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Zu diesem Buch
Der junge Psychiater Dr. Uemura hat zwei Probleme. Das eine ist sein
Patient, der Student Akio Tanno, der behauptet, eine Frau umgebracht
zu haben. Das andere ist die attraktive Frau Owada, das vermeintliche
Opfer. Sie ist quicklebendig und behauptet, Akio Tanno überhaupt
nicht zu kennen.
Dr. Uemura will der Sache auf den Grund gehen. Doch anstatt dass
sich das Rätsel löst, verliert er sich in einem Labyrinth aus Geheim-
nissen, Obsessionen und Erpressung.

»Masako Togawa schafft eine Umgebung und Atmosphäre, die uns


gleichzeitig durch ihre Fremdheit und durch ihre Nähe zu unserer
eigenen Welt fasziniert. Das Fremde und das Bekannte verschmelzen
geheimnisvoll, die Spannung ist erschreckend.« Ruth Rendell

Die Autorin
Masako Togawa wurde 1933 in Tokio geboren. Sie arbeitete als
Nachtclubsängerin, bevor sie zu schreiben begann und mit vierund-
zwanzig in einem Krimiwettbewerb den ersten Preis gewann. Ihre
meisterlichen psychologischen Kriminalromane sind Bestseller und
wurden vielfach preisgekrönt. Masako Togawa besitzt einen Nachtclub
in Tokio und ist eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens
in Japan, berühmt für ihre Krimis, Essays und sozialkritischen
Beiträge. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Im Unionsverlag ist außerdem lieferbar: »Schwestern der Nacht«


Mehr über Buch und Autorin im Anhang und auf www. unionsverlag. com

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Masako Togawa
Trübe Wasser in Tokio
Aus dem Englischen von Bettina
Thienhaus

Dieses e-book ist nicht zum Verkauf


bestimmt.

scanned by: ditab

Unionsverlag

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Die Originalausgabe erschien
1976 unter dem Titel Fukai Shissoku.
Die deutsche Erstausgabe erschien
1998 im Fischer Taschenbuch
Verlag, Frankfurt am Main. Sie
folgt der 1995 unter dem Titel

Slow Fuse erschienen englischen Ausgabe

Unionsverlag Taschenbuch 252


© by Masako Togawa 1976 © by
Unionsverlag 2003 Rieterstrasse
18, CH-8027 Zürich
Telefon 0041-1-281 1400, Fax 0041-1-281
1440 mail@unionsverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten


Umschlaggestaltung: Heinz Unternähren, Zürich
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
ISBN 3-293-20252-7

Die äußeren Zahlen geben die aktuelle


Auflage und deren Erscheinungsjahr an:
12345-06050403

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Inhalt

1 Die Frau im weißen Zimmer 7


2 Zwischenspiel: Schwarz-weiß 20
3 Die Gedächtnislücke 33
4 Die Bühne wird gerichtet 45
5 Vogelgezwitscher 57
6 Grüne Wasserlinsen 70
7 Wasserspuren 81
8 Eintauchen 93
9 Nächtliche Spiegelung 105
10 Weißer Dunst 117
11 Der Pool 129
12 Der Riss im Boden 143

Anhang 155

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1
Die Frau im weißen Zimmer

Eins

Hinter den zerzausten Zypressen neben dem Eingang des Apart-


menthauses schimmerte bläulich das Wasser eines Swimming-Pools.
Allem Anschein nach war es seit Monaten nicht erneuert worden und
kurz vor dem Umkippen. Am Beckenrand lagen verwitterte
Liegestühle und zerfetzte Sonnenschirme, eine ferne Erinnerung an
den Sommer.
Vor einem weißen Schild an dem schmalen Weg, der zum Pool
führte, blieb ich stehen. Es war so auffällig angebracht, dass kein Be-
sucher die Existenz des Pools übersehen konnte. Der Inhalt besagte in
etwa, der Pool sei Mitgliedern vorbehalten und von niemandem sonst
zu benutzen. Mitglied konnten offenbar nur Hausbewohner werden.
Das massive quadratische Schild strahlte so etwas wie Stolz aus auf
seine negative Funktion. »Angeln, Springen vom Beckenrand, Lärm,
unbefugte Zuschauer verboten!« Und schon krakeelten in meinem
Kopf lauter Angst machende Vorschriften und Verbote, die meine
Patienten in Unruhe zu versetzen pflegten. Gewiss war auch ihm das
Schild aufgefallen. Wie mochte es auf ihn gewirkt haben? Ich wusste es
nicht.
Ich ging zum Hauseingang zurück und wartete ungeduldig, bis sich
die Tür langsam, wie von Geisterhand öffnete. Mir fiel auf, dass mich
der uniformierte Pförtner hinter seinem Tresen im Foyer aufmerksam
beobachtete. Wahrscheinlich musterte er alle Menschen,

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die das Gebäude betraten, so genau. Ganz gewiss hatte er auch meinen
Patienten gesehen. Es fragte sich nur, wie zuverlässig seine Erinnerung
an einen Eindruck war, der schon Wochen zurücklag.
»Würden Sie bitte Frau Owada von der sechsten Etage benach-
richtigen, dass Dr. Uemura da ist«, sagte ich zum Pförtner. Ich nannte
nur meinen Namen, die Klinik blieb unerwähnt. Dazu bestand kein
Anlass.
Der Pförtner drückte eine Taste und meldete meine Ankunft über
die Gegensprechanlage. Aus dem Lautsprecher antwortete undeutlich
eine Frauenstimme; sie hatte einen seltsam metallischen, leblosen
Klang. Unmöglich, aufgrund der Stimme das Alter der Sprecherin zu
erraten. Und es war sehr unwahrscheinlich, dass diese Stimme
irgendein besonderes Begehren weckte. Sie hatte nichts von dem
verführerischen Timbre, das Ansagerinnen in Warenhäusern und
Theatern fast unbewusst einsetzen.
Neugierig, was für eine Person sich wohl hinter diesem abrupten
»Bitte kommen Sie herauf« verbergen mochte, ging ich zum Lift. Das
Aufscheinen berufsmäßigen Interesses in den Augen des Pförtners war
wieder erloschen. Er hatte offenbar keine Ahnung, warum ich hier
war.
Die Wohnung der Owadas lag am Ende eines langen Korridors.
Über dem Treppenhaus im Zentrum des Gebäudes wölbte sich ein
dreieckiges Skylight; das blaue Glas erinnerte an ein Gewächshaus oder
ein Aquarium. Ich läutete; aus dem Lautsprecher neben der Tür
ertönte erneut die metallische Stimme, unpersönlich wie zuvor.
»Wer ist dort?«
»Dr. Uemura. Ich wurde eben angemeldet, ich komme gerade
hoch.«
»Einen Augenblick bitte.« Sie öffnete die Tür einen Spalt und spähte
mit einem Auge hinaus. Eine stabile Kette hielt die Tür in Position.

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»Ich habe vorhin von der Klinik aus angerufen. Ihr Gatte weiß, dass
ich komme.« Ich zog meine Karte aus der Tasche und reichte sie durch
den Türspalt. Die Frau griff danach mit ihren schlanken Fingern,
betrachtete sie kritisch und ließ mich schließlich eintreten.
»Es tut mir Leid, aber in letzter Zeit bin ich etwas nervös«, erklärte
sie.
»Das verstehe ich gut. Bitte machen Sie sich darüber keine Gedan-
ken«, erwiderte ich ausgesucht höflich. Ich war mir immer noch nicht
ganz sicher, wie ich mich vorstellen und welche Worte ich wählen
sollte.
Die Frau führte mich in einen Wohnraum, der offenbar zugleich als
eine Art Wintergarten fungierte. Ein groß gewachsener Gummibaum
mit glänzenden ovalen Blättern stand neben gefällig arrangierten
weißen Möbeln französischer Herkunft. Den überwältigenden
Eindruck von Weiß vervollständigten eine üppige weiße Spitzen-
tischdecke und ein weißes Schaffell auf dem Boden. Mir teilte sich
sofort die unbewusste Sehnsucht des Menschen mit, der in dieser
Umgebung lebte. Die Sehnsucht nach Reinheit.
»Ein wunderschöner Raum«, sagte ich.
»Danke. Auf jeden Fall ist er sonnig.«
Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Unten schimmerte dun-
kelblau der Swimming-Pool. Die Sonne zauberte Schatten auf die vom
Wind gekräuselte Wasseroberfläche.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie hier, um Erkundigungen
über einen Ihrer Patienten einzuziehen. Was genau wollen Sie wissen?«
Die Frau hatte sich in einem weißen Sessel niedergelassen. Unter
ihrem weiten roten Pullover schaute ein enger schwarzer Rock hervor,
der den Blick auf wohlgeformte runde Knie und kräftige gerade Beine
erlaubte. Sie trug durchsichtige schwarze Nylonstrümpfe, die die
Aufmerksamkeit jeden Mannes erregen mussten. Neben dem eher
sportlichen Pullover und den lässigen Slippern aus Känguru-

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leder wirkten die eleganten Strümpfe seltsam deplatziert. Unwillkürlich
verglich ich die Frau, die da vor mir saß, mit jener Person, die mein
Patient beschrieben hatte. Ich wusste, dass er besessen war von ihren
Beinen. Aber so eine Wirkung erzielten solche Beine bei jedem Mann,
mich selbst eingeschlossen.
»Ich möchte betonen, dass das, was ich Ihnen zu erzählen habe,
absolut vertraulich ist und mir nur in meiner Eigenschaft als Arzt be-
kannt wurde«, begann ich zögernd.
Mir fiel meine gestelzte Ausdrucksweise auf, und ich bemühte mich,
so sanft und beruhigend zu klingen wie bei meinen Patienten,
allerdings ohne Erfolg. Vielleicht lag es daran, dass auch ein Arzt Mut
aufbringen muss, wenn er eine Frau, zumal eine bildschöne Frau, die
er gerade erst kennen gelernt hat, fragen will, ob sie vergewaltigt
worden ist.
»Es geht um etwas, das sich vor vier Monaten, am 20. Dezember
vergangenen Jahres, ereignet hat.« Ich zog einige Papiere aus meiner
Aktenmappe und beugte mich leicht darüber, um keine Emotionen zu
verraten, während ich mich vorsichtig dem Thema näherte.

Zwei

»Also, worum geht es genau?«, fragte sie. Die gepflegten Hände, die
auf ihren Knien ruhten, verkrampften sich kaum merklich.
»Nun, zunächst muss ich vorausschicken, dass die Polizei vor etwa
einer Woche einen Studenten festnahm, der sich das Leben nehmen
wollte. Er drohte, sich vom Dach eines Kaufhauses zu stürzen. Die
Zeitungen berichteten kurz darüber. Vielleicht haben Sie die Notiz
gesehen?«
»Nein.«

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»Der Student heißt Akio Tanno und ist zwanzig Jahre alt. Da seine
Gemütslage zwischen heftiger Aggression und völliger Apathie
schwankte, übergab ihn die Polizei zur Beobachtung unserer Obhut.
Ich hatte die Aufgabe, den jungen Mann zu interviewen.«
Der Blick der Frau wanderte zu meiner Visitenkarte auf dem Tisch.
Dort war mein Name zu lesen sowie der Name der Universitätsklinik,
bei der ich beschäftigt war, und die Telefonnummer an meinem
Arbeitsplatz, der Psychiatrie.
»Mit „Interview“ meinen Sie Psychoanalyse?«
»Ja. Wir versuchten das Motiv für den Selbstmordversuch so genau
wie möglich herauszuarbeiten. Wir verabreichten ihm drei
Elektroschocks, gefolgt von drei kurzen Interviews von jeweils einer
Stunde Dauer. Beim dritten Gespräch erzählte er uns eine äußerst
sonderbare Geschichte.«
Ich blätterte die Seiten betont langsam um. Die Frau zeigte
weiterhin keine Regung.
»Dieser Geschichte zufolge hat Akio Tanno vom 5. bis zum 20.
Dezember als Bote in der Geschenkabteilung eines Kaufhauses in
Ginza gejobbt. Er brauchte offenbar Geld für einen Skiurlaub. Am
Zwanzigsten sollte er in den Leila-Apartments einen Geschenkkarton
Whisky abgeben. Kurz nach zwei Uhr nachmittags bat er den Pförtner,
ihn anzumelden, und machte sich auf den Weg in den sechsten Stock,
zum Apartment 601. Dort angekommen, betrat er die Wohnung, um
den Whisky zu übergeben und sich den Empfang quittieren zu lassen.
Bis zu diesem Moment entsprach alles einer ganz gewöhnlichen
Zustellung. Tanno, ein etwas schüchterner Mensch, schaute die
Kundin nur einen Sekundenbruchteil an, als er das Geschenk
überreichte. Dennoch gewann er den Eindruck, es handle sich um eine
ungewöhnlich schöne Frau. Die Dame hatte sich sorgfältig
zurechtgemacht und schien ausgehen zu wollen.«
Dies war, leicht zusammengefasst, die Darstellung des jungen

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Mannes gewesen; jetzt sah ich auf und betrachtete aufmerksam die
Frau, die da vor mir saß. Auf ihren Lippen lag ein Hauch Orange, und
hellgrauer Lidschatten konturierte ihre mandelförmigen Augen.
»Ich schminke mich jeden Morgen, auch wenn mein Mann nicht da
ist. Ich will mich nicht gehen lassen, nur weil ich zu Hause bin.«
»Ich verstehe.« Während ich dies sagte, ließ ich meine Augen rasch
über ihre hübschen Beine mit den zusammengepressten Knien
wandern. Dann konzentrierte ich mich wieder auf meine Papiere.
»Als er um eine Unterschrift auf der Quittung bat, fielen ihm die
nassen Hände der Frau auf. Es entspann sich folgender Wortwechsel:
„Entschuldigen Sie meine nassen Finger, aber der Wasserhahn ist nicht
in Ordnung, er lässt sich nicht richtig zudrehen.“ - „Das liegt am
Dichtungsring. Ich kenne mich aus, ich habe nämlich mal als
studentischer Hilfsklempner gejobbt.“ - „Ach, Sie studieren?“ - „Ja, ich
bin an der Universität.( - „Das trifft sich aber gut. Ob Sie sich den
Wasserhahn wohl mal anschauen könnten?“ - „Gern, wenn Sie es
wünschen.“ Also ging Akio Tanno in die Küche und reparierte den
Wasserhahn. Das war am 20. Dezember. Weiter passierte nichts
Außergewöhnliches an diesem Tag. Die Frau brachte ihm Tee und
Kekse, die er aß, bevor er ging. Trifft das so weit zu?«
»Ja, absolut.« Die Frau schien heftig bemüht, eine Gefühlsregung zu
unterdrücken. Ich musste an die leblose, metallisch klingende Stimme
von der Gegensprechanlage denken. Seltsam, dass beide Stimmen zu
ein und derselben Person gehörten.
»Vierzehn Tage später begab sich Tanno erneut zu den Leila-
Apartments. Aber die Frau ließ ihn nicht heraufkommen. Er hatte das
Gefühl, sie weise ihn kaltherzig zurück.«
»Er erkundigte sich nach dem Wasserhahn, und ich sagte lediglich,
dass er mir keinen Ärger mehr machte«, bemerkte sie schroff.
»Wenn Sie ihn hochgebeten hätten, wären seine Gefühle nicht
verletzt worden.«

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»Aber ich hatte mich noch nicht zurechtgemacht und war nicht in
der Lage, Besuch zu empfangen«, verteidigte sie sich.
»Hätten Sie was dagegen, den nächsten Abschnitt selbst vorzu-
lesen?«
»Lesen Sie bitte selbst weiter.« Sie hatte sich wieder in ihre aus-
druckslose Stimme geflüchtet. Ich wandte mich Akio Tannos engzeilig
geschriebener Erklärung zu. Mein Plan, sie die Passage vorlesen zu
lassen, um ihre Reaktion zu beobachten, hatte nicht funktioniert.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Meine anfängliche Befürchtung,
es könnte mir schwer fallen, den Bericht ganz vorzulesen, war
verschwunden. Ihre kalte Reaktion weckte in mir einen sadistischen
Zug. Zigarettenasche fiel auf das Papier, und ich las bedächtig weiter.
„Ich (Akio Tanno) bin fest entschlossen, die Frau wiederzusehen,
koste es, was es wolle. Je länger ich darüber nachdenke, desto wilder
werden meine Fantasien. Ich möchte ihr die Kleider vom Leib reißen,
von ihrem schlanken, biegsamen Leib ...a“
Sie fiel mir ins Wort. »Das reicht. Ich lese allein weiter.«
»Natürlich.«
Die Frau nahm das Blatt und begann zu lesen. Die Haut um ihre
Augen rötete sich wie in einem Anflug von Arger. Ihre hübsche rechte
Wange zuckte nervös. Das waren eindeutige Vorzeichen für einen
hysterischen Anfall.
Sie hatte aufgehört zu lesen. Ihre Augen wanderten blicklos über die
Worte. Ich hatte keine andere Wahl, als Akio Tannos Geschichte
selbst weiterzuerzählen.
»Bei seinem dritten Besuch hatte er einen Karton dabei, der in das
Geschenkpapier des Kaufhauses eingeschlagen war. Es war ein ziem-
lich großer Karton, ungefähr 140 Zentimeter lang und 45 Zentimeter
breit. Aber es war kein Geschenk anzuliefern. In dem Karton steckte
etwas ganz anderes.«

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»Warum in aller Welt sollte er das tun?« Die Frau schaute plötzlich
auf und starrte mir fragend ins Gesicht. Ihre Augen glühten in
unterdrücktem Zorn.
»Er wollte in die Wohnung eingelassen werden. Er bat den Pfört-
ner, eine Warenlieferung anzukündigen. Anders als beim zweiten Mal,
als man ihn fortschickte, spazierte er jetzt ungehindert durch das Foyer
und fuhr in den sechsten Stock. In der Annahme, es handle sich um
einen Boten vom Kaufhaus, öffnete die Frau die Tür, ließ allerdings
aus Misstrauen die Kette vorgelegt. Aus diesem Grund hatte er einen
besonders großen Karton mitgenommen.«
»Das war wirklich schlau«, sagte sie.
»Nun, es zeigt jedenfalls seine Entschlossenheit. Er versuchte den
Karton durch den Türspalt zu zwängen, aber das ging nicht, weil er zu
breit war, vielleicht fünf Zentimeter zu breit. Die Frau schloss die Tür,
nahm die Kette ab und öffnete. So hat er sich schließlich Zugang zu
der Wohnung verschafft.«
»Ich frage mich, was sich in dem Karton befand.« Ihre Miene war
ausdruckslos.
»In seiner Darstellung spricht Tanno lediglich von einer langen
Waffe. Er weigert sich, auch nur ein Wort mehr zu sagen. Wir haben
ihn zu diesem Punkt fast dreißig Minuten intensiv befragt. Dabei
wandten wir eine Methode der freien Assoziation an, wie sie an der
Universität von Los Angeles entwickelt wurde. Es handelt sich im
Wesentlichen um eine Art erzwungenes Geständnis. Dabei werden in
rascher Folge immer wieder Fragen zum gleichen Thema gestellt,
wobei nach und nach Details dessen, was der Betreffende zu verber-
gen sucht, offenbar werden. In diesem Fall waren wir uns zu achtzig
Prozent sicher, dass es sich bei der Waffe um eine Schrotflinte oder
um ein Jagdgewehr handelte.«
»Sie wollen also sagen, dass er der anderen Person einen Karton mit
einer Schrotflinte in die Hand drückte?« Ihre Frage schien sich

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bewusst von der Darstellung meines Patienten abzusetzen. Als wollte
sie mir zu verstehen geben, dass sie den Text gar nicht zu Ende gele-
sen hatte. Falls sie nicht ... Ich ignorierte ihre Frage, so wie ich auch
bei manchen Interviews den anfänglichen Widerstand eines Patienten
demonstrativ nicht beachte.
»Sein Plan hatte bis dahin exakt funktioniert. Nun erzählte er ihr, er
habe vor wenigen Minuten den Geschenkkarton versehentlich fallen
lassen und müsse jetzt den Inhalt auf Schäden prüfen; schließlich sei er
als Bote verantwortlich. Er entfernte das Einwickelpapier, hob den
Deckel ab, nahm das Gewehr und richtete es auf die Frau, ein
mörderisches Glitzern in den Augen. „Schreien Sie nicht! Wenn Sie
schreien, schieße ich!“, rief er fast atemlos. Überzeugt, dass er es ernst
meinte, gab die Frau jeden Gedanken an Widerstand auf und tat, was
er ihr zu tun befahl. Sie verriegelte die Tür, legte die Kette vor und
legte den Hörer neben das Telefon. Dann riss er mithilfe des
Gewehrlaufs das Kabel des Haustelefons aus der Wand. Die Frau
flehte ihn an, sie nicht zu vergewaltigen, ihr Mann käme bald nach
Hause. Und wenn er sie sofort freiließe, würde sie auch nicht die
Polizei verständigen und überhaupt Stillschweigen bewahren. Er
schien einen Moment zu schwanken, doch dann schüttelte er den
Kopf. „Ich habe mich nach Ihrem Mann erkundigt. Er ist Pilot, und
ich weiß, dass sein Flug nach London in diesem Augenblick startet.“
Pedantisch, wie er war, hatte der junge Mann jeden seiner Schritte
übergenau vorbereitet. Und wenn sich eine Tragödie zu entfalten be-
ginnt, entwickelt sie eine Eigendynamik, die von den Beteiligten nicht
mehr beeinflusst werden kann, selbst wenn sie es wollten. Als die Frau
begriff, dass der Eindringling wusste, wo sich ihr Mann befand, verlor
sie jeden Willen zum Widerstand. Sie schien wie erstarrt vor Angst vor
dem Schrecklichen, das ihr bevorstand, und brachte keinen Ton
heraus. Sie stand nur da, mit leerem Gesichtsausdruck, wie eine
lebensgroße Puppe.«

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»Wie schlimm für sie, wenn die Geschichte wirklich passiert ist.«
Die Frau wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Der Pool
schien ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, auf seiner Oberfläche trieb ein
grünlicher Pflanzenteppich, wahrscheinlich waren es Wasserlinsen.
Das Sonnenlicht, das durch den Raum gewandert war, erfasste jäh die
Spitze des Gummibaums.
»Doch was dann geschah, entsprach keineswegs unseren Erwar-
tungen.« Ich beugte mich wieder über das Papier und las weiter, so
langsam, als wäre es Akio Tanno selbst, der da läse.
»In dem Augenblick verspürte ich plötzlich ein Brennen in meinem
Kopf, das an die Oberfläche drängte. Schweiß lief mir übers Gesicht,
brannte mir in den Augen. Ich hatte nicht die leiseste Absicht, der
Frau nahe zu kommen; ich war nur glücklich, sie vor mir zu sehen.
Während ich sie anschaute, konnte sich ihr Bild in meine Seele
brennen. Zuerst schämte ich mich. Aber dann verwandelte sich die
Scham in Ekstase. Ich hatte sie so lange angestarrt, dass sie in meiner
Seele feste Gestalt angenommen hatte, beinahe wie eine Statue, und da
bemächtigte sich meiner das Gefühl, die lebendige Frau, die vor mir
stand, vernichten zu müssen. Von dem Gefühl überwältigt, drückte ich
ab und spürte den heftigen Rückstoß in der Armbeuge. Der weiße,
nackte Frauenkörper fiel in sich zusammen. Ich dachte, nun habe ich
also jemanden getötet. Meine Welt war durch diesen Schuss zerstört.
Aber ich kam rasch wieder zu mir, warf das Gewehr fort und floh über
die Feuertreppe.«
Hysterisch kichernd stand die Frau auf. Ich hörte auf zu lesen.
»Aber wenn das stimmt, wieso bin ich dann noch am Leben?«
»Nun, aus genau diesem Grund haben wir Tannos Erklärung nicht
der Polizei übergeben. Wir meinen, dass diese Geschichte ein Produkt
seines Verfolgungswahns ist. Er hat den Mord erfunden, um sich
selbst zu strafen.«
Die Frau schwieg.

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Drei

Im Westen ging die Sonne unter. Ihre letzten Strahlen ruhten auf der
Frau, die mit dem Rücken zu mir am Fenster stand. Ihr Körper warf
einen langen Schatten, und mich durchzuckte der Gedanke, dass sich
unter diesem roten Pullover ihr geschmeidiger, biegsamer Leib
verbarg. Hatte Akio Tanno sie wirklich mit einer Waffe bedroht und
zum Sex gezwungen? Mir dämmerte, was für eine schreckliche Er-
fahrung das gewesen sein mochte.
»Er hat sehr starke Schuldgefühle. Wenn wir klären können, was
wirklich geschah, wird er eine Chance haben. Aber wenn wir die Dinge
auf sich beruhen lassen, wird er die Mordgeschichte weiter dazu
benutzen, seine sexuellen Bedürfnisse zu verleugnen, und sie tief in
seinem Unbewussten begraben.«
»Ich soll also bezeugen, dass er mich vergewaltigt hat?«
»Auch wenn sich die Geschichte am Ende womöglich außer-
gerichtlich regeln lässt, möchte ich Sie doch bitten, den Vorfall bei der
Polizei anzuzeigen. Natürlich wird man die Angelegenheit absolut
vertraulich behandeln. Der einzige Weg, dem Jungen zu helfen,
besteht darin, ihn nach Recht und Gesetz zu bestrafen. Es tut mir
Leid, Ihnen zusätzliche Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber es ist
absehbar, dass Akio Tanno erneut versuchen wird, sich das Leben zu
nehmen, wenn wir keine Lösung finden. Als Arzt verstehe ich Ihr
Unbehagen nur zu gut. Dennoch muss ich Sie um Ihre Hilfe bitten.«
Sie wandte sich langsam zu mir um. Mir schien, als habe sie sich die
Sache sorgfältig und gründlich durch den Kopf gehen lassen. Das
Zimmer lag jetzt im Schatten, und ich konnte ihren Gesichtsausdruck
nicht erkennen.
»Wie alt sind Sie?«, fragte sie.
»Siebenundzwanzig.« Ich wusste nicht, warum sie mir diese Frage

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gestellt hatte. Sie bedachte mich mit einem düsteren Blick. Ich schätze,
dass sie meine jugendliche Unkenntnis der Welt bedauernd registrierte.
»Aha. Nun, ich habe Ihre Worte verstanden, aber ich kann einfach
nicht behaupten, dass etwas Bestimmtes geschehen ist, wenn dem
nicht so ist. Gewiss, der Junge tauchte ein zweites Mal auf, aber es gab
weder ein drittes Mal noch eine Lieferung aus dem Kaufhaus oder
etwas anderes in der Art. Das kann nur seiner Fantasie entsprungen
sein.«
Sie kam zu mir herüber und gönnte mir ein leises Lächeln. Es war
die wortlose, gleichwohl deutliche Aufforderung, mich zu verab-
schieden. Die wachsende Spannung, die mich eine Zeit lang gepackt
hatte, war verflogen. Waren all meine Gespräche mit Akio Tanno
wirklich so sinnlos und absurd gewesen?
Ich erhob mich widerwillig und kündigte ihr an, sie erneut aufzu-
suchen, falls mein Patient mir neue Informationen lieferte. Die Frau
begleitete mich zur Tür und sagte lächelnd, natürlich könne ich je-
derzeit wiederkommen. Als ich mich bückte und mithilfe des Schuh-
anziehers in meine Schuhe schlüpfte, sah ich unter der Fußmatte einen
Fetzen Kaufhauspapier hervorlugen. Ich widerstand der Versuchung,
ihn aufzuheben, richtete mich auf und verließ die Wohnung. Hinter
mir wurde die Tür abgeschlossen und die Kette vorgelegt.
Vor dem Haus ging ich zum Swimming-Pool und schaute suchend
an der Seitenfassade empor. Ich war neugierig, ob ich die Wohnung
der Owadas herausfände, die sich mehrere Etagen über den
vorspringenden Veranden befinden musste. In diesem Augenblick fiel
mir ein, dass Frau Owada mit Vornamen Hisako hieß. Ich hatte stets
nur den Ausdruck »die Frau« im Kopf gehabt, so wie Akio Tanno sie
in seiner Erklärung durchgängig bezeichnet hatte.
Ich ging an einer mit Efeu überwachsenen Mauer entlang einen
kleinen Abhang hinunter und stieß vor einer Apotheke schließlich
auf eine Telefonzelle. Ich rief in der Klinik an, um mich nach meinem

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Patienten zu erkundigen. Die Dienst tuende Schwester wirkte
angespannt und nervös.
»Doktor Uemura, Ihr Patient aus Zimmer sieben, Akio Tanno, ist
verschwunden, schon seit einer Stunde. Wir glauben, dass er wegge-
laufen ist. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich ...«

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2
Zwischenspiel: Schwarz-weiß

Eins

Der Flughafen war gähnend leer. Nur ein junges Paar stand andächtig
vor einem fabrikneuen Auto auf einem mit Plastikrosen geschmückten
Podest, und ein Mann mittleren Alters saß zusammengesunken vor
einem Fernseher, aus dem die Abendnachrichten dröhnten. Die letzten
Maschinen aus Europa über die Südroute via Hongkong oder über die
Polarroute via Anchorage waren fast alle schon gelandet.
Die Ankunftslounge war verwaist. Die Fluggäste hatten die Zoll-
abfertigung passiert und waren mit Freunden und Verwandten, die sie
abgeholt hatten, auf und davon. Man traf nur noch Angestellte der
Fluggesellschaften und Leute wie mich, die auf die Passagiere der
allerletzten Maschine warteten und die Zeit totschlugen.
Ich ging die Treppe zur Ebene über dem An- und Abflugbereich
hinauf und betrat eine der zahlreichen Bars. Die Sperrstunde nahte,
und in den meisten Bars, in denen sich die Menschen sonst drängten,
hatte man schon die Stühle auf die Tische gekippt, wie in der Schule
nach Unterrichtsschluss. Ich setzte mich an den geschwungenen
Tresen und bestellte leise seufzend ein Mineralwasser. Ein Bier wäre
mir lieber gewesen, aber ich fürchtete, dass Alkohol meine
Konzentration beeinflussen könnte. Diese Geschichte forderte mir
mehr Geistesgegenwart ab als ein Patientengespräch.
Hinter dem Tresen stand ein Mädchen in einer langen blauen
Schürze mit rot abgesetzten Kanten; lächelnd stellte sie das Glas vor

20
mich hin. Ihr Blick schien Interesse für mich anzudeuten. Aber viel-
leicht war sie auch aus einem anderen Grund so vergnügt. Am ent-
gegengesetzten Ende des Tresens arbeitete ein zweites, ziemlich ma-
geres Mädchen. Sie trug die gleiche Schürze wie die Kollegin und hatte
dunkle Ringe unter den Augen, die kein Make-up der Welt verdecken
konnte. Unbeholfen servierte sie einem dicken Ausländer eine Schale
Suppe. Sie war sichtbar übermüdet und frustriert. Ich konzentrierte
meine Gedanken auf die Aufgabe, die vor mir lag.
Siehst du, wie einfach es ist? Mit jeder Regung gibt der Mensch etwas
von sich preis. Am besten zerbreche ich mir über die Begegnung mit ihm
überhaupt nicht den Kopf Ich entdecke garantiert etwas Brauchbares.
Ich versuchte, mich zu beruhigen, aber meine Zweifel blieben. Man
durchschaut nur Leute, die sich unbeobachtet wähnen. Wer mit
Beobachtung rechnet oder einen von Anfang an austricksen will, kann einen
leicht zum Narren halten, oder man zieht gar die falschen Schlüsse. Mein
Gewissen wollte keine Ruhe geben.
In diesem Augenblick ertönte eine melodische Ansage. »Flug HBY
806 aus Hongkong, Ankunft 22.30 Uhr, die Maschine wird in Kürze
an Flugsteig 13 landen.« Ich schaute auf meine Uhr - es war kurz vor
elf. Wir waren um Viertel vor elf verabredet.
Aus der Ferne hörte ich das Getöse eines nahenden Jets. Am Ende
der Rollbahn erschien eine DC-8 mit roten Landelichtern. Der
Chefpilot dieser Maschine war Hisako Owadas Ehemann. In diesen
Minuten würde er allerdings kaum an seine Eheprobleme denken und
auch nicht an seine Verabredung mit mir, dem Psychiater; der
Landeanflug ist schließlich die schwierigste Phase eines jeden Fluges.
Ich zündete mir gerade meine zweite Zigarette an, als Flugkapitän
Owada in seiner schmucken Pilotenuniform die Bar betrat. Er trug
eine schwarze Aktentasche, eine junge Stewardess begleitete ihn; ich
schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig. Während sie auf mich zu

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kamen, schaute sie Owada an und sagte rasch etwas zu ihm. Dabei
leuchteten ihre Augen - einen Moment lang glaubte ich einen Aus-
druck von Leidenschaft zu erkennen. Owada reagierte nicht, sondern
blickte so angespannt in Richtung Bar, als hielte er Ausschau nach den
Positionslichtern auf der Landebahn. Ich winkte ihm leicht zu.
Angesichts dessen, was wir zu besprechen hatten, wollte ich auf
Formalitäten möglichst verzichten.
»Wir hatten in Hongkong Probleme mit der Wartung. Tut mir
Leid, dass ich mich verspätet habe.«
Er setzte sich neben mich und bestellte einen Whisky Soda. Seine
Stimme klang ruhig und abgeklärt; Owada schien zu jenen Menschen
zu gehören, die sich genau überlegen, was sie sagen.
Die Stewardess nickte mir zu und ließ sich in einiger Entfernung
am Fenster nieder. Ich betrachtete sie genauer. Ein hübsches Mädchen
mit dunklem Teint, fast wie eine Indonesierin. Etwas rundlich; aber
mit ihren wohlgeformten Beinen hatte sie wahrscheinlich keine
Probleme, Männer für sich zu interessieren.
»Wie ist das Wetter in Rom?« Ich begann bewusst mit einer un-
verfänglichen Frage. Das Wetter war zwar kein ideales Thema, aber
besser als nichts.
»In dieser Jahreszeit regnet es dort ziemlich viel«, sagte er nach einer
Pause. Ich beobachtete, wie er das Glas zum Mund führte. Seine
Lippen waren schmal und angespannt, ein Hinweis auf starke
Willenskraft. Dieser Mann war fähig, seine Begierden und Sehnsüchte
unter Kontrolle zu halten.
»Haben Sie schon mit meiner Frau gesprochen?«, fragte er besorgt,
als sei er irritiert, dass ich es nicht gleich erwähnt hatte. Er schien seine
Worte genau zu wählen, wohl in dem Bewusstsein, dass er es mit
einem Arzt zu tun hatte.
Ja. Ich habe sie, wie vereinbart, heute Nachmittag in Ihrer Woh-
nung aufgesucht.«

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»Ich verstehe.« Er betrachtete die goldbraune Flüssigkeit in seinem
Glas. Woran mochte er denken?
»Ihre Frau hat den Angaben meines Patienten im letzten Teil nicht
zustimmen können.«
»Und was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?« Er wandte
sich zu mir und schaute mich an.
»Sie sagte, der Student sei ein zweites Mal aufgetaucht, und zwar
wegen des Wasserhahns, aber ein drittes Mal habe es nicht gegeben.
Sie bestritt energisch, dass der Student einen Karton mitgebracht habe,
in den eine Schrotflinte gepasst hätte; sie verneinte auch jegliche
Gewaltanwendung.«
Owada sagte nichts und wandte sich wieder seinem Glas zu.

Zwei

»Was halten Sie von der Aussage meiner Frau, Doktor Uemura?
Glauben Sie ihr?«, fragte er mich nach einer langen Pause mit leiser
Stimme. Er wusste ganz augenscheinlich nicht, was er davon halten
sollte. Ich zögerte. Was war besser - nicht an schmerzhafte Gefühle zu
rühren oder die Wahrheit ans Licht zu zerren, auch wenn dabei alte
Wunden aufrissen?
Meinen Besuch bei Frau Owada hatte in der Tat ihr Ehemann
veranlasst. Eine Grundregel der Medizin besagt, dass ein Arzt bei der
Behandlung eines Patienten auf die Gefühle aller Beteiligten Rücksicht
nehmen sollte. Unter normalen Umständen ist es auch für einen Arzt
kaum denkbar, eine verheiratete Frau in ihrer Wohnung aufzusuchen
und sie zu fragen, ob sie vergewaltigt wurde. Anders sieht es aus, wenn
er vom Ehemann ausdrücklich darum gebeten wird. Dann kann solch
ein Besuch Teil der Behandlung sein.

23
Akio Tanno hatte Captain Owada eine Abschrift seines Geständnisses
geschickt. Er hatte wohl gedacht, wenn ihn die Polizei nicht zur
Rechenschaft zog, sollte er wenigstens den Ehemann seines Opfers
informieren, den einzigen Menschen, der das moralische Recht hatte, ihn,
Tanno, zu bestrafen.
»Ich habe Ihre Frau mit einer langen Waffe getötet, die im Ge-
schenkkarton eines Kaufhauses versteckt war.« Das war der Kern der
Erklärung. Mir fiel ein, dass der Pilot mir Tannos Brief bisher nicht gezeigt
hatte. Statt seine Frage zu beantworten, stellte ich eine Gegenfrage:
»Kann ich den Brief meines Patienten einmal sehen?«
Er öffnete die schwarze Aktenmappe auf seinen Knien und fischte aus
einem Sammelsurium von Flugplänen, Notizbüchern und eng-
lischsprachigen Paperbacks einen ziemlich zerknitterten Brief heraus. War
dessen Aussehen ein Zeichen für Akio Tannos Aggression oder eher für
die seelischen Nöte Owadas, der sich vielleicht nicht entscheiden konnte,
ob er das Blatt zerreißen oder seiner Frau vor die Nase halten sollte? Am
Ende hatte er vielleicht eingesehen, dass es am einfachsten wäre, das
Dokument der psychiatrischen Abteilung vorzulegen, die in dem Brief
erwähnt wurde.
»Ich hatte den Brief in Rom vergessen; er lag mir also nicht vor, als wir
telefonierten.« Seine Augen verrieten keine Emotion.
»Sie haben in Rom eine Möglichkeit, persönliche Papiere zu verwahren?
»Ja. Ich habe bei einem Freund ein Zimmer gemietet. Die Crew wohnt
normalerweise im Hotel der Airline.«
»Weiß Ihre Frau davon?«
»Nein, obwohl ich den Verdacht habe, dass sie es ... dass sie es erraten
hat.« - „... dass sie es herausgefunden hat“, wollte er anscheinend sagen,
aber das klang wohl zu eindeutig. Captain Owada und ich waren
übereingekommen, dass er von Anfang an offen und aufrichtig über sein
Verhältnis zu seiner Frau sprechen würde.

24
Ehrlich, offen, ohne etwas zu verschweigen. So will es der Psychi-
ater von seinem Patienten. Natürlich wehrt sich anfangs jeder, am
Ende aber tauen sie alle auf. Versuchen zumindest, mithilfe des Ana-
lytikers, die verschlossenen Türen in den tieferen Schichten ihres Be-
wusstseins zu öffnen. Bei seelisch gesunden Menschen ist das anders,
ein quasi eingebauter Verteidigungsmechanismus lässt sie ihre Ge-
heimnisse um jeden Preis bewahren. Sollte das bei Owada der Fall
sein, könnte ich unfreiwillig auf eine falsche Fährte geschickt werden.
Ich schaute ihm in die Augen. Er benahm sich wie ein verschmitz-
ter Patient. Aber ich ließ mich nicht ablenken. Der Brief, den Akio
Tanno ihm angeblich zugeschickt hatte, trug am unteren Rand in
winziger Schrift den Namen einer italienischen Papierfabrik.
War womöglich Owada selbst der Verfasser dieses Briefes, den ihm
angeblich Tanno geschickt hatte? Doch aus welchem Grund hatte er
ihn dann geschrieben? Ich strich das zerknitterte Papier glatt und
versuchte, mir den Inhalt einzuprägen. Die Sache verlangte sorgfältiges
Nachdenken. Die Neigung der Schriftzeichen deutete auf einen
Linkshänder.
»Ich schreibe Ihnen in großer Hast, um Ihnen - dem Ehemann -
mitzuteilen, dass Ihre innig geliebte Frau ums Leben gekommen ist.
Sie wurde mit einer langen Waffe getötet. Bitte geben Sie diese Waffe,
die in einem Karton versteckt war, zurück. Der Mörder Ihrer Frau ist
der Student Akio Tanno, inzwischen eingewiesen in die Psychiatrie der
Universitätsklinik. Wegen weiterer Auskünfte benachrichtigen Sie bitte
obige Institution.«
Der Text wies zum Teil typische Merkmale schizophrener Ver-
wirrtheit auf. Doch ließ sich so etwas leicht vortäuschen. Der
Schlusssatz »Wegen weiterer Auskünfte benachrichtigen Sie bitte obige
Institution« hätte ganz offensichtlich heißen müssen »Wegen weiterer
Einzelheiten kontaktieren Sie bitte obige Institution« oder

25
»Wegen weiterer Einzelheiten wenden Sie sich bitte an obige Institu-
tion«. Die Verwendung des Verbums »benachrichtigen« war ein Indiz
für den seelischen Schmerz des Verfassers, den er offenbar beim
vergeblichen Warten auf eine Benachrichtigung verspürt hatte. Aber
wenn dem so wäre, was mochte der Gegenstand dieser lange und
vergeblich erwarteten Benachrichtigung sein? In Betracht kamen
vielleicht die Resultate der Aufnahmeprüfung für die Universität.
»Ich glaube, die Bar wird gleich geschlossen, Doktor Uemura. Wir
sollten gehen.« Owada stand auf.
»Dann vereinbaren wir einen neuen Termin«, schlug ich vor. »Sie
sind sicher müde, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, mich in der
Klinik aufzusuchen, bin ich jederzeit für Sie zu sprechen.«
Er sah mir zu, wie ich den Brief wieder in den Umschlag steckte,
und setzte zum Sprechen an, als sei ihm gerade etwas eingefallen.
Vielleicht das, was er am dringendsten wissen wollte.
»Nun, was denken Sie, Doktor Uemura, nachdem Sie meine Frau
gesehen haben? Halten Sie es für möglich, dass sie vergewaltigt wurde?
Sie streitet es natürlich ab, aber ich meine mit Sicherheit sagen zu
können, dass der Satz „tötete sie mit einer langen Waffe“ auf
irgendeine Art von sexueller Beziehung hinweist ...
Er machte ein Gesicht wie ein schlauer Student, der eine Frage
beantwortet hat, auf die er nicht vorbereitet war. Sein Ton war be-
herrscht, doch was er sagte, wirkte unsicher und unbeholfen.
»Leider ist die Psychoanalyse nicht so simpel«, sagte ich. »Der Laie
macht häufig Fehler, wenn er bestimmte Grundmuster anzuwenden
sucht. Wir sollten Ihrer Frau erst mal glauben.« Ich gab mir Mühe, den
beruhigenden Tonfall des professionellen Therapeuten zu treffen.
Der Flugkapitän war um die vierzig. Also viel älter als ich, aber das
änderte nichts an der Tatsache, dass ich Arzt war. Ich erinnerte

26
mich, was ein Professor der Universität von Chicago, an der ich einen
Kurs belegt hatte, einmal sagte: Psychiater sollten sich lieber um mehr
Menschlichkeit bemühen als um wissenschaftliche Höhenflüge. Als wir
uns zum Gehen wandten, sah ich, wie die junge Stewardess am Fenster
gerade einen Löffel mit Eiskrem an ihre wohlgeformten Lippen führte.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich Ihren Patienten kennen
lernen dürfte, auch wenn es sicher schwierig zu arrangieren ist«, sagte
Owada ehrerbietig, während er die Rechnung für unsere Getränke
abzeichnete.
»Ich muss Ihnen leider gestehen, dass der Patient heute Nachmittag,
während ich Ihre Frau besuchte, aus dem Krankenhaus geflohen ist.«
»Stand er etwa nicht unter Beobachtung?«
»Das schon, aber Krankenschwestern sind keine Polizisten. Na-
türlich tragen wir dennoch die Verantwortung.«
Er wirkte plötzlich um Jahre gealtert. »Wenn Sie mich jetzt ent-
schuldigen würden, ich habe noch im Büro zu tun.«
Draußen reichte er mir die Hand, wie es im Ausland Sitte ist. Die
vier goldenen Streifen auf seiner Uniform glänzten wie Zierleisten an
einem Auto.
Ich ging zur Fernsehecke hinüber und zündete mir eine Zigarette
an. Keine fünf Minuten später verließ die junge Stewardess die Bar. Sie
tat, als habe sie mich nicht gesehen, und ging schnurstracks zum Büro
der Fluggesellschaft. Der Gedanke an den straffen, jungen Körper, der
sich hinter der grünen Uniform versteckte, weckte in mir plötzlich
leidenschaftliches Begehren. Das war mir schon einmal passiert, auf
einem feuchtheißen Flughafen im Mittleren Osten. Damals saß ich
schweißgebadet unter einem müde ächzenden Ventilator und konnte
den Blick nicht von dem halb nackten, nur mit einem Sari bekleideten
jungen Mädchen neben mir losreißen ...

27
Drei

Ich fuhr wieder zur Klinik zurück, wo der Dienst tuende Arzt, der
Chef der Psychiatrie und der Klinikdirektor seit dem frühen Abend
eine Krisensitzung abhielten.
Dass der Ausbruch des Patienten den Direktor aufbringen würde,
war zu erwarten gewesen. Der Abteilungschef würde versuchen, ihn zu
beruhigen, und ihm versichern, dass der Patient gewiss in den nächsten
Tagen gefunden würde.
»Sie sind spät dran, Doktor Uemura. Wo waren Sie so lange?«,
fragte Motoko Kusano, die Oberschwester. Sie stürmte in mein
Zimmer, kaum dass ich es betreten hatte, fast als wäre sie mir nach-
gelaufen. Sie war erst fünfundzwanzig, aber eine hervorragende Ar-
beitskraft. Ihr mütterliches Lächeln stieß bei Kollegen wie Patienten
stets auf ein Echo und bewirkte eine entspannte Atmosphäre. Bis-
weilen schien ihr Lächeln auch einen deutlich erotischen Unterton zu
haben.
»Ich komme von einem Treffen mit Captain Owada, dem Ehemann
der Frau, um die es in Akio Tannos Geständnis geht.«
»Sie haben wirklich hart gearbeitet«, meinte Schwester Motoko.
»Ich habe versucht, möglichst viel herausfinden. Schließlich ist ein
Patient entflohen. Wir brauchen jede Art von Information, egal aus
welcher Quelle.«
»Sie haben ja so Recht, Herr Doktor ... Da fällt mir ein, ich soll
Ihnen ausrichten, dass der Direktor uns drei Tage Zeit gibt, Tanno zu
finden. Wenn das nicht gelingt, verständigt er die Polizei, und der
Abteilungschef muss die volle Verantwortung übernehmen. Der
Direktor war furchtbar wütend, dass der Patient entwischt ist. Wenn
man bedenkt, dass die Polizei ihn unserer Obhut anvertraut hat, dann
hätten wir bessere Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Man konnte
ihn bis auf den Korridor hören.

28
Er ist ja noch von der alten Schule. Am liebsten wären ihm Gitter an
allen Fenstern ... «
»Er kann denken, was er will, aber eine Woche wäre wesentlich
hilfreicher.«
»Dass wir überhaupt drei Tage haben, verdanken wir dem Abtei-
lungschef. Der Direktor wollte uns erst nur vierundzwanzig Stunden
geben.« Sie sagte das mitfühlend, aber Tatsache blieb, dass sie und die
ihr unterstellten Schwestern für die Überwachung von Patienten direkt
verantwortlich waren.
»Was hatte er an, als er verschwand?« Die Frage hätte ich schon
früher stellen sollen.
»Wir haben einen zusammengerollten Pyjama in einer der Toiletten
gefunden, und ein grüner Overall ist verschwunden. Wahrscheinlich ist
er darin geflüchtet.«
Akio Tanno pflegte alle Vorhaben stets mit größter Sorgfalt zu
planen, mit Sicherheit auch seine Flucht. Er gehörte nicht zu jenen
Patienten, die aus einem Impuls heraus wegliefen.
Ich stand auf und trat zum Fenster. Von meinem Zimmer aus
konnte ich den Verbrennungsofen der Heizanlage und den gepflas-
terten Weg sehen, der zu den Toiletten führte. Tannos Zimmer befand
sich im selben Gebäude wie die Psychiatrie, und er hatte den gleichen
Blick wie ich. Wahrscheinlich hatte er vom Bett aus die Arbeiter in
ihren Overalls beobachtet und dabei minutiös seinen Ausbruchsplan
entwickelt. Ich konnte nicht umhin, eine gewisse Bewunderung für
den jungen Mann zu empfinden.
Vielleicht entsprach seine Aussage doch der Wahrheit. Der Trick,
mithilfe des unhandlichen Kartons die Frau dazu zu bringen, die Si-
cherheitskette abzunehmen und die Tür aufzumachen, war zu prak-
tisch, zu technisch für ein Fantasieprodukt. Wenn seine Aussage also
der Wahrheit entsprach, dann hatte er mit dieser langen Waffe wirklich
einen Menschen getötet. Mich überlief ein kalter Schauer.

29
»Doktor Uemura ... «, Motoko Kusano benutzte ihre neutrale
Oberschwesterstimme. Es gehörte zur Ausbildung jeder Kranken-
schwester, bei der Arbeit keine persönlichen Gefühle zu zeigen, und
ich spürte, dass sie mit diesem sachlichen Ton ihre wahren Gefühle zu
verbergen suchte.
»Sind Sie wütend, dass er uns entwischt ist, Doktor Uemura?«
»Nein, nein, Sie haben doch alle Ihr Bestes getan.«
»Ob es unser Bestes war, weiß ich nicht ...« Ihre Stimme wurde
immer leiser.
»Möchten Sie mir noch etwas sagen, Schwester Motoko?«
»Ja, allerdings. Während wir ihn in seinem Bett unter Beobachtung
hatten, bat mich die Dienst habende Schwester, sie für eine Weile zu
vertreten.« Diese Schwester war eine ziemlich kräftige, schweigsame
Frau um die vierzig.
»Und weiter?«
»Sie wollte der Examensfeier ihres Sohnes beiwohnen, und deshalb
habe ich mit ihr die Schicht getauscht.«
»Ich habe nichts dagegen einzuwenden.« In diesen Dingen war ich
ziemlich großzügig. In meinen Augen bestand keine Notwendigkeit,
sich sklavisch an den Arbeitszeitplan zu halten.
»Aber Sie müssen wissen ...« Sie verstummte. Ich hatte eine
Ahnung, worum es ging.
»Hat er ... hat er Sie belästigt?« Laut Anweisung sollten schwierige
männliche Patienten von Pflegern betreut werden, auch wenn sie nicht
als potenziell gewalttätig galten. Außerdem war die Anwesenheit einer
älteren, erfahreneren Schwester erwünscht. Damit wollte man vor
allem verhindern, dass ein Patient sich in einen Erregungszustand
hineinsteigerte. Doch wegen des Arbeitskräftemangels konnte es
vorkommen, dass auch junge, unerfahrene Schwestern zur
Überwachung von Patienten eingesetzt wurden.

30
»Sie haben doch mehr als genug Erfahrung, und der Patient war
weiß Gott nicht schwer krank«, sagte ich.
»Bitte versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. Es war mein
Fehler. Sehen Sie, ich wollte gerade nach Hause, als die andere
Schwester mich bat, sie zu vertreten ...« Ihre Stimme zitterte vor
Aufregung, doch nun, da es endlich heraus war, erzählte sie das Fol-
gende in gewohnt ruhiger Oberschwestermanier.
»Ich saß am Fenster und las ein Buch. Nach einer Weile habe ich
gespürt, wie er mich auf seltsame Weise anstarrte. Als ich mich zu ihm
umdrehte, um ihn zu beruhigen, bemerkte ich, dass er ... dass er ... «
Sie suchte nach Worten.
»Sie meinen, dass er an sich herumspielte ... dass er versuchte zu
masturbieren?«
„ja, es war nicht zu übersehen, was er da machte. Vielleicht hätte ich
so tun sollen, als bemerkte ich es nicht, aber er hat so betont zu mir
hingeschaut, dass ich es am Ende nicht aushielt und das Zimmer
verließ. Das war ein Fehler, ich weiß ...
»Sie trifft wirklich keine Schuld, seien Sie unbesorgt. Sie hätten es
nicht verhindern können«, sagte ich und blickte wieder aus dem
Fenster. Hinter der von Neonröhren beleuchteten Verbrennungsan-
lage gähnte schwarze Finsternis. Demnach war Tannos Hauptproblem
also doch der Sex.
Seine Worte - er habe die Frau mit einer langen Waffe getötet -
symbolisierten möglicherweise doch den sexuellen Vollzug. Ich starrte
in die Dunkelheit. Wenn das stimmte, müssten wir auf Freuds
klassisches Axiom zurückgreifen, das besagt, dass die Libido die
Triebfeder allen Handelns ist. Ich hielt allerdings mehr von der
Position der modernen Psychoanalyse. Mir kam ein Gedanke.
»Es könnte sein, dass der Ausbruch wirklich nicht Ihr Fehler war,
Schwester Motoko.«
»Aber ... wie das, Doktor Uemura?«

31
»Er könnte so getan haben, als ob er masturbierte, um Sie zu irri-
tieren und aus dem Zimmer zu verscheuchen. Das ist natürlich nur so
eine Idee.«
»Aber Sie glauben, so war es?«, fragte sie betroffen.
»Wie auch immer, wir haben ein Problem.« Ich hatte plötzlich das
Gefühl, dass Akio Tanno kein bösartiger Gegner sei.

32
3
Die Gedächtnislücke

Eins

Vielleicht lag es am strahlend blauen Himmel, dass der Uhrturm der


Universität so blendend weiß leuchtete. Ich ging zum Immatrikula-
tionsbüro, um nachzufragen, wer Akio Tannos Tutor war.
»Worum handelt es sich?« Der Angestellte am Empfangsschalter,
ein nicht eben großer Mann mit schwarzen Ärmelschonern, schaute
mich misstrauisch an. Offenbar hatten die jüngsten Querelen um die
Studiengebühren dieses pingelige Männchen beunruhigt, das wie
geschaffen schien für seinen Verwaltungsjob. Ich zog die Imma-
trikulationsbescheinigung und das Krankenblatt meines Patienten aus
der Tasche und hielt sie ihm hin.
»Einer Ihrer Studenten wurde in meine Klinik eingeliefert.«
»Hm ... Psychiatrie?« Der kleine Mann runzelte die Stirn, als wolle er
seinen Abscheu vor dieser unwillkommenen Störung zum Ausdruck
bringen, aber seine Haltung änderte sich schlagartig, als ihm aufging,
dass ein Mediziner vor ihm stand.
»Ich muss zugeben, die Studenten stehen heute gewaltig unter
Stress. Aber auch wenn sie gegen eine Erhöhung der Studiengebühren
sind, müssen sie doch nicht gleich eine Staatsaktion draus machen und
uns Angestellte mit hineinziehen. Wir verdienen ja selbst nicht viel.«
Er machte seinem Frust Luft, der nichts, aber auch gar nichts mit
meiner Frage zu tun hatte.
In diesem Augenblick näherte sich mit wippendem Pferdeschwanz
eine junge Studentin und legte dem Mann am Schalter einen Antrag

33
auf Benutzung eines Seminarraums vor. Der Angestellte schaute auf.
»Sie kommen gerade richtig«, sagte er. »Sie sind doch im Seminar
von Professor Miyakawa. Würden Sie diesem Herrn hier sein Zimmer
zeigen? Und wenn Sie schon dort sind - der Professor muss den
Antrag unterschreiben.«
»Aber warum? Das wurde noch nie verlangt. Es geht doch nur um
eine Chorprobe.«
»Es ist gleichgültig, ob es um eine Probe geht oder um was anderes;
ab sofort brauchen Sie die Unterschrift. Sie hätten sie auch vorher
schon gebraucht - so steht es jedenfalls in den Bestimmungen. Wir
haben nur nicht darauf bestanden. Also, ziehen Sie Leine und
besorgen Sie sich die Unterschrift.« Eine unangemessen hochnäsige
Reaktion. Man sah dem Wicht die Befriedigung an, wie er mithilfe der
Bestimmungen Autorität hatte demonstrieren können.
»Was ist denn in den gefahren?«, fragte das Mädchen, als wir den
Raum verließen. »Nur weil wir gegen die Anhebung der Studien-
gebühren protestieren, versuchen sie, uns das Leben schwer zu ma-
chen.« Sie hatte große runde Augen und eine Menge niedlicher Som-
mersprossen, die sie offenbar nicht mit Make-up zukleistern wollte.
»Proben Sie mit dem Chor ein bestimmtes Stück?«
»Ja, Beethovens Neunte. Weihnachten treten wir mit den Chören
von fünf anderen Unis bei einem gemeinsamen Konzert auf. Das
Problem ist nur, keiner nimmt die Sache richtig ernst. Es ist komisch -
sobald es Sommer wird, hat niemand mehr Lust, sich zu engagieren,
egal, ob es um den Kopf oder den Körper geht. Wir müssen wohl auf
den Herbst hoffen.«
Im historischen Seminar brachte sie mich zu Professor Miyakawa,
holte sich seine Unterschrift und verabschiedete sich mit einer höf-
lichen Verbeugung. Mir warf sie dabei einen viel sagenden Blick zu,
der mir im Gedächtnis blieb.

34
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Professor. Wie der Ange-
stellte im Immatrikulationsbüro reagierte auch er misstrauisch, als ich
ihm meine Karte und Tannos Krankenblatt überreichte. Seine Miene
zeigte deutlich, dass er sich nicht schon wieder wegen irgendwelcher
Studenten aufregen wollte. Der Krach um die Studiengebühren hatte
ihm gereicht. Ich gab ihm Zeit, die Unterlagen zu studieren, bevor ich
mein Anliegen äußerte.
»Um ganz offen zu sein, Professor Miyakawa: Wir sind bei diesem
Patienten in einem psychologischen Test auf eine ziemlich unge-
wöhnliche mentale Blockade gestoßen.« Dass Tanno von der Polizei
eingewiesen worden war, erwähnte ich nicht. Ich ließ den Professor in
dem Glauben, dass Tanno sich freiwillig in meine Behandlung begeben
hatte.
»Mein Patient behauptet, ihm sei der Name einer bestimmten
Schriftstellerin entfallen.«
Miyakawa schaute mich verständnislos an. Er trug eine randlose
Brille über vollen, fast ein wenig feminin wirkenden Wangen. »Mein
Fachgebiet ist europäische Geschichte. Handelt es sich um
eine ausländische Autorin?«
»Nein, um eine Japanerin. Sie hat das Tagebuch eines Missetäters
geschrieben und ist recht bekannt, aber aus irgendeinem Grund be-
harrt Akio Tanno darauf, sich nicht an ihren Namen zu erinnern.«
»Tagebuch eines Missetäters? Meinen Sie etwa Fumiko Hayashi?«
»Genau. Ihr Roman ist auch fürs Fernsehen verfilmt worden; sie ist
so bekannt wie ein bunter Hund.«
»Wie äußert sich denn diese seltsame Gedächtnislücke Ihres Pa-
tienten?« Seine bleichen Wangen röteten sich plötzlich, und er schaute
mich an.
»Die Krankenschwester, die ihn betreute, las Hayashis Roman.
Eines Tages, als sie für einen Moment das Zimmer verließ, vermisste
sie bei ihrer Rückkehr ihr Buch. Sie suchte überall und ent-

35
deckte es schließlich in einem Beet unter dem Fenster. Wir befragten
den Patienten, aber er behauptete steif und fest, kein Buch von
irgendeiner Tomiko Hayashi zu kennen. Er nannte wiederholt den
Namen Tomiko, obwohl die Autorin Fumiko heißt. Ich beschloss, ihn
einem psychologischen Test zu unterziehen, doch er blieb beharrlich
bei Tomiko. Oder er behauptete, ihm sei der Name entfallen.«
In Professor Miyakawas Gesicht zeigte sich so etwas wie ein ner-
vöser Tic. In seinen fleischigen Wangen, die ihn als Genießer auswie-
sen, zuckte es wiederholt und heftig.
»Und Sie können mithilfe der Psychoanalyse die Ursache für dieses
Verhalten herausfinden?« Er fuhr sich mit dem weißen Ziertuch aus
seiner Brusttasche übers Gesicht.
»Nun ja, bis zu einem gewissen Grad. Dennoch bleibt vieles reine
Vermutung.«
»Was genau meinen Sie damit? Bitte erklären Sie mir das«, kam es
schroff zurück.
»Wahrscheinlich möchte sich der Patient nicht an den Namen
Fumiko erinnern. Natürlich ist ihm das nicht bewusst, es ist sein
Unbewusstes, das ... «
Der Professor fiel mir ins Wort: »Und was versprechen Sie sich von
Ihren Recherchen?« Das nervöse Zucken in seinen Wangen hatte sich
verstärkt.
»Das Ergebnis könnte die Gesundung des Patienten begünstigen.
Oder auch nicht. Vielleicht ist es reine Zeitverschwendung. Aber seien
Sie versichert, dass ich niemanden bedrängen will. Ich wäre Ihnen
allerdings dankbar, wenn Sie mir noch ein, zwei Fragen beantworten
würden.«
»Selbstredend. Ich beantworte gern jede Frage, ganz gleich worum
es sich handeln mag, wenn Ihnen damit geholfen ist.« Der nervöse Tic
vereitelte seinen Versuch zu lachen. Warum hatte der

36
Professor so seltsam auf die bloße Erwähnung des Namens Fumiko
reagiert? Ich wählte einen harmloseren Einstieg.
»Mit welchen Fragen musste Akio Tanno bei der Aufnahmeprüfung
rechnen? Sagen wir, aus den Bereichen Soziologie oder Literatur?«
»Was soll denn das jetzt? Na gut, wenn Sie die Examensfragen un-
bedingt wissen müssen - ich habe eine Liste.« Der Professor zog eine
Schublade auf und gab mir einen Packen zusammengehefteter Blätter
mit Fragen und den entsprechenden Antworten. Ich überflog rasch die
Fragen. Aber Fumiko Hayashi tauchte weder bei Soziologie noch bei
Literatur auf. Die einzige Schriftstellerin, nach der gefragt wurde, war
Ichyo Higuchi.
»Meine Vermutung war offenbar falsch. Ich hatte angenommen,
dass seine Gedächtnisstörung mit einem Thema aus der Aufnahme-
prüfung zu tun hat ...
»Was diese Theorie angeht, sollten Sie sich die Prüfungsfragen an-
derer Universitäten anschauen. Vielleicht hat Tanno es auch woanders
probiert und ist dort durchgefallen, zum Beispiel an der Nationalen
Universität.« Der Professor wurde umgänglicher. Er nahm
einen Band Examensfragen der Nationaluniversität aus dem Regal
und blätterte darin.
»Nein, bei der Konkurrenz findet sich auch nichts. Natürlich ge-
hören wir zu den führenden Universitäten des Landes, und ich kann
mir eigentlich auch nicht vorstellen, dass Tanno, wenn er sich wo-
anders beworben hätte, dort durchgefallen wäre.« Miyakawa brüstete
sich offenbar gern mit dem Ruf seiner Universität.
»Hat er womöglich eine Kommilitonin mit Namen Fumiko?«
»Schauen wir nach.« Der Professor ergriff ein zweibändiges Ver-
zeichnis, das die Namen aller Studenten und Mitarbeiter der Univer-
sität enthielt. Einen Band drückte er mir in die Hand. Unter den rund
zehntausend Studenten alle Mädchen namens Fumiko herauszu-

37
suchen wäre furchtbar zeitaufwendig. Ich blätterte den Band durch,
konnte aber auf Anhieb keine Fumiko entdecken, allerdings hießen
zwei Mädchen mit Nachnamen Hayashi. Der Professor war offenbar
auch nicht fündig geworden.
»Ich habe hier eine Michiko Hayashi ... Ich glaube so heißt auch die
Schauspielerin in der Fernsehserie«, sagte ich.
»Michiko Hayashi ist eine meiner Studentinnen. Sie hat Sie übrigens
hergebracht.« Er lächelte erleichtert. Freute er sich, dass mein Besuch
nicht ganz umsonst gewesen war?
Ich fragte Professor Miyakawa noch, wo sich der Probenraum be-
fand, und verabschiedete mich. Er begleitete mich zur Tür. »In dem
Verzeichnis stand auch ein gewisser Fumio Hayashi. Hilft Ihnen das
weiter? Man kann nie sagen, was die Studenten heute so treiben ...«
Ich bedankte mich für Professor Miyakawas Unterstützung. Zur
Homosexualität hatte mein Patient wohl keine Affinität, aber ich
notierte mir für alle Fälle Fumio Hayashis Adresse. Interessant fand
ich, dass der Hinweis gerade von Miyakawa kam. Ich war den Korridor
schon halb hinunter, als ich mich umwandte. Der Professor stand an
der Tür, die Hand am Griff, und sah mir mit einem warmen Lächeln
nach.

Zwei

Als Michiko Hayashi mich erblickte, unterbrach sie abrupt die


Chorprobe und kam auf mich zu. Der Gesang schien sie weit weniger
zu fesseln als das Schicksal ihres Kommilitonen.
»Dann waren Sie also wegen Akio Tanno bei Professor Miyakawa?«,
fragte sie erstaunt. »Ich habe mir nämlich Sorgen um ihn gemacht,
wissen Sie - er hatte irgendetwas vor.«

38
38

»Wären Sie bereit, mir zu erzählen, was Sie von Tanno wissen? Sie
sind nicht zufällig mit ihm liiert ...?«
»Nein, nein, das nicht. Klar, ich mag ihn, aber er interessiert sich
überhaupt nicht für mich. Er ist bloß zum Chor gekommen, weil ich
auch mitmachte, und damit hatte es sich.«
»Ich verstehe. Hat jemand aus Ihrem Semester hier an der Uni-
versität geheiratet?«
»Ja, eine Kommilitonin, aber sie ist viel älter als ich. Und sie war
auch schon verheiratet, als sie an die Uni kam, von einer Studenten-
hochzeit kann also nicht die Rede sein.«
»Hat Akio Tanno eine Freundin?«
»Na ja ...« Sie schwieg. Ihrer Miene nach hatte ich ihren Stolz
verletzt.
In letzter Zeit war er ziemlich durcheinander. Wir gehen nach dem
Singen immer in ein Café gleich beim Haupteingang - und Akio war
wohl hinter einer der Serviererinnen her; das erzählen jedenfalls die
anderen.«
»Sagen Sie mir, wo ich das Café finde?«
»Klar. Ich überlege gerade, ob ich nicht auf einen Hotdog mit-
kommen soll. Die Hotdogs da sind verdammt gut.« Beschwingt hüpfte
Michiko Hayashi neben mir her. Ihr frisch gewaschenes Haar wurde
von einem blauen Band zusammengehalten. Warum hatte sich Tanno
nicht in sie verliebt?
Er hätte an der Universität keine Freunde, schrieb er in seinem
Bericht. Sein Verhalten war in manchen Dingen merkwürdig. Viel-
leicht sollte ich mir die einzelnen Rätsel nacheinander vornehmen.
Doch dazu fehlte es an Zeit. Mir blieben nur noch achtundvierzig
Stunden, um Tanno zu finden.
»Muss er lange in der Klinik bleiben? Ich würde ihn gern besuchen.«
Michiko Hayashi blieb vor dem Café stehen und sah mich fragend an.

39
»Sobald es ihm besser geht, können Sie kommen«, versuchte ich
abzulenken, doch sie schien ein wenig enttäuscht. Sie hoffte wohl, ich
würde ihrer Beziehung zu Tanno eine größere Bedeutung beimessen.
Den Grund dafür entdeckte ich umgehend. Hinter der Theke stand
ein vielleicht achtzehnjähriges Mädchen, auf das garantiert alle jungen
Männer flogen. Für Michiko eine Rivalin und ein Problem. Dass Akio
Tanno sich mehr für die attraktive Serviererin interessierte, war für sie
sicher schwer zu ertragen.
»Sind Sie mit Akio Tanno mal richtig ausgegangen?«
»Hm ... nein, eigentlich nicht. Er war ziemlich schüchtern.« Direkt
vor unserer Nase drehten sich die Hotdogs am Grill. Die rotierenden
roten Dinger erinnerten mich an Labormäuse, die unablässig im Käfig
auf und ab rennen. In mancher Hinsicht eine komplette
Energieverschwendung.
»Ist es eine Neurose, Doktor Uemura, oder ist Akio echt krank?«,
fragte Michiko betont lässig und bestellte für uns zwei Kaffee. »Das
lässt sich noch nicht sagen.«
»Manchmal habe ich selbst das Gefühl, ein bisschen verrückt zu
werden. Dann hasse ich zum Beispiel Hotdogs ... der Anblick eines
Hotdog bewirkt bei mir manchmal sexuelle Anwandlungen. Ihnen
kann ich das sagen, Sie sind ja Psychiater.« Sie wurde feuerrot und
schlug die Augen nieder. Ich schaute auf die sich drehenden Würst-
chen.
»Das ist nicht unbedingt neurotisch, Michiko. Solche Anwand-
lungen sind völlig normal. Sie denken ja nicht unablässig dran, oder?
Bei der Chorprobe sind Sie mit Singen beschäftigt, und das Studium
interessiert Sie ja gewiss auch.«
O ja, die Romanistik macht mir Spaß.«
»Sie sind ein attraktives Mädchen, aber das wissen Sie ja.«
Ihre Miene hellte sich auf: »Wirklich? Vielen Dank!, Wir hatten

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unsere Hotdogs verspeist, und sie stand zögernd auf, als verließe sie
mich nur ungern.
»Sie wollen bestimmt noch mit dem Mädchen sprechen. Deswegen
gehe ich jetzt. Aber wir sehen uns hoffentlich wieder.«
»Ganz bestimmt.« Akio Tanno hatte mit Michiko wirklich was
verpasst. Was für eine kluge und bezaubernde Studentin ... Warum,
zum Teufel, hatte er ihr einen Korb gegeben? Aber über Geschmack
lässt sich bekanntlich nicht streiten.
Ich bestellte noch einen Kaffee und sprach das Mädchen hinter der
Theke an. Aus der Nähe war zu erkennen, dass sie sich stark
schminkte - üppiger Lidschatten, künstliche, stark getuschte Wimpern
-, wie ein Model. Ihre riesig wirkenden Augen gaben ihr etwas
Unsicheres, Verletzliches.
»Haben Sie in letzter Zeit etwas von Akio Tanno gehört?«, fragte
ich.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete sie bereitwillig. Sie wirkte
sehr umgänglich, der Typ Mädchen, der mit jedem gut auskommt.
»Wo er im Augenblick ist, wissen Sie wohl nicht?«
»Nein, keine Ahnung. Aber wer sind Sie überhaupt? So 'ne Art
Gangster, der Spielschulden eintreibt?«
»Nein, wir kennen uns noch aus der Schule. Ich war gerade in seiner
Wohnung, aber da ist er nicht, und dann sagte mir jemand, Sie
wüssten, wo ich ihn finde.«
»Das war das Mädchen, mit dem Sie gekommen sind. Wissen Sie,
die ist nur eifersüchtig. Sie hat Ihnen was vorgemacht. Ich hab noch
mit keinem Studenten was gehabt.«
»Alles klar. Tut mir Leid, dass ich Sie belästigt habe. Aber sagen Sie,
hat denn schon mal einer bei Tanno Spielschulden eingetrieben?«
Na ja, da hat mal ein ziemlich grober Typ nach ihm gefragt. Akio
wettet gern. Wenn er Geld hat, haut er es auf den Kopf. Einmal ist in

41
einer einzigen Saufnacht das Geld von zehn Tagen Arbeit draufgegangen.
Hat er mir erzählt. Ab und zu hat er mich auch mal groß eingeladen, aber
ehrlich gesagt, fand ich das eher unheimlich.«
Sie redete offenbar gern und brauchte keine Ermutigung.
»War Akio in Sie verliebt?«
»Akio in mich verliebt? Das kann ich wirklich nicht sagen.« Ein
Schatten huschte über ihr Gesicht. Ob sie es tatsächlich nicht beurteilen
konnte?
»Dann kennen Sie ihn also gar nicht besonders gut.«
»Nein, nicht besonders. Wissen Sie, ich kann Männer nicht leiden, die
mit 'ner Frau einmal losziehen und sie dann wie ihr Eigentum behandeln.«
In dem Moment rief ihr ein junger Koch in weißer Schürze ärgerlich etwas
zu. Ihm schien unser Gespräch zu missfallen.
»He, Fumi-Chan, der Salat dahinten bekommt langsam Altersringe«,
monierte ein Mann am anderen Ende der Theke.
»Oh, tut mir Leid.« Ohne das geringste Anzeichen von Verlegenheit
nahm sie den Salat und brachte ihn zu dem Gast. Mir stockte plötzlich der
Atem. Hatte der Mann nicht gerade Fumi-Chan zu ihr gesagt? Ich fragte
sie nach ihrem Namen.
»Warum wollen Sie das wissen? Ich heiße Fumiko Kawakami.«
»Welche Schriftzeichen hat Fumiko?«
»Na ja, dieselben wie bei Fumiko Hayashi. Die kennen Sie doch, oder?«
Ich starrte sie sprachlos an. War Tannos Seele so tief verwundet, dass
er den Namen ausgerechnet dieses Mädchens verdrängte? Aber ... im
Hinterkopf meldeten sich wieder die alten Zweifel. Vielleicht war das nur
einer von Tannos Tricks? Das Vergessen des Namens nur vorgetäuscht?
Diese Fumiko ein Mittel, mich auf eine falsche Fährte zu locken?
»Wann haben Sie Feierabend? Ich würde Sie gerne einladen«, sagte ich
und schaute sie an. Da mir die Zeit davonlief, musste ich

42
jede Spur verfolgen, die Akio Tanno hinterlassen hatte, auch bewusst
gelegte falsche Fährten.
»Haben Sie ein Auto?«, wollte sie wissen.
»Ja, einen Sportwagen.«
»Dann können Sie mich herumkutschieren; mehr aber nicht.« 0
Gott, wo kriegte ich nur einen Sportwagen her?

Drei

»He, der Flitzer ist ja echt geil.« Der rote Sportwagen, den ich von
einem Freund ausgeliehen hatte, schien Fumiko Kawakami sehr zu
gefallen.
»Wohin gehts?«, fragte ich.
»Ich möchte gern zuerst bei Akios Wohnung vorbeischauen. Mit
Ihnen zusammen ist das kein Problem, aber wenn ich alleine wäre,
sähe es verdächtig aus.«
»Was wollen Sie denn da?«
»Ich hab was liegen lassen.«
»Und das wollen Sie holen?«
»Ja, eine Uhr, die man als Ring auf den Finger steckt. Ein Student
aus Hongkong hat sie mir geschenkt.«
Fumikos Wunsch kam mir äußerst gelegen. Ich wollte die kostbare
Zeit nicht mit Fragenstellen vergeuden. Kaum hatte ich vor dem Haus
angehalten, sprang sie aus dem Wagen und läutete an der Tür. Sie
schien sich hier auszukennen.
»Waren Sie schon oft hier, Fumiko?«
»Einmal«, erwiderte sie gelassen. Die Vermieterin erkannte mich
wieder und ließ uns anstandslos herein. Ich würde die Gelegenheit
nutzen und Akios Sachen gründlich durchsuchen.

43
»Wo hat er ihn nur hingetan? Hoffentlich dahin, wo ich ihn leicht
finde ... «, murmelte Fumiko. Auf den Regalen lag kein Ring, und sie
begann, Schubladen aufzuziehen. Ich suchte nach einem Tagebuch
oder ähnlichem - allerdings vergeblich. Vermutlich hatte er alles
Geschriebene weggeschafft.
»Ich glaub, ich spinne! Schauen Sie, wo ich die Uhr gefunden habe!«
Die unterste Schublade stand offen. Ich erblickte eine halb offene
Schachtel mit Gewehrpatronen, eine der Patronen glänzte matt.
Daneben lag ein Höschen. Fumiko hielt es angeekelt hoch.
»Der ist ja echt pervers ... An so'ner Stelle einen Slip aufzuheben,
einfach ekelhaft.«
»Das ist Ihrer, nicht wahr?«, fragte ich.
»Was wollen Sie denn damit sagen? Natürlich ist es nicht meiner.
Ich hab keine schwarze Unterwäsche. Außerdem hat der Slip ein
Monogramm. F. M. - er gehört einer anderen Frau.«
Ich betrachtete erneut den Slip und die Patronen, ratlos, was von
beidem für meine Suche wohl wichtiger war.
»Ich wusste, dass da irgendwas Komisches läuft«, sagte sie. »Er ist
also doch pervers. Er hat mich mal in ein Hotel mitgenommen, aber
nichts unternommen und nur geweint. Seitdem habe ich mir so meine
Gedanken gemacht.«
»Und wann war das?«, fragte ich scheinbar gleichgültig.
»Ach, vor'ner ganzen Weile. Mindestens 'n Monat ist das her.« »Es
wäre schön, wenn Sie mir mehr erzählen würden.« Ich legte
ihr die Hand auf die Schulter und schaute sie an.
»Was? Sie machen wohl Witze.«
»Nun, ich will ehrlich sein, Fumiko-Chan, Akio Tanno ist mein
Patient.« Ich gab ihr meine Karte. Sie schaute mich erstaunt an. Ihre
rätselhaften, dunklen Augen offenbarten wachsende Unsicherheit.

44
4
Die Bühne wird gerichtet

Eins

Das Wasser im Pool sah noch genauso trübe und abgestanden aus wie
neulich, und vor dem Sommer würde sich daran auch nichts ändern.
Ich schaute hinauf zur Wohnung der Owadas und betrat das Haus.
Der Pförtner meldete mich an.
»Schicken Sie ihn hoch«, tönte es nach einer kurzen Pause aus der
Sprechanlage. Wie bei meinem ersten Besuch schien die Stimme bar
jeder Emotion. Mal sehen, was der Pförtner so wusste. »Erinnern Sie
sich, dass Frau Owada kürzlich von einem Studenten besucht wurde?«
»Nein. Da müssen Sie sich irren.«
Vorsichtshalber wiederholte ich die Frage, aber das ärgerte ihn nur.
Er blickte finster, als hätte ich ihm Nachlässigkeit vorgeworfen. Ohne
Rücksicht auf seine Empfindlichkeiten hakte ich nach. »Er hatte eine
auffallend große Schachtel bei sich, in Kaufhauspapier verpackt. Das
kann Ihnen doch nicht entgangen sein.«
»Lieferanten von Kaufhäusern lassen wir natürlich ein. Warum
stellen Sie so merkwürdige Fragen?« Der Pförtner wirkte sichtlich
verärgert und errötete.
»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen. Die
Sprechanlage ist übrigens noch auf Empfang.« Sein kurzer, plumper
Finger hielt die »Ein«-Taste gedrückt; wahrscheinlich hatte Frau
Owada unseren Wortwechsel mitgehört. Ich ging zum Fahrstuhl und
beobachtete dabei aus dem Augenwinkel, ob er

45
immer noch die Taste drückte. Der Pförtner brummelte vor sich hin.
Wenn man Leute auf einen Fehler hinweist, reagieren sie oft ärgerlich.
Die blauen Glaswände am Lichtschacht leuchteten im Morgenlicht
wie Meerwasser. Ich läutete am Apartment 601. Es dauerte eine ganze
Weile, bis Frau Owada mir öffnete.
»Habe ich Sie warten lassen?«
»Nein.« Ich war ein höflicher Mensch.
»Der Reißverschluss an meinem Kleid hat geklemmt.« Sie trug ein
hautenges schwarzes Kleid und darüber einen eng anliegenden
Pullover. So wie das Kleid Falten warf, schien sie sich hastig angezo-
gen zu haben.
»Ich sonne mich jeden Morgen zwei Stunden.«
»Dann tut es mir Leid, dass ich Sie gestört habe.«
»Hat der Pförtner Sie nicht drauf hingewiesen? Er kennt meine
kleinen Rituale ganz gut. Er ist immer auf dem Laufenden, was die
Leute den lieben langen Tag so tun.« Sie sah mich ziemlich kühl an,
was ich als Rundumkritik an meiner Person interpretierte.
»Mein Patient ist aus der Klinik geflohen.«
»Sie meinen den Studenten, der die Geschichte mit dem Karton
erzählt hat und so verrückte Dinge behauptet?«
»Er hat nach seinem Bekunden nicht nur den Karton abgeliefert,
sondern obendrein auch Sie getötet«, präzisierte ich.
»Was junge Leute heute alles so behaupten ... Ich würde gern wis-
sen, wie er mich denn umgebracht haben will.«
»Mit einer langen Waffe, wie er sagt. Sein Motiv scheint Enttäu-
schung über die Absurdität des Lebens gewesen zu sein«, sagte ich.
»Vielleicht hat ihn auch nur die grelle Sonne irritiert ... Aber
dazu passt die lange Waffe nicht. Meursault benutzte schließlich eine
Pistole.« Sie wollte wohl herausfinden, ob ich Camus' Der Fremde
gelesen hatte.
»Die Pest und Der Fremde kenne ich«, beantwortete ich ihre un-

46
ausgesprochene Frage.
»Wissen Sie, ich habe Gedichte von Camus gelesen«, ihre Miene
hellte sich auf, »seine Gedichte über die weißen Sommer Algeriens ...
Die Texte haben mich bei der Arbeit an meinen eigenen Gedichten
stark inspiriert.«
»Ach, Sie schreiben Gedichte?« Das hatte sie noch nicht erwähnt.
»Früher jedenfalls.«
»Ich würde sie gern lesen.«
»Für Sie sind die Texte wahrscheinlich nichts als Forschungsmate-
rial, aber bitte, wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen welche.« Mit diesen
Worten führte sie mich in die verglaste Loggia. Sie ließ mich allein.
Durch das weit geöffnete Dach brannte erbarmungslos die Sonne. Auf
der Couch lag ein Badetuch, ein Hinweis auf Frau Owadas Sonnenbad.
Daneben ein großer Aschenbecher voller Kippen, eine Flasche
Sonnenöl und ein Taschenbuch in englischer Sprache, das sie offenbar
just beiseite gelegt hatte. Auf dem Umschlag war das Gesicht einer
Frau mit angstverzerrten Lippen abgebildet.
Frau Owada erschien mit einem Silbertablett, auf dem sich Tee-
geschirr und eine Flasche Whisky befanden.
»Ich bevorzuge Whisky statt Milch im Tee. Ausgewogene Ernäh-
rung ist mir egal. Ich habe lieber einen klaren Kopf.« Auf dem Tablett
lag auch ein Buch, ein Gedichtband mit dem Titel Der weiße
Sommer.
»Sie können es behalten«, sagte sie, »aber bitte lesen Sie darin nicht
in meiner Gegenwart. Das wäre mir peinlich.«
»Ich nehme die Gedichte gerne mit nach Hause.« Ich widerstand
dem Impuls, den Band aufzuschlagen, und betrachtete weiterhin den
Titel Der weiße Sommer. Frau Owada setzte sich auf die Couch. Sie
schlug die Beine übereinander, wobei der Rocksaum verrutschte und
den Blick auf einen frisch gebräunten, ölglänzenden Schenkel

47
freigab. Die aufreizende Pose, die sie wohl bewusst einnahm, und ihr
aufregend dunkler Teint weckten Begierden, die ich nur mit Mühe
abwehren konnte. Wie wohl jeder Mann in meiner Lage, spürte ich
den Wunsch, sie zu entkleiden und ihren aufregenden Körper unge-
niert zu betrachten. Allein meine Erziehung und Herkunft sowie mein
Sinn für Anstand hielten mich zurück. Sie sollte mir mein Begehren
auf keinen Fall anmerken.
Schließlich gewann der Arzt in mir die Oberhand. Aber jetzt
konnte ich die Gefühle meines Patienten nachvollziehen. Zweifellos
hatte ihr prachtvoller Leib ihn heftig erregt. Schließlich kennen sogar
Hunde und Katzen diese Triebe, deren Beherrschung die Natur ihnen
allerdings dank des Fortpflanzungszyklus abnimmt. Nur der Mensch
ist gezwungen, Triebkontrolle zu erlernen.
Ich weiß nicht, ob ihr etwas auffiel, jedenfalls entwirrte Frau Owada
ihre Beine und setzte sich noch aufreizender hin.

zwei

»Sie sagen, Sie haben sich mit meinem Mann getroffen.«


»Ja, zweimal.«
»Mein Mann lässt mich also überwachen. Aber das Honorar für
einen Psychiater hätte er sich wirklich sparen können, schließlich gibt
es Privatdetektive. Obwohl ... sein Stolz hat ihm vermutlich nicht
erlaubt, einen bloßen Schnüffler zu engagieren.«
»Aber verstehen Sie doch«, wandte ich ein, »darum handelt es sich
doch gar nicht. Mein Patient hat Ihrem Mann eine Zusammenfassung
seiner Aussage geschickt ...
Sie fiel mir ins Wort: »Er glaubt, dass der Student mich vergewal-
tigt hat, nicht wahr?«

48
»Nein, keineswegs. Er möchte mir nur bei meinen Nachforschun-
gen helfen. Allerdings hat er mir von Ihren Eheproblemen berichtet.«
»Aha. Welche meinte er denn?«
Er tappt da anscheinend selbst im Dunkeln.« Ich wischte mir den
Schweiß vom Gesicht. Unser Gespräch schien mir zunehmend
gezwungen. Frau Owada betrachtete sinnend ihre Teetasse, bevor sie
sie mit einem fragenden Blick in meine Richtung an ihre wohlge-
formten Lippen führte.
»Sexuell klappt es bestens zwischen uns. Da gibt es auf beiden Sei-
ten keine Enttäuschungen. Aber mein Mann steht als Pilot stark unter
Stress, und ich will ihn nicht um seinen Schlaf bringen ... In dieser
Hinsicht habe ich seit unserer Heirat nie Ansprüche angemeldet. Aber
ich glaube, die meisten Pilotenfrauen sind da genauso rücksichtsvoll.«
Ich hatte den Eindruck, dass sie sich bewusst offen und frei äu-
ßerte. Eigentlich schien Frau Owada zurückhaltend und scheu zu sein.
Doch kaum war von ihrem Mann die Rede, packte sie aus. Ich musste
an die hübsche Stewardess denken, die ich mit Captain Owada am
Flughafen gesehen hatte. Vielleicht wusste seine Frau von ihr und war
eifersüchtig.
»Ich würde gern mein Sonnenbad fortsetzen«, sagte sie plötzlich.
»Wenn ich nicht jeden Tag meine Ration Sonne bekomme, fühle ich
mich nicht wohl. Sie mögen das für neurotisch halten.«
Eine Spur verärgert drückte Frau Owada ihre Zigarette aus, die sie
zwischen ihren langen Fingern hielt. Sie verließ die Loggia, um sich
umzuziehen, und kam rasch zurück, in ein kurzes Strandkleid gehüllt.
Darunter trug sie einen orangefarbenen Bikini.
»Wie lange wollen Sie mich noch ausspionieren?«, fragte sie.
»Aber von Ausspionieren kann doch keine Rede sein. Ich wollte
Ihnen lediglich in einem persönlichen Gespräch ein paar Fragen
stellen.«

49
»Dann legen Sie los, ich hab nichts dagegen. Sie können mich ruhig
auch nach intimen Dingen fragen.«
Ich versuchte eine andere Taktik. »Wie gesagt, mein Patient ist aus
der Klinik geflohen.«
»Das haben Sie vorhin schon erzählt.«
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Er wurde von der Polizei in die
Klinik eingewiesen. Wir sollten ein Auge auf ihn haben.«
»Er ist also eine Gefahr für andere.« Sie klang leicht beunruhigt.
»In der Klinik haben wir keine Anzeichen für eine latente Gewalt-
neigung festgestellt, aber wie er sich draußen verhalten wird, lässt sich
nicht sagen. Meine größte Sorge ist, dass er in die Tat umsetzen
könnte, was er in seiner Aussage beschreibt.«
»Sie meinen, dass er bei mir aufkreuzt, um mich mit der langen
Waffe zu töten ... « Frau Owada schaute mich träge aus den Augen-
winkeln an, während sie bäuchlings auf dem Badetuch lag. Die Son-
nenstrahlen tanzten über ihren Rücken und ihre Beine. Plötzlich fühlte
sich mein Hinterkopf wie Watte an. Ich hatte mehrere Nächte nicht
geschlafen und fühlte mich wie betäubt.
»Wenn ich mich flach hinlege, so wie jetzt, werde ich immer
schläfrig«, sagte sie. »Die Psychoanalytiker legen ihre Patienten ja auch
auf eine gemütliche Couch, nicht wahr, eine Ledercouch oder so ... Ich
habe in letzter Zeit einige Bücher über Psychologie gelesen ...«
Die Stimme schien aus immer größerer Ferne zu kommen und
wurde schleppend und langsam, als wäre Frau Owada gerade dabei,
sich zu hypnotisieren. Ihre Stimme hatte keine Ähnlichkeit mehr mit
jenem trockenen, metallischen Klang aus der Sprechanlage.
»Es ist durchaus möglich, dass mein Patient bei Ihnen auftaucht.
Dann sollten Sie umgehend die Polizei verständigen.«
»Das werde ich natürlich tun.« Zwischen jedem dieser Worte lag
eine deutliche Pause. Schließlich ließ Frau Owada den Kopf auf die
Couch sinken, während ihr Atem so ruhig und gleichmäßig ging, als sei

50
sie eingeschlafen. Ich stand auf und wollte zu ihr hinübergehen. Aber
mein Körper fühlte sich plötzlich seltsam taub an. Mit unglaublicher
Anstrengung schaffte ich die paar Schritte.
»Sie haben mir was in den Tee getan, nicht wahr?«
»Eine Schlaftablette.« Sie schaute mich nicht an.
»Warum?«
»In einer Stunde kommt mein Mann nach Hause. Der Pförtner
erzählt ihm, dass ich Besuch habe. Von Ihnen. Mein Mann klingelt,
aber keiner macht auf. Denn wir beide, Sie und ich, schlafen tief und
fest. Er wird dann über das, was hier abläuft, genau den richtigen
Schluss ziehen. Er soll Sie in Verdacht haben, so wie er den Studenten
verdächtigt, mich vergewaltigt zu haben.«
»Das dürfen Sie nicht tun, Frau Owada. Sie schaden sich am Ende
nur selbst. Ich werde garantiert nicht mehr hier sein, wenn Ihr Mann
kommt. Damit es kein Missverständnis gibt, breche ich sofort auf.«
Ihre Artikulation war undeutlich, aber was sie sagte, klang durchaus
logisch. Sie war offensichtlich von einem einzigen Gedanken besessen,
und das machte mir Angst.
»Sie können nicht fortgehen«, sagte sie. »Als Arzt ist es Ihre Pflicht,
bei mir zu bleiben. Wie Sie sehen, bin ich krank. Aber auch wenn Sie
gehen, macht das keinen Unterschied. Mein Mann, müssen Sie wissen
...« Entweder war Frau Owada eingeschlafen, oder das Kissen
verschluckte ihre Worte. Ich bemühte mich um einen klaren Kopf.
Frau Owada litt also an einer schweren psychischen Störung. War das
die Auswirkung ihrer selbst gewählten Isolation? Wahrscheinlich
wollte sie mir, dem Arzt, nur ihren Willen aufzwingen, mich gängeln
wie ein verwöhntes Kind. Schaden wollte sie mir sicher nicht.
Letzteres versuchte ich mir jedenfalls einzureden. Bis Captain

51
Owada kam, musste ich um jeden Preis wach bleiben. Ich würde ihm
die Situation erklären, und er würde mir selbstredend glauben,
schließlich war ich Arzt.
»Kennen Sie eine Frau, die Fumiko heißt?« Um meine Schläfrigkeit
zu verscheuchen, fragte ich das Erste, was mir in den Sinn kam.
Vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen Frau Owada und
dem Namen, der meinen Patienten so beschäftigte. Sie drehte ihr
Gesicht langsam zu mir und schaute mich mit schweren Lidern durch
lange Wimpern müde an.
»Haben Sie bei Ihren Gedichten irgendwann, als Pseudonym
vielleicht, den Namen Fumiko benutzt? Oder fällt Ihnen etwas anderes
zu dem Namen ein?«
Sie wandte den Kopf wieder ab, ließ ihn auf das Kissen sinken und
verharrte in dieser Haltung. Ich begann, in dem Gedichtband zu
blättern, den ich immer noch in der Hand hielt.

Schaum auf den Wellen Gleißender

Sommer ...

Ich las mit getrübtem Blick weiter und blieb gelegentlich an Wörtern
wie »Liebe« hängen oder »Tod«. Dann entdeckte ich eine Widmung. In
meinem benebelten Zustand kapierte ich nicht gleich, was da
geschrieben stand. Ich starrte auf die lateinischen Buchstaben und
entzifferte schließlich FUMIKO.
Ich versuchte Frau Owada aufzuwecken. In dem Augenblick klin-
gelte es an der Tür. Das musste Captain Owada sein, denn der Pfört-
ner hatte niemanden telefonisch angekündigt. Ich mobilisierte alle
verbliebenen Kräfte und schaffte es irgendwie bis zur Wohnungstür.
Ich nahm die Sicherheitskette ab.
Drei

52
Aber nicht der erwartete Flugkapitän stand auf der Matte, sondern
mein Patient, Akio Tanno. Der Schock machte mich schlagartig
wacher. Vielleicht war Tanno genauso verblüfft wie ich, denn er riss
erschrocken den Mund auf und begann leicht zu zittern.
»Akio! Ich habe Sie überall gesucht!«
»Aber was tun Sie hier, Doktor Uemura? Haben Sie etwa die ganze
Zeit hier gewartet, weil Sie wussten, ich würde an den Tatort
zurückkehren?«
»Welchen Tatort meinen Sie denn? Sie haben überhaupt nichts
verbrochen, und das wissen Sie auch. Kommen Sie herein und über-
zeugen Sie sich selbst.«
Akio Tanno schob die rechte Hand in die Hosentasche. Obwohl er
gerade erst aus der Klinik geflohen war, trug er ein modisches
Sommerhemd mit Streifen; wahrscheinlich hatte er es im Kaufhaus in
der Herrenabteilung geklaut. Er umklammerte in der Hosentasche
einen Gegenstand, eine Waffe vielleicht, ließ ihn aber wieder los, als
habe er sichs anders überlegt.
Es ist hier genau so wie in der Klinik«, sagte ich. »Haben Sie mir
nicht versprochen, mir zu vertrauen? Sie müssen mir sagen, was hier
vorgeht. Was hat Sie hergeführt?«
Ich bemühte mich, logisch und vernünftig zu argumentieren. Aber
ich schien reichlich benebelt zu wirken, denn Akio Tanno, der meinen
Zustand bemerkt hatte, versuchte, sich an mir vorbeizudrängeln.
»Sie wissen genau, ich kann sie nicht einfach hier liegen lassen,
Doktor Uemura, ich muss sie wiederhaben.«
»Mit „sie“ meinen Sie die lange Waffe aus Ihrer Aussage, nicht
wahr?«
Ich bin ziemlich groß gewachsen und überrage Tanno um einige
Zentimeter. Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. Bevor ich
mit ihm zu Frau Owada hineinging, wollte ich noch mit ihm reden.

53
Unter medizinischen Aspekten war sein Fall hochinteressant. Mög-
licherweise litt mein Patient unter einem klassischen Kastrations-
komplex. Das würde erklären, warum er sein Geschlechtsteil beharr-
lich als lange Waffe umschrieb. Bekanntermaßen hat jeder Junge im
Alter von vier bis fünf Jahren Angst, dass ihm ein Mädchen den Penis
raubt. Aber nur bei Kindern mit einem ausgeprägten Unterle-
genheitsgefühl entwickelt sich in der Adoleszenz daraus ein Kastra-
tionskomplex.
Freuds Schüler Alfred Adler entwickelte 1907 seine Theorie von
der Minderwertigkeit von Organen, die im »Machtwillen« zum Aus-
druck kommt. Die Menschen sind sich ihrer eigenen Unzulänglich-
keiten nur zu bewusst, und um ihre Schwächen zu kompensieren,
fühlen sie sich von Dingen angezogen, denen Stärke und Macht in-
härent sind. Ich fürchtete, Tannos Kastrationskomplex würde in einen
physischen Angriff münden. Er schien wirklich zu glauben, dass sein
Penis gestohlen wurde und er ihn zurückholen müsste.
»Also gut, folgen wir Ihrem Vorschlag und gehen das Ding suchen.
Aber vorher müssen Sie mir versprechen, dass Sie nicht gewalttätig
werden und dass Sie meine Anweisungen befolgen.«
Am Waschbecken klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Mittlerweile hatte ich mich einigermaßen wieder im Griff. Tanno
nahm die Hände aus den Hosentaschen und ließ die Arme locker
hängen. Seine Erregung über die unerwartete Begegnung mit mir
schien abgeebbt. Mir fiel allerdings auf, dass sich seine rechte Hosen-
tasche verdächtig wölbte.
»Sie haben da was in Ihrer Hosentasche«, sagte ich freundlich, aber
auch ein wenig genervt.
»Eine Pistole«, gab Tanno zu.
»Die legen Sie besser weg. Es ist gefährlich, mit einer Knarre in der
Tasche herumzulaufen.«
»Keine Sorge, sie ist nicht geladen. Ist eh nur eine Spielzeugpistole.

54
Damit wollte ich nur erreichen, dass die Sicherheitskette abgenommen
wird. Wenn ich die lange Waffe wiederhaben kann, gehe ich ganz
friedlich fort.«
»Ich muss Sie noch einmal fragen: Was genau meinen Sie mit „lange
Waffe“?«
»Das kann ich nicht sagen, weil sonst jemand in Schwierigkeiten
gerät. Es ist eine lange Waffe.«
Ich beschloss, die Fragerei jetzt aufzugeben und ihn dorthin zu füh-
ren, wo er angeblich Frau Owada mit seiner langen Waffe getötet
hatte.
»Haben Sie die Waffe hier liegen lassen, Akio, oder wurde sie Ihnen
weggenommen?«
»Ich habe sie in der Eile liegen lassen. Es war ja alles voller Blut,
und ich wollte weg ... «
»Wo war alles voller Blut?«
»In der Loggia. Sehen Sie, ich habe sie doch getötet ...« Seine
Schultern bebten.
»Aber wenn Sie Frau Owada heil und lebendig vor sich sehen, zie-
hen Sie Ihre Aussage zurück, nicht wahr? Und dann begleiten Sie mich
ganz brav in die Klinik. Wenn Sie mit mir in die Klinik zurückkom-
men, können Sie anschließend gehen, wohin Sie wollen. Sie sollten Ihr
Studium nicht zu lange aussetzen, sonst verlieren Sie alle Scheine.«
An der Tür zur Loggia legte ich ihm erneut die Hand auf die
Schulter. Sobald er Frau Owada mit eigenen Augen sähe, fände die
ganze Geschichte eine befriedigende Lösung, das spürte ich. Gleich-
zeitig fürchtete ich, dass der Anblick von Frau Owada in ihrem knap-
pen Bikini Akio durcheinander bringen könnte.
Grelles Sonnenlicht erfüllte die Loggia.
»Akio, sehen Sie, es ist nichts passiert, genau wie ich Ihnen gesagt
habe. Die Frau, die Sie umgebracht haben wollen, nimmt dahinten ein
Sonnenbad.«

55
Ich ging mit ihm zur Couch hinüber. Frau Owada schlief. Ihr
Körper glänzte von Olivenöl, mit dem sie sich gerne einrieb. Mit der
nüchternen, professionellen Vorgehensweise eines Arztes schob ich
eine Hand unter ihren Kopf und drehte das Gesicht in Tannos Rich-
tung. Ihr Gesicht fühlte sich zart an, und sie atmete ruhig. Von meiner
Warte aus sah ich nur ihr langes schwarzes Haar.
»Also! Sie lebt, und nirgendwo ist Blut in Sicht.«
Forschend betrachtete ich meinen Patienten. Kreidebleich starrte er
Frau Owada an und begann heftig zu zittern. Seine Unterlippe hing
schlaff herunter, und Speichel lief ihm übers Kinn. Völlig überrascht,
sie zu sehen, verlor er die Kontrolle über sich.
Ich ließ Frau Owadas Kopf wieder auf das Kissen gleiten. Dabei
bemerkte ich, dass sie ihn mit weit geöffneten Augen anschaute.

56
5
Vogelgezwitscher

Eins

Licht strömte durch die Jalousien und erhellte das düstere Hotelzim-
mer. Die Sonne malte Streifenmuster auf das frische, fast kindliche
Gesicht von Fumiko Kawakami, die neben mir lag.
»Nun sind wir doch noch im Bett gelandet, Doc. Tja, nie hätte ich
gedacht, dass ein Besuch beim Psychiater so enden kann ...«
»Wieso nicht, schließlich bist du ja keine Patientin«, sagte ich leicht
gereizt.
»Bist du sauer auf mich?« Ihr dünner rechter Arm mit den Arm-
reifen, die im Sonnenlicht funkelten, lag auf meinen Schultern. Ich
musste an Frau Owada in den Leila-Apartments denken, die ihren
Körper vor dem Sonnenbad mit Olivenöl einzureiben pflegte. Wenn
ich schon meinem sexuellen Verlangen nachgeben wollte, hätte ich
vielleicht besser auf ihre Avancen eingehen und von der verbotenen
Frucht naschen sollen ...
Gestern Abend hatte ich Fumiko Kawakami auf ihre Akio-Ge-
schichte festgenagelt und war mit ihr in dasselbe Hotel gegangen, was
ich mittlerweile bedauerte.
»Du hast mich reingelegt, stimmts?«, fragte ich. »Bisher hast du mir
überhaupt nichts erzählt, nicht das Geringste.«
»Siehst du, du bist doch sauer, Doc. Ich kann mich eben an vieles
nicht erinnern. Deswegen wühle ich ja so verzweifelt in meinem Ge-
dächtnis. Aber wenn du wütend wirst, lass ichs bleiben und geh nach
Hause.«

57
»Na gut, Hauptsache, es fällt dir wieder ein. Ich helfe gern bei der
Rekonstruktion.«
»Ich weiß aber nicht, ob mir jedes Detail wieder einfällt. Ich kann
nur versuchen, es von Anfang an genau so zu machen wie damals mit
Akio ... «
»Davon redest du doch schon die ganze Nacht.« Ich war kurz vor
einem Wutanfall.
»Also, wenn du dich so benimmst ...« Sie zog ihren Arm hinter
meinem Nacken hervor. Ihre runden Brüste unter dem dünnen
schwarzen Nylonunterrock bebten. Sie war allerhöchstens achtzehn,
hatte aber den Körper einer reifen Frau.
»Du heißt doch gar nicht Fumiko Kawakami, oder?«
»Wie hast du das erraten, Doc? Ich heiße Hiroko Nakazawa.«
Verblüfft starrte sie mich an, die Augen weit aufgerissen.
»Nur eine plötzliche Eingebung«, sagte ich. »Seit wann arbeitest du
im Café unter dem Namen Fumiko?«
»Die Geschichte begann vor etwa einem Monat. Ich war in einer
Restaurant-Bar in Roppongi, total zugedröhnt ...«
»Zugedröhnt?«
»Bier mit Schlaftabletten. Gibt 'n total irres Feeling, die Beine wie
Gummi ...«
»Und dann kam Akio Tanno herein, nicht wahr?«
»Ich hatte gerade mit meinem Freund Schluss gemacht, ihm eine
Riesenszene hingelegt. Mein Freund ist an der Uni und stinkreich. Er
fährt 'n heißen Sportwagen, aber dann sollte ich mit ihm in dem Auto
was total Krankes machen, und da hab ich gesagt, er soll abhauen.«
»Was hat er denn von dir verlangt?«
»Na ja, so 'ne Art Intensivpetting.«
»Aber so was magst du doch. Warum hast du Nein gesagt?«
»Na hör mal, ich sollte ihm einen blasen, während er die Autobahn
runterraste. Das kann ich doch nicht ... er wird total scharf,

58
tritt das Gaspedal bis zum Boden durch, und mit so 'nem Auto ist man
wie nix auf zweihundert.«
»Du gerätst schon in verrückte Situationen, muss ich sagen. Ganz
schön gefährlich. Du solltest ein bisschen mehr auf dich aufpassen.«
»Seine Freunde sind alle so, irgendwie abartig. Aber ich nicht. Ich
meine, einem Mann einen blasen - das tut doch wohl nur eine ältere
Frau.«
Ich hörte schweigend zu. Hoffentlich sah sie meinem Gesicht nicht
an, dass mir völlig klar war, was sie da sagte.
»Du hattest also Krach mit deinem Freund und warst total zuge-
dröhnt, als Akio in jener Nacht hereinkam?«
»Ganz genau. Er setzte sich an den Nebentisch und bestellte ein
Bier und ein Curry. Ich stand auf, weil ich zur Toilette wollte, und
schaffte es glatt, seinen Tisch umzuschmeißen. Reis, Curry und Bier
landeten auf seinen Hosen. So kamen wir ins Gespräch. Wir machten
alles sauber, zogen los und soffen. Wir waren noch in drei anderen
Bars.«
»Du wolltest ihn ein wenig entschädigen.«
»Wir schienen beide ein ähnlich langweiliges Leben zu haben.«
»Ich schätze, das Gefühl haben die meisten Menschen, wenn man
genauer nachfragt. Aber wenn man erwachsen wird, redet man nicht
mehr darüber und man ärgert sich auch nicht mehr.«
»Leider kann ich mich nicht mehr genau an das erinnern, was da-
nach passierte. Ich weiß, ich hab dauernd davon geredet, ich würde
ihm die Reinigung seiner Hosen bezahlen. In Yotsuya gibt es ein
Hotel, wo sie einem Gast innerhalb von vier Stunden die Klamotten
reinigen und sogar bügeln.«
Das Hotel, von dem sie sprach, war ein sechzehnstöckiges Hoch-
haus, das für die Olympiade in Tokio gebaut worden war.
»Falls du dich wunderst, woher ich das weiß: In dem Hotel habe ich
zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen. Er war dreiundvier-

59
zig und Direktor irgendeiner Firma. Weißt du, was er gemacht hat? Er
hat absichtlich Suppe auf mein nagelneues Winterkostüm gekleckert
und mir dann angeboten, es gleich reinigen zu lassen. Aber das war
bloß ein Trick, um mich in dieses Hotel zu locken. Während ich
darauf wartete, dass das Kostüm gereinigt würde, zwang er mich, mit
ihm zu schlafen. Es ist nicht leicht, sich zu wehren, wenn man nichts
anhat ... Na ja, ich hab geblutet und die Laken versaut, aber im
Endeffekt hat mir die ganze Geschichte zwei neue Outfits einge-
bracht.«
Sie schien das witzig zu finden und legte kichernd den Kopf an
meine Brust. Ich streichelte ihr feines Haar. Wahrscheinlich hatten die
Schlaumeier Recht, die sagten, dass nicht Erbanlagen, sondern die
Erziehung unsere Entwicklung bestimmt. Und hinter jedem jungen
Missetäter steht ein schuldiger Erwachsener.
»Du bist also ins Hotel gegangen, um Akios Hosen reinigen zu
lassen?«
»Genau. Aber dieses Mal hab ich ihn dazu gebracht, sich auszu-
ziehen. Er war kaum raus aus den Klamotten und hat gleich ange-
fangen zu zittern, als sei ihm schrecklich kalt. Wir haben uns eng an-
einander geschmiegt. Und wie wir uns so im Arm hatten, sagte er, die
Situation würde ihn an etwas erinnern. Und er würde es mir erzählen,
so gut er könnte. Aber vergiss nicht, ich war total bekifft. Ich weiß
noch, seine Geschichte brachte mich zum Weinen, aber ich hab sie
sofort wieder vergessen. Am Morgen danach konnte ich mich an
nichts erinnern. Deswegen dachte ich, wenn ich noch mal herkomme
und einen Mann ebenso fest umarme, wird mein Gedächtnis vielleicht
aktiviert.«
Ihre Stimme bebte.
»Habt ihr damals miteinander geschlafen?«
»Nein. Ich wollte zwar, aber ... als ich ihn anfasste, wurde er wü-
tend.«

60
»Er hat dich also erst am nächsten Morgen gebeten, in dem Uni-Café
anzuheuern und dich Fumiko Kawakami zu nennen?«
Ja - nachdem das Zimmermädchen seine Hose gebracht hatte. Er
war eine Weile ziemlich schweigsam und sagte dann, er wolle mich um
einen Gefallen bitten.«
»Und du kannst dich wirklich an nichts von dem erinnern, was Akio
dir in jener Nacht erzählt hat?«
»Nein, wirklich nicht. Deswegen red ich ja dauernd davon, Doc, dass
du mich genau so an dich drücken sollst wie Akio damals.«
Ich umschlang ihren biegsamen, straffen Körper so fest ich nur
konnte. Ihr Nylonslip rieb sich zwischen uns.
»Das törnt dich wohl überhaupt nicht an, was? Dann zieh ich besser
meinen Slip aus. Es muss genauso sein wie damals.«
Ich fühlte Wut in mir aufsteigen auf den moralischen und gesell-
schaftlichen Druck, der mich sogar unter diesen Umständen meine
Triebe beherrschen ließ.

Zwei
Ich fuhr zur Klinik, wo Schwester Motoko mich mit verschwollene
Augen erwartete.
»Ist unserem Patienten etwas zugestoßen?«
Sie wusste, dass ich Akio Tanno gegen seinen Willen aus d
Wohnung der Owadas in die Klinik gebracht hatte. Aber sie wie der
Frage aus.
»Ich habe dauernd versucht, Sie zu Hause zu erreichen, Doktor
Uemura«, sagte sie. Sie war offensichtlich erregt. Ihr sechster Sinn
schien ihr zu verraten, dass ich die Nacht mit einer fremden Fr
verbracht hatte.

61
»Ich habe die Serviererin aufgesucht, Tannos angebliche Freundin.
Sie heißt in Wirklichkeit Hiroko Nakazawa, und ihre Beziehung
scheint weder physisch noch gefühlsmäßig weit gediehen. Ich denke,
der Zufall hat sie zusammengeführt, und eine Zeit lang haben sie sich
auch irgendwie verstanden.«
»Ich weiß, dass Akio und das Mädchen sexuell nichts miteinander
hatten. Aber bei Ihnen war das anders, nicht wahr? Sie haben die
Nacht mit ihr verbracht.« Ihre Verbitterung war eindeutig. Motoko
hatte wohl einiges durchgemacht. Sie sah aus, als habe sie die ganze
Nacht nicht geschlafen, ihre Augen waren verschwollen und ihre
Uniform zerknittert.
»Das ist total blödsinnig«, sagte ich. »Ich wollte lediglich mit ihr
reden, mehr nicht. Jugendliche wie sie, ohne Halt, Straßenkinder fast,
die haben wirklich Probleme. Auch wenn sie schon bis über beide
Ohren in Schwierigkeiten stecken, erkennen sie es nicht. Und selbst
wenn man sie auffordern würde, kämen sie nie freiwillig ins
Sprechzimmer, auf die Couch. Man muss sie aufsuchen, das ist der
einzige Weg.«
»Das ist doch nur eine Ausrede, Doktor.« Ihre Augen funkelten.
»Ohne diese salbungsvollen Worte hätten Sie sich dieses kleine
Abenteuer doch nicht erlauben können. Warum geben Sie nicht ein-
fach zu, dass Sie mit ihr schlafen wollten, dass Sie scharf waren auf
ihren jungen Körper. Sie haben es sich bisher nur nicht erlaubt, weil
Sie Arzt sind!«
»Was ist los, Schwester Motoko? Sie müssen völlig übernächtigt
sein.« Bei meinen Worten brach sie in Tränen aus und warf sich an
meine Brust. Ich klopfte ihr sanft auf den Rücken. Es war vollkom-
men ungewöhnlich, dass sie ihre Gefühle so offen zeigte.
»Was ist geschehen? Was hat Sie so durcheinander gebracht? Sagen
Sie die Wahrheit.«
»Das Mädchen hat gerade angerufen. Sie wollte mit Akio Tanno

62
sprechen. Ich sagte ihr, es sei noch keine Besuchszeit und ich könnte
sie nicht verbinden, und da bat sie mich, ihm etwas auszu-
richten.«
»Und was war das?«
»Ich sollte ihm ausrichten, auch wenn sie mit Ihnen geschlafen
habe, sei er doch der Einzige, den sie wirklich liebe ... Ich war so wü-
tend, dass ich gar nicht richtig verstand, was sie sagte ...«
»Das Gerede von Patienten sollten Sie nicht ernst nehmen.«
»Heißt das, sie ist gestört?«
»Möglich. Sehr wahrscheinlich sogar. Jedenfalls haben wir nichts
miteinander. Ich habe die Nacht mit ihr zusammen verbracht, aber wir
haben nur miteinander geredet.«
Schließlich hatte ich sie beruhigt und ging zu meinem Patienten.
Motoko Kusano war also in mich verliebt. Aber da gab es noch Frau
Owada. Sie hatte unbestreitbar etwas Geheimnisvolles. Und es ist nun
mal so, dass Männer sich von geheimnisumwitterten Frauen besonders
angezogen fühlen.
Akio Tanno saß auf seinem Bett und blätterte in einer Illustrierten.
Er hatte eine Modeseite aufgeschlagen und schien Models in
Badeanzügen zu betrachten, aber sein Blick wirkte abwesend. Er be-
fand sich eindeutig in einem Tagtraum. Wie ein verwirrter kleiner
Vogel kam er mir vor, ein Vögelchen, das heimgekehrt ist, um Ruhe zu
finden.
»Wie gehts?«, fragte ich.
»Nicht schlecht, danke.« Seine Antwort wirkte normal. Sein Ver-
halten hatte sich in der Tat dramatisch geändert. Genau von dem
Augenblick an, da er in den Leila-Apartments Frau Owada erblickt
hatte. Von da an schien er sein seltsames Vorhaben nicht mehr ver-
folgen zu wollen. Ich hatte allerdings noch immer keine befriedigende
Erklärung, warum er überhaupt so lange an seiner Überzeugung
festgehalten hatte. Eine Sache stand unbestreitbar fest: Er hatte

63
etwas ihm völlig Unbegreifliches beobachtet. Ich setzte mich an sein
Bett und ergriff sein Handgelenk. Der Puls war fast normal.
»Ihr Befinden hat sich weiter gebessert, nicht wahr, Akio? Wenn
Sie noch eine Nacht ordentlich schlafen, sind Sie wieder auf dem
Damm. Aber ich würde gern mehr über den Schock erfahren, den Sie
erlebt haben.«
»Doktor Uemura ...« Er schaute mich an, ernst und aufrichtig.
»Ich habe nachgedacht. Ich möchte meine Aussage zurückziehen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie falsch ist?«
»Nein, das nicht. Es ist nur, dass die Person, von der ich dachte,
ich hätte sie getötet, ich meine, erschossen ... nun, das muss ich ge-
träumt haben.«
Ich ließ seine Hand los. Um seinen Gedankenfluss nicht zu unter-
brechen, zog ich die Gardine zu, knipste die Nachttischlampe an und
setzte mich auf den Schwesternstuhl an der Wand. Ein gutes Zeichen,
dass Tanno endlich begann, über seine Träume zu sprechen.
»Ich träume immer wieder, dass ich am Meer bin. Das Wasser ist
dunkelblau und glitzert im Sonnenlicht. Als kleiner junge bin ich oft
mit meinem Vater zum Angeln nach Enoshima gefahren. Aber in
meinem Traum war ich nicht in Enoshima. Und ich hatte auch nicht
die rote Angelrute meines Vaters bei mir, sondern den Lauf eines
glänzenden schwarzen Jagdgewehrs.«
»Waren Sie mit Ihrem Vater mal auf der Jagd?«
»Nein, nie. Wir hatten zu Hause auch keine Waffe. Außer im Traum
habe ich nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Ich gehe also mit dem
Gewehr ohne Kolben am Ufer entlang, und auf einmal bin ich in
einem Wald. Dort sehe ich eine Frau. Mal ist es Frau Owada, mal
meine Kommilitonin Michiko Hayashi und mal die Serviererin aus
dem Café, Hiroko Nakazawa.«
»Wie sind die Frauen in Ihrem Traum gekleidet?«

64
Er überlegte. »Meistens haben sie einen Badeanzug an. Ich sehe ihre
unbekleideten Arme und Beine vor mir, aber sie sind nicht nackt. ...
Und sehen Sie, jedes Mal ... jedes Mal gebe ich mit dem Gewehr einen
Schuss ab. Einen lauten Schuss. Bang! Und der weckt mich auf.«
»Heißt das, dass Sie in Ihrer Aussage einen Traum beschrieben
haben? Denken Sie gründlich nach. Die Szene in ihrer Aussage spielt
nicht am Meer, es weckt Sie kein Schuss, und - besonders wichtig - Sie
sagen, Sie hätten Ihre lange Waffe liegen lassen.«
»Genau. Darüber denke ich ja die ganze Zeit nach. Eins steht fest:
An jenem Tag bin ich zu Frau Owada gegangen, in ihre Wohnung.
Das war kein Traum. Und da habe ich sie wohl vergewaltigt, denn als
ich nach Hause kam, hatte ich ein fürchterlich schlechtes Gewissen,
auch das steht fest. Und seitdem träume ich von dem Jagdgewehr.«
Er sprach von sich wie von einem anderen Menschen. Aber
immerhin hatte er angefangen, seine Erfahrungen zu interpretieren
und sich von ihrer Existenz zu überzeugen. Als er die Vergewaltigung
eingestand, schöpfte ich wieder neue Hoffnung.
»Gut, ich informiere die Polizei, dass Sie Ihre Aussage zurückzie-
hen«, sagte ich so beruhigend wie möglich. Akio sollte sich wohl
fühlen.

Drei

Der Verwaltungsrat traf am Nachmittag im Fall Akio Tanno eine


Entscheidung. Man wollte seinetwegen keine neuen Unannehm-
lichkeiten. Die Polizei würde einen offiziellen Bericht erhalten, dem-
zufolge bei Akio Tanno schizophrene Züge diagnostiziert worden
seien und er ab sofort als normaler Patient geführt werde. Alle Betei-

65
ligten waren erleichtert, dass der Patient in die Klinik zurückgekehrt
war.
Abends um sechs, bei Arbeitsende, verspürte ich auf einmal eine
unendliche Erschöpfung. Zu den Anstrengungen, die hinter mir
lagen, kam noch hinzu, dass ich auch in der vergangenen Nacht nicht
geschlafen hatte.
»Doktor Uemura, ich muss unbedingt etwas mit Ihnen besprechen.
Würden Sie mit zu mir kommen, in meine Wohnung?« Fast erleichtert
vernahm ich Schwester Motokos Stimme. Sie stand unter dem großen
Ginkobaum im Klinikpark und hatte anscheinend auf mich gewartet.
»Ich bin verdammt hungrig«, sagte ich. »Gibts in Ihrer Wohnung
was zu essen?«
»Ich habe Rindfleisch im Kühlschrank und kann Ihnen ein Steak
machen. Kommen Sie, ich strenge mich an, Sie werden es nicht be-
reuen.« Motoko hatte den nüchternen Klinikjargon abgelegt; auf
einmal klang ihre Stimme lebendig und entspannt. Das änderte sich
auch nicht, als wir in ihre Wohnung kamen. Motokos Einzimmer-
apartment, im obersten Stock gelegen und mit einer schönen Aussicht,
war ziemlich klein, aber, wie bei vielen allein stehenden Frauen, sauber
und aufgeräumt.
»Glauben Sie Akio Tannos neuestes Geständnis, Doktor Uemu-
ra?«, fragte sie unvermittelt.
»Eigentlich nicht. Ich dachte nur, wenn wir es in der Form vorle-
gen, kämen wir glatt durch die Sitzung.«
»Das ist gelogen!«, sagte sie wütend. »Sie haben doch in der Sitzung
selbst gesagt, er habe seine Aussage gemacht, weil er Frau Owada
vergewaltigt hat. Sie haben gesagt, das sei die stimmigste
Interpretation ...«
»Aber ich wollte doch nur verhindern, dass er eine Mordanklage an
den Hals kriegt.«

66
»Ach so, und wenn wir uns auf Vergewaltigung einigen können, ist
alles in Butter, meinen Sie?« Sie funkelte mich empört an.
»Nun, Frau Owada leugnet, dass es zu der Tat gekommen ist, und
rein rechtlich gesehen hat eine Vergewaltigung nicht stattgefunden.
Was ein Patient in seinen eigenen vier Wänden erzählt, ist irrelevant.
»Sie wollen sich doch allesamt nur vor der Verantwortung drü-
cken.«
»Keineswegs. Ich wünschte nur, wir könnten uns länger mit ihm
befassen, das ist alles.«
Meine Stimmung sank, und ich sagte nichts mehr. Warum hatte sie
mich in ihre Wohnung geschleppt, wenn sie nur auf mir rumhacken
wollte? Ohne die weiße Schwesterntracht sah sie aus wie jede x-
beliebige junge Frau.
»Wissen Sie, Doktor Uemura, ich kann einfach nicht glauben, dass
Akio Tanno Frau Owada vergewaltigt haben soll.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe ein kleines Experiment mit ihm durchgeführt.« Sie
schaute mir direkt in die Augen.
»Was für ein Experiment?«
»Nun, Sie haben sich letzte Nacht auf der Station nicht sehen lassen
... und ich hatte den Patienten ganz allein unter Beobachtung ... « Sie
schlug die Augen nieder. Ich glaube, ich wusste, was sie gleich sagen
würde. Plötzlich brauchte ich eine Zigarette.
Er weinte, wirklich. Es gab kein Anzeichen für drohende Ge-
walttätigkeit, aber ich dachte, wie schrecklich es wäre, wenn er wieder
ausreißen würde oder sich gar umbrächte. Ich beschloss, ihm den
Rücken zu massieren und ihm zuzuhören. Vielleicht ging ich damit ein
bisschen zu weit, aber ...«
Ich saß schweigend da.
»Nach einer Weile sagte er sehr ruhig: Ich muss Frau Owada

67
wohl wirklich vergewaltigt haben.“ Er tat mir schrecklich Leid, so
schuldbeladen, wie er sich offenbar fühlte. Ohne es gleich zu merken,
wiegte ich seinen Kopf in meinen Armen. Sein Haar ist so weich, wie
bei einem Baby ... und während ich sein Haar streichelte, spürte ich
plötzlich Zuneigung für ihn. Er wiederholte, wie Leid ihm Frau
Owada tue, und drückte weinend sein Gesicht an meine Brust. Er
wirkte sehr verstört. Ich hasste Frau Owada plötzlich, aber es war
wohl eher Eifersucht, weil sie die Männer so anzieht. Was meinen Sie,
Doktor?«
»Ich weiß nicht recht«, antwortete ich so neutral wie möglich.
»Als ich über seine Haare strich, fühlte ich mich sehr einsam. Und
Sekunden später hatte ich meine Uniform aufgeknöpft, das war sein
Wunsch. Ich hielt ihn an mich gedrückt, damit er mich spüren konnte,
so wie einen Säugling. Und genau wie ein Baby suchte er meine Brust.«
»Nun, das ... das übersteigt gewiss die Pflichten einer Kranken-
schwester«, stotterte ich.
»Ich weiß, aber ich hatte das Gefühl, dass er wie ein Blinder im
Dunkeln herumirrte, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod
balancierte.«
»Und wie sah Ihr Experiment aus?«, fragte ich.
»Wenn er gewollt hätte, wäre ich weiter gegangen, bis zum Letzten.
Aber er kam gar nicht auf die Idee. Deshalb habe ich dann ...« Sie
brach ab und seufzte tief.
»Nun, ich zog mich aus, bis ich nackt vor ihm stand. Ihn habe ich
auch ausgezogen, um ganz nah an ihn heranzukommen. Aber ...
sehen Sie, es passierte nichts.«
»Das heißt, Sie halten ihn für impotent?«
»Genau. Er war gar nicht in der Lage, Frau Owada zu vergewalti-
gen.«
»Vielleicht trat diese Impotenz erst gestern auf.«

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»Nein, Sie verstehen mich falsch. Es war nicht die übliche Angst
vor dem Versagen. Ich habe gespürt, dass er mir völlig vertraute. Und
wenn man es unter der Prämisse nicht schafft ... «
Ich schaute aus dem Fenster und sah in der Ferne ein hell erleuch-
tetes Baseball-Stadion. Ich wünschte, ich könnte mich auch so gehen
lassen. Ich fühlte mich viel verklemmter als Hiroko Nakazawa und die
Krankenschwestern meiner Station.
»Sie halten mich gewiss für merkwürdig, Doktor Uemura. Aber
sehen Sie, ich hatte ja nicht zum ersten Mal Sex ... und warum sollte
eine Frau nicht tun, was sie will?« Sie trat zu mir ans Fenster. Im
Dunkeln wirkte ihr Gesicht erheblich reizvoller.

69
6
Grüne Wasserlinsen

Eins

Ich saß im Foyer des Hotels und wollte mir gerade die fünfte Zigarette
anzünden, als ich Kyoko Hara auf mich zusteuern sah, halb verdeckt
durch die Wedel einer dekorativen Pflanze. Ihre figurbetonte
Stewardessenuniform hatte sie gegen ein schimmerndes chinesisches
Satinkleid ausgetauscht.
»Tut mir Leid, dass ich Sie hab warten lassen“„ sagte sie, »aber ich
musste den Bus nehmen.«
»Das macht überhaupt nichts. Ich sollte Ihnen dankbar sein, dass
Sie einen Teil Ihrer Freizeit für mich opfern. Sie sind sicher müde und
möchten lieber schlafen.«
»Nein, ganz und gar nicht ... Meistens bin ich nach der Arbeit viel
zu müde und erschöpft, um Schlaf zu finden. Es liegt an den Nerven,
denke ich, man ist überreizt. Ich würde mich gern mit Ihnen
unterhalten.« Der hohe Seitenschlitz an ihrem Kleid ließ ein Stück
Schenkel aufblitzen.
Wir setzten uns an die Bar, und ich wollte die Rede rasch auf Cap-
tain Owada bringen. Doch zu dieser frühen Stunde war die Bar noch
leer, und da wir den Barkeeper nicht zum Zuhören ermuntern
wollten, redeten wir erst mal über Belangloses.
»Die Psychiatrie ist sicher ein anstrengender Beruf«, begann Kyoko
Hara.
»Wie kommen Sie denn auf die Idee? Andere medizinische Fach-
richtungen haben es da sicher schwerer.«

70
»Aber Sie tragen doch eine große Verantwortung«, blieb sie beim
Thema. »Führen Sie übrigens auch Pilotentests durch?«
»Nein, bisher nicht.«
»Captain Owada sagt, Sie hätten ihn mal getestet.«
Sicher nannte sie ihn auch im Kollegenkreis »Captain Owada«,
damit niemand merkte, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Mir war
aufgefallen, dass sie sich für unser Treffen extra dieses chinesische
Kleid angezogen hatte. Warum brachte sie jetzt Owadas Test ins
Gespräch?
»Was für ein Test soll denn das gewesen sein? Ich habe noch nie
einen der üblichen Pilotentests durchgeführt.«
Sie gab keine Antwort und leerte ihr Glas mit einem Schluck. Ihre
schlanken Finger hielten das Glas zart am obersten Rand gefasst.
Wenn sie etwas besaß, das Frau Owada fehlte, dann wohl eine gewisse
Sanftheit, deren sie sich selbst aber vermutlich nicht bewusst war. Ich
konnte gut verstehen, dass Captain Owada sich zu dieser vollbusigen
Schönheit mit der leicht bräunlichen Haut hingezogen fühlte. Jeden
Mann würde es wohl reizen, eine Weile mit ihr zusammen zu sein.
»Als Captain Owada zum Captain befördert wurde und den
psychologischen Test absolvierte, machte er sich Sorgen wegen der
Ergebnisse.«
»Waren die Ergebnisse denn negativ?«
O nein, er hatte überall optimale Werte - bei Konzentration,
Geduld, Urteilskraft und geistiger Ausdauer.«
»Das hört sich doch sehr gut an.«
»Ja, aber er meinte wohl, dass seine persönlichen Probleme seine
Leistung plötzlich beeinträchtigen könnten, etwa bei einer Sicht-
fluglandung. «
»Meinen Sie mit „persönlichen Problemen“ vielleicht unbewusste
Ängste?« Ich wollte ihr mit dieser Umformulierung ihres Gedankens

71
71

helfen. Sie überlegte kurz: »Das stimmt«, und führte entschlossen ihr
Glas zum Mund. Doch den rosa »Millionen-Dollar-Cocktail« hatte sie
längst ausgetrunken.
Ich dachte im Stillen, dass Frau Owada an ihrer Stelle wohl einen
trockenen Martini mit einer Olive trinken würde. Unwillkürlich
verglich ich die Frau des Flugkapitäns mit der Stewardess an meiner
Seite, ein Zeichen für meine prekäre seelische Verfassung. Ich war
unbewusst eifersüchtig auf den Piloten, der gleich zwei attraktive
Frauen für sich eingenommen hatte.
Nach kurzem Zögern bestellte Kyoko Hara sich noch einen
»Millionen-Dollar-Cocktail«.
»Der Captain sagt, dass er vielleicht bei einer Landung irgendwann
einen Fehler macht, und manchmal träumt er davon, einen Absturz zu
verursachen ... Ist das ein Zeichen für eine Neurose?«
»Nein, nicht unbedingt. Es ist normal, verdrängte Gefühle in einem
Traum herauszulassen. Ich träume zum Beispiel gelegentlich davon,
einen Patienten zu töten.« Der Barkeeper sperrte die Ohren auf,
während er das Eis für Kyokos Drink zerkleinerte.
»Aber im Fall von Captain Owada ist der Traum schon hart an der
Realität«, sagte sie. »Er glaubt allmählich an seine negativen
Erwartungen. Er hat mir mal eine Geschichte erzählt, eine wahre
Geschichte, wie er sagt. 1956 machte ein Pilot in den USA beim
Landeanflug einen Fehler; die Maschine stürzte auf einen Acker und
brach auseinander. Später untersuchte ein Psychiater im Auftrag der
für Havarien zuständigen Behörde das Liebesleben des Piloten. Er
fand heraus, dass der Mann in der Nacht vor dem Unglück mit seiner
Freundin im Bett gewesen war und sie aus irgendeinem Grund halb tot
geprügelt hatte. Das Mädchen starb zwar nicht, aber der Pilot dachte,
er hätte sie umgebracht. Erschreckend, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, dieser Mechanismus ist weit verbreitet und nicht

72
besonders Furcht einflößend«, sagte ich. »Das ist kaum anders beim
Taxifahrer, der nach einem Krach mit seiner Frau einen Unfall baut.
Es ist eigentlich genau dasselbe. Die meisten Autofahrer, die in einen
Unfall verwickelt werden, haben sich kurz zuvor mit ihrer Frau ge-
stritten, was aber nicht heißt, dass alle Unfälle durch Eheprobleme
verursacht werden ...
Ich schwieg. Mir war plötzlich etwas eingefallen.
»Wenn dieser Unfall in Amerika aber in Wirklichkeit gar nicht
passiert wäre, dann gäbe es Grund zur Sorge«, sagte ich.
»Das ist es ja gerade. Sehen Sie, ich ... ich habe die entsprechenden
Jahresberichte der Fluggesellschaft durchforstet, und an keiner Stelle
wird ein ähnlicher Unfall erwähnt.« Sie schaute mir in die Augen. »Ich
möchte Ihnen etwas zeigen. Sie müssten aber mit auf mein Zimmer
kommen.«
Mit diesen Worten glitt sie vom Barhocker. Dabei öffnete sich der
Schlitz an ihrem Kleid bis obenhin und ließ über dunklen Strümpfen
ein Stück hellen Schenkels erkennen. Ich zahlte und überlegte, ob sie
das wohl beabsichtigt hatte.

Zwei

Kyoko Hara brachte mich in ein Zimmer mit zwei Betten. Beide
wirkten unbenutzt. Aus ihrem Koffer holte sie ein kleines Päckchen,
das sie offenbar sorgsam hütete. Es war ein Taschentuch, in das ein
zusammengefalteter Briefumschlag eingewickelt war.
»Schauen Sie, Doktor Uemura.«
»Was ist das?«
Mit ernster Miene überreichte sie mir den Briefumschlag. Er ent-
hielt einen Bogen unbeschriebenes Luftpostpapier. Von meinen Kli-

73
73

nikpatienten war ich einiges an seltsamem Verhalten gewöhnt. Aber


ich wollte nicht glauben, dass diese schöne Frau gestört sein könnte.
»Und was hat es mit dem Papier auf sich?« Ich bemühte mich, ge-
lassen zu wirken.
»Lesen Sie. Dann wird es Ihnen klar.«
»Aber das Blatt ist unbeschrieben.« Ich war verwirrt. Um ganz
sicherzugehen, schaute ich noch einmal drauf. In einer Ecke befand
sich eine Art Markenzeichen, das Logo einer italienischen Firma. Ließ
mich meine Wahrnehmung im Stich? Aber dann sah ich endlich,
warum die junge Frau mir das Papier gegeben hatte.
»Wenn Sie normal draufschauen, können Sie nichts erkennen. Sie
müssen es in einem bestimmten Winkel gegen das Licht halten.«
Ich lehnte das Blatt an die Tischlampe und entdeckte Spuren von
Schriftzeichen, mit einem Kugelschreiber durchgedrückt. Wie ich
vermutet hatte, war es dieselbe Schrift wie in Akios Brief an Captain
Owada. Die Schreibweise war kindlich unbeholfen, als sei die linke
Hand benutzt worden.
»Der Schreiber hat mit der linken Hand geschrieben und dabei
kräftig aufgedrückt«, sagte ich.
Ja, das habe ich auch schon vermutet.« Sie schaute mich ernst und
nachdenklich an.
»Woher haben Sie die Seite?«
»Aus Captain Owadas Koffer.«
»Das ist italienisches Papier, nicht wahr?«
»Von einem Schreibblock, den ich ihm in Rom gekauft habe. Ich
verstehe nicht, dass er für diesen Brief ausgerechnet mein Schreib-
papier genommen hat, wo es doch im Hotel jede Menge Briefpapier
gab. Ich möchte wissen, an wen er Briefe schreibt und warum. Ich
liebe ihn nämlich ... Finden Sie meine Neugier krankhaft?«
»An wen hat Captain Owada diesen Brief adressiert, was meinen
Sie?«, fragte ich sie.

74
»An seine Frau oder an ... nein, vielleicht an eine andere Frau.«
»War es ein Liebesbrief?«
»Zuerst dachte ich, ja, aber als ich den Inhalt entzifferte, war ich
erstaunt. Sehen Sie, ich wusste von Anfang an, dass Captain Owada
den Brief des Studenten Akio Tanno selbst geschrieben hat.«
»Aber warum sollte er darin behaupten, dass seine Frau vergewaltigt
wurde?«
»Das verstehe ich eben nicht. Aber etwas verstehe ich sehr gut - er
hat diesen Brief geschrieben, um Sie zu täuschen. Worum mag es sich
wohl bei der langen Waffe handeln, von der er schreibt? Und warum
sagt er, dass seine Frau ums Leben kam?«
Ich setzte mich schweigend aufs Bett. Ich brauchte Zeit zum
Nachdenken. Als Owada mir neulich in der Bar den Brief zeigte, hatte
ich das winzige Hersteller-Logo entdeckt und gleich den Verdacht
gehegt, er sei selbst der Verfasser. Aber was dahinter steckte, war mir
nach wie vor völlig unklar.
»Warum zeigen Sie mir diesen Brief?«
»Ich bin beunruhigt, Doktor Uemura. Ich liebe Captain Owada und
spüre, dass ihn etwas ängstigt. Aber er redet mit mir nicht darüber,
keinen Ton. Und wenn ich sehe, was er in letzter Zeit so anstellt,
macht mir das heftige Sorgen. Ich habe Angst, dass er bei der nächsten
Landung einen Unfall baut, weil er sich nicht konzentriert, sondern in
Gedanken ganz woanders ist. Genau das fürchtet er ja auch.« Kyoko
Hara schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Ich
sprang auf und legte ihr tröstlich die Hand auf die Schulter.
»Kein Grund zur Beunruhigung. Captain Owada ist gewiss ein
verantwortungsbewusster und sensibler Mann. Er hat Ihnen nur von
dem nicht existenten Unfall erzählt, weil er sich damit eine Art
Sicherheitsventil verschaffen möchte.«
»Hoffentlich haben Sie Recht ... Aber nehmen Sie den Brief bitte
mit, und zeigen Sie ihn Captain Owada. Sagen Sie ihm, Sie hätten

75
ihn von mir. Und fragen Sie ihn auch, was es damit auf sich hat.
Wenn Sie das tun, bin ich beruhigt.«
»Abgemacht.« Ich nahm den Brief und ging zur Tür.
»Doktor Uemura?«
»Ist noch was?«
»Ach, Doktor Uemura, ich fürchte mich. Können Sie nicht noch
ein Weilchen bleiben?«
Ich trat zu ihr. Sie weinte. Tränen strömten über ihre Wangen. Sie
umschlang meinen Hals und brachte ihre leicht geöffneten Lippen
nahe an meine. Ihr Lippenstift war rosa.
»Ich fürchte mich, Doktor Uemura, aber wenn Sie mich küssen,
hab ich keine Angst mehr.«
»Aber lieben Sie denn nicht Captain Owada?«
Sie antwortete nicht. Sie presste ihre heißen Lippen auf meine. Ihre
Zunge schmeckte süß. Ich drückte sie fest an mich. Als ich sie losließ,
schaute sie mir in die Augen.
»Ich treffe Captain Owada hier im Zimmer. Jeden Donnerstag
treffen wir uns hier, wenn er nach Tokio zurückkommt, und schlafen
miteinander.«
Um wie viel Uhr erwarten Sie ihn?«
Um drei.«
Also in vierzig Minuten. Ich fühlte mich abserviert und leicht ge-
kränkt.
»Dann mache ich mich lieber auf den Weg. Ich werde Ihnen be-
richten, was ich über Captain Owada und seinen Brief herausfinde.«
»Aber ich habe Angst, mit Captain Owada allein zu sein«, sagte sie
flehend mit fast schriller Stimme, als ich mich zum Gehen wandte.
Das klang unecht. Vielleicht hatte sie als Studentin mal Theater
gespielt. Es schien ihr jedenfalls zu gefallen, sich zu inszenieren. Aber
geht es nicht jedem von uns so, in gewissem Umfang?

76
Drei

Als ich aus dem Fahrstuhl trat, spürte ich plötzlich heftigen Durst und
ging in die Bar. Tief im Innern wusste ich, dass Kyoko Haras Worte
mich an diesem Ort festhielten. Warum hatte sie Angst, Captain
Owada wiederzusehen? Und warum dachte sie an nichts anderes?
Der Zufall lenkte meine Schritte auf die Gartenterrasse neben dem
Swimming-Pool des Hotels. Oder war es vielleicht die Macht des
Unbewussten, die mich dorthin führte? Von meinem Platz aus
überblickte ich bequem den Hoteleingang. Wenn Captain Owada
käme, würde ich ein paar Worte mit ihm reden.
Auf den Liegestühlen am Pool aalten sich junge Frauen; ihre ge-
bräunten, von Sonnenöl glänzenden Körper steckten in knappen
Badeanzügen. Diese angenehme, von der Sonne beleuchtete Szenerie
vor Augen, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Aber mir fehlte
die Konzentration. Das Wasser im Schwimmbecken blitzte und
funkelte.
Ich zuckte zusammen. Mir fiel der Pool bei den Leila-Apartments
ein, mit seinem trüben, abgestandenen Wasser, das seit Monaten nicht
erneuert worden war. Und das Schild »Nur für Mitglieder!«. Warum
faszinierte mich dieser Pool so?
Just in diesem Augenblick meinte ich, in dem glitzernden Wasser
ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Ich stand auf, zog die Schuhe aus
und ging barfuß zum Beckenrand. Das Objekt meiner Entdeckung
winkte und kraulte zu mir herüber. Als sie Luft holte, schwanden alle
Zweifel - die Schwimmerin war Frau Owada.
Verblüfft beobachtete ich, wie sie sich mit ihren zarten Fingern,
deren Nägel rot lackiert waren, an der Beckenkante hochzog. Ich
suchte nach Worten.
»Sie können gut kraulen.«

77
»Ja, ich schwimme schrecklich gern. Erst in der Sonne liegen, dann
schwimmen und an nichts denken ...« Sie streckte mir ihren Arm
entgegen. Ich ergriff ihn und half ihr aus dem Wasser. Ihre Hand war
eiskalt.
»Haben Sie mich gesucht?«, fragte sie.
»Nein, keineswegs. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind. Ich
wollte mir nur mal den Pool anschauen.« Diese Worte schienen sie
zutiefst zu erschrecken. Entgeistert sah sie mich an. Schließlich sagte
sie:
»Ich bin Stammkundin im Kosmetiksalon des Hotels. Sie bieten
Ganzkörperschlammbäder an. Warum befassen sich Frauen nur so viel
mit Make-up und Schönheit?« Im Sonnenlicht wirkte ihre Haut wie
polierte Bronze. Einen Moment lang glaubte ich, mir würden die Sinne
schwinden. Wieso spürte ich in Frau Owadas Nähe immer so eine
merkwürdige Beklemmung?
»Ist Ihnen bekannt, dass Ihr Mann häufig in diesem Hotel ab-
steigt?«, fragte ich brutal. Ich musste meine aufkeimenden Gefühle
wegdrücken. Nur nicht verlieben!
»Trinken wir etwas?« Sie ignorierte meine Frage bewusst. »Ich hole
rasch mein Handtuch.« In ein blaues Seidenkleid gehüllt, kam sie kurz
darauf aus dem Umkleideraum und nahm sanft, fast zärtlich meinen
Arm. »Sie haben bestimmt jede Menge Fragen. Und ich würde gern
bei Ihnen eine Therapie machen. Wie hoch ist Ihr Stundensatz?«
»Ich würde Ihnen gar nichts berechnen, wenn Sie mir gegenüber
endlich einmal aufrichtig wären ...
»Als Arzt durchschauen Sie doch sicher Ihre Patienten, egal, wel-
che Lügen die Ihnen auftischen.«
»Nicht immer. Manchmal klappt es nicht«, sagte ich nüchtern. Im
Foyer ließ sie meinen Arm los. Ich schaute mich um. Zu meiner
Erleichterung war der Flugkapitän nicht in Sicht.

78
»Ich habe hier ein Zimmer; wollen wir uns die Drinks hochbringen
lassen?« Sie fuhr mit mir in die siebte Etage. Ihr Zimmer lag direkt
neben der Nummer 707; dort war ich vorhin mit Kyoko Hara
gewesen. Ich musste mich irren! Aber ein neuerlicher Blick auf die
Zimmernummer bestätigte, dass ich mich nicht irrte. Ob das Zufall
war? Sollte ich sie auf das Nachbarzimmer hinweisen?
Auch Frau Owadas Zimmer hatte zwei Betten, die ebenfalls un-
benutzt wirkten. Frau Owada sagte kaum etwas, bis der Barkellner die
Drinks serviert hatte. Dann schlüpfte sie aus ihren Sandalen und stellte
sich auf Zehenspitzen ans Fenster. Ich betrachtete geduldig die Olive
in meinem Martini und wartete, so wie ich in der Klinik manchmal
darauf wartete, dass ein erregter Patient sich wieder beruhigte. Früher
oder später würde Frau Owada anfangen zu reden.
»Dieses Zimmer lasse ich mir reservieren, wenn mein Mann im
Hotel ist. Die ausländischen Piloten der Fluggesellschaft wohnen hier.
Außerdem eine der Stewardessen.«
»Meinen Sie Kyoko Hara?«
»Sie sind gut informiert.«
»Glauben Sie, dass Ihr Mann bald kommt?«
»Er ist schon hier. Deswegen buche ich ja das Zimmer. Ich ticke
wohl nicht ganz richtig, weil ich das tue.« Mit einer eleganten Geste
griff sie sich an den Hals. Sie schien Halsschmerzen zu haben.
»Heißt das, Sie sind eifersüchtig?«
»Bewusst sicher nicht. Ich liebe ihn nicht, wissen Sie ... Aber die
beiden schlafen miteinander, und das ertrage ich nur, wenn ich mich
dabei im Nebenzimmer aufhalte.«
»Hören Sie dann auch Geräusche?«
»Aber ja, ich höre alles. Ich weiß genau, was für ein Gesicht er in
jedem Augenblick macht.« Sie ging zu einem Schrank und öffnete ihn.
Drinnen befand sich ein kleines Tonbandgerät samt Verstärker und
Kopfhörern.

79
»Damit belausche ich die beiden. Sie halten mich bestimmt für
absonderlich.«
Ich schaute ihr ins Gesicht. Etwas in meinem Innern wollte mich
zwingen, ihr zu glauben.
»Ich glaube Ihnen kein Wort, Frau Owada. Machen Sie Schluss mit
dieser Scharade, diesem vorgetäuschten Lauschangriff. So können Sie
mich nicht überzeugen, dass Sie sexbesessen sind.«
Schweigend kam sie auf mich zu, reckte sich barfuß auf die Ze-
henspitzen, wie eben am Fenster. Klein wie sie war, schlang sie ihre
Arme um meinen Hals, zog mich zu sich herunter. Ihre Lippen waren
leicht geöffnet, und ich sah ihre weißen Zähne.
»Ich habe Ihre Gedichte gelesen«, sagte ich. »Wer ist die Fumiko aus
der Widmung?«
»Schweigen Sie und halten Sie mich fest. Fumiko ist meine ver-
storbene Schwester.« Sie sagte das so leicht dahin, aber ich spürte, wie
sie bebte. Bebte das kleine Mädchen, das zum ersten Mal einen Mann
umarmt? Oder war es das drängende Verlangen nach Sex?
War sie wirklich davon besessen? Hatte sie Akio Tanno hereinge-
lassen und auf den Mund geküsst, wie er es in seiner Aussage be-
schrieb? Während die Zweifel mich überwältigten, brachte ich mein
Gesicht nah an ihres. Unsere Lippen berührten sich, und vor meinem
inneren Auge sah ich eine Wasserfläche, auf der sich sacht grüne
Wasserlinsen bewegten, wie auf dem Pool der Leila-Apartments. Und
das Verbotsschild stürzte krachend um.

80
7
Wasserspuren

Eins

Als ich durch das Tor der Universität schritt und zu dem schneewei-
ßen Uhrturm aufschaute, fühlte ich mich plötzlich erleichtert. Ich hatte
das Gefühl, nur hier gab es noch so etwas wie Reinheit. Ohne dass mir
klar war, wieso, hatte ich die Vorstellung von aufsprudelndem,
überschäumendem kaltem Wasser. Ein Zeichen dafür, in welche
Abgründe von Scheußlichkeit und Verderbtheit ich in den ver-
gangenen Tagen geschaut hatte.
Man führte mich in das Büro von Professor Miyakawa, wo mir
seine junge Assistentin Tee servierte, während ich auf Miyakawa
wartete.
»Der Professor überzieht den Unterricht gern um ein paar Minuten.
Sie müssen sich also noch ein wenig gedulden, aber ich denke, er wird
bald hier sein.« Die junge Frau verließ das Zimmer. Der warme Klang
ihrer Stimme hatte mich überrascht, ihr ungeschminktes Gesicht
wirkte eher herb.
Wie bei der Fachrichtung Europäische Geschichte zu erwarten,
standen in den Bücherregalen des Professors viele ausländische Werke.
Ich zog eine Napoleon-Biografie heraus und betrachtete das Gesicht
des kleinen Korsen, auf den der Wiener Psychologe Adler einst
folgendes Bonmot münzte: »Napoleon kompensierte sein kleines
Glied mit dem Griff nach der Macht.« In den Augen dieses infamen
Mannes auf dem Umschlagbild lag die Melancholie eines Verrückten
oder eines Tyrannen.

81
Hatte auch ich etwa verborgene Minderwertigkeitsgefühle? Wollte
ich mit meinem Vorhaben auch nur dieses oder jenes kompensieren?
Oder tat ich es schlicht aus Liebe?
Während ich vor mich hin sann, betrat der Professor lautlos das
Zimmer. An seinem weißen Hemd glänzten silberne Manschetten-
knöpfe wie bei unserer letzten Begegnung.
»Es tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Sind Sie auf interessante
Lektüre gestoßen?«
»Ich habe Napoleons Gesicht studiert. Es gibt gewisse Ähnlich-
keiten mit meinem Patienten.«
»Immer bei der Arbeit, wie ich sehe. Übrigens, was meinen Stu-
denten Akio Tanno angeht: Sie haben mir zwar freundlicherweise
mitgeteilt, dass er entlassen worden ist und wieder studiert - aber in
meinen Lehrveranstaltungen hat er sich noch nicht blicken lassen.«
»Wirklich nicht? Da hat er sich anders geäußert ...« Ich sprach nicht
weiter.
Miyakawa ließ sich auf einem wuchtigen Stuhl hinter seinem
Schreibtisch nieder und zündete sich eine Pfeife an. Ich würde ihn mit
ein paar Fakten konfrontieren. Er schien so etwas zu erwarten.
»Bei meinem letzten Besuch habe ich Sie gefragt, ob Sie eine Stu-
dentin namens Fumiko Hayashi kennen. Das wissen Sie sicher noch.«
»Natürlich weiß ich das noch.« Der Professor betrachtete hinge-
bungsvoll seine Pfeife. Auch wenn er mich nicht anschaute, registrierte
ich, dass sein Gesicht keinerlei Regung zeigte.
»Meine Frage zielte zwar auf Ihre Studenten, aber könnte es sein,
dass es in Ihrem privaten Bekanntenkreis eine Dame dieses Namens
gibt?«
Miyakawa gab keine Antwort, und ich redete weiter.
»Zum Beispiel eine Person, die Ihnen sehr nahe steht ...

82
Urplötzlich verzerrte sich sein Gesicht. Eine derart ungenierte Frage
hatte er offenbar nicht erwartet.
»Das ist ... meine Frau heißt so«, stammelte er, mühsam nach
Worten suchend.
»Fumiko Hayashi war ihr Mädchenname, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Warum haben Sie das nicht schon letztes Mal gesagt?«
»Was hat mein Privatleben mit meinen Studenten zu tun? Ihr
Verhalten ist beleidigend! Ich habe Ihnen nichts verschwiegen. Und
Sie sind schließlich kein Polizist.« Der Professor zitterte vor Wut und
schien sich kaum beherrschen zu können.
»Das ist sicher richtig, aber mein Patient ist Ihr Student. Könnte
Akio Tanno Ihrer Frau je begegnet sein?«
»Natürlich nicht! Wie sollte er auch? Was unterstellen Sie da, um
Himmels willen - wollen Sie meine Ehe zerstören? Sie sind doch nur
auf einen Skandal aus!«
Miyakawa war aufgesprungen und deutete mit ausgestrecktem
Finger anklagend auf mich. Sein Gesicht glühte. Eine über Jahre an-
gestaute, tief sitzende Wut schien ihn explosionsartig zu überwältigen.
Dennoch hatte sein Ausbruch etwas aufgesetzt Theatralisches.
Ich stellte keine weiteren Fragen und verließ eilig sein Büro. Ich war
selbst viel zu erschüttert, um zu bleiben. Meine Frage war ja nur
Ausdruck einer Vermutung. Aber Miyakawas Reaktion übertraf alle
Erwartungen.
Fumiko ... Einer Frau dieses Namens hatte Frau Owada ihren
Gedichtband gewidmet. Für Akio Tanno war der Name Fumiko zu
einer fixen Idee geworden. In meinem Erstaunen kam ich mir wie ein
Kind vor, das beim scheinbar planlosen Verrücken einiger Bauklötze
plötzlich entdeckt, ein Schloss gebaut zu haben. Sollte ich jetzt vor
dem Portal umkehren, oder sollte ich dem Bau und seinen
verwinkelten Gängen erst recht meine Neugier widmen?

83
Mir fiel eine kleine Geschichte Alfred Adlers ein. Stellen Sie sich
zwei junge Männer vor, der eine introvertiert, der andere extrovertiert,
die zusammen durch ein fremdes Land ziehen und eines Tages in der
Ferne ein wunderschönes Schloss entdecken. Der Introvertierte ist
davon überzeugt, dass solch ein Schloss natürlich schwer bewacht und
der Zutritt verboten ist, sie sich ihm also nicht nähern sollten. Der
Extrovertierte sieht die Lage ganz anders, nämlich völlig optimistisch:
In dem Schloss lebt selbstredend eine bezaubernde Prinzessin, die sie
freudestrahlend begrüßen und zum Übernachten auffordern wird.
Entgegen den Erwartungen beider Männer entpuppt sich das Schloss
als Militärmuseum. Ein bejahrter Wächter tritt in Erscheinung und
beginnt langatmig zu erzählen. Der Extrovertierte ist schrecklich
enttäuscht und überdies durch den redseligen Wächter genervt. Der
Introvertierte hingegen ist erleichtert wegen des nicht erfolgten
Arrests, und er freut sich, dass ihm jemand etwas über dieses schöne
Museum erzählt; er genießt die Situation.
Welcher der beiden jungen Männer war nun ich? Gleich wie, ich
verspürte Furcht und Unsicherheit, während ich vor meinem Schloss
aus Bauklötzchen stand. Um meine Gelassenheit wiederzufinden, ging
ich ins Raucherzimmer der Studenten am Ende des Ganges und
genehmigte mir eine Zigarette.

Zwei

Der Pool vor Frau Owadas Apartmenthaus sah trübe und schlammig
aus wie immer. Auf dem Wasser trieben braune Blätter, ein Anzeichen,
dass der Herbst längst angebrochen war. Auf dem weißen Schild mit
der Aufschrift »Aufenthalt im Poolbereich nur für Mitglieder« klebte
ein Zettel: »In diesem Sommer außer Betrieb«.

84
Ich rauchte am Pool eine Zigarette und stieg dann die Feuertreppe
an der Seitenwand des Gebäudes hoch. Wie zu erwarten, war die Tür
zum sechsten Stock nicht abgeschlossen. Sie reagierte auf leisen Druck
und öffnete sich lautlos. Ich trat über die Schwelle und stand vor einer
Wohnung. Es war die Wohnung von Frau Owada. Nach kurzem
Zögern läutete ich.
Bevor ich klingelte, hatte ich probiert, ob die Wohnungstür viel-
leicht offen war, doch ohne Erfolg. Frau Owada öffnete. Sie schien
aufgebracht.
»Was wünschen Sie? Melden Sie sich gefälligst im Foyer an, wenn
Sie zu mir wollen!«, sagte sie mit eiskalter Stimme und funkelnden
Augen. War das die Frau, die mich gerade noch am Swimming-Pool
des Hotels so leidenschaftlich angeschaut hatte? Mich überlief es kalt.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe. Ich hatte auf einmal
den Wunsch, Sie wiederzusehen«, stotterte ich.
»Sie meinen, einfach so, ohne besonderen Anlass?«
Ja, es gibt keinen besonderen Anlass. Aber selbst wenn es einen
gäbe, so wäre das ...« Ich konnte nicht weitersprechen. Frau Owada tat
einen tiefen Seufzer. Sie verstand das Ungesagte.
»Was meinen Sie mit „selbst wenn es einen Anlass gäbe ...“? Ich
hoffe, Sie wissen, was Sie sagen.«
»Ich hatte auf einmal das Gefühl, ich müsse unbedingt nachprüfen,
ob die Fluchttür abgesperrt ist.«
»Und haben Sie es nachgeprüft?«
»Ja, und wie ich vermutete, ist die Tür nicht abgeschlossen. Man
kann das Foyer umgehen, indem man die Feuertreppe benutzt.«
»Das sollte eigentlich unmöglich sein.« Frau Owada schaute mich
immer noch an. Obwohl ihre Augen völlig ausdruckslos schienen,
schimmerte an ihrem tiefen, dunklen Grunde ein Hauch von Emotion.

85
»Meinem Nachbarn ist kürzlich eine elektrische Orgel geliefert
worden. Sie passte nicht in den Aufzug und musste über die Feuer-
treppe hochgeschafft werden. Wahrscheinlich hat man einfach nur
vergessen, die Tür zuzusperren.«
Ihre Miene wirkte weicher und sanfter - ein bezauberndes, ver-
führerisches Lächeln entspannte ihr schönes Gesicht. Mit dem neuen
Ausdruck erinnerte sie mich an eine Mutter, die ein launisches Kind
besänftigen will. Mir schwindelte, und ich hatte das Gefühl, in einen
tiefen Sumpf einzusinken. Ihre Worte, ihre Miene hatten etwas
Lockendes, Unwiderstehliches. Doch ich war wild entschlossen, sie auf
Abstand zu halten, koste es, was es wolle. Meine Fingernägel bohrten
sich in meine Handflächen.
»Ich glaube, dass Sie die Tür zur Feuertreppe offen gelassen haben,
Frau Owada. Und nicht nur heute, sondern auch bei anderen Gele-
genheiten ... Eine Zeit lang fast jeden Tag. Akio Tanno ist sicher auch
über die Feuertreppe gekommen. Deswegen hat ihn der Pförtner nicht
gesehen.«
»Jetzt reden Sie schon wie Ihre Patienten. Das ist doch reine Spe-
kulation. Wenn Sie mir nicht glauben, kommen Sie in die Loggia. Von
dort kann man die Elektroorgel der Nachbarn hören.« Immer noch
ganz die Mutter, winkte sie mich herein.
Ich traute meinen Augen nicht: Das vormals dominierende Weiß
der Einrichtung war, bis hin zu Vorhängen, Lichtschaltern und ähn-
lichen Details, einem leuchtenden Orange gewichen. Ein strenger, fast
beißender Geruch erfüllte die Loggia; er schien von dem Gummibaum
und den anderen Pflanzen auszugehen, die in einer Ecke arrangiert
waren. Es roch nach Parfüm, und tatsächlich - auf dem Blumenständer
stand eine Flasche Eau de Cologne.
»Wie ich sehe, haben Sie sich neu eingerichtet.«
»Mein Arzt hat mir empfohlen, alle sechs Monate die Farben und
das Aroma der Wohnung zu verändern, um meine Stimmung zu be-

86
einflussen. Er ist natürlich kein Psychiater«, ergänzte sie mit einem
Anflug von Zynismus. Ich nahm es als Scherz und warf rasch einen
Blick in die Runde. Wenn ich mich nicht täuschte, hielt sich irgendwo
in der Wohnung ein Besucher auf. Nach meiner Theorie hatte Frau
Owada die Tür zur Feuertreppe aufgeschlossen, damit der Besucher
oder die Besucherin das Foyer umgehen konnte. Ich entdeckte
allerdings keinen Hinweis darauf, dass außer Frau Owada noch jemand
in dem Raum, wo sie ihre Sonnenbäder nahm, gewesen war. Der
kleine Tischaschenbecher war leer, und die Kippen in dem großen
Standaschenbecher trugen ausnahmslos die Spuren von Frau Owadas
Lippenstift. Ich schaute sie ein wenig enttäuscht an. Sie lächelte
charmant.
»Haben Sie sich gerade gesonnt?«, fragte ich.
»Ja.«
Mein Blick wanderte zu der orangefarbenen Couch. Sie war mit
einem großen Badetuch bedeckt. Auf dem Badetuch zeigte sich ein
großer dunkler Fleck.
»Darf ich mich setzen?«, fragte ich.
»Machen Sie sichs bequem ... ich besorge uns Tee.«
Frau Owada verschwand in Richtung Küche. Ich ging rasch zur
Couch hinüber und befühlte das Badetuch. Die Couch schien feucht.
Schweiß vielleicht? Die Wasserflecken entsprachen haargenau dem
Abdruck von zwei Oberschenkeln. Also ihr Schweiß. Der Gedanke
ließ mich erröten. Warum auf einmal solche Fantasien? Ich stellte mir
vor, wie Frau Owadas biegsamer Körper, einem Fliegenden Fisch
nicht unähnlich, anmutig im Pool herumschwamm.
Aber sie hatte wohl nur geduscht und sich dann auf die Couch ge-
legt. Wie dumm von mir, auch nur eine Sekunde anzunehmen, es
könnte noch jemand im Raum sein. Das einzige andere Versteck wäre
das Schlafzimmer.

87
Von meinem Standort aus konnte ich in die Küche schauen.
Gegenüber der Tür befand sich ein weiß emaillierter Kühlschrank. Ein
Riesending, wie man es aus Restaurants in Hollywoodfilmen kennt. In
Japan hat man normalerweise nicht so große Kühlschränke. Während
ich darüber nachsann, fiel mir auf, wie klinisch rein der weiße
Kühlschrank jetzt wirkte. Bei meinem ersten Besuch hatte die Farbe
Weiß noch die Wohnungseinrichtung dominiert.
»Haben Sie meinen Mann schon wiedergesehen?« Sie brachte den
Tee herein. Ihre Stimme klang freundlich.
»Nein, noch nicht.« Ich sah ihr in die Augen, innerlich immer noch
aufgewühlt. Jetzt konnte ich nur noch mein Ass aus dem Ärmel
ziehen.
»Heute habe ich nicht mit Ihrem Mann, sondern mit Professor
Miyakawa gesprochen. Er lehrt an Akio Tannos Universität. Kennen
Sie ihn eigentlich?«
»Nein.« Sie wandte mit sanfter Miene den Kopf ab.
Das ist nicht wahr., schrie ich lautlos. Sie kennen die Frau des Pro-
fessors. Gut möglich, dass sie Sie heute gar besucht hat ... Mein Blick
saugte sich an der geschlossenen Schlafzimmertür fest.
»Ich habe Ihre Gedichte gelesen. Der weiße Sommer. Das Buch,
das Sie mir neulich geliehen haben.« Neue Taktik.
»Und wie finden Sie es?«
»Die Gedichte sind interessant, aber am meisten hat mich die Tat-
sache beeindruckt, dass Sie das Buch einer Frau namens Fumiko ge-
widmet haben.«
»Sie sind ein merkwürdiger Mensch«, sagte sie mit ausdruckslosem
Gesicht und schenkte mir eine Schale Tee ein.

88
Drei

»Hoffentlich ist der Tee diesmal schlafmittelfrei«, sagte ich, nur halb
im Scherz.
»Nein, nein, keine Sorge. Ich habe nichts reingetan.«
Trotz dieser Versicherung kam es mir so vor, als sei der Tee unge-
zuckert bitterer als normal. Ich beschloss, in Sachen Widmung nicht
lockerzulassen.
»Die Ehefrau von Akio Tannos Professor heißt Fumiko.«
»Und was sagt mir das?«
»Während seines Klinikaufenthaltes bewies Tanno extreme Ab-
neigung gegenüber dem Namen Fumiko. Dieser Name bewirkte bei
ihm eine Art mentaler Blockade, an die wir nicht herankamen. Er
beharrte darauf, sich nicht an den Namen der Autorin von Das Tage-
buch eines Missetäters erinnern zu können; dabei kennt jeder Ober-
schüler den Namen Fumiko Hayashi.«
Frau Owada schwieg.
»Demnach stellt eine Frau namens Fumiko für seine Seele ein
Hindernis dar. Ich begann, unter seinen Freunden und Bekannten
nach einer Fumiko zu suchen.«
»Und hatten Sie Erfolg?«
»Ja. Es gibt eine Serviererin im Café beim Haupteingang der Uni.
Aber sie scheint ihm nicht sehr nahe zu stehen.«
Ich machte eine Pause, aber Frau Owada schwieg.
»Heute nun entdeckte ich, dass die Frau dieses Professors Fumiko
heißt. Aus unerfindlichen Gründen hat er mir das verheimlicht. Als ich
ihn nach seiner Frau fragte, bekam er einen Wutanfall.
»Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Nun, mir kam die Idee, dass Sie Ihre Gedichte vielleicht dieser
Ehefrau gewidmet haben.«

89
»Ich kenne keine Fumiko Miyakawa.« Frau Owada stand abrupt
auf und drehte mir den Rücken zu.
»Akio Tanno wusste, dass Professor Miyakawas Frau Sie hier be-
sucht. Irgendetwas ist passiert, das ihn zutiefst verstört hat ... Sie
verschweigen mir etwas, Frau Owada. Auch in diesem Augenblick.
Da ist doch jemand in Ihrem Schlafzimmer, stimm's?«
Den letzten Satz brüllte ich gegen ihren Rücken. Sie drehte sich
um. In ihren Augen flackerte Wut.
»Sie sind ja total übergeschnappt. Sie brauchen selbst einen Psy-
chiater. Wenn Sie verrückt genug sind, so was zu glauben, schauen Sie
doch selbst nach.« Mit diesen Worten ergriff sie das Eau de Cologne
und schmiss es mir vor die Füße. Die Flasche zerbrach nicht, aber der
Deckel sprang ab, und der Inhalt ergoss sich über den Fußboden.
Sie riss die Tür zum Schlafzimmer auf, und ich stürzte hinein.
Niemand zu sehen. Nur ein Doppelbett mit zwei weichen Kissen, wie
bei einem Ehepaar zu erwarten. Ich stand benommen da, erschöpft.
Sie trat vor mich hin. Barfuß reichte sie mir kaum bis zur Schulter.
»Sie sind doch nichts weiter als ein verliebter kleiner Bengel, der
eifersüchtig ist.« Ihre Stimme klang honigsüß, frei von aller vorherigen
Schärfe.
»Womöglich haben Sie Recht. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher.
Manchmal denke ich, ich müsste nur Akio Tannos Beispiel folgen.
Über die Feuertreppe zu Ihnen hinauf und ohne Zögern klopfen. Sie
schicken mich wie einen streunenden Hund fort, und ich bin wieder
der Alte. «
»Sind Sie jetzt zufrieden? Wie Sie sehen, ist niemand hier. Mein
Mann kommt erst morgen.«
Wie um ihre Aussage zu erhärten, drang plötzlich Musik durch die
Wand, auf einer elektrischen Orgel wurde eine schlichte, aber

90
melancholische Melodie gespielt, wieder und wieder. Auf einmal spürte
ich die Last des Herbstes.
Ich musste an den Swimming-Pool denken, der den ganzen Som-
mer außer Betrieb gewesen war, und vor meinem inneren Auge sah ich
das Schild »Aufenthalt im Poolbereich nur für Mitglieder«.
Plötzlich schloss Frau Owada die Augen. Hinter den üppigen
Lippen blitzten ebenmäßige Zähne auf. Ein fremder Mund. Wahr-
scheinlich war sie sehr einsam. Ich fühlte mich gnadenlos in die Tiefe
gezogen. Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und fand ihre
Lippen. Ich weiß nicht, wie lange - zehn, zwanzig Minuten, eine
Ewigkeit. Ich wollte eine verbotene Grenze überschreiten. Wieder
tauchte das Verbotsschild vom Pool auf. Dann verwandelte es sich in
das Antlitz von Akio und Frau Owada. Als wir auf das große Bett
sanken, wehrte sie mich mit beiden Armen energisch ab.
»Ich bin verheiratet. Ich leugne nicht, dass Sie mir gefallen, aber
weiter als bis hierher gehe ich nicht.« Sie sagte dies mit der merkwürdig
trockenen Stimme, die ich aus der Gegensprechanlage kannte. Mein
Begehren löste sich auf, wie auch meine Verwirrung.
»Kommen Sie nie wieder, wenn mein Mann nicht da ist. Die Fu-
miko, der ich mein Buch gewidmet habe, ist meine tote Schwester. Ich
kenne keine Professorenfrau ... und wenn mein Mann fort ist, hält sich
außer mir niemand hier in der Wohnung auf.«
Ich war wieder bei Sinnen und verließ das Schlafzimmer. Auf der
Couch in der Loggia war immer noch der große feuchte Fleck zu
sehen.
»Die Couch ist feucht«, sagte ich so dahin, ohne mit einer Antwort
zu rechnen. Ich fand die Stille unerträglich.
»Ich war gerade im Pool schwimmen ... «
»Sie meinen den Pool vorm Haus?« »Ja, natürlich.«
»Sie schwimmen in dem dreckigen Wasser, wo man nicht mal den
Grund sehen kann?«

91
»Warum denn nicht?«
Erst dachte ich, sie scherzte. Aber dann bekam ich eine Gänsehaut.
Ihre Miene war gelassen, ja sie lächelte sogar ein wenig. Aber ihr Blick
war unkonzentriert und abwesend in die Ferne gerichtet. Wie bei
einem Menschen, der das Gedächtnis verliert oder versucht, das
Aufkeimen einer überwältigenden Erinnerung zu unterdrücken. Ein
gefährliches Zeichen.
Ich musste den Pool in Augenschein nehmen, unbedingt. Seit mei-
nem ersten Besuch in diesem Haus war mir der Pool nicht aus dem
Kopf gegangen ... Der Boden dieses schlierigen, trüben Pools ...
Frau Owada ließ mich schweigend hinaus.

92
8
Eintauchen

Eins

Es war mein dritter Besuch in der Universität. Herbstregen hüllte den


Uhrturm in feuchten Dunst. Ich musste an eine wissenschaftliche
Studie denken, wonach das Wetter durchaus Anteil hat am akuten
Ausbruch einer Geisteskrankheit.
Mit diesen Gedanken betrat ich das Café neben dem Haupteingang.
Im Hotdog-Grill auf dem Tresen drehten sich die Würstchen.
»Arbeitet Fumiko Kawakami heute?«, fragte ich die verdrossen
wirkende Bedienung.
»Sie ist rausgeflogen. Hat zu viel blaugemacht.«
»Wissen Sie, wo sie jetzt arbeitet?«
»Keine Ahnung. Glauben Sie mir, eine wie die bleibt nirgendwo
lange.«
Fumiko Kawakami war bei den anderen Serviererinnen im Café
anscheinend nicht gerade beliebt. Das lag sicher an ihren aufreizenden
Klamotten wie an ihrer unverblümten Art. Ich bestellte einen Hotdog
und einen Kaffee. Mein Experiment würde schon im Ansatz scheitern,
wenn ich Fumiko nicht auftreiben könnte.
Ich nahm gerade einen Schluck Kaffee, als die Tür aufging und
Michiko Hayashi das Café betrat. Vermutlich hatte sie mich gesucht,
denn sie kam gleich auf mich zu und setzte sich neben mich.
»Sie waren in der Uni, Dr. Uemura, stimmts? Ich hab Sie ein
paarmal, so laut ich konnte, gerufen, aber Sie sind stur weitergegangen.
Ich bin Ihnen hinterhergerannt. Ich habe was für Sie.«

93
Und was?«
Das hier ist für Akio Tanno. Wie ich höre, ist er wieder auf Ihrer
Station.«
»Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
»Wieso - Professor Miyakawa heute Morgen im Seminar.«
»Seltsam!« Miyakawa wusste als Einziger, dass Akio Tanno aus der
Klinik entlassen war. Warum hatte er den Studenten solchen Unsinn
erzählt?
»Akio ist nicht mehr in der Klinik. Die polizeilich angeordnete
Observation wurde letzten Monat aufgehoben, und er hat die Klinik
verlassen. Er wolle sein Studium wieder aufnehmen, hat er gesagt.«
»Aber er ist zu keinem Seminar erschienen.«
»Ja, ich weiß. Seine Eltern haben heute angerufen. Vor zehn Tagen
hat er ihnen ein Telegramm geschickt, in dem er sie um Geld bat, um
nach Hause fahren zu können. Seitdem haben sie nichts mehr von ihm
gehört.«
»Somit weiß mal wieder keiner, wo er steckt?«
»Sieht ganz so aus.«
»Bestimmt ist er mit so einer Tussi wie dieser Fumiko Kawakami
unterwegs. Wenn Akio so weitermacht, fliegt er von der Uni. Nach
allem, was wir unternommen haben, ihm zu helfen ...« Ihre Augen
wurden feucht, und ihre Finger verkrampften sich um die Zeitschrift
in ihren Händen.
»Wissen Sie, Michiko, wenn ein Mensch erwachsen ist, kann man
ihm nicht mehr helfen. Wenn einer sich nicht selbst helfen möchte, ist
jeder Versuch von außen nur Zeitverschwendung.«
»0 nein, man kann einem anderen sehr wohl helfen. Zum Beispiel,
indem man ihn ermutigt.«
»Sie sind in Akio verliebt, nicht wahr?«
Ob ich ihn liebe oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich kann den
Gedanken nicht ertragen, ihn womöglich nicht wiederzusehen. Ich

94
war ja so blöd. Ich hätte mir auch die Kleider vom Leib reißen sollen
und mich an ihn ranschmeißen, wie das Mädchen im Café.« Michiko
Hayashi brach in hysterisches Schluchzen aus, wie eine Schauspielerin,
die von der eigenen Darstellung mitgerissen wird.
»Sie haben keine Ahnung, wo Akio jetzt sein könnte?«, fragte ich, in
der Hoffnung, sie ein wenig zu beruhigen.
»Nein, überhaupt keine«, sagte sie zwischen zwei Schluchzern. »Ich
dachte, er wäre in der Uniklinik. Er hat uns ein Gedicht für das Chor-
Mitteilungsblatt aus der Klinik geschickt, und ich habe die Redaktion
dazu gebracht, es zu drucken. Akios Gedichte sind wirklich gut, sie
sind so ehrlich. Einige im Redaktionskomitee meinten zwar, das
Gedicht sei zu schwer zu vertonen ... In meinen Augen ist der Text
aber viel wichtiger als die dazugehörige Melodie.«
Sie wischte sich die Tränen ab und schaute mich mitleidheischend
an. Ich bat sie, mir mehr über die Zeitschrift zu erzählen, die Tannos
Gedicht veröffentlicht hatte. Unter der Überschrift »Wie man Texte
und Musik für Aufführungen schreibt« waren drei Gedichte
abgedruckt, die Chormitglieder verfasst hatten. Akio Tannos Beitrag
stand an letzter Stelle. Das Gedicht war kurz, kryptisch und zweifellos
schwer zu vertonen, aber von einer starken Suggestionskraft, wie sie
Gedichten von Psychiatriepatienten häufig eigen ist.

Nicht mehr davonfliegen möchte ich


Möchte fliegen nicht mehr
Keine Revolverkugel mehr sein kein Schrapnellsplitter
Möchte mich nur treiben lassen In einem Becken den
Wasserlinsen gleich Wenn ich nur dürfte
Und das Antlitz einer wunderschönen Frau ist
die Sonne, die mich bescheint

95
»Was halten Sie davon? Alle sagen, es sei zu passiv, so 'ne Art Anti-
kriegsding. Optimistisch kann man es sicher nicht gerade nennen,
aber ... « Verunsichert hielt sie inne.
»Kann ich ein Exemplar haben?«
»Natürlich. Ich würde es ihm so gerne zukommen lassen.«
Als ich mich anschickte zu gehen, starrte Michiko auf die rotie-
renden Würstchen.
»Ich träume immer noch von Sex, Dr. Uemura. Und beim Auf-
wachen schäme ich mich«, sagte sie mit ernstem Gesicht.
»Machen Sie sich da mal keine Gedanken, Michiko. Solche Träume
hat jeder Mensch.« Michiko stammte offensichtlich aus einer
glücklichen Mittelschichtfamilie, wo man sich niemals Sorgen machen
musste um das Geld für die Schulspeisung, Ausflüge oder
ähnliche Dinge.

Zwei

In der Restaurant-Bar in Roppongi wusste ich plötzlich nicht mehr,


auf welcher Seite ich suchen sollte, links oder rechts. Angestrengt
dachte ich nach. Ja, links war richtig. Fumiko Kawakami war Akio
Tanno auf der linken Seite des Lokals begegnet.
Das Restaurant bestand aus zwei getrennten Hälften, links und
rechts vom Eingang. Im linken Teil sah ich weder Tanno noch Ka-
wakami. Fumiko entdeckte ich schließlich auf der anderen Seite; sie
saß am Fenster mit dem Rücken zu mir.
»Sitzt du immer hier?« Ich nahm ihr gegenüber Platz.
»Aber sicher. Und wer sind Sie, bitte schön?«
»Ich bin Akios Psychiater. Erinnerst du dich nicht, wir sind uns
schon begegnet?«

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Fumiko schaute mich konzentriert an, ihr Blick war indes ver-
schwommen, und die großen dunklen Augen schienen weit weg zu
sein. Wahrscheinlich hatte sie mit dem Bier wieder ein paar Schlaf-
tabletten konsumiert. Sie versuchte aufzustehen und stieß dabei das
Bier um. Schaum floss über den Tisch.
»Ach ja, Dr. Uemura. Stimmt, Sie haben mich in ein Hotel abge-
schleppt, ja, ja ...« Sie wandte mir ihr Gesicht zu und versuchte zu
lächeln, aber es reichte nur zur mürrischen Grimasse wie bei einer
alten Frau. Sie kippte vornüber auf den Tisch, mit dem Gesicht in die
Bierlache.
»Hoppla, reiß dich zusammen!« Ich hielt ihren Kopf. »Ist das der
Tisch, an dem du Akio kennen gelernt hast?«
»Stimmt, wir treffen uns immer hier.«
»Aber du sprachst doch vom Fensterplatz auf der anderen Seite.«
»So, hab ich das?«
Sie setzte sich aufrecht und schaute mich kurz an, bevor sie mit
ihren feuerroten Fingernägeln vor meinen Augen herumfuchtelte.
»Ich kann mich nicht erinnern, so was gesagt zu haben. Ich hab
Ihnen gesagt, wir haben links gesessen, da bin ich ganz sicher, links.«
Sie patschte mit der rechten Hand auf den Tisch.
»Hier, genau hier. Linker Hand.«
»Das ist aber deine rechte Hand.«
»Oh, ist sie das ...« Sie schaute mich mit leeren Augen an. Ein weiß
gekleideter Kellner erschien und wischte den Tisch ab. Damit
verschwanden auch die Schriftzeichen, die sie in den Schaum gemalt
hatte. Ich war mir nicht schlüssig, ob ihre Gedächtnisverwirrung auf
Schlaftabletten zurückzuführen war oder ob sie mich bewusst anlog.
»Ich bin wieder mal auf der Suche nach Akio Tanno, Fumiko. Hast
du ihn in letzter Zeit gesehen?«
»Nein, hab ich nicht. Ich suche ihn selbst.« Urplötzlich riss sie sich
zusammen und stand auf. »Suchen wir ihn doch gemeinsam.,

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96

»Aber wo anfangen?«
»Irgendwo auf dieser weiten Welt ... Es sei denn, er geht zu der
Fete.« Sie stützte sich schwer auf mich und tat zwei, drei Schritte.
»Von welcher Fete redest du?«
»In einer Wohnung in Harajuku. Das gibts eine Fete, wo jeder
hingehen kann.«
Sie winkte ein Taxi heran und schaffte es gerade noch, dem Fahrer
die Adresse mitzuteilen, bevor sie den Kopf an meine Schulter lehnte
und einschlief. Sie duftete zart nach Lavendel, ein Duft, der mich
erregte und zugleich traurig stimmte. Mit Lavendel verband sich eine
eindrückliche Erinnerung. Frau Owada benutzte das gleiche Parfüm.
Die Wohnung in Harajuku war groß und schien einem reichen
chinesischen Geschäftsmann zu gehören. Ein indonesischer Aus-
tauschstudent, der bei Abwesenheit des Chinesen die Wohnung hütete,
veranstaltete die Fete. Fumiko schien dazuzugehören, und ich wurde
als ihr Begleiter ohne weiteres eingelassen. Im Wohnzimmer und auf
der Terrasse waren vielleicht zwanzig Leute. Sie hielten Drinks in der
Hand, die mit Schlaftabletten aufgepeppt waren. Die meisten Gäste
waren sehr jung.
»He, Doc, nehmen Sie sich einen Drink.« Fumiko reichte mir ein
Glas. Ich berührte es nur kurz mit den Lippen, bevor ich es abstellte.
»Akio scheint bisher nicht aufgetaucht zu sein. Ich hab ihn letzte
Nacht hier gesehen. Eigentlich wollte ich mit ihm weg, aber es gibt
eine Regel, dass man nicht die ganze Zeit mit demselben Partner zu-
sammenbleiben darf. Nach einer Weile ist Akio dann mit einer an-
deren weggegangen. Sie kam mir relativ wild vor.« Fumiko sprach
vernünftig, als hätte die Eifersucht sie ernüchtert.
Ich nahm mein Cocktailglas und ließ sie allein, um mich ein wenig
umzusehen. Ich schaute mir die Gäste an. Ob sie sich wirklich so gut
amüsierten? Sie schienen mir verzweifelt damit beschäftigt,

98
eine große innere Leere zu füllen. Wie sollte man sich wohl sonst das
Verhalten des jungen Mädchens erklären, das vor mir an der Bar
lehnte und die Krümel ihrer Zigarette in ihr Glas fallen ließ? Sie
schaute zu mir herüber, lachte und leerte das Glas mit einem Schluck.
Einige meiner Patienten legten ein normaleres Verhalten an den Tag.
Auf dieser Fete dräute ein Sturm. Ein Sturm in den Seelen ...
»Allein dürfen Sie da nicht hinein.« Der merkwürdige Akzent ließ
mich innehalten. An einer halb geöffneten Tür, die vermutlich zum
Schlafzimmer führte, stand ein dunkelhäutiger Mann mit Sonnenbrille.
»Nur zu zweit?«, fragte ich. Er nickte schweigend und drängte mich
grob zurück. Mich packte heftige Neugier: War Akio Tanno
womöglich da drinnen? Ich eilte zur Bar zurück, wo ich das lächelnde
Mädchen mit den Tabakkrümeln beobachtet hatte. Ich deutete in
Richtung Schlafzimmer.
»Nein, da nicht. Meine Mutti wär sonst sauer auf mich.« Das
Mädchen kicherte.
»Sie sollen nur kurz mit reingehen. Wie alt sind Sie überhaupt?«
»Pfui, man fragt eine Dame nicht nach dem Alter.« Sie kicherte.
»Ich bin sechzehn, wenn Sies unbedingt wissen wollen.«
Ich wandte mich ab, aber die Kleine kam hinter mir her. Sie trug
einen modischen engen Rock, der rund zwanzig Zentimeter über dem
Knie endete. Die Netzstrümpfe betonten ihre Figur, die für eine
Sechzehnjährige verdammt gut entwickelt war.
Jetzt hatte der sonnenbebrillte Mann an der Schlafzimmertür of-
fenbar nichts mehr einzuwenden. Sein Gesicht war ausdruckslos.
Vielleicht hatte er schon zu viel gesehen, um sich noch von irgendwas
schockieren zu lassen. Im Schlafzimmer sah ich junge Paare sich auf
dem Boden herumwälzen wie damals in den Sechzigerjahren in
Greenwich Village. Ich setzte mich mit meiner neuen Partnerin
ebenfalls auf den Fußboden.

99
In dem Moment bemerkte ich, dass sie einen Film an die Zim-
merdecke projizierten. Aber es war kein Pornofilm, wie zu erwarten.
Über die Decke flimmerte ein symmetrisches Fleckenmuster, gleich
einem Rorschachtest, nur vergrößert. Bei diesem Test sieht der
Proband, je nach Persönlichkeitstyp, in dem Muster vielleicht einen
Vogel, eine tanzende Gestalt oder ein Gesicht. Die psychologische
Struktur eines Menschen bestimmt seine Reaktion beim Rorschach-
test und auch, ob er eine ganze Gestalt oder nur einen Teil davon zu
erkennen vermeint.
Die Bilder wandelten sich unablässig, mal dramatisch schnell. mal
kaum wahrnehmbar, wobei die Farben der einzelnen Elemente
zwischen Rot, Blau und Violett changierten.
»Um Himmels willen, was ist denn das?“„ fragte ich.
»Menschen beim Sex. Hat ein Grafiker fabriziert, der Musik in
Bilder umsetzt. Wenn man nur lange genug draufschaut, fühlt man
sich total gut, wie im siebten Himmel, oder so ...« Das Mädchen schien
genau Bescheid zu wissen, war aber gleichwohl nicht sonderlich
interessiert.
Um uns herum war tierisches Gestöhne zu hören. Ich schaute
hierhin und dorthin, sah aber niemanden, der Akio Tanno ähnelte. Am
Fußende des Bettes entdeckte ich ein Pärchen und erkannte im Licht
des Projektors das Gesicht einer Frau. Ich verspürte Schrecken, fast
Schmerz. Es war Kyoko Hara, die Stewardess. Was tat sie hier, wenn
sie doch Captain Owada liebte? Ich konnte mich gerade noch
zurückhalten, sie anzusprechen. Es war schwer zu sagen, ob ihr Ge-
sichtsausdruck Lust oder Schmerz verriet.

100
Drei
Ich bestellte mir einen Drink an der Bar. Was für ein Schock, Kyoko
Hara an einem solchen Ort zu finden. Was hatte sie hier verloren? Ich
konnte mir dieselbe Frage stellen. Draußen auf der Terrasse tanzte
Fumiko Kawakami mit einem blonden Amerikaner. Sie schwankte
heftig.
Ich war beim dritten Drink, als Kyoko Hara in der Schlafzimmertür
auftauchte - blinzelnd, als träte sie aus tiefer Finsternis ins gleißende
Licht - und zur Bar herüberkam. Ohne mich zu bemerken, bestellte sie
einen Orangensaft, den sie wie eine Verdurstende in sich
hineinschüttete. Ihrer Miene nach zu urteilen war sie in die Realität
zurückgekehrt. Dennoch umgab sie ein Hauch vergangener Lust und
Verlassenheit.
»Kommen Sie öfter hierher?«, fragte ich sie plötzlich.
Kyoko Hara wandte den Kopf und riss überrascht die Augen auf.
Doch Sekunden später war ihr Blick so gleichgültig und leer wie zuvor.
»So sieht man sich wieder«, sagte sie nur.
»Warum tun Sie sich so was an?«, fragte ich.
Sie zog eine mit Türkisen verzierte Zigarettendose aus ihrer
Handtasche und fummelte ungeduldig eine Zigarette hervor.
»Ich dreh durch, wenn ich allein bin. Hier kann ich wenigstens
vergessen.«
»Was möchten Sie vergessen? Lieben Sie Captain Owada etwa
nicht?«
»Captain Owada hat heute bei der Landung auf Haneda den Hal-
tepunkt um sieben Meter verfehlt.«
»Ich bin kein Experte, aber bei einem Flugzeug scheinen mir sieben
Meter kein Grund zu sein, sich so aufzuregen.«
»Oh, doch, bei ihm schon. Captain Owada ist ein Pedant, fast ob-

101
sessiv. Bis zum heutigen Tag hat er eine Maschine nie mehr als drei-
ßig Zentimeter hinter dem Haltepunkt zum Stehen gebracht.« »Wird
das nachgemessen?«
»Er hat es mir selbst gesagt, es stimmt also. Sie wissen doch, er
macht sich Sorgen. Irgendwann in nächster Zeit ... Ich weiß nur, dass
er bald einen Unfall bauen wird ... Menschen werden sterben, und er
wird mit ihnen sterben ...« Ihre Schultern zuckten, und in ihren Augen
lag ein Ausdruck von Hysterie.
»Sie überinterpretieren diese Geschichte«, sagte ich. »Wenn wir in
jedem kleinen Irrtum eine Unfallursache sehen, können wir uns gleich
einsargen lassen.«
»Aber wie ein Pilot seine Maschine beherrscht, lässt Rückschlüsse
auf seine psychologische Verfassung zu. Ist das wissenschaftlich genug
ausgedrückt, Dr. Uemura? Das haben Sie selbst gesagt.« Sie schaute
mich erwartungsvoll an. An ihrer Bluse fehlte ein Knopf, und ich
erhaschte einen Blick auf ihren üppigen Busen.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Bitte, gern.« Sie schaute mich herausfordernd an.
»Sind Sie Captain Owada in letzter Zeit aus dem Weg gegangen?
Neulich, in dem Hotel, ist er nicht gekommen, oder doch?«
»Nein.« Sie vermied meinen Blick. Zwischen den beiden gab es
offenbar Unstimmigkeiten.
»Versprechen Sie mir, bitte, Captain Owada nicht zu sagen, dass
ich auf dieser Fete war.«
»Ich sage nichts.«
Sie wandte sich ab, griff nach ihrer Handtasche mit dem Leopar-
denmuster und marschierte davon. Ich überlegte, ob ich ihr folgen
sollte, als Fumiko Kawakami auftauchte.
»He, Doc, heute ist es hier total öde, hauen wir ab. Haben Sie mit
dem Mädchen geschlafen? Ich mein die, mit der Sie grade geredet
haben.«

102
»Nein. Ich kenne sie nur zufällig. An einem solchen Ort möchte ich
keine neuen Leute kennen lernen.«
»Aber hier geschieht doch nichts Böses. Übrigens kann ich Er-
wachsene nicht leiden. Die fühlen sich immer nur schuldig wegen
allem Möglichen.« Sie stapfte vor mir her, als sei sie wütend.
Auf der breiten Straße vor dem Haus konnte ich Kyoko Hara nir-
gends entdecken. Ich hätte länger mit ihr reden sollen. Vielleicht war
sie Akio Tanno auf der Fete begegnet.
»He, Doc, haben Sie nicht Lust, schwimmen zu gehen? Es ist
merkwürdig, aber ich muss irgendwas Verrücktes unternehmen.«
Fumikos Laune hatte sich anscheinend gebessert.
»Was sagst du? Es ist doch viel zu kalt. Du würdest dich nur erkäl-
ten. Und überhaupt, wo kann man denn mitten in der Nacht
schwimmen gehen?«
»Akio hat mir erzählt, dass es bei dem Apartmenthaus, wo er die
Frau umgebracht haben will, einen Swimming-Pool gibt. Ich wollte
schon lange mal hin. Sie kennen doch die Adresse, nicht wahr?«
»Akio hat niemanden getötet, das weißt du doch«, sagte ich scharf.
»Wenn er sagt, er hats getan, glaub ich ihm. Ich glaube ihm alles.«
Sie überredete mich, ein Taxi zu nehmen und als Fahrtziel Frau
Owadas Adresse anzugeben. Bald sahen wir das achtstöckige Gebäude
wie ein mittelalterliches Schloss vor uns aus dem Dunkel aufragen.
Das einzige Licht kam aus der Pförtnerloge und von der Feuertreppe
mit ihren roten Lämpchen.
»Wo ist der Swimming-Pool?«, fragte Fumiko.
»Also, nun mal halblang, Fumiko. Wir werfen einen Blick drauf.
Wenn du reinspringst, gibts Ärger, das sag ich dir.«
Um diese Jahreszeit war das Schwimmen in dem Pool bestimmt
kein Vergnügen. Das Wasser war kalt, aber schlimmer noch, es war
trübe und stank. Als ich am Pool stand, schaute ich zu Frau Owadas

103
Wohnung hinauf. Der Gedanke, dass sie dort oben ganz allein war,
schmerzte mich so, dass ich es mit Worten nicht beschreiben konnte.
Plötzlich ertönte ein lautes Platschen. Fumiko Kawakami, die nur
darauf gewartet hatte, dass ich woanders hinschaute, war in den Pool
gehüpft. Ihr grünes Kleid und die weiße Unterwäsche hatte sie aus-
gezogen und am Beckenrand liegen lassen. Vom Hauseingang näherte
sich ein Mann mit einer Taschenlampe, wahrscheinlich der Pförtner.
Verflixt, wir saßen in der Tinte.
In dem Augenblick ging in der Wohnung der Owadas das Licht an,
und am Fenster wurde eine Silhouette sichtbar, die aufs Haar Frau
Owada glich.

104
9
Nächtliche Spiegelung

Eins

Ich war tief deprimiert, ohne zu wissen, warum. Vielleicht lag es an


Kyoko, an ihrem so völlig hoffnungslosen Blick auf der Fete in Hara-
juku.
Damals auf dem Haneda-Flughafen, bei meiner ersten Begegnung
mit ihr, hatte ich den Eindruck gehabt, dass Captain Owada und sie
heftig ineinander verliebt waren. Sie hatten wie ein Paar gewirkt, und
Frau Owada wie die überzählige Dritte. Aber wenn Kyoko Hara ihren
Captain nicht mehr liebte, musste ich meine Theorie von der
Dreiecksgeschichte revidieren.
Kyokos Befürchtung, Captain Owada könne einen Unfall bauen,
beunruhigte mich. Wirklich alarmierend schien mir indes die Tatsache,
dass der Captain offenbar selbst diese Erwartung hegte.
Es blies ein kalter, unfreundlicher Wind. In einer solchen Nacht
von Vorahnungen geplagt zu werden war verzeihlich. Ein Dichter
hätte sich vielleicht zu einem Gedicht hinreißen lassen. Mich erfüllten
nur Unruhe und Besorgnis.
Es zog mich zu einem chinesischen Nachtclub in Ginza. Ich wählte
einen der billigsten Plätze, hinten im zweiten Rang, und wartete auf
den Auftritt von Kyoko Hara. Als ich den dritten Highball intus hatte,
erschien sie, in ein hochgeschlitztes, goldfarbenes chinesisches Kleid
gehüllt, auf der Bühne und sang.
Die Bühne wurde im Verlauf des Abends hydraulisch vom Parkett
bis in den obersten Rang bewegt. Als die Vorstellung zu Ende ging,

105
war der zweite Rang fast verwaist. Außer mir waren da nur noch ein
junges Pärchen und ein Student, der in ein französisches Buch ver-
sunken schien. Die Scheinwerfer waren zwar auf die Bühne gerichtet,
dennoch erkannte Kyoko mich sofort, als ich ihr mit meinem Glas
vom Zuschauerraum aus zuwinkte. Keine fünf Minuten später
tauchte sie im zweiten Rang auf und setzte sich neben mich.
»Was machen Sie hier?«, wollte sie wissen.
»Mir ist klar geworden, dass ich Ihnen nicht wirklich zugehört
habe, als Sie von Captain Owada und Ihrer Unfalltheorie erzählten.«
Mein Blick fiel auf den Schlitz in Kyokos Kleid. Ich sah glatte
weiche Haut. Plötzlich fiel mir ein, wie genüsslich sie in der Flugha-
fenbar die Eiskrem zum Mund geführt hatte.
»Vielleicht kann ich das ja mit einem Eis wieder gutmachen,“, sagte
ich.
»Wenn Sie wollen. Außerdem habe ich als Mitarbeiterin auf alles
fünfzig Prozent Rabatt, und es wäre Verschwendung, das nicht zu
nutzen. Aber sagen Sie, woher wussten Sie, dass ich hier auftrete?«
»Ein Mädchen hats mir auf der Fete in Harajuku erzählt. Man hält
Sie dort für eine Sängerin, nicht wahr?«
»Ja, schon, ich hab immer gern gesungen, und am Ende einer
Schicht bin ich meist mit den Nerven ziemlich fertig. Dann darf ich
hier singen. Zu meiner Entspannung. Ist eigentlich nur ein Spaß.«
»Der Typ, der den Club managt - dem gehört auch die Wohnung in
Harajuku, stimmts?«, fragte ich. Sie schwieg und zündete sich mit
einem golden glänzenden französischen Feuerzeug eine Zigarette an.
Ich ahnte, was ihr Schweigen besagte. Weil sie in dem Nachtclub
auftrat, wurde sie zu den Feten in Harajuku eingeladen, doch erst nach
der Trennung von Owada ging sie auch hin.
»Sie singen sehr gut. Ihre Stimme ist warm und gefühlvoll, wirklich
attraktiv ... Sie hat mich bewegt.« Das Kompliment war nicht nur so
dahingesagt. Ich war wirklich berührt.

106
Denk daran, wie ich dich einstmals liebt“ Und
wie auch du mich hast geliebt ... Vom Leben
fortgespült ist unsere Liebe Wie ein
Fußabdruck im Sand.

Die Worte waren reichlich sentimental, aber sie sang sie mit Gefühl.
»Ich überlege, ob ich meine Arbeit nicht aufgeben soll«, sagte sie
plötzlich.
»Weshalb?«
»Es gibt mehrere Gründe.« Sie blickte zu Boden. Ein Lichtstrahl
streifte den Sternsaphir an ihrer linken Hand und brachte ihn zum
Funkeln. Sitzt der Ring am dritten Finger der linken Hand, heißt das
gemeinhin Verlobung. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht - sie hatte
meinen Blick bemerkt.
»Ach, der Ring. Das ist nur ein Glücksbringer. Ich bin nicht
verlobt.«
»Verzeihen Sie, falls ich Ihnen zu nahe trete, aber war Akio Tanno
je Ihr Partner in Harajuku?«
Kyoko schwieg. Sie schaute mir in die Augen: »Wissen Sie, wenn ich
dorthin gehe, bin ich immer völlig stoned ... kann mich nicht daran
erinnern, mit wem ich zusammen war.«
In ihren Augen lag weniger Beschämung denn Verzweiflung. Wir
erhoben uns gleichzeitig, wie auf geheime Verabredung, um aufzu-
brechen.

Zwei

Kyoko hatte sich umgezogen und trug ein elegantes ockerfarbenes


Kostüm, als wir auf die Straße traten. Vielleicht wirkte sie deswegen
reifer als vorher.

107
»Hat Captain Owada heute nicht seinen freien Tag?«, sagte ich.
»Ja, schon. Er wird aber nicht mehr im Passagierverkehr eingesetzt.
Er fliegt jetzt Frachtmaschinen nach Vietnam; er hat selbst darum
gebeten«, sagte sie knapp und legte in einer natürlich wirkenden Geste
ihre zarte Hand auf meinen Arm.
»Sehen Sie ihn denn nicht mehr? Sonst haben Sie sich doch immer
im Hotel getroffen?« Ich musste daran denken, wie aufgeregt sie
neulich ins Hotel spaziert war und wie Frau Owada blitzenden Auges
in dem blauen Pool ihre Bahnen zog.
»In letzter Zeit ist Captain Owada mir aus dem Weg gegangen,
auch an seinen freien Tagen.«
»Seit wann?«
»Das kann ich nicht genau sagen, aber bestimmt schon drei Wo-
chen.« Ich spürte, wie ihre Hand auf meinem Arm zuckte. Wir nä-
herten uns dem Hibiya-Park; vor uns im Neonlicht sahen wir die
Umrisse mehrerer Paare.
»Möchten Sie mir erzählen, wie Ihre Affäre mit Captain Owada
begonnen hat? In anderen Worten, welche Rolle er in Ihrer Beziehung
gespielt hat?«
»Ich dachte immer, es ist sicher schrecklich für Frau Owada, und sie
tat mir aufrichtig Leid. Daran hat sich natürlich nichts geändert ... aber
als wir ein Liebespaar wurden, erzählte er mir, dass er und seine Frau
sich sexuell längst auseinander gelebt hatten.«
»Das war vor einem Jahr?«
»Genau. Ich habe ihn gefragt, warum er sich nicht scheiden lässt. Er
hat mir keine eindeutige Antwort gegeben. Seine Frau ist wohl gegen
eine Scheidung.«
Merkwürdig, was Kyoko da sagte.
Mir gegenüber hatte Frau Owada stets behauptet, ihr Verhältnis zu
ihrem Mann sei befriedigend. Ich erinnerte mich, dass sie das bei

108
mehreren Gelegenheiten sagte. Natürlich ging ich davon aus, dass sie
sexuelle Erfüllung meinte.
Ich schwieg eine Weile.
Außerdem beschäftigte mich die Frage, warum Frau Owada sich die
Mühe gemacht hatte, ihren Mann in dem Hotel mit einem Kas-
settenrekorder zu belauschen. Wie ich es auch drehte und wendete, ich
fand keine zufrieden stellende Erklärung für ihr Verhalten.
»Wussten Sie beide eigentlich, dass Frau Owada jedes Mal im
Nachbarzimmer logierte?«
»Was sagen Sie da?«, fragte Kyoko. »Das glaube ich nicht. Warum in
aller Welt sollte sie so was tun?« Ich spürte förmlich, wie sie er-
schauerte.
»Vielleicht aus Liebe. Um ihre Zuneigung zum Ausdruck zu brin-
gen, wenn auch nur in Form von Eifersucht. Ich glaube nicht, dass sie
nur herauskriegen wollte, was ihr Mann und seine Geliebte mit-
einander trieben. Dazu ist sie zu klug.«
»Sie sind verliebt in Frau Owada, stimmts?«, meinte Kyoko.
»Nun, es ist richtig, dass ich sie sehr sympathisch finde.« Ich
merkte, dass ich an diesem Gespräch zunehmend Gefallen fand. Zu
viel Gefallen. Wichtig war doch nur, Akio Tanno wiederzufinden.
»Ich bin auf der Suche nach meinem Patienten. Seit einer Woche,
genauer gesagt seit der Party, gibt es kein Lebenszeichen mehr von
ihm. Womöglich hat er in Harajuku erneut ein Trauma erlitten. Bei
einem so jungen Mann wie ihm kann jedes sexuelle Erlebnis die ganze
Welt aus den Angeln heben.«
»Sie glauben, dass ich auf der Party mit Akio Tanno geschlafen
habe, nicht wahr, Dr. Uemura?«
»Ich fürchte, ja. Sehen Sie, seine ganze Aufmerksamkeit konzent-
riert sich auf Frau Owada. Er ist von ihr fast besessen. Vielleicht hat er
seine Zuneigung auf eine Ersatzperson verlagert, als er merkte, dass
zwischen ihm und Frau Owada eine unüberwindliche Barriere

109
besteht. Ein normaler Mensch versucht in solchem Fall, sein Ziel auf
einem Umweg zu erreichen. Das hat man in Experimenten mit
Meerschweinchen nachgewiesen. Die meisten geben irgendwann auf,
aber manche rennen weiter mit dem Kopf gegen das Hindernis, bis
sie schließlich kehrtmachen und in die entgegengesetzte Richtung
laufen. Diese Tiere konzentrieren ihre Energie dann auf ein hy-
pothetisches Objekt. Sie verlieren ihre mentale Stabilität, und statt die
Mohrrübe zu greifen, knabbern sie die Gitterstäbe des Käfigs an.«
»Nach Ihrer Theorie bin ich also sein Ersatz für Frau Owada?«
»Ich habe so ein Gefühl.«
»Aber woher wusste er, dass ich Captain Owadas Geliebte bin? Ich
war da für alle bloß die Sängerin. Und auch wenn Akio Tanno es
wusste, wie hätte er wohl darauf reagiert?«
»Er behauptet, er hätte Frau Owada eine Lieferung aus dem
Kaufhaus gebracht und sie bei dieser Gelegenheit erschossen. Aber
Frau Owada ist gesund und munter. Deshalb glaube ich, dass seine
Worte, „mit einer Schusswaffe getötet“, für ihn eine sexuelle Bedeu-
tung haben. Als ich bei Frau Owada war, versuchte Akio Tanno er-
neut, sich Zugang zu ihrer Wohnung zu verschaffen; er hatte eine
Spielzeugpistole bei sich. Daraus schloss ich, dass er sexuelle Absich-
ten hatte und Frau Owada nicht töten würde. Seitdem hat er sie nicht
mehr belästigt. Anscheinend hat er seine Triebe erfolgreich
umgeleitet.«
»Auf mich, meinen Sie.«
»Gut möglich.«
»Ich habe tatsächlich mit Akio Tanno geschlafen, neulich in Hara-
juku. Das wäre wohl ein Grund zum Feiern, oder?« Sie schaute mich
ein wenig zynisch an.
»Nein, in dem Fall nicht. Sehen Sie, er will das Objekt seiner Be-
gierde gar nicht wirklich besitzen. Sobald er sich einbildet, sein Ziel

110
erreicht zu haben, bricht er zusammen. Ich möchte sichergehen, dass
er sich noch eine Weile vergeblich bemüht. Auf die Weise finden wir
vielleicht einen Weg, ihm zu helfen.«
»Und was passiert, wenn er zusammenbricht?«
»Er verliert das Bewusstsein und verfällt in einen komaähnlichen
Zustand; das ist die zweite Phase seiner depressiven Erkrankung.«
»Das klingt ziemlich beunruhigend ... Heute ist wieder eine Party in
Harajuku, und womöglich kommt er. Aber ich glaube nicht, dass ich
ihn wirklich an mich rangelassen habe. Ich erinnere mich nicht
deutlich, doch ... ich war mit so vielen Männern beschäftigt ... aber ich
habe meine Unterwäsche immer anbehalten. Klar, wir sind ganz schön
weit gegangen, aber nicht aufs Ganze ... «
Ihre Stimme verklang, und sie schaute mit leerem Blick in die Ferne.
Mit beiden Händen hielt sie meinen Arm umklammert.

Drei

Vor dem Haus in Harajuku standen mehrere Sportwagen. Wir betraten


das abgedunkelte Apartment, in dem die Party stattfand. Kyoko hielt
sich immer noch an mir fest.
»Es sieht nicht so aus, als wäre er hier. Warten wir ein Weilchen,
und wenn er nicht aufkreuzt, verschwinden wir«, sagte ich. Ich ging
mit ihr zur Bar und bestellte zwei Martinis. Hinter dem Tresen stand
der indonesische Austauschstudent und mixte einen Drink. Er hatte
kräftige, muskulöse Arme und die entsprechende Figur. Er warf uns
einen raschen Blick zu und versuchte offenbar, Kyoko zu taxieren.
»Wissen Sie, ob Fumiko Kawakami heute hier ist?«, wollte ich von
ihm wissen. Er schüttelte bedächtig den Kopf und schaute mich
verdrossen an. Ich spürte seinen Blick auf meinem Rücken, als ich

111
mich abwandte und mit Kyoko am Arm zu dem Raum hinüberging,
in dem letztes Mal der Film gezeigt wurde.
Auch jetzt flackerten abstrakte Muster über die weiße Zimmerde-
cke, während hektischer Modern Jazz aus den Bodenlautsprechern
dröhnte. Ich setzte das Glas an die Lippen und angelte mit den Zäh-
nen nach der Olive.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Dr. Uemura«, sagte
Kyoko nach einer Pause. Ihre Stimme klang leblos, flach. »Bitte lassen
Sie mich nicht allein. Ich möchte, dass Sie bleiben und heute Nacht
mein Partner sind.«
»Geht in Ordnung«, sagte ich ohne einen blassen Schimmer, was
sie meinte.
»Ich habe gerade einen Speed-Drink gekippt und bin bestimmt
gleich high. Und dann erinnere ich mich an nichts mehr. Beobachten
Sie mich und passen Sie auf, ob ich Akio Tanno als Partner aussuche.«
Sie angelte nun ihrerseits die Olive aus ihrem Drink und hielt sie
zwischen den Zähnen. Sie wandte mir ihr Gesicht zu und spitzte die
Lippen - eine Art Experiment. Ich sollte Zeuge dessen sein, was sie tat,
während sie high war.
Ich setzte mich auf den Boden und starrte dumpf auf die bunten
Muster an der Zimmerdecke. Hatte Frau Owada wirklich einen Keil
zwischen ihren Mann und seine Geliebte getrieben? Wenn ja, wie war
ihr das gelungen ...
In dem Augenblick legte sich ein Frauenarm um meinen Nacken
und unterbrach meine Betrachtungen. Kyoko Hara versuchte sich an
mich zu schmiegen und näherte ihren Mund dem meinen. Ihre
Atmung war beschleunigt und unregelmäßig, ein sicheres Zeichen,
dass sie nicht Herrin ihrer Sinne war.
»Gehen wir frische Luft schnappen«, schlug ich vor.
»Nein, nicht so was. Ich will hier bleiben.« Sie kippte langsam

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vornüber und sackte zusammen. Sie hatte sichtlich Mühe, Luft zu
bekommen, und zerrte mit der rechten Hand an den Knöpfen ihrer
Kostümjacke.
»Herrgott, ist das eine Hitze ... Ich verschmore noch in dieser Jacke.
Wie die Sahara in der Mittagssonne.«
Ihre üppigen weißen Brüste in dem schwarzen BH hoben und
senkten sich. Vor meinen Augen schien sich die kluge und elegante
Kyoko Hara in ein billiges Flittchen zu verwandeln.
Wieder drängte sie sich mit offenem Mund an mich. Ihre weichen
Lippen schmeckten nach Oliven. Eh ich michs versah, umarmten wir
uns wie die anderen Paare im Raum. Ich zog sie an mich, spürte ihren
Körper von Zeit zu Zeit lustvoll zucken. Sie schien ihre von Drogen
erzeugten Fantasien gehörig zu genießen. Auch wenn wir wild
herumschmusten, behielt sie ihre Dessous an. Eine Stunde später
ungefähr kam sie plötzlich zu sich und starrte mich wie aus tiefem
Schlaf erwacht an.
»Sind Sie das, Dr. Uemura?«, blinzelte sie.
»Ich sollte doch bei Ihnen bleiben«, sagte ich.
»Aber ... ich dachte, Sie wären Captain Owada.« Sie wirkte fast
verlegen. »Ich fürchte, ich habe Sie als Ersatz benutzt. Das tut mir sehr
Leid.«
»Eigentlich haben Sie nur geschlafen. Sie tun kaum etwas von den
Dingen, die Sie sich so einbilden.«
»Urteilen Sie nicht nach dem Eindruck von eben.« Unsicher stand
sie auf und ging zur Bar und trank einen Orangensaft. Dort bediente
jetzt ein zierlich gebauter, freundlich dreinschauender Student.
»Warum nicht?«, fragte ich und folgte ihr.
»Der andere Typ muss mir was in den Drink getan haben. Er ist
schlicht eifersüchtig. Deswegen ist es heute anders als sonst.«
»Gehört Partnertausch eigentlich auch dazu?«

113
»Das weiß ich nicht, aber jedes Mal, wenn ich einen wachen Mo-
ment habe, scheint wieder ein anderer Mann bei mir zu sein ... das
hinterlässt ein unangenehmes Gefühl, wie Sand im Mund, oder so.«
Ich legte ihr meinen Arm um die Schultern und dirigierte sie gerade
in Richtung Balkon, als die Wohnungstür aufging und Fumiko
Kawakami hereinstürmte, gefolgt von einem Trupp junger Männer.
Fumiko schien total betrunken. Dennoch erkannte sie mich und
brüllte: »Hey, Doc!«
»Hey Doc, Akio schwimmt im Pool von seiner Freundin.«
»Was? Seit wann?«, fragte ich.
»Seit einer Woche, schätze ich. Er scheint gern zu tauchen. Da ist n
Haufen Polizisten und hat ihn rausgefischt.« Mit einem Mal wurde
mir total schlecht.

Vier

Neben dem Pool parkte ein Polizeiauto; Suchscheinwerfer huschten


über die Wasserfläche. Unter dem Ansturm von Polizisten und Schau-
lustigen war das Schild »Nur für Mitglieder« niedergetrampelt worden.
»Bitte, was geht hier vor? Ich bin Arzt«, sagte ich zum nächstbesten
Polizisten.
»Wir haben die Leiche eines jungen Mannes aus dem Wasser geholt.
Wir wissen nur noch nicht, ob er betrunken hineingestürzt ist oder ob
es sich um Selbstmord handelt.«
»Ist er schon identifiziert?«
»Der Kleidung nach scheint es sich um einen Studenten zu handeln.
Aber nachdem er ungefähr eine Woche auf dem Beckengrund gelegen
hat, wird es wohl mit der Identifizierung schwierig.«
Ich trat an den Pool wo der mit einem Tuch bedeckte Tote lag,

114
und sagte dem wachhabenden Polizisten, wer ich war. Ich hob das
Tuch: Wie befürchtet - es war mein Patient. Grüne Wasserlinsen
klebten auf seinem bleichen Gesicht. Mir fiel Tannos Gedicht ein -
„Ich möchte sein den Wasserlinsen gleich“.
Welche Ironie sprach jetzt aus dieser Zeile. Er hatte offenbar auf
sein Vorhaben hinweisen wollen.
Angestrengt überlegte ich, was ihn zum Selbstmord getrieben haben
könnte. Nach einer Weile ging ich zum Hauseingang hinüber. Ich
hörte den uniformierten Portier aufgeregt mit einem Mann sprechen,
wahrscheinlich ein Polizist in Zivil.
»Obwohl das Wasser schon so kalt ist, hat vor ein paar Tagen eine
junge Frau versucht, hier zu schwimmen«, sagte er. »Ich weiß nicht,
was in diese Typen gefahren ist. Die müssen verrückt sein.«
Unauffällig spazierte ich zum Lift, fuhr in den sechsten Stock und
klingelte bei den Owadas. Fünf Minuten später öffnete mir eine
bleiche Frau Owada die Tür. Das grelle Rot ihres Morgenmantels
schien seltsam unpassend.
»Ist unten was passiert?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Im Pool wurde eine Leiche gefunden.«
»Was? Wie schrecklich.«
Es ist Akio Tanno.« Ich beobachtete ihre Reaktion.
»Wie entsetzlich ... «, begann sie emphatisch, wandte sich aber
plötzlich ab und ging zur verglasten Loggia.
Wo ist Ihr Mann?«
Er wollte auf die Jagd gehen, hat er mir heute Morgen gesagt. Er
ist noch nicht wieder da.«
»Geht er gern jagen?«
Ja, so ein-, zweimal im Monat.«
»Dann haben Sie auch ein Jagdgewehr in der Wohnung?«
»Nein, er leiht sich immer eins von einem Freund. Sein Freund hat
einen Waffenschein.«

115
Frau Owada trat ans Fenster und presste ihr Gesicht gegen die
Scheibe, als versuchte sie, direkt nach unten zu schauen. Das grelle
Licht der beiden Suchscheinwerfer flackerte noch immer auf dem
abgestandenen Wasser des Pools. Eine Sekunde lang sah ich vor mei-
nem inneren Auge den fahlen Leichnam einer Frau an der Wasser-
oberfläche auftauchen.
In der Loggia brannte kein Licht, und ich erkannte nur undeutlich
das helle Gesicht von Frau Owada. Ein französischer Duft mit
erotisch-schwüler Komponente stieg mir in die Nase. Das teure Par-
füm hatte das Eau de Cologne vom letzten Mal abgelöst.
»Der junge Mann hat mich vor etwa einer Woche erneut besucht.
Ich nahm die Kette nicht ab und wollte ihn nicht hereinlassen, aber er
sagte, er wolle sich nur entschuldigen für den ganzen Ärger, den er
verursacht hatte. Das Abfeuern des Gewehrs wäre nur eine Lüge, er
hätte nur herumfantasiert, mit sich und mir in den Hauptrollen. Akio
tat mir aufrichtig Leid. Er schien in seiner eigenen Welt gefangen, ein
Mensch, der für sich immer alles zum Schlechteren wendet.« Sie drehte
sich wieder zum Fenster und starrte zum Pool, als trauere sie um Akio
Tanno.
Schließlich sagte sie: »Bitte bleiben Sie noch ein wenig. Sprechen Sie
weiter. Ich fühle mich so einsam ... Vielleicht hätte ich doch mit ihm
schlafen sollen.«
»Warum haben Sie mich nach Tannos Besuch nicht gleich ange-
rufen?«, fragte ich.
Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr kein Wort.

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10
Weißer Dunst

Eins

Feiner Nebel kroch übers Flugfeld. Als ich über die Startbahn schritt,
schlug ich meinen Kragen hoch. Vor mir schwatzten aufgeregt
Reporter.
»Seltsam, dass ausgerechnet Captain Owada so etwas passiert ist. Er
kennt solche Suppe doch von den europäischen Flughäfen. Solch ein
Nebel verursacht doch keinen Unfall.«
»Vielleicht war es Übermüdung?«
»Übermüdung? Er ist zwei Tage nicht geflogen.«
»Mit der Flugsicherung hat was nicht gestimmt. Zwischen Start und
Starterlaubnis lagen nur drei Minuten. Und es ist eine ausländische
Fluggesellschaft. Was hat auch ein japanischer Pilot bei Frachtflügen
nach Vietnam zu suchen?«
Die Zeitungsleute hatten ihre Hausaufgaben gemacht, aber keiner
schien was von Captain Owadas Privatproblemen zu ahnen. Das
erleichterte mich. Natürlich war ich voreingenommen. Meiner Mei-
nung nach wäre es sowieso am besten, wenn die Owadas ihre Prob-
leme allein lösten. Schließlich war es ganz natürlich, dass ein Arzt die
Privatsphäre seiner Patienten schützen wollte.
Am Ende der Startbahn stand der Uralt-Jet, den Captain Owada
nach Vietnam hatte fliegen sollen; auf die linke Seite gekippt, brannte
er immer noch. Der Boden war mit Feuerlöschschaum bedeckt.
Ich stand abseits der Schaulustigen, die die Feuerwehrmänner
umringten, und starrte auf die Flammen, die zwischen den schwar-

117
zen Rauchschwaden emporzüngelten. Plötzlich erblickte ich Kyoko
Hara in ihrer Stewardessenuniform, das Käppi mit einem weißen Schal
gegen den Wind geschützt, aber ich war zu weit entfernt, um ihren
Gesichtsausdruck zu erkennen. Da bei Frachtflügen generell auf
Stewardessen verzichtet wurde, gehörte sie nicht zu Owadas Crew.
Von Gefühlen übermannt, ging ich zu ihr und legte ihr fast instinktiv
den Arm um die Schultern.
»Sie waren also nicht bei ihm«, sagte ich.
»Nein, aber ich wünschte, es wäre so und wir hätten zusammen
sterben können. Warum musste es so ... sehen Sie, es ist genau so
passiert, wie er es vorhergesagt hat.«
»Captain Owada ist noch in der Maschine?«
»Ja, es gibt keine Hoffnung, ihn lebend herauszuholen. Sein ka-
nadischer Co-Pilot ist auch noch drin. Reine Glücksache, dass sie
keine US-Soldaten an Bord hatten.«
Sie konnte sich nicht länger beherrschen und warf sich schluchzend
an meine Brust. Wie oft hatte sie mir gesagt, dass Captain Owada
überzeugt war, bald einen Unfall zu bauen. Hätte ich auf sie hören und
mir größere Sorgen um seinen Geisteszustand machen sollen? Eine
innere Stimme sagte mir, dass sich dadurch nichts geändert hätte.
Während ich auf die Flammen starrte, überkam mich ein Gefühl
absoluter Hilflosigkeit.
Schließlich sagte ich: »Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu
bleiben.«
»Sie haben Recht. Jetzt ist er nur noch ein Häufchen Knochen und
Asche. Er hat sicher nichts gespürt. Was mag ein Mensch wohl fühlen
im Augenblick seines Todes?«
Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Ihre Stimme klang unge-
wohnt schwach.
Er war bestimmt bewusstlos, als die Maschine in Brand geriet«,
sagte ich.

118
»Aber vorher, beim Absturz, muss er doch an etwas gedacht haben.
Ich würde gern wissen, woran ...« Sie sprach mit tränenerstickter
Stimme, und heftig bemüht, nicht wieder in Weinen auszubrechen,
klammerte sie sich an meinem Arm fest. Es spielte keine Rolle, an
wem sie sich in diesem Moment festhielt, sie wollte einfach mit einem
Wesen aus Fleisch und Blut zusammen sein.
»Ich bringe Sie gern nach Hause«, bot ich ihr an.
»Ich wohne nicht in Tokio. Hier war ich immer nur im Hotel, mit
Captain Owada.« Sie schaute mich plötzlich ernst und gefasst an. »Es
wäre nett, wenn Sie mich zum Hotel bringen würden. Und dann
möchte ich mit Ihnen schlafen. Ich mag solche Partys wie die in
Harajuku eigentlich gar nicht. Ich hatte gehofft, irgendwie von mir
selbst wegzukommen. Ich möchte nur ... ich möchte, dass Sie mich
lieben.«
Vor dem Flughafengebäude stiegen wir in ein Taxi und fuhren zu
dem Innenstadthotel, in dem sie bei ihren Aufenthalten in Tokio
wohnte und sich mit Captain Owada traf. Arm in Arm betraten wir
das Zimmer mit den zwei Betten. Ich musste unwillkürlich daran
denken, dass der Mann, der sie sonst begleitete, sich jetzt in einem
brennenden Jet befand, während sein Name in ganz Japan durch
Radio und Fernsehen ging. Was hatte das alles zu bedeuten?
Sie entledigte sich ihrer Uniform, als sei es die natürlichste Sache
der Welt, und ging unter die Dusche. Während sie duschte, stand ich
am Fenster und starrte dumpf nach unten in den verwaisten Garten.
Was mochte Frau Owada in diesem Augenblick tun? Hatte man sie
schon vom Tod ihres Mannes benachrichtigt, und wie würde sie damit
umgehen? Einen Mann suchen, der sie tröstete, so wie Kyoko Hara?
Sich einschließen und verzweifelt weinen? Ich drückte meine Zigarette
aus und löste meine Krawatte.
Nackt und schweigend lagen wir nebeneinander im Bett. Der

119
kurze Augenblick, da die Welt um einen versinkt, war wie ein Sturm
über uns hinweggetobt.
»Ich glaube, es war Selbstmord«, sagte sie. »Den genauen Grund
weiß ich nicht, aber ich habe das Gefühl, dass es so ist.«
»Aber glauben Sie auch, dass Captain Owada einen anderen
Menschen mit in den Tod reißen würde?«
»In letzter Zeit konnte ich an seinem Gesicht ablesen, dass er es
einfach nicht mehr aushielt, sogar wenn ich bei ihm war. Er sei am
Ende, sagte er zu mir. Seine Probleme zermalmten ihn.«
»Das ist kein Auslöser für einen Selbstmord.«
»Ich habe ihn geliebt. Und den Menschen, den man liebt, versteht
man.« Es klang wie ein Selbstgespräch, und Sekunden später war sie in
meinen Armen eingeschlafen.
Im Morgengrauen weckten mich die Frühnachrichten. Ich hatte vor
dem Einschlafen vergessen, das Radio abzuschalten. Die Stimme des
Nachrichtensprechers klang gewohnt ernst.
»Die Militärmaschine, die gestern Nacht beim Start in Haneda
abstürzte, stand bis heute früh um ein Uhr in Flammen. Die Opfer
sind mittlerweile identifiziert. Wurde anfangs angenommen, es habe
sich nur der Pilot und sein Co-Pilot an Bord befunden, so hat man
mittlerweile eine dritte Leiche entdeckt. Ob der Tote zur Crew ge-
hörte, steht noch nicht fest, man vermutet aber, dass dieses dritte,
unbekannte Opfer der Schlüssel zu dem Unglück ist.«
Ich erschauerte und warf die Bettdecke von mir. Ich hatte die
schreckliche Vermutung, dass das unidentifizierte Opfer Frau Owada
sein könnte. Ein Adrenalinstoß schoss durch meinen Körper.
Ich betrachtete die schlafende Kyoko Hara. Sie atmete tief, wie
nach einer übergroßen Erschöpfung.

120
Zwei

Vor dem wolkenverhangenen, grauen Himmel wirkte der Uhrturm


bedrohlich - Zeichen für einen Wetterwechsel. Bei meinen früheren
Besuchen in der Universität hatte ein strahlend blauer Himmel die
weiße Farbe des Turms zum Leuchten gebracht.
Zwei Beteiligte des Dramas waren mittlerweile ums Leben ge-
kommen. Der eine, mein Patient Akio Tanno, hatte Selbstmord be-
gangen. Und dann starb Captain Owada bei dem Flugzeugabsturz. Ich
fühlte mich für beide Todesfälle verantwortlich. Vielleicht hätte ich der
Aussage meines Patienten mehr Gewicht beimessen oder jedes Wort
für bare Münze nehmen sollen. Hatte ich bei ihm vorschnell einfach
Verwirrtheit diagnostiziert?
Mit bleischwerem Herzen klopfte ich bei dem Professor für euro-
päische Geschichte an. Miyakawa saß hinter seinem Schreibtisch, ein
aufgeschlagenes Buch in den Händen. Als er mich erkannte, sprang er
erschrocken auf. Er hatte sowieso nicht in das Buch geschaut.
»Ich dachte mir schon, dass Sie nochmals kommen würden«, sagte
er. Er versuchte zu lächeln, aber ein nervöses Zucken seiner Wangen
machte sein Bemühen zunichte. Schweigend nahm ich ihm gegenüber
Platz. Wenn möglich, sollte er als Erster das Wort ergreifen.
»Die Polizei war hier und hat mir lauter Fragen gestellt über den
Studenten, der sich das Leben genommen hat«, begann Miyakawa.
»Aber ich konnte ihnen nicht helfen. Er stand offenbar unter Beo-
bachtung, doch über die Hintergründe wusste ich nichts. Es gibt so
viele Studenten, und da ist man schon froh, wenn man sich an die
Gesichter erinnert ...
Er schaute mit leerem Blick im Zimmer umher, schien nach Worten
zu suchen. Ich sah auf das Buch vor ihm. Ulkig, dass er es verkehrt

121
herum hielt. Er schien extrem nervös und zugleich unfähig, etwas da-
gegen zu tun.
Miyakawa bemerkte meinen Blick und bedeckte das Buch rasch mit
beiden Händen. »Ich lese gerade etwas über den Zusammenbruch des
Dritten Reichs. Bei Kriegsende starben die führenden Figuren eine
nach der anderen ... « Die Worte schienen mir von großer Bedeutung.
Ich setzte zum Sprechen an. »Wissen Sie, dass Captain Owada
tödlich verunglückt ist?«
»Ich habe es in der Zeitung gesehen. Aber was hab ich damit zu
tun?«
»Die Wohnung, in der der junge Tanno so viel Ärger gemacht hat,
gehörte dem Flugkapitän.«
»Na, so was!« Miyakawa täuschte Überraschung vor.
»Wissen Sie auch, dass sich beim Absturz eine dritte Person an
Bord der Maschine befand?«
»Ja, ich glaube, das hab ich gelesen.«
»Und dass das unbekannte Opfer eine Frau war, ist Ihnen ebenfalls
bekannt? Es stand auch in der Zeitung, meine ich.«
»Nein, davon weiß ich nichts. Der Lokalteil unserer Zeitung hat
mich in letzter Zeit nicht sonderlich interessiert.« Die Wangen des
Professors zuckten.
»Ach so. Aber das ist doch in aller Munde. Die Autopsie hat erge-
ben, dass die Frau seit sechs Monaten tot war.« »Das interessiert mich
nicht.«
»Wirklich? Sie war knapp einen Meter sechzig groß und wog un-
gefähr zweiundfünfzig Kilo. Erinnert die Beschreibung Sie an je-
manden, den Sie kennen?«
»Was wollen Sie eigentlich? Es gibt keinen Grund, warum ich
diese Frau kennen sollte. Sicher eine Ausländerin.«
»Die Autopsie hat ergeben, dass sie Asiatin war.«
»Dann stammt sie wahrscheinlich aus Vietnam.«

122
Ich schaute Miyakawa offen an. »Heute früh habe ich die Melde
stelle eines bestimmten Stadtviertels aufgesucht. Es ist zufällig das
Viertel, in dem Sie wohnen.«
Der Professor schwieg.
»Sie halten mich sicher für unverschämt, aber ich nahm mir die
Freiheit, Ihr Familienstandregister zu überprüfen. Ihre Frau hieß mit
Mädchennamen Fumiko Hayashi. Und vor einem Jahr haben Sie
sich von ihr scheiden lassen, nicht wahr?«
»Wozu soll das gut sein? Wieso schnüffeln Sie in meinem Privat
leben herum?« Seine Worte überstürzten sich. Er wollte offenbar um
jeden Preis Widerstand leisten.
»Wo befindet sich Ihre geschiedene Frau in diesem Augenblick?«
»Ich sehe keinen Grund, Ihnen das zu sagen.«
»Wissen Sie noch, wie ich Sie fragte, ob Sie eine Frau namens Fu-
miko kennen? Sie zeigten mir damals das Studentenverzeichnis,
glaube ich ... «
»Ihre Frage lautete, wenn ich mich richtig erinnere, ob es unter
den Studenten eine Frau namens Fumiko gäbe.«
»Das stimmt. Aber sehen Sie, wenn Sie mir damals erzählt hätten,
dass Ihre Frau auch Fumiko heißt ...«
»Was, zum Teufel, meinen Sie? Wollen Sie mir drohen? Es gibt kei-
nen Grund, warum Akio Tanno etwas über mein Privatleben hätte wis-
sen sollen. Es gab keine Möglichkeit ... « Miyakawa zitterte vor Wut.
Was ich auch sagte, er schien entschlossen, die Fakten zu negieren.
»Wenn sich herausstellt, dass Akio Tanno Ihre Frau gekannt hat,
würden Sie dann kooperieren?«, fragte ich.
»Nun ja, gut ... aber meine Ex-Frau ist nicht einssechzig groß,
das ist sie auf keinen Fall.« Miyakawa hielt sich das Buch vors Ge
sicht und begann zu schluchzen.
»Wenn Sie nicht wissen, wo sich Ihre Frau aufhält, sollten Sie sich
mit der Polizei in Verbindung setzen«, sagte ich ruhig.

123
»Aber Fumiko lebt ... Sehen Sie doch, ich will da nicht reingezogen
werden, das ist so peinlich«, murmelte er. Man konnte mit Professor
Miyakawa nicht vernünftig reden. Es war sinnlos nachzuhaken, und
eigentlich ging mich die Sache auch nichts an. Ich stand auf und
machte mich davon.
Ich ging schnurstracks zum Übungsraum der Musikfakultät. Der
Chor übte Beethovens Neunte für das Neujahrskonzert. Michiko
Hayashi erspähte mich und kam gleich heraus, die Haare wie immer
mit einem blauen Band zum Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen
Stapel Noten im Arm.
»Wie schön, Sie wiederzusehen, Dr. Uemura. Wir haben für Akios
Begräbnis gesammelt, aber wir wissen nicht, wohin wir das Geld
schicken sollen. Wird er in seiner Heimatstadt beerdigt, was meinen
Sie?«
»Ja, die sterblichen Überreste sind bereits überführt.« Ich betrach-
tete Michikos unschuldiges Gesicht.
»Wissen Sie was, Dr. Uemura? In gewisser Weise bin ich erleichtert,
dass er tot ist. Ich kann nicht erklären, warum das so ist, aber so geht
es mir nun mal.« Wahrscheinlich meinte sie die Befriedigung, dass ihr
Liebesideal ihr nun in alle Ewigkeit erhalten blieb.
»Wissen Sie, ob Akio Tanno Professor Miyakawa je zu Hause be-
sucht hat?«, fragte ich sie.
»Lassen Sie mich überlegen ... Im ersten Studienjahr wollte er den
Professor privat aufsuchen, um mit ihm über die Studiengebühren zu
reden. Aber ob er wirklich dort war, weiß ich nicht.«
»Ist auch nicht so wichtig.« Ich hatte ihr die entscheidende Frage
gestellt und verließ die Universität durch den Haupteingang. Im Café
um die Ecke stellte ich fest, dass die mürrische Kellnerin immer noch
mürrisch war und dass sich die Würstchen immer noch in der Hotdog-
Maschine drehten.

124
Drei

Der Pool bei dem Apartmenthaus war jetzt mit einem Metallgitter
abgedeckt, das Wasser hatte man aber offensichtlich nicht erneuert.
»Ich möchte sein den Wasserlinsen gleich -«
Ich sprach die Zeile aus Akio Tannos Gedicht vor mich hin. Hier
würde niemand mehr schwimmen gehen. Über die Feuertreppe stieg
ich zum sechsten Stock hinauf. Befände sich die Feuertreppe auf der
Vorderseite des Hauses, wäre die Geschichte wohl anders
ausgegangen.
Ist unser Handeln so sehr von äußeren Umständen bestimmt? Nein,
das Drama wäre trotzdem geschehen, unabhängig vom Standort der
Feuertreppe. Die Natur des Menschen lässt sich schwer beeinflussen.
Mir fiel die Debatte um Milieu und Veranlagung ein, wie sie in
Europa geführt wird: inwieweit das Milieu den Menschen beeinflusst.
Aber das gleicht der Frage nach dem Huhn und dem Ei. Frau Owada
brachte mich auf diese Überlegungen.
Die Wohnungstür war zum Zeichen der Trauer mit schwarzen
Stoffen verhüllt. Ich klopfte, und nach einer Weile wurde mir geöffnet.
Frau Owada sah schöner aus denn je, fast wie in einem Gemälde des
neunzehnten Jahrhunderts. Sie trug Trauerkleidung, ein zartes
Morgengewand aus schwarzer Spitze und Satin.
»Die Tür an der Feuertreppe war offen, deshalb bin ich auf diesem
Wege gekommen. Es tut mir alles so schrecklich Leid ... Ich weiß
nicht, was ich sagen soll«, stammelte ich unbeholfen. Vor einer Woche
war ihr Mann auf dem Aoyama-Friedhof beerdigt worden.
»Ich selbst habe die Tür zur Feuertreppe aufgeschlossen«, sagte sie.
»Wenn ich sie offen lasse, kommt mein Mann vielleicht wieder nach
Hause.«

125
Sie führte mich in die verglaste Loggia. Der Gummibaum und die
anderen Pflanzen standen an ihrem gewohnten Platz, aber die
Einrichtung war jetzt ganz in Schwarz und Dunkelgrün gehalten.
»Ich habe immer versucht, diese Farben zu vermeiden, und jetzt bin
ich ganz davon umgeben«, sagte sie.
Ich versuchte, sie zu trösten. »Sie werden hoffentlich bald wieder
eine andere Farbe wählen. Trauer sollte man so rasch wie möglich
hinter sich lassen.«
Sie schenkte mir eine Tasse Tee ein; ihre Hand zitterte leicht.
»Diese Worte habe ich von Ihnen nicht erwartet, Dr. Uemura. Ich
dachte, Sie wären überzeugt, dass ich Ihren Patienten auf dem
Gewissen habe. Aber ich konnte nicht tun, was er von mir verlangte,
so sehr ich mich auch bemühte. Hätte ich mich mit ihm eingelassen,
hätte er sich vielleicht nicht umgebracht, aber allein der Gedanke daran
war mir unerträglich. Mein Mann schien mit Seitensprüngen keine
Probleme zu haben. Ein Mann kann offenbar anders lieben. Es war
sogar eine Frau bei ihm, als er starb.«
»Warum glauben Sie das? Wissen Sie nicht, dass das dritte Opfer
schon sechs Monate tot war?«
»Nein, das stimmt nicht. Das sagen alle, damit ich mich nicht
aufrege. Aber es war seine Freundin, ganz sicher.«
»Die forensische Wissenschaft kann heutzutage auch bei verkohlten
Knochen das Geschlecht und den Todeszeitpunkt genau bestimmen«,
sagte ich so freundlich wie möglich. Frau Owada entspannte sich. Sie
stand auf und goss mir Tee ein. Ich wechselte das Thema.
»Erinnern Sie sich an die Widmung in dem Gedichtband, den Sie
mir geschenkt haben? Damals sagten Sie, Fumiko sei Ihre verstorbene
Schwester.«
Das stimmt.«

126
»Sie war eine Seelenschwester.« Das kam ganz unbewegt, aber ich
war mir sicher, dass sie genau wusste, wovon die Rede war.
»Würden Sie mir wohl erlauben, diese Seelenschwester kennen zu
lernen?«
»Ich fürchte, das ist unmöglich.« Sie lächelte und legte eine Hand
auf die elegante Brust.
»Diese Schwester ist ein Wesen meiner Fantasie. Sie hat niemals
existiert, und deshalb kann ich Sie auch nicht mit ihr bekannt machen.«
Mit diesen Worten erhob sie sich. Ich dachte, es sei ein Signal zum
Aufbruch, aber das war ein Irrtum. Sie ging ins Schlafzimmer,
entledigte sich ihrer Trauerkleidung und kam in ein großes gelbrotes
Badetuch gehüllt zurück.
»Ich habe auf den Besuch eines mir wohl bekannten Menschen
gewartet, damit ich eine Trauerpause einlegen und mein Sonnenbad
nehmen kann. Auch im Winter hilft die Sonne, die Sorgen zu ver-
gessen, und sei es nur für einen Augenblick.«
Sie legte sich bäuchlings auf die Couch. Ihre hübschen Beine und
das wohlgeformte Hinterteil präsentierten sich offen meinen Blicken.
Die Tatsache, dass sie eben noch in Trauerkleidung gesteckt hatten,
verstärkte die Wirkung. Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Ich
begehrte sie.
»Ich glaube nicht, dass mein Mann wirklich tot ist«, sagte sie. »Ich
erfuhr von dem Unfall, raste zum Flughafen, doch als ich den Jet
brennen sah, war ich plötzlich davon überzeugt, dass mein Mann noch
am Leben ist. Darauf fuhr ich mit einem Taxi zum Hotel.«
Ich spürte, wie ich erbleichte. Ich beobachtete sie scharf, um keines
ihrer Worte zu verpassen.
»Ich nahm das gewohnte Zimmer. Nebenan vögelte mein Mann die
junge Stewardess ... Was bin ich doch eifersüchtig, dachte ich. Aber ich
hab trotzdem den Kassettenrekorder eingeschaltet.«

127
»Und Sie hörten, wie sich nebenan zwei Menschen liebten?« Ich
wartete auf ihre Antwort. Frau Owada war also im Nebenzimmer
gewesen, als Kyoko Hara und ich miteinander geschlafen hatten.
Wollte sie mir drohen? Oder hielt sie mich nur für den Geist ihres
toten Ehemannes?
Ich konnte nicht länger schweigen. »Das war ich in jener Nacht; ich
war mit Kyoko Hara zusammen, nicht Ihr Ehemann.«
»Nein, es war mein Mann. Er erschien nur in Ihrer Gestalt. Und
wenn nicht, wie konnten Sie so schamlos sein! Das ist doch unvor-
stellbar.
Sie stand auf und streckte mir ihre Arme entgegen. Das Badetuch
fiel zu Boden. Sie war nackt. Ihre perfekten Brüste und die marmor-
glatte Haut schimmerten im Sonnenlicht. Ich war unschlüssig, ob sie
es ernst meinte, aber mir war klar, dass die Situation mit Feingefühl zu
handhaben war. Ihr zu zeigen, dass ich ihr glaubte, war der beste Weg.
Das Selbstwertgefühl eines Patienten sollte man niemals verletzen.
Ihrem Wunsch entsprechend streckte ich ebenfalls mein Arme aus,
und unsere Lippen berührten sich. Sekunden später löste sie meine
Krawatte und begann tief zu seufzen. Ich wusste, wenn die Geschichte
so weiterging, würde ich eines endlich erfahren. Nämlich, ob Frau
Owada wirklich im Stande war, einen Mann zu lieben ...
Aber als wir beide nackt nebeneinander lagen, stieß sie mich von
sich, wie ich es erwartet hatte.

128
11
Der Pool

Eins

Es war mitten in der Nacht, gegen zwei Uhr früh, und ich träumte.
Meine Schreie wurden eins mit dem Klopfen an der Tür. Ein tiefes
schwarzes Loch tat sich vor mir auf, und ehe ich michs versah,
rutschte ich hinein. Voller Panik versuchte ich wieder hinaufzukrie-
chen. Dann wachte von meinen eigenen Schreien auf. Ich zog einen
Morgenmantel über und ging zur Tür. Wer mochte mich um zwei Uhr
früh besuchen? Es war eindeutig die Stimme einer Frau, die meinen
Namen rief und an die Tür hämmerte. Ich dachte sofort an Motoko
Kusano, die Stationsschwester. War sie gekommen, um mir eine
dringende Nachricht zu überbringen?
Doch vor mir stand Fumiko Kawakami und schwankte, als würde
sie gleich umfallen. Sicher hatte sie sich wieder mit einer Mixtur aus
Bier und Schlaftabletten zugedröhnt. Egal, was auch dahinter stecken
mochte - der häufige Gebrauch von Schlaftabletten war ein deutliches
Zeichen für psychische Instabilität. Ich unterdrückte meine aufkom-
mende Verärgerung und versteckte mich hinter der ruhigen, profes-
sionellen Attitüde, die ich im Umgang mit Patienten an den Tag legte.
»Was ist los, Fumiko? Was ist passiert, dass du um diese Zeit bei
mir aufkreuzt?«
»Kann ich heute Nacht bei Ihnen bleiben, Doc? Bitte, bitte, ich
fühle mich so einsam.« Es klang pathetisch.
Na gut, meinetwegen. Aber nur, wenn du dich still verhältst. Die
Nachbarn sind allergisch gegen Lärm.«

129
Ich setzte Kaffeewasser auf. Fumiko wirkte ziemlich mitgenommen.
Rock und Bluse, wie man sie billig im Kaufhaus in der Teena-
gerabteilung erwerben kann, waren schmutzig und mit Essensresten
bekleckert.
»Woher hast du meine Adresse?«, fragte ich.
»Aus 'm Krankenhaus. Ich hab gesagt, dass ich ein Klassentreffen
vorbereite, und da haben die Ihre Adresse rausgerückt«, erzählte sie
verschmitzt.
»Erstaunlich, was du so hinkriegst, wenn es sein muss. Die meiste
Zeit stehst du doch unter Drogen.«
»Ich verstehe selbst nicht ganz ... aber es gibt Momente, da sehe ich
alles glasklar. So klar, dass ich mich fürchte. Heute Abend zum
Beispiel bekam ich plötzlich Angst.«
»Dir ist plötzlich ein Licht aufgegangen, nicht wahr?«
Ich lächelte Fumiko freundlich zu, wie einer Patientin, um ihr zu
signalisieren, dass ich sie verstand. Aber sie schaute mich nicht an. Auf
einmal begann sie sich auszuziehen.
»Mir ist so kalt, Doc. Darf ich ein Bad nehmen?«
»Wenn es sein muss. Aber möglichst leise. Ich will keinen Ärger mit
den Nachbarn.« Ich musste alles tun, damit Fumiko sich wohl fühlte.
Bestimmt hatte sie mir etwas Wichtiges über Akio Tanno mitzuteilen.
Mein Entgegenkommen schien ihr zu gefallen, denn sie streckte mir
lachend die Zunge heraus, bevor sie im Bad verschwand.
Sie blieb so lange weg, dass ich mir Sorgen machte. Erst hörte ich
noch Wasser laufen, aber jetzt war es schon mindestens zehn Minuten
totenstill. Ich wurde nervös. Vor dem Spiegel über dem Waschbecken
lag mein Rasiermesser. Ideal, um sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Es war dumm und unprofessionell, sie einfach ins Badezimmer zu
lassen.
Ich klopfte, aber sie antwortete nicht. Falls sie sich eingeschlossen

130
hatte, müsste ich das Schloss aufbrechen, doch als ich den Griff run-
terdrückte, ging die Tür ohne weiteres auf. Fumiko lag fest schlafend
auf dem Boden, die kleinen Brüste himmelwärts, mit gespreizten
Beinen. Splitternackt, bis auf ein paar Reste Seifenschaum. Bekleidet
wirkte sie bisweilen ausgesprochen erwachsen, aber in diesem Zustand
wurde mir klar, wie jung sie war. Ihr Körper erinnerte an eine unreife
Frucht.
Ich rüttelte sie vorsichtig an der Schulter. Am besten wäre es, sich
ihr gegenüber wie ein Arzt zu verhalten. Dann brauchte ich meinen
Blick nicht schamvoll abzuwenden. Ich trocknete Fumiko wie ein
Kleinkind mit meinem Badetuch ab und trug sie zum Bett. An ihren
Schultern und Armen und an den Innenseiten der Schenkel fielen mir
zahllose rote Male auf. Es waren eindeutig Bissspuren.
Wieder packte mich die Wut. Warum hörte sie nicht auf, sich
dauernd selbst zu verletzen? Wie hatte sie sich die Bisse nur einge-
handelt? Auf einer Fete in Harajuku? Aber auf diesen Feten entklei-
deten sich die Leute niemals ganz. Das ungeschriebene Gesetz lautete,
sich nie vollständig auszuziehen. Hatte sie zusätzlich Pillen
eingeworfen und war mit einem reichen Perversen losgezogen? Mir
war aufgefallen, dass ihre Manteltasche voller Geld war, achtlos hi-
neingestopft.
Betrübt zog ich ihr die Decke bis zum Kinn und ließ sie schlafen.
Auf einmal schlug sie die Augen auf und streckte die Arme aus.
»Wissen Sie was, Doc? Ich habe einen schnuckeligen reichen Ver-
ehrer an Land gezogen«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln.
»Wenn das so ist, darfst du dich eigentlich nicht einsam fühlen,
oder? Warum bist du trotzdem hergekommen?«
»Weiß ich nicht. Aber auf einmal wurde es leicht gruselig, und da
habe ich zurückgebissen.« Sie lachte kurz, ließ den Kopf aufs Kissen
zurücksinken und schlief wieder ein. Ich holte mir einen Schluck
Brandy aus der Hausbar und machte es mir auf der Couch bequem.

131
Als ich morgens aufwachte, war sie verschwunden. Die Decke lag
zusammengelegt auf dem Bett, und auf dem Nachttisch fand ich, in
ein Spitzentaschentuch eingewickelt, eine Patronenhülse. Daneben lag
ein Zettel.
»Damit hat Akio Tanno Frau Owada umgebracht.«
Fumikos Notiz war mehr als seltsam, schließlich war Frau Owada
keineswegs tot. Ich nahm mir vor, die Patronenhülse im forensischen
Labor der Universität untersuchen zu lassen.
Als ich mir das Ergebnis abholen wollte, schaute der Assistent mich
misstrauisch an; die Hülse gehörte zu einer Platzpatrone.

Zwei

Der Mietwagen schleuderte ein wenig, als ich die steile Kurve nahm;
ich war auf dem Weg in die Berge, und hier und da war es glatt durch
überfrorene Nässe.
»Schaffen wirs?« Kyoko Hara rutschte sorgenvoll an mich heran. Sie
trug einen Pelzmantel, ein Geschenk Captain Owadas aus Spanien. Sie
war immer noch in tiefer Trauer.
»Hier oben ist es viel kälter als in der Ebene. Bei der Hütte des
Professors könnten es glatt zehn Grad unter null sein.«
»Ist es wirklich notwendig, Professor Miyakawa aufzusuchen?«,
fragte sie wieder. »Jetzt, wo Captain Owada tot ist, würde ich am
liebsten alles so lassen, wie es ist.«
Mir ging es ähnlich wie Kyoko. Aber bisher war nichts geklärt, und
ich hatte mir vorgenommen, den Professor endlich zum Sprechen zu
bringen. Diesmal wollte ich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Eine
Frucht ist irgendwann reif und fällt herunter. Ein Mensch ist
irgendwann so weit, dass er reden will.

132
Als wir die Hütte erreichten, war mir klar, dass ich richtig gehandelt
hatte. Miyakawa stand vor einem Kohlebecken und verbrannte ein
Bündel Briefe.
»Ich dachte mir schon, dass Sie hier auftauchen würden«, sagte er.
»Ich verbrenne gerade die alten Briefe meiner Frau. Vor unserer
Hochzeit haben wir uns häufig geschrieben.« Miyakawas Verstörung
wirkte echt. Ich mochte nicht glauben, dass er Theater spielte. Als ich
ihm Kyoko Hara als Freundin von Captain Owada vorstellte, warf er
ihr einen kurzen Blick zu und nickte.
»Captain Owada hat ihr die Situation erklärt«, sagte ich. »Bevor er
zu seinem letzten Flug aufbrach, hat er ihr erzählt, was er über die
Sache wusste.«
»Das heißt, er hat auch von meiner Frau gesprochen?« Miyakawa
schien damit gerechnet zu haben.
Ich nickte: »Ja.« Der Professor senkte den Kopf und begann zu
sprechen. Er schien fast erleichtert, so als habe er die Gelegenheit für
ein Geständnis gesucht. Er hatte die Hoffnung offenbar aufgegeben,
mich mit Lügen weiter hinhalten zu können. Kyoko ging zum Sofa
und setzte sich. Auch für sie wäre es besser, die Wahrheit zu kennen,
dachte ich. Ihr fiele es dann bestimmt leichter, die Trümmer ihres
Lebens zu inspizieren und einen Neubeginn zu wagen.
»Vor acht Monaten kam Akio Tanno zum ersten Mal zu mir nach
Hause.« Miyakawa schaute auf die gegenüberliegende Wand der Hütte,
die an ein finnisches Blockhaus erinnerte. Dort hing ein Kalender und
daneben ein mit einem stabilen Schloss gesicherter Waffenschrank aus
Glas. Der Schrank war leer.
Er wollte mich wegen der Studiengebühren sprechen, aber ich war
nicht zu Hause. Meine Frau hatte Mitleid und lieh ihm die Summe für
das nächste Semester. Tanno nahm fälschlicherweise an, sie hätte es
aus Liebe zu ihm getan, und immer, wenn ich nicht zu Hause war,
kreuzte er bei meiner Frau auf. Wir haben keine Kinder,

133
wie Sie wissen. Irgendwann verliebte sich Fumiko in Tanno. Es ist mir
peinlich, das zu sagen, aber unsere Ehe bestand schon etliche Jahre
nur noch auf dem Papier. Eine Weile war ich sogar impotent ...«
Miyakawa wandte sich ab und stocherte in dem Kohlebecken
herum. Wie meine Patienten in der Analyse hatte er der Wahrheit
einige Lügen beigemischt. Mit den ersten Sätzen seines Geständnisses
testete Miyakawa unbewusst meine Fähigkeit, diese Lügen zu er-
kennen. Aber zum großen Teil entsprachen seine Aussagen der Wahr-
heit. Und er ließ sich sicher noch bewegen, mit der ganzen Wahrheit
herauszurücken.
Ich zog den Gedichtband Der weite Sommer aus der Tasche. »Haben Sie
dieses Buch schon einmal gesehen?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Ich schlug den Band auf und zeigte
ihm die Widmung »Für Fumiko«.
»Diese Widmung gilt Ihrer Frau, und sie stammt von Frau Owada.
Wissen Sie noch, wann Fumiko begann, Frau Owada zu besuchen?«
»Als sie sich der Arbeitsgruppe Poesie anschloss, vermute ich.« Der
Professor stand unsicher auf und ließ sich schwerfällig in einem
Armlehnsessel beim Feuer nieder. Mit leerem Blick starrte er auf das
Kohlebecken.
»Können Sie mir etwas über das Verhältnis zwischen Ihrer Frau
und Frau Owada erzählen?«
»Sie haben sich wohl geliebt. Meine Frau gehörte zu den Menschen,
die ständig hören möchten, wie attraktiv sie sind. Frau Owada wollte
Fumiko gern näher kennen lernen, und irgendwann wurde aus der
Seelenfreundschaft körperliche Liebe. Mit anderen Worten, die beiden
waren Lesben ... Fumiko machte es sich zur Gewohnheit, tagsüber die
Wohnung zu verlassen, um Frau Owada aufzusuchen.«

134
»Und was wurde aus dem Verhältnis Ihrer Frau zu Akio Tanno?«
»Ich vermute, dass sie ihn zunehmend auf Distanz hielt. Aber sicher
bin ich mir da nicht ... Zufälle können beängstigend sein. Fumiko
versuchte Tanno aus dem Weg zu gehen, aber eines Tages, als sie bei
Frau Owada war, stand Akio Tanno vor der Tür. Er lieferte Ware aus
dem Kaufhaus aus, bei dem er als Bote jobbte. Es war nicht Frau
Owada, sondern Fumiko, die ihm auf sein Klingeln öffnete. Sie
müssen sehr überrascht gewesen sein, einander zu begegnen. Meine
Frau lud Akio Tanno ein hereinzukommen. Frau Owada sollte zu-
schauen, wie Fumiko einen jungen Mann abknutschte. Sehen Sie, so
war sie ... Sie provozierte gern.« Miyakawa sprang erregt auf und
fuchtelte mit den Händen.
»Tanno wollte sich an meiner Frau rächen, weil sie ihn in seinen
Augen betrogen hatte. Eines Tages bat er mich, ihm mein Jagdgewehr
zu leihen, das sich dort im Schrank hinter Glas befand. Er nahm es
einfach.«
»Und was geschah dann?«
»Das kann ich nicht sagen ... ehrlich, ich weiß es nicht. Aber ich
denke, er hat sie erschossen, so wie er es gesagt hat. Ich habe keine
Nacht mehr durchgeschlafen, seitdem meine Frau nicht mehr nach
Hause gekommen ist. Ich war halb tot vor Angst, dass ihre Leiche
irgendwo auftauchen könnte ... der Gedanke hat mich vollkommen
beherrscht. Wäre die Sache je ans Licht gekommen, hätte es einen
Skandal gegeben, und ich wäre ruiniert.«
»Aber schließlich wurde sie doch gefunden«, sagte ich. »Und zum
Glück hat man sie identifizieren können, anhand verbrannter Kno-
chenreste aus dem Flugzeugwrack.«
Ich wollte es zu Ende bringen. Die Abendluft hier oben in den
Bergen war friedlich und still, nur gelegentlich ließ ein eiskalter Wind
die Blätter in den Bäumen bedrohlich rascheln.
»Das mag ja sein«, sagte Miyakawa, »aber glücklicherweise ist ihr

135
Körper vollständig verbrannt. Jetzt möchte ich den Albtraum nur
noch vergessen. Sie sind beide tot und begraben, meine Frau und ihr
Mörder. Das abgestürzte Flugzeug war eine Militärmaschine, deshalb
gibt es auch keine kriminaltechnische Untersuchung. Die japanische
Polizei darf nicht ermitteln. Und was Sie angeht, so spreche ich mit
einem Arzt. Ich erwarte, dass Sie meine Intimsphäre respektieren.«
Miyakawa hockte sich vor das Feuer. Jetzt war es an mir zu sprechen.
»Sie sagen, Akio Tanno kam damals aus eigenem Antrieb zu Ihnen
nach Hause. Aber war es nicht vielmehr so, dass Sie ihn aufforderten,
Sie privat aufzusuchen, wenn ihm die Studiengebühren Sorgen
machten?«
Miyakawas Schultern bebten.
»Und Tanno war auch nicht der erste Student, den Sie nach Hause
einluden, nicht wahr? Er muss eine Menge Vorgänger gehabt haben.
Und fast alle waren attraktiv, waren jung und gut gebaut, so wie
Tanno. Zu allen war Ihre Frau besonders nett und zuvorkommend.
Unerfahrene junge Männer aus der Provinz würden sich unter den
neuen ungewohnten Lebensbedingungen erwartungsgemäß einsam
fühlen. Sie verzehrten sich nach Liebe. Wahrscheinlich war Ihre Frau
für die meisten das erste weibliche Wesen, das sie in die unbekannte
Welt des Sex einführte. Die jungen Männer waren verletzlich, physisch
wie psychisch, und anfällig für Schuldgefühle wegen ihrer intimen
Beziehung zur Ehefrau ihres Professors.«
»Das ist eine Lüge, nichts als Fantasie ... eine unglaubliche Frech-
heit!«' stammelte Miyakawa.
Ich ignorierte seinen Protest. »Sie warteten stets den richtigen
Zeitpunkt ab, bevor Sie den Studenten zu sich ins Büro bestellten. Sie
drohten ihm und behaupteten, Ihre Frau hätte Ihnen alles gestanden.
Sie wollten wissen, was der junge Mann nun zu tun gedenke. In Ihrer
doppelten Funktion als Professor und Ehemann hat

136
ten Sie ihn in eine ausweglose Lage manövriert. Und dann rückten Sie
mit den Bedingungen heraus, wie der junge Mann das Dilemma lösen
könnte.«
»Sie lügen!«
»Sie zwangen ihn zum Sex. Nur deswegen hatten Sie eine schöne
Frau geheiratet, um mit ihrer Hilfe junge Männer aufzureißen.«
Miyakawa schwieg. Seine Schultern zuckten. Ich legte nach. »Der
Gewehrschrank wurde überhaupt nicht aufgebrochen. Akio Tanno hat
das Gewehr nicht gestohlen. Sie haben es ihm geben.«
»Nein, nein, Sie irren sich ... wirklich. Das Gewehr war eines Tages
spurlos verschwunden. Wenn er sagt, er habe jemanden erschossen,
dann muss er es gestohlen haben. Bitte, glauben Sie mir doch.«
»Wenn Sie eingestehen, dass meine Vermutung der Wahrheit ent-
spricht, dann glaube ich Ihnen. Ich will nur die Wahrheit wissen.«
»Ich bin bereit, alles zuzugeben, aber ich habe nichts geplant, so wie
Sie glauben. Es hat sich einfach so ergeben. Ja, Männer erregen mich.
Doch das ... das ist meine Sache.« Miyakawa hatte Mühe, die Worte
auszusprechen. Er schlug die Hände vors Gesicht und rollte sich auf
den Boden.
Ich nahm eine leichenblasse Kyoko Hara bei der Hand und führte
sie nach draußen. Ich verspürte keinen Hass auf den Professor. Ich
wollte nur, dass er nicht weiter als Lehrer arbeitete. Es war
unverzeihlich, die eigene Position derart auszunutzen und jungen
Menschen Schaden zuzufügen.
»Captain Owada steckte wirklich in Schwierigkeiten«, sagte Kyoko.
»Hätte er mir doch nur davon erzählt.«
»Wahrscheinlich glaubte er, dass niemand ihn verstehen würde.«
»Meinen Sie, es stimmt, was Professor Miyakawa uns erzählt hat?
»Nicht alles. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht mehr von ihm

137
zu erwarten. Mich interessiert nur, ob Frau Owada damit heraus-
rücken wird, welche Rolle sie in dieser Geschichte gespielt hat.«
»Das dürfte schwierig werden«, meinte Kyoko. »Mit Frau Owada
können Sie nicht nach Belieben umspringen wie mit dem Professor.
Sie sind ja in sie verliebt.«
Ich erwiderte nichts und ließ den Motor an. Obwohl wir nur eine
Stunde in der Berghütte verbracht hatten, war die Windschutzscheibe
vereist.

Drei

Wenige Tage später stieg ich erneut die Feuertreppe zu Frau Owadas
Apartment hinauf. Es war kurz nach zehn Uhr morgens, und eine
blasse Wintersonne beleuchtete die Ostseite des Hauses. Frau Owada
würde ihr Sonnenbad nehmen. Ihre momentane seelische Verfassung
würde vermutlich zwischen Illusion und Realität schwanken. Ich
hoffte inständig, dass ihr Realitätssinn obsiegen würde.
Frau Owada öffnete mir. Sie trug ihr spitzenbesetztes Trauerkleid
und hatte Make-up aufgelegt, wenn auch sehr dezent. Sie schien mich
zu erwarten.
»Du musst erschöpft sein, mein Lieber«, sagte sie, »setz dich doch.
Wer war heute dein Co-Pilot?« Sie nahm mir mein Jackett ab und gab
mir Captain Owadas Morgenmantel. Er war braun und an den Ärmeln
mit Drachen bestickt. Mit ihren feingliedrigen Fingern fuhr Frau
Owada über die Stickerei und presste ihre Wange gegen meine.
»Ich fühle mich einsam, wenn du nicht da bist«, sagte sie.
»Du hast dein Sonnenbad schon hinter dir, vermute ich?«

138
»Ja, eine Stunde lang, heute früh.«
»War Fumiko schon da?«
»Fumiko ...? Aber ja, sie ist hier gewesen.« Ihr Blick war glasig.
Ich spielte weiter die Rolle ihres Ehemannes, was sie offensichtlich
wünschte. Die beiden hatten sicher viele Male über Fumiko geredet.
Plötzlich blieb mein Blick an dem gigantischen weißen Kühlschrank
in der Küche hängen. Er war viel zu groß für ihre winzige Wohnung.
Ein amerikanischer Restaurantkühlschrank. Warum hatte sie sich einen
derart überproportionierten Kühlschrank gekauft? Mir fiel ihre nasse
Sonnenliege ein. Damals dachte ich, sie hätte gerade geduscht. Aber
war das wirklich die Ursache? Ein Schauer kroch mir über den
Rücken.
»Hast du dich gut unterhalten mit Fumiko?«
»Ja, danke schön.«
»Und habt ihr euch gemeinsam gesonnt?«
»Nein, heute nicht. Sie ist sehr kälteempfindlich.« Frau Owadas
Wange schmiegte sich immer noch an meine. Ihr Trauerkleid war
hochgeschlossen mit langen Ärmeln; das Musterbeispiel einer an-
ständigen Witwe, die keinen Zentimeter ihrer wunderschönen Haut
sehen lässt.
»Versuch dich an den Tag zu erinnern, als Fumiko starb. Akio
Tanno brachte ein Jagdgewehr mit, das er in einer Pappschachtel
versteckt hatte, nicht wahr?« Ich legte meinen Arm um ihre Schultern
und zog sie an mich. Ungestüm stieß sie mich weg, sprang auf, stellte
sich mit dem Rücken zu mir ans Fenster.
»Hören wir auf mit dem Theater«, sagte sie. »Sie finden das viel-
leicht witzig, ich aber gewiss nicht. Von der Welt der Träume haben
Sie nicht die leiseste Ahnung, stimmts? Sie gehören zu den Menschen,
die keine Ruhe geben, ehe sie nicht alles auf die Fakten hin abgeklopft
haben.«

139
»Tatsache ist nun mal, dass ein Mensch umgekommen ist. Es ist nur
verständlich, dass die Leute misstrauisch sind. Sie suchen eine
Erklärung.«
»Erklären Sie es, so viel Sie wollen. Wie Sie ja erraten haben, sind
sich Akio Tanno und Fumiko in meiner Wohnung begegnet. Nach
ihrer Scheidung habe ich Fumiko eine Weile als Haushälterin be-
schäftigt. Sie kam immer dann, wenn mein Mann fort war. Norma-
lerweise öffne ich, wenn es läutet, aber an dem Tag, als Akio die Be-
stellung brachte, war ich gerade beim Waschen, also ging Fumiko zur
Tür. Es ist sinnlos, das jetzt zu bedauern. Danach hat Akio immer
wieder angerufen und wollte Fumiko sehen. Ich lehnte ab. Fumiko
und ich hatten einen Pakt geschlossen: Wir wollten gemeinsam aus
dem Leben scheiden ... Wir liebten uns, müssen Sie wissen. Auch
wenn die Liebe rein platonisch war.«
»War sie wirklich eine so wundervolle Frau?«
Als Antwort auf meine Frage holte Frau Owada ein Fotoalbum und
zeigte mir ein Bild von Fumiko. Es stammte aus jener Zeit, als sie
vorübergehend zum neuen Theater-Star hochgejubelt wurde. Sie
spielte die Helena von Troja und lachte übers ganze Gesicht. Ich fand
sie nicht unbedingt schön, aber sie hatte etwas außerordentlich
Anziehendes.
»Eine elegante Frau«, bemerkte ich.
Ich gab Frau Owada das Album zurück. Sie nahm das Foto heraus
und hielt es wie einen Säugling in ihren Armen.
»Fumiko wollte unbedingt sterben. Sie war es, die das Jagdgewehr
aus der Hütte mitbrachte. Wir wollten uns gemeinsam erschießen, ein
Doppelselbstmord, wie ihn eigentlich nur Männer verüben. Fumiko
erschoss sich zuerst.«
Nach kurzem Schweigen sprach sie weiter. »Genau in dem Mo-
ment betrat jemand die Wohnung. Ich erschrak und versteckte mich
hnter einem Vorhang.

140
»Akio Tanno.«
»Ja. Er hatte sich einen Nachschlüssel besorgt. Er glaubte, es wäre
Fumikos Wohnung, denn um ihn loszuwerden, schwindelte sie ihm
vor, nach der Scheidung einen Mann namens Owada geheiratet zu
haben. Akio glaubte ihr. Er hatte von außen Wachs ins Schloss ge-
drückt und sich eigenhändig einen Nachschlüssel gebastelt. Was er in
seinem Geständnis von der großen Schachtel erzählt hat, mit deren
Hilfe er sich Zugang zur Wohnung verschaffte, war gelogen. Als er ins
Zimmer kam und Fumiko tot am Boden liegen sah, begann er zu
schreien. Er war überzeugt, sie mit seiner Aufdringlichkeit selbst
getötet zu haben. So hatte er ihr gedroht, ihrem neuen Ehemann zu
erzählen, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Darum hat er
Ihnen gegenüber behauptet, er hätte sie umgebracht.«
»Warum war die Kette nicht vorgelegt, als er die Tür mit seinem
Nachschlüssel öffnete?«
»Ich hatte sie abgenommen, weil mein Mann nicht ausgesperrt sein
sollte, nachdem wir uns erschossen hätten.«
Ihre Erklärung war logisch, aber dennoch glaubte ich ihr nicht alles.
Ich musste an einen Roman von Akutagawa denken, den ich vor
Jahren gelesen hatte. Drei Menschen sind in ein Verbrechen ver-
wickelt, und alle drei liefern eine völlig unterschiedliche Version der
Geschehnisse. Am Ende weiß man nicht, was die Wahrheit ist. Aber
wer log hier?
In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf Frau Owadas
Schulter. Durch das feine Spitzengewebe schimmerten blaue Flecken.
Ich rutschte an sie heran und riss ihr das Kleid von der Schulter. Die
Flecken waren Zahnspuren.
Vor ein paar Tagen hatte Fumiko Kawakami mir erzählt, sie habe
jemanden gebissen. Handelte es sich bei dem »reichen Verehrer« um
Frau Owada? Aber warum hatte sie Fumiko Geld gegeben? Vielleicht
war Fumiko unter Drogeneinfluss etwas Wichtiges zu Akio

141
Tanno eingefallen. Frau Owada musste ein Interesse haben, dass sie
den Mund hielt.
Wieder lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Unwillkürlich
schaute ich auf den Riesenkühlschrank in der Küche. Frau Owada
legte den Arm um meine Schultern und schmiegte sich zärtlich an
mich, setzte an, mich zu küssen. Sie bemerkte meinen Blick. Ohne eine
Miene zu verziehen, ließ sie rasch die Jalousie am Fenster herunter.
Ein Schatten fiel auf unsere Gesichter.

142
12

Der Riss im Boden

Eins

Grüne Wasserlinsen bedeckten den Pool. Zwischendrin schwammen


Blätter und Stöckchen, vielleicht von Kindern hineingeworfen. Vor
meinen Augen begann der Wasserspiegel zu sinken. Neben dem Pool
stand ein rotes Feuerwehrfahrzeug und pumpte das Becken leer.
»Was, meinen Sie, was werden wir finden? Noch eine Leiche?« Der
Polizeiinspektor stellte mir die Frage fast genussvoll.
Die forensische Abteilung der Universität hatte sich direkt an die
Polizei gewandt, und der Inspektor wollte die Operation selbst über-
wachen. Wir waren einer Lösung sehr nahe, das spürte ich. Mir war zu
Mute wie einem Kind kurz vor Schluss eines spannenden Films - ich
war traurig, dass bald alles vorbei sein würde.
»Keine Ahnung, was hier auftauchen wird. Schon möglich, dass es
eine weitere Leiche gibt«, sagte ich.
»Ich hoffe nur, unsere Information stimmt«, sagte der Inspektor.
»Bei dem ganzen Aufwand, den wir hier treiben, mit dem Pump-
fahrzeug der Feuerwehr und so, würden wir ziemlich dumm aussehen,
wenn wir nichts finden. Aber besser nicht noch eine Leiche.«
Er scherzte und beobachtete gleichwohl konzentriert die sinkende
Wasseroberfläche. Das Becken war halb leer. Einen Toten müsste man
jetzt auf jeden Fall sehen. Ich schwankte zwischen Erleichterung und
Unruhe. Wenn die Männer nichts zu Tage förderten, hätte ich ihnen
umsonst viel Arbeit gemacht. Das Wasser floss immer rascher ab, und
der Boden des Pools, auf dem sich Blätter

143
und Unrat von der Wasseroberfläche sammelten, war schon gut zu
erkennen. Einer der Männer, die schenkelhohe Gummistiefel trugen,
schrie überrascht auf. Er hatte am anderen Ende des Beckens, nahe
beim Wasserablauf, einen länglichen, mit Algen bedeckten Gegenstand
entdeckt.
»Ein Gewehr! Da hinten liegt ein Gewehr!«
»Holen Sie es, aber seien Sie vorsichtig«, befahl der Inspektor.
»Ist das das Gewehr, das Sie suchen?«, fragte er. »Ich glaube
schon.«
Mich überkam Erleichterung. Ich hatte befürchtet, dass wir am
Beckengrund Fumiko Kawakamis Leiche, mit einem Gewicht be-
schwert, finden würden.
»Erinnern Sie sich an die Geschichte des Studenten, der behauptete,
er wäre hier in diesem Haus gewaltsam in eine Wohnung im sechsten
Stock eingedrungen und hätte jemanden getötet?«, fragte ich den
Inspektor. »Er war in meiner Klinik zur Beobachtung ... «
»Sie meinen den Studenten, der sich vor ein paar Monaten in die-
sem Swimming-Pool ertränkt hat?«
»Genau. Und hier haben wir das Gewehr, das er in den Pool ge-
worfen hat.«
»Hm, als wir damals die Leiche herausholten, haben wir doch auch
den Boden abgesucht ... aber wohl nicht gründlich genug.« Der
Inspektor wirkte enttäuscht. Da das Abwassersystem des Pools defekt
war, hatte die Feuerwehr das Becken im letzten Jahr als W asserreserve
benutzt.
Er wandte sich ab, um das Gewehr in Augenschein zu nehmen,
und ich stieg erneut zu der Wohnung im sechsten Stock hoch.
Frau Owada öffnete sofort und bat mich in die Loggia. Sie trug
wieder das schwarze Spitzenkleid.
»Man hat im Pool das Gewehr gefunden, das Akio Tanno in seiner
Aussage erwähnt«, sagte ich.
»Ich weiß, ich habe von oben zugesehen.«

144
»Bei meinem letzten Besuch erzählten Sie mir, dass Frau Miyakawa
Selbstmord beging. Dass sie sich mit dem Gewehr erschossen hat.
Dann haben also Sie das Gewehr in den Pool geworfen?«
Sie gab keine Antwort. Auch ich schwieg, als wir die Loggia betra-
ten, und starrte dumpf auf die grünen Blätter des Gummibaums. Ich
hatte plötzlich das Gefühl, Frau Owada würde gleich gestehen, dass sie
Fumiko Miyakawa erschossen hatte.
»Ich dachte, Akio hätte das Gewehr verschwinden lassen. Es wäre
besser gewesen, für den toten Akio und für die Menschen, die die
Hintergründe dieser Affäre kennen, wenn man es nie gefunden hätte.
Solange jeder glaubt, dass Fumiko sich umgebracht hat, ist die
Geschichte unter Kontrolle.« Sie sprach rasch und klar, in sachlichem
Ton.
»Heißt das, dass Akio Tanno Fumiko Miyakawa getötet hat, und
zwar mit dem Jagdgewehr?«
Ob man wirklich sagen kann, dass er sie getötet hat, weiß ich nicht.
Tatsache ist, dass er auf sie anlegte und den Abzug betätigte.«
»Tatsache ist demnach auch, dass Tanno das Jagdgewehr eigen-
händig in dieses Zimmer brachte?«
»Richtig. Er hatte es in einer Schachtel versteckt. Doch das Ganze
ist viel komplizierter.«
Seufzend zündete Frau Owada sich eine Zigarette an, die in einer
langen Spitze steckte.
»Sie wissen vermutlich, wie Professor Miyakawa mit Fumiko nach
ihrer Heirat umgesprungen ist?«
»Eine höchst unerfreuliche Geschichte. Soweit ich weiß, benutzte
Miyakawa seine Frau als Köder, um männliche Studenten in sein Haus
zu locken.«
»Fumiko konnte es schwer ertragen. Anfangs versuchte sie sich mit
der Vorstellung zu trösten, sie sei die Ehefrau eines leibhaftigen

145
Universitätsprofessors mit all dem Sozialprestige. Wir hatten uns zu-
fällig in der Arbeitsgruppe Poesie kennen gelernt und waren seitdem
Freundinnen. Eines Tages brach Fumiko zusammen und erzählte mir,
wie sehr sie litt. Nach ihrer Scheidung zog sie aus der ehelichen
Wohnung aus und lebte bei mir. Miyakawa erfuhr natürlich, wo sie
wohnte, tat aber so, als wüsste er es nicht. Nach einer Weile kam er auf
die Idee, sie solle zu ihm zurückkehren. Und eines Tages stand dann
völlig unerwartet der junge Akio, der als Bote jobbte, vor der Tür.
Es war reiner Zufall, dass Fumiko ihm öffnete und nicht ich. Beide
waren verblüfft, einander wiederzusehen. Akio hatte sich ja heftig in
Fumiko verliebt. Fumiko wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und
log ihm vor, sie sei nicht mehr die Frau von Professor Miyakawa,
sondern hätte wieder geheiratet und hieße jetzt Owada. Natürlich
glaubte ihr Akio aufs Wort. Und so begann diese schreckliche
Geschichte.«
Mir fiel auf, dass Frau Owada im Gegensatz zu früheren Anlässen
ihre Geschichte flüssig und ohne Zögern erzählte. Sie hatte die Täu-
schungsmanöver satt. Für wen sollte sie denn auch die Wahrheit ver-
schweigen? Ich wandte mich ab und schaute zum Pool. Das Becken
war jetzt leer, und unter den Zypressen lag, achtlos hingeworfen, das
Schild »Nur für Mitglieder«.

Zwei

»Bitte erzählen Sie mir mehr über den Mordtag. Ich meine den Tag, an
dem Akio Tanno Fumiko Miyakawa tötete.«
»Am Tag davor rief mich Professor Miyakawa an. Er sagte, Akio
Tanno sei mit einem Jagdgewehr auf dem Weg hierher. Tanno wolle

146
Fumiko töten, da er überzeugt war, sie sei Frau Owada. Miyakawa
wollte, dass ich mit Fumiko die Wohnung verließ, weil Akio voraus-
sichtlich das Gewehr mitbringen würde, versteckt in einen Ge-
schenkkarton vom Kaufhaus. Akio hatte dem Professor erzählt, dass
Fumiko in meiner Wohnung lebte.«
»Und trotz Miyakawas Warnung ließen Sie Tanno in die Woh-
nung?«
»Der Professor sagte, dass er Akio zwar das Gewehr geliehen, die
scharfe Munition aber durch Platzpatronen ersetzt hätte. Laut Miya-
kawa war Akio von der ganzen Geschichte völlig besessen. Rationalen
Argumenten wäre er erst wieder zugänglich, wenn er aktiv eine Tat
vollbracht hätte, und am besten ließe man ihn gewähren. Um eine
Gefährdung auszuschließen, müsse man genau nach Plan vorgehen.«
»Also beschlossen Sie, ein kleines Drama zu inszenieren.«
»Genau. Als ich Fumiko erzählte, was ihr Ex-Ehemann gesagt hatte,
war sie einverstanden mitzumachen. Sobald Akio die Platzpatrone
abgefeuert hatte, würde sie eine schöne Todesszene hinlegen und so
tun, als verblutete sie. Die Vorstellung faszinierte sie.«
Der Gedanke, sich tot zu stellen und dem jungen Mann einen
Schock zu versetzen, musste Fumiko gefallen, schließlich war sie eine
viel versprechende Schauspielerin gewesen. Langsam wurde mir klar,
auf welche Weise die vier sich in diese unglückselige Geschichte
verstrickt hatten.
»Akio kam gegen zwei Uhr nachmittags über die Feuertreppe zu
uns. Er gab vor, ein Paket vom Kaufhaus bei sich zu haben. Fumiko
nahm die Kette von der Tür und öffnete. Sie tat einen Schritt zurück,
Akio nahm das Gewehr aus dem Karton und drückte ab. Ein Schuss
fiel, und ich hörte seine Stimme bis ins Badezimmer, wo ich mich
versteckt hatte. Er schrie sie an: „Du hast mich betrogen, ich habe
dich so sehr geliebt ... Du hast mein Leben zerstört!“ Da tat er mir auf
einmal schrecklich Leid. Wenn man wirklich liebt, über

147
schreitet man leicht alle Grenzen. Ich hörte Akio fortgehen und ver-
ließ mein Versteck. Ich wollte Fumiko sagen, dass mir das Ganze wie
Schmierentheater vorkam. Aber als ich genauer hinsah, merkte ich,
dass sie tot war. Erschossen. Mitten ins Herz.«
„Akio nahm das Gewehr wieder mit, als er fortging?«
»Ja. Ich habe es jedenfalls nicht mehr gesehen.«
Warum war Akio Tanno entfallen, dass er die Waffe in den Pool
geworfen hatte? In seiner Erregung hatte er wohl unmittelbar nach der
Tat eine kurzfristige Amnesie erlitten. Das war die einzige Erklärung.
»Warum haben Sie nicht sofort Polizei und Notarzt gerufen?«
»Ich war zu verwirrt. Warum war das Gewehr scharf geladen? Das
verstand ich nicht. Ich versuchte Professor Miyakawa in der Univer-
sität zu erreichen, aber man sagte mir, er sei in einer Vorlesung und
erst in zwei Stunden zu sprechen. Zwei Stunden saß ich neben der
toten Fumiko. Ich war von Trauer und Schock überwältigt, unfähig,
irgendwas zu tun. Mein Mann kam nach Hause. Er sah die tote Fu-
miko und dachte sofort, dass ich sie erschossen hätte.«
»Haben Sie ihm nicht erklärt, dass Akio Tanno es getan hatte?«
Ja, natürlich. Mein Mann gab vor, es zu verstehen, aber ich wusste
genau, dass er mir nicht glaubte. Er war ja der Meinung, Fumiko und
ich wären ein Liebespaar.«
»Und waren Sie ein Liebespaar?«
»Wenn ja, dann nur ein platonisches. Mein Mann hatte natürlich
den Verdacht, dass da mehr wäre. Wie die meisten so genannten
normalen Menschen besaß er eine abartige Fantasie.«
»Und was unternahm Ihr Mann weiter?«
»Er fuhr noch am selben Abend zu einem Freund, einem Ameri-
kaner, und lieh sich einen Gefrierschrank; so ein Riesending, wie man
ihn in Restaurants für die Vorratshaltung benutzt. Eine Wohnung ist
schließlich kein Haus; man kann nicht einfach in den Gar-
ten gehen und eine Leiche vergraben. Meinen Mann beschäftigte nur

148
der Gedanke, wie wir die Leiche loswerden könnten. Er glaubte ja, ich
hätte Fumiko erschossen. Also musste er mich vor einer Verhaftung
bewahren. Damit wollte er mir seine Liebe beweisen oder mir
zumindest zeigen, dass er im Stande war, mich zu beschützen.«
»Ich muss zugeben, auch ich dachte, Sie hätten Frau Miyakawa
getötet.«
»Denken Sie das jetzt auch noch?«, fragte sie mich ruhig. Ihr Blick
verriet keinerlei Emotionen. Aber sie wartete meine Antwort nicht ab.
»Zwei Tage später kam die Polizei. Akio hatte sich gestellt und den
Mord an Frau Owada gestanden. Aber die Polizisten mussten
feststellen, dass ich gesund und munter war. Sie konnten nichts ma-
chen. Hätte er die Tötung einer x-beliebigen Frau gestanden, wäre die
Situation anders gewesen. Er aber behauptete steif und fest, er habe
Frau Owada auf dem Gewissen. Außerdem konnte er keine
Mordwaffe vorweisen.«
Langsam begann ich zu verstehen, wie es kam, dass Akio Tanno,
dem scheinbar niemand zuhören wollte, das Gefühl bekam, verrückt
zu werden.
»Mein Mann schien mich für eine Art krankhafte Lesbe zu halten.
Er dachte allen Ernstes, ich sei geistesgestört, und glaubte sogar, im
meinem Interesse die Leiche beseitigen zu müssen. Deshalb meldete er
sich freiwillig, als seine Fluggesellschaft Militärflüge nach Vietnam ins
Programm nahm. Militärmaschinen unterliegen weder der Zoll-
kontrolle, noch haben sie feste Flugzeiten. Als ein Sonderflug ange-
kündigt wurde, verstaute mein Mann die Holzkiste mit Fumikos Lei-
che im Laderaum. Mich forderte er auf, ein Gedicht zu schreiben, weil
er sie im Meer bestatten wollte, im tiefen blauen Meer. Ich tat ihm den
Gefallen und schrieb ein paar Gedichte für Fumiko.„
»Ich finde es erstaunlich, wie Sie ungerührt so weiterleben konnten
- mit einer Leiche im Gefrierschrank«, sagte ich.
»Ab und zu habe ich schon befürchtet, nicht mehr ganz richtig im

149
Kopf zu sein. Ich musste so tun, als würde ich jeden Tag an Fumikos
Seite ein Sonnenbad nehmen. Mein Mann fühlte sich erleichtert, wenn
die Couch nasse Flecken hatte.«
»Aber warum haben Sie dieses schreckliche, selbstzerstörerische
Spiel so lange mitgemacht?«
»Ich wollte zumindest den Anschein von Liebe zwischen meinem
Mann und mir aufrechterhalten, wie auch immer.«
»Sie wussten doch, dass Ihr Mann eine Affäre mit der Stewardess
hatte?«
»Ja, deshalb habe ich mich ihm ja auch verweigert. Ich bin überaus
wählerisch, schon fast krankhaft anspruchsvoll. Mittlerweile denke ich,
es war ein Fehler, die junge Frau in unsere Eheschwierigkeiten zu
verwickeln. Ich hätte die Polizei doch gleich verständigen sollen.«
»Was hat Professor Miyakawa zu der scharfen Patrone gesagt?«
»Er habe keine Ahnung davon, behauptete er. Akio müsse bemerkt
haben, dass eine Platzpatrone im Lauf steckte, und sie gegen eine
scharfe Patrone ausgetauscht haben. Auch wenn es wie eine Entschul-
digung klingt - ich wollte den jungen Mann vor einer Mordanklage
bewahren. Ich hätte den Rest meines Lebens mit Fumikos Leiche zu-
gebracht, wenn das der einzig mögliche Weg gewesen wäre.«
Frau Owada schaute mir direkt in die Augen. Sie hatte mir endlich
die Wahrheit gesagt. Das Verhalten der Owadas hatte seine Ursachen
in der schwierigen Beziehung der beiden Ehepartner. Ihre Taten waren
das Ergebnis einer unglaublich egoistischen Liebe ...
»Man hat das Gewehr gefunden, und im Flugzeugwrack wurde die
dritte Leiche entdeckt. Ich glaube nicht, dass Sie die Geschichte noch
länger verschweigen können. Früher oder später müssen Sie zur
Polizei.«
»Das ist mir bewusst. Würden Sie mich freundlicherweise begleiten
und mir helfen, alles zu erklären?«

150
»Gewiss, aber vorher möchte ich noch eine Frage klären. Haben Sie
kürzlich einem jungen Mädchen namens Fumiko Kawakami Geld
gegeben?«
»Ganz bestimmt nicht. Sie stolzierte in meine Wohnung und platzte
gleich damit heraus, dass Fumiko noch lebte, nachdem Akio
abgedrückt hatte; ich hätte Fumiko den Rest gegeben. Als ich schwieg,
hat sie mich plötzlich in die Schulter gebissen, hat sich aber gleich
darauf entschuldigt und ist fortgerannt.«
Jetzt verstand ich, was Fumiko Kawakami im Sinn gehabt hatte.

Drei

Wir kamen zu spät nach Karuizawa. In den Bergen herrschte eisige


Kälte, und ich musste Schneeketten montieren, was kostbare Zeit
verschlang.
Die Jagdhütte war hell erleuchtet. Als ich die Tür aufstieß, lag
Professor Miyakawa tot vor dem Kamin. Neben ihm hockte Fumiko
Kawakami, ein Jagdgewehr auf dem Schoss. Sie starrte mit glasigem
Blick vor sich hin. Ich streckte die Hand aus, und sie gab mir willig das
Gewehr. »Ich habe ihn umgebracht. Ich habe Akio gerächt.«
»Akio hat doch Selbstmord begangen?«, fragte ich.
»Ja, aber bevor er starb, ist ihm alles wieder eingefallen, jede Ein-
zelheit. Er hatte alles Selbstvertrauen verloren. Aber vor seinem Tod
kam die Erinnerung zurück.«
»Warum haben Sie Professor Miyakawa getötet?«
»Weil er Akio das Gewehr gegeben hat. Akio hat mir auch erzählt,
was Miyakawa ihm angetan hat.«
»Aber ...« Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen. Nur weil wir
Akios Aussage nach psychologischen Kriterien interpretiert hatten,

151
war ein unnützer Mord geschehen. Ich spürte die Verantwortung
schwer auf meinen Schultern.
»Als Sie neulich in der Nacht zu mir kamen, entdeckte ich die vielen
kleinen Wunden an Ihrem Körper. Wer hat Ihnen das angetan,
Fumiko?« Ich bemühte mich, ruhig und gelassen zu erscheinen.
»Ach die ... « Sie schaute zu dem toten Mann.
»Die hab ich ihm zu verdanken. Er wollte, dass ich zur Polizei gehe
und sage, dass die Bisse von Frau Owada sind. Außerdem sollte ich
behaupten, dass sie Fumiko ermordet hat, nachdem Akio die
Platzpatrone verschossen hatte. Miyakawa hat mir Geld dafür gegeben,
und zuerst wollte ich es auch tun. Unterwegs habe ich aber meine
Meinung geändert. Sehen Sie, er hatte Akio das Gewehr geliehen. Und
ich war mit Akio die ganze Nacht zusammen, nachdem er die Frau
getötet hatte. Ich war ziemlich hinüber wegen der Schlaftabletten und
so, aber ich weiß noch, was er mir erzählt hat, geweint hat er dabei.
Vor zwei oder drei Tagen fiel es mir endlich wieder ein. Jedes Detail.
Das Jagdgewehr war mit einer Platzpatrone geladen, die er gegen eine
scharfe Patrone ausgetauscht hat. Die Erwachsenen versuchten alle
nur, ihn zu belügen und zu betrügen, sagte er, aber er gehe keinem
mehr auf den Leim. Akio gab mir die Patrone. Zur Erinnerung, wie er
sagte ... Ich steckte sie in meine Handtasche, und dort ist sie auch
geblieben. Deshalb weiß ich, dass Frau Owada Fumiko nicht
erschossen hat.«
»Aber neulich haben Sie mir die Patrone aufs Bett gelegt.«
»Ja. Ich dachte, sie wäre besser bei Ihnen aufgehoben als bei mir.«
Die Bedeutung ihrer Aussage schien ihr nicht bewusst. Bedrückt
schaute ich auf den Toten. So hätte er nicht sterben müssen.
Ich legte der frierenden Fumiko meinen Mantel um die Schultern,
brachte sie zum Auto und ließ sie hinten einsteigen. Es gab kein
Telefon, um den nächsten Polizeiposten zu verständigen. Frau Owada
saß auf dem Beifahrersitz, die Augen geschlossen.

152
»Alle haben mich an der Nase herumgeführt. Jeder hat eine eigene
Version der Geschichte. Und jeder glaubt nur seiner eigenen
Wahrheit.« Frau Owada gab keine Antwort.
Mit leise klirrenden Schneeketten tastete sich das Auto langsam
talwärts.
»Bitte sagen Sie mir nur eins. Welchen Menschen lieben Sie am
meisten?«
»Meinen Mann natürlich ... Auch jetzt liebe ich nur ihn.«
»Wenn er nicht tödlich verunglückt wäre, hätten Sie an Ihrer Ehe
weiterhin festgehalten, ohne Veränderungen, ohne Abstriche?«
»Das hätte ich fertig gebracht. Besser als die eigenen Gefühle ab-
zuwürgen ... Aber das können Sie wohl nicht verstehen.«
Ich hielt vor dem Polizeiposten. Ein Dienstwagen parkte davor, mit
einer dicken Schneeschicht auf dem Dach. Ich schaltete den Motor ab
und drehte mich zum Rücksitz um. Fumiko Kawakami schlief; auf
ihrem unschuldigen Antlitz perlten winzige Schweißtropfen.
»Das mag sein. Aber ich kann nicht ruhig mit ansehen, wie junge
Menschen sich ihr Leben zerstören«, sagte ich.
Frau Owada betrachte eine Weile Fumikos Gesicht, entgegnete aber
nichts. Ich stieg aus und ging die grauen Stufen zum Eingang hinauf,
um meine Aussage zu machen. Plötzlich fühlte ich mich um Jahre
gealtert. Das Thermometer neben der Tür zeigte minus siebzehn Grad.
und mein Atem war eine weiße Wolke.

153
Masako Togawa
Masako Togawa, 1933 in Tokio geboren, ist als Kind einer allein erziehenden Mutter
aufgewachsen. Nachdem der Vater im Krieg verstorben war, arbeitete ihre Mutter
als Hausdame und finanzierte so die Ausbildung ihrer Tochter. Sobald Masako
Togawa alt genug war, verließ sie die Schule und wurde Sekretärin. Mit
dreiundzwanzig Jahren begann sie als Sängerin in dem bekannten Nachtclub „Gin-
Pari. 1962 veröffentlichte sie ihren ersten Romas Ooinaru Genei, wörtlich übersetzt
»Die große Illusion( auf Deutsch unter dem Titel Der Hauptschlüssel erschiennen.
Er wurde mit dem renommierten Edogawa-Ranpo; Preisausgezeichnet, der seit
1955 jeweils an den beste japanischen Kriminalroman verliehen wird. 1963 wurde
ihr zweiter Roman Ryojin Nikki, deutsch Schwestern der Nacht, ein Bestseller in
Japan. Seitdem gilt sie als eine der erfolgreichsten Romanautoren Japans.
Schwestern der Nacht wurde mit Togawa in der Hauptrolle für das japanische
Fernsehen verfilmt.
In Japan ist Togawa seit Jahren auch als Essayistin und Kommentatorin im
Fernsehen bekannt. Als Juliette -Gréco-Fan und begeisterte Parisbesucherin hat sie
in Tokio das Cabaret )Aoi Heya“, „Das blaue Zimmer“, für Frankophile eröffnet, in
dem sie selbst Chansons vorträgt. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.
Togawa hat neunundzwanzig Romane und zwanzig Erzählbände veröffentlicht,
die wichtigsten Romane liegen in acht Sprachen übersetzt vor. Die Übersetzung ins
Englische brachte ihr nachhaltigen internationalen Erfolg.

Bibliografie
In deutscher Übersetzung sind erschienen: Ooinaru Gen'ei (1962; dt. Der Haupt-
schlüssel, 1990); Ryojin Nikki (1963; dt. Schwestern der Nacht, 1990); Hi no seppun
(1985; dt. Der Kuss des Feuers, 1990); Fukai Shissoku (1976; dt. Trübe Wasser in
Tokio, 1998).

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