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Mittelhochdeutsch

(1050 – 1350)
Räumliche Gliederung, historisch-
sozialer Hintergrund, phonematische,
morphematische, syntagmatische und
lexematische Aspekte

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 1
Kurze Charakteristik
 Zeit: MITTEL Die Periode zwischen Ahd. und Fnhd. Sie
unterscheidet sich vom Ahd. u. a. durch abgeschwächte
Nebensilbenvokale und einen analytischeren Satzbau;
vom Fnhd. durch die noch erhaltenen Langvokale î, û, iu
und Diphthonge ie, uo, üe.
 Raum: HOCH Das durch die 2. Lautverschiebung
abgegrenzte hochdeutsche Gebiet, im Gegensatz zum
Niederdeutschen.
 Sprache: DEUTSCH (1) Erste Gemeinsprache – die stark
standes- und zeitgebundene Literatursprache des
Rittertums.
(2) Im übrigen Mundarten, aber gewisse
Integrationsprozesse.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 2
 Unter Mittelhochdeutsch versteht man
heute allgemein die Zeit des
Hochmittelalters. Charakteristisch für das
Mhd. ist, dass Deutsch nicht mehr allein im
Dienste kirchlicher Verkündigung und
schulischer Unterweisung steht, wie noch
im Ahd., sondern zur Literatursprache wird.
Für diese Literatursprache bilden sich
allmählich feste Schreibkonventionen
heraus und sie tritt gleichberechtigt neben
die Kultursprache Latein.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 3
Voraussetzungen:
 Entstehung eines deutschen
Kulturbewusstseins (v. a. im oberdeutschen
und mitteldeutschen Bereich). Als Träger
dieses Bewusstseins werden zunächst
Adelsschichten (Ritter und Ministeriale),
später zunehmend das städtische
Bürgertum angesehen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 4
 Zurücktreten des Stammesdenkens und
Abbau der Dialektgrenzen. Erste
Ausgleichstendenzen in der Schriftsprache,
die später in der fnhd. Zeit unter dem
Einfluss der Kanzleien und der
Druckerzeugnisse fortgeführt werden.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 5
Räumliche Gliederung des Mhd.
Das Mhd. umfasst die Sprachräume des
Oberdeutschen und des Mitteldeutschen,
die von der 2. Lautverschiebung erfasst
wurden. In der mhd. Zeit bildete sich die
mundartliche Gliederung des
hochdeutschen Sprachgebietes heraus, die
weiterhin bis heute gültig ist. Allerdings lag
die Grenze zum Niederdeutschen im
Mittelalter vielfach weiter südlich als heute.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 6
Historisch-sozialer Hintergrund
 Die Ostkolonisation.
 Die Auseinandersetzung zwischen dem Papsttum und dem
Kaisertum und die Kreuzzugsbewegung.
 Innerkirchliche Reformbewegung.
 Herausbildung einer neuen Reichsideologie („Sacrum
Imperium Romanum“) und Entstehung einer neuen
staatstragenden Schicht des Rittertums und des
Dienstadels (der Ministeriale).
 Entwicklung der „freien“ Reichsstädte mit Sonderrechten,
Förderung einer korporativ gegliederten Bürgerschicht
(Handwerkerzünfte und Kaufmannsgilden).

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 7
Literarische Sprachen des
Hochmittelalters
 Das geistig-kulturelle Leben im hochmittelalterlichen
Deutschland war nicht auf ein Zentrum beschränkt,
sondern konzentrierte sich an Höfen des Kaisers und
einzelner Herrscher.
 Von besonderer Bedeutung war der süddeutsche
(bayrische, österreichische und alemannische) Raum. Den
Höhepunkt erreichte das hochmittelalterliche literarische
Schaffen an der Wende vom 12. zum 13. Jh. am Hof der
staufischen Kaiser und der Babenberger in Wien.
 Das literarische Schaffen entwickelte sich auch im Norden
Deutschlands ‒ im niederrheinisch-maasländischen Gebiet
und in Thüringen, wo Ministeriale schufen, die antike
Stoffe verarbeiteten.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 8
 Die Entwicklung der Literatur in verschiedenen Zentren
des deutschen Sprachraums bewirkte auch, dass es keine
einheitliche literarische Sprache gab.
 Verschiedene Varianten der Literatursprache basierten auf
Territorialdialekten; die wichtigsten waren die bairische
Variante, die westmitteldeutsch-maasländische Variante
und die bedeutsamste von ihnen ‒ die mittelhochdeutsche
Dichtersprache des alemannisch-ostfränkischen Raums,
die im Einflussbereich staufischer Kaiser entstand. In
dieser Sprache verfassten ihre Werke Hartmann von Aue,
Wolfram von Eschenbach und der unbekannte Autor des
Nibelungenlieds.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 9
Das phonologische System des Mhd.
Vokalismus

 Ab dem 10 Jh. zeigte sich im spätahd. Vokalismus


immer deutlicher die Vokalreduktion in unbetonten
Silben. Es kam zur Abschwächung unbetonter
Vokale und somit zur Veränderung ihrer Quantität
(Vokaldauer) und Qualität (Klangfarbe).
 Die Abschwächung der unbetonten Vokale in
Präfixen, einem Teil der Suffixe sowie in Endsilben
führte schließlich zur Entwicklung des Schwa-Lautes
[ə].

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 10
ahd. mhd. nhd.
sunna sunne Sonne
himil himel Himmel
hūsir hiuser Häuser
bilīban belîben bleiben
umbigeban umbegeben umgeben
botascaf boteschaft Botschaft
 Abgeschwächte Vokale wurden
synkopiert oder apokopiert.
 Synkope (f) ist der Ausfall unbetonter
Vokale im Wortinnern.
 Apokope (f) ist der Abfall unbetonter
Vokale am Wortende.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 12
ahd. hêriro  mhd. hërre,
ahd. grôȥiro  mhd. grœȥer,
mhd. vrouwe  mhd. vrou,
ahd. ginâda  mhd. g(e)nâde,
ahd. spila, spile  mhd. spil,
mhd. spiles  mhd. spils,
mhd. arebeit  nhd. Arbeit,
mhd. gelücke  nhd. Glück

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 13
 Die weitere Entwicklung des Umlauts. Der
Umlautungsprozess vollzog sich im Allgemeinen in
der ahd. Zeit. Im Mhd. ist v. a. der Sekundärumlaut
wirksam.

a  e: ahd. gast  gesti  mhd. geste;


a  ä: ahd. tagalîh  mhd. tägelîch;
â  æ: ahd. mâri  mhd. mære;
o  ö: ahd. mohti  mhd. möhte;
ô  œ: ahd. skôni  mhd. schœne;
u  ü: ahd. wurfil  mhd. würfel;
û  iu: ahd. hûsir  mhd. hiuser;
ou  öu: ahd. ouga  mhd. öugelîn
uo  üe: ahd. gruoni  mhd. grüene
D. Koroljow. Geschichte der
deutschen Sprache. 14
Funktionen des Umlauts:

1) Bildung von Wortarten eines Stammes:


mhd. got - götin;
2) Unterscheidung von Sg. Und Pl. bei
Substantiven:
mhd. naht - nähte;
3) Steigerung der Adjektive:
mhd. lanc - lenger - lengest;

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 15
4) Unterscheidung von Indikativ und Konjunktiv
Präterit der starken Verben:
mhd. tâten  mhd. tæten;
5) Unterscheidung von Adjektiv und Adverb:
mhd. schœne (Adj.)  mhd. schône (Adv.);
6) Unterscheidung der Formen der 2. und 3. Pers. Sg.
Präs. Ind. umlautfähiger starker Verben von übrigen
Präsensformen:
mhd. grabe  mhd. grebest;
7) Ableitung schwacher Verben bei der Wortbildung:
mhd. gruoȥ - grüeȥen, warm - wärmen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 16
 Die weitere Entwicklung des Ablauts. Der Ablaut
präsentiert sich in der mhd. Zeit als wichtiges
Mittel der Formenbildung starker Verben.
î - ei, ê: rîten - reit; lîhen - lêch;
ie, iu - ou, ô: biegen/biuge - bouc; bieten/biute - bôt;
ë, i - a: nëmen/nime - nam;
î - i: rîten - riten;
ie,iu - u, o: biegen/biuge - bugen/gebogen;
ë,i - â: nëmen/nime - nâmen;
ë, i - u, o: hëlfen/hilfe - hulfen/geholfen;
a - uo: laden - luot.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 17
Der Ablaut dient auch als Mittel der
Wortbildung:
- zur Ableitung von Substantiven aus starken Verben:
mhd. binden  bant, bunt;
mhd. ligen  lâge;
mhd. bërn “hervorbringen, gebären”  barn „Kind“;
- zur Bildung von Adjektiven:
mhd. verliesen  lôs;
mhd. wiȥȥen  wîs, wîse;
mhd. gelouben  liep.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 18
Entwicklungen im Vokalismus beim
Übergang zum Frühneuhochdeutschen

 Beginn der fnhd. Diphthongierung (11. -


12. Jh.) und Monophthongierung (11. -
12.Jh.).
 Beginn der fnhd. Vokaldehnung (11. -
12./13. - 14. Jh.) und Vokalkürzung (seit
dem 12.Jh.).

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 19
Konsonantismus

 Die weitere Ausdehnung der 2.


Lautverschiebung und ihre
Verbreitung im mitteldeutschen
Sprachraum. Diese Entwicklung
dauert auch in der fnhd. Zeit an.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 20
 Die weitere Durchsetzung des
grammatischen Wechsels, der Alternanz
von h - g, d - t, f - b, s - r in Wörtern oder
Wortformen gleichen Stammes. Der
Wechsel erfolgt häufig zwischen
Stammformen der starken Verben, z. B.:

d - t: mîden - mîde - meit - miten - gemiten

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 21
 Abschluss der Konsonantengemination. Verdoppelt erscheinen im
Mhd. die Konsonanten p, t, k, b, d, g, f, s, z, m, n, l, r. Im Mhd.
steht die Doppelkonsonanz niemals im Wortauslaut (beginnen, aber
began).
 In etymologisch zusammengehörigen Wörtern stehen sich in der
mhd. Zeit verdoppelte und nicht verdoppelte Konsonanten
gegenüber, z. B.:
mhd. knabe – knappe,
mhd. künne “Geschlecht” – künec,
mhd. rappe - rabe.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 22
Geminationen entstehen in der mhd. und
fnhd. Zeit auch, wenn Kurzvokale in
offenen Silben nicht gedehnt werden:
mhd. biten → nhd. bitten,
mhd. sumer → nhd. Sommer

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 23
 Ausfall der Konsonanten h, j(g), b, d, g
zwischen Vokalen, die dann kontrahiert
werden.
md. sëhen → sên;
mhd. müejen → müen “mühen”;
mhd. eiger → eier “Eier”;
ahd. gitregidi → mhd. getreide.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 24
 Der n-Ausfall vor h. Es handelt sich dabei
um Nachwirkungen eines
Konsonantenschwundes in germ. Zeit. Sie
zeigen sich im Nebeneinander verbaler
Formen:
mhd. denken - dâhte,
mhd. bringen - brâhte.
Der n-Ausfall hat die Dehnung des
vorangehenden Vokals bewirkt.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 25
 Der w-Ausfall zwischen Vokalen. Dieser
Prozess vollzieht sich beim Übergang vom
Mhd. zum Fnhd.
mhd. houwen  nhd. hauen
mhd. bûwen  nhd. bauen
mhd. trûwen  nhd. trauen
mhd.. brâwe  nhd. Braue
mhd. phâwe  nhd. Pfau

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 26
 Auslautverhärtung. In mhd. Texten
wechseln in der Flexion der Verben und
Nomina [b, d, g, v] mit [p, t, k, f].Die
stimmhaften Konsonanten werden im
Auslaut stimmlos gesprochen. Dieser
Prozess vollzieht sich im Übergang vom
Ahd. zum Mhd. und wird im Mhd. durch
veränderte Schreibung sichtbar:
mhd. stoup - stoubes; nît - nîdes; hienc - hiengen;
hof - hoves.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 27
[b, d, g, v] werden ebenfalls stimmlos, wenn
ihnen ein stimmloser Konsonant folgt:

mhd. houbet - houpt;


mhd. neigen - neicte;
mhd. nëve - niftel.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 28
 Im Mhd. tritt auch die Assimilation von Konsonanten
ein. Unter Assimilation versteht man den Vorgang,
dass zwei (meist benachbarte) Laute im selben Wort
oder in benachbarten Wörtern einander ähnlicher
oder völlig gleich gemacht werden.

Konsonanten Beispiele
n  m vor Labialen p, b, m anebôz  ambôz
mb  mm oder m zimber  zimmer
Uodalrich  Uodelrich/
t, d, n + (e)l  l oder ll
Uodlrich  Ullrich  Ulrich

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 29
Die Assimilation kann auch zum völligen
Ausfall von Konsonanten führen:
k: fmhd. tinkte  tinte;
ch/h zwischen Konsonanten: mhd.
kirchmësse  kirmësse;
h im Silbenanlaut einer betonten Silbe nach r
und l vor Vokal:
mhd. bevëlhen  bevëlen;
h vor st: mhd. schuohsûtære  schuostære

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 30
 Nicht selten kommt es im Mhd. zur Dissimilation von
Konsonanten. Das ist das Gegenteil von Assimilation, eine
Art der Lautveränderung, bei der die Gleichheit oder
Ähnlichkeit zweier Laute im selben Wort oder in
benachbarten Wörtern beseitigt wird.

Konsonanten Beispiele

r und r  l und r mhd. môrber  mûlber

lat. organum  ahd. organan, orgenen


r und n  r und l (Pl.)  orgelen  orgela (Sg.)  mhd.
orgel
l und l  n und l mhd. klobelouch  knobelouch

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 31
Bei Dissimilationen kommt es auch zum
Konsonantenschwund.

Kon-
Beispiele
sonanten

mhd. verliumunden  verliumenden  nhd ?;


n
mhd. Werningerode  nhd. ?

mhd. ze den wîhen nahten  wînahten 


ch, h
nhd. ?

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 32
 Entwicklung des Phonems [∫] aus der
Konsonantenverbindung [sk] (begann im
11. Jh.):
ahd. scōni  mhd. schœne;
ahd. fisc  mhd. fisch;
ahd. friuntscaft  mhd. friuntschaft.
[∫] wird vor [l], [m], [n], [v], nach [r] und
in den Verbindungen [st], [sp] (außer im
Inlaut) realisiert.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 33
 Entwicklung des Phonems [z] aus [s] im
Wortanlaut und im Inlaut vor Vokalen (um
die Mitte des 13. Jh.).
 Lautwandel vom bilabialen Halbvokal [w]
zum labiodentalen stimmhaften Reibelaut
[v].

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 34
Morphologie und Syntax
 Durch Synkope und Schwächung der vollen
Nebensilbenvokale zerfällt das ahd. Endungssystem.
Schon in den späteren ahd. Texten findet man nicht
selten Artikel oder Personalpronomen. Im Mhd. sind
sie allgemein üblich.
 Von entscheidender Bedeutung war die
Abschwächung der Vokale in unbetonten Endsilben
zum Schwa-Vokal [ǝ]. Dieser Wandel führte zu
einschneidenden Änderungen in der Deklination der
Substantive ‒ es kam zu der formalen
Übereinstimmung früher unterschiedlicher
Kasusformen. Die Vereinfachung der Flexion fördert
die Angleichung der einzelnen Deklinationstypen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 35
 Die Vereinheitlichung der Deklination der Feminina
geht langsamer voran als die der Maskulina und
Neutra. Eine einheitliche feminine Deklination bildet
sich erst im 16. ‒ 17. Jahrhundert, d. h. in der fnhd.
und nhd. Zeit, heraus.
 Die Artikel übernehmen nun immer mehr die
Funktion der Deklinationsendungen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 36
Singular
ahd. mhd.
N zala (diu) zal „Zahl“
G zala (der) zal
D zalu (der) zal
A zala (die) zal

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 37
Plural
ahd. mhd.
N zalā (die) zal
G zalōno (der) zaln
D zalōm (den) zaln
A zalā (die) zal

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 38
 Durch die Unifizierung der Deklination der Substantive
gewinnt der Artikel an Bedeutung. Ohne ihn wäre die
Identifizierung des Kasus unmöglich. Der
Anwendungsbereich des bestimmten Artikels erweitert
sich schon im Spätalthochdeutschen. Seit Anfang der
mhd. Zeit ist auch der unbestimmte Artikel in Texten
regelmäßig anzutreffen.
 Im Mhd. entsteht auch die Opposition zwischen dem
bestimmten und unbestimmten Artikel zum Ausdruck der
grammatischen Kategorien der Bestimmtheit und
Unbestimmtheit.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 39
mhd. nhd.
Eȥ wuohs in Burgonden ein vil
Es wuchs in Burgund ein sehr
edel magedîn,
feines Mädchen heran, dass in
daȥ in allen landen niht
allen Ländern kein schöneres
schœners mohte sîn,
sein konnte, Kriemhild geheißen:
Kriemhilt geheiȥen: si wart ein
Sie wurde eine schöne Frau.
scœne wîp.
Deswegen mussten viele
dar umbe muosen degene vil
Kämpfer ihr Leben verlieren.
verliesen den lîp.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 40
 Die Abschwächung der vollen Vokale zum Schwa-Laut [ǝ]
bewirkt auch Änderungen im System der Konjugation der
schwachen und starken Verben.

Präsens des starken Verbs nemen


„nehmen“
ahd. mhd.
Sg.
1. nimu nime
2. nimis(t) nimest
3. nimit nimet
Pl.
1. nemamês nemen
2. nemet nemet
3. nemant nement
D. Koroljow. Geschichte der
deutschen Sprache. 41
 Zu Beginn der mhd. Zeit werden alle vollklingenden
Vokale in Suffixen der schwachen Verben zum Schwa-Laut
abgeschwächt. Dadurch wird die frühere Unterscheidung
der schwachen Verben nach 3 Klassen aufgehoben.

ahd. mhd.
I. Kl. teilen teilen
II. Kl. dionôn dienen
III. Kl. folgên folgen

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 42
 Bei starken Verben setzt sich der Umlaut als innere
Flexion weiter durch. Im Mhd. kennzeichnet er die 2. und
3. Pers. Sg. des Präsens Indikativ und das Präteritum
Konjunktiv.
Präsens Indikativ
ahd. mhd.
2. Pers. Sg. feris(t) ferest „fährst“
3. Pers. Sg. ferit feret „fährt“
Präteritum Konjunktiv
Prät. Konj. 1. gâbi gӕbe „gäbe“
Pers. Sg.
Prät. Konj. 1. hulfi hülfe „hülfe“
Pers. Sg.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 43
 Der Ablaut in den Grundformen der starken Verben
stimmt im Wesentlichen mit dem des Ahd. überein.
Die mhd. Formen zeichnen sich v. a. durch
Abschwächung unbetonter Vokale aus .

I. Ablautreihe
1. mhd. schrîben ‒ schreip ‒ schriben ‒ geschriben
2. mhd. lîhen ‒ lêch ‒ lihen ‒ gelihen

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 44
 Im Mhd. setzen sich analytische Formen des Verbs
weiter durch. Während der Gebrauch des Perfekts
und des Plusquamperfekts in Ansätzen auf die ahd.
Zeit zurückgeht, begegnen sie uns im Mhd. als
vollkommen entwickelte Zeitformen. Nach ihrem
Vorbild entwickeln sich auch das Perfekt und das
Plusquamperfekt des Passivs und des Konjunktivs.
Das 1. und das 2. Futur sowie der 1. und der 2.
Konditionalis bürgern sich erst im Fnhd. ein.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 45
 In der mhd. Zeit tritt der relative Zeitgebrauch
neben den absoluten Zeitgebrauch. Es entstehen
auch Voraussetzungen für die Entwicklung einer
stilistischen Differenzierung im Gebrauch der
Zeitformen.
 Die wichtigsten Kennzeichen des heutigen
Zeitformengebrauchs zeigen sich bereits in den
Schriftdenkmälern des 12. ‒ 13. Jh. So wird das
Präteritum im „Nibelungenlied“ schon regelmäßig als
Erzählform und das Perfekt als Gesprächsform
gebraucht.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 46
mhd. nhd.
Der König begrüßte sie, er
Der künec si gruoȥte schône;
sagte: „Seid willkommen.
er sprach sît willekomen.
Wer euch geschickt hat,
Wer iuch habe gesendet,
habe ich noch nicht gehört.
desn hân ich niht vernomen:
Davon sollt ihr berichten“.
daȥ sult ir lâȥen hœren,
sprach der künec guot.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 47
 Aufgrund der ursprünglich perfektiven Bedeutung
des Perfekts und des Plusquamperfekts entwickelt
sich der relative Gebrauch dieser Formen zum
Ausdruck der Vorzeitigkeit. Das Plusquamperfekt
wird häufig mit dem Präteritum gebraucht und
drückt die Vorzeitigkeit in der Vergangenheit aus.
Das Perfekt erscheint oft zusammen mit dem
Präsens und berichtet von einem vorausgegangenen
Geschehen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 48
mhd. nhd.
Er ließ seiner Schwester
Dô enbôt er sîner swester
sagen, dass er sowie der
daȥ er si wolde sehen
Recke Siegfried sie sehen
und auch der degen Sîvrit
wollten. Bevor dies
Ê daȥ was geschehen
geschehen war, hatte sich
dô hete sich diu schœne ze
die Schöne festlich
wunsche wol gekleit.
gekleidet.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 49
 Infolge der Abschwächung der Endsilbenvokale erhält das
Paradigma der Adjektive im Mhd. die Gestalt, die wir
heute kennen.
 Der Umlaut dient in der mhd. Zeit zur Steigerung der
meisten einsilbigen Adjektive.

ahd. mhd. nhd.


alt ‒ eltiro ‒ alt ‒ elter ‒ alt ‒ älter ‒
eltisto eltest ältest
hôh ‒ hôhiro ‒ hoch ‒ hœher ‒ hoch ‒ höher ‒
hôhisto hœhest höchst
jung ‒ jungiro ‒ jung ‒ jünger ‒ jung ‒ jünger ‒
jungisto jüng(e)st jüngst

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 50
 Die heutige Gebrauchsnorm der starken, schwachen und
flexionslosen Formen des Adjektivs ist im Mhd. im
Werden. Der Gebrauch eines flexionslosen Adjektivs als
Prädikativ ist im 12. ‒ 13. Jh. bereits eine feste Regel.

mhd. nhd.
Sie ist iu ze edel unde rîch, Sie ist zu edel und
daȥ ir si kebsen soldet. machtvoll, als dass ihr ihr
die Ehre rauben solltet.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 51
 Der Gebrauch der starken und schwachen
Deklination schwankt nicht nur im Mhd., sondern
auch im Fnhd. und wird erst im 17. ‒ 19. Jh.
endgültig normiert.
 Eine Besonderheit des Mhd. ist der häufige
Gebrauch flexionsloser Formen des Adjektivs als
präpositives oder postpositives Attribut: grôȥ jâmer
„großer Jammer“, ein vil edel magedîn „ein sehr
edles Mädchen“, einen brunnen kalt „einen Brunnen
mit kaltem Wasser“ usw.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 52
 Der mhd. Satzbau bewahrt noch viele Besonderheiten des
ahd. Satzbaus. Es handelt sich u. a. um
 1) Freistellung der Attribute und häufigen Gebrauch
flexionsloser Formen der Adjektive: ein vil edel magedîn,
„ein sehr edles Mädchen“, ein edel ritter guot „ein guter
edler Ritter“,
 2) verhältnismäßig ungebundene Stellung des Prädikats
im einfachen und komplexen Satz: Den troum si dô sagete
ir muoter Uoten. „Den Traum erzählte sie ihrer Mutter
Ute“,
 häufigen Gebrauch der Doppelnegation im Satz: Si ne
gesah in leider dar nâch nimmer mêr gesund. „Sie hat ihn
leider nimmer mehr gesund gesehen“.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 53
 Aber es gibt auch Veränderungen hin zur modernen
Satzstruktur.
 1) Verstärkte Tendenz zum zweigliedrigen Satzbau und
Durchsetzung des formalen Subjektes eȥ außer in Sätzen
wie mich hungert “mich hungert es“, mir grûset „mir
graust es“,
 2) Tendenz zur unterschiedlichen Entwicklung der
Wortstellung im einfachen und im komplexen Satz. Trotz
der Tendenz zur Endstellung des Prädikats im Nebensatz
ist sie noch nicht allgemein: Er hôrte sagen mӕre, wie ein
schœniu meit wӕre in Burgonden „Er hörte davon
erzählen, was für ein schönes Mädchen in Burgund lebte“.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 54
 3) Die verbale Klammer hat sich im Mhd. noch nicht fest
etabliert. Teile des zusammengesetzten Prädikats können
noch verschiedene Stellungen im Satz haben: Ir muget hie
wol verliesen die êre und ouch den lîp „Ihr könnt hier
leicht Ehre und Leben verlieren“ (unvollständige
Klammer).
 4) Entwicklung umfangreicherer zusammengesetzter
Sätze infolge der Erweiterung des Geltungsbereichs der
deutschen Sprache, die das Aufkommen neuer prosaischer
Textsorten zur Folge hat.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 55
Wortschatz in der mhd. Zeit

 Der Ritterstand entwickelte eine


überlandschaftliche Literatursprache, die
auch auf niederdeutschem Gebiet, aber
nicht in den Niederlanden gebraucht wurde.
Diese Sprache, das klassische
Mittelhochdeutsch, ist verhältnismäßig
einheitlich und hat oberdeutsche
Grundlage, da die meisten Dichter
oberdeutscher Herkunft waren. Sie lässt
sich keinem bestimmten Dialekt zuordnen.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 56
 Das klassische Mhd. ist also eine
Kunstsprache, die für die mündlich
vorgetragene Dichtung bestimmt war. Die
Alltagssprache der Ritter war stärker
landschaftlich geprägt und die übrige
Bevölkerung sprach und schrieb Mundart.
Mit dem Niedergang des Rittertums
verschwand diese erste deutsche
Gemeinsprache auch aus der Literatur.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 57
 Für die ritterliche Standessprache wird ein
neuer erweiterter Wortschatz gebraucht, der
teils durch Neubildungen und
Bedeutungswandel deutscher Wörter, teils
durch Entlehnungen aus dem Französischen
entsteht.
 Die höfische Dichtung enthält eine Fülle
französischer Lehnwörter, die das ritterliche
Leben widerspiegeln. Viele dieser
Lehnwörter versteht man heute nicht mehr
ohne Wörterbuch.

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 58
afrz. garçon  mhd. garzûn ?
afrz. bouhourt  mhd. bûhurt ?
afrz. chapel  mhd. schapel ?
afrz. aventure  mhd. aventiure  nhd. ?
afrz. tournoi  mhd. turnei  nhd. ?
afrz. danse  mhd. ?  nhd. ?
afrz. pris  nhd. ?
afrz. fin  nhd. ?
afrz. rubin  nhd. ?
afrz. samit  nhd. ?
afrz. chevalier  mhd. ?  nhd. ?

D. Koroljow. Geschichte der


deutschen Sprache. 59
 Verbreitung der neuen Anredeform ir (2.
Pers. Plur.) nach französischem Vorbild
vois. Das Anredepronomen Sie beginnt
sich erst im 17. Jh. durchzusetzen.
 Zusammen mit Lehnwörtern wie turnieren,
parlieren, melodîe, courtoisîe gelangen
auch die beiden Suffixe -ieren und -îe (im
Fnhd. ei) ins Deutsche und wurden in der
Wortbildung produktiv.

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deutschen Sprache. 60
arebeit „Mühsal, Anstrengung“;
hochgezît “Fest”;
klein “fein, zierlich”;
maget “Mädchen”;
snel “kräftig, tapfer, rasch”;
tump “unerfahren, töricht, stumm”.

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deutschen Sprache. 61
Wandel im Wortgebrauch
ahd. frō “Herr”  mhd. vrouwe “Herrin,
Dame”  “verheiratete Frau”  nhd. ?
mhd. vrouwe  mhd. frouwelîn  nhd ?
mhd. wîp “verheiratete Frau”  “Weib”

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deutschen Sprache. 62
Wort Bedeutung
„Verpflichtung eines Gefolgs- oder
dienest
Lehnsmannes“
triuwe „Vertragstreue, Selbstverpflichtung“
“Beherrschen schädlicher Leidenschaften
mâȥe und Affekte, Absage an extreme
Verhaltensweisen”
stæte “Beständigkeit, Beharrlichkeit, Stetigkeit”
“Standesrecht und Standespflicht eines
reht
Menschen”

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deutschen Sprache. 63
Wort Bedeutung
„äußere und innere Wohlerzogenheit
zuht
eines echten Ritters“,
milte „freigebig“ (vgl. nhd. „mildtätig“)
“edle Gesinnung und hohes
hôher muot
Selbsgefühl”
“ verehrende Liebe eines Ritters zur
minne
vrouwe”

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deutschen Sprache. 64
 Aus der Ritterzeit stammen mehrere noch
heute gebräuchliche Redensarten, z. B. ?
 In der mhd. Zeit finden sich die Anfänge
der deutschen Gebrauchsprosa. Die
Sprache der Kirche, der Verwaltung und
des Unterrichts ist immer noch Latein. Aber
man fängt allmählich an, die Volkssprachen
zu schreiben. Verglichen mit der höfischen
Dichtung ist die mhd. Prosa weit stärker
von der jeweiligen Mundart gefärbt.

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deutschen Sprache. 65
 Wichtig für die Entwicklung des abstrakten
Wortguts im Deutschen war die religiöse
Bewegung der Mystiker. Die Mystiker
schufen zahlreiche Neubildungen, oft in
Form von Metaphern wie einbilden,
Eindruck, Einfall, Einfluss, einleuchten. Sie
bevorzugten Abstraktbildungen mit den
Suffixen -keit, -heit, -ung (Hoheit,
Heimlichkeit, Berührung) und
substantivierte Infinitive (Sein, Wesen,
Tun).

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deutschen Sprache. 66
 Nach und nach begann man auch
wissenschaftliche Arbeiten auf Deutsch zu
schreiben, die so genannte Artesliteratur.
 Am Ende der mhd. Zeit gingen die
deutschen Städte dazu über, in den
Kanzleien die lokale Mundart zu schreiben.
Die Sprachform unterscheidet sich von
Schreibstube zu Schreibstube, nur der Stil
ist einheitlich.

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