Theorien und Tendenzen während der Aufklärung und des Rokoko
Mit dem Barockroman beginnt die Hinwendung zu
einer subjektive(re)n Sicht über Welt und Individuum Der Roman reflektiert das Bedürfnis nach (fiktionaler) Neuschaffung der Welt – aus einer permanenten Unzufriedenheit Der Roman nähert sich der konkreten Erlebniswirklichkeit. Das Individuelle und das momentane Lebensgefühl werden zur Grundlage des Erzählens. Neuer Halt im Bürgerlichen und Moralischen. Das alles führt zur Hinwendung zum Realismus. Die Privatsphäre, das Eigenerleben befreien die Figuren aus dem totalistischen Weltbild des Barock, aus der moralischen Umklammerung Die Sittlichkeit wird von dem Erlebnis, dem Augenblick ersetzt. Die religiöse Totalität ist zerbrochen, neue Formen des individuellen Gefühlserlebnis erscheinen. Religiöse Weltsetzung ist nicht mehr Voraussetzung zum Roman. Der Roman schafft selbst (s)eine neue Welt. Ein neuer Halt wird im Bürgerlichen gesucht, der Mensch hat sein eigenes Schicksal, er ist nicht mehr von der barocken Fortuna determiniert Der Mensch tritt aus dem normativen Rahmen des Barock hinaus. Die Erzählung dient zur Bildung, zur personalen Entwicklung. Beginn der Aufklärung – der Mensch soll mit seiner Umwelt allein zurechtkommen. Der Geist beginn so zu denken. Parallel entwickeln sich auch die Wissenschaften, der Mensch ist nicht mehr ausschließlich im christlichen Denkschemata verankert. (Diesseits- Jenseits). Der politische Näscher: Poetologie einer belehrenden und unterhaltsamen Literatur unter dem Motto “das Gemüthe soll erfreuet werden” (delectarea spiritului) Der Sinn des Romans soll im Scherz (gluma) und im Gelächter (râs) liegen: “alle Anmuth [besteht ]im Schreiben entweder in einer lustigen Sache oder in lustigen Worten.” Vier Affekte des Lesers sollen aktiviert werden: 1. das Glücksverlangen (dorinta de fericire), 2. die Neugier (curiozitatea), 3. das Besserwissen (stiinta) und 4. die Identifikation mit Glück oder Unglück (identificarea cu destinul). „Es sollte ein Buch von solcher lustigen Art auch nützlich seyn”. Nützlich heiβt politisch und christlich, ein Zeichen der Säkularisierung der Literatur Das christliche Ethos als Orientierung in der Wirklichkeit, es geht um ein praktisches Christentum, am Diesseits orientiert. Rezeptionspsychologisch orientiertes Modell: Der Leser soll die Illusion von Glück empfinden, wenn er einen Roman liest, sagt Weise. Weise steht damit am Anfang der Aufklärung, mit einem bejahenden, optimistischen Zug. Der Leser soll Glück erleben, wenn es auch nur als Illusion. Daniel Georg Morhof - Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682): gilt als erster deutscher Theoretiker, der zwischen den drei kanonischen Gattungen unterscheidet. Christian Thomasius: Freymüthige Lustige und Ernsthafte iedoch Vernunfft- und Gesetzmässige Gedancken oder Monatsgespräche (1688/89) greift Weises Poetologie der Nützlichkeit auf: Der Roman ist das Ergebnis von Kreativität, die eine bestehende Realität literarisiert (im Gegensatz zur Geschichtsschreibung). Glaubwürdigkeit auf Grund von Helden des Alltags: “Sie ässen, tränken, schlieffen, liebten, hasseten, erzürneten sich usw. wie andere Leute”, im Gegensatz zu mythologischen Helden, die “beynahe nichts Menschliches an sich hätten”. Faktor der Wahrscheinlichkeit/Glaubwürdigkeit schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei Pierre Daniel Huet (Traité de l’Origine des Romans. 1670) formuliert. Die Hauptfunktion des Romans ist, laut Huet, auf angenehme Weise zu unterrichten (a educa/forma) und Tugenden (virtuţi) zu vermitteln (a transmite) Einige Grundregeln des Romans nach Huet: 1. Die Romanform soll einheitlich sein. 2. Prosa wird zur gattungsbestimmenden Form des Romans. 3. Er soll eine Liebesgeschichte enthalten. 4. Das Nützliche und Unterhaltsame sollen verbunden werden. 5. Der Roman hat einen formalen Kunstcharakter, er entsteht nach Regeln. 6. Die Romanhandlung hat einen fiktionalen Charakter. 7. Das Lesen von Romanen aktiviert Affekte und erweckt den ästhetischen (guten) Geschmack. Nicolas Boileau: L‘art poetique (1674). Widmet sich nur wenig dem Roman, wenn dann, mit abwertenden Bemerkungen (bezieht sich dabei auf den frivolen Roman) Boileau fordert Klarheit (claritate) , Präzision und guten Geschmack (bun gust) von jedem literarischen Werk Boileau warnt vor Belastung (încărcare) des Werkes mit “unnützen Kleinigkeiten” […] “alles was zuviel gesagt wird, ist reizlos (lipsit de farmec), ja, abstoβend (respingător)…” Einfluss Boileau auf Gottsched: Lehrbuch - Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729): Vernunft (raţiune) und Wahrheit (adevăr) sind Wertkriterien des literarischen Textes, es sind oberste Prinzipien. Die Schönheit ist der Wahrheit unterstellt. Der ästhetische Faktor ist auf Grund der Vernunft (Raison) zu bestimmen (a stabili). Neue Schlagworte (cuvinte cheie) in der poetologischen Diskussion: „bon gout“ und „esprit“, ein Gegenstil zur barocken Schwulst. (caracter bombastic). Mit diesen Regeln wurde nichts Neues erreicht, die Welt wird immer noch als vorgefertigter Kosmos angesehen – Korsett. Bald kommt es zu einer kritischen Abwertung (depreciere) des (französischen) Romans, der angeblich das Laster (viciul) zu sehr thematisiert: „Sie [die Romane] setzen das Laster auf den Thron, und die unkeuschesten (impure) und schändlichsten (rusinoase) Handlungen erzählen sie mit den lebendigsten Farben so deutlich, daß alle natürliche Ehrbarkeit (respectabilitate) von ihnen mit Füssen getreten wird.” Es wird eine literarische Zensur gefordert! Der Roman soll lehrreich und nützlich sein und den Charakter bilden, soll sittlich sein. Entwicklung des Romans ist eher stagnativ als progressiv zu betrachten, der Roman wird noch immer verachtet, ein allgemeiner Form-, Typen- und Gattungssynkretismus ist zu beobachten. Die Romane von Christian Gellert und Johann Gottfried Schnabel zeugen von der Emanzipation des Bürgertums, es ist eine bürgerliche Perspektive. Ein neues soziales Gefühl kommt mit der Ablehnung (respingerea) des Absolutismus. Gefühle sind nicht mehr metaphysisch gebunden, also an Gott. Gefühle werden in Freundschaft, Liebe, in Geselligkeit empfunden. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts fehlt aber die personale Bindung, sie sind eher unpersönlich. • Richardson und der englische Seelenroman (roman al sufletului) beginnt sich der Roman zu entfalten – die Kenntnis des menschlichen Herzens. • Richardson und Fielding treffen wir Selbstreflexion an, Reaktionen auf den hohen Barockroman. • Der Roman setzt den Glauben an die Abbildbarkeit der „realen Welt“ voraus, im Barock setzt der Roman den Glauben an die Abbildbarkeit der göttlichen Welt voraus. • Auswirken auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1772). Psychoanalytische Darstellung der individuellen Empfindsamkeit (sensibilitate) vs. Gesellschaft und deren Zwänge (constrângeri) • Neues Modell menschlicher Bildung: Nichts bildet das menschliche Herz besser als ein gutes Buch! • Handlung ist charakterbedingt und hängt von den individuellen Beweggründen ab. Der Roman rückt das Persönliche in Zusammenhang mit einem neuen Lebensgefühl in den Vordergrund Die Kunst darf nun auch dem einfachen Bürger Konflikte zubilligen (îi permite) Der Briefroman erfreut sich einer großen Beliebtheit, der Roman beginnt in einer neuen Form mit der Gefühlsidentifikation. Der Erzähler wird das dominante Element. Erzählerinstanz öffnet den Kommunikationskanal zum Leser – zum Gefühl oder zum Intellekt. Intellekt – dadurch entsteht die Distanz, durch Ironie entsteht ebenso Distanz. Wieland ist in Deutschland der erste distanzierte Erzähler. Ein neues Weltverständnis zeigt sich auch im Erzählen. Sterne zeigt, dass das Schreiben eines Romans der Theorie voraus eilt. (kommt zuvor) Der Roman gründet (se bazeaza) auf kreatives Bewusstsein, nicht auf liniare Handlung. Sterne setzt den Fokus ins Innere der Charaktere, in das Unterbewusste, sodass die Handlung – wenn sie überhaupt existiert - als Abweichungen von der Norm/Regel des Verhaltens verstanden wird. Roman als Resultat von eigenen mentalen Vorgängen und (Re)Konstruktionen der Welt durch Sprache. Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit Roman stellt ein Mosaik dar, das aus Digressionen, Gedanken- und Handlungssprüngen bis hin zu Leerstellen besteht. Als entgegengesetzt (opus) ist die Auffassung vom Roman als Darstellung von Illusion mit Wirklichkeitsanspruch. Für dieses Modell ist die Welt abbildbar und erzählbar. Beide Modelle zeigen den Menschen innerhalb gesellschaftlicher Mechanismen. Das Ökonomische gewinnt zunehmend die Oberhand.( vgl. Fielding, Richardson) Die Rolle des Erzählers wird ausgebaut durch den Einsatz von Ironie als Erzählhaltung (Goethe vergleicht Ironie mit dem Körnchen Salz, welches jedes Essen schmackhaft macht und für Thomas Mann ist Ironie der Kunstgeist der Epik). Christoph Wieland assoziiert den Roman mit bürgerlicher Emanzipation und kritischem Selbstbewusstsein (conștiință de sine). Wieland postuliert den Grundsatz der Wahrscheinlichkeit und zeichnet damit das poetologische Manifest des späteren Entwicklungsromans vor: „Daß alles mit dem Laufe der Welt übereinstimme (să corespundă); daß die Charaktere nicht bloß willkürlich nach der Phantasie oder den Absichten des Verfassers gebildet (geschaffen), sondern aus dem unerschöpflichen Vorrate der Natur selbst hergenommen seien;[...] kurz, daß alles so gedichtet sei, daß sich kein hinlänglicher Grund angeben lasse, warum es nicht gerade so, wie es erzählt wird, hätte geschehen können.“ 1774 schreibt Christian Friedrich von Blanckenburg seinen Versuch über den Roman = erste monographische Romantheorie in Deutschland Zentrum des Romans = der Mensch und seine geschichtsbedingte (-konditionierte) Situation. Das Erzählen setzt sich zum Ziel, das Innere des Menschen aufzuklären ( a clarifica) Blanckenburg spricht davon, dass der Dichter Personen und ihre Eigenschaften vorherbestimmen muss, und dass sich die Handlung automatisch daraus ergibt. Roman ist ein Ergebnis logischer Zusammenhänge, darin sich die Zusammenhänge der Natur spiegeln, es gibt eine innere Geschichte. Das Interesse vom einfachen Erzählen verlagert sich auf das Psychologisieren und Erziehen (Charakterroman) Tendenz zur Pragmatik = charakteristisch für den deutschen Roman Weltbild des Barock: Angst vor und Bewusstsein der Vergänglichkeit Unsicherheit und Last der Existenz Not und Verzweiflung der Menschen Pessimistische Weltauffassung Roman: Tradition des höfischen Epos, Abenteuer- und Liebesromane, höfisch-galante Staatsromane, Schelmenroman Weltbild der Aufklärung – Die Menschen vor geistlicher und weltlicher Bevormundung zu befreien Der Mensch sollte selbstständig durch den Gebrauch seiner Vernunft werden Er sollte als Mitglied der Gesellschaft aufgeklärt werden Immanuel Kant – „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) • Glauben an der Vernunft des Menschen • Optimismus • Der Mensch muss belehrt und aufgeklärt werden • Erziehung und Belehrung durch Literatur
Hillebrand, Bruno: Theorie des Romans.
Erzählstrategien der Neuzeit. Stuttgart 1993, S. 34- 124.