Sie sind auf Seite 1von 30

Zur Geschichte und Psychologie eines Erlösers und seiner Bewegung

für Marie-Louise von Franz

Die jüdische Mystik - die Kabbala - hat mit Isaak Lurja um die Mitte
des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und damit auch ihre Vollendung
erreicht. Ihre Entwicklung hat mit der fast allgemeinen Anerkennung der
Lurjanischen Lehre ihren eigentlichen Abschluss gefunden. Die Kabbali-
sten der nachfolgenden Jahrzehnte weisen nur wenige originelle Ideen und
schöpferische Gestaltungskraft auf. Das geistige Erbe der Kabbala wurde
zum Teil von jener mystischen Richtung des Judentums im 18. Jahrhun-
dert übernommen, die man als Chassidismus bezeichnet. Aber schon vor
der chassidischen Bewegung entstanden etwa hundert Jahre zuvor reli-
giöse Strömungen innerhalb des Judentums, deren geistige Wurzeln eben-
falls in die Lurjanische Kabbala zurückreichen. Es handelt sich um die bei-
den häretischen Bewegungen des Judentums, welche sich an die Namen
Sabbatai Zwi und Jakob Frank knüpfen, die zur Zeit ihrer Entstehung eine
ungemein faszinierende und zugleich schockartige Wirkung auf das zeit-
genössische Judentum ausübten und eine explosive Dynamik entfalteten,
welche das ganze geistige Gebäude des Judentums jener Epoche zu
erschüttern vermochte und zu zerstören drohte.
Der Sabbatianismus, wie man die auf seinen Stifter zurückgehende
Bewegung zu bezeichnen pflegt, ist - so viel steht heute nach den grundle-
genden Forschungen von G. Scholem1 fest - weder ein national-politi-
sches Abenteuer noch eine utopisch-schwärmerische Erlösungs- und Er-
weckungsbewegung, deren Aufstieg und Erfolg einzig und allein aus der
beinahe zweitausendjährigen Leidensgeschichte des jüdischen Volkes er-
klärt werden könnte. Wohl waren die äusseren historischen, politischen,
sozialen, ökonomischen und geistigen Voraussetzungen derart, dass in
den rechtlosen, geknechteten und gequälten jüdischen Massen, vorab im
europäischen Osten, eine brennende Erlösungssehnsucht geweckt wurde.

1)
G. Scholem: Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah. Princeton 1973
Aber bekanntlich ist Geschichte nie ausschliesslich ein Abbild von äusse-
ren Ereignissen gewesen. Das äussere, in historischen Daten und Fakten
fassbare Geschehen stellt ja im Grunde genommen immer auch eine Spie-
gelung eines inneren Schicksalsablaufes dar, wobei sich diese beiden Wirk-
lichkeitsebenen jeweils wechselseitig bewirkten und bedingen. Wenn
daher ein so gelehrter jüdischer Historiker wie Joseph Klausner2 die Auf-
fassung vertreten hat, die «ganze Messiasidee sei im Grunde genommen
nichts anderes als ein Produkt der Leidensgeschichte Israels», so beweist
dies einen bedauerlichen Mangel an psychologischem Verständnis für den
Sinn innerer Gesetzmässigkeiten. Aus äusseren Voraussetzungen allein
lässt sich - um bei unserem Beispiel zu bleiben - niemals der eindrucks-
volle Siegeszug der sabbatianischen Bewegung erklären, welche das
Judentum des gesamten Abendlandes, Nordafrikas und des Vorderen
Orients in seinen Strudel zog.
Der Sabbatianismus und der zeitlich etwas spätere Frankismus stellen
keineswegs den ersten Versuch dar, sich gegen das traditionelle talmudisch-
rabbinische Judentum aufzulehnen. Bereits im zehnten Jahrhundert
hatte Anan ben David die asketische Sekte der Karäer begründet, die sich
vehement gegen den Talmud als Norm jüdischen Lebens wandte. Doch
blieb dieser Bewegung ein dauernder Erfolg versagt, vermutlich deswe-
gen, weil die geistigen Werte der karäischen Reformbewegung nicht von
einem lebendigen Mythos getragen waren.
Im Gegensatz dazu ist gerade die häretische Kabbala in hohem Masse
von einem mythischen Hintergrunde geprägt. Denn die sabbatianische
Häresie stellt genau genommen nichts anderes dar als ein spontanes
Erwachen, um nicht zu sagen einen stürmischen Durchbruch jenes gnostisch-
kosmogonischen Mythos Isaak Lurjas, der sich mit Ideen der jüdi-
schen Apokalyptik und des Messianismus amalgamiert hatte. Durch diese
Verbindung entstanden zwei häretische Bewegungen, deren geradezu
revolutionäre Durchschlagskraft noch bis zum Beginn des 20. Jahrhun-
derts verspürt werden konnte. Denn bis kurz vor Beginn des ersten Welt-
krieges lebten in Saloniki noch vereinzelte sabbatianische Gruppen, die

2)
J. Klausner: Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten.
Berlin 1904 pag. 9f
J. Klausner: Jesus von Nazareth. Berlin 1930 pag. 270ff
Dönmehs, deren Literatur in den vergangenen Jahrzehnten teilweise ver-
öffentlicht worden ist.
Die Entwicklung der häretischen Kabbala ist aufs engste mit dem per-
sönlichen Schicksal ihres Begründers, Sabbatai Zivi, verknüpft. Es ist
nicht das Anliegen der vorliegenden Studie, die Geschichte und das
Schicksal dieser Bewegung mit ihren verzweigten historischen, nationalen
und geistigen Wurzeln darzustellen. Durch die umfangreiche Literatur
über dieses Gebiet sind wir heute einigermassen gut orientiert. Aber man
kann die sabbatianische Häresie nicht verstehen ohne ihren geschichtli-
chen Hintergrund zu kennen. Wir werden infolgedessen nicht darum her-
umkommen, zunächst die historische Situation in Kürze zu skizzieren.
Dabei geht es mir nicht darum, neue geschichtliche Fakten oder Bezüge zu
beleuchten. Vielmehr geht es darum, den psychologischen Hintergrün-
den dieser Bewegungen nachzugehen. Wenn es dabei gelingen sollte,
etwas über die psychischen Motivationen des Stifters dieser Bewegung
und seiner Anhänger auszusagen, dann wird es vielleicht auch möglich
sein, einen Beitrag zum Verständnis der Theologie und Psychologie dieser
Bewegung zu geben.
Dass sich der Erforschung häretischer Bewegungen Schwierigkeiten
entgegenstellen, ist bekannt. Für das Judentum zeigt sich dies aber in ganz
besonderem Masse. Niemals zuvor in der langen Geschichte Israels ist
nämlich eine geistige Bewegung von ihren zeitgenössischen Gegnern mit
einer derartigen Intoleranz, ja mit einem geradezu vehementen Fanatis-
mus bekämpft worden, wie gerade die sabbatianische Bewegung. Auch
die Geschichtsschreibung von Heinrich Graetz,3 des grossen Historikers
des Judentums, vermittelt uns trotz seinem umfassenden geschichtlichen
Wissen ein völlig verzerrtes Bild, und zwar sowohl des Stifters Sabbatai
Zwi wie der häretischen Bewegungen überhaupt. Sogar Simon Dubnow, 4
der den Versuch einer historisch fundierten und sorgfältigen Darstellung
unternommen hat und der nicht nur Tatsachenberichte wiedergibt, son-
dern auch den inneren Zusammenhängen und Motivationen nachgeht, ist
dem Phänomen der häretischen Mystik in keiner Weise gerecht gewor-
den.

3)
H. Graetz: Geschichte der Juden. Leipzig 1897. Vol. X pag. 186ff
4)
S. D u b n o w : Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Berlin 1920 Vol. VII pag. 64ff
Allerdings müssen diesen beiden Forschern einige Tatsachen zugute
gehalten werden. Einmal waren ihnen weitaus die meisten handschriftlich
erhaltenen Dokumente, die der modernen Geschichtsschreibung zur Ver-
fügung stehen, noch nicht zugänglich. Dazu kommt, dass beide Autoren
in Übereinstimmung mit dem damaligen kollektiven Zeitgeist eine aus-
gesprochen rationale Haltung einnehmen und sich infolgedessen dem
Phänomen Mystik gegenüber ablehnend verhalten.
Eine weitere Schwierigkeit besteht - wie bereits erwähnt - darin, dass
der glühende Hass der orthodoxen Ketzerbekämpfer und die berechtigte
Angst der Gläubigen der neuen Bewegung vor Verfolgungen dazu führ-
ten, dass der grösste Teil der ursprünglich umfangreichen sabbatianischen
Literatur entweder unterdrückt oder vernichtet wurde. So ist es zu erklä-
ren, dass bis heute nur ein einziges Werk der sabbatianischen Theologie
gedruckt vorliegt. Daher sind natürlich handschriftliche Quellen und Mit-
teilungen brieflicher Art besonders wertvolle Zeugnisse. Da diese aber
meistens nicht ediert und schwer zugänglich sind, mussten wir Quellen
aus zweiter Hand zitieren. Zum Glück steht uns heute im Werke von
G. Scholem vieles zur Verfügung.
Völlig verkannt wird interessanterweise die sabbatianische Häresie
auch von den zeitgenössischen nichtjüdischen Quellen, welche fast durch-
wegs jedes tiefere Verständnis dieser Bewegung vermissen lassen, indem
sie in ihrem Begründer entweder einen ehrgeizigen politischen Abenteu-
rer oder einen aufschneiderischen Phantasten und Scharlatan sehen.
Was wir aus den historischen Quellen über die Persönlichkeit Sabbatai
Zwi's und sein in jeder Beziehung ungewöhnliches Schicksal erfahren,
lässt sich etwa dahin kurz zusammenfassen:
Geboren ist Sabbatai Zwi 1626 in Smyrna, wohin seine Eltern höchst-
wahrscheinlich aus Griechenland gezogen waren. Bereits mit 15 Jahren
machte er den Eindruck eines ungewöhnlich geistig begabten und auf-
geweckten Knaben. Er widmete sich, wie dies in jener Zeit allgemein
Brauch war, zunächst dem Studium des Talmud und der rabbinischen
Literatur. Dann versenkte er sich in die Geheimnisse der Kabbala1. Er
beschäftigte sich zuerst mit dem Sohar und anschliessend mit der Lehre
des Kabbalisten-Kreises in Safed, vor allem mit Isaak Lurja. Dabei sprach
ihn die ausgesprochen weitabgewandte und asketische Seite Lurjas beson-
ders an. So wachte er ganze Nächte hindurch, rezitierte Psalmen und die
von einer erotischen Mystik erfüllten Liebeslieder des Kabbalisten Israel
ben Najara. Bussübungen, langes Fasten, Kasteiungen und rituelle Tauch-
bäder selbst im tiefsten Winter auferlegte er nicht nur sich selbst, sondern
auch seinen Schülern, die sich schon frühzeitig um ihn geschart hatten. Zu
dieser ausgesprochen mönchisch-asketischen Seite passt auch ein weiterer
Zug: Sabbatai Zwi hatte zu seiner Sexualität und im besonderen gegenüber
Frauen ein durchaus gestörtes Verhältnis. Auf dieses Problem soll später
noch näher eingegangen werden.
Aber neben der begeisterten Schülerschar Sabbatai Zwi's erhob sich
bald auch eine erbitterte Gegnerschaft, die sich im Verlauf der Ausbreitung
der häretischen Bewegung mehr und mehr verstärkte. Aber die Schüler
hielten treu zu ihrem Meister, fasziniert vom Zauber seiner Persönlichkeit
und dem Charisma, das er ausstrahlte. Einer seiner Schüler, der junge
Abraham Cuenque, der Sabbatai Zwi anlässlich dessen Besuches der
Patriarchengräber in Hebron kennenlernte, erzählt von ihm: 5

«Voller Ehrfurcht blickte ich auf den gleich einer Libanonzeder hoch aufgeschosse-
nen Mann, dessen frisches, bräunliches, von einem schwarzen Vollbart umrahmtes
Gesicht in Schönheit erstrahlte und der in seinem fürstlichen Gewände sowie durch sein
kraftstrotzendes Aussehen einen grossartigen Anblick bot. Während er in der Synagoge
und dann an den Gräbern der Erzväter betete, konnte ich die Augen, wie gebannt, nicht
von ihm wenden.»

Gegen die M t t e des 17. Jahrhunderts brachen in Südrussland und in


Polen schwere Bürgerkriege aus, durch welche vor allem die einheimische
jüdische Bevölkerung schwer betroffen wurde. Unter der Führung des
Kosakenhetmans Chmielnitzky brachen bewaffnete Banden in Polen ein,
wo sie gleicherweise gegen den polnischen Adel, die katholische Kirche
und die Juden einen erbitterten Kampf führten. Die Juden nahmen damals
im Lande eine Art Zwischenstellung ein, indem sie als Verwalter im
Dienste der polnischen Grossgrundbesitzer Steuern und Abgaben einzu-
treiben und den adeligen Herren abzuliefern hatten. In den Auseinander-
setzungen zwischen der Krone, dem Adel und der Kirche einerseits und
dem aufstrebenden Bürgertum andererseits waren die Juden am meisten
bedroht. Dazu kam, dass sie in den Machtkämpfen zwischen Katholiken
und Russisch-Orthodoxen, zwischen Polen und Russen sowie zwischen

5)
S. Dubnow: l.c. pag. 54
Feudalherren und Kleinbauern als Fremde und Ungläubige besonders ver-
hasst waren. Während es aber dem Adel und der Geistlichkeit grössten-
teils gelang, sich in Sicherheit zu bringen, brach über die Juden das Verhän-
gnis herein. Viele Zehntausende wurden in Pogromen erschlagen, depor-
tiert oder als Galeerensklaven verkauft. Panikartige Auswanderungen
führten viele nach Boehmen, Mähren, Deutschland, aber auch in den
Nahen Osten. Nach der Niederwerfung dieses Aufstandes brachen rus-
sische und schwedische Armeen in das Land ein und plünderten die jüdi-
schen Gemeinden vollends aus. Als es schlussendlich den polnischen
Königen gelang, das Land von den Eindringlingen zu befreien, wurden
wiederum die Juden die Opfer der Lage. Man warf ihnen jetzt vor, mit den
Feinden Polens gemeinsame Sache gemacht zu haben. Diese furchtbare
Leidenszeit führte schliesslich zu einer völligen Verelendung der jüdischen
Bevölkerung sowie zu ihrem geistigen und materiellen Niedergang. Die
Erlösungssehnsucht in den breiten Massen steigerte sich immer mehr, und
es bedurfte nur eines zündenden Funkens, um die schwelende Glut zur
lodernden Flamme zu entfachen.
Dazu kam aber noch ein weiteres Moment. In verschiedenen kabbali-
stischen Kreisen wurde auf Grund einer höchst dunklen - übrigens wahr-
scheinlich später interpolierten - Textstelle aus dem Sohar die Ankunft des
Messias für das Jahr 1648 prophezeit. Gleichzeitig wurde in zahlreichen
christlichen Konventikeln, vor allem in Holland und England, basierend
auf verschiedenen geheimnisvollen Textstellen aus dem apokalyptischen
und eschatologischen Schrifttum - so namentlich aus dem Buche Daniel
und der Offenbarung des Johannes - vorausgesagt, dass eine grundle-
gende Wandlung des Judentums bevorstehe und dass dessen gegenwärtige
Leidenszeit von einer neuen, glücklicheren Zeitepoche abgelöst würde.
Diese Kreise erhofften gleichzeitig auch die Wiederkunft Christi im Jahre
1666. Das neue, erhoffte tausendjährige Reich werde allerdings noch nicht
die endgültige Erlösung bringen. Es wurde vielmehr als eine Art Zwi-
schenreich aufgefasst, ähnlich wie seinerzeit das talmudisch-rabbinische
Judentum das messianische Reich als Zwischenreich zwischen dem jetzi-
gen, schlechten Aion und einem kommenden, besseren Aion aufgefasst
hatte. Um aber dieses chiliastische Reich herbeizuführen, bedürfe es nach
Meinung dieser christlichen Kreise in erster Linie der Mithilfe der Juden.
Viele dieser christlichen Konventikel waren überzeugt, dass im Verlauf
dieser Geschehnisse die Juden das Heilige Land erobern würden. Wieder
andere nahmen an, dass sich dann die Juden in ihrer Gesamtheit nach der
Besitzergreifung Palästinas zum Christentum bekehren würden, was die
unabdingbare Voraussetzung für den Anbruch der endgültigen Erlösung
sei. Damit, so hofften sie, würde der neue Aion herbeigeführt.
Im Jahre 1648 - also mit erst 22 Jahren - tritt Sabbatai Zwi zum ersten
Male an die Öffentlichkeit. Er erklärte, die Verfolgungen der Juden in den
Wirren um Chmielnitzky und die gegenwärtige Leidenszeit seien nichts
anderes als die Vorboten der kommenden messianischen Erlösung.
Bereits die talmudische Tradition hatte ja von den «Geburtswehen» des
Messias gesprochen, welche ganz allgemein auf die der eigentlichen Heils-
zeit vorangehende Leidenzeit bezogen wurden.
Es hat den Anschein, dass Sabbatai Zwi bereits in jener Zeit von seiner
messianischen Sendung überzeugt war. Allein er wagte es offenbar noch
nicht, sich schon jetzt öffentlich zum Messias zu erklären. Seine messia-
nische Sendung sollte aber durch eine indirekte, anscheinend bedeutungs-
lose, aber nichtsdestoweniger hochsymbolische Handlung erwiesen wer-
den. Er wagte es, in der Synagoge vor der versammelten Gemeinde den
vierbuchstabigen, heiligen Gottesnamen, das Tetragramm J H W H ohne
jede Scheu auszusprechen, was nach allgemeinem jüdischen Brauch einzig
und allein dem Hohepriester am Versöhnungstage und dem Märtyrer vor
seinem Tode gestattet war. Wenn Sabbatai Zwi diese als verbindlich gel-
tende Vorschrift offen missachtete, dann konnte dies in den Augen seiner
jüdischen Zeitgenossen nur eine doppelte Bedeutung haben. Zum einen
kommt damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass das, was dem Hohe-
priester gestattet sei, in noch viel höherem Masse jenem zukomme, der
zum Erlöser Israels ausersehen sei und der als Messias Jerusalem und sei-
nen heiligen Tempel wieder aufbauen werde. Zum anderen mag aber
damit - wenn auch völlig unbewusst -, ein magisches Ritual zum Aus-
druck gekommen sein. Seit alters her ist die Anrufung und Nennung eines
Gottes oder Dämons mit seinem wahren Namen Ausdruck dafür, dass
derjenige, der den Namen kennt und ausspricht, auch Macht über den
anderen besitzt. Sein Anruf bedeutet daher nichts anderes als eine
Beschwörung oder ein magisch bewirktes Herbeizwingen der Gegenwart
Gottes. Wenn es sich aber als möglich erwies, Gottes Gegenwart herbei-
zuführen, dann musste es doch noch viel eher möglich sein, auch die
Ankunft des Messias zu bewirken. In der Tat bedeutete das Aussprechen
des Gottesnamens, dass zugleich mit der erfolgten Ankunft des Erlösers
auch die lange erwartete Heilszeit angebrochen sei, in welcher das alte,
verpflichtende Gesetz der Thora nicht mehr Geltung habe, da an seiner
Stelle ein neues Gesetz als Norm und Richtschnur gegeben werde.
In den Augen der Zeitgenossen Sabbatai Zwi's bedeutete dessen Vor-
gehen eine geradezu ungeheuerliche Gotteslästerung. Das Rabbinatskolle-
gium distanzierte sich in aller Form von ihm und später wurde er mitsamt
seinen Anhängern sogar mit dem Bann belegt. Dass an der Spitze dieses
Kollegiums sein ehemaliger Lehrer stand, musste ihn besonders schmerz-
lich treffen. So musste Sabbatai Zwi Smyrna verlassen. Der einsame Asket
und weltfremde mystische Träumer wurde zu einem ruhelosen Wande-
rer, der, von äusseren Feinden verfolgt und innerer Unrast getrieben, von
Land zu Land zog, um seine messianische Sendung zu verkündigen.
Weitaus die meisten Historiker des Judentums haben in Sabbatai
Zwi's Vorgehen entweder eine beabsichtigte blasphemische Handlung
eines religiösen Schwarmgeistes oder die aus kühler Berechnung erfolgte
Tat eines ehrgeizigen politischen Abenteurers gesehen. Aber beide Auffas-
sungen scheinen die wirklichen Motive ausser Acht zu lassen. Vor allem
vermögen sie keine befriedigende Erklärung dafür zu geben, weshalb der
neue Heilsbringer den Anspruch seiner messianischen Sendung gerade
durch einen Akt der Gesetzesübertretung zu legitimieren suchte. Tatsäch-
lich war die öffentliche Desavouierung der heiligen Tradition zwar die
erste, aber keineswegs die einzige schockierende Handlung, welche später
die Theologen der sabbatianischen Häresie euphemistisch als «fremdar-
tige Handlungen» zu bezeichnen pflegten. Offenbar waren diese Taten
den Jüngern Sabbatai Zwi's selbst überhaupt nicht verständlich. Ja, es
bestehen begründete Anhaltspunkte dafür, dass auch Sabbatai Zwi diese
«fremdartigen Handlungen» unter einem inneren Zwang vornahm, ohne
sich über deren Bedeutung überhaupt im klaren zu sein. Erst die späteren
geistigen Führer und Theoretiker der Bewegung haben diese Handlungen
zu interpretieren versucht, indem sie ihnen einen verborgenen, mysti-
schen Sinn gaben. Damit wurde aber bereits der Grundstein für die Ent-
wicklung einer Theologie der mystischen Häresie gelegt.
Der Bann des Rabbinatskollegium in Smyrna hatte nicht die erhoffte
Wirkung erzielt. Im Gegenteil. Das Ansehen Sabbatai Zwi's wurde
dadurch eher noch gestärkt, und es strömten ihm Scharen von neuen
Anhängern und Jüngern zu. Man war allgemein zu der Uberzeugung
gekommen, dass die Zeit reif für das Kommen des Messias sei. Die allge-
mein verbreitete Erlösungssehnsucht jener Zeit zeigte sich auch in christli-
chen Kreisen. Immer wieder traten Menschen auf, die sich entweder als
Messias oder sogar als den wiederkehrenden Christus ausgaben und das
unmittelbar bevorstehende Reich Gottes herbeiführen würden. Zu ihnen
gehörten Gestalten wie James Nyler, Öliger Pauli, David Joris, Ezechiel
Meth und viele andere.
Auf seiner Reise nach Palästina traf Sabbatai Zwi in Konstantinopel
mit Abraham Jachini zusammen. Dieser war eine Art Wanderprediger, der
in den Synagogen die Heilige Schrift im kabbalistischen Sinne interpre-
tierte. Gleichzeitig kopierte er alte hebräische Manuskripte. Jachini wurde
sogleich zu einem der glühendsten Verehrer des neuen Messias. Wahr-
scheinlich war es auch Jachini, der Sabbatai Zwi mit der alten astrologi-
schen Tradition bekannt machte, derzufolge der Messias im Zeichen der
Fische zur Zeit der Conjunctio von Jupiter mit Saturn erscheinen werde.
Solche Spekulationen über das Erscheinen des Messias im Zusammen-
hang mit astrologischen Konstellationen treten im philosophischen und
kabbalistischen Schrifttum des Mittelalters auf, so beim jüdischen Neupia-
toniker Abraham bar Chija, sowie bei Kabbalisten wie Mose ben Nachman,
ferner bei Levi ben Gerson, u. a. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war es
vor allem Isaak Abravanel, der in seinen messianischen Schriften die
Ankunft des Messias zu berechnen versuchte. Solche Berechnungen wur-
den auch nach dem Scheitern der messianischen Bewegung weiter geführt.
Von diesen astrologischen Spekulationen scheint Sabbatai Zwi tief
beeindruckt gewesen zu sein. Die Chronisten jener Zeit wissen zu erzäh-
len, dass er einen Fisch wie ein Kind in eine Wiege legte und damit in den
Strassen Konstantinopels herumwanderte. Da der Fisch bereits in vor-
christlicher Zeit als ein Symbol des Messias galt, konnte dies nur die
Bedeutung haben, dass Sabbatai Zwi der Träger des Messias, ja sogar mit
ihm identisch sei.
Aber auch in Konstantinopel wurde er bald verfolgt und musste die
Stadt verlassen. In Saloniki, der alten Hochburg der Talmudisten und
Kabbalisten, kam es wegen Sabbatai Zwi's Auftreten zu einem öffentli-
chen Skandal: Er lud seine Freunde und Anhänger zu einem Festmahle
ein. Während des Festes trat er feierlich gekleidet mit einer Thora-Rolle im
Arm unter einen aufgestellten Traubaldachin. Wie seine Anhänger so-
gleich erkannten, handelte es sich wieder um eine der «fremdartigen
Handlungen» ihres Meisters, nämlich um eine hochsymbolische Darstel-
lung der Heiligen Hochzeit, bei welcher die Thora, nach alter jüdischer
Auffassung die mystische Tochter Gottes, als Braut ihrem Bräutigam,
dem Messias Sabbatai Zwi angetraut wurde. Obwohl Sabbatai Zwi sog-
leich verkündete, dass im Grunde genommen jeder wahrhaft Gläubige,
der die Thora liebe, als ihr Bräutigam oder ihr Gemahl betrachtet werden
könne, erregte sein Verhalten bei den anwesenden Rabbinern tiefes Miss-
fallen und Anstoss. Die meisten hielten ihn schon damals geradezu für gei-
stesgestört. So musste er auch diese Stadt verlassen.
Eine ähnliche symbolische Handlung wird aus späterer Zeit berichtet.
Anlässlich eines Gottesdienstes in Smyrna nahm Sabbatai Zwi eine Thora-
rolle aus der Heiligen Lade und sang dabei sein Lieblingslied Meliselda,6
eine alte kastilische Romanze, die unter den von Spanien nach der Türkei
exilierten Juden weit verbreitet war. Das durchaus weltliche Lied von der
schönen Königstochter Meliselda wurde von Sabbatai Zwi im mystischen
Sinne verstanden, ähnlich wie seinerzeit das Hohelied, das bereits in tal-
mudischer Zeit allegorisch umgedeutet worden war.
In Palästina traf Sabbatai Zwi mit einem um etwa 20 Jahre jüngeren
enthusiastischen Schüler zusammen, Nathan von Gaza. Diese Begegnung
war nicht nur für das persönliche Schicksal von Sabbatai Zwi sondern
auch für die ganze Entwicklung der sabbatianischen Bewegung von aus-
schlaggebender Bedeutung. Im Gegensatz zu Sabbatai Zwi, der eine eher
passive Natur besass, wurde Nathan zur eigentlichen treibenden Kraft,
zum geistigen Führer und zum bedeutendsten Theologen der kabbalisti-
schen Häresie. Er selber ist, im Gegensatz zu Sabbatai Zwi, nicht antino-
mistisch eingestellt, er begeht keine «fremdartigen Handlungen», aber er
versucht, sie zu verstehen und ihnen eine mystisch begründete Rechtferti-
gung zu geben. Nathan und nach ihm einige andere Schüler haben so eine
Art Theologie der mystischen Häresie begründet. Dabei stellten sie in den
Mttelpunkt ihrer Lehre die Idee vom stellvertretenden Leiden des Mes-
sias, der die Sünden der Menschen auf sich nimmt.
6)
H. Graetz: Geschichte der Juden. Berlin 1897 Vol. X pag. 194
G. Scholem: 1. c. pag. 400f
Unter den Schülern Sabbatai Zwi's war zweifellos Nathan der weitaus
begabteste. Er überragte alle anderen Führer der Bewegung. Während
Sabbatai Zwi die Erlösung durch irgendein plötzlich auftretendes äusseres
Wunder erhoffte, war Nathan äusserst dynamisch. Er reiste viel, verfasste
eine ganze Reihe von Sendschreiben und stand dadurch mit den entfernte-
sten jüdischen Gemeinden in regem Briefwechsel. Dadurch wurden die
breiten Massen für die neue Bewegung gewonnen. Die jüdische Bevölke-
rung Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens wurde geradezu von
einer Massenpsychose erfasst. Berühmte talmudische und kabbalistische
Autoritäten wurden von ihr ergriffen und nur wenige wagten es, offen
Widerstand zu leisten. Der Sabbatianismus erfasste vor allem die grossen
jüdischen Zentren in London, Amsterdam, Hamburg, Venedig und
Livorno, wo es in der Folge auch zu Zusammenstössen zwischen den
«Gläubigen» und ihren Gegnern kam. Selbst so fernab liegende Gemein-
den wie Konstantinopel wurden von der messianischen Schwärmerei
ergriffen.
Zu Beginn des Jahres 1666 war die Erregung der Gemüter und die
Erlösungshoffnung aufs höchste gestiegen. In diesem Jahre brach Sabbatai
Zwi nach Konstantinopel auf. Nathan hatte inzwischen verkünden lassen,
dass der neue Messias den Sultan entthronen und das Heilige Land ero-
bern werde. Bei seiner Landung wurde daher Sabbatai Zwi von den türki-
schen Behörden sogleich verhaftet. Die Behörden wagten nicht, ihn
umzubringen, sie verbrachten ihn daher zunächst in die Dardanellenfe-
stung Abydos auf Gallipoli. Die Anhänger Sabbatai Zwi's erklärten, dass
die Verhaftung ihres Führers gerade ein Beweis für seine Messianität sei.
Seine Leiden seien die notwendige Voraussetzung für den Anbruch der
Heilszeit. Die Festung Abydos nannten sie symbolisch «Turm der
Macht», da sich von hier aus die Macht des Erlösers ausbreiten würde.
Aber schon bald trat eine Wendung ein. Ein berühmter Kabbaiist,
Nehemia Cohen, suchte den Gefangenen auf und hatte eine Reihe von
Gesprächen mit ihm. Er kam zum Ergebnis, dass Sabbatai Zwi keineswegs
der erwartete Messias, sondern ein Betrüger sei. Er denunzierte ihn daher
bei den türkischen Behörden und gab an, dass Sabbatai Zwi einen Auf-
stand gegen die Staatsmacht plane. Daraufhin wurde dieser nach Adriano-
pel verbracht. Doch wagte man nicht, ihn zum Tode zu verurteilen, da
offenbar ein toter Märtyrer gefährlich werden konnte. Man beschloss
daher, den Versuch zu unternehmen, Sabbatai Zwi zu überreden, zum
Islam überzutreten, was den Behörden nach einiger Zeit auch gelang.
Uber die Hintergründe, die ihn bewogen, diesen Schritt zu vollziehen, ist
man sich noch nicht restlos im klaren. Wahrscheinlich gaben Drohungen
von Seiten der Behörden den Ausschlag. Dass Sabbatai Zwi diesen Schritt
nicht aus Überzeugung, sondern unter massivem äusseren Druck unter-
nahm, wird durch einen Brief nahegelegt, den er an seinen Bruder Elija in
Smyrna, unter Bezugnahme auf die Psalmstelle 33,9, schrieb: «Und nun
lasst ab von mir. Denn Gott hat mich zu einem Moslem gemacht. Er
sprach und es geschah, er befahl und es trat ein.»7.
Nicht einmal diese für einen Juden geradezu ungeheuerlichste aller
Sünden, nämlich der Abfall vom Judentum, vermochte die Anhänger des
Meisters zu entmutigen. Allerdings folgte nur ein kleiner Teil der Anhän-
ger seinem Beispiel. Auch Nathan von Gaza trat nicht zum Islam über. Ein
anderer Teil der Sabbatianer schloss sich nach dem Auftreten Jakob Franks
in Polen dessen Bewegung an. Auch die Frankistenbewegung führte teil-
weise aus dem Judentum hinaus. Ein Teil der Anhänger schloss sich der
katholischen Kirche an. Der weitaus grösste Teil aber verblieb innerhalb
des Judentums, auch wenn sie von ihren Gegnern immer wieder verleum-
det und verfolgt wurden.
Sabbatai Zwi wurde von den türkischen Behörden scharf überwacht
und zuletzt nach Dulcigno in Albanien verbannt, wo er im Jahre 1676 mit
50 Jahren starb.
Wir haben uns bisher mit dem geschichtlichen Rahmen beschäftigt, in
welchem Sabbatai Zwi und seine Bewegung in Erscheinung traten. Im fol-
genden soll der Versuch unternommen werden, mehr auf die psychologi-
schen Aspekte einzugehen.
Dass Sabbatai Zwi eine aussergewöhnliche Persönlichkeit war, ist
bereits seinen Zeitgenossen, soweit sie ihn persönlich kannten, aufgefallen.
Er hatte auf seine nähere Umgebung eine eigenartige Wirkung. Während
seine Anhänger und Schüler von ihm ungemein fasziniert waren, fühlten
sich seine Gegner ebensosehr von ihm abgestossen. Dabei richtete sich
ihre Gegnerschaft weniger gegen ihn als Person als vielmehr gegen seine
antinomistische Haltung, die in den «fremdartigen Handlungen» zum

12)
G. Scholem: l.c. pag. 110 Anm.21
Ausdruck kam. Während ihn seine Schüler für einen Heiligen und Erlöser
hielten, wurde er von den Gegnern als Ketzer, Gottesleugner und Abtrün-
niger verteufelt. Aus diesen Kreisen stammt auch die immer wieder vor-
gebrachte Behauptung, dass Sabbatai Zwi geistesgestört sei. Wir werden
später darauf eingehen, inwiefern diese Behauptung den Tatsachen ent-
sprach.
Wenn wir die Lebensgeschichte Sabbatai Zwi's verfolgen, dann fällt
vor allem eine Tatsache besonders auf: In seinem ganzen Leben hatte er -
von einer oder zwei Ausnahmen abgesehen - keine sexuellen Beziehun-
gen zu Frauen. Ja, es hat den Anschein, dass er Begegnungen mit Frauen
eher aus dem Wege ging. Er wurde zwar nach damaligem allgemein-jüdischen
Brauch mit 20 Jahren verheiratet. Aber wenige Wochen nach der
Hochzeit verlangte die junge Frau die Scheidung. Als Grund gab sie an,
dass sie unberührt geblieben sei. Dies war auch die Ursache, weshalb
ihrem Begehren ohne weiteres entsprochen wurde. Einige Zeit nach der
Scheidung wurde eine neue Braut gefunden. Aber bald nach der Hochzeit
klagte auch diese auf Scheidung, und zwar mit derselben Begründung. Die
offensichtliche Abneigung gegen den Vollzug der Ehe und sein Verhalten
Frauen gegenüber erregten bald unliebsames Aufsehen. Es liess sich nicht
vermeiden, dass bald allerlei Gerüchte aufkamen, die dazu beitrugen, Sab-
batai Zwi in den Augen seiner Umgebung als abnorm veranlagt erscheinen
zu lassen.
Die dritte Ehe Sabbatai Zwi's ist an die aufsehenerregende Geschichte
der sogenannten Messiasbraut Sara geknüpft. 8 Auf seiner Wanderschaft
hörte er die abenteuerlichen Gerüchte über ein junges Mädchen, das wäh-
rend des Kosakenaufstandes angeblich seinen Eltern geraubt und in ein
Kloster verbracht wurde, wo es viele Jahre als fromme Katholikin lebte.
Von dort soll sie eines Nachts entflohen sein und sich zum Friedhof der
jüdischen Gemeinde begeben haben, wo sie von einer Gruppe von Beten-
den entdeckt wurde. Diesen erzählte sie, ihr verstorbener Vater sei ihr im
Traum erschienen und habe ihr befohlen, zu fliehen und zum Glauben
ihrer Väter zurückzukehren. Da es aber der Gemeinde zu gefährlich
schien, ein getauftes Mädchen bei sich aufzunehmen, schickte man sie
nach Amsterdam. Dort verkündete Sara, in nächster Zeit werde der

8
) H. Graetz: l.c..pag. 195ff
Mes-sias erscheinen und das jüdische Volk erlösen. Sie sei von Gott dazu aus-
ersehen, seine Braut zu werden. Was an allen diesen Gerüchten wahr ist,
lässt sich schwer nachprüfen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass
manches der Phantasie des Mädchens entstammt. Es ist aber ebenso gut
möglich, dass diese Erzählungen von Anhängern Sabbatai Zwi's in
Umlauf gebracht wurden. 9 Jedenfalls scheint Sara ein recht abenteuerli-
ches Leben geführt zu haben. Von Holland zog sie über Deutschland nach
Italien. Überall erregte sie wegen ihres zweideutigen Lebenswandels
unliebsames Aufsehen. Sie wurde fast überall als eine Dirne betrachtet.
Auf Sabbatai Zwi machte das Mädchen einen tiefen Eindruck. Er
erklärte, dass auch er in einem Traume den göttlichen Befehl erhalten
habe, dieses ihm vorbestimmte Mädchen zu heiraten. Er motivierte diese
dritte Ehe mit dem ausdrücklichen Hinweis auf jene Bibelstelle, nach der
J H W H dem Propheten Hosea befohlen habe, eine Dirne zu heiraten und
Dirnenkinder zu zeugen. Es ist anzunehmen, dass Sabbatai Zwi die Identi-
fikation mit dem alttestamentlichen Propheten einigermassen bewusst
war, denn ein Zeitgenosse äussert sich dahin, dass er diese Ehe einging, um
den Befehl Gottes an Hosea nachzuvollziehen. 10 '
Aber wie die Ehe Hoseas, so war auch Sabbatai Zwi's Ehe mit Sara
weniger eine zwischenmenschliche Beziehung als vielmehr ein konkret
gelebter Mythos. Dasselbe Motiv findet sich auch in der Apostel-
geschichte.11 Der dort erwähnte Zauberer Simon Magus gilt bei den Kir-
chenvätern als Begründer der Gnosis und wird von ihnen als Erzketzer
verdammt. Wie der Kirchenvater Justin in seiner Apologie berichtet, lebte
er mit einer Gefährtin, Helena, zusammen, die er aus einem Bordell in
Tyros geholt hatte. Mt Recht weist G. Quispel12 darauf hin, dass das
Mythologem des Zauberers und der Dirne auf eine «vorchristliche oder
wenigstens nicht-christliche Symbolik» hinweise und dass es sich hier
sogar «um eine allgemein-menschliche psychologische Gegebenheit»
handle, die in Dichtung,ynd Mythos immer wieder auftrete.
Auch diese Ehe scheint auf die Dauer nicht glücklich gewesen zu sein.
Nach sieben Jahren liess sich Sabbatai Zwi scheiden, obwohl ihm Sara
9)
G. Scholem: 1. c. pag. 193ff
10)
Hosea 1,2
11)
G. Scholem: 1. c. pag. 196
12)
G. Quispel: Gnosis als Weltreligion. Zürich 1951 pag. 61
inzwischen einen Sohn und eine Tochter geboren hatte. Er begründete
diesen Schritt wiederum mit dem Hinweis auf die Bibel, nach welcher ein
jüdischer Sklave im siebenten Jahre freigelassen werden müsse. Offenbar
betrachtete er seine Ehe als eine Art Sklavendienst. Ob dieser Schritt mit
dem angeblich unverträglichen Charakter Saras in Zusammenhang steht,
ist sehr zu bezweifeln, nahm er sie doch während seiner Gefangenschaft
auf Gallipoli wieder zu sich. Es ist eher anzunehmen, dass diese Scheidung
mit der offensichtlichen Abneigung Sabbatai Zwi's gegenüber jeglicher
Art von Bindung und Verpflichtung zu begründen ist.
Nach seiner Apostasie, d. h. seinem Abfall vom Judentum und der
Bekehrung zum Islam, heiratete Sabbatai Zwi ein viertes Mal, scheint aber
nach seinen eigenen Worten auch diese Frau nicht berührt zu haben.13)
Aus späterer Zeit ist eine Verlobung bekannt, doch kam es nicht zur Hei-
rat, da das Mädchen vorzeitig starb. Aber eine fünfte Heirat erfolgte ein
Jahr vor Sabbatai Zwi's Tode.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Was veranlasste Sabba-
tai Zwi fünf Heiraten sowie ausserdem noch eine Verlobung einzugehen
und dabei in mindestens drei Fällen die Ehe nicht zu vollziehen? Weshalb
entschloss er sich überhaupt, zu heiraten?
Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach. Es mögen dabei
sowohl äussere wie innere Faktoren mitgespielt haben. Zum einen war der
kollektiv-jüdische Zeitgeist jener Epoche von Bedeutung: dass ein junger
jüdischer Mann unverheiratet blieb, war innerhalb des jüdischen Kollek-
tivs so gut wie undenkbar. Hatte doch bereits die Genesis festgestellt, es sei
für einen Mann nicht gut, allein zu bleiben. Noch weiter ging in späterer
Zeit das talmudische Gesetz, demzufolge ein Mann ausdrücklich ver-
pflichtet war, zu heiraten und eine Familie zu gründen, um «das Men-
schengeschlecht zu erhalten». Von dieser Verpflichtung waren einzig und
allein jene Männer ausgenommen, welche sich ausschliesslich dem Stu-
dium der Lehre hingaben. Da dies aber für Sabbatai Zwi offenbar nicht
zutraf, blieb ihm keine andere Wahl übrig, als eine konventionelle Ehe ein-
zugehen. Aber angesichts seiner offensichtlichen Abneigung gegen die
Ehe blieb ihm wenigstens die Möglichkeit, den Vollzug der Ehe zu verwei-
gern oder ihn doch wenigstens während längerer Zeit hinauszuschieben.

15)
G. Scholem: l.c. pag. 110 Anm.21
Neben diesen äusseren Faktoren aber spielte auch die persönliche Psy-
chologie Sabbatai Zwi's eine erhebliche Rolle. Auf diesen Aspekt des Pro-
blems soll später näher eingegangen werden.
Es verwundert nicht, dass bereits zu Lebzeiten Sabbatai Zwi's manche
seiner Zeitgenossen, besonders seine Gegner, ihn entweder für einen
harmlosen Narren oder für einen Psychopathen hielten. Zu Beginn dieses
Jahrhunderts hat S. Trivusch14 die Behauptung aufgestellt, dass Sabbatai
Zwi an einer eindeutigen Paranoia litt. Doch muss in Erwägung gezogen
werden, dass in jener Zeit die klinische Differentialdiagnose psychischer
Erkrankungen noch sehr in den Anfängen war. Mit der Bezeichnung
Paranoia wurden damals verschiedenartige Krankheitsbilder belegt,
welche irgendwie mit dem Auftreten von Wahnvorstellungen verbunden
waren. In neuerer Zeit wurde diese Diagnose von B. Kurzweil15 wieder
aufgegriffen. Indessen dürfte eine echte Paranoia mit grösster Wahrschein-
lichkeit ausgeschlossen werden, wenn auch zugegebenermassen bei Sab-
batai Zwi zu gewissen Zeiten wahnhafte Ideen aufzutreten pflegten.
G. Scholem16 hat darauf hingewiesen, dass hier ein eindeutiger Fall eines
manisch-depressiven Syndroms vorliege. Dieses Krankheitsbild ist vor
allem gekennzeichnet durch extreme Stimmungsschwankungen, welche
zwischen Phasen einer ausgesprochenen Euphorie, exaltierter Selbstüber-
schätzung und manisch-hektischer Betriebsamkeit einerseits und einer tie-
fen Melancholie, ja schwerster depressiver Verstimmung andererseits sich
bewegen. Zwischen diesen extremen Polen können aber jeweils auch wie-
der Phasen einer anscheinend völlig vernünftigen Haltung und innerer
Ausgeglichenheit vorkommen. Ja, solche scheinbar völlig normalen
Zustände pflegen in der Regel sogar zum typischen Bilde dieser Erkran-
kung zu gehören. Im übrigen kann der Umschlag von einer Stimmungs-
lage in die entgegengesetzte jeweils ohne jeden Übergang erfolgen.
Die manische Phase ist bei Sabbatai Zwi gekennzeichnet durch eine
Art von Rausch- oder Besessenheitszustand, der ihn über sich selbst hin-
austrägt. In diesen Zeiten geschieht es ihm, dass er sich mit einer inneren,
archetypischen Figur identifiziert. Es kann nicht mit Sicherheit aus-

14)
G. Scholem: 1. c. pag. 125 Anm. 53
15)
G. Scholem: 1. c. pag. 125
16)
G. Scholem: l.c. pag. 110 Anm.21
gemacht werden, inwieweit eine unbewusste Identifikation vorliegt, oder
ob vielleicht nicht auch bewusste Überlegungen mitspielen mochten. Im
Falle seiner Identifikation mit Mose, bei welcher er einen Stab mit einer
Schlange mit sich herumtrug, scheint eher eine unbewusste Haltung vor-
zuliegen. Auf der anderen Seite hat es den Anschein, dass seiner Gleichset-
zung mit dem Propheten Hosea gewisse bewusste Absichten zu Grunde
lagen. In den manischen Phasen fühlt er sich als Erretter und Erlöser
Israels und lässt sich als «Messias des Gottes Jakobs» feiern.
In diesem Zustande der manischen Exaltation, den seine Anhänger
jeweils als «Erleuchtung» zu bezeichnen pflegen, wird Sabbatai Zwi von
innen her gezwungen, das durch Tradition geheiligte Gesetz zu übertre-
ten. Als ein gottähnliches Wesen steht er ja über jedem Gesetz. Auch ver-
heisst die Tradition, dass in der messianischen Zeit ein neues Gesetz gege-
ben werde, welches das alte Gesetz ablösen werde. Aber sobald Sabbatai
Zwi aus seinem manischen Zustande herauskommt, wird seine ganze
menschliche Dimension und Begrenztheit sichtbar: Er ist nicht mehr ein
göttliches oder halbgöttliches Wesen, sondern ein ganz gewöhnlicher
sterblicher Mensch. Aber auf die Dauer ist er nicht imstande, die harte
Wirklichkeit zu sehen und zu verstehen und gerät daher wieder in den
Teufelskreis von Euphorie und nachfolgendem Absturz in Melancholie
und Verzweiflung.
Seine Phantasien und Identifikationen verflüchtigen sich ebenso
plötzlich wie sie auftauchen. Er wird nun von inneren Zweifeln bedrängt
und muss sich daher seine Messianität von seinen Anhängern immer wie-
der bestätigen lassen. In diesen Phasen geht ihm auch jedes Verständnis für
seine «fremdartigen Handlungen» ab, die er nunmehr direkt als Sünde
empfindet.
Wie haben Sabbatai Zwi's Zeitgenossen die Zwiespältigkeit im Wesen
ihres Meisters empfunden? Leider besitzen wir keinerlei authentische
Schriften von Sabbatai Zwi, abgesehen von seinen Briefen. Aber es existie-
ren einige briefliche Mtteilungen von Zeitgenossen, die sich über die ver-
schiedenen Phasen seiner Krankheit äussern. Über den depressiven
Zustand äussert sich Samuel Gandur17 dahingehend, dass es sich um eine
Krankheit handle, für welche keine Möglichkeit einer Heilung bestehe, da

17)
G. Scholem: l.c. pag. 110 Anm.21
sie ein von Gott verhängtes Schicksal sei. Über das Stadium der Manie
berichtet ein anderer seiner Anhänger, Salomo Laniado,18 dass Sabbatai
Zwi in diesen Zeiten seltsame Handlungen ausführte, für welche er wie-
derholt ausgepeitscht worden sei. Im gleichen Briefe wird erwähnt, dass
nach Aufhören der manischen Phase er seine «fremdartigen Handlungen»
jeweils bereute, da ihm nunmehr ihr Sinn völlig unverständlich war.
Aber nicht nur Sabbatai Zwi selber, auch seine Schüler und Anhänger
stehen seinen Gesetzesübertretungen grösstenteils ziemlich verständnis-
los gegenüber. Sie sind offenbar von der Persönlichkeit ihres Meisters
derart fasziniert, dass sie sie akzeptieren, ohne sich allzuviele Gedanken
darüber zu machen. Erst Nathan von Gaza und einige andere führende
Theologen der häretischen Bewegung versuchen, diesen Handlungen eine
mystische Motivation zu geben. Damit werden diese nicht nur nach aus-
sen gerechtfertigt, sondern ihre Notwendigkeit für das Zustandekommen
des Erlösungswerkes betont. Auf diese Weise wurde eine eigentliche
Theologie der Sünde entwickelt. Meinungsverschiedenheiten bestehen im
Grunde genommen unter den Anhängern der Bewegung lediglich dar-
über, ob solche Gesetzesübertretungen das alleinige Vorrecht des Meisters
seien oder ob sie allenfalls auch von ihnen selbst vorgenommen werden
müssten. Jedenfalls traten verschiedentlich sabbatianische Theologen auf,
welche die Behauptung aufstellten, dass gerade der Vollzug der Sünde das
eigentliche Kriterium für die Echtheit von Sabbatai Zwi's messianischer
Sendung sei.
Die Vorstellung von der Heiligkeit der Sünde ist aber keineswegs ein
in der sabbatianischen Häresie allein auftauchendes Phänomen. 19 ' Sie lässt
sich innerhalb der religionsgeschichtlichen Entwicklung schon ziemlich
frühzeitig nachweisen und hat sich, namentlich in mystischen Konventikeln und
Sekten der verschiedensten Richtungen immer wieder durchzu-
setzen vermocht. Auch die katholische Theologie bezeichnet bekanntlich
die Sünde des Ureltempaares als beata oder felix culpa, als heilige Schuld,
insofern sie der Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes dient. Wohl am
eindrücklichsten hat aber diese Idee ihren Ausdruck in jener gnostischen
Richtung gefunden, welche an den Namen des Karpokrates anknüpft.

18)
G. Scholem: 1. c. pag. 136
19)
G. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren H a u p t s t r ö m u n g e n . Zürich 1957 pag. 346f
Hatte doch dieser Lehrer den folgeschweren Ausspruch geprägt: «Du
kannst nur von der Sünde erlöst werden, die du begangen hast.» In wel-
chem Sinne auch immer Karpokrates diesen Satz verstanden haben
mochte, seine Schüler haben jedenfalls daraus die weitgehendsten Folge-
rungen gezogen. Vor allem erklärten sie, dass die Sünde die notwendige
Voraussetzung der Erlösung sei. Von da her gesehen wird die Begehung
der Sünde zur gottgefälligen Tat. Nun enthält auch das talmudische
Schrifttum einige schwer verständliche Andeutungen, welche in ähnli-
chem Sinne verstanden werden konnten. Die bekannteste davon ist der
Ausspruch: «Der Sohn Davids (d. i. der Messias) kommt entweder in
einem Zeitalter, das völlig sündenrein ist, oder in einem Zeitalter, das total
sündig ist.» Es war naheliegend, dass manche Sabbatianer darin eine
geheime oder offene Aufforderung zur Sünde sahen. Denn da es ja offen-
bar unmöglich ist, einen völlig sündenfreien Zustand der Welt zu errei-
chen, dann müsse man eben möglichst viel sündigen, um die Erlösung
herbeizuführen.
Wohl am radikalsten wurde diese Auffassung von der Heiligkeit der
Sünde in der Bewegung des Frankismus in die Wirklichkeit umgesetzt.
Bereits ihr Begründer, Jakob Frank, hatte in dunkeln Andeutungen wie-
derholt von jenem Abgrund gesprochen, in den wir uns begeben müssen.
Noch deutlicher formuliert er diesen Gedanken mit den Worten: «Man
muss durch alle Tore der Unzucht gehen, um durch das Tor der Heiligkeit
zu gelangen», eine Aufforderung zur Sünde, die denn auch von seinen
Anhängern gründlich in die Tat umgesetzt wurde.
Wenn wir zum Schlüsse versuchen, zu einem psychologischen Ver-
ständnis der Persönlichkeit von Sabbatai Zwi zu gelangen, dann können
wir natürlich nicht von seiner manisch-depressiven Erkrankung absehen.
Aber obwohl die klinische Diagnose einigermassen festzustehen scheint,
ist damit für das Verständnis des Menschen Sabbatai Zwi nicht allzuviel
gewonnen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass aus der Diagnose allein die
spezifischen Inhalte, welche der psychotischen Erkrankung zu Grunde
liegen, nicht restlos erklärt werden können. Dass Sabbatai Zwi von wahn-
haften Vorstellungen überflutet war, steht so gut wie fest. Aber sind damit
auch Inhalt und Charakter der Wahnideen erklärt? Gerade diese Frage ist
es, welche den Psychologen in erster Linie interessiert. Er fragt sich
m. a. W., weshalb gerade diese und nicht andere Wahnvorstellungen aus
dem Unbewussten auftauchen. Dies ist der Grund, weswegen m. E. die
rein psychiatrische Beurteilung einer psychologischen Ergänzung und
Vertiefung bedarf. Der auf dem Standpunkt der Jungschen Psychologie
stehende Psychologe wird sich im besonderen die Frage vorlegen: Wel-
cher spezifische Archetypus steht hinter Sabbatai Zwi's bewusster Einstel-
lung?
Damit kommen wir nochmals zu Sabbatai Zwi's Einstellung zur Ehe
und zur Frau im allgemeinen zurück. Es ist naheliegend, diese mit seiner
Beziehung zu seiner persönlichen Mutter in Zusammenhang zu bringen.
Leider wissen wir weder über sie selbst noch über ihre Beziehung zu Sab-
batai, dem mittleren ihrer drei Söhne, Genaueres. Immerhin existiert ein
ebenso überraschendes wie aufschlussreiches Dokument aus der Zeit von
Sabbatai Zwi's Gefangenschaft auf Gallipoli. In einem Brief an seine Schü-
ler und Anhänger fordert er diese eindringlich auf, zum Grab seiner Mut-
ter in Smyrna zu wallfahren, mit dem Hinweis, dass das Verdienst, ihr
Grab zu besuchen, ebenso hoch zu werten sei wie eine Pilgerfahrt nach
Jerusalem.20 Es ist bekannt, dass Nathan von Gaza in der Tat die Reise
nach Smyrna unternahm. Aber auch viele jüdische Einwohner dieser
Stadt pflegten dieses Grab als Wallfahrtsstätte zu besuchen und bei dieser
Gelegenheit von einer nahe gelegenen Quelle zu trinken.
Was bedeutet psychologisch diese Gleichsetzung des Grabes seiner
Mutter mit der Stadt Jerusalem? Für den Juden ist Jerusalem der heiligste
Ort und in Jerusalem ist es die Stätte des ehemaligen Tempels, dessen
Mitte jener Stein einnimmt, auf dem seinerzeit die Opferung Isaaks voll-
zogen werden sollte und der später zum Altar des Salomonischen Tem-
pels geweiht wurde. Anders als im Islam, in welchem eine Pilgerfahrt nach
Mekka zu den Pflichten eines gläubigen Muslim gehört, ist der Besuch
Jerusalems für den Juden der Diaspora zwar eine hoch zu wertende Tat,
aber keine bindende Vorschrift.
Nach jüdischer Auffassung wird in der messianischen Zeit Gott
anstelle des zerstörten Jerusalem dereinst ein neues Jerusalem und einen
neuen Tempel herabsenden. Dieses neue Jerusalem wird der geistige und
religiöse Mttelpunkt Israels, ja der ganzen Welt sein. Wenn daher Sabbatai
Zwi das Grab seiner Mutter auf die gleiche Stufe stellt wie die Heilige Stadt

20)
G. Scholem: l.c. pag. 110 Anm.21
JHWH's, dann kann dies nichts anderes bedeuten, als dass seine Mutter
beinahe in den Rang einer Göttin erhoben wird. Daher scheint m. E. die-
ser Brief den Schlüssel für das psychologische Verständnis von Sabbatai
Zwi zu geben: Er verrät eine ausserordentlich tiefe Bindung an seine Mut-
ter. Dies veranlasst mich, kurz auf die Problematik des muttergebundenen
Sohnes einzugehen.
Die Beziehung des Kleinkindes zu seiner Mutter ist einerseits geprägt
durch seine Erfahrungen mit seiner persönlichen Mutter, andererseits
aber auch durch eine gewisse angeborene Disposition. Wohl in den mei-
sten Fällen dürften beide Faktoren zusammen wirksam sein.
Muttergebundene Söhne pflegen in der Regel ganz spezifische Cha-
rakterzüge zu entwickeln. C. G. Jung21 hat in einer grösseren Arbeit die
Psychologie der muttergebundenen und mutterablehnenden Tochter her-
ausgearbeitet. Diejenige des muttergebundenen Sohnes dagegen wird nur
in vereinzelten Hinweisen erwähnt. Er weist in diesem Zusammenhang
besonders auf die Extremsituationen dieser Fehlentwicklung hin. Zu die-
sen gehören u. a. gewisse Formen der Homosexualität, in welcher die
ganze Sexualität des heranwachsenden Sohnes auf die persönliche Mutter
bzw. an das dahinter stehende archetypische Mutterbild fixiert bleibt. In
anderen Fällen einer solchen Mutterbindung kann es zu Impotenz kom-
men, doch scheinen nach C. G. Jung22 in solchen Fällen auch die Bezie-
hungen zum Vater eine gewisse Rolle zu spielen.
Wieder eine andere Spielart extremer Art ist der Casanova-Komplex,
auch Don Juanismus genannt. In diesem Falle wird das archetypische Bild
der Mutter, welche zugleich die ideale Frau und Geliebte bildet, immer
wieder auf mehr oder weniger geeignete Frauen projiziert. Da aber die
vollkommene Mutter-Geliebte in der äusseren Realität niemals gefunden
werden kann, sieht sich der muttergebundene Sohn gezwungen, von
einem weiblichen Wesen zum anderen zu wandern, immer in der unbewussten
Hoffnung, nun endlich sein ersehntes Idealbild zu finden, wobei
er natürlich jedesmal aufs Neue enttäuscht wird. 23

21)
C.G. Jung: Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus i. Von den Wurzeln des
Bewusstseins. Zürich 1954 pag. lOlf
22)
C. G . J u n g : l.c. pag. 101 Anm. 7
23)
C. G . J u n g : l.c. pag. 102
Aber neben den geschilderten Extremsituationen kann sich auch, und
zwar in der Regel, das entwickeln, was C G. Jung als die Psychologie des
puer aetemus, des ewigen Jünglings, bezeichnet, wobei diese gelegentlich
auch mit einer homosexuellen oder bisexuellen Komponente verbunden
sein kann.
Puer aetemus ist ursprünglich die Bezeichnung für den in den Eleusi-
nischen Mysterien geborenen Kindgott, welcher zu gewissen Zeiten mit
dem Gott Dionysos, später in römischer Zeit mit dem Gott Eros identifi-
ziert wurde. Er gehört mythologisch gesprochen in den Umkreis der
frühsterbenden Jünglingsgötter, die in enger Gemeinschaft mit einer gros-
sen Muttergöttin leben, wie etwa Attis, Adonis, Tammuz und Osiris. In
der Psychologie C. G. Jungs bedeutet puer aeternus einen zu lange im Sta-
dium der Adoleszenz verharrenden jungen Mann, der an seine Mutter
fixiert bleibt.
Die Psychologie des puer aeternus wurde von Marie-Louise von Franz
in ihren beiden eingangs erwähnten Studien eingehend herausgearbeitet.
Sie weist darauf hin, dass ein Sohn, der sich nicht von seiner Mutter loslö-
sen kann, eigentlich die Rolle des jungen Gottes puer aeternus übernimmt.
Damit aber identifiziert er sich unbewusst mit einer archetypischen
Gestalt. Er «bleibt ein Muttersohn, der sich weigert, erwachsen zu wer-
den».24
Für den von einem positiven Mutterkomplex geprägten jungen Mann
besteht nach Marie-Louise von Franz 25
«eine grosse Versuchung, bei der ewigen Mutter zu verharren, und er verbindet sich
ihr als der ewige Liebhaber. Sie helfen sich gegenseitig, ausserhalb des Lebens zu bleiben,
und stellen sich nicht der Tatsache, dass sie gewöhnliche menschliche Wesen sind. Der
Sohn kann sich nicht von der Mutter trennen und zieht es statt dessen vor, den Mythos
und die Rolle des jungen Gottes zu leben.»
Dies bedeutet nichts anderes, als dass der muttergebundene Sohn die
grösste Mühe hat, in der Realität des Hier und Jetzt zu leben. Er zieht es
vor, in einer romantischen Traum- und Phantasiewelt zu leben und den
Anforderungen des Lebens möglichst aus dem Wege zu gehen. Er bleibt
der Sohngeliebte der Grossen Mutter, deren Rolle von seiner personalen
Mutter meistens übernommen und oft noch so gerne gespielt wird.
24)
M. L. von F r a n z : Die Erlösung des Weiblichen im Manne. Zürich 1980 pag. 111
25)
M. L. von F r a n z : 1. c. pag. 33f
Dieses Spiel von Mutter und Sohn, welchem im Grunde genommen ein
archetypisches Muster entspricht, hat aber für den heranwachsenden jun-
gen Mann die weitreichendsten praktischen Konsequenzen. Diese reichen
vor allem in das Gebiet der Sexualität des Sohnes hinein. Darüber hinaus
wird häufig auch der Kontakt mit Frauen im allgemeinen berührt:
«Wenn ein Mann zu stark von seiner Mutter geprägt ist, sei es durch ihre Schuld oder
durch seine eigene Disposition, stört ihr Bild seinen Kontakt mit der Realität, d. h. hier
mit Frauen gewöhnlich dadurch, dass es seine chthonische sexuelle Persönlichkeit
hemmt.»

Dies dürfte höchstwahrscheinlich auch der Grund dafür sein, weshalb


der puer aeternus häufig Mühe hat, Sexualität mit einer anderen Frau zu
erleben. Die an die Mutter fixierte Sexualität ist wie eine Art trennendes
Glasfenster, welches den direkten Kontakt mit Frauen verunmöglicht.
Daher flüchtet sich der puer aeternus so oft in die Homosexualität oder
auch Bisexualität. Auf jeden Fall treten meistens verhältnismässig frühzei-
tig Schwierigkeiten im Kontakt mit jüngeren Frauen auf, die er immer
dann zu verlassen pflegt, wenn sich die erste erotische Anziehungskraft
verflüchtigt hat.
Die Auswirkungen des positiven Mutterkomplexes gehen aber noch
viel weiter. Durch die Identifikation mit der archetypischen Gestalt des
Eros hat der puer aeternus auch Schwierigkeiten, die Wirklichkeit als
solche zu akzeptieren. Nach Marie-Louise von Franz26'
«identifiziert er sich direkt mit d e m göttlichen Kind. Er hält sich für einen geflügelten
Gott, alle unbedingt notwendigen Lebensaufgaben verweigernd, w i e : einen eigenen
festen Standpunkt in der Realität einzunehmen, sein Geld selbst zu verdienen, regelmäs-
sig zu arbeiten u n d ähnliche Mühsale.»
Das bis jetzt vorgebrachte Material über die Beziehung Sabbatai Zwi's
zu seiner persönlichen Mutter dürfte allein wohl schwerlich ausreichen,
um definitive Aussagen über sein persönliches Verhaltensmuster zu
geben. Wenn wir aber, abgesehen vom erwähnten Brief, seine Lebensge-
schichte aufmerksam verfolgen, dann fallen uns doch noch eine Reihe wei-
terer Tatsachen auf, welche die Vermutung nahelegen, dass hier tatsächlich
eine ausgesprochene puer aeternus-Psychologie vorliegt.
Für diese Annahme spricht in erster Linie, dass Sabbatai Zwi unfähig
war, sich während längerer Zeit an eine Frau zu binden. Dies dürfte ein
26)
M. L. von Franz: 1. c. pag. 33f
plausibler Grund dafür sein, weshalb er in mindestens drei Fällen sich wei-
gerte, die Ehe zu vollziehen. Einzig im Falle seiner dritten Ehe mit Sara
war dies während einiger Zeit möglich. Immerhin schob er auch in diesem
Falle den Vollzug der Ehe während ungefähr zwei Jahren hinaus.
Auch Sabbatai Zwi's Neigung zur fakultativen Homosexualität oder
eventuellen Bisexualität gehört hierher. Dass in dieser Beziehung immer
wieder Gerüchte auftauchten, ist wohl nicht reiner Zufall. Weitere An-
haltspunkte für die Hypothese der puer aeternus-Psychologie ergeben
sich aus den zahlreichen Schwierigkeiten Sabbatai Zwi's, sich in der äusse-
ren Realität zurechtzufinden. D e s trifft für alle Phasen seines Lebens zu.
Wie jeder echte puer aeternus zieht er es vor, der Banalität des alltäglichen
Lebens mit allen seinen zahlreichen Forderungen und Verpflichtungen
auszuweichen. Er zieht es vor, im Dämmer seiner Zukunftsphantasien
und Hoffnungen zu bleiben in der unbewussten Erwartung, zu Höherem
berufen zu sein. Denn wie die meisten Männer, die von einem positiven
Mutterkomplex geprägt sind, hatte auch Sabbatai Zwi die entsprechenden
Erlöserphantasien. Gerade beim puer aeternus konstelliert sich, wie
Marie-Louise von Franz27 ausführt, häufig
«in kleinerem oder grösserem Masse ein Erlöser-Komplex oder Messias-Komplex,
mit dem geheimen Gedanken, dass man eines Tages imstande sei, die Welt zu erlösen.»
Hinter den Heilands- und Erlöserphantasien steht nichts anderes als
die archetypische Gestalt des puer aeternus, mit welcher sich Sabbatai Zwi
unbewusst identifiziert. Denn, so führt Marie-Louise von Franz28 weiter
aus, ein Mann, der
«ein Muttersohn bleibt und so lebt, als wäre er unsterblich, als hätte er es nicht nötig,
sich der Realität und einer wirklichen Frau anzupassen, wenn er in Erlöserphantasien
lebt, als wäre er der Mann, der eines Tages die Welt erlösen und der grösste Philosoph
oder Dichter werden könne, der identifiziert sich fälschlicherweise mit der puer aeternus
Gestalt.»

Solche Erlöserideen sind für Sabbatai Zwi typisch. Er sieht sich als der
Gesalbte des Herrn, als König über das Volk Israel, der gekommen ist, es
aus der Knechtschaft zu befreien und in seine Heimat Israel zu führen. In
einem Brief spricht er in höchst pathetischen Tone von sich:
«Also spricht der Grosse König, Unser Herr, Unser Heiliger König»

27)
M. L. von Franz: Puer aeternus. Zürich 1970 pag. 2
28)
M. L. von Franz: Die Erlösung des Weiblichen im Manne. Zürich 1980 pag. 11Of
wobei erwähnt werden muss, dass in der Lurjanischen Kabbala die
Bezeichnung «Heiliger König» für die Gottheit selbst reserviert ist.
Endlich spricht für unsere Hypothese auch die passive Haltung Sabba-
tai Zwi's der äusseren Realität gegenüber. Deswegen ist für ihn auch das
Zusammentreffen mit Nathan von Gaza von so entscheidender Bedeu-
tung. Im Gegensatz zu Sabbatai Zwi lebt Nathan eine zielstrebige, kraft-
voll-männliche Seite. Auch scheint dessen Ehe nach den vorliegenden
Berichten unproblematisch gewesen zu sein. Gerade diese männliche
Aktivität ging Sabbatai Zwi völlig ab. Diese Seite blieb unentwickelt im
Unbewussten und wurde in der Folge auf Nathan von Gaza projiziert. In
einer von Thomas Coenen29 im Jahre 1669 in Amsterdam herausgegebe-
nen Schrift sind je ein Bild Sabbatai Zwi's und Nathans von Gaza enthal-
ten, welche auf Grund von Skizzen eines Augenzeugen angefertigt wur-
den. Nathans Bild zeigt ihn mit ausgesprochen männlichen, energischen
Zügen. Sein Blick ist ernst, er wirkt zielbewusst, während Sabbatai Zwi
eher schlaffe, weiche, ja weibliche Züge aufweist und sein Blick eher ver-
träumt wirkt. Auf einem anderen alten Stich,30 dessen Entstehungsjahr
nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, kommt hingegen eher eine
gewisse Kälte und Härte, zum Ausdruck. Auch das spricht für die
Annahme einer puer-aeternus-Psychologie, denn 31
Der kalte brutale, primitive Mann ist im allgemeinen ein kompensierender typi-
scher, sogar archetypischer Schatten des Muttersohnes.»
So lässt das vorliegende Material - so spärlich es auch sein mag - doch
mit grosser Wahrscheinlichkeit die Erklärung zu, dass Sabbatai Zwi's Per-
sönlichkeit durch eine enge Mutterbindung geprägt war. Sie war es in
erster Linie, welche seine gestörte Beziehung zur Sexualität und zu Frauen
bedingte, die allerdings im Laufe seines Lebens verschiedener; Schwan-
kungen unterworfen war. Während er in seiner Jugend das Leben eines
echt frommen und asketischen Rabbi führte, sind aus seinem späteren
Leben einige Berichte erhalten, die ihn des Umgangs mit anderen Frauen
bezichtigen, ja in einem Bericht sogar der «Unzucht mit Frauen und Favo-
riten».32 Die Gegenüberstellung von Frauen einerseits und Favoriten
29
> G. Scholem: I . e . Titelbild
30
> Jüd. Lexikon. Berlin 1928. Vol. V pag. 11
31
' M. L. von Franz: 1. c. pag. 81
32
> G. Scholem: I.e. pag. 669
andererseits könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei letzteren eher
um homosexuelle Beziehungen handelte.
Auf die Schwierigkeiten in Bezug auf seine Sexualität wird aber noch
durch ein weiteres Moment ein eigenartiges Licht geworfen. In einer von
Nathan von Gaza überlieferten und nach Auffassung von G. Scholem von
diesem selbst verfassten sabbatianischen Apokalypse, der sogenannten
Vision des Rabbi Abraham, wird von einem Traum des sechsjährigen Sab-
batai Zwi berichtet: 33
«Als er sechs Jahre alt war, erschien ihm im Traume eine Flamme, welche eine
Brandwunde an seinem Glied verursachte, u n d Träume erschreckten ihn. Er aber sprach
mit niemandem darüber.»

Im Zusammenhang mit diesem Bericht hat G. Scholem34 die Auffas-


sung vertreten, es sei
«offensichtlich, dass die Erzählung k a u m die emotionalen u n d sexuellen Erfahrun-
gen eines Sechsjährigen widerspiegeln. Die Vision oder der Traum von der Flamme, die
herabstieg und sein Geschlechtsorgan verletzte, bringt hingegen z u m Ausdruck, was
einem 16jährigen passieren könnte. Der Bezug auf die Verletzung ist offensichtlich eine
Anspielung auf Sabbatai Zwi's Weigerung, die verschiedenen Ehen zu vollziehen. D e n n
als die Apokalypse geschrieben wurde, war er bereits mit seiner dritten Frau verheiratet,
die er aber noch nicht berührt hatte.»

Man kann G. Scholem35 insofern beipflichten, als tatsächlich dieses


Traumerlebnis kaum mit persönlichen äusseren Erfahrungen des sechs-
jährigen Knaben in Zusammenhang stehen dürfte. Denn dass irgendein
äusseres Ereignis, wie zum Beispiel eine Feuersbrunst in der näheren
Umgebung, den Trauminhalt beeinflusst haben könnte, ist sehr unwahr-
scheinlich. Jedenfalls liegen für eine solche Vermutung keine Anhalts-
punkte vor. Aber selbst wenn man mit G. Scholem annehmen will, der
Traum vom brennenden Phallus sei erst mit 16 Jahren aufgetreten, ist sein
Inhalt ebensowenig erklärt. Denn auch dann, wenn wir annehmen, dass
irgendein äusseres Erlebnis die unmittelbare Veranlassung dieses Traumes
gewesen sei, ist damit der spezifische Inhalt des Traumes, nämlich die Ver-
letzung des Phallus, noch nicht erklärt. Aber basieren überhaupt Träume
ausschliesslich auf Erfahrungen aus dem persönlichen Erlebnisbereiche?

33
> G. Scholem: 1. c. pag. 113
34
> G . Scholem: 1. c. id
35
> G. Scholem: 1. c. id
Ist es nicht naheliegender, das Traumerlebnis als das zu nehmen, was es zu
sein vorgibt? Könnte es sich nicht um ein inneres numinoses Erlebnis han-
deln? Gerade der Bericht Nathans, dass Sabbatai Zwi darüber nichts
gesagt habe, spricht für eine solche Annahme. Denn einem so unheimli-
chen Traumerlebnis gegenüber ist erschrecktes Schweigen doch eine
durchaus verständliche Haltung.
Die Tatsache, dass die Vision des Rabbi Abraham erst viele Jahre nach
dem Traum aufgezeichnet wurde, spricht nicht dagegen, dass er Sabbatai
Zwi mit sechs Jahren widerfuhr. Es ist durchaus vorstellbar, dass der
Knabe das Erlebnis zunächst für sich behielt und darüber schwieg. Es ist
möglich, dass der Verfasser der Vision erst später davon Kenntnis erhielt.
Dass im übrigen Nathan von Gaza diesen Traum eigens dazu «erfunden»
habe, um Sabbatai Zwi's Weigerung, die Ehen zu vollziehen, zu erklären,
wie offenbar G. Scholem annimmt, scheint mir doch eine etwas allzu ratio-
nale Deutung zu sein.
So ist die Möglichkeit, dass es sich um ein echtes Traumerlebnis des
sechsjährigen Sabbatai Zwi handelte, nicht von der Hand zu weisen. Dass
ein solcher Traum einem Kinde dieses Alters widerfahren kann, ist weder
etwas Aussergewöhnliches noch etwas Unverständliches. C. G.Jung36
hat wiederholt darauf hingewiesen, dass gerade im kindlichen Alter häufig
Träume auftreten, welche durchaus nicht aus dem persönlichen Erlebnis-
bereich des Kindes verstanden werden können. Es handelt sich dabei um
Träume aus der Kollektivschicht der menschlichen Seele, archetypische
Träume, welche gelegentlich die ganze zukünftige Entwicklung und damit
das Schicksal des Kindes vorwegnehmen können. Es dürfte sich zum min-
desten lohnen, den Traum Sabbatai Zwi's unter diesem Blickwinkel zu
untersuchen. Wir werden daher im folgenden die beiden Symbole des
Traumes, Feuer und Phallus untersuchen müssen.
Dem Feuer wurde seit alters her in Mythen, Legenden und Märchen
verschiedenste Bedeutungen zuerkannt. Auf der einen Seite vermittelt es
Wärme, es reinigt und verwandelt Speisen, so dass sie geniessbar werden.
Wenn es positiv auftritt, hat es somit eine verwandelnde und reinigende
Wirkung. Wenn dagegen der negative Aspekt dominiert, dann kommt die

36
C. G. . J u n g : Kindertraumseminare. Zürich 1938/39 & 1939/40 (Privatdruck)
zerstörerische Seite hervor. Schon frühzeitig wurde das Feuer als Attribut
der Götter betrachtet, wie der Prometheus-Mythos zeigt. Wenn wir uns
auf das Gebiet der jüdischen Mythologie beschränken, dann kann man
sagen, dass sich auch hier der bipolare Charakter des Feuers nachweisen
lässt. So erscheint J H W H Mose im brennenden Dornbusch oder in der
Epiphanie auf dem Berge Sinai. Als schützende Feuersäule begleitet er sein
Volk während der vierzigjährigen Wüstenwanderung. Im endzeitlichen
Zion wird J H W H dereinst in «Rauch und flammendem Feuerglanz»
erscheinen. Er selbst sendet auch das Feuer vom Himmel herab, um die
ihm dargebrachten Opfergaben zu verzehren, deren Rauch wieder zu ihm
emporsteigt.
Aber auch der negative Aspekt des Feuers tritt bereits im Alten Testa-
ment deutlich in Erscheinung, wenn J H W H als ein verzehrendes Zorn-
feuer wirkt. Uber Sodom und Gomorrha sendet er ein verderbenbringen-
des Feuer herab, ebenso beim Tod der Söhne Aarons oder in der göttli-
chen Feuersbrunst im Anschluss an die Vernichtung der Rotte Korahs, in
welcher 250 Menschen verbrennen. Auch eine Art endzeitlicher Welten-
brand - ähnlich wie in der germanischen Mythologie - ist dem Judentum
nicht fremd. Im endzeitlichen Krieg gegen Gog und Magog wird J H W H
Regen, Hagel, Feuer und Schwefel herabsenden. Auch die Bestrafung der
Gottlosen im endzeitlichen Gericht erfolgt im Feuer des Gehinnom.
Immer wieder wird der Zorn J H W H s als «verzehrendes Feuer»
bezeichnet. In der Vorstellungswelt der Kabbala wird die fünfte Sefira der
zehn Emanationen Gottes als din, d. h. Gerechtigkeit oder Gericht, aber
auch als ein loderndes Zornfeuer Gottes bezeichnet. Dies ist in kabbalisti-
scher Sicht auch der Ort, wo das Böse seinen Ursprung hat.
Der Phallus ist in unserem Traum eindeutig ein Symbol der zeugenden
und schöpferischen Kräfte. Wenn in diesem Traumbild der Phallus von
einer göttlichen Flamme angesengt wird, dann bedeutet dies nicht eine
Vernichtung der Sexualität. Vielmehr wird diese durch das göttliche Feuer
gezeichnet und damit dem profanen Bereich entzogen. Dies bedeutet, dass
die Sexualität in den sakralen Bereich gestellt wird. Eine Parallele hierzu ist
die Beschneidung des jüdischen Knaben, die durchaus nicht den Charak-
ter einer symbolischen Kastration besitzt, wie vielfach angenommen wird.
Vielmehr liegt ihr tieferer Sinn darin, dass die Sexualität der Gottheit
geweiht wird. Man könnte den angesengten Phallus auch mit der aus-
gerenkten Hüfte Jakobs vergleichen, die nach dem Kampf mit dem Engel
verletzt wurde. In beiden Fällen werden die Träger durch die Begegnung
mit dem Numinosen gezeichnet.
Man kann wohl nicht leugnen, dass Sabbatai Zwi eine tragische
Gestalt war, die nicht nur unsere ungeteilte Sympathie, sondern auch
unser tiefstes Mitgefühl verdient, auch wenn durch ihn sein Volk in
schwere Wirren gestürzt wurde. Er ist ein innerlich zerrissener Mensch:
er schwankt zwischen einer asketischen Weltflucht und einer diesseitsbe-
jahenden echten Lebensfreude, zwischen einer zweifellos tiefen Religiosi-
tät und der ihm selber nicht verständlichen Haltung eines Häretikers. Er
ist das Opfer dieser widerstreitenden Gegensätze, von denen ihn bald der
eine und bald der andere ergreift. Er vermag weder sich selber, noch seine
Gegner und ihren Hass zu verstehen.
Das Leben der meisten Menschen wird bald durch innere und bald
durch äussere Probleme geprägt. Die Tragik des Menschen Sabbatai Zwi
wird umso verständlicher, wenn man in Erwägung zieht, dass er den äus-
seren wie inneren Problemen hilflos gegenüberstand. Seiner manisch-
depressiven Krankheit konnte er kein kritisch-wertendes Bewusstsein
gegenüberstellen. Auch vermochte er weder seine persönliche Verstrikkung mit
seiner Mutter zu sehen, geschweige denn, sich von ihr zu
befreien. Der dahinter liegende übermächtige Archetypus der Grossen
Mutter hielt ihn völlig gefangen.
Jeder Archetypus kann vom Bewusstsein nur dann wahrgenommen
werden, wenn er sich in seine gegensätzlichen Aspekte aufspaltet. Dies
tritt in der Regel dann ein, wenn er sich der Bewusstseinsschwelle annä-
hert. Meistens vermag dann das Bewusstsein einen Aspekt aufzunehmen,
während der andere im Unbewussten verbleibt. In Sabbatai Zwi's
Bewusstsein dominierte zweifellos der helle, positive Aspekt dieser arche-
typischen Gestalt, welche auch seinen Bezug zur persönlichen Mutter
bestimmte. Der negative dagegen blieb völlig unbewusst. Aber in dem
Masse, als die persönliche Mutter das hohe, reine und niemals erreichbare
Idealbild verkörpert, tritt - vom Unbewussten her kompensierend - all-
mählich der negative und chthonische Aspekt des archetypischen Bildes
auf, welcher passenderweise auf eine Dirne projiziert wird.
Der positive Mutterkomplex konstellierte seinerseits den Archetypus
des puer aeternus. Als solcher lebte Sabbatai Zwi in einer Traum- und
Phantasiewelt, in innigster Gemeinschaft mit dem archetypischen Bilde
der Grossen Mutter, die ihm einerseits Schutz und Geborgenheit vermit-
telte, ihn aber andererseits auch restlos beherrschte. Zu seinen persönli-
chen Schwierigkeiten kommt ausserdem die aktuelle zeitgeschichtliche
Situation hinzu. Der kollektive jüdische Zeitgeist jener Epoche kommt
seinen Erlöserphantasien entgegen und erschwert zusätzlich die Findung
eines kritischen Bewusstseins.
Was Sabbatai Zwi widerfuhr, ist eine Überflutung mit Inhalten aus
dem kollektiven Unbewussten, mit denen er nicht umgehen konnte. Das
war in jener Zeit auch sehr schwierig. Eine innere Wandlung hat er bis
zum Ende seines Lebens nicht erfahren. Sie hat seine Möglichkeiten und
wahrscheinlich auch seine Kräfte bei weitem überstiegen. So konnte er die
Forderungen, die das Schicksal an ihn stellte, nicht erfüllen. Er ist an den
widerstreitenden Gegensätzen in ihm selber zerbrochen und als Geschei-
terter und Verführer in die Geschichte seines Volkes eingegangen.

Das könnte Ihnen auch gefallen