zu danken. Und seinen Namen
auf einer Spendertafel zu verewigen.
Ich schweife schon wieder ab. Eigentlich will ich damit nur verdeutlichen, wie
sehr ich hin- und hergerissen war. Er konnte einen durchaus für sich einnehmen
und zeigte aufrichtiges Interesse an mir. Ich gebe zu, dass mir das ein wenig
geschmeichelt hat. Trotzdem habe ich mich in seiner Gesellschaft nie
hundertprozentig wohlgefühlt und war erleichtert, als wir uns schließlich auf eine
Summe einigen konnten. In meinen Augen war das eine Wiedergutmachung
dafür, dass er achtzehn Jahre lang keinen Unterhalt zahlen musste, und es
erlaubte mir, künftig für meine Familie zu sorgen. Abgemacht und erledigt. Ich
hätte ihn niemals erpresst. Wenn er auf meine Bitte nicht eingegangen wäre,
hätte ich den Rückzug angetreten. Ich bin ein ziemlich stolzer Mensch und hätte
auf keinen Fall gebettelt. Ich hatte gehofft, dass er sich wie ein Gentleman
verhalten würde, und bis zu einem gewissen Grad erfüllte er meine Hoffnung.
Wobei Simon natürlich nichts ohne Gegenleistung tat. Ansonsten wird man
wohl kaum so reich wie er. Ich dachte, dass es ihm um mein Schweigen ging,
aber damit lag ich völlig falsch.
Nachdem er mir das Geld überwiesen und ich eine Stillschweigevereinbarung
unterschrieben hatte, die man durchaus als Knebelvertrag bezeichnen könnte,
schüttelte er mir die Hand und stieß mit mir an. An diesem Abend verbrachten
wir fast sechs Stunden miteinander. In einem der besten Restaurants in Soho, wo
das Steak achtundsechzig Pfund kostete und die Kellner den Gästen nicht in die
Augen blickten, tafelten wir in einem nicht einsehbaren Separee. Es war wie ein
Rendezvous, und jedes Mal, wenn Simon eine neue Flasche Wein orderte, trieb
mir der absurde Preis die Tränen in die Augen. Immer wenn ich einen neuen
Versuch wagte und mich zum Gehen anschickte, hielt Simon mich energisch
zurück. »Wir lernen uns doch gerade erst kennen, mein Sohn! Was könnte
wichtiger sein?« Dann erzählte er sofort die nächste Anekdote, erklärte mir eine
besonders gerissene Geschäftsstrategie oder prahlte damit, wie er einen
Konkurrenten über den Tisch gezogen hatte, indem er sich noch rücksichtsloser
verhielt als dieser. Als ich um drei Uhr nachts nach Hause kam, kroch ich
verzweifelt ins Bett, denn ich wusste, dass ich in drei Stunden wieder aufstehen
musste. Um sechs Uhr morgens riss mich der Wecker aus dem Schlaf, mein
Kopf schmerzte, als würde er jeden Augenblick platzen, und meine Hände
zitterten. Ich griff nach dem Handy und sah, dass er mir bereits eine SMS
geschickt hatte: Samstag Fußball. Vorher Frühstück. Obwohl ich kaum klar
denken konnte, wurde mir in diesem Moment bewusst, dass Simon Artemis mir
niemals erlauben würde, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen. Er hatte
bezahlt, und jetzt erhob er Anspruch auf mich. Weil er mich mochte und sich
über den unerwartet aufgetauchten Sohn freute? Das würde ich gar nicht mal
ausschließen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er die Situation einfach
kontrollieren wollte. Dass er mich kontrollieren wollte. Wenn er es schon
erdulden musste, sich angreifbar zu fühlen, dann sollte dabei wenigstens etwas
für ihn herausspringen. Auch wenn ich nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte.
Dann erst recht.
Keine Ahnung, Grace, was ich getan hätte, wenn es so weitergegangen und ich
jahrelang gezwungen gewesen wäre, seinen verqueren Vorstellungen von einem
Sohn zu entsprechen. Schon wenige Wochen nach der Überweisung des Geldes
war es kaum noch zu ertragen. Simons Interesse an mir ließ zusehends nach, und
bald behandelte er mich wie alle anderen. Das hieß, er erwartete von mir, dass
ich Gewehr bei Fuß stand, sobald er anrief. Er rief mich sogar im Büro an, und
wenn ich nicht dranging, probierte er es einfach immer wieder. Einmal habe ich
mein Telefon acht Stunden in den Flugmodus geschaltet, nur um in Ruhe
arbeiten zu können. Als ich ihn wieder ausschaltete, hatte ich drei
Textnachrichten von ihm, in einer davon nannte er mich einen »trägen
Drecksack«. Die Beleidigung war notdürftig als Scherz verpackt, nichtsdestotrotz
war sie zweifellos ernst gemeint.
Ich fuhr weiterhin so oft wie möglich nach Hause. Meiner Mutter ging es etwas
besser, obwohl sie immer noch wie besessen im Garten arbeitete. Ich erzählte ihr
natürlich nicht, wie viel Zeit ich mit Simon verbrachte. Ich habe ihr überhaupt
nichts gesagt. Die Schulgebühren waren beglichen und die Hypothek abbezahlt.
Lottie fragte mich nie, wie ich das geschafft habe. Darüber war ich kurz wütend,
denn für sie wurde immer alles geregelt, und daran hat sie nie einen Gedanken
verschwendet. Aber das war kleinlich von mir. Das konnte ich von Mum einfach
nicht erwarten. Sie war dafür nicht stark genug. Sie wird vielleicht nie stark genug
sein.
Simon erwähnte meine Mutter in meiner Gegenwart nur ein einziges Mal. Nach
unserem ersten Treffen hatte ich mich gefragt, ob er überhaupt noch wusste, wer
sie war. Schließlich war sie bestimmt nicht die einzige Frau, die in den Genuss
einer Artemis-Sonderbehandlung gekommen ist. Es hätte mich nicht gewundert,
wenn sie für ihn nur eine verschwommene Erinnerung gewesen wäre. Doch
eines Tages schaute er auf mein Handydisplay, das aufleuchtete, weil ich eine
SMS-Benachrichtigung erhielt, und bemerkte meinen Bildschirmschoner: ein
Foto von Lottie mit meinen Schwestern auf dem Rasen vor unserem Haus.
»Deine Mutter?«, fragte er, und ich nickte unangenehm berührt. »Mannomann,
die Zeit ist echt knallhart zu den Weibern«, sagte er. »Mit fünfundzwanzig ziehst
du mit einem heißen Feger zusammen und wachst mit fünfzig neben deiner
Oma auf.« Mich erfasste eine weiß glühende Welle der Wut. Ich spürte, wie mir
die Hitze ins Gesicht schoss, trat den Barhocker um und stürmte hinaus. Später
in der Nacht schickte mir Simon eine Kiste Wein. Mein Mitbewohner Ben
schleppte sie in mein Zimmer und wollte wissen, wer für so ein Gesöff
fünftausend Pfund ausgab. Wenigstens war es guter Wein und nicht diese Plörre,
die er als Eigenmarke verhökerte. Den Wein hätte er sich sparen können: Der
Zug war abgefahren. Für mich stand fest, dass ich mit diesem
spätpubertierenden Vater endgültig fertig war. Ich beschloss, ihm einen Brief zu
schreiben, in dem ich mich für seine Hilfe bedankte, aber auch deutlich machte,
dass ich dreiundzwanzig Jahre mit einem wundervollen Dad verbracht hatte und
nicht nach einem Ersatz suchte. Als ich den Brief getippt hatte, fiel mir ein Stein
vom Herzen.
Und damit hätte auch schon alles vorbei sein können. Vermutlich wäre er kurz
ausgerastet, aber was hätte er schon tun sollen? Selbst wenn er es sich nicht
anmerken ließ, war meine Existenz eine potenzielle Bedrohung für sein
Familienleben, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das in seinen
Augen jemals ändern würde. Er würde seiner Frau oder seiner Tochter niemals
von mir erzählen. Und das sollte er auch gar nicht. Es wäre für uns beide besser,
von nun an getrennte Wege zu gehen. Ich war zuversichtlich, dass er das
irgendwann einsehen würde.
Doch in dieser Nacht kamen Simons Eltern bei einem Autounfall ums Leben.
Am nächsten Morgen rief er mich völlig aufgelöst an. Ich hatte den Brief in der
Tasche und wollte ihn auf dem Weg ins Büro einwerfen. Stattdessen nahm ich
mir frei – wegen eines Trauerfalls in der Familie, was nicht einmal gelogen war –
und fuhr nach Hampstead zu Simon. Seine Frau und seine Tochter seien in
Monaco, hatte er mich am Telefon schluchzend bekniet, ob ich nicht
vorbeikommen könne. Ich bin kein Unmensch, ich konnte den Mann nicht
einfach seinem Kummer überlassen. Also saßen wir in seiner geschmacklosen
Villa, wo uns eine kleine Vietnamesin Eistee und eine Unmenge an Keksen
servierte. Obwohl ich sehr hungrig war, blieben die Kekse unangetastet. Und
statt zum Eistee griff Simon lieber zu einer Flasche Whisky, aus der er das
goldumrandete Glas zu seinen Füßen immer wieder auffüllte. Er kauerte
zusammengesunken auf einem Sofa, umgeben von riesigen Quastenkissen, die
ihn zu verschlucken drohten. Ich hockte ihm gegenüber auf einem großen
Diwan und wünschte mir sehnlichst, irgendwo anders zu sein.
Zwischen Telefonaten mit seinem Bruder, einem Anwalt und seiner Assistentin
erging er sich darüber, dass Kathleen und Jeremy wahre »Juwelen« waren. Ich
sprach ihm mein Beileid aus und versuchte, ihm Trost zu spenden. »Ich weiß,
wie schwer es ist, einen Elternteil zu verlieren«, sagte ich. Das gefiel ihm gar
nicht, und er warf mir vor, ich wolle ihm ein schlechtes Gewissen machen. Ich
entschuldigte mich, versuchte, meinen eigenen Verlust herunterzuspielen, und
ärgerte mich dann über mich selbst.
Der Tag zog sich endlos hin, und die meiste Zeit saß ich allein im
Wohnzimmer, während Simon weitere Telefonate führte und noch mehr Whisky
trank. Um sechzehn Uhr murmelte er, dass Bryony auf dem Weg nach Hause sei,
was ich dankbar zum Anlass nahm, den Heimweg anzutreten. Ich war schon fast
an der Tür, da ergriff Simon meinen Arm und zog mich auf eine apricotfarbene
Chaiselongue im Flur. Dann erzählte er mir etwas, das mein Leben veränderte,
und zwar auf eine leicht verquaste und inkohärente Weise. Er erzählte mir von
dir, Grace.
Bis dahin hatte mich die Vorstellung, eine zweite Familie zu haben, eher
kaltgelassen. Simon war ein Mittel zum Zweck, und ich hatte bereits eine
Familie. Ich verspürte nicht das geringste Verlangen, Bryony oder ihre grässliche
Mutter kennenzulernen. Sie und ihr ganzes Leben konnten mir gestohlen
bleiben, und ich nahm an, dass sie auf mich genauso reagieren würden, sollten sie
je von meiner Existenz erfahren. Aber du warst etwas völlig anderes. Wie ich
warst du keine von ihnen. Und während Simon davon schwafelte, dass er den
Ansprüchen seiner Eltern nie gerecht werden konnte, erkannte ich, wie sehr
unsere Geschichten sich glichen. Unsere Mütter waren naive junge Frauen
gewesen, die sich von diesem Mann einlullen ließen. Und als es für ihn
unangenehm wurde, hatte er sie abgeschüttelt wie lästige Fliegen. Obwohl es
sicher auch seine Wahl gewesen wäre, scheint mir das Wort »unangenehm« für
zwei uneheliche Kinder von zwei verschiedenen Frauen möglicherweise ein
wenig schwach.
Ich weiß nicht, warum er dich erwähnt hat, Grace. Er war betrunken – aber das
war er zuvor bestimmt schon tausendmal gewesen, ohne irgendwem von seiner
totgeschwiegenen Tochter zu erzählen. Ich kann nur vermuten, dass es die
Trauer war. Trauer stellt mit den Menschen seltsame Dinge an, nicht wahr? Wie
im Fall meiner alten Tante Jean, die ihr Wissen über meinen wahren Vater
dreiundzwanzig Jahre für sich behielt und dann ausgerechnet bei seiner
Beerdigung damit herausplatzte, als würde es sie sonst zerreißen. Simon sagte
mir, seine Eltern hätten ihn gedrängt, das »Problem« zu lösen, und er habe Angst
gehabt, alles zu verlieren. Das war natürlich völliger Schwachsinn. Ein wahrer
Gentleman würde sein Kind niemals im Stich lassen, schon gar nicht zwei
Kinder, doch das konnte ich diesem betrunkenen Häuflein Elend schlecht an
den Kopf werfen. Stattdessen bestätigte ich ihn darin, dass er getan hatte, was er
für das Beste hielt, und nutzte die Gelegenheit, ihn vorsichtig über dich
auszufragen.
In seinem desolaten Zustand verriet er mir eben genug, um mich von meinem
Entschluss abzubringen, ihm doch noch den Brief zu überreichen. Sehr viel
wusste er nicht. Sein geheucheltes Bedauern nahm ich ihm nicht ab, und ich
kann mir nicht vorstellen, dass er deinen Werdegang wirklich verfolgt hat. Ich
hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht. Aber nach allem, was ich von dir weiß,
erscheint mir das eher unwahrscheinlich. Er wusste deinen Namen und wo du
aufgewachsen bist. Er wusste, dass du in der Modebranche tätig warst, und sah
darin anscheinend einen Beleg dafür, »dass der Apfel nicht weit vom Stamm
fällt«. Ich ließ mir durch nichts anmerken, dass mir diese Informationen etwas
bedeuteten. Dann telefonierte er mit seinem Bruder, dessen Haus in St. John’s
Wood der Firma gehörte. Ein Umstand, der Simon eine sicherlich willkommene
Gelegenheit bot, ihn eine halbe Stunde lang anzubrüllen – und mir die Chance,
mich zu verdrücken. Zu diesem Zeitpunkt warst du für ihn schon wieder in
weite Ferne gerückt.
Für mich nicht. Ich setzte mich in den nächsten Pub und klappte meinen
Laptop auf, um so viel wie möglich über dich herauszufinden. Ich muss schon
sagen, Grace, dein Online-Fußabdruck ist bemerkenswert klein. So klein, dass
man eigentlich misstrauisch werden muss. Man könnte den Eindruck
bekommen, dass du dich vor der Welt verstecken willst. Doch das gelingt nur bis
zu einem gewissen Grad, nicht wahr? Selbst dann, wenn du die sozialen Medien
meidest wie der Teufel das Weihwasser und scheinbar nie auch nur einen Blick
auf LinkedIn geworfen hast. Wozu ich dir nur gratulieren kann, denn dieser
Tummelplatz aufdringlicher Immobilienmakler und anderer Arschkrampen ist
der reinste Höllenpfuhl.
Ich kam sehr langsam voran, weil Simon mir deinen Nachnamen nicht genannt
hatte, und wenn ich ihn direkt danach gefragt hätte, wäre er womöglich
misstrauisch geworden – egal wie betrunken er war. Nachdem ich Stunden damit
verbracht hatte, nach jungen Frauen zu suchen, die in der Mode-PR arbeiteten
und den Vornamen Grace trugen, wurde ich schließlich doch noch fündig. Die
meisten von ihnen verrieten in den sozialen Medien genug über ihr Leben, um
sie leicht ausschließen zu können. Glückliche Fotos von ihren Familien? Von der
Liste gestrichen. Falsches Alter, falsche ethnische Zugehörigkeit, Wohnort zu
weit weg? Gestrichen. Schließlich stieß ich auf den Namen Grace Bernard. Auf
der Firmen-Website fand ich kein Foto, obwohl deine Kolleginnen
offensichtlich kein Problem damit hatten, sich ablichten zu lassen. Der
Nachname führte mich ein paarmal auf eine falsche Spur, bevor ich endlich über
eine mehr als zehn Jahre alte Meldung in der Islington Gazette stolperte. Es ging
um eine Frau namens Sophie, die sich für einen sicheren Schulweg engagierte,
nachdem es in ihrem Viertel immer wieder zu Überfällen auf Geschäfte
gekommen war. Auf einem körnigen Foto sah man, wie sie ein Protestplakat mit
der Aufschrift »Sichere Straßen für unsere Kinder« in die Höhe hielt. Neben ihr
standen ein leicht verwirrt dreinblickender Junge und ein Mädchen gleichen
Alters, das mürrisch in die Kamera starrte. Als ich das Foto genauer betrachtete,
bekam ich Herzklopfen, denn in der Bildunterschrift tauchte dein Name auf.
Der Junge wurde Jimmy genannt. Die wütende Frau bezeichnete euch beide als
ihre Kinder, was mich einen Moment lang verwirrte. Simon hatte mir erzählt,
deine Mutter sei gestorben. Tut mir leid, falls ich übermäßig neugierig wirke,
doch der Artikel warf Fragen auf, die ich mir zu diesem Zeitpunkt einfach noch
nicht beantworten konnte.
Nachdem ich die Fährte aufgenommen hatte, stattete ich deiner Arbeitsstelle
einen Besuch ab. Das klingt bestimmt ziemlich gruselig, aber du kannst mir
glauben: Ich war nervöser, als du es gewesen wärst, wenn du davon gewusst
hättest! Ich spekulierte darauf, dass du und deine Kolleginnen freitags früher
Feierabend machen würdet, um zusammen noch etwas trinken zu gehen. Also
legte ich mich um 17:00 Uhr auf die Lauer. Um 17:15 Uhr verließ eine Schar
Frauen das Gebäude und ging in kleinen Grüppchen die Straße hinunter. Um
17:32 Uhr entdeckte ich dich. Als du durch die Tür des Haupteingangs kamst,
wusste ich sofort, dass du es warst, denn du sahst mir ungeheuer ähnlich. Na gut,
diese Beschreibung wird dir nur sehr eingeschränkt gerecht, denn ich habe mir
beim Rugbyspielen zweimal die Nase gebrochen, und wenn man meiner Mutter
glaubt, sind meine Hände so groß wie Essteller. Aber ich habe dein Gesicht
sofort erkannt. Als hätte ich es schon eine Million Mal gesehen. Du bist zierlich,
dein Teint ist viel dunkler als meiner, und deine Augen sind eher grün, nicht
schiefergrau wie die von mir und meinen Schwestern. Trotzdem gab es keinen
Zweifel: Du warst die Grace Bernard, nach der ich suchte. Fast wäre ich über die
Straße gerannt, um dich anzusprechen, doch ich konnte mich gerade noch
zusammenreißen. Dich aus heiterem Himmel auf der Straße anzuquatschen,
wäre wohl kaum das beste Entree gewesen!
Ich weiß nicht, was ich mir damals erhofft habe. Vielleicht wollte ich dich nur
mal persönlich sehen. Und ich dürstete regelrecht nach Informationen. Dass ich
so lange nichts über meine wahre Herkunft wusste, hatte mich in meinen
Grundfesten erschüttert, denn ich bin der festen Überzeugung: Wissen ist
Macht. So viel wie möglich über dich in Erfahrung zu bringen, gab mir ein
Gefühl von Kontrolle. Ein Gefühl, das ich seit Christophers Tod kaum noch
gespürt hatte. Also folgte ich dir. Ich bin übrigens nicht stolz darauf. Für
Männer, die auf diese Weise Frauen nachstellen, habe ich eigentlich nichts als
Verachtung übrig. Ich fühlte mich wirklich schäbig dabei. In der U-Bahn hast du
mir direkt gegenübergesessen und an mir vorbei ins Leere geblickt. Ich bemühte
mich, dich möglichst unauffällig zu mustern und dir dabei nicht direkt ins
Gesicht zu schauen. Du trugst eine schwarze Hose und einen Lederblouson.
Während das komische, flauschige Top vermutlich ein modisches Statement war,
dienten die klobigen Loafers wohl in erster Linie dem Zweck, die Männer
einzuschüchtern. Bei mir hat es funktioniert. Vom Bahnhof folgte ich dir nach
Hause. Als im ersten Stock das Licht anging, starrte ich hinauf zu deiner
Wohnung, bis ich endlich die Kraft aufbrachte, mich loszureißen und beschämt
den Heimweg anzutreten. Das muss man sich mal vorstellen: Normalerweise
würde ich noch nicht mal für ein heißes Date bis nach Nordlondon fahren.
Obwohl ich es wirklich wollte, konnte ich einfach nicht damit aufhören. In den
nächsten Wochen trieb ich mich in jeder freien Minute bei dir in der Straße
herum. Ich hoffte, wenn ich mich weiter an deine Fersen heften würde, könnte
ich mehr über dich erfahren. Nachdem ich dich ein paarmal joggen gehen sah,
zog ich vorsichtshalber Turnschuhe an. Einmal folgte ich dir bis in ein Café, wo
du einen Kaffee bestellt hast – mit komischen Sonderwünschen. Du bist
offenbar kein besonders geselliger Mensch. In zwei Wochen hattest du nur einen
einzigen Besucher. Einen Mann, der dem Jungen auf dem Zeitungsfoto sehr
ähnlich sah.
Irgendwann wurde ich ungeduldig. Ich war kurz davor, dir eine E-Mail zu
schicken und mich zu offenbaren. Ich war mir zwar nicht hundertprozentig
sicher, ob ich die Büchse der Pandora wirklich öffnen sollte, aber es wäre sicher
vernünftiger, als dir weiter hinterherzuschleichen. Doch eines Abends änderte
sich alles. Wenn ich dich jemals für langweilig hielt, liebe Grace, dann hatte sich
das in diesem Augenblick erledigt.
Du warst mit einer ziemlich bunten Truppe in einem Pub. In deiner Begleitung
war ein Hippie-Typ, außerdem ein älterer Mann und eine stinknormal
aussehende junge Frau, die zwar wie eine Klette an dem Alten klebte, aber
offenbar weder seine Tochter noch seine Freundin war. Dein Verhältnis zu dem
Hippie schien mir auch nicht besonders innig zu sein, trotzdem hast du dich die
meiste Zeit des Abends mit ihm unterhalten. Ich bestellte mir ein Bier und
suchte mir einen Platz, der nah genug war, um das Gespräch mitzubekommen,
was mich allerdings auch nicht wirklich weiterbrachte. Ich glaube, es ging um
Molche.
Du bist vor den anderen aufgebrochen. Kurz darauf folgte dir der Typ im
Schlabberlook. Jetzt war meine Neugierde geweckt. Als ihr gemeinsam in einem
eingezäunten Naturschutzgebiet verschwunden seid, war ich endgültig verwirrt.
Ich wartete ein paar Minuten und kletterte dann über den Zaun. Da ich dachte,
ihr würdet ein Plätzchen für ein Tête-à-Tête suchen, und befürchtete, ich könnte
euch in flagranti ertappen – was unter Geschwistern wirklich nicht sein muss –,
hielt ich respektvoll Abstand. Deshalb konnte ich leider nicht hören, was auf der
hölzernen Terrasse an dem kleinen Teich gesprochen wurde. Dann passierte
etwas sehr Merkwürdiges: Der Typ hielt dir ein Streichholz an den Fuß, aber viel
mehr war in der Dunkelheit nicht auszumachen. Als ich so lange bewegungslos
am Boden gekauert hatte, dass ich bereits Krämpfe in den Beinen bekam, ging
plötzlich alles sehr schnell: Ehe ich wusste, was geschah, hattest du den Hippie
ins Wasser gestoßen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wollte zum
Wasser rennen und den armen Kerl herausziehen, doch meine Beine waren wie
gelähmt. Das war alles vollkommen verrückt. Erst hast du mit diesem völlig
harmlos aussehenden Kerl eine Flasche Wein geleert, und dann hast du ihn
einfach umgebracht. Warum? Während du seelenruhig hinter dir aufgeräumt
hast, wählte ich die Nummer der Polizei, drückte allerdings nicht auf die Anruf-
Taste. Ich folgte dir bis auf die Straße. Du hast dich zwar umgeblickt, konntest
mich im Schutz der Nacht aber nicht sehen. Als du verschwunden warst und ich
wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, entschied ich mich dagegen, die
Polizei zu informieren. Wie hätte ich begründen sollen, warum ich dort gewesen
bin? Ich kann Ihnen das erklären, Officer: Ich habe meine Schwester beschattet,
die allerdings noch nicht weiß, dass sie meine Schwester ist. Dann versteckte ich
mich hinter diesem schönen Busch, um zuzusehen, wie sie einen Kerl ertränkt.
Anschließend wartete ich, bis sie fertig gespült hatte und mit einem Taxi
verschwunden war. Keine gute Idee. Denn ganz egal, wie ehrenhaft meine
Absichten waren: Wäre ich zur Polizei gegangen, wäre ich unausweichlich in
diese schmutzige Geschichte hineingezogen worden, und davon wären auch
Lottie und die Mädchen nicht verschont geblieben. Was immer du getan hast,
war deine Angelegenheit. Aber mir ist dadurch klar geworden, dass meine vage
Hoffnung, irgendeine Form von persönlicher Beziehung zu dir aufzubauen, zum
Scheitern verurteilt war. Zu einer Frau, die Menschen in Teiche stößt, sollte man
keinen engen Kontakt pflegen – auch wenn Blut dicker als Wasser ist.
Zwei Tage später erfuhr ich von Simon, wen du getötet hattest. Sein Kummer
und Whiskykonsum hielten sich diesmal in Grenzen. Offenbar war er von
seinem Neffen nicht besonders angetan. Andrew hatte wohl psychische
Probleme und sich von seiner Familie abgewendet, und für Simon war er nur ein
Traumtänzer, der sich vor seiner Verantwortung drückte. Die Familie machte
um seinen Tod so wenig Aufhebens wie möglich. Eine Geheimniskrämerei, die
allein dazu diente, einen Skandal zu vermeiden – und mich darin bestätigte, alles,
was ich gesehen hatte, für mich zu behalten.
Du hattest also unseren Cousin umgebracht. Aber warum? Soweit ich das
beurteilen konnte, war er ein netter Kerl, der in keiner Beziehung zu dir stand.
Das Ganze konnte dir weder finanziell noch emotional viel gebracht haben. Ich
wurde einfach nicht schlau daraus. Mir schwirrte der Kopf, und dass ich mit
niemandem darüber sprechen konnte, machte es noch schlimmer.
Hätte ich damals einen Therapeuten konsultiert, wäre der wahrscheinlich zu
dem naheliegenden Schluss gekommen, dass ich Christophers Tod immer noch
nicht richtig verarbeitet hatte, und obwohl ich von diesem Psychoquatsch wenig
halte, hätte er damit wohl richtiggelegen. Dass Simon mich wieder extrem unter
Beschlag nahm und Lottie mich bei jedem Telefonat anflehte, wieder nach
Hause zu kommen, verstärkte den Druck, der auf mir lastete. Ich drehte
allmählich durch. Das äußerte sich unter anderem in der Besessenheit, mit der
ich mich bemühte, den Grund für deine Tat herauszufinden. Ich beschattete
dich weiter und fing sogar mit dem Laufen an, aber es ist nie etwas
Ungewöhnliches passiert. Nach dem Mord an unserem Cousin hast du dein
Alltagsleben wieder aufgenommen, als wäre nichts geschehen. Ein paar Monate
später änderte sich jedoch etwas: Plötzlich bist du mutterseelenallein durch
Nachtklubs und Bars gezogen. Ich tat es dir gleich, saß aber immer etwas abseits
und bemühte mich, möglichst wenig aufzufallen. Für einen durchschnittlich
aussehenden weißen Mann in einem schicken Lokal ist das nicht besonders
schwer. Ich bin offenbar einigermaßen anpassungsfähig, jedenfalls hast du mein
Gesicht nie wiedererkannt. Dabei war ich ständig in deiner Nähe. Doch du hast
ja auch nicht nach mir gesucht. Du warst auf der Jagd. Nach unserem Onkel, wie
sich herausstellte. Als mir das klar wurde, verstand ich allmählich, was vor sich
ging. Man könnte fast meinen, ich sei ein bisschen schwer von Begriff. Aber was
ich für Simon empfand, unterschied sich fundamental von deinen Gefühlen für
unseren Vater. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich mich in deine Lage
versetzen konnte. Und selbst dann gelang es mir nicht, den brennenden Hass
aufzubringen, der nötig war, um einen Plan wie den deinen auszuführen. Und du
hattest das alles von langer Hand geplant. Das verriet mir das Leuchten in deinen
Augen, wenn Lee eine Bar betrat, nachdem du dort stundenlang auf ihn gewartet
hattest.
Hundertprozentig sicher war ich mir allerdings immer noch nicht. Eine Zeit
lang dachte ich ernsthaft, du würdest irgendeinen bizarren Fetisch ausleben, bei
dem es darum ging, mit deinem eigenen Onkel zu schlafen. Tut mir wirklich leid,
dir solche Neigungen unterstellt zu haben – wobei du zugeben musst, dass es
durchaus seltsam ist, sich mit der eigenen Verwandtschaft im Sexklub zu
amüsieren. Trotzdem habe ich diese Nacht im Grunde genossen. Normalerweise
ist das nicht mein Stil, aber da ich auf keinen Fall auffallen wollte, schien es mir
angebracht, mich so gut wie möglich anzupassen. Ein Mann in Chinos sticht bei
einer Orgie wahrscheinlich eher hervor als ein Kerl in arschfreien Chaps bei der
jährlichen Haushaltssitzung. Die Maske gab mir das Gefühl, in eine Rolle zu
schlüpfen, und als du mit Lee in diesem Raum verschwunden bist, war ich
richtiggehend enttäuscht, dass ich den Spaß vorzeitig beenden musste.
Ich wusste sofort, was da drinnen vor sich ging. Ich wartete in dem
schummrigen Flur darauf, dass du den Raum wieder verlassen würdest.
Erinnerst du dich, wie ich dich von oben bis unten gemustert habe und unsere
Hände sich streiften? Ich war gleichermaßen entsetzt und beeindruckt.
Beeindruckt von der Kühnheit, einen Menschen in einem belebten Nachtklub zu
töten, und entsetzt darüber, dass du die Leiche einfach sich selbst überlassen
hast, damit jemand anders sie finden würde. Wie der Zufall es wollte, war ich
dieser Jemand. Auch ich habe seinen Leichnam natürlich sich selbst überlassen,
ganz hinter mir lassen konnte ich ihn allerdings nicht: Sein aufgeblähtes Gesicht
wird mir sicher noch lange im Kopf herumspuken.
Du warst dabei, unsere Familie umzubringen. Ich besaß keine Beweise dafür,
dass du Kathleen und Jeremy erwischt hattest. Doch es fiel mir nicht schwer, mir
vorzustellen, wie du nach Spanien fliegst, ein Auto mietest und sie von der
Straße rammst. Als blutige Anfängerin bist du offenbar noch etwas brachialer
zur Sache gegangen. Ich nehme an, du hattest stets den Plan, die Morde wie
Unfälle aussehen zu lassen. Ein Rentnerpärchen, das im Dunkeln über eine
Klippe rast, ist ein guter Start.
Was sollte ich mit dieser Information anfangen? Der Artemis-Clan war nicht
groß – von denen, die noch übrig blieben, hatten nur Simons Frau und Tochter
sowie seine Schwägerin Anspruch auf das Vermögen. Aber vielleicht warst du
gar nicht ausschließlich hinter dem Geld her. Wenn ich raten müsste, würde ich
sagen, es steckte mehr dahinter. Nach allem, was ich über dein Leben wusste,
war es nicht besonders aufregend. Du hattest kaum Freunde, keine große
Karriere – das ist gar nicht wertend gemeint – und nur eine kleine Wohnung in
einer eher unattraktiven Lage. Ich hatte fast den Eindruck, du würdest
absichtlich den Ball flach halten, bis … ja, bis was? Bis die Welt von der Artemis-
Plage erlöst und du endlich frei wärst, dein volles Potenzial auszuschöpfen? Mein
eigener Groll gegen Simon hielt sich in Grenzen, denn dank Lottie, Christopher
und meiner Schwestern hatte ich ein wundervolles Leben. Wenn Tante Jean
nicht gewesen wäre, hätte sich daran vermutlich nichts geändert. Und im Grunde
konnte ich jederzeit zu meinem alten Leben zurückkehren. Ein Luxus, den du
niemals hattest. Die Ungerechtigkeit deiner Situation hat bei dir zu einer
regelrechten Besessenheit geführt. Und sie ist in der Tat ungerecht, liebe Grace.
Denn von uns allen hast du es mit Abstand am schlechtesten getroffen.
Nachdem ein paar Tage verstrichen waren, hatte ich eine erhellende
Auseinandersetzung mit Simon, in deren Verlauf er mich anbrüllte, weil ich
mittwochmorgens um elf Uhr nicht sofort vom Schreibtisch aufsprang und zu
ihm eilte, wenn ihm gerade danach war. Ich kam zu der Einsicht, dass es mir
nicht zustand, dich daran zu hindern, das dir zugefügte Unrecht
wiedergutzumachen. Außerdem war mir klar geworden, dass du mir damit unter
Umständen sogar einen Gefallen erweisen würdest. Zwei Erkenntnisse haben
meine Entscheidung beeinflusst. Erstens: Ich wollte, dass Simon aus meinem
Leben verschwindet. Denn ich hatte inzwischen deutlich vor Augen, wie eine
Zukunft mit ihm aussehen würde. Er würde von mir verlangen, dass ich ihm zur
Verfügung stünde, wann immer er das Bedürfnis danach verspürte. In seinen
Augen hatte er ein Anrecht darauf, weil er mir das Geld gegeben hatte. Die bloße
Vorstellung war schier unerträglich für mich. Der zweite Punkt war, dass mir ein
Teil des Vermögens zustünde, falls es dir tatsächlich gelingen sollte, sie allesamt
auszuschalten. Du hast recht, Grace, das ist scheinheilig – ich wollte mit unserem
Vater nichts mehr zu tun haben, hatte aber kein Problem damit, einen Teil seines
Vermögens einzusacken. Na ja, was soll ich sagen: Geld stinkt nicht, schon gar
nicht nach seinem Vorbesitzer. Und ich würde mit diesem Vermögen natürlich
ganz anders umgehen als Simon, bei mir gäbe es keine schamlose
Zurschaustellung des Überflusses, keine goldenen Wasserhähne. Ich hatte immer
schon das Gefühl, dass es meine Bestimmung war, reich zu sein. Statt mich erst
mühsam hochzuarbeiten, konnte ich dieses Ziel dank deines Plans nun sehr viel
schneller und bequemer erreichen.
Was du getan hast, wäre mir von alleine niemals in den Sinn gekommen. Nicht
einmal, wenn ich mich so ungerecht behandelt gefühlt hätte wie du. Aber warum
sollte ich nicht trotzdem einen Vorteil daraus ziehen? Auf einer Moralskala von
eins bis zehn würde ich wohl irgendwo in der Mitte liegen. Ich glaube, wenn sie
ehrlich sind, müssten sich die meisten Menschen eingestehen, dass sie in meiner
Situation dieselbe Entscheidung getroffen hätten. Natürlich gibt das niemand
gerne zu – deshalb ist es für mich so befreiend, dass ich dir alles erzählen kann.
Du wirst mit niemandem darüber sprechen, da bin ich mir sicher. Nicht, weil ich
dir vertraue, sondern, weil du gezwungen bist zu schweigen.
Trotzdem wird es langsam Zeit, dass ich zum Ende komme. Den größten Teil
meiner Geschichte kennst du inzwischen – zumindest so viel davon, wie du
wissen musst. Also halte ich mich kurz. Ich habe weiterhin verfolgt, wie du
vorgegangen bist. Bei Janine hast du es ein wenig übertrieben … wenn ich das
sagen darf. Von der bloßen Schilderung ihres Todes wurde mir ganz flau im
Magen. Aufgrund deiner abrupten Abreise und weil ich mir so kurzfristig nicht
freinehmen konnte, war ich auch in diesem Fall nicht vor Ort, habe jedoch von
Simons Assistentin zeitnah erfahren, was passiert ist. Ich verstehe immer noch
nicht ganz, warum du Lara vom Haken gelassen hast. War sie ein zu kleiner
Fisch? Als Bryony starb, war ich natürlich auch nicht dabei, aber wie du sie dir
vom Hals geschafft hast, hatte Stil. Das war clever und effektiv. Nach ihrem Tod
geriet Simon völlig aus der Spur. Er hat Bryony geliebt. Ich glaube, Janine ödete
ihn nur noch an – seit Jahren schon. Wir beide sind wohl der lebende Beweis
dafür. Und Bryony war sein einziges Kind. Zumindest das einzige eheliche Kind.
Simon war seltsam altmodisch für ein Produkt unserer Zeit. Ehe, Kinder, die
Reputation, das war ihm alles ungeheuer wichtig. Und egal, wie grässlich wir
seine Tochter vielleicht fanden … sie war sein Ein und Alles. Neben dem
Schmerz über ihren Verlust zehrte eine stetig wachsende Paranoia an seinen
Nerven. Wobei man eigentlich nicht von Paranoia sprechen kann, wenn
tatsächlich jemand hinter einem her ist. Ständig musste ich zu ihm nach Hause
kommen, wo er bei geschlossenen Vorhängen auf dem Sofa kauerte, um dann
plötzlich aufzuspringen und manisch durchs Wohnzimmer zu tigern. Immer
wieder erzählte er, jemand bringe seine Familie um. Er ging zur Polizei,
engagierte einen Sicherheitsdienst, das volle Programm. Aber niemand nahm
seine Ängste ernst, was du vermutlich als Kompliment auffassen kannst. Alle
glaubten an eine Reihe von tragischen Zufällen – die Daily Mail widmete der
»vom Unglück verfolgten Unternehmerfamilie« sogar eine Doppelseite, auf der
sie minutiös protokollierte, wie übel das Schicksal dem Artemis-Clan mitgespielt
hatte. Dass ihm niemand glauben wollte, beruhigte unseren Vater keineswegs.
Ganz im Gegenteil. Er steigerte sich immer weiter hinein und stellte eigene
Theorien über den Serienmörder auf, der Jagd auf seine Familie machte. Simon
vermutete, es müsse sich um jemanden handeln, mit dem er geschäftlich zu tun
hatte. Er nannte keinen Namen, hatte aber offensichtlich jemanden im Sinn, der
ihm gewaltige Angst einflößte.
In dieser Zeit schlüpfte ich in die Rolle des pflichtbewussten Sohnes und
schlief bei Simon in Hampstead. Oft weckte er mich mehrmals pro Nacht, um
mir weiszumachen, dass wieder jemand versucht hatte, ihn zu töten. Und immer
war es reine Einbildung: ein Mann, der am Zufahrtstor auf ihn »lauerte«, oder ein
Auto, das »verdächtig« nah am Büroeingang parkte. Für ihn war alles verdächtig.
Wenn irgendwo ein Fenster klapperte, bekam der Mann einen
Nervenzusammenbruch. Natürlich nur rein theoretisch, denn sollten die Fenster
in seinem Haus jemals geklappert haben, so waren sie schon lange durch stabile
Doppelverglasung ersetzt worden.
In der Hoffnung, dass ich sie mit deiner Hilfe nicht sehr lange innehaben
würde, arrangierte ich mich notgedrungen mit meiner neuen Position als Simons
engster Verwandter und Vertrauter. Ich half bei der Organisation all der
unerfreulichen Dinge, die nach dem Tod eines Menschen erledigt werden
müssen. Und ich war zur Stelle, wenn er jemanden brauchte, den er anschreien
und an dem er seinen Frust auslassen konnte, was ziemlich oft der Fall war. Im
Laufe der Wochen wurde er immer unerträglicher, und soweit ich das beurteilen
konnte, hattest du bislang wenig unternommen, um dem ein Ende zu setzen.
Hin und wieder sah ich dich vor der Toreinfahrt herumlungern. Das war nicht
gerade subtil, liebe Grace. Egal, wie gut der Plan war, den du in der Schublade
hattest: Ich zweifelte langsam daran, dass es dir gelingen würde, in Simons Nähe
zu kommen. Er hatte seine ohnehin schon immensen Sicherheitsvorkehrungen
noch einmal verschärft und wurde immer von bulligen Leibwächtern beschützt,
die dir mit dem kleinen Finger das Genick gebrochen hätten, wenn du ihm zu
nahe gekommen wärst.
Allmählich wurde ich wütend auf dich, was ganz schön verrückt ist, nicht wahr?
Ich hatte gehofft, mich mit deiner Hilfe aus meiner schrecklichen Lage zu
befreien, aber du wolltest einfach nicht mitspielen. Ich hatte damals kaum
Gelegenheit, mich weiter an deine Fersen zu heften, denn Simon wurde immer
aggressiver, unberechenbarer und immer abhängiger von mir. Wenn ich doch
einmal die Zeit fand, dir zu folgen, dann meistens zu Restaurantbesuchen oder
bei einem deiner langen Läufe, und ich gewann immer mehr den Eindruck, dass
du dein Ziel aus den Augen verloren hattest. Es schien, als würdest du auf der
Stelle treten.
Ich konnte kaum noch vernünftig meine Arbeit machen, weil Simon alle fünf
Minuten anrief – weinend oder betrunken oder beides. Wenn ich mein Handy
ausschaltete, schrieb er mir eine E-Mail. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn
ich einen Blick in meinen Posteingang warf. In meinem Job bin ich ein
Perfektionist, und weil ich finde, dass ein Mensch an seiner Leistung gemessen
werden sollte, ärgerte es mich umso mehr, dass ich nicht mein volles Potenzial
abrufen konnte. Die Bonuszahlungen standen kurz bevor, und mit jedem
privaten Telefonat, das mein Chef mitbekam, sah ich meine Gratifikation
schrumpfen.
Mit meiner seelischen Gesundheit ging es eindeutig bergab – für mich eine
völlig neue Erfahrung. Ich bekam kein Auge mehr zu und verlor immer mehr
Gewicht, ganz egal, wie viel ich aß. Ich fühlte mich in die Enge getrieben, wie ein
Fuchs in seinem Bau. Apropos: Zum Jagen fand ich überhaupt keine Zeit mehr.
Sogar das hatte Simon mir ruiniert. Er gab einfach keine Ruhe, und seine
Hartnäckigkeit kannte keine Grenzen. Schließlich zog ich die Notbremse. Ich
fuhr zu ihm und machte unmissverständlich deutlich, dass ich so nicht mehr
weitermachen konnte. Ruhig, aber bestimmt sagte ich ihm, dass sein
entsetzliches Benehmen nicht mehr zu ertragen sei und ich mich von ihm keinen
Moment länger wie eine seiner persönlichen Assistentinnen behandeln lassen
würde. Ich redete so lange, bis er wieder in Tränen ausbrach, doch dieses Mal
ließ ich mich nicht beirren. Als er merkte, dass ich nicht weich wurde und ihn
auch nicht trösten würde, versiegten die Tränen erstaunlich schnell. Er ging
hinüber zum Schreibtisch und setzte sich. Ich rieb ihm all das unter die Nase,
was ich an ihm als unhöflich, rücksichtslos und untragbar empfand, und steigerte
mich so hinein, dass ich nicht mehr darauf achtete, was er tat. Bis er dann
plötzlich vor mir stand und mir ein Stück Papier in die Hand drückte. Es war ein
Scheck über 500.000 Pfund. Das verschlug mir die Sprache. Ein paar Sekunden
lang starrte ich Simon mit offenem Mund an.
»Der gehört dir«, sagte er, »wenn du mich eine Woche nach Saint- Tropez
begleitest. Ich muss für ein paar Tage das Land verlassen, einfach eine Weile die
Füße still halten, mein Sohn. Und dabei will ich nicht alleine sein. Jetzt sag mir
nicht, damit wäre deiner Mutter nicht geholfen. Was ist mit deinen Schwestern,
Henry? Die können das Geld gut gebrauchen. Nur für eine Woche oder so.« Ich
schwieg, wog die Vor- und Nachteile gegeneinander ab, und er beobachtete mich
dabei ungeduldig mit zusammengekniffenen Augen. »Willst du mit mir
verhandeln, ist es das? Einen besseren Beweis, dass du mein Sohn bist, gibt es
eigentlich nicht. Also gut, ich mache es offiziell. Du bekommst sogar ein Erbteil.
Ist das nicht genau das, was du willst? Letzten Endes will doch jeder nur das eine
von mir.« Da hatte er nicht ganz unrecht. Leider erkannte er den Grund dafür
nicht: Simon hatte außer Geld nichts zu geben.
Anfangs hielt er sich sehr bedeckt, was den Grund für seine überhastete
Abreise anging. Doch sosehr er sich auch bemühte, es zu verschleiern – bald
wurde klar, dass sein Unternehmen ins Visier irgendwelcher Behörden geraten
war. Seine Berater legten ihm dringend nahe, für eine gewisse Zeit abzutauchen.
Ich fragte mich, welcher Unternehmenszweig wohl am meisten Dreck am
Stecken hatte. Die Fluggesellschaft schien mir ein aussichtsreicher Kandidat zu
sein, aber nachdem ich Simons Geschäftspraktiken hautnah miterlebt hatte, kam
eigentlich jeder infrage. Jedenfalls stand fest, dass die Kacke sprichwörtlich am
Dampfen war. Ich wollte mich nicht noch tiefer in seine zwielichtigen
Machenschaften hineinziehen lassen, und dass ich wider besseres Wissen nicht
schon viel früher auf Abstand gegangen war, beschämte mich. Gleichzeitig
konnte ich so viel Geld unmöglich ignorieren, und ich wäre ein Narr gewesen,
wenn ich es getan hätte. Deshalb stieg ich keine sechs Stunden später aus einem
Privatjet und trat in die laue französische Luft hinaus. Wenn ich gewusst hätte,
was passieren würde, wäre ich vielleicht so schlau gewesen, darauf zu bestehen,
dass Simon dem Scheck noch ein paar Nullen hinzufügte.
kapitel 17

12 Uhr

Es ist vorbei. In Kürze werden die letzten vierzehn Monate nur noch eine
bizarre Fußnote meines Lebens sein. Kelly wünschte mir Glück, als ich aufbrach,
um die Entscheidung des Gerichts zu hören.
»Ich werde dich vermissen, Gracie. Komm mich doch mal besuchen. Im
nächsten Workshop schnitze ich dir einen Löffel, haha.« Sie umarmte mich so
fest, dass sich ihre langen Nägel in meinen Rücken bohrten. Ich ließ sie fünf
Sekunden gewähren, bevor ich ohne einen Blick zurück durch die Zellentür
marschierte. Als George Thorpe nach dem Gerichtstermin in den Besucherraum
kam, war sein Gesicht rot vor Stolz. Während mein Anwalt persönlich erleben
durfte, wie meine Verurteilung aufgehoben wurde, konnte ich diese letzte
Sitzung nur per Videoschaltung verfolgen. Das beraubte mich zwar eines
hochdramatischen Moments vor der Richterbank, ersparte mir aber auch das
unvermeidliche Mediengedränge. Dadurch habe ich nun die Möglichkeit, die
Presse nach meinem eigenen Zeitplan mit Informationen zu versorgen. Ein klein
wenig enttäuscht war ich dennoch. Statt des großen Auftritts bekam ich eine
linkische Umarmung meines Anwalts, das Versprechen, mich zu einem
abschließenden Gespräch zu treffen, sowie eine Einladung zum Essen, die ich
definitiv nicht annehmen werde. Sogar die diensthabende Vollzugsbeamtin ließ
es sich nicht nehmen, mir zu gratulieren. Nicht gerade hollywoodreif, aber trotz
allem ein akzeptables Happy End. Ich habe erreicht, was ich mir Marie zuliebe
vorgenommen hatte. Und jetzt bin ich frei.

16 Uhr

Ich bin zu Hause! Meine Entlassung verlief ungewöhnlich schnell, was mich
wirklich überrascht hat, denn ich war längst daran gewöhnt, dass es im
Justizvollzug Monate dauern kann, bis kleinste Entscheidungen gefällt oder gar
umgesetzt werden. Ich glaube, meine Pritsche wurde dringend gebraucht. Ich
kann mir lebhaft vorstellen, wie Kelly auf dem Bett ihrer neuen Zellengenossin
sitzt und in den leuchtendsten Farben von ihrer letzten Mitbewohnerin erzählt.
Ich musste mich so beeilen, meine Sachen zu packen, dass ich viel früher als
geplant vor dem Gefängnistor stand. Deshalb war Jimmy auch nicht da, um
mich abzuholen. Das nahm ich allerdings gerne in Kauf – vor allem als mir klar
wurde, dass die übereilte Entlassung dazu diente, mich vor den Paparazzi zu
schützen. Dafür war ich ehrlich dankbar, denn wenn man nach vierzehn
Monaten im Gefängnis aus der dunklen Zelle ins Sonnenlicht hinaustritt, sieht
man nicht unbedingt kameratauglich aus. Und tatsächlich war der Himmel
strahlend blau. Ich nahm mir ein Taxi und starrte die ganze Fahrt über grinsend
aus dem Fenster. Die Wohnung war angenehm warm und still. Alles sah genauso
aus, wie ich es zurückgelassen hatte. Sophie hatte sogar ihre Reinigungsfrau
vorbeigeschickt. Auf dem Esstisch warteten eine Flasche Brunello und eine
Portion Tiramisu aus dem örtlichen Feinkostladen auf mich. Ich nahm beides
mit in die Wanne und gönnte mir ein zweistündiges Bad mit Le-Labo-Öl. Es war
so wundervoll, dass ich völlig in Verzückung geriet. Als Nächstes werde ich
meine Post durchgehen und mich dann mit Jimmy in der Brasserie du Balon zu
einem angemessen opulenten Essen treffen. Endlich zeigt mir das Leben seine
Schokoladenseite, und ich kann es in vollen Zügen genießen.
kapitel 18

Gott, was für ein Schlamassel, Grace. Was für ein grässliches Schlamassel. Die
ganze Angelegenheit entwickelte sich zu einer grotesken Farce, nur dass
niemandem nach Lachen zumute war. Als Simon an unserem ersten Tag in
Frankreich auf dem Sofa im Billardzimmer einschlief, flüchtete ich auf die
Terrasse und bat einen verschüchterten Angestellten, mir einen Kaffee zu holen.
Ich streckte mich in der Sonne aus und versuchte, den Gedanken auszublenden,
dass er aufwachen und mich finden könnte. Ein paar Minuten lang starrte ich auf
das Meer hinaus und wunderte mich, wie wenig ich diesen schönen Ort genießen
konnte. Diesen sonnigen Ort für zwielichtige Gestalten, wie irgendein
Schriftsteller ihn mal nannte. Und ehe ich michs versah, griff ich aus purer
Gewohnheit zum Handy. Ich öffnete die BBC-App und scrollte durch die News.
Nach Meldungen über diverse Krisen, Konflikte und einen unbedeutenden
Tory-Abgeordneten, der seine Assistentin vögelte, fiel mein Blick auf das Foto
einer attraktiven jungen Frau, deren Tod laut Bildunterschrift »noch immer für
Trauer und Entsetzen sorgte«. Sie war von einem Balkon in die Tiefe gestürzt,
und zwar offenbar, nachdem du sie gestoßen hattest. Trotz der brummenden
Hitze wurde mir abwechselnd heiß und kalt, mein Kopf dröhnte, und meine
Ohren fiepten. Konnte es wirklich sein, dass ich mich so in dir getäuscht hatte?
Nein, unmöglich, du warst doch ein kaltblütiger Racheengel. So ein Mord aus
Leidenschaft war überhaupt nicht dein Stil. Der Erfolg deiner jahrelangen harten
Arbeit war zum Greifen nah, warum hättest du ihn aufs Spiel setzen sollen, um
eine Nebenbuhlerin loszuwerden? Wie kann man so dumm sein? Ich möchte
wirklich nicht sexistisch erscheinen, aber ich finde einfach keine andere
Erklärung für diese hitzköpfige Reaktion. Wie wolltest du unter diesen
Umständen noch an Simon herankommen?
Nachdem ein paar Stunden verstrichen waren, in denen ich trotz aller
Bemühungen nicht viel mehr herausfinden konnte, hörte ich Simon aus dem
Wohnzimmer nach mir rufen und sah mich gezwungen, meine Recherche
vorerst einzustellen. Da er aufgrund seiner Paranoia inzwischen praktisch auf
einem anderen Planeten lebte, machte ich mir keine großen Sorgen, dass er von
deiner Verhaftung Wind bekommen könnte. Es war wahrscheinlicher, dass er
YouTube-Videos über Außerirdische glotzte, als dass er die Nachrichten
verfolgte. Ich verbrachte zwei scheußliche Tage mit ihm in seiner Villa, wo er
sich eine erstaunliche Menge Kokain durch die Nase jagte und sich weigerte, die
Vorhänge zu öffnen, weil er befürchtete, jemand würde ihn beobachten. Aus
Respekt vor seinen Wutausbrüchen hüteten sich seine Leibwächter, das Haus zu
betreten. Die arme Haushälterin, der man unseren Besuch nicht angekündigt
hatte, flüchtete sich in ihr Zimmer, nachdem Simon ihr eine Vase an den Kopf
geworfen hatte, weil die Betten nicht aufgeschüttelt waren. Wir beide waren also
völlig allein. Wenn ich mich in einen anderen Teil des Hauses zurückziehen
wollte, marschierte er schimpfend hinter mir her, faselte von einer
Verschwörung und bekniete mich, dass »wir die Bastarde aufhalten müssen«. Ich
sagte mir immer wieder: Halt durch, Henry, nur noch wenige Tage, dann kannst
du deiner Familie eine halbe Million Pfund überweisen. Aber du kannst mir
glauben: Das waren die längsten paar Tage meines Lebens. Am dritten Morgen
wachte ich auf und sah Simon mit blutunterlaufenen Augen vor meinem Bett
stehen. Sein Hemd war schmutzig und zerfetzt. Er war eindeutig die ganze
Nacht wach gewesen und stank nach Whisky.
»Wir verschwinden von hier. Im Haus und im Garten sind überall Kameras.
Die Jacht wartet, pack deinen Kram zusammen, mein Sohn.« Inzwischen rollten
sich mir die Zehennägel hoch, wenn er mich »Sohn« nannte. Voller Wehmut
dachte ich an den guten Christopher. Ohne meine Antwort abzuwarten, eilte
Simon davon, knallte mit den Türen und schnappte sich seinen Koffer.
Die Jacht war eine Monstrosität. Ich habe in meinem ganzen Leben noch
nichts Vergleichbares gesehen. Das Ding hatte mehr Ähnlichkeit mit einem
schwimmenden Luxus-Wohnmobil als mit einem Schiff: Chrom und Glas,
wohin das Auge blickte. Einmal an Bord, schien Simon sich Gott sei Dank
wieder zu beruhigen. Er schlief sofort auf der Couch ein, um erst wieder
aufzuwachen, als das Abendessen serviert wurde, das wir größtenteils
schweigend verspeisten. Während des Essens trank er ein Glas Wein nach dem
anderen: »Chic Chablis« von seinem eigenen Weingut, erklärte er voller Stolz,
und ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht angewidert die Nase zu
kräuseln. Im Ernst: Dieser Wein sagt doch alles über ihn! Beim Dessert begann
meine Hand plötzlich zu zucken. Beunruhigt bemühte ich mich, das Zittern
unter Kontrolle zu bekommen, doch Simon bemerkte es und machte sich über
mich lustig. Für so einen großen Kerl sei ich ein ganz schönes Weichei, lachte er.
Stumm löffelte ich meinen Nachtisch in mich hinein. Mein Herz raste, und
meine Ohren brausten. Nach dem Essen, er war schon sichtbar betrunken, rief
er lauthals nach dem Kapitän und trug ihm auf, das Speedboot abfahrbereit zu
machen. Der Mann spürte offensichtlich, dass Simon nicht mit sich reden lassen
würde. Also schenkte er sich die warnenden Worte, die ihm – nach seiner
besorgten Miene zu urteilen – bereits auf der Zunge lagen. Ein Steward, der
gerade den Tisch abräumte, warf mir einen vielsagenden Blick zu. Daraufhin
versuchte ich, unseren Vater von seinem Vorhaben abzubringen, und erklärte,
dass ich überhaupt nicht in der Stimmung für einen Ausflug sei. Simon winkte
nur verärgert ab. »Du bist auf meine Kosten hier, Henry. Wir machen jetzt eine
Bootstour, ob es dir nun passt oder nicht!«
Er öffnete eine weitere Flasche Chic Chablis, packte sie unter den Arm und
torkelte die Treppe zum Motorboot hinunter. Mir blieb nichts anderes übrig, als
ihm mit einem flauen Gefühl im Bauch zu folgen. Als wir in der Dunkelheit auf
das pechschwarze Meer hinausrasten und er irgendetwas Unverständliches in
den brausenden Fahrtwind brüllte, klammerte ich mich mit beiden Händen an
der hinteren Sitzbank fest. Nach etwa fünfzehn Minuten verlangsamte er das
Boot, bis es schließlich schaukelnd zum Stehen kam. Die Hand an der Reling,
tastete er sich taumelnd zu mir nach hinten, bemerkte meinen verstörten
Gesichtsausdruck und lachte sich schlapp. Ich gebe zu, mir war ziemlich mulmig
zumute. Boote waren noch nie mein Ding, und als wir schaukelnd durch die
scheinbar endlose Schwärze kurvten, wurde mir richtiggehend übel. Ich hatte die
Nase gestrichen voll. Von ihm, von diesem Boot und von jedem einzelnen Tag
dieses Lebens, das ich führte, seit ich ihn kennengelernt hatte.
Simon setzte sich neben mich und zog mich breit grinsend an sich. »Reiß dich
zusammen, Henry. Scheiße, ich versuch hier, eine Vater-Sohn-Beziehung
aufzubauen! Versuch doch wenigstens mal, ein bisschen Spaß zu haben!«
»Habe ich aber nicht«, entgegnete ich mit so viel Würde, wie ich noch
aufbringen konnte, und versuchte, mich dabei nicht zu übergeben. »Ganz im
Gegenteil. Ich will sofort zurück auf die Jacht.«
Er schnitt eine Grimasse. »Das ist langweilig, Daddy. Ich will zurück auf die
Jacht«, ahmte er mich nach. »Du hast dich ganz schön schnell an meinen
Lebensstil und an mein Geld gewöhnt. Tu wenigstens so, als ob dir meine
Gesellschaft irgendwas bedeuten würde.« Er rülpste mir ins Gesicht und brüllte
vor Lachen. »Aber du kannst nicht über deinen eigenen Schatten springen, oder?
Du bist genau wie deine Mutter. Die hat auch so getan, als wäre sie die Tugend
in Person. Dabei war sie nur auf der Suche nach einem reichen Mann, für den sie
die Beine breit machen konnte.«
Ich stand auf, packte ihn am Kragen, zerrte ihn von der Bank hoch und riss
ihm die Pulle mit dem widerlichen Wein aus der Hand. Ich hatte nur noch einen
Gedanken im Kopf: Er sollte endlich die Klappe halten! Mit einer Kraft, von der
ich nur annehmen kann, dass sie von meiner aufgestauten Wut herrührte, zog ich
ihm die Flasche über den Schädel. Da war wieder dieses vertraute Brausen im
Ohr, bevor es von einem lauten Klatschen übertönt wurde. Im Wasser konnte
ich einen Arm erkennen und hörte ein röchelndes Gurgeln. Ich schaltete die
Taschenlampe meines Handys ein und leuchtete damit an der Bootswand
entlang. Simon klammerte sich mit zwei Fingern an der Seite fest, wirkte aber
ansonsten völlig schlaff und bewegungslos. Blut rann ihm in breiten Strömen aus
der Stirn ins Gesicht, sammelte sich unter der Nase und lief beim Atmen in den
Mund. Das verursachte dieses eklige, blubbernde Geräusch, das ich immer noch
in den Ohren habe, wenn ich an diesen Moment denke. Er hielt sich mit letzter
Kraft über Wasser, während er an seinem eigenen Blut erstickte. Ich wollte eben
nach seinem Arm greifen, um ihn ins Boot zu ziehen, da passierte etwas
Eigenartiges. Ich musste an dich denken, Grace. Daran, was du getan hattest und
wie sehr du dich bemüht hattest, an diesen Mann heranzukommen. Und dass
deine Chance auf Erfolg inzwischen so gut wie vorbei war. Ich dachte daran, was
Simon Artemis unseren Müttern angetan hatte. Welche Qualen sie erleiden
mussten. Und schließlich dachte ich an die Qualen, die ich in den letzten Tagen
und Wochen erlitten hatte. Wenn ich ihn aus dem Wasser zog und zur Jacht
zurückbrachte, könnte er zur Polizei gehen. Viel schlimmer war allerdings die
Vorstellung, dass er mir meine Tat die nächsten zwanzig Jahre lang vorhalten
und sie als Druckmittel nutzen würde, um mich an ihn zu binden.
Es war ein Unfall. Ich hätte es niemals über mich gebracht, etwas so
Abscheuliches zu planen oder kaltblütig Gewalt anzuwenden. Leider hatte er
mich bis aufs Blut gereizt, und wir alle haben unsere Grenzen, nicht wahr? Es lag
nicht in meiner Absicht, ihn sterben zu lassen, wirklich nicht. Es passierte
einfach so. Als würde ich mir selbst aus einiger Entfernung dabei zusehen,
beugte ich mich zu ihm hinunter und löste seine Finger von der Bordwand.
Dann gab ich ihm einen winzigen Schubs, sodass er ein Stückchen abtrieb. Er
starrte mich mit aufgerissenen Augen an, brachte aber kein Wort mehr heraus.
Dann setzte ich mich wieder hin.
»Wenn du noch einmal versuchst, dich am Boot festzuhalten, dann starte ich
den Motor und verschwinde. Also lass es lieber bleiben. Halt einfach ein paar
Minuten durch, und dann ziehe ich dich wieder an Bord. Das wird dir eine Lehre
sein. Sonst wirst du nie lernen, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen«,
sagte ich zu ihm und wischte mir dabei einen winzigen Blutfleck von den
Fingerknöcheln. Simon war schon zu weit entfernt, um aus eigener Kraft die
Bootswand zu erreichen. Es dauerte drei Minuten, bis sein sandfarbenes Haar
unter der Wasseroberfläche verschwunden war. Ich saß bloß da und blickte zu
den Sternen hinauf. Nachdem er vollständig verschwunden war, schmiss ich die
Weinflasche hinterher – ein mehr als angemessenes Schicksal für diese Plörre.
Danach wartete ich dreißig Minuten, um sicher zu sein, dass er nicht plötzlich
wieder auftauchen würde. Du erinnerst dich bestimmt daran, mit unserem lieben
Cousin Andrew ganz ähnlich verfahren zu sein. Woher soll man auch wissen,
wann man auf der sicheren Seite ist? Schließlich fuhr ich mit dem Speedboot
zurück zur Jacht. Ich bin ein erschreckend schlechter Navigator – es dauerte eine
geschlagene Stunde, bis ich wieder an Bord war und die Besatzung
zusammengetrommelt hatte. Ich erzählte ihnen, dass Simon die Kontrolle über
das Boot verloren hatte und dabei über Bord gegangen war. Da ich keinen
Handyempfang hatte, sei ich gezwungen gewesen, das Gebiet eine Stunde lang
alleine abzusuchen – in der verzweifelten Hoffnung, ihn vielleicht doch noch
lebend zu finden. Leider ohne Erfolg. Der Kapitän wirkte nicht sonderlich
überrascht. Dass Simon schon beim Ablegen von der Jacht restlos betrunken
war, spielte mir in die Karten. Auch die Such- und Rettungsmannschaften
fanden keine Spur von ihm. Doch ich hielt jedes Mal den Atem an, wenn über
Funk ein neuer Lagebericht kam.
Nach vierundzwanzig Stunden war alles vorbei. Niemand zog meine
Schilderung der Ereignisse in Zweifel. In den Zeitungen wurde ich meistens als
Simons Assistent bezeichnet, allerdings kein einziges Mal namentlich genannt.
Das war eine große Erleichterung, denn ich wollte unbedingt vermeiden, dass
meine Mutter sich Sorgen machte oder die Mädchen Probleme in der Schule
bekamen. Lara Artemis meldete sich bei mir, um mir für meine Diskretion zu
danken. Sie war so nett und freundlich, dass ich ihr schließlich von meiner
wahren Verbindung zu Simon erzählte. Besonders überrascht wirkte sie nicht.
Ich nehme an, sie kannte ihn zu lange und zu gut, um sich über ein uneheliches
Kind zu wundern. Und Simons DNA-Test war Beweis genug. Lara ist eine
reizende Frau, Grace. Es tut mir wirklich leid, dass du sie nie kennenlernen wirst.
Sie ist jetzt für das Familienvermögen verantwortlich und zeigte sich mir
gegenüber großzügiger, als ich es mir je erhofft hätte. Simons Scheck habe ich
selbstverständlich eingelöst, und meine Familie ist nun so gut abgesichert, wie
ich es mir nur wünschen kann. Lara war sogar schon ein paarmal zum Lunch bei
uns. Obwohl es immer unausgesprochen blieb, glaube ich, dass sie und meine
Mutter sich als Schicksalsgefährtinnen betrachten. Sie gehören zu der kleinen
Gruppe von Frauen, die ihre Verbindung zu den Artemis-Brüdern überlebt
haben.
Du fragst dich bestimmt, warum ich dir das alles erzähle. Nun, zum einen
wollte ich dich wissen lassen, wie Simon wirklich gestorben ist. Ich dachte, wenn
du erfährst, dass ich den Staffelstab übernommen habe, um zu Ende zu bringen,
was du begonnen hast, dann hättest du vielleicht weniger das Gefühl, versagt zu
haben. Es ist schon witzig, aber man könnte fast sagen, wir waren ein Team. Das
Timing hätte kaum perfekter sein können: Als ich auf der Bildfläche erschien,
hattest du mit so vielen Problemen zu kämpfen, dass es dir fast unmöglich
gewesen wäre, Simon selbst zu töten. Ach, seien wir doch ehrlich: Du hättest es
niemals geschafft. Beim Rest der Sippe hast du ganze Arbeit geleistet, das muss
ich dir lassen. Simon hingegen war ein völlig anderes Kaliber. Um ihn
umzubringen, brauchte es mehr als einen unausgegorenen Plan und eine Schippe
Glück. Und mehr hattest du noch nie zu bieten. Oder liege ich da etwa falsch?
So viel zum nobleren, hoffentlich zufriedenstellenden Teil meiner
Beweggründe. Doch in allererster Linie schreibe ich, um dir zu sagen, dass du es
nun gut sein lassen solltest. Dir ging es vor allem um Rache, das kann ich
wirklich gut nachvollziehen. Und mit ein wenig Unterstützung durch meine
Wenigkeit hast du deine Rache bekommen. Jetzt wird es Zeit, dich dem Leben
zu öffnen: Zieh endlich mit deinem alten Kumpel Jimmy zusammen. Es gibt
durchaus Menschen, liebe Grace, die bereit wären, dir ihr Herz zu schenken,
wenn du sie nur lassen würdest. Schreib ein Buch über die Zeit im Gefängnis –
die Verlage werden sich um dich reißen. Doch mit allem anderen ist hier
Schluss. Ich werde niemals zulassen, dass du gefährdest, was ich mir aufgebaut
habe. Denn Lara hat mir nicht nur einen beträchtlichen Teil des
Familienvermögens überlassen, sie hat mich auch zum Finanzdirektor einer
neuen Stiftung ernannt, die wir gemeinsam leiten werden. Noch ist es nicht
offiziell, aber wir arbeiten zielstrebig darauf hin. Bald ist es so weit. Sie hat ihr
Interesse am Tierschutz verloren, was mir nur recht ist, denn ich persönlich
finde unser neues Projekt sehr viel interessanter. Ich kann nicht behaupten, dass
ich viel über Flüchtlingskinder weiß. Doch ich freue mich schon jetzt darauf,
alles, was in der Bankenwelt Rang und Namen hat, zu unseren Benefiz-Dinnern
einzuladen, um unsere illustren und großzügigen Gäste davon zu überzeugen,
für einen guten Zweck ihre Brieftaschen zu öffnen. Wir werden bekannte
Unternehmen mit ins Boot holen und eng mit der Finanzbranche
zusammenarbeiten, um die Stiftung so groß und populär zu machen wie die der
Rothschilds. Im Gegensatz zu allem, bei dem Simon seine Hände im Spiel hatte,
wird dieses Projekt überall großes Ansehen und hohes Renommee genießen.
Unter Laras Ägide wird ganz sicher kein billiger Chablis versteigert.
Ich respektiere dich zu sehr, um zu glauben, du würdest nicht versuchen, mir in
die Quere zu kommen. Deshalb habe ich einen kleinen Plan ausgeheckt,
während du im Gefängnis warst. Ich hoffe, du verzeihst mir meine etwas
unsportliche Vorgehensweise, aber du kannst bestimmt nachvollziehen, dass ich
Sicherheiten brauche. Als ich erfuhr, dass du deine Zeit in Limehouse absitzt,
engagierte ich einen billigen Privatdetektiv, um herauszufinden, mit wem du
deine Zelle teilst. Das war leichter als gedacht. Offenbar hatte Kelly halb
Islington erzählt, dass sie die Glückliche war, die mit der berüchtigten Grace
Bernard zusammenwohnen durfte. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem ich darum
bat, sie besuchen zu dürfen. Da ich ihr ein erkleckliches Sümmchen in Aussicht
stellte, willigte sie natürlich ein. Wie es der Zufall will, habe ich dich bei diesem
ersten Besuch in Limehouse sogar gesehen. Du hast im Besucherraum mit
deinem Anwalt zusammengesessen und mehrmals zu mir rübergeschaut. Ich
könnte mir vorstellen, dass du einigermaßen überrascht warst, deine
Zellengenossin mit jemandem wie mir zu sehen. Und ich kann es immer noch
kaum glauben, dass ich dir nicht wenigstens ein kleines bisschen bekannt
vorkam. Schließlich war ich dir damals schon einige Male zum Greifen nah
gewesen: als ich dich vor dem Pub um Feuer gebeten habe, vor dem
Besucherzentrum des ökologischen Schutzgebiets, auf den Treppenstufen vor
St. Paul’s, in diesem durchgeknallten Sexklub – na gut, da hatte ich eine Maske
auf – und im Café des British Museum. In diesem Fall hat sich mein
Allerweltsgesicht als durchaus vorteilhaft erwiesen. Ich hoffe, dass ich dir damit
nicht zu nahe trete, aber im Besucherraum des Gefängnisses hast du sehr dünn
ausgesehen. Du solltest deine neu erworbene Freiheit wirklich nutzen und mal
wieder richtig gut essen gehen. Entschuldige, wo war ich stehen geblieben?
Ach ja, Kelly. Nicht unbedingt der Typ Frau, dem ich in meinem Leben oft
begegne – ich musste immerzu ihre knallbunten Fingernägel anstarren. Doch sie
war überaus zuvorkommend und hilfsbereit. Ich stellte mich ihr als Mitarbeiter
einer Kanzlei vor, die im Auftrag eines privaten Gönners deine Verbrechen
unter die Lupe nimmt, und fragte sie, ob sie bereit wäre, für uns die Augen und
Ohren offen zu halten. Deine ehemalige Zellengenossin ist wirklich erfrischend
unkompliziert: Ihre Neugierde an meiner Person oder meinem Auftraggeber
versiegte sofort, nachdem wir das Finanzielle geregelt hatten. Über einen ihrer
Kontakte, der mich in eine ziemlich abenteuerliche Ecke von Ostlondon führte,
gelang es mir, ihr ein Telefon ins Gefängnis zu schmuggeln. Eins mit Kamera
natürlich. Wie sind wir vor der Erfindung der Handykamera nur
zurechtgekommen? Kelly schlüpfte in ihre neue Rolle, als hätte sie nie etwas
anderes gemacht. Ich schätze, du hast nicht mal geahnt, wie genau sie dich im
Auge hatte. Ihr entging wirklich gar nichts. Als sie Wind davon bekam, dass du
deine Lebensgeschichte aufschreibst, schickte sie mir sofort eine SMS. Natürlich
hat sie jedes Wort gelesen. Ich bin ehrlich überrascht, dass du so leichtfertig
warst. Und sie hat jede einzelne Seite mit einer Akkuratesse fotografiert, die mir
echte Bewunderung abnötigte. Als langjährige Erpresserin weiß man sehr
wahrscheinlich, wie man an kompromittierendes Material gelangt. Ich muss
wirklich sagen: Du hast sie sträflich unterschätzt.
Wie du siehst, bleibt dir gar keine andere Wahl, als die Angelegenheit auf sich
beruhen zu lassen. Du kannst mich nicht einfach umbringen, denn wenn ich zu
Tode kommen sollte, würden Presse und Strafvollzugsbehörden von meinen
Anwälten umgehend dein ausführliches Geständnis erhalten – nebst einem
Schreiben, in dem glasklar dargelegt wird, dass es sich bei meinem Ableben
keinesfalls um einen Unfall handelt. Solltest du versuchen, Lara zu kontaktieren,
gehen besagte Informationen ebenfalls sofort an die Polizei. Die Artemis-Familie
hat uns beiden viel zugemutet, doch jetzt sind wir frei. Du hast endlich dein Ziel
erreicht. Vielleicht nicht ganz so, wie du es dir erhofft hattest, aber du hast
gewonnen. Wir haben gewonnen. Kelly sagt, dass du morgen wahrscheinlich aus
dem Gefängnis entlassen wirst. Diese E-Mail wirst du in deinem Posteingang
finden, wenn du zurück in deiner kleinen Wohnung bist. Gut, dass du sie
behalten hast. Oh, und diese Mail löscht sich von selbst, nachdem sie gelesen
wurde. Dank eines raffinierten kleinen Programms, das mir unsere gemeinsame
Freundin empfohlen hat. In der Erpressungsbranche ist es offenbar unerlässlich,
stets auf dem neuesten Stand der Technik zu bleiben.
Da eigentlich alles gesagt ist, wird es allmählich Zeit für mich, zum Ende zu
kommen. Es mag sein, dass du dich gerade fühlst, als hätte dich jemand zur Seite
gestoßen und dir deinen verdienten Sieg vor der Nase weggeschnappt, aber so
war es nicht. Ich hatte einfach die besseren Karten. Glaub mir, alles hinter dir zu
lassen und dein Leben zu genießen, ist das Beste, was dir jetzt noch zu tun bleibt.
Es gibt Wichtigeres als Geld, und du kannst von Glück reden, dass du wieder auf
freien Fuß kommst. Ich wünsche dir alles Gute, Grace. Ich werde sicher noch
oft an dich denken.

Dein Bruder

PS: Mach dir keine Sorgen wegen Kelly. Ich habe sie so großzügig bezahlt, dass
sie dich sicher in Ruhe lassen wird.
postskriptum

Hallo, Mitbewohnerin! Ich bin’s, deine Freundin Kel. Ich hoffe, die Welt da
draußen ist gut zu dir. Ruf mich doch bitte mal an, wir müssen dringend ein paar
Dinge besprechen. Und glaub ja nicht, du könntest das aussitzen – ich weiß, wo
du wohnst, LOL. PS: Meiner Mutter hat der Löffel gefallen, aber sie war etwas
irritiert von den Kerben im Stiel. Ich überhaupt nicht! Ich werde ihn sicher
aufbewahren. Du fehlst mir! Xxx
danksagung

Ich danke allen bei The Borough Press dafür, dass sie meinem ersten Roman
eine Chance gaben. Allen voran meiner Lektorin Ann Bissell, die sich meines
bereits halb fertigen Manuskripts annahm, ganz darin aufging, es akribisch
überarbeitete und die Figuren so gut verstand wie ich selbst. Ann tolerierte
meinen lockeren Umgang mit Terminen und reagierte auf meine gelegentlichen
Panikausbrüche mit Verständnis und Contenance. Durch sie wurde das Buch so
viel besser und das Schreiben während einer Pandemie zum reinsten Vergnügen.
Eine liebenswürdigere Lektorin hätte ich mir nicht wünschen können.

Danke, Fliss, dass du das Buch tatsächlich unter die Leute gebracht und so hart
daran gearbeitet hast, einen guten Verkaufsstart hinzulegen – das war in diesen
merkwürdigen Zeiten nicht einfach.

Vielen Dank auch an Abbie Salter, Caroline Young, Sarah Munro, Margot Gray,
Lucy Stewart und Suzie Dooré. Was für ein großartiges Frauen-Team.

Danke an meinen Agenten Charlie Campbell, der die Bürozeiten standhaft


ignoriert und rund um die Uhr für mich da ist, seit ich die Idee für dieses Buch
hatte. Ich könnte mir niemanden vorstellen, der mir engagierter und geduldiger
zur Seite steht.

Danke an Aoife Rice, die sich um alle meine anderen Arbeiten kümmerte, ohne
sich davon unterkriegen zu lassen, dass dieses Buch für mich absolute Priorität
hatte.

Danke an Nicki Kennedy, Sam Edenborough, Jenny Robson, Katherine West


und ihre Kolleg*innen bei der ILA für die Unterstützung bei der Lizenzierung
des Buchs in andere Länder. Ich hoffe auf zahlreiche Lesungen auf
Literaturfestivals in Gegenden mit viel Sonne und gutem Wein.
Emily Hayward-Whitlock und Fern McCauley, vielen Dank für euer
Engagement bei der Rechte- und Lizenzvergabe. Ich weiß, wie hart ihr daran
gearbeitet habt.

Ein riesiges Dankeschön an Owen O’Rorke, Nigel Urwin, David Hooper und
Anthony Mosawi für die vielen hilfreichen Ratschläge und Hinweise.

Vielen Dank an meinen reizenden Nachbarn Robert, der mir mit seinem
ungemein detaillierten juristischen Fachwissen an einigen Stellen der Handlung
enorm weitergeholfen hat.

Danke, Max Van Cleek, dass du mir erklärt hast, wie Smart Homes genau
funktionieren – und mich ernst genommen hast, als ich wissen wollte, ob ich
jemanden mit einer Fernbedienung töten könnte.

Josh Berger, du bist ein wahrer Freund. Danke für Rat und Tat.

Pandora Sykes, danke fürs Korrekturlesen, zumal du die Erste warst und auch
noch ein Zitat zur Verfügung gestellt hast.

Janine Gibson, du hast meine ersten paar Kapitel gelesen und gelacht. Dich zum
Lachen zu bringen, war die Aufmunterung, die ich brauchte, um
weiterzumachen.

Archie, Maya, Miranda, Nesrine, Ben, Benji, ihr seid die Allerbesten. Ich liebe
euch alle.

Lizzie, meine liebste Schwester. Danke, dass du das Buch gelesen hast. Danke
für deine Anmerkungen, die mir mehr geholfen haben, als ich sagen kann. Du
bist mein Ein und Alles.

Linds und Alan, ich kann euch gar nicht genug danken. Ihr habt mich zu diesem
Buch inspiriert (im besten Sinne).

Und schließlich, Greg. Die Männer in meinem Buch sind alle komplette
Mistkerle, und du bist das totale Gegenteil. Du hast mich eine Schriftstellerin
genannt, lange bevor ich mir das angemaßt habe. Ich kann mich glücklich
schätzen, dass ich dich an meiner Seite weiß.
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