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Geschichte der

Vokalmusik

Emilia Pelliccia, BA MA
pelliccia@mdw.ac.at

Mo, 17:00–18:30
MDW, Institut für Gesang und Musiktheater
Lehrsaal 1
Das „lange“ 19. Jahrhundert
• In den meisten Geschichtsbüchern wird das Jhdt als Epoche der
„Romantik“ definiert  nicht ausreichend; auf Musik des
deutschsprachigen Raumes begrenzt
• Epochenschwelle zwischen „Klassik“ (ca. 1750–ca. 1830) und
„Romantik“ (ca. 1830–bis Anfang 20. Jhdt)
• alternative Einteilung in Frühromantik (ab 1820er),
Hochromantik/Neuromantik (ca. 1830–ca.1860), Spätromantik
(ca.1860–ca.1890), evtl. Nachromantik (bis ins frühe 20. Jhdt)
• Vorsicht: Epochengrenzen können je nach Disziplin (Musik, Literatur
oder Malerei) variieren!
Das „lange“ 19. Jahrhundert: musikalische
Romantik und ihre Merkmale
• Formen: Auseinandersetzung mit Kompositionsmodellen der Klassik;
Auflösung bestehender Modelle; Hinwendung zu kleinen Formen (z.B. Lied,
Instrumentalmusik: Charakterstück)
• Harmonik: Dur/Moll-Harmonik wird ausgeweitet und verfeinert;
kompositorischer Fokus auf Instrumentation (z.B. Abkehr von Basso continuo)
• Gefühlsbetontheit
• Ästhetik der Schönheit: z.B. in italienischer Vokalmusik Belcanto
• Erwachendes Interesse für Geschichte führt erstmals zur wissenschaftlichen
Musikbetrachtung
• Ausprägung eines Nationalbewusstseins  Nationalmusik: z.B. Oper in
Deutschland (C.M. Weber, später R. Wagner), Frankreich, Italien, etc.
• Entstehung des Musikjournalismus
Das „lange“ 19. Jhdt: Fokus Oper
• Einteilung in Arie, Rezitativ, Ensembles bleibt weiter bestehen 
secco-Rezitativ wird in den 1820ern zugunsten der scena abgelöst
• Übergang zwischen Arie/Arioso und Rezitativ wird fließender
• Rolle des Chores als Handlungsträger wächst (v.a. italienische Oper
und Grand-Opéra)
• Themen: Zuwendung zu ernsten Themen, oft literarische Vorlagen
• Kastrat verliert zunehmend an Bedeutung  Etablierung des Tenors
als Protagonist; Bedeutung von Bariton- und Bassrollen steigt; prima
donna als Protagonistin, Mezzo- oder Altstimme oft in Hosenrollen
Gioacchino Rossini (1792–1868)
• Geboren in Pesaro (damals Kirchenstaat), gestorben in Paris
• Erlebte Einmarsch der Franzosen 1797, die das Auftrittsverbot für Frauen
abschafften  Mutter hatte Karriere als Opernsängerin
• Rossini wurde selbst als Tenor ausgebildet; Sängerkarriere wurde in
Betracht gezogen; dann maestro al cembalo
• Kompositorische Tätigkeit: zunächst Kirchenmusik und Kantaten,
vereinzelte Einlagearien
• Operndebut 1810 in Venedig: La cambiale di matrimonio („farsa comica“)
• Engagements in Mailand, Rom und Neapel: komponiert gleichermaßen
opere buffe und opere serie; „Nummernopern“
• ab 1824: Beginn der Arbeit am Theatre Italien in Paris (mit Ferdinando
Paer), später für die Opéra
• Umarbeitung bereits komponierter Werke auf französisch, bzw.
Komposition französischsprachiger Opern
Bsp. La Cenerentola (Rom, 1817): Akt II, „Questo
è un nodo avviluppato“
Gesangsästhetischer Wandel
Der Mythos des „do di petto“
Stimmlagen
• Bezeichnungen der Stimmlagen beharren weiterhin auf vierstimmigem
Chorsatz: Sopran, Alt, Tenor, Bass (teils mit nationalen Unterschieden);
Behandlung von Mezzosopran und Bariton als eigene Hauptstimmen
(v.a. im Bereich der Gesangspädagogik)
• Höhere Lagen (Sopran, Tenor) erschließen sich immer mehr Höhe
• Bezeichnungen wie „tenore contralteggiante“ oder „tenore
contraltino“; Tenöre, die hohe Lagen im Falsett singen werden oft
parodisiert (Bsp. Gassmanns, L‘opera seria)
• Französische Musikkultur öffnet sich den italienischen
Stimmgattungsbegriffen: Bsp. ténor statt taille  ersichtlich in
Gesangsschulwerken nach 1820
Stimmlagen und Rollenfächer
• 18. Jhdt: Stimmumfang als wesentliches Kriterium; Faktoren wie
Timbre oder tessitura blieben unberücksichtigt
• Teilweise bereits Stimm- und Rollenbezeichnung: basso buffo
• Ab ca. 1820er: Ideal der Agilität und Registerverschmelzung musste
zugunsten voluminöserer Tongebung zurückstecken
• Differenzierung zwischen „schweren“ und „leichten“ Stimmen schlägt
sich daraufhin in der Terminologie nieder  soprano drammatico,
soprano leggiero; tenore di forza, tenore leggiero; etc. (Termini sind
nicht einheitlich und werden unsystematisch verwendet)
• Besonderer „Problemfall“: Tenor und die Stimmerzeugung
Der Mythos des „hohen c“
• Kastraten treten in ihrer Bedeutung für die
Opernbühne zurück; kirchenmusikalische
und/oder pädagogische Tätigkeit
• Tenor avanciert zum Protagonisten der Oper
• Legende, dass sich um 1830 ein grundlegender
gesangstechnischer Wandel bei der Produktion
hoher Töne vollziehe
• Anlass der Legende war Rossinis Guillaume Tell /
Guglielmo Tell: UA in Paris 1829, erste
italienische Aufführung in Lucca 1831
Paris, 1829

Guillaume Tell (1829/1831)

Lucca, 1831
“Rivalität“ der Tenöre
• Adolphe Nourrit („tenore all‘antica“) vs. Gilbert-Louis Duprez („tenore
moderno“)
• Duprez soll bei der Aufführung von Guglielmo Tell (Arie „Amis, amis,
secondez ma vengence“) erstmals das hohe C mit Bruststimme
gesungen haben
• Mythos: Die aus der Tradition des 18. Jhdts stammenden Tenöre vor
Duprez hätten hohe Töne (jenseits des f‘) im Falsett gesungen
• Diese Annahme basiert auf falschen historischen Tatsachen und ist
Resultat eines Missverständnisses

Marco Beghelli, „Il ‚do di petto‘. Dissacrazione di un mito“, in Il Saggiatore Musicale 3 (1996), S. 105–149.
(s. Moodle)
Die (missverständliche) Theorie der Stimmregister: Autoren des 18.
Jhdts setzen „Falsett“ mit “Kopfstimme“ gleich

P. Tosi (Opinioni 1723, S. 14): J. F. Agricola (Anleitung 1757, S.


34):
„La giurisdizione della voce „Die Wälschen (=die Italiener)
naturale o di petto termina (nel pflegen aber oft, wie auch Tosi
soprano) ordinariamente sul hier selbst öfters thut, das was
quarto spazio o sulla quinta riga man eigentlich Falsett („nach dem
(in chiave di soprano), ed ivi deutschen niedrigen Ausdrucke
principia il dominio del falsetto ‚Fistelstimme‘) nennen sollte, mit
(…)“ dem Namen Kopfstimme zu
verwechseln.“
Stimmregister
• Weder in Gesangstraktaten noch in medizinischen Traktaten genau
benannt
• Grundsätzlich bei Männern 2 Produktionssysteme:
1. light/loft voice (=Falsetto, klingt ähnlich einer Sopran- oder
Altlage)
2. heavy/modal voice (volle Stimme): innerhalb der modal voice
 Unterteilung in Kopf- und Bruststimme
• Physiologische Aspekte beider Produktionssysteme: Unterschied bei
Kontraktion der Stimmbänder und Unterschied bei Kontakt zwischen
den Stimmbändern
„Innovation“ Duprez‘
• Insgesamt robusterer Gesangsstil, voluminösere Stimme: betraf – laut
zeitgenössischer Kritiken – nicht bloß die isolierten hohen Töne
• Generationenwechsel, den Komponisten (v.a. der italienischen Oper)
wahrgenommen hatten
• Kein klanglicher Unterschied mehr zwischen Kopf- und Bruststimme:
es ging nicht um Stimmregister oder unterschiedliche
Stimmproduktion, sondern um Klangfarbe!
• „voix sombrée / timbre sombrée“: die wahre Innovation war ein
voluminöserer, vollerer Klang, der durch Anhebung des Gaumensegel
und Senken bzw. Kippen des Kehlkopfs erzielt wurde
• Resultat: höhere Töne konnten voller klingen!
Vor- und Nachteile des Volumens
• Neue Stellung des Gaumens bzw. des
Kehlkopfes brachte auch Nachteile mit sich:
Diktion wird undeutlicher
• „forza“ vs. „sforzo“: zeitgenössischer Kritiken
bemängeln wiederholt unangenehmen Klang
von Tenören, die „schrien“ (Karikatur eines
erwürgten Kapauns!)
• Erstrebenswert: colore chiaro auf den
Spitzentönen

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