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Alissa jagt die Piraten
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Alissa jagt die Piraten

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About this ebook

Julka ist ja gern bereit zu glauben, daß diese Alissa da im Bett neben ihr tatsächlich aus dem 21. Jahrhundert kommt, wie sie sagt, und auch die Sache mit Kolja, der sich mittels Zeitmaschine in die Zukunft geschmuggelt und dort Alissas Myelophon geklaut haben soll, mag stimmen. Schließlich ist den Jungen aus der Klasse alles zuzutrauen. Doch die Geschichte von den Kosmospiraten klingt reichlich verrückt. Man könnte fast meinen, Alissa spinnt, wenn Julka nicht eben selbst miterlebt hätte, wie diese Strolche versucht haben, ihre Bettnachbarin zu entführen. Eins steht fest – Alissa kriegen die nicht und schon gar nicht das Myelophon, auf das sie scharf sind. Das hat nämlich noch immer Kolja. Fragt sich bloß, welcher von den dreien in der Klasse?

LanguageDeutsch
Release dateMay 10, 2024
ISBN9798224645480
Alissa jagt die Piraten

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    Alissa jagt die Piraten - Kir Bulytschow

    1. Und wenn nun eine Schlange hinter der Tür ist?

    Koljas Eltern sind verhältnismäßig jung – noch keine vierzig. Auch sie selber halten sich keineswegs für alt; sie haben sich ein Boot gekauft, basteln daran herum, hätscheln es, schleppen es an Land und lassen es wieder zu Wasser. Sie laden Gäste ein, um Schaschlyk zu braten und über Wassertouristik zu reden. Doch was sind das, bei Licht besehn, schon für Touristen. Sie können nicht das geringste mit ihrem Glück anfangen. Voriges Jahr zum Beispiel schipperten sie zwei Wochen über die Wolga, legten aber nur ganze hundert Kilometer zurück – zum Totlachen! Kolja findet es langweilig mit ihnen, ihre Romantik sagt ihm nicht zu, sie ist ihm zu komfortabel. Und so weigerte er sich an jenem Sonntag im April kategorisch, ihnen beim Lackieren dieses Prunkstückes, der »Tschaika«, zu helfen. Er behauptete, am nächsten Tag eine Klassenarbeit schreiben zu müssen, und die Eltern waren so gerührt von seiner Gewissenhaftigkeit, daß sie ihm seinen Willen ließen. Auf diese Weise hatte Kolja plötzlich einen völlig freien Sonntag vor sich – ohne Eltern und ohne Pflichten, er konnte fröhlich in den Tag hinein leben, wie einst der griechische Philosoph Epikur.

    Als Kolja erwachte, waren die Eltern bereits fort. Auf dem Tisch lagen ein Zettel mit der Bitte, Kefir zu holen, und ein Rubel.

    Am Morgen glaubt man, so ein freier Tag sei unendlich lang, deshalb ließ Kolja sich Zeit. Er schaltete das Radio auf volle Lautstärke und überlegte, wen er anrufen könnte. Doch es war noch zu früh, seine Freunde schliefen gewiß alle. Also beschloß er, den Kefir zu holen. Er nahm den Rubel, eine Tasche, leere Flaschen und trat auf die Treppe hinaus.

    Auf der Treppe kamen ihm zwei Sanitäter mit einer zusammenklappbaren Trage entgegen. Sie waren schon älter und kräftig, erinnerten an Transportarbeiter, nur daß sie weiße Kittel und Käppis trugen. Kolja blieb stehen und bemerkte, daß die Tür des Nachbarn lediglich angelehnt war; Stimmen drangen aus der Wohnung. Die Sanitäter verschwanden mit der Trage hinter dieser Tür – dem Mieter, Nikolai Nikolajewitsch, mußte etwas zugestoßen sein.

    Der Mann lebte allein, war oft auf Dienstreise, doch über seine Arbeit wußte Kolja nichts. Er beschloß zu warten. Bald darauf öffnete sich die Tür, und die Sanitäter kamen mit der Trage heraus, auf der Nikolai Nikolajewitsch lag, blaß und fast bis zum Hals zugedeckt. Ein junger Arzt mit dickem Köfferchen folgte ihnen, er blieb an der Schwelle stehen und fragte: »Was soll mit der Wohnung werden?«

    In diesem Augenblick bemerkte Nikolai Nikolajewitsch, sichtbar erfreut, den Jungen. »Grüß dich, Namensvetter«, sagte er leise. »Gut, daß ich dich treffe. Mein Herz macht Schwierigkeiten, weißt du. Ein Pech ist das!«

    »Keine Bange«, erwiderte Kolja, »Sie werden wieder gesund.«

    »Danke für die guten Worte. Ich hätte eine Bitte an dich: Nimm meinen Schlüssel. Ich erwarte dieser Tage einen Freund aus Murmansk, und er weiß, daß der Schlüssel bei euch liegt, wenn ich nicht zu Hause bin.«

    »Aber klar, wie immer«, sagte Kolja. Und dann, an den Arzt gewandt: »Ziehen Sie die Tür einfach ran, und geben Sie mir den Schlüssel.«

    Kolja begleitete Nikolai Nikolajewitsch hinunter. Die Sanitäter schoben die Trage behutsam in den Krankenwagen – Herzpatienten brauchten absolute Ruhe.

    »Wann werden Sie wieder rauskommen?« fragte Kolja den Nachbarn, der bereits im Wagen lag.

    »In einem Monat, vielleicht auch eher. Ich rufe an, sobald ich aufstehn darf.«

    »Ja, rufen Sie an, ich komm Sie besuchen«, versprach Kolja. »Vielleicht möchten Sie auch etwas Obst, sagen Sie nur, was Sie brauchen.«

    »Mein Freund aus Murmansk wollte mir eine bestimmte Medizin bringen, ich verlaß mich auf dich.«

    »Geht schon klar«, erwiderte Kolja, »meine Eltern helfen Ihnen gleichfalls gern.«

    Der Krankenwagen fuhr eilig davon – zur Sklifassowski-Klinik, wie Kolja vom Arzt erfuhr. Der Junge stand da, sah dem Wagen hinterher. Nikolai Nikolajewitsch tat ihm leid; der Nachbar war ein sympathischer Mann, der einem niemals mit Belehrungen oder Moralpredigten kam und mit dem es sich interessant reden ließ.

    Dann ging Kolja in den Laden, um Kefir zu kaufen. Als er bezahlen wollte, geriet ihm der Schlüssel der Nachbarwohnung in die Finger, und er nahm sich vor, ihn gleich, wenn er zurück war, an gut sichtbarer Stelle im Flur aufzuhängen: Sollte der Freund aus Murmansk kommen, wäre der Schlüssel sofort zur Hand. Doch zu Hause angelangt, kam Kolja eine andere Idee.

    Die Sache war nämlich die, daß auf dem Schreibtisch von Nikolai Nikolajewitsch das Modell einer Fregatte stand. Sie war aus Holz, besaß gewaltige Segel, Wanten aus Bindfaden und Kanonen aus Kupfer. Der Nachbar hatte einmal gesagt, diese Fregatte bestände aus zweitausend Einzelteilen und sei die genaue Kopie eines richtigen Schiffes. Kolja betrachtete das Modell sehr gern; wenn man davorsaß und die Augen zukniff, konnte man sich direkt vorstellen, wie es über den Ozean glitt, mit schlaffen Segeln, weil schon die zweite Woche Windstille herrschte.

    Als Fima Koroljow, ein Mitschüler von Kolja, von der Fregatte erfahren hatte, wollte er mit zu Nikolai Nikolajewitsch. Doch Kolja hatte keine Eile: Es war gefährlich, Fima irgendwohin mitzunehmen, denn er war furchtbar vorlaut und tolpatschig, unter Garantie faßte er was an und machte es kaputt. Fima hatte es dann satt gehabt, Kolja zu drängen, und nur noch verlangt: »Schreib wenigstens die Maße von der Fregatte auf. Ich will ein Segelschiff basteln, aber es gibt kaum Anleitungen. Was kostet’s dich schon, mir zu helfen!«

    Das Gespräch mit Fima hatte erst gestern stattgefunden, Nikolai Nikolajewitsch aber war heute ins Krankenhaus gekommen. Abends würden die Eltern wieder da sein und den Schlüssel vielleicht an sich nehmen – doch Fimka glaubte ihm bestimmt kein Wort und hielt das Ganze für eine Ausrede.

    Deshalb nahm Kolja, zu Hause angelangt, ein Blatt Papier, Lineal und Bleistift zur Hand und betrat die Wohnung des Nachbarn. Er war überzeugt, nichts Unrechtes zu tun, denn hätte er Nikolai Nikolajewitsch um Erlaubnis gefragt, so hätte der nichts einzuwenden gehabt.

    Kolja schloß die Tür hinter sich, steckte den Schlüssel in die Tasche und machte im Korridor Licht, um die afrikanischen Masken zu betrachten, die dort zähnebleckend an der Wand hingen.

    Dann begab er sich ohne Hast in das große Zimmer, das Nikolai Nikolajewitsch zum Arbeiten und Schlafen diente. Auf dem Sofa lag noch das Bettzeug, das Laken war zerwühlt, der Telefonhörer baumelte knapp über dem Fußboden. Kolja stellte sich vor, wie der Nachbar versucht hatte, das Telefon zu erreichen, um die 03 zu wählen. Er legte den Hörer wieder auf. Kolja war noch nie allein in dieser Wohnung gewesen, und sie kam ihm jetzt, obwohl es sich um eine ganz gewöhnliche Behausung handelte, sehr verlassen und sogar ein bißchen unheimlich vor. Wie er so in der Mitte des Zimmers stand, spürte er auch, daß er nicht gerade anständig handelte. Er hätte am liebsten kehrtgemacht, ohne die Maße von der Fregatte zu nehmen.

    Das aber tat er nicht, und zwar weil an der Wand eine alte Steinschloßpistole hing. Nikolai Nikolajewitsch hatte Kolja manchmal erlaubt, sie in die Hand zu nehmen, doch es war nur das halbe Vergnügen, wenn man dabei beobachtet wurde.

    Nachdem Kolja die Pistole ausgiebig betrachtet und sie an die Wand zurückgehängt hatte, fiel sein Blick plötzlich auf die Tür, die zum Hinterzimmer führte. Obgleich eine Tür wie jede andere, hatte es mit ihr eine besondere Bewandtnis: Sie war stets verschlossen. Sooft Kolja den Nachbarn auch besucht hatte, sie war in seinem Beisein kein einziges Mal geöffnet worden. Der Junge zerbrach sich seit langem den Kopf darüber, was sich wohl dahinter verbergen mochte, und so fragte er eines Tages: »Und was ist hinter der Tür dort?«

    »Hast du schon mal was von Ritter Blaubart gehört?« fragte Nikolai Nikolajewitsch zurück.

    »Aber Sie sind doch gar nicht verheiratet.«

    »Ich halte dort kleine neugierige Jungs versteckt«, erwiderte der Nachbar. »Sieben an der Zahl. Es ist noch Platz für einen achten.« Damit war das Gespräch beendet, und Kolja fragte nie wieder – schließlich hatte man seinen Stolz.

    Doch nun bemerkte Kolja, daß der Schlüssel in der Tür steckte. Offenbar hatte Nikolai Nikolajewitsch nicht damit gerechnet, krank zu werden.

    Kolja ging zur Tür und begann zu überlegen. Wahrscheinlich befanden sich wichtige Papiere oder Wertsachen in dem Raum. Vielleicht auch eine Briefmarkensammlung. Und überhaupt: Wenn jemand nicht gewillt ist, dir sein Zimmer zu zeigen, hast du nichts darin zu suchen.

    Kolja war schon drauf und dran, zu der Fregatte zurückzukehren, als es ihn plötzlich durchzuckte. Und was, wenn der Nachbar irgendein seltenes Tier in dem Zimmer verborgen hielt? So selten und gefährlich, daß er es niemandem zeigen durfte? Eine Schlange vielleicht, eine Anakonda von zwölf Metern Länge? Nun saß dieses seltene Tier hungrig hinter der Tür und hatte keine Ahnung davon, daß es einen ganzen Monat nichts zu fressen kriegen würde. Bei einer Anakonda oder einem Kamel wäre das nicht weiter schlimm, die überstanden einen Monat ohne Essen und Trinken ohne weiteres. Doch wenn’s ein Tiger war? Der würde mehrere Tage durchs Zimmer hetzen und schließlich vor Hunger krepieren.

    Natürlich nahm Kolja nicht ernsthaft an, daß sich ein Tiger hinter der Tür verbergen könnte. Er hatte einfach das unwiderstehliche Verlangen, einen Blick in das geheimnisumwobene Zimmer zu werfen, doch dafür brauchte es eine moralische Rechtfertigung. Eine bessere Rechtfertigung aber als die Sorge um ein hungerndes Tier konnte es nicht geben.

    Kolja blieb noch einen Augenblick unschlüssig stehen, lauschte auf Geräusche aus dem Nebenraum – alles still. Da drehte er den Schlüssel herum und öffnete die Tür.

    2. Nein, das ist nicht Indien

    Kolja wollte nur einen kurzen Blick in das Zimmer werfen und sich gleich wieder zurückziehn. Vorausgesetzt natürlich, daß sich dort kein durstleidendes Kamel befand.

    Er öffnete die Tür etwa fünf Zentimeter weit – nichts geschah. Er stieß sie weiter auf – wieder nichts. Schließlich steckte er den Kopf durch den Spalt und mußte feststellen, daß das Zimmer so gut wie leer war.

    Es war ein kleiner Raum mit grünen Wänden. Vor dem Fenster hing ein dichter Vorhang, dennoch war es hell genug, um alles erkennen zu können.

    Im Zimmer befanden sich zwei Schränke und ein Stuhl. Der eine Schrank, aus Holz, war alt und sehr geräumig, seine Türen standen offen. In dem Schrank hingen mehrere Anzüge und Regenmäntel, darunter standen Männer- und Frauenschuhe unterschiedlichster Größe. Im Regalteil lagen, ordentlich gestapelt, Laken, Kissenbezüge, Hemden und Wäsche. Außen am Schrank aber lehnten drei Klappbetten.

    Was muß ein Kundschafter vermuten, wenn er in der Wohnung eines allein lebenden Mannes einen Schrank mit Kleidung für andere Leute entdeckt? Der Kundschafter Kolja kam zu dem Schluß, daß diese Sachen den Freunden und Bekannten von Nikolai Nikolajewitsch gehörten, die ihn zuweilen von auswärts besuchten und bis zu einer Woche blieben.

    Im großen und ganzen war das Zimmer völlig uninteressant für Kolja, und er hätte seelenruhig wieder gehen können, wäre da nicht der zweite Schrank gewesen. Er war recht ungewöhnlich, erinnerte entfernt an eine Telefonzelle, war aber viel größer. Kolja trat an die Glastür heran und schaute ins Innere. Anstelle eines Telefonapparates befand sich an der Wand ein Instrumentenpult, ähnlich dem eines Flugzeugs. Und Kolja begriff, daß in eben dieser »Telefonzelle« das Geheimnis des Zimmers verborgen lag.

    »Einen Moment«, sagte Kolja zu sich selbst, denn er war ein bißchen aufgeregt und zwischen zwei Wünschen hin und her gerissen: sollte er gehen oder die Apparatur näher in Augenschein nehmen, denn er interessierte sich für Technik. Er hatte im vorigen Jahr sogar ein Radio zusammengebastelt, das freilich nicht funktionierte.

    Kolja drückte auf die Klinke der Glastür, und sie gab leise nach, als wäre sie geölt. Die Tür fuhr auf, lud Kolja geradezu ein, sich im Innern umzuschaun. Kolja widersetzte sich nicht länger und betrat die Kabine. Er begann das Instrumentenpult zu studieren. Auf seinem unteren, etwas vorstehenden Teil befanden sich zwei Knopfreihen. Darüber waren mehrere Schalter nebeneinander angebracht und mehrere Zifferblätter. Da das ganze System im Augenblick tot war, ausgeschaltet, konnte Kolja nicht erkennen, wozu es diente.

    Ausgerechnet da fiel sein Blick auf einen Schalter, neben dem links die Aufschrift EIN angebracht war, rechts dagegen die Aufschrift AUS. Der Schalter zeigte nach rechts, zum AUS.

    Ich kann ihn ja jederzeit wieder zurückstellen, dachte Kolja, und drehte den Schalter nach links. Ein leises Summen ertönte, die Zeiger auf dem Pult erzitterten, manche gerieten in Bewegung. Kolja wollte wieder ausschalten, doch da vernahm er ein leichtes Klicken hinter sich. Er wandte sich hastig um und mußte feststellen, daß sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Er drückte von innen auf die Klinke – sie gab nicht nach. Doch deswegen geriet Kolja noch lange nicht aus der Fassung. Er drehte den Schalter nach rechts, und die Zeiger auf den Armaturen kehrten in die Nullstellung zurück, das Summen verstummte, die Tür sprang von selbst wieder auf.

    »Na bitte«, sagte Kolja, »die Maschinen haben dem Menschen zu gehorchen.«

    Er ließ die Tür weitere zweimal auf- und zugehn, dann beschloß er, auch die anderen Schalter auszuprobieren; im Notfall konnte man sie ja wieder in die Nullstellung bringen.

    Einer der Schalter, er war rot und befand sich am Ende der zweiten Knopfreihe, trug die Aufschrift START. Unter den Knöpfen waren Zahlen und irgendwelche unverständlichen Zeichen zu sehen. Zwei der Knöpfe aber trugen den Vermerk: ZWISCHENSTATION bzw. ENDSTATION.

    Das weckte Koljas Neugier. Er stellte den Schalter auf START, doch nichts passierte. Er nahm das EIN dazu – wieder nichts. Erst als er zusätzlich den Knopf ZWISCHENSTATION drückte, glückte der Versuch. Und zwar in einem Maße, daß es Kolja leid tat, ihn überhaupt unternommen zu haben.

    Das Summen wurde jetzt so laut, daß es ihn fast betäubte. Die gläserne Tür verschwand hinter einem Dunstschleier, das Glas wurde milchig. Die Kabine begann sacht zu vibrieren, so als würde beim Zahnarzt die Bohrmaschine in Gang gesetzt. Kolja streckte schon die Hand aus, um dieses Vibrieren zu beenden, doch in diesem Moment flammte auf einem kleinen Bildschirm oberhalb des Instrumentenpults eine rote, ziemlich grelle Schrift auf: ACHTUNG!

    Diese Aufschrift verlosch sofort wieder, an ihrer Stelle tauchte eine andere auf, in Weiß: ÜBERPRÜFEN SIE, OB SIE IM KREIS STEHEN!

    Kolja schaute nach unten und sah, daß er auf einem kleinen, runden, schwarzen Teppich stand, der von einer weißen Linie umrandet war.

    »Ja«, rief er, bemüht, das anschwellende Gedröhn zu übertönen, »ich steh im Kreis!«

    Die nächste Aufforderung war noch strenger gehalten: NICHT BEWEGEN! AM GRIFF FESTHALTEN!

    Kolja konnte zunächst keinen Griff entdecken, doch dann schob sich ziemlich weit oben, in Augenhöhe, ein Haltegriff aus dem Armaturenbrett. Er war auf die Größe eines Erwachsenen zugeschnitten. Kolja klammerte sich gehorsam an das kühle Metall, denn er wagte nicht, sich den Aufforderungen auf dem Bildschirm zu widersetzen.

    AUGEN SCHLIESSEN! lautete der nächste Befehl.

    Er kniff die Augen zu, und alles um ihn her verschwand. Da gab es nichts mehr – kein Oben und Unten, weder Luft noch Hitze oder Kälte. Nur das kühle Metall des Haltegriffs, an dem sich Kolja festhielt.

    Der Junge hätte nicht sagen können, wie lange das Ganze währte. Vielleicht nur kurze Zeit, vielleicht aber auch zwei Stunden. Plötzlich jedenfalls war alles zu Ende, lediglich ein leichtes Summen war zu hören. Kolja verharrte noch einige Zeit reglos und versuchte zu sich zu kommen. Als er es endlich wagte, ein Auge zu öffnen, fiel sein Blick zuerst auf den Bildschirm, auf dem grün geschrieben stand: BEFÖRDERUNG IST ERFOLGT. ZWISCHENSTATION.

    Kolja holte tief Luft und schwor sich, seine Nase niemals mehr in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen. Doch nun wußte er, was zu tun war. Er brachte den Schalter mit der Aufschrift START in die Nullstellung zurück, den Schalter EIN–AUS aber drehte er nach rechts, zum AUS. Es wurde sofort sehr still.

    Das hätte schlimmer ausgehen können, dachte Kolja, während er die Kabinentür öffnete. Überhaupt hab ich mich ganz wacker geschlagen, hab die Hosen nicht allzu voll gehabt. Direkt schade, daß ich’s niemandem erzählen darf.

    Kolja verließ die Kabine und blieb verblüfft stehen, weil sich irgend etwas in dem Zimmer verändert hatte. Oder seine Augen spielten ihm einen Streich. Erstens waren die Türen des Kleiderschranks jetzt geschlossen, obwohl Kolja sie nicht angerührt hatte. Nun, das mochte noch angehn – sie konnten zugeschlagen sein, als die Kabine gezittert hatte wie ein verängstigter Hase. Viel merkwürdiger war, daß alle drei Klappbetten verschwunden und die Zimmerwände, gerade noch grün tapeziert, plötzlich frisch geweißt waren. Kolja rieb sich die Augen – es half nichts.

    Da beschloß er, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen. Wenn man etwas partout nicht begriff, sollte man besser nicht weiter nachdenken. Diesem Grundsatz folgte er zum Beispiel, wenn er zur Tafel gerufen wurde und eine Aufgabe nicht lösen konnte oder nicht wußte, in welchem Jahr Amerika entdeckt worden war. Er schaute dann zum Fenster hinaus und ließ Aufgabe Aufgabe sein – die Vier war ihm ohnehin sicher, es sei denn, irgendeine mitleidige Seele sagte ihm vor.

    So grübelte Kolja auch jetzt nicht weiter, er tastete nach dem Wohnungsschlüssel in seiner Tasche und begab sich zur Tür.

    Im großen Zimmer hatte sich gleichfalls etwas verändert. Die Fregatte war verschwunden. Das wäre aber ja noch gegangen, wenn nicht auch, der Tisch weg gewesen wäre, auf dem das Schiffsmodell gestanden hatte, das Sofa mit den zerwühlten Laken und Decken, das Telefon und die Pistole an der Wand – kurz, alles. Das Zimmer war das gleiche, nur hatte jemand, während sich Kolja in der Kabine aufhielt, die Wände geweißt und sämtliches Inventar entfernt.

    Wie sollte man sich so etwas erklären?

    Nun, Kolja als kluger Junge hatte sofort eine Erklärung parat. Er hatte kürzlich eine Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving gelesen, über einen Mann, der in die Berge aufgebrochen und dort eingeschlafen war. Dann kehrte er in sein Dorf zurück, doch niemand erkannte ihn. Er griff sich ans Gesicht – ihm war ein Bart gewachsen, der bis zum Gürtel reichte. Und so kam er drauf, daß er etwa zwanzig Jahre geschlafen haben mußte.

    Bei diesem Gedanken faßte sich Kolja ans Kinn, einigermaßen verwundert, daß er keinen Bart hatte. Und während er sein Kinn betastete, taten ihm bereits seine Eltern leid, die vor zwanzig Jahren von ihrem Boot nach Hause gekommen waren und den Kefir auf dem Tisch vorgefunden hatten, nicht aber ihren Sohn. Sie hatten gewiß sämtliche Krankenhäuser angerufen, die Miliz alarmiert – umsonst. Kolja, zwölf Jahre alt, war und blieb verschwunden.

    Mit diesen traurigen Gedanken verließ Kolja das Zimmer. Er war darauf gefaßt, daß sich der Korridor in diesen zwanzig Jahren ebenfalls verändert hatte. Doch er hätte niemals vermutet, daß mit ihm eine derartige Verwandlung vor sich gegangen war.

    Es gab keinen Korridor mehr. Da war plötzlich ein Raum, etwa zehnmal so groß wie vorher, zwei Stockwerk hoch, vollgestellt mit allen möglichen Apparaturen und von einem unbegreiflichen Licht erhellt.

    Der Saal nahm nicht nur die Fläche des ehemaligen Korridors ein, sondern auch den Treppenabsatz und sogar die Wohnung, in der Kolja lebte. Dieser Schlag war stärker als alle anderen.

    Der Junge wollte zur Kabine zurücklaufen und den Schalter betätigen – vielleicht würde die Anwandlung dann vorübergehn? –, doch ihm kam eine andere Idee. Was hatte dort unter den Knöpfen gestanden? ZWISCHENSTATION und ENDSTATION. Das aber konnte nur bedeuten, daß es sich

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