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PDF of Judische Migration Und Diversitat in Wien Und Berlin 1667 71 1918 Von Der Vertreibung Der Juden Wiens Und Ihrer Wiederansiedlung in Berlin Bis Zum Zionismus Ingo Haar Full Chapter Ebook
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Ingo Haar
Jüdische Migration und Diversität in Wien und Berlin
Ingo Haar
Jüdische Migration und Diversität
in Wien und Berlin
1667 /71 – 1918
Von der Vertreibung der Juden Wiens
und ihrer Wiederansiedlung in Berlin
bis zum Zionismus
WALLSTEIN VERL AG
Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung der Hamburger Stiftung für
Wissenschaft und Kultur, der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf sowie des
Zukunftsfonds der Republik Österreich
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Juden zwischen Moderne und Vormoderne . . . . . . . . . . . . . 9
Migration, Religion und Metropolenbildung:
Zielsetzung und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Juden in Wien und Berlin in kulturhistorisch-
vergleichender Perspektive der Migrationsforschung:
Quellenbasis, Aufgaben und Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . 502
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
Nachschlagewerke und Handbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
Forschungsliteratur vor und nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Einleitung
Die jüdische Migrationsgeschichte ist nicht aus sich selbst heraus verstehbar, son-
dern stellt als Teil der europäischen Geschichte eine Querschnittsthematik der
Gesellschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte dar. Bereits die vormodern-europä-
ischen Gesellschaften waren außerordentlich mobil: christliche Gesellen im Hand-
werk, Viehtreiber, Hausierer und Saisonarbeiter in der Agrarproduktion, aber auch
jüdische Kleinhändler, Kaufleute und Finanzmakler im Handelsgewerbe nutzten
Nah- und Fernrouten, um ihre Geschäfte und Alltägliches zu erledigen, oder aber
um Arbeit und ein Auskommen zu finden, sich also neu anzusiedeln oder an den
Märkten teilzunehmen.1 Die gewerbliche Migration erstreckte sich ebenso wie die
Transhumanz (Fernweidewirtschaft) und der Fernhandel über weite Strecken in
ganz Europa. Jedoch enthielt die jüdische Migrations- und Ansiedlungsgeschichte
in den Kriegs- und Krisenzeiten ein Element, das für sie konstitutiv war. Es betrifft
sie nicht alleine, aber im langen Lauf zwischen Reformation und Gegenaufklärung
bis hin zur Aufklärungs- und Revolutionszeit von 1848 häufiger und radikaler als
andere Religionsgruppen. Jüdische Migranten waren besonders oft Opfer von
Zwangsmigration und Wiederansiedlung, verursacht sowohl durch die verschie-
densten Pogrome im Verlauf der frühneuzeitlichen Religionskriege als auch durch
individuelle Verfolgung. Allerdings verfügten die jüdischen Wanderungsgruppen
oder Flüchtlinge über eine religiöse Sonderstellung, was ihnen den Aufenthalt in
den Residenzen – im Gegensatz beispielsweise zu den Wiedertäufern – erlaubte.
Ihre Ansiedlung und Existenzsicherung, Religionsausübung und Reproduktion
waren zwar zugelassen, aber die Juden verfügten nicht über den rechtlichen Status
einer der beiden christlichen Hauptreligionen, des Katholizismus oder des Pro-
testantismus.2 Gesellschaftlich blieben sie ausgegrenzt. Pogrome und gewaltsame
Vertreibungen von Juden waren ein integraler Bestandteil der Geschichte der Staats-
bildungen in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Als
die Einzelkönigreiche oder Fürstenstaaten sich mit und nach der Reformation von
9
Einleitung
3 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Öster-
reichs, Baden bei Wien 1939. Hierzu auch u. a. Otto G. Oexle, Sozialgeschichte, Begriffsgeschichte,
Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71 (1984), S. 305-341;
Christof Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, in: Jahrbuch
des italienisch-deutschen historischen Instituts 13 (1987), S. 73-96.
4 Vgl. Christof Dipper, Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. 8. 2010 Anm. 12;
Hubert Treiber, Askese, in: Hans G. Kippenberg / Martin Riesebrodt (Hg. u. a.), Max Webers
Religionssystematik, Tübingen 2001, S. 263-279, 273.
10
Migration, Religion und Metropolenbildung
Der säkulare Staat, der die Religion endgültig zur Privatsache machte und seine
Bürger politisch, sozial und kulturell in die Eigenverantwortung entließ, ent-
wickelte sich in Mitteleuropa erst im 20. Jahrhundert. Staatskirchentum und
11
Einleitung
9 Dan Diner, Geschichte der Juden. Paradigma einer europäischen Historie, in: Gerald Stourzh
(Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 85-103, 90.
12
Migration, Religion und Metropolenbildung
10 Vgl. Moshe Zimmermann, Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997, S. 32.
11 Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten
und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000. Hier mit
neuerem Ansatz, der die Frage nach der Ambivalenz deutlich hervorarbeitet: Ders., Jews and
the Ambivalences of Civil Society in Germany, 1800 to 1933, in: Journal of Modern History 77
(2005), S. 1024–1047.
12 Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg / Preußen 1871-1945,
Göttingen 1996, S. 171.
13 Vgl. Marsha I. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914, Wien 1988; Klaus Hödl, Als Bettler in die
Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien 1988.
13
Einleitung
Ordnung passten, bis sie als Sondergruppe verschwänden.14 Die Juden in den Me-
tropolen Mitteleuropas als ein fremdes Kollektiv anzusehen, löst die Eigenschaften
des Einzelnen auf und sieht diesen nur als Angehörigen einer Sondergruppe an.15
Dies ist ein problematisches Erbe des aufgeklärten Absolutismus in der Moderne. Es
wird in der vorliegenden Studie als Vorgang und Problem analytisch und historisch
vergleichend beschrieben. Allerdings ist es fraglich, dieses »Strukturmerkmal« des
modernen Staates, seine Untertanen biopolitisch zu ordnen und auszuschließen,
als Ursache für die nationalsozialistischen Verbrechen anzusehen. Gleichwohl ist
die vergleichende historische Migrations- und Metropolenforschung in der Lage,
solche Entwicklungen kultur- und sozialhistorisch treffender auf den Begriff zu
bringen.16 Grenzt die Mehrheit der Gesellschaft die Migranten im städtischen Raum
religiös aus, folgen Assimilation auf der einen, und Segregation auf der anderen
Seite; öffnet sie sich dagegen, folgen eventuell Inklusion und Diversität.17 Es ist da-
bei bemerkenswert, dass Inklusion und Exklusion in einem Zeitabschnitt nicht nur
nebeneinander verlaufen und unterschiedlicher Intensität sein können, sondern
dass sie sich sozio-kulturell in wechselnder Weise im Zeitverlauf verdichten: einmal
zulasten oder dem Schaden einer Minderheit, ein andermal zum Nutzen – und im
Übrigen auch in dritter Weise als ein Übergangsphänomen dazwischen auf dem
Weg aller in die erhofft offene Bürgergesellschaft.
Diversität wird hiermit nicht als Praxis des Staates begriffen, alle Gruppen und
Individuen in der Gesellschaft in gleichberechtigte und offen partizipierende Ak-
teure umzuwandeln, sondern wird als eine heuristische Kategorie zur Analyse und
Beschreibung historischer Entwicklungen benutzt. Die Geschichte der europäischen
Gesellschaften und ihrer jüdischen Minderheiten werden auf der Makro- (Ge-
sellschaft), Meso- (zivilgesellschaftliche Organisation) und Mikroebene (Indivi-
duum / Familie) idealtypisch als sozio-kulturell vielfältig-dynamisch strukturiert
angesehen, womit sich die damit entstandenen Konflikte und Lösungen, ihre Einheit
und Vielfältigkeit historisch neu vermessen lassen. In Anlehnung an John W. Berry
geht es um das Spannungsverhältnis zwischen der Identität des Einzelnen und sei-
ner Gruppe im Verhältnis zu der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft.18 Beide
Akteure reflektieren, konstruieren und dogmatisieren Fremd- und Eigenbilder
im Verlauf der assimilatorisch bedingten Akkulaturation, die ebenso Anpassung
wie Sonderung hervorbringt, oder eben eine Form der Marginalisierung, die in
14 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt / M. 1995,
S. 28 f., 31, 43 ff.
15 Ebd., S. 94 f.
16 Leo Lucassen / David Feldman, Drawing up a Balance Sheet, in: dies. (eds.), Paths of Integration:
Migrants in Western Europe (1880-2004), Amsterdam 2006, S. 283-296.
17 Richard Alba / Victor Nee, Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration, in:
International Migration Review 31 (1997), S. 826-874.
18 John W. Berry, Psychology of Acculturation: Understanding Individuals Moving between Cul-
tures, in: R. W. Brislin (Hg.), Applied Cross-Cultural Psychology, Thousand Oaks 1990, S. 232-25.
14
Migration, Religion und Metropolenbildung
Separation und Segregation mündet. Wird Druck auf eine Minderheit ausgeübt,
sich anzupassen, gibt es zwar Erfolge im Sinne der Mehrheitsgesellschaft, aber
auch – gerade wenn der Druck zu groß wird oder gewaltätig umschlägt, starke
Misserfolge, die in Absonderung umschlägt. Diversität ist dagegen ein Konzept
des 20. Jahrhunderts, das auf den positiven Erfahrungen von entwickelten Ein-
wanderungsgesellschaften aufbaut. Es bedeutet, dass die Kultur einer Minderheit
und des Einzelnen im Alltag der Mehrheitsgesellschaft offen praktiziert und sym-
bolisch repräsentiert, also als ebenso gleichberechtigt wie andersartig anerkannt
wird. Hier wird von einem historisch-deskriptiven Begriff von Diversität im Sinne
der Wahrnehmung von Vielfalt und Andersartigkeit ausgegangen, durch den eth-
nische und religiöse Unterschiedlichkeiten, aber auch sozio-kulturelle Differenzen,
Zuschreibungen des Eigenen und des Anderen sowie Konflikte um Identitäten und
kulturelle Organisationen historisch sichtbar gemacht werden können. Daneben
gibt es das politische Konzept von Diversität, das Vielfalt und die Akzeptanz von
Andersartigkeit als gesellschaftlichen Maßstab sozio-kulturellen Handelns in der
geselschaftlichen Selbstorganisation als faires und erwünschtes Verhalten vorgibt.19
Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, die Geschichte des 19. Jahrhunderts quasi als
»divers« auszumalen, wo es zwar bereits Vielfalt und Andersartigkeit durch Zuwan-
derung und ein Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen im städtischen Raum
gab, aber eben noch nicht auf der Basis des Ziels einer diversen Gesellschaft, in
der sich einzelne Individuen in ihren Sub- und Mehrheitskulturen ebenso frei wie
respektiert bewegen können sollen. Ideen wie diese gab es natürlich schon vorher,
aber eher im philosophischen Denken. Als Beispiel sei hier Moritz Lazarus (1824-
1903) erwähnt, der zwar als ›deutscher Jude‹ ein Paradebeispiel für Assimilation ist,
aber in seinen Schriften jedoch für eine multikulturelle Gesellschaft eintrat – eine
Idee, die im aggressiven Wilhelminismus aber unzeitgemäß war.20
In der Tat formen Ansprüche oder Gebote von Staat und Gesellschaft nach wie
vor Minderheiten und die Bedingungen ihrer Einheit; sie bestimmen, was Einfluss
auf jeden hat und wie sich die Einzelnen transkulturell anpassen – oder sich eben
monokulturell entziehen, widersetzen oder gar in Gruppen neu abschließen. Das
Spannungsfeld von Nation und Gesellschaft, Gemeinschaft und Individuum baute
sich im 18. Jahrhundert auf und zeitigte Folgen bis heute. Der Genozid, dem die
gesamte Spannbreite aggressiver Inklusion und Exklusion durch Assimilation und
Separation vorausging, existierte als Zivilisationsbruch erst im 20. Jahrhundert. Die
Jahrhunderte zuvor kannten aber sämtliche Praktiken der Ex- und Inklusion, die
der Extermination vorausgingen. Hier geht es jedoch nicht um die Frage, ob das
19 Aus der Fülle der Literatur hier zum Thema Migration und Diversität in Hinblick auf die aktuelle
Diskussion siehe: Wege der Integration. 4. Tutzinger Diskurs, Tutzingen 2018, S. 25 f., 38.
20 Siehe hierzu das Kapitel über Lazarus in der im Druck befindlichen Monografie von David
Hamann, Ein Ticket von Brody über Berlin nach New York. Die organisierte Solidarität der
deutschen Juden für osteuropäische jüdische TransmigrantInnen im Krisenjahr 1881 /82, Phil.
Diss. FU Berlin 2020.
15
Einleitung
20. Jahrhundert mit seinem radikalen Nationalismus auf den Gewaltpraktiken des
19. aufbaute, sondern um den Vergleich der komplexen sozio-kulturellen Prozesse,
wie Juden und urbane christliche Gesellschaften, später auch die säkularen, sich an-
näherten oder ausschlossen.21 Unter dem Eindruck der nationalhomogenen Disposi-
tive der sich nach 1918 und erneut nach 1945 formierenden Nachkriegsgesellschaften
sind die Konflikte zwischen Juden und Christen bzw. zwischen Nation und Gesell-
schaft verdrängt worden. Die Geschichtsschreibung verengte sich bis in die jüngste
Zeit auf die Reformjuden und ihre Akkulturation als Erfolgsstory, sowie auf den
Antisemitismus als Pathologie der Moderne. Die vorliegende Studie wirft einen
differenzierteren Blick auf die historischen Gemengelagen. Ferner sucht sie mit
Hilfe des Diversitäts-Paradigmas ein neues Narrativ aufzubauen: In republikanisch
oder demokratisch verfassten Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland oder der
Republik Österreich gibt es nach wie vor religiöse Diskriminierungen, nur werden
sie nicht so schnell als solche erkannt. Dazu gehört die erstaunliche Wiederkehr
der Diskussion um die Kontrolle oder zwangsweise Abschaffung der Riten und
Ansprüche nicht nur von Juden im Bereich der Beschneidung und des Schächtens,
sodann auch um die Sichtbarkeit und Höhe von Minaretten oder die Hörbarkeit
von Gebetsaufrufen für Muslime als vermeintliche Zeichen einer vermeintlich rück-
ständigen Religion, die in Form einer illiberalen Neuinterpretatiion der Moderne
zuückgekehrt ist, um diese von Abweichungen zu purifizieren.
Der ambivalente Weg, der den Juden einerseits Freiheit und Teilhabe an der
bürgerlichen Gesellschaft versprach, andererseits aber auch in ihre gesellschaft-
liche Segregation führen konnte, wenn sie sich nicht an die bürgerlich-christlichen
Gesellschaft anpassten, war komplex und verschlungen. Eine einfache Teleologie
gibt es nicht.22 Lange noch prägte die exklusive Gesellschaftsvorstellung vom re-
ligiös und politisch vereinheitlichten Angehörigen des Territorialstaats der Vormo-
derne die Geschichte der Juden in den Metropolen Zentraleuropas, bis hinein in
die Geschichte der Nationenbildung, die in Österreich und Deutschland erst mit
der imperialen Großmacht- und Machtstaatsbildung des 19. Jahrhunderts unter
der politischen Mitherrschaft des Adels zusammenfiel. Hierzu gehörte auch die
Tendenz zur religiösen und sozialen Ausgrenzung kleinster und größerer religi-
öser und politischer Sozialmilieus wie zum Beispiel der Arbeiterbewegung und
der Sozialdemokratie. Die Juden waren als Religionsminderheit die Grenzgänger,
die sich zwischen den Hauptreligionen bewegten. Außerdem waren sie eine in
der Diaspora auf sich alleine gestellte Gruppe, die keinen Staat hinter sich wusste,
um ihre kollektiven Interessen nach kultureller und religiöser Autonomie zu be-
21 Manuela Boatcă, Diskriminierung in der longue durée. Globale Muster und lokale Strategien, in:
Albert Scherr / Ulrike Hormel (Hg.), Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse,
Wiesbaden 2010, S. 115-133, 115 ff.
22 Amos Elon, Zu einer anderen Zeit. Portrait der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933), München
2002, S. 12 f.
16
Migration, Religion und Metropolenbildung
haupten. Eine Signatarmacht wie Israel gab es noch nicht. Die Mitglieder der jü-
dischen Gemeinden unterlagen wie alle anderen Religionsgruppen den gleichen
Prozessen der Modernisierung, nur erlebten sie diese anders und fanden auf ihn
eine andere Antwort. Es gab Phasen der positiven Inklusion in die Gesellschaft,
aber sie dominierten nicht den Geschichtsverlauf. Die Brüche und Rückschläge
überwogen. Ebenso wie es in der deutschen und österreichischen Geschichte des
19. Jahrhunderts keinen direkten Weg der Demokratisierung und Parlamentarisie-
rung von Gesellschaft und Staat gab, so existierte, trotz der Teilmodernisierungen
in Wirtschaft und Technik, Wissenschaft und Kultur, keine Gleichberechtigung der
Juden als politische Individuen und als soziokulturelle Gruppe zusammen. Dies
kam nur schrittweise. Die Juden standen neben den großen Sozialmilieus der zwei
christlichen Hauptreligionen und neben den politisch-ideologisch organisierten
Sozialmilieus wie der Sozialdemokratie und des Liberalismus, auch wenn es Über-
schneidungen und gemeinsame Interessen gab.
Im Grunde gehörte die jüdische Religionsgemeinschaft keiner der beiden
christlich-europäischen Hauptreligionen affirmativ an. Auch deshalb standen sie
als »Parias« im Mittelpunkt eines ambivalenten Prozesses der Moderne von In- und
Exklusion. Teilweise profitierten sie als Gruppe, indem einige wenige Exponenten
ihrer Gemeinden sich in diesen Prozess selbst einbrachten, andererseits blieben
sie Ausgeschlossene, denn ihr Außenseiterstatus festigte sich aus Sicht des großen
Ganzen in dem Maße, wie sie Distanz hielten – oder aber auf solche gehalten wur-
den. Dieser Aspekt ist erst spät in der europäischen Gesellschafts- und Kulturge-
schichte thematisiert worden. Doch heute können wir vor dem Hintergrund eines
neu gewonnenen Standpunktes auf die schwierige Geschichte der Juden in Wien
und Berlin, ja auf die Geschichte der deutschsprachigen Juden insgesamt differen-
zierter zurückblicken, gerade weil die gegenwärtigen Gesellschaften in Europa
offener und pluraler organisiert sind als jeh zuvor. Diese neue Liberalität versteht
sich aber nach wie vor nicht von selbst.23 Sie ist nicht zuletzt die ethisch gebotene
Antwort auf die Ermordung der Juden Europas durch das »Dritte Reich« – und
außerdem, wie hiermit gezeigt wird, auf eine verfehlte Politik der Assimilation
und Nationalisierung im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts. Die neue Offenheit
der heutigen Gesellschaft ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass es den
Nationalsozialisten und Antisemiten gewaltsam gelungen ist, die Anzahl der Juden
von ihrer einst ansehnlichen Größe von 500.000 Personen alleine für Deutschland
aus der Zeit vor 1933 durch Vertreibung ab 1938 und den darauf folgenden Mas-
senmord im Krieg gewaltig zu verkleinern. Im Jahr 2020 lebten in Deutschland
93.695 Juden, in Österreich den Schätzungen der jüdischen Gemeinde Wien nach
23 Zum neuen Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland siehe Samuel Salzborn, Anti-
semitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich,
Frankfurt / M. 2010.
17
Einleitung
8-15.000.24 Der Blick über den Nationalsozialismus hinaus in die weitere Vergangen-
heit zurück hilft nicht nur, die Geschichte der gescheiterten Inklusion der Juden in
Blick zu nehmen, sondern die Gefahren, denen Minderheiten durch eine halbher-
zige Politik der Integration ausgesetzt werden können, wenn sie auf Assimilation
und nicht auf Diversität beruht.
Es darf im klassischen Sinne der Aufklärung als List der Vernunft angesehen werden,
dass die Bestände an Quellen, die Hitler für sein in Graz geplantes Führermuseum
aus ganz Europa geplündert und dort neu archiviert hatte, um in einer speziellen
Koje die Judenvernichtung als Erfolgsstory zur Schau stellen zu können, von der
Roten Armee nach der deutschen Kapitulation nach Moskau verbracht worden sind,
um sie in sichere Verwahrung zu nehmen. Einige dieser »Beuteakten« sind seit Jahr-
zehnten weder den jüdischen Gemeinden Europas noch der Fachwelt zugänglich
gewesen. Die Hand- und Protokollakten, die Presseauschnittsammlungen und die
Nachlässe verschiedener Repräsentanten des jüdischen Lebens in Wien und Berlin
aus dem Sonderarchiv Moskau (SoMo) bilden die Quellenbasis für die vorliegende
vergleichende und transnationale Sozial- und Kulturgeschichte der Wiener und
Berliner Juden. Die andere Überlieferung, auf die diese Studie zurückgreift, sind die
bislang in Israel aufbewahrten und zusammengetragenen Dokumente des Central
Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem, insbesondere
die dort aufbewahrten Akten der jüdischen Gemeinde in Wien. Leider sind die
Akten der Berliner Gemeinde nicht mehr vollständig überliefert und weit verstreut.
Jedoch bilden einzelne in Moskau und Jerusalem überlieferte Bestände und Samm-
lungen eine bis heute nicht zu unterschätzende Überlieferung des jüdischen Lebens
in Europa ab, die von mir erstmals systematisch und in Gänze in Hinblick auf die
Geschichte beider Gemeinden gesichtet und ausgewertet wurden. Die »Sammlung
Neumann«, gemeint ist der Berliner Statistiker, Mediziner und Politiker Salomon
Neumann (1819-1908), der Nachlass von Paul Nathan (1857-1927) und die Akten
der Israelitischen Allianz zu Wien im Sonderarchiv Moskau verhelfen zu neuen
Einsichten über die Probleme der jüdischen Migration in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Es ist von daher wenig überraschend, dass die Geschichte der
Juden in Wien und Berlin im Licht dieser Quellenfunde in Teilen neu gesehen
und anders interpretiert werden kann als bisher. Jeder Historiker weiss, dass die
soziale Struktur und die kulturelle Entwicklung einer Gruppe umso komplexer
24 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1232/umfrage/anzahl-der-juden-in-deutschland-
seit-dem-jahr-2003, Stand ist der 31. 7. 2021; https://religion.orf.at/v3/lexikon/stories/2628989,
Stand vom 31. 7. 2021.
18
Quellenbasis, Aufgaben und Rahmen
und dem Idealtyp sich bestenfalls annähernd genau herausgearbeitet werden kann,
wenn die erreichbaren Quellen hinreichend einbezogen werden, und nicht nur die
publizierten Selbstzeugnisse der wenigen Repräsentanten, die über sie nachgedacht,
geschrieben und veröffentlicht haben. Auf diese Weise erscheinen die Juden in der
Gesellschaft weniger als eine abgesonderte Gruppe, die sich selbst in ihrem »Ich«
bespiegelt und die Räume ihres möglichen Lebens reflektiert,25 sondern als eine,
die sich im historischen Wandel als Teil des Ganzen alltäglich sozial und kulturell
mitwandelt, und zwar in ihrer Differenz und Anpassung. Überdies ermöglicht der
Abgleich des Besonderen mit dem Allgemeinen in zwei Fällen eines Vergleichs
verallgemeinerbare und evidente Aussagen zur Geschichte der Hauptstadtjuden
in Mitteleuropa. Hier vermag die historische Komparatistik die Differenzen und
Überschneidungen der jeweiligen Entwicklungen trennschärfer heauszuarbeiten.
Der Blick in die Vormoderne, den das Kapitel 1 und 2 bietet, bestätigt weitgehend
das Bild einer negativ ›privilegierten‹ Gruppe, die der neuzeitliche Staat erzeugte, um
sich die jüdische Gemeinschaft als Gruppe wirtschaftlich und ohne jede kulturelle
Gegenleistung nutzbar zu machen. Dieser Prozess der Funktionalisierung begann
bereits in der Frühen Neuzeit mit der konsequenten und gewaltsamen Teilentrech-
tung der Juden.26 Der frühneuzeitliche Fürstenstaat setzte auf dem Weg der Gesell-
schaft in den modernen Staat bereits sozialtechnische Praktiken ein, um die Juden
demografisch, politisch und kulturell zu diskriminieren und um sie wirtschaftlich
auszunutzen. Dieser Staat setzte aber gleichzeitig Mittel der sozialen und kulturellen
Öffnung ein, um die gesellschaftliche Randlage der Juden abzumildern oder gar
zu beseitigen, und um sie den anderen Untertanen in einem von oben geleiteten
Emanzipationsprozess anzupassen. Die Ausschließung und Diskriminierung dieser
»tolerierten« Juden reichte bis in die Emanzipationsziele und -bestrebungen der
neuzeitlichen Staaten hinein. Die Juden konnten ihre Fremdheit nur ablegen oder
dämpfen, wenn sie sich der christlichen Gesellschaft nicht konkurrierend annäher-
ten, also wenn sie im öffentlichen Raum als Religionsgemeinschaft unsichtbar blie-
ben – oder wenn sie de facto als solche verschwanden, also wenn sie konvertierten.
Am Anfang der Emanzipationsbestrebungen der modernen Staaten in Mittel-
europa stand das Leitziel der Segregation der Juden, dem sich diese nur – spä-
ter – durch Assimilation oder Auswanderung entziehen konnten. Von daher ist
es sehr leicht erklärbar, dass die Juden, sofern sie im 19. Jahrhundert Gegenstand
von völkischen oder national-konservativen Gesellschaftsentwürfen der neuen
Großparteien oder Sozialmilieus wurden, stets als Fremde bezeichnet wurden,
die die gute, zumeist ständische beziehungsweise organische Ordnung störten,
die – als Gegenentwurf zu der liberal-demokratischen Utopie einer »res publica« –
25 Joachim Schloer, Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822-1938, Göttingen
2005, S. 33.
26 Victor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt / M.
1999, S. 53.
19
Einleitung
wiederherzustellen war. Für die konservative Moderne blieben die Juden Außen-
seiter der »guten« Gesellschaft, während die Liberalen sie nur verbessern wollten.
Diese Ordnungsvorstellungen sowohl der katholischen als auch der protestantischen
Sozialmilieus bezogen – wie in Kapitel 3 ausgeführt – ihre gesellschaftspolitische
Wirksamkeit sowohl aus den Anfängen der Staats- und Nationsbildung als auch
aus den Verstädterungsprozessen gleich zu Beginn der Modernisierung der Fürs-
tenresidenzen auf dem Weg in die moderne Hauptstadtmetropole.
Antijudaismus und Antisemitismus sind kulturpolitisch zwei Varianten der
Modernisierung, die den Weg der Juden in die Neuzeit nicht beliebig bestimmten,
sondern durch einen zu hinterfragenden und in Zügen neu darzustellenden histori-
schen Kontext. Das Konstrukt vom Juden als Fremdem wird in Kapitel 4 ausgeführt.
Es findet sich von der Aufklärungszeit bis zur Revolution von 1848 quer durch alle
sozialen Gruppen, aber in unterschiedlicher Intensität und Wirksamkeit. Diese Kon-
struktion der kulturellen Fremdheit wirkte sich sozial, wirtschaftlich und politisch
einseitig nachteilig aus; es war ein nicht abzuschüttelndes Stigma, das den Juden die
gesellschaftliche Anerkennung verbaute und ihnen deshalb nur Nachteile brachte.
Dieses Stigma wurde von den Nichtbetroffenen als Ressource genutzt und mobi-
lisiert, um sich selbst auf den Märkten gegenüber den Mitkonkurrenten Vorteile zu
sichern. Den Juden wurden die Nachteile der Sonderexistenz aufgebürdet, um sie im
metropolitanen Raum auf eine spezifische Weise zu funktionalisieren. Festzuhalten
bleibt, dass Antijudaismus und Antisemitismus ein Mobilisierungspotenzial ge-
sellschaftlichen Handelns darstellten, mit deren Hilfe der Staat Politik machte. Er
schaffte nicht nur die Märkte; er definierte auch, wer davon ausgeschlossen wer-
den sollte. Die historische Komparatistik hilft diesen Prozess idealtypisch in seiner
Wirksamkeit und Intensität herauszuarbeiten, was nicht heißt, dass ein Staat und
eine Gesellschaft per se antisemitisch wären, weil es dort solche Praktiken gab. Die
Wirksamkeit dieser Praktiken nachzuzeichnen und zu analysieren, hilft den Status
der Juden als religiöse Minderheit in den Residenzstädten im historischen Wandel
genauer zu spezifizieren sowie die Brüche und Auflockerungen aufzuzeigen, die in
die diversifizierte Gesellschaft der europäischen Moderne weisen.
Die Geschichte der Juden in den frühneuzeitlichen Residenzen ist für die Ge-
schichte der Juden in der Moderne vor allem deshalb wichtig, weil sich an ihrem
Beispiel die Probleme, Ursachen und Hemmnisse verdeutlichen lassen, die im langen
historischen Verlauf zwischen ihrer Vertreibung und Wiederansiedlung und ihrer
In- und Exklusion im urbanisierten Raum liegen. Die Migrationsgeschichte legte
ihren Fokus bisher zu einseitig auf die Reise- und Transportwege von Migranten,
ohne aber die fragile Lebenssituation beim Ankommen an ihrem Ort und den All-
tag dort angemessen zu berücksichtigen, vor allem über einen längeren Zeitraum
hinweg. Eine Geschichte der Juden in den Metropolen Mitteleuropas, die verglei-
chend argumentiert, kann dieses Desiderat schließen helfen, gerade wenn sie auf
einen längeren Lauf hin angelegt ist. Nancy Green ist zuzustimmen, dass der kon-
gruente Vergleich zweier Städte bei einer gleichreligiösen Zuwanderungsgruppe
20
Quellenbasis, Aufgaben und Rahmen
die In- und Exklusionsproblematik bei Zuwanderern besonders scharf und diffe-
renziert herauszuarbeiten vermag.27 Es geht nicht nur um die großen Linien der
Wanderung von Punkt A nach B in der Makrogeschichte der Migration, sondern
um die vielfältigen Probleme von In- und Exklusion in dem sich herausbildenden
städtisch-metropolitanen Raum zwischen Vormoderne und Moderne. Die mikro-,
makro- und mesohistorische Kontextualisierung des Migrationsgeschehens vor und
nach der Ankunft der Migranten am Ziel ist deshalb von Bedeutung, weil der städ-
tische Raum sowohl ein Ort von Assimilation, Separation und Segregation, als auch
von Akkulturation, Integration und Inklusion war. Kulturelle Diversität war und ist
ein Kennzeichen von kultureller Freiheit, die im Zuge der Territorialisierung des
Fürstenstaates auf dem Weg zum modernen Nationalstaat noch nicht etabliert war.
Kulturell verdichtete Fremdheitskonstrukte sind symbolisch wirksame Zuwei-
sungen der eigenen Gruppe an die vermeintlich anderen, um die eigene Identität
abzugrenzen oder erfahrbar zu machen, oder aber um den Fremden immer wieder
erneut zu zeigen, wie diese sich anzupassen haben, um im Ganzen aufzugehen.28
Diversität durch Kulturtransfers erleichtert die Inklusion, weil die zugewanderte
Gruppe ihre Identität nicht aufgeben muss, um von den Alteingesessenen akzeptiert
zu werden. Akzeptierte Diversität war auf dem Weg in die Moderne aber mitnich-
ten ein Normalfall der Geschichte, sondern eine Ausnahme, die in immer engere
Rahmen und Normen eingefasst wurde. Judenfeindlichkeit oder Antijudaismus
sind historische Konstrukte, welche im gesellschaftlichen Alltag der fürstlichen
und königlichen Residenzstädte im Verlauf des langen Weges bis zur modernen
Metropole zwar stets wirksam waren, aber nicht »total«. Wie in Kapitel 5 dargelegt,
ist die jüdische Migrations- und Kulturgeschichte in den Städten grundsätzlich
von offenen, reversiblen Prozessen des sich Annäherns und Abgrenzens gekenn-
zeichnet. Diese Prozesse enthalten Ambivalenzen, die auf eine schwierige, aber
nicht von vornherein verschlossene positive Beziehungsgeschichte zwischen christ-
lichen Mehrheiten und jüdischer Minderheit hinweisen. Sowohl die Hindernisse
als auch die forcierte Beschleunigung gegenseitigen Schließens und Öffnens sind
für die jüdische Geschichte als Paradigma ebenso konstitutiv wie für die allgemeine
Migrations- und Metropolengeschichte. Der historische Kontext dieser jüdischen
Migrations- und Gesellschaftsgeschichte unterlag beständigem Wandel, und dieser
Wandel kennt im längeren Lauf keine ganz und gar offenen Inklusions-, aber auch
keine vollständigen Exklusionsverläufe.
Die Kapitel 6 und 7 zeigen, wie die Städte und Länder die Juden nach der
gescheiterten Revolution von 1848 zwar sukzessive, aber nicht vollständig gleich-
27 Nancy L. Green, The Comparative Method and Poststructural Structuralism: New Perspectives
for Migration Studies, in: Journal of American Ethnic History 13 (1994), S. 3-22.
28 Vgl. hierzu die Diskussion der Rassismustheorien und ihre historische Operationalisierung
durch Anja Weiss, Rassismus als symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit, in:
dies./Cornelia Koppetsch (Hg. u. a.), Klasse und Klassifikation: Die symbolische Dimension
sozialer Ungleichheit, Wiesbaden 2001, S. 79-108.
21
Einleitung
stellten. Die Wiener und Berliner Juden blieben diskriminiert. Im Zuge der christ-
lich-sozialen Restauration und der Formierung der antisemitischen Bewegung ab
1879 verfestigte sich in Berlin die Exklusionsseite der bürgerlichen Gesellschaft und
des Staates erneut, was aber die jüdische Zuwanderung in die Stadt nicht stoppte.
In Wien erfolgte die antisemitische Wende erst mit den Erfolgen Karl Luegers ab
1885. Gleichzeitig gelang es den Juden sich binnen 20 Jahren nach 1848 aus den ih-
nen in den Residenzen ehemals vorgeschriebenen Berufszweigen im Finanz- und
Hofhandel sozial herauszulösen. Kapitel 8 beschreibt, wie eine neue Generation
von Juden sich im Verlauf von Urbanisierung, Industrialisierung und funktio-
naler Differenzierung der Wiener Gesellschaft um 1890 als Handwerker, Lehrer
und akademische Freiberufler als Teil der bürgerlichen Gesellschaft etablierte. Die
Bürgergesellschaften reagierten auf die Diversität durch Zuwanderung zunächst
unterschiedlich. Jüdisches Leben verstetigte und differenzierte sich aus. Die aus
Ungarn nach Wien zugewanderten Juden schufen dort ebenso eigene Landsmann-
schaften wie die in Berlin, die aus der Provinz Posen zuwanderten. Diese jüdischen
Zivilgesellschaften waren divers und sehr heterogen, also »modern«.
Die Kapitel 7 bis 8 zeigen allerdings auch, wie die Pogrome in Russland 1881 /82,
1891 und 1903 /4 die vom Liberalismus gestützte Erfolgsgeschichte der Inklusion
unterbrachen. In Berlin gewann der Antisemitismus an Stärke und führte zu ei-
nem strengen Grenzregime mit Massenausweisungen. Dies traf nicht nur russisch-
polnische Juden, sondern auch sozio-kulturell bereits eingesessene. Aber es gab
keine »Masseneinwanderung« russländischer Juden nach Berlin; der überwiegende
Teil der jüdischen Einwanderer zwischen 1850 und 1881 stammte aus den Ostpro-
vinzen Preußens. Obwohl sich bis zum Ersten Weltkrieg in Berlin und Wien jüdi-
sche Zivilgesellschaften herausbildeten und assimilierten, blieben die Juden vom
Staatsdienst ausgegrenzt. Abschließend verdeutlicht das Kapitel 9, wie sich vor
dem Ersten Weltkrieg der Trend zur Schließung der europäischen Gesellschaften
durch Nationalisierungen zuspitzte. Diese Exklusionen bestimmten bis 1918 nicht
die gesamte bürgerliche Gesellschaft; sie waren rückgängig zu machen. Die Juden
in Berlin und Wien nutzten vor dem Ersten Weltkrieg die Chance, die von Nationa-
listen aufgeworfene »Lösung der Judenfrage« selbst in die Hand zu nehmen: zum
einen durch die Auswanderung nach Palästina oder in die USA, zum anderen durch
soziale Mobilität im eigenen Land.
Die Wahrnehmungen der Juden als Fremde im 19. Jahrhundert beeinflusste die
Gesellschaften in der Habsburgermonarchie und im Deutschen Reich mehr als
Offenheit, Toleranz und Akzeptanz. Antijüdische Impulse sind jedoch nach wie vor
politisch beliebig abrufbar. Dieser Schluss kann die Gesellschaft dazu anregen, ihre
Sichtweisen auf religiöse und andere Minderheiten zu verändern, lang eingesessene
oder sich sozio-kulturell neu konstituierende Milieus oder Subkulturen nicht als
fremd einzustufen. Die Religionszugehörigkeit ist allerdings nur eine von vielen
Faktoren, das kulturelle Leben in den Städten vielfältiger zu gestalten. Repressionen
führen zu sozialen Abschließungen, bis hin zu gewaltsamen Unterdrückungen.
22
Quellenbasis, Aufgaben und Rahmen
23
1. Die Vertreibung und Duldung der Juden
in der Vormoderne
1.1 Zwischen kultureller Stigmatisierung und Vertreibung: 1539 bis 1669 /71
Seit 1535 vertrieben die protestantischen Länder Thüringen, Sachsen und Württem-
berg die jüdische Bevölkerung.1 Dies war zwar religiös motiviert, es folgte aber auch
dem rationalen Kalkül der wirtschaftlichen Instrumentalisierung der jüdischen
Stadtbewohner als Finanzquelle, die sich die erstarkenden Fürsten und Landesher-
ren im Zuge der Territorialisierung und Staatsbildung ihrer Herrschaften aneig-
neten.2 Die führenden Theologen der Reformation waren sich zwar einig darüber,
dass die Juden in der christlichen Gesellschaft einen Störfaktor darstellten. Uneinig
waren die Theologen der Reformationszeit aber in der Frage, ob die Juden von der
christlichen Gesellschaft separiert leben durften oder aber ausgewiesen werden
müssten. Die Haltung gegenüber Juden milderte sich mit dem Ende der Religi-
onskriege deutlich ab, nachdem die Landesherren selbst gemäß des Augsburger
Rechts- und Religionsfriedens von 1555 entweder Protestanten oder Katholiken
des Landes verwiesen.3 Aufgrund des Gebots »cuius regio, eius religio« durften die
Landesfürsten die Konfession ihrer Untertanen selbst bestimmen, was zu Vertrei-
bungen und Neuansiedlungen führte. Eine Kontinuität eines »liquidatorischen«
Antisemitismus in den protestantischen Ländern des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation,4 das weite Teile Europas überspannte, gab es nicht, sehr wohl
aber eine antijudaistische Grundhaltung.
Martin Luther (1483-1546) empfahl den Stadtherren und Fürsten 1543, die Ju-
den aus den Städten zu vertreiben, weil sie sich seiner Meinung nach nicht zum
Protestantismus bekehren ließen: »Am Glauben scheiden sich die Wege. Wer das
Evangelium ablehnt, soll dort nicht wohnen dürfen, wo es von anderen anerkannt
wird.«5 In einzelnen Regionen Europas wie zum Beispiel bei Bamberg führten
Ritualmordbeschuldigungen, die kirchliche Autoritäten und der Landesherr un-
terstützten, zu gewalttätigen Übergriffen auf jüdische Einwohner.6 Um dieser Ent-
wicklung entgegenzuwirken, bekräftigte Kaiser Karl V. (1500-1558) am 3. April 1544
1 Stefan Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit: 1520-1670, Köln 2002, S. 162 f.
2 Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts,
München 2001, S. 86.
3 Wilhelm Schwendemann, Melanchthon und der Dialog zwischen Juden und Christen – Me-
lanchthon und das Judentum, in: ders. (Hg.), Die bunte Seite der Reformation. Das Freiburger
Melanchthon-Projekt, Münster 1997, S. 194-209, 198.
4 Vgl. Daniel Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners, New York 1996, S. 8.
5 Vgl. Gerhard Müller, Jüdische Realenzyklopädie, Teil I., Bd. 3, Berlin 1993, S. 148.
6 Litt, Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit, S. 138.
25
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
zum Reichstag zu Speyer, der vom 15. März bis zum 22. April andauerte, seinen
»Schutz und Schirm« über die »Jüdischheit«. Er sicherte den Juden die aus dem
Gewohnheitsrecht abgeleitete freie Religionsausübung zu, dazu das Wohn- und Auf-
enthaltsrecht sowie Freizügigkeit. Den Stadt-, Landes- und Grundherren versagte er
ausdrücklich, jüdische Synagogen zu versperren oder zu zerstören.7 Freilich erzielte
er für die Unterstellung der Juden unter das Landrecht eine Einnahme von 3.000
rheinischen Gulden, musste er doch seinen Krieg gegen Frankreich finanzieren. Die
erstarkenden Territorialfürsten verbaten den Juden immer wieder die Ansiedlung,
oder sie drohten ihnen mit kollektiver Vertreibung, um hohe Geldsummen für
ihren gesteigerten Finanzbedarf zu erpressen.8 Diese Entwicklung erstreckte sich
in der Vormoderne nicht nur auf die protestantischen Länder.
Die Stigmatisierung der Juden war weder ein Paradigma des Katholizismus noch
des Protestantismus. Es gab stets auch Formen des transkulturellen Austauschs. So
nutzten beispielsweise jüdische Gelehrte und Rabbiner die Gegenreformation, um
das niederliegende Schulwesen in Anlehnung an das jesuitische Schulsystem neu
zu gestalten.9 Und anders als Luther plädierte beispielsweise Philipp Melanchthon
(1497-1560) für eine friedliche Koexistenz zwischen Christen und Juden. So setzte
er sich erfolgreich für die Wiederansiedlung der Juden in Berlin ein. Melanchthon
nahm damit die Tradition seines Lehrers Johannes Reuchlins (1455-1522) auf, der
in Südwestdeutschland bereits 1511 in den »Dunkelmännerbriefen« gegen das Ver-
bot und die Vernichtung jüdischer Bücher eintrat.10 Er setzte sich für eine fried-
liche Koexistenz von Christen und Juden im städtischen Raum ein. Melanchthon
unterstützte das Gesuch des Sprechers der Juden im Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nation und Polen, Josels von Rosheim (1476-1554), den Juden erneut
die Ansiedlung in Brandenburg zu gestatten.11
Die Juden in Wien und Berlin nahmen gegenüber den nichtchristlichen
Religionsminderheiten im Übergang in die Moderne eine Sonderstellung ein. Als
eine in der Diaspora lebende Religionsgemeinschaft waren sie seit dem Mittelal-
ter stets und oft gefährdet, entweder aufgrund religiösen Eifers oder Sozialneids
verfolgt zu werden. In Frankfurt am Main genossen die Juden zwar das Privileg
7 Das Große Judenprivileg Kaiser Karl V., gegeben zu Speyer, 3. April 1544, in: HStAM, 86, Nr. a
611 (http://www.digam.net/?dok=8496), Bl. 1-5.
8 Vgl. Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts; Litt,
Juden in Thüringen, S. 145.
9 Giuseppe Veltri »… in einigen Glaubensartikeln neigt die jüdische Nation eher zur römischen
Kirche«, in: Florian Schuller (Hg. u. a.), Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und
Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Regensburg 2005, S. 15-29.
10 Hans Martin Kirn, Das Bild vom Juden in Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt
an den Schriften Johannes Pfefferkorns, Tübingen 1989; Friedrich Battenberg, Das europäische
Zeitalter der Juden Darmstadt 1990, S. 180 ff.
11 Heinz Scheible, Reuchlins Einfluß auf Melanchthon, in: Arno Herzig (Hg.), Reuchlin und die
Juden, Sigmaringen 1993, S. 123-145.
26
Zwischen kultureller Stigmatisierung und Vertreibung
der »Stättigkeit«, sie gehörten aber nicht der zur Verteidigung der Stadt vereideten
Gruppe der freien Bürger an.12 Diese prekäre Position teilten sie mit ihren Glau-
bensbrüdern und -schwestern in anderen Fürstenhäusern und -residenzen. In Ber-
lin, wo der Kurfürst Joachim II. (1505-1571) über die Mark Brandenburg herrschte,
waren die Juden 1510 vertrieben worden. Unter seiner Herrschaft konnten sie am
25. Juni 1539 zurückkehren. Am Berliner Hof waren sie als Hoffaktoren sowie Kre-
ditgeber und am Messeplatz Frankfurt an der Oder als Fernhändler geduldet, wo
sie einen regen Fernhandel mit Luxuswaren wie Seide betrieben. Dies sicherte dem
Kurfürsten Joachim II. ein höheres Steueraufkommen, das er für den Stadt- und
Residenzaufbau ver wendete. Als Hoffaktoren versorgten die jüdischen Händler
das Fürstenhaus, den Adel und das örtliche Bürgertum mit Krediten. Da die jüdi-
schen Kaufleute ihre Waren mit ausländischen Münzen begleichen mussten, die
in der Regel einen hohen Edelmetallgehalt aufwiesen, erlangten sie eine besondere
Funktion in der Finanzbeschaffung des Hofes. Ihre Abgaben zahlten sie stets in
Silber, das die Staatskasse benötigte. Die eigenen Münzen, denen der Landesherr
nur Eisen zusetzte, wurden durch die Edelmetallanteile aufgewertet. Die Position
dieser Händler und Hoffaktoren war in dem Sinne prekär, dass sie stets mit ra-
dikalen Anfeindungen rechnen mussten, falls der Fürst ihnen sein Vertrauen entzog
oder verstarb. Nachdem Kurfürst Joachim II. dem aus Prag zugewanderten Juden
Lipman ben Juda (1530-1573) 1565 die privilegierte Position des Hofkämmerers
übertrug, führte dieser die Kreditgeschäfte und das Münzregal.13 Als Joachim II. am
3. Januar 1571 hoch verschuldet verstarb, beschuldigten der neue Kurfürst Johann
Georg (1525-1598) und sein Kanzler Lampert Distelmeyer (1522-1588) den ehema-
ligen Hoffaktor Lipman, seinen Gönner erst verzaubert, dann vergiftet zu haben.
Im peinlichen Verhör presste man ihm ein Geständnis ab. Danach wurde er 1573
öffentlich auf dem Markt gerädert und gevierteilt.14
Einige Berliner Bürger und Adelige waren bei Lipman mit über 11.000 Talern
verschuldet. Durch den Justizmord und ein Pogrom entledigten sie sich ihrer Schul-
den. Lipmans Witwe verzog nach Wien, wo sie den österreichischen Kaiser im Fe-
bruar 1574 bat, sich für die Rückgabe der Vermögenswerte des Gatten einzusetzen,
was misslang. Anfang 1573 unterzeichnete der neue Kurfürst Johann Georg von
Brandenburg einen Ausweisungsbefehl, sodass alle Juden die Mark Brandenburg
bis zum 1. Februar verlassen mussten, gefolgt von Pogromen und Vermögensraub.
12 Felicitas Schmieder, »… von etlichen geistlichen leyen wegen …«. Definitionen der Bürgerschaft
im spätmittelalterlichen Frankfurt a. M., in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1999, München
2000, S. 131-165, 140 f.
13 Franz Menges, Lippold (eigentlich Lipman ben Juda), in: NDB 14 (1985), S. 667 f.
14 Vgl. Anton Balthasar König, Versuch einer historischen Schilderung der Hauptveränderungen
der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften, der Residenzstadt Berlin seit den
ältesten Zeiten, bis zum Jahre 1776. Erster Teil. Bis zum Ende der Regierung Churfürst Georg
Wilhelms, Berlin 1792, S. 104 f.; Herbert Schwenk, Der Wahnsinn hatte Methode. Das grausame
Strafgericht gegen Münzmeister Lippold anno 1573, in: Berlinische Monatsschrift 3 (1999), S. 4-10.
27
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
Die Juden der Mark Brandenburg zogen teilweise nach Prag oder nach Polen, wo
König Kasimir von Polen (1458-1484) ihnen Schutzbriefe ausstellte.15 In Polen wa-
ren die jüdischen Flüchtlinge nun willkommen, obwohl sie auch dort zuvor kol-
lektive Gewalterfahrungen erlitten hatten. Dort stieg zwischen dem 15. bis Mitte
des 17. Jahrhunderts die Anzahl der Juden von zunächst 25.000 auf 500.000 an.16
Mit Beginn der Neuzeit, vor allem aber nach dem Dreißigjährigen Krieg, verloren
die Juden nach und nach den kaiserlichen Schutz als Religionsgruppe. Sie verfügten
am Ende nur über eine Sicherheit. Dies war ihre erfolgreiche Instrumentalisierung
als Finanzquelle des sich herausbildenden Territorialstaates, repräsentiert durch
den Fürsten oder König.17 Zwangsausweisungen, Pogrome oder körperliche Über-
griffe, vornehmlich durch aufgehetzten Pöbel und gewalttätige Studenten, blieben
bis in das 17. Jahrhundert ein Teil des gesellschaftlichen Lebens der Juden in den
mitteleuropäischen Residenzstädten. Dies wirkte sich teilweise sowohl auf die städ-
tisch-jüdische Infrastruktur in den Residenzen als auch auf die demografische und
sozialstrukturelle Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung aus – mit Folgen
für deren Selbst- und Fremdverständnis. Ein gutes Beispiel für diesen Prozess der
Entrechtung der Juden in den Hauptstädten auf der einen Seite und ihre Funkti-
onalisierung für die Finanz- und Wirtschaftsleistung des vormodernen Staates
auf der anderen Seite liefert das Wiener Beispiel. Die Juden Wiens waren bereits
1421 vollständig vertrieben worden, konnten aber um 1571 zurückkehren. Bis 1421
hatten sie über eine eigene Gemeinde verfügt, in einer Ghettovorstadt gelebt, dort
Häuser erworben und eigene Handwerker beschäftigt. Die Vertreibung von 1421
betraf nach Angaben des Wiener Bürgermeisters und des Rats der Stadt Wien
rund 3.000 Personen,18 nach vorsichtigeren Schätzungen nicht weniger als 2.500.
Nachweisbar lebten in Wien zu diesem Zeitpunkt mindestens 1.670 Juden, die sich
auf 126 Familien mit eigenen Häusern verteilten. Eine Familie umfasste bis zu 20
Personen.19 Erst 1571 stabilisierte sich das jüdische Leben in Wien wieder. Maximi-
lian II. (1527-1576) gestattete sieben jüdischen Familien erneut die Ansiedlung. Es
handelte sich in der Regel um die schmale Wirtschaftselite der Wiener »Schutzju-
15 Eugen Wolbe, Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg, Berlin 1937, S. 79 ff.
16 Gertrud Pickhan, Polen, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeind-
schaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Länder und Regionen, München 2008, S. 276-285,
277.
17 Vgl. Eveline Brugger, Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung – Juden in Österreich im Mittel-
alter, in: dies. (Hg. u. a.), Geschichte der Juden in Österreich. Wien 2006, S. 221.
18 Bittschrift um die Ausweisung der Juden. Supplikation des Bürgermeisters und des Rates der
Stadt Wien an den Kaiser von 1669, in: A. F. Pribram (Hg.), Urkunden und Akten zur Geschichte
der Juden in Wien. Erste Abteilung, Allgemeiner Teil 1526-1847, Bd. 1, Wien 1918, S. 209.
19 Diese Zahl geht aus der Schätzung des Werts der Häuser hervor, die die vertriebenen jüdischen
Familien in Wien verlassen und verkaufen mussten. Insgesamt verfügte die jüdische Gemeinde
über zwei Gemeindehäuser, ein Spital und eine Synagoge. Vgl. die Schätzung der Judenhäuser
von 1670, in: Pribram, Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 250 f.
28
Die kaiserliche Judenpolitik und die Vertreibung der Juden aus Wien
den«, die vorrangig Hoflieferanten des Kaisers waren.20 Der Umzug Maximilians
II. von Prag nach Wien verstetigte die jüdische Aniedlung in der neuen Residenz.
Allerdings drohte den Juden 1669 die wiederholte kollektive Vertreibung aus Wien
und Niederösterreich, die 1671 erfolgte.21
Die Vertreibung der Wiener Juden 1669 /71 erfolgte keineswegs zu spät, um sie nicht
als Folge der Gegenreformation auszumachen. Allerdings zeigt sie auch nicht die
charakteristischen Züge einer geplanten und reflektierten Vertreibungslösung, die
der »absolute« Herrscher herbeiführte, um seine Untertanen religiös zu vereinheit-
lichen. Es handelte sich um einen komplexen Prozess, in dem die städtische Gesell-
schaft und einzelne Sozialmilieus um die kulturelle Vorherrschaft des öffentlichen
Raums und deren Kontrolle stritten, teils mit Gewalt, teils durch deeskalierende
Verhandlungsstrategien. Als Folge dieses Streits ergaben sich eine Neudefinition der
Aufgabe der jüdischen Bevölkerung innerhalb der Residenzstadt und eine deutliche
Verringerung ihres Anteils an der städtischen Bevölkerung. Dies entspricht zwar
einer Anpassung an die Entwicklungen in den Residenzen der protestantischen
Landesfürsten, aber sie war nicht planvoll angestrebt. Die Auseinandersetzungen
um die Vertreibung der Wiener Juden und vor allem um die Rückkehr einiger we-
niger, die nach 1671 mit Stadt, Hof und Kaiser verhandelten, verdeutlichen vor allem
den gesellschaftlichen Druck, dem der Kaiser in seiner Judenpolitik ausgesetzt war.
Leopold I. (1640-1705) war in dieser Hinsicht kein absoluter Herrscher, sondern
vorrangig ein Manager von Konflikten und Interessen. Im Zeitalter des sich her-
ausbildenden Absolutismus herrschte der Monarch zwar ohne Gewaltenteilung im
modernen Sinne, aber er hatte sehr wohl auf die konkurrierenden und partikularen
Interessensgruppen in seiner Residenz Rücksicht zu nehmen. Leopold I. ordnete
beispielsweise noch im Sommer 1669 die Ausweisung der Wiener Juden an,22 zog
diese Entscheidung aber vier Jahre später zurück. Die verschiedenen Milieus wirkten
auf den Kaiser ein, und jedes verfügte durchaus über die Möglichkeit, ihn in seinen
Entscheidungen zu beeinflussen. Jedenfalls war nicht der Kaiser selbst Urheber der
Vertreibungen, auch wenn er diese unterstützte. Der Anlass des Konflikts, der die
Vertreibung der Juden aus Wien auslöste, waren gewalttätige Übergriffe auf sie, für
die breit akzeptierte Lösungen gefunden werden mussten, aber weitgehend unter
29
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
23 David Kaufmann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich, ihre Vor-
geschichte und ihre Opfer, Wien 1889, S. 105 ff.
24 Vgl. zum Begriff der Täter-Opfer-Umkehr in der historischen Forschung zum modernen Antise-
mitismus nach Wolfgang Benz, Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt, in: Samuel Salzborn
(Hg.), Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Netzwerk für Politische Bildung, Kultur
und Kommunikation e. V., Gießen 2004, S. 33-50.
25 Vgl. hierzu das Set der Stereotypen nach Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat, S. 220-256.
30
Die kaiserliche Judenpolitik und die Vertreibung der Juden aus Wien
3.000 ständigen Einwohnern des jüdischen Ghettos. Jedenfalls hielt die Stadt nur
drei Männer im »Zuchthaus« fest.26 Tatsächlich zog die christliche Stadtgemeinde
auch noch andere als nur antijudaistische Motive heran, um die Vertreibung der
jüdischen Bevölkerungsgruppe einzufordern. Weitere Motive basierten auf einer
Mischung von demografischen und ökonomischen Konfliktlagen, die einseitig auf
Kosten der jüdischen Einwohner ausgetragen wurden. Der Magistrat beschwerte
sich vordergründig über den Ansiedlungserfolg einzelner Juden wie Veit Munks,
eines »Hofjuden«, der als Händler bei Hofe neben dem Privileg des freien Zugangs
zur Residenzstadt und des Zuzugs seiner umfangreichen Familie auch das Recht
auf Unterhalt einer Synagoge, also zur Gemeindegründung, erhalten hatte. Nach
Gründung der Gemeinde sei die Zahl der jüdischen Bevölkerung aber nun von
ursprünglich zwei Familien auf 3.000 Personen angestiegen. Auf diese Weise sei
»leicht zu muethmaßen, wie in das konftige die Judenschaft sich uberschwemmen
und wol denen Christen uberwachsen dörfte«.27 Tatsächlich hatte sich die Anzahl
jüdischer Einwohner zwischen 1571 bis 1632 von 7 Familien mit insgesamt 40 Per-
sonen auf 120 mit 780 Personen erhöht. Um 1670 lebten wieder 2.500-3.000 Juden
in Wien. Diese Minderheit stellte für die ungefähr 50.000 christlichen Einwohner
Wiens und seiner Vorstädte aber mitnichten eine Bedrohung dar. Im Verhältnis
zur Gesamteinwohnerschaft um 1670 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung
zwischen vier bis sechs Prozent.28 Allerdings ging nach Angabe des Magistrats
im gleichen Zeitraum, in dem der Anteil der Judenschaft an der Gesamtbevölke-
rung wuchs, das Stadtbürgertum, das seinen Lebensunterhalt ebenfalls durch Hof-,
Fern- und Stadthandel erzielte, um 2.000 Personen auf 5.000 bis 6.000 Personen
zurück. Ausschlaggebend für die Vertreibung der Judenschaft waren also weniger
die vorgeschobenen Gründe der Bedrohung der Stadt durch jüdische Religionsver-
brecher oder andere Tabubrüche gegenüber Christen, als vielmehr die Konkurrenz
zwischen jüdischen Hofhändlern und christlicher Kaufmannschaft sowie die Ver-
teilungskämpfe der einzelnen sozialen und religiösen Gruppen um die städtischen
Ressourcen wie Wohnraum, kulturelle Repräsentation und Erwerbsmöglichkeiten.
In der Tat neideten die im Magistrat vertretenen christlichen Handelshäuser den
»Hofjuden«, die nicht nur den Hof, sondern auch die Stadtbevölkerung mit verschie-
densten Waren belieferten, in erster Linie die 70 Handelsgewölbe in bester Wiener
Marktlage. Aus diesem Grund begehrte die christliche Kaufmannschaft nicht nur
die Ausschaltung der Konkurrenz, sondern auch die Übernahme jüdischer Immo-
bilien, die direkt an den zentralen Märkten lagen. Die Kaufmannschaft stellte sogar
26 Gründe für die Ausweisung der Juden. Votum der Hofinquisition an den Kaiser; und Bericht
der Wiener Judeninquisitionskommission von 1669, in: Pribram, Urkunden und Akten, Bd. 1,
S. 197 und 213 f.
27 Ebd.; Bittschrift um die Ausweisung der Juden durch den Bürgermeister und des Rates der Stadt
Wien, in: Pribram, Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 202, 208 f.
28 Vgl. Barbara Staudinger, Die Zahl der Landjuden und der Wiener Judenschaft 1496-1670 /71, in:
Brugger, Eveline (Hg. u. a.), Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 235 f.
31
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
29 Gründe für die Ausweisung der Juden von 1669, in: Pribram, Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 203,
206 f.
30 Gründe für die Aufnahme der Juden in Wien. Gutachten der Hofkammer vom Sommer 1673,
in: ebd., S. 257 ff.
31 Ebd., S. 257-260.
32
Die kaiserliche Judenpolitik und die Vertreibung der Juden aus Wien
die Hofkammer nicht mehr die nötigen 400.000 Gulden für Leopold I. aufbringen
konnte, um dessen Kriege zu finanzieren.32 Die christliche Bürgerschaft war nicht
in der Lage, die Finanzkraft der Juden zu ersetzen. So verursachte die Vertreibung
der Juden auf kurze Sicht eine Gefahr für das Reich bzw. die Kriegsfähigkeit des
Kaisers, denn auch die Aufstellung, Bewaffnung und Ausrüstung der kaiserlichen
Armee war von den jüdischen Kreditgebern abhängig.
In der Pfalz wehrte die Rheinarmee Leopolds I. die Besetzung von Teilen des
Reichs durch Ludwig XIV. von Frankreich ab, der dem Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nation vor allem Straßburg streitig machte; in Europas Südosten bedrohte
das Osmanische Reich, das zu diesem Zeitpunkt noch Serbien und die Walachei
umfasste, das Habsburgerreich, insbesondere aber Wien direkt. In dieser Situation
wirkte sich die fehlende Finanzkraft der Hofkammer, die mit dem Wegfall der jüdi-
schen Hoffaktoren als Kreditgeber identisch war, negativ aus. Inzwischen kam, wie
seit Jahrhunderten üblich, nicht mehr der Fürst als Landesherr für die Kriegskosten
auf, sondern der sich herausbildende Staat mit seiner zentralen Finanzplanung.33
Sowohl das Steueraufkommen als auch die Schuldenaufnahme waren Instrumente
der Hofkammer, um die Kriege des Kaisers zu finanzieren. Aufgrund ihrer transna-
tionalen Netzwerke und hoher Spezialisierung konnten die jüdischen Hoffaktoren
und Finanziers innerhalb kürzester Zeit über die territorialstaatlichen Zollgrenzen
hinweg beträchtliche Geldmittel durch persönliche Schuldverschreibungen mo-
bilisieren und transferieren.34 Immerhin deckte die von den vertriebenen Juden
als Rückkehrzahlung in Aussicht gestellte Summe von 400.000 Gulden einen Teil
der Kriegs- bzw. Reisekosten des Kaisers. Sollte diese Summe nicht eingetrieben
werden, so mahnte die Hofkammer in einem Gutachten, das sich für »Toleranz«
der Juden in Wien einsetzte, müssten im anstehenden Kriegszug gegen Frank-
reich »Kuch und Keller« des Kaisers leer bleiben.35 Darüber hinaus brachte die
Hofkanzlei ein Gutachten der Theologischen Fakultät der Wiener Universität bei,
dass aus theologischer Sicht sowohl positive wie negative Gründe für die Duldung
oder Nichtduldung von Juden in Wien und Niederösterreich sprächen. Letztlich
befürwortete es ebenfalls pragmatisch die Rückkehrlösung.36
32 Gutachten der Hofkammer (zur Diskussion der Rückkehr der Juden) vom Spätsommer 1673,
in: ebd., Bd. 1, S. 263.
33 Vgl. Thomas Winkelbauer, Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsburger-
monarchie um 1700, in: Petr Mat’a / ders. (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1620-1740. Leistungen
und Grenzen des Absolutismusparadigmas, Stuttgart 2006, S. 179-215, 193.
34 Rotraud Ries, Hofjuden als Vorreiter? Bedingungen und Kommunikationen, Gewinn und Verlust
auf dem Weg in die Moderne, in: Arno Herzig (Hg. u a.), Judentum und Aufklärung. Jüdisches
Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen 2002, S. 30-65, S. 32 ff.
35 Gutachten der Hofkammer (zur Diskussion der Rückkehr der Juden) vom Spätsommer 1673,
S. 257 f.
36 Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt, Wien 1864, S. 57.
33
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
Einige Wiener Juden flüchteten nach Nikolsburg (Mikoluv), einige nach Berlin.
Der Verwaltungssitz Nikolsburg der Markgrafschaft Mähren nahm bereits 1421 im
Verlauf der »Gesera« die in Wien vertriebenen Juden auf. Als Sitz des mährischen
Landesrabbinats war Nikolsburg zudem das Zentrum des jüdischen Lebens in Süd-
mähren. Außerdem nahm die Stadt als Verkehrsknotenpunkt eine zentrale Rolle
ein. Die Handelsstraße von Wien führte über diese Stadt weiter nach Schlesien
und Krakau, weitere Zentren jüdischen Lebens und des Fernhandels. Mitte des
17. Jahrhunderts waren unter den 2.150 bis 2.300 Einwohnern Nikolsburgs 650 bis
700 Juden, die vorwiegend in Handwerk und Handel beschäftigt waren.37 Nach-
dem der Kaiser am 26. September 1673 im nahe gelegenen Wischau (Vyškov) eine
Konferenz einberufen hatte, um die Bedingungen zur Rückkehr der Wiener Juden
festzulegen, schlossen die Verhandlungsakteure Graf Breuner und Gabriel Selb auf
der Seite der Wiener Amtsstellen sowie Hirschl Mayr aufseiten der Judenschaft
einen Kompromiss: Erstens hatten die vertriebenen Juden Wiens 10.000 Gulden
und die auf dem Lande Lebenden 4.000 Gulden jährlich an Steuern aufzubringen.
Zweitens durften in Wien nur noch halb so viel Juden wie vor ihrer Vertreibung
wohnen. Drittens war die Wiederaufnahme mit 300.000 Gulden zu erkaufen. Im
Gegenzug sollten die jetzt unter anderem in Nikolsburg lebenden Juden Wiens
zurückkehren. Laut Übereinkunft bestimmten die Vertreter der Judenschaft selbst,
welche Zuwanderer nach Wien zögen. Vorgesehen waren bis zu 250 jüdische Fa-
milien, unter Ausschluss der »Canaille«, was ärmere Juden bezeichnete. Aber die
Gründung einer Gemeinde blieb nach wie vor verboten. Außerdem bezog sich die
»Duldung« nur auf einen sehr kleinen Kreis finanzstarker Familienoberhäupter.
Jeder weitere unkontrollierte und unreglementierte Zuzug blieb untersagt.38
Obwohl die Verhandlungen scheiterten, endete das jüdische Leben in Wien mit-
nichten. Es blieb aber auf Jahrzehnte demografisch, religiös und kulturell zumindest
sehr stark limitiert und reglementiert. Die Gründe, warum die Verhandlungen
scheiterten, sind der Forschung bis heute unbekannt. Max Grunwald vermutet,
dass einfach die Summe in Gold, die einige Tonnen ausmachte, nicht zu beschaffen
war, obwohl selbst jüdische Händler aus Frankfurt am Main sich an der Ablöse be-
teiligten.39 Offenbar sind jedoch einige wenige Münzjuden bereits 1773 nach Wien
zurückgeholt worden, um die Münzpresse, die durch Ausbleiben der Silberliefe-
rungen und das Fehlen geeigneten Personals kurzzeitig zusammengebrochen war,
erneut in Betrieb zu nehmen. Um polnische Münzen umzuprägen, soll zum Beispiel
Hans Graf Kollonitsch im Garten von Graf Falkenstein jüdische Gold- und Silber-
37 Vgl. Marie Buňatová, Die Nikolsburger Juden 1560-1620. Wirtschaftliche Prosperität unter ade-
ligem Schutz, in: Sabine Hödl (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen
Neuzeit, Berlin 2004, S. 333-361, 334, 350.
38 Gerson Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt, Wien 1865, S. 264 f., Anm. 1.
39 Max Grunwald, Samuel Oppenheimer und sein Kreis: (ein Kapitel aus der Finanzgeschichte
Österreichs), Wien 1913, S. 35, Anm. 5; vgl. Johann Ch. G. Bodenschatz, Kirchliche Verfassung
der heutigen Juden, sonderlich derer in Deutschland, Erlangen 1849, S. 187.
34
Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung
1.3 Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung in Berlin ab 1671
35
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
schen Gesellschaft vor allem hinsichtlich der Vermarktung agrarischer Produkte und
der Beseitigung von Liquididätskrisen nutzen. Im Gegensatz zu den Hugenotten, an
die eine förmliche »Einladung« erging und deren Einwanderung brandenburgische
Beamte organisierten, wurden die Juden geduldet, mussten selber einwandern und
unterlagen personeller Beschränkung (50 Familien). Zudem war das Edikt auf 20
Jahre befristet. Zu Verhandlungen mit dem Kurfürsten (und der Feststellung des
jüdischen Vermögens) reisten die Familienoberhäupter aus Wien nach Potsdam:
Rabbinatsassesor Model Ries, seine Söhne Abraham, Koppel und Hirschel, Model
Ries’ Schwager Benjamin Mirels-Fränkel (1620-1691) sowie Abrahams Schwiegerva-
ter Jakob Gumprecht und Abrahams Schwager Benedict Veit.44
Die Verhandlungsführer der vertriebenen Juden erwirkten vorab eine Reihe von
Zugeständnissen, die ihre Lage als Neuzuwanderer vor Ort deutlich verbesserte.
Eine gewisse Pilotfunktion nahm der Berliner Schutzbrief für Abraham Ries ein. Er
wurde von der Amtskammer erarbeitet und galt als Muster für die weiteren Schutz-
briefe. Aus Rücksicht auf die wirtschaftlichen Belange der christlichen Händler
enthielt er deutliche Einschränkungen in der Handelsfreiheit. So durften die Berliner
Juden nur mit alten und neuen Kleidern sowie mit rituell nicht brauchbarem Fleisch
handeln. Außerdem war ihnen der Geldverleih mit Zinsen erlaubt. Sie grenzten sich
dabei vor allem gegenüber dem Hofjuden des Großen Kurfürsten, Israel Aaron, ab,
der von den Neuankömmlingen nicht in seiner Geschäftstätigkeit behindert werden
sollte.45 Aaron, »Factor bey unserer Armee«, war bereits seit 1663 als kurfürstlicher
Hoflieferant tätig. Er belieferte das Heer mit Kleidung, Pferden und Proviant und
erhielt als bis dahin einziger Hoffaktor 1665 das Recht auf Ansiedlung sowie eine
Bestallung von 200 Talern, drei Taler wöchentliches Kostgeld und Futter für zwei
Pferde.46 Seine Rechnungen von 1665 bis 1667 beliefen sich auf 121.554 Taler; seine
letzte Lieferung vom 15. Juli 1670 wies allerdings nur einen Wert von 41.647 Talern
aus.47 Außerdem versuchte Aaron mithilfe der kurfürstlichen Reskripte und circa
30 bis 40 gedruckten Exemplaren des Edikts, die Einwanderung selber zu kontrol-
lieren, indem er Einfluss darauf nahm, die Zuwanderer zu »spezifizieren«; darüber
hinaus fungierte er ab dem 6. September 1671 durch die Ausstellung seines eigenen
Schutzbriefes kurzzeitig als »Gutachter« für Neuzuwanderer in Berlin. Er wirkte
somit als Filter zwischen Kurfürst Friedrich und den Zuwanderern und lieferte
seinem Herrn Berichte über die finanzielle Lage der Neuzugänge, woraus die ent-
sprechende Steuerlast festgelegt wurde. Allerdings verlangsamte er dadurch auch
44 Vgl. den Artikel »Israel Aaron«, in: Elke-Vera Kotowski, Juden in Berlin. Biographien, Berlin
2005, S. 13.
45 Vgl. Moritz Stern, Die Niederlassung der Juden in Berlin im Jahre 1671, in: Beiträge zur Ge-
schichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (2) 1930, S. 131-149, S. 136 ff.
46 Vgl. Heimann Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg i. Pr.: ein Beitrag zur Sittengeschichte
des preussischen Staates, Posen 1867, S. 17.
47 Vgl. Stern, Die Niederlassung der Juden, S. 138 f.
36
Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung
48 Vgl. ebd., S. 143, 149, Zit. »spezifizieren« S. 143., Zit. »Gutachter« S. 145.; zu Aaron vgl. auch
Geiger, Geschichte der Juden in Berlin, Festschrift zur zweiten Säkular-Feier, S. 5.
49 Vgl. Ismar Elbogen, Die Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, S. 92, Kapitel: Die
Niederlassung der Juden in Brandenburg und Berlin XI.
50 Stern, Die Niederlassung der Juden in Berlin im Jahre 1671, S 132.
51 Vgl. Deborah Hertz, How Jews became Germans, The History of Converse and Assimilation in
Berlin, New Haven 2007, S. 20.
52 Vgl. hierzu den Geleit- und Schutzbrief für den Juden aus Helmstedt, Moses Leif Lippschütz
vom 11. Juni 1672, in: Selma Stern, Der Preußische Staat und die Juden, 1.2, S. 26 f.
53 Gundula Gahlen, Dreißigjähriger Krieg und städtische Bevölkerungsentwicklung in Branden-
burg. Das Beispiel Perleberg, in: Matthias Asche (Hg. u. a.), Krieg, Migration und Militär in der
Frühen Neuzeit, Berlin 2008. S. 143-165, 143.
37
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
schwersten getroffen hatte.54 Mit den Niederlanden lernte der Kurfürst einen der
modernsten Staaten Europas kennen. Es erlebte als vergleichsweise kleines Land
einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung. Frühzeitig verstand Friedrich Wilhelm,
dass eine staatlich gelenkte und großzügige Ansiedlungspolitik in Verbindung mit
dem Ausbau von Manufakturen, Verkehrsinfrastruktur und einer aktiven Baupolitik
das Land wirtschaftlich konsolidierte. Darüber hinaus verhalf der systematische
Landesausbau Brandenburg im wirtschaftlichen und militärischen Streit der sich
herausbildenden Staaten Europas zu deutlichen Wettbewerbsvorteilen. Berlin und
seine Umgebungsstädte profitierten ab 1648 besonders davon, denn hier siedelten
sich die Manufakturproduktionen für Glas, Gebrauchs- und Luxusporzellan sowie
für Wollverarbeitung an, teils betrieben von zugewanderten Holländern,55 teils von
hugenottischen Glaubensflüchtlingen aus Frankreich.56 Die Ansiedlung der Juden
diente vor allem der Belebung des Kapitalmarkts und des Fernhandels.
Das Kalkül Friedrich Wilhelms von Brandenburg, die Juden Wiens in Berlin und
Brandenburg anzusiedeln, diente dazu, dem Staat neue Einkommensquellen zu er-
schließen. Seit seinem Regierungsantritt reduzierte er nicht nur die Ausgaben des
Hofstaates für die barocke symbolische Repräsentation seiner Herrschaft, sondern
setzte auch eine Steuerreform durch. Die verschiedensten sozialen Gruppen wurden
gesondert belastet, so auch die Juden. Gleichzeitig schränkte er den Zugriff des Adels
auf die Steuerabgaben der Stände ein und machte sich weitgehend unabhängig. Er
unterstellte somit die noch nicht vereinheitlichte Steuererhebung sukzessiv unter
die eigene Staatsverwaltung. Die Juden förderten nicht nur den Fernhandel, son-
dern erhöhten die Abgaben an den Staat. Die Einnahmen daraus vergrößerten den
Spielraum für den Großen Kurfürsten, die von ihm angestrebte Zentralstaatlichkeit
gegenüber den Ständen auszubauen und zu behaupten. Im Gegenzug erzielten die
Juden aus Wien in Berlin eine wesentlich bessere Ausgangslage als in der Residenz
des Habsburgerreiches, aus dem sie gerade vertrieben worden waren. Sie erhielten
nicht nur einen festen Aufenthaltstitel, sondern auch die Garantie der freien Re-
ligionsausübung und der körperlichen Unversehrtheit.
Auch wenn die Fortschritte im Alltag der jüdischen Glaubensflüchtlinge aus
heutiger Perspektive unvollkommen erscheinen, verhalfen sie den Juden Berlins
dazu, sich als soziale und kulturelle Gruppe örtlich neu einzurichten. Mit seinem
Aufnahmeedikt vom 21. Mai 1671 erlaubte Friedrich Wilhelm von Brandenburg den
Wiener Juden sich niederzulassen, aber keine eigene Synagoge zu unterhalten. Er
billigte ihnen aber das Recht der Religionsausübung in »ihren Häusern« zu. Sie
sollten dort »zusammenkommen«, um »allda ihr Gebet und Ceremonien, doch
54 John Teihboldt, The Demography of the Thirty Years War Re-revisited: Günther Franz and his
Critics, in: German History 15 (1997), S. 1-20, 2; ders., Der Dreißigjährige Krieg und das Deut-
sche Volk, Stuttgart 19744. S. 20-23, 20 ff.
55 Vgl. Ulrike Hammer, Kurfürstin Luise Henriette. Eine Oranierin als Vermittlerin zwischen den
Niederlanden und Brandenburg-Preußen, Münster 2001, S. 120.
56 Silke Kamp, Die verspätete Kolonie. Hugenotten in Potsdam 1685–1809, Berlin 2011.
38
Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung
57 Das Aufnahmeedikt vom 21. Mai 1671, in: Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen
unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812, Berlin 1912, S. 3-6, 5.
58 Berndt Strobach, Privilegiert in engen Grenzen. Neue Beiträge zu Leben, Wirken und Umfeld
des Halberstädter Hofjuden Berend Lehmann (1661-1730), Bd. 1, Berlin 20112, S. 26.
59 Das Aufnahmeedikt vom 21. Mai 1671, in: Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, S. 5.
60 Ebd.
61 Claudia-Ann Flumenbaum, Von den Anfängen bis 1789, in: Andreas Nachama (Hg. u. a.), Juden
in Berlin, Bd. 1., Berlin 2001, S. 9-52, 22.
39
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
weise milde. So zahlten sie an den Landesfürsten mittels des Voigts (Hausvoigts)
von Berlin-Kölln einen Reichstaler pro Jahr und Familie; bei Eheschließungen pro
Hochzeit je einen Goldtaler. Diese moderate Steuerpolitik fiel sehr günstig aus; sie
stand ganz unter dem Signum der Nützlichkeitserwägung, den Juden ihre Haupt-
aufgabe im Handel nicht schwer, sondern einfach zu machen. Für all diese adminis-
trativen Fragen war allein der Voigt von Berlin-Kölln zuständig, der aber bereits
frühzeitig klagte, er sei vor allem mit der Rechtsprechung überfordert. Im April
1681 wurde die Gerichtsbarkeit für Juden dem neu entstandenen Kammergericht
überstellt. Damit wurden die juristischen Streitigkeiten der Juden untereinander –
nicht mehr wie ursprünglich geplant – vor dem Rabbinatsgericht geregelt, sondern
auf ein ziviles Gericht übertragen.62 Dies war für die Neuzugewanderten ein großer
Erfolg, denn sie lehnten die Unterstellung und damit auch die Schaffung einer jüdi-
schen Eigengerichtsbarkeit für sie ab. Dem Neumärkischen Rabbi Cain wurde am
20. Februar 1672 das Rabbinat zusätzlich über die Juden in der Mark Brandenburg
übertragen. Dessen Zuständigkeit stellten die Wien-Flüchtlinge aber bereits früh
infrage. Schließlich würden einige der Neuankömmlinge Rabbi Caim »in Studio
weit übertreffen«. Außerdem wollten sie von sich aus dem zivilen Gericht des Bür-
germeisters unterstehen und sich nicht dem Rabbi »unterwürfig« machen.63 In
strittigen Rechtsfällen wäre der Rabbi berechtigt gewesen, die christlichen Nachbarn
und Polizeibehörden einzubeziehen, um Bußgelder von den jüdischen Nachbarn
oder andere Zahlungsbefehle zu vollstrecken. Außerdem trauten die Vertreter der
jüdischen Gemeinschaft den zivilen Behörden weniger Eigennutz und mehr Ge-
rechtigkeit zu als den eigenen Rabbinern, die nur noch für innergemeindliche, aber
nicht mehr für zivil- oder strafrechtliche Fälle zuständig sein sollten.64 Somit nah-
men die Juden Berlins frühzeitig die Chance wahr, Religion und Recht zu trennen,
um die Macht der Rabbis auf Kultusfragen zu begrenzen; gleichwohl suchten sie als
Religionsgemeinschaft beziehungsweise als neue Gemeinde auch Rechtsbefugnisse
an sich zu ziehen, was teilweise auch gelang. Ihrem Ziel, nicht nur in Religionssachen
eine eigene Gesellschaft mit Rechtsfunktion zu bilden, sondern zudem intern in
Abstimmungen durch die Ältesten über die Zuwanderung und Niederlassung neuer
Juden zu bestimmen, gab Friedrich Wilhelm von Brandenburg bereits 1674 nach.
Er stimmte der Bitte der Berliner Juden zu, neuen Gemeindeanwärtern von sich
aus Leumundszeugnisse auszustellen.65 Gleichzeitig lehnte er die Übertragung des
Bannrechts auf die neue jüdische Religionsgemeinschaft ab. Aber er übertrug ih-
nen die Bürde, für den finanziellen Schaden, den einzelne jüdische Rechtsbrecher
40
Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung
41
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
tik des 20. Jahrhunderts zu verwechseln, durch die die Juden mittels biopolitischer
Sozialtechniken als ganze Gruppe separiert und dezimiert wurde.68
Die historische Bedeutung der kurfürstlichen Ansiedlungspolitik für die Ge-
schichte der Juden liegt darin, dass Friedrich Wilhelm von Brandenburg sie erstmals
mehr als Bürger denn als separierte Juden ansah, die sich für Staat und Gesell-
schaft nützlich machen sollten, auch und vor allem durch eine gestärkte Eigen-
verantwortung der Gruppe selbst. Er betrieb eine umsichtige Ansiedlungs- und
Niederlassungspolitik, weil er den Juden in seinem Land und in seiner Residenz
die Möglichkeit gab, sich wirtschaftlich frei zu entfalten, sich selbst zu organisieren
und sich – alternativ zur Religionsgerichtsbarkeit – der staatlichen Rechtsprechung
unterzuordnen. Die Juden waren nicht mehr »Parias«, sondern sie konnten sich
selbstbestimmt als Untertanen des Fürsten gesellschaftlich weitgehend frei be-
wegen. Dafür sorgte auch der sehr großzügig ausgelegte Schutzjudenstatus, der
mehr positive als negative Rechte und Pflichten enthielt. Beispielsweise wurde den
Berliner Juden 1684, anders als durchreisenden und fremden Juden, der Leibzoll
erlassen.69 Die Schutzjuden mussten an den Toren der Stadt nun keine Gebühren
mehr entrichten, was sie andernorts immer noch erniedrigte.70 Tatsächlich erzielte
der preußische Fiskus die erwünschten Mehreinnahmen nicht aus dem Schutz-
geld, sondern aus der Akzise für die Stadtbewohner. Die besondere Situation der
Mark Brandenburg als ein vom Krieg geschwächtes und von Flüchtlingen zum Teil
wiederaufgebautes Land, schuf eine im Vergleich zu Wien weniger reglementierte
Ausgangssituation für Juden, durch die sie allmählich Teil der bürgerlichen Ge-
sellschaft werden konnten und sollten, auch wenn der Große Kurfürst auf Dauer
eine Anpassung der Juden an die christliche Stadtgesellschaft durch Assimilation
bevorzugte. Dass die Juden als soziale Gruppe in der Mark Brandenburg angesie-
delt wurden, um die noch nicht aus den Ständen herausgelöste ansässige christliche
Kaufmannschaft in ihrem Einfluss zu begrenzen, ist eine interessante Hypothese.
Es trifft wohl eher zu, dass Friedrich Wilhelm von Brandenburg die Juden nach
Berlin kommen ließ, um den allgemeinen Handel durch Konkurrenz anzukurbeln
und sich dazu auch, aber nicht vordringlich, eine Sondereinnahmequelle zu ver-
schaffen, so zum Beispiel durch die doppelte Steuer- und Abgabenlast für Juden.
Die Summen, die die Juden aus der Schutzgebühr bezahlten, waren vergleichsweise
gering. Sie führten mit acht Reichstalern pro Jahr und Familie eine sehr niedrige
Schutzgebühr ab.71 Weit mehr Einnahmen erzielte der Große Kurfürst aus der 1667
eingeführten Akzise. Im 17. Jahrhundert kam es noch vor den Festungsanlagen zur
Errichtung der Akzisemauer. Sie umfasste nicht nur Berlin, sondern auch seine
42
Die Flucht der Wiener Juden und ihre Wiederansiedlung
Vororte. Den Juden war im Norden das Rosenthaler Tor, und später ab 1750 das
Prenzlauer Tor vorbehalten, um sich für den Einlass zu registrieren. Die Akzise
war eine Verbrauchssteuer, die nur die Stadtbewohner belastete, wenn diese mit
Verbrauchs- und Konsumgütern in die Stadt kamen, während der Landadel hiervon
befreit blieb. Sie ging auf einen Kompromiss zwischen dem Zentralstaat und den
adeligen Landständen zurück, die dem Kurfürsten zwar den Haushalt bewilligten,
aber dafür selbst unbesteuert blieben. Die Landadeligen festigten und bauten ihre
Gutsherrschaft aus, aber zulasten des Stadtausbaus und des Stadtwachstums, was
dem Adel in Brandenburg seine Vormachtstellung sicherte, wohingegen die Städ-
ter benachteiligt blieben. Die Juden trugen als Händler nicht unerheblich dazu
bei, dass der brandenburgische Staat sich unabhängig von den Landständen bezie-
hungsweise vom Landadel machte. Als Händler zahlten sie für jedes Verbrauchsgut,
das sie auf den Markplätzen verkauften, Akzise. Außerdem war ihre Abgabenlast
höher als die der einheimischen Krämer. Um die Einnahmen aus der Akzise der
Juden beständig hoch zu halten, blieb ihnen das Wohnrecht auf dem flachen Land
verwehrt. Tatsächlich waren jüdische Händler dazu übergegangen, ihre Waren aus
dem Ausland auf dem Land zu platzieren, um der Steuerlast zu entgehen.72 Jedoch
blieben sie an der Bewachung und der Einhaltung der Steuergrenzen beteiligt, in-
dem ein Angestellter der Gemeinde am Rosenthaler Tor mit Wache hielt. Er war
berechtigt, arme Juden abzuweisen oder Einlass zu gewähren. Für durchreisende
Juden existierte eine eigene Herberge, die mit dem Armenhaus identisch war.73
Die Akzise trug ihren Teil dazu bei, in Preußen den Landadel wirtschaftlich als
stärkste Sozialformation zu festigen, während das Bürgertum schwach blieb. Die
Dauerbelastung der Städte und ihre mangelnde Leistungsfähigkeit drückten das
Bürgertum.74 Dies spielte für die Juden bis dahin keine herausragende Rolle. Pro-
blematisch blieb letztlich, dass der Kompromiss zwischen Friedrich Wilhelm und
den vom Adel beherrschten Ständen im Kampf um die Suprematie im Staat zur
einseitigen Bevorteilung des landbesitzenden Adels führte. Der Staat galt hinfort
als Rekrutierungsbecken für die aus der Erbfolge ausgeschlossenen oder verarmten
Söhne, als Beamte oder Offiziere ein Auskommen zu finden.75
Die Vereinheitlichung des Steuersystems im Absolutismus, die die Nachfolger
des Großen Kurfürsten betrieben, brachte für die Juden Berlins starke Vorteile.
Der Ausbau der staatlichen Behörden und die Formalisierung des Steuersystems
zwangen den preußischen Staat auf Dauer dazu, sich mit der jüdischen Selbstorga-
nisation sehr viel früher und umfassender auseinanderzusetzen als beispielsweise
in Wien, wo die Grundlage gemeindlichen jüdischen Lebens zerstört war. Darüber
43
Die Vertreibung und Duldung der Juden in der Vormoderne
hinaus wirkte sich die wirtschaftliche Rückständigkeit der Mark Brandenburg, die
teilweise auf die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges, teilweise aber auch auf
die einseitige Stärkung des Landadels zurückging, positiv auf die Verhandlungs-
masse für Zuwanderer aus. Sie konnten unter diesen Bedingungen mehr Rechte
und Privilegien beanspruchen, als ihre Herkunftsländer ihnen zuvor gewährt hatten.
Die Peuplierungspolitik des Großen Kurfürsten war folgerichtig zur Gewährung
und fortdauernden Garantie diverser Vorteile gezwungen. Sie lagen zumeist in
finanziellen Erleichterungen wie in der Leibzollfrage und in materieller Unterstüt-
zung, aber eben auch in einer großzügigen Toleranz gegenüber den Immigranten.76
Im Zuge der Ansiedlung der jüdischen Zuwanderer liefen die Beschwerden der
Stände und christlichen Händler ins Leere. Letztere machten gegen die jüdische
Konkurrenz Stimmung und bedienten sich dabei fortwährend antijudaistischer
Stereotype. So protestierten die Frankfurter Händler am 9. November 1672 gegen
die Marktzulassung der österreichischen Zuwanderer und fanden politisch Unter-
stützung durch die Landstände. Beide forderten die Aufenthaltsberechtigung der
österreichischen Juden zu kassieren.77 Dieses Ansinnen wies der Große Kurfürst im
Dezember 1672 aber zurück. Er erklärte, dass die Juden »[..] Uns und dem Lande
nicht schädlich, sondern vielmehr nutzbar erschienen«. Die örtlichen Kaufmann-
schaften beschwerten sich vor allem darüber, dass die Juden am christlichen Sonntag
handelten, an den örtlichen Innungen vorbei Wollhandel betrieben und sich auch
auf dem flachen Land als Händler betätigten. Alternativ zur Auswanderungslösung
schlugen die Landstände die Sesshaftmachung der Juden vor, um sie den örtlichen
Gewalten zu unterstellen. Somit boten Landstände und Städte als Antwort auf die
jüdisch-ökonomische Sonderstellung nicht nur eine antijudaistische Segregations-,
sondern auch eine bürgerschaftliche Inklusionslösung an.78
Da Friedrich Wilhelm von Brandenburg sich ebenfalls deutlich für die Ansiedlung
der Juden einsetzte, stabilisierte sich die jüdische Ansiedlung rasch, einschließlich
des Gemeindeaufbaus. 1684 existierten bereits zwei Synagogen, von denen aber
eine wieder schloss. Der Wegfall des Leibzolls für die Juden wurde durch eine ein-
trägliche Erhöhung der Schutzgebühr kompensiert. Dies machte jedoch ein neues
steuerliches Erhebungssystem notwendig. Es unterteilte die neuen Mitbürger ab
1684 in drei Steuergruppen und belastete sie nach Vermögen und Leistung unter-
schiedlich. Außerdem wurde ein Drei-Klassen-Wahlrecht eingeführt. Aus dem
Kreis der stärksten Steuerzahler erwählte die Judenschaft ihre Ältesten, welche
die Gemeindeangelegenheiten führten. Diese standen allerdings aufgrund vieler
76 Stefi Jersch-Wenzel, Juden und »Franzosen« in der Wirtschaft des Raumes Berlin / Brandenburg
zur Zeit des Merkantilismus, Berlin 1987, S. 31 f.
77 Eingabe der Landstände an den Großen Kurfürsten vom November / Dezember 1672, in: Stern,
Der Preußische Staat und die Juden, 2.1, S. 28-31.
78 Reskript des Kurfürsten an die Geheimen Räte vom 18. Dezember 1672, in: ebd., S. 31.
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