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Literatur für Jedermann

Y M

Nach dem Bankett


Roman
Original
Autor: Yukio Mishima
Titel: Utage No Ato
Jahr: 1960
Sprache: japanisch

Vorlage
Übersetzung: Sachiko Yatsushiro aus dem Japanischen, 1967
Verlag: Ernst Rowohlt Verlag Reinbek, 1967
ISBN: —

eBook
Version: 1.00 Testversion ID2

Korrekturen sind immer willkommen.


Nach dem Bankett

Das Gasthaus

Das Setsugoan – die Schneeklause – lag auf einer Anhöhe im hügeligen


Koishikawa, einem Stadtteil von Tokio. Es war glücklicherweise von den
Verwüstungen des Krieges verschont geblieben. Nichts war zerstört worden,
weder der berühmte, fast   Quadratmeter große Garten, der im Stile von
Kobori Enshu angelegt war, noch das Pfauen-Tor aus einem bekannten Tempel in
Kioto; unbeschädigt waren auch Eingang und Gästepavillon eines alten Tempels
aus Nara, den man abgetragen und unverändert hier wieder errichtet hatte,
sowie der große Saal, der erst in neuerer Zeit gebaut worden war.
In den Nachkriegsjahren, während der Umwälzungen, die die neu festgesetzte
Vermögenssteuer mit sich brachte, wechselte Setsugoan seinen Besitzer; von
einem Industriellen, einem Kenner und Liebhaber der Teezeremonie, ging es in
die Hände einer schönen, energischen Frau über. Und es dauerte nicht lange, da
wurde es ein berühmtes Gasthaus.
Der Name der Besitzerin war Fukuzawa Kazu. Kazu, eine schöne, üppige Frau,
hatte etwas Urwüchsiges, Kraftvolles und Leidenschaftliches an sich. Menschen
mit Komplexen schämten sich ihrer Komplexe, wenn sie vor Kazu traten;
und Menschen, die mutlos waren, schöpften entweder neue Hoffnung oder
gaben sich völlig auf. Eine Frau, die durch die Gnade des Himmels männliche
Entschlossenheit und weibliche Leidenschaft in sich vereinte, war dazu
geschaffen, mehr zu erreichen, als ein Mann je erreichen konnte.
Kazu hatte eine strahlend heitere Natur und einen absolut unbeugsamen
Charakter; beides ließ ihr Wesen anziehend und lauter erscheinen. Schon
von jung auf hielt sie es für wünschenswerter, selber zu lieben, als geliebt zu
werden. Hinter ihrer urwüchsigen Naivität verbarg sich ein gewisser Hang zur
Aufdringlichkeit. Bosheit und Arglist der Menschen bestärkten sie nur noch in
ihrer Großmut und Offenherzigkeit.
Kazu besaß schon seit einer Reihe von Jahren mehrere Freunde, deren
Zuneigung nichts mit Liebe zu tun hatte. Zu ihnen gehörte auch, seit
verhältnismäßig kurzer Zeit, der Politiker Nagayama Genki, eine hinter den
Kulissen arbeitende, führende Persönlichkeit der konservativen Partei. Er liebte
die um zwanzig Jahre jüngere Kazu wie eine kleine Schwester.
»Sie ist eine ungewöhnliche Frau«, pflegte er zu sagen. »Sie wird sicher noch
einmal etwas Außerordentliches tun. Wenn man ihr sagte: ›Stelle Japan auf den

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Yukio Mishima

Kopf‹, wäre sie dazu imstande. Ein Mann mit ihren Anlagen wäre ein Teufelskerl;
aber da sie eine Frau ist, wird man von ihr höchstens sagen, sie sei tüchtig. Es
müßte ein Mann kommen, der ihr zeigt, was Liebe ist; erst dann würde sie sich
wirklich entfalten.«
Als man ihr dies erzählte, war Kazu davon keineswegs unangenehm berührt.
Aber zu Nagayama Genki sagte sie: »Herr Nagayama, Sie sind nicht der Mann,
der mich entflammen könnte; auch wenn Sie noch so selbstbewußt und
machtvoll auftreten – mich vermögen Sie nicht zu fesseln. Sie können Menschen
gut beurteilen, ja, aber die Kunst des Verführens ist nicht Ihre starke Seite.«
»Ich will dich ja gar nicht verführen! Wenn ich anfinge, dir den Hof zu machen,
wäre es bald um mich geschehen«, meinte der alte Politiker boshaft.
Als das Restaurant Setsugoan zu florieren begann, konnte man auch etwas
mehr Geld für die Pflege des Gartens aufwenden. Im Mittelpunkt, an der
Südseite des Gästepavillons aus dem Nara-Tempel, lag ein Teich. Vor allem
bei Mondscheinfesten hielt man sich gern dort auf. Rings um den Garten
standen hohe alte Bäume, wie sie im heutigen Tokio selten geworden sind:
Kiefern, Kastanien, Zürgelbäume und Castapopsis. Ehrfurchtgebietend ragten
sie in den blauen Himmel, der hier noch nicht von modernen Großstadtbauten
verunstaltet war. In den Wipfeln einer besonders schönen Kiefer hatte sich seit
einiger Zeit eine Weihe eingenistet, und gelegentlich kamen auch andere Vögel
in den Garten, besonders dann, wenn die Zugvögel auf die Reise gingen. Sie
ließen sich in Scharen auf der großen Rasenfläche nieder, pickten nach den roten
Beeren der Nandinen und suchten Insekten. Der Lärm, den sie machten, war
ohrenbetäubend.
Jeden Morgen ging Kazu durch den Garten und gab dem Gärtner Anweisungen;
manchmal waren sie angebracht, manchmal fehl am Platz. Aber dieser Rundgang
gehörte zu Kazus Tagesprogramm und versetzte sie in gute Laune. Daher wagte
der alte erfahrene Gärtner auch nie, ihr zu widersprechen.
Bei diesen Spaziergängen im Garten genoß Kazu die Freuden des Alleinseins
und die Gelegenheit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie, die fast den ganzen
Tag plauderte oder sang, war kaum je allein, und obgleich sie es gewohnt war,
Gäste zu unterhalten, fühlte sie sich oft erschöpft. Der morgendliche Spaziergang
brachte ihr zu Bewußtsein, daß ihr Herz ruhig und still geworden war und kein
Verlangen mehr spürte, sich in Liebe hinzugeben.
›Die Liebe wird mein Leben nicht mehr verwirren‹, dachte sie und beobachtete,
erfüllt von dieser Gewißheit, wie die Strahlen der Sonne den Dunstschleier
zwischen den Bäumen durchbrachen und den grünen Moosteppich auf dem
Wege aufleuchten ließen. Schon lange hatte sie der Liebe entsagt: ihre letzte
Leidenschaft war bereits zu einer fernen Erinnerung verblaßt. Sie war in tiefster
Seele davon überzeugt, gegen alle gefährlichen Gefühle gefeit zu sein.

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Nach dem Bankett

Dieser Morgenspaziergang war für Kazu eine stete Quelle der Selbstsicherheit.
Sie war bereits über fünfzig. Jeden hätte wohl der Anblick dieser anmutigen Frau
mit dem jugendlichen Teint und den strahlenden Augen beeindruckt, die da in
dem großen Park langsam auf und ab wandelte, und mancher hätte gern mehr
von ihrem Leben erfahren. Trotzdem wußte niemand besser als Kazu, daß es
nichts mehr zu erzählen gab und das Lied bereits verklungen war. Zwar spürte
sie sich noch im Besitz aller Lebenskräfte, wußte aber zugleich, daß diese bereits
gehemmt waren und nachließen und sich nicht mehr zügellos verströmen
würden.
Der große, weite Park und die Häuser, ein ansehnliches Bankkonto und
Wertpapiere, ihre einflußreichen und großzügigen Gäste aus Politik und
Wirtschaft verbürgten Kazu einen sicheren Lebensabend. Sie hatte es zu etwas
gebracht und brauchte sich nicht mehr davor zu fürchten, daß die Leute sie
haßten oder hinter ihrem Rücken über sie redeten. Sie gehörte zur Gesellschaft,
wurde verehrt, ging vornehmen Vergnügungen nach, konnte sich einen fähigen
Verwalter leisten und brauchte auf Reisen und Gesellschaften mit Trinkgeldern
nicht zu sparen. Sie konnte ihren Lebensabend in Wohlstand und Überfluß
verbringen.
Wenn Kazu solche Gedanken durch den Kopf gingen, verhielt sie den Schritt
und setzte sich auf die Bank neben dem Eingang. Dann ließ sie ihren Blick über
den schmalen, bemoosten Weg wandern, der zum Teezimmer führte, genoß
die Strahlen der Morgensonne und beobachtete die flinken Bewegungen der
umherfliegenden Vögel.
Hier hörte man weder das Rattern der Straßenbahn noch das Hupen der
Autos. Die Welt war ein regloses Bild. Wie war es möglich, daß Gefühle, die
einmal gelodert hatten, ohne eine Spur zu hinterlassen, verlöschten? Kazu
konnte es nicht begreifen. Wie konnte sich etwas in Nichts auflösen, das einmal
ihren ganzen Körper erfüllt hatte? Es erschien ihr wie eine Lüge, daß der Mensch
durch die Erfahrungen, die er sammelt, wachse und reife. Vielleicht war der
Mensch eher wie ein dunkles Abflußrohr, durch das alles mögliche hindurchfloß,
oder wie das Pflaster einer Kreuzung, auf dem viele Fahrzeuge ihre Spuren
hinterlassen hatten? Das Rohr wurde brüchig, das Pflaster verwitterte, aber auch
sie waren einmal gleichsam jungfräulich gewesen.
Kazu wußte schon lange nicht mehr, was es hieß, blindlings vor sich hinzuleben.
Für sie war jetzt alles hell und klar wie der Anblick dieses Gartens am Morgen.
Alle Dinge hatten scharfe Konturen, nichts war doppeldeutig in dieser Welt. Sie
glaubte sogar, sie könne den Menschen ins Herz schauen. Es gab nicht mehr viel,
worüber sie sich wunderte. Wenn sie erfuhr, daß jemand seinen Freund betrogen
hatte, dann dachte sie: ›Das kommt öfter vor.‹ Und wenn jemand sich einer Frau
wegen ruiniert hatte, dachte sie: ›Das ist keine Seltenheit.‹ Gewiß war nur, daß sie

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selber niemals in eine solche Situation geraten würde.


In Liebesangelegenheiten befragt, gab Kazu verständnisvolle und kluge
Ratschläge. Das Seelenleben der Menschen war für sie in zwanzig bis dreißig
Kategorien eingeteilt, und wenn sie diese verschiedenen Kategorien miteinander
in Beziehung setzte, konnte sie sogar die schwierigsten Probleme lösen. Andere
Komplikationen barg das Leben für sie nicht mehr. Alles war, wie beim Go-Spiel,
durch einige wenige Regeln festgelegt, und sie hatte, wie ein Meisterspieler, für
jeden einen passenden Rat bereit. Es war daher selbstverständlich, daß sie alles
Neue verachtete. Die Menschen mochten sich für noch so fortschrittlich halten
– den Gesetzen der Leidenschaft konnten sie sich nicht entziehen.
»Die Jugend heutzutage«, pflegte sie zu sagen, »macht genau dasselbe, was
wir früher getan haben. Sie kleiden sich nur anders. Und sie glauben, was für sie
neu ist, müsse auch für andere neu sein. Unmoral gab es früher wie heute. Nur
benimmt man sich jetzt in der Öffentlichkeit ungezwungener und übertreibt,
bloß, um aufzufallen.«
Dies war eine recht oberflächliche und banale Feststellung, aber aus Kazus
Munde klang sie überzeugend.
Während Kazu auf der Bank saß, nahm sie eine Zigarette aus ihrem weiten
Kimonoärmel und zündete sie an. Der Rauch stieg in das Morgenlicht und hing
schwer und schimmernd wie Seide in der windstillen Luft. Solche Augenblicke, die
keiner Frau vergönnt waren, die Familie besaß, stärkten Kazus Selbstbewußtsein
und erfüllten sie mit der zufriedenen Gewißheit, daß sie aus eigener Kraft ein
Leben in Wohlstand führte. Sie hatte eine vorzügliche Gesundheit und konnte
sich nicht entsinnen, daß ihr die Zigarette je schlecht bekommen wäre, mochte
sie am vergangenen Abend auch noch so viel getrunken haben.
Alle Ecken und Winkel des Gartens, auch jene, die sie von ihrem Platz
nicht sehen konnte, waren ihr vertraut; sie kannte den Park wie ihre eigene
Handfläche: den in der Mitte des Gartens stehenden dunkelgrünen riesigen
Hülsenbaum mit der dichten Krone aus glänzenden dicken kleinen Blättern;
den wilden Wein, der sich um die Bäume auf den Hügeln im Hintergrund
rankte; den weiten Ausblick auf den Rasen vor dem sogenannten Studienzimmer
und die schlichte Schneelaterne davor; die Insel in der Mitte des Teiches mit
der antiken Steinpagode und dem dichten Bambusgras. Nichts war hier dem
Zufall überlassen: jeder Strauch und noch die unscheinbarste Blume wuchsen
gleichsam auf ihr Geheiß. Während Kazu ihre Zigarette rauchte, hatte sie das
Gefühl, als berge jede erlesene Einzelheit des Gartens für sie eine Erinnerung.
Wie sie jetzt diesen Garten betrachtete, so betrachtete sie die Menschen und die
ganze Welt. Nicht nur das: sie verfügte über sie.

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Nach dem Bankett

Der Kagen-Kreis

Ein Minister teilte Kazu mit, daß der Kagen-Kreis die Absicht habe, seine
Jahresversammlung bei ihr abzuhalten. Die Angehörigen dieses Kreises, alles
ehemalige Botschafter, kamen einmal im Jahr, und zwar am . November,
zusammen. Sie waren bisher mit ihren Versammlungsräumen nicht zufrieden
gewesen, daher hatte sich nun der Minister vermittelnd eingeschaltet.
»Es sind vornehme alte Herren, die im Ruhestand leben«, erzählte der Minister.
»Nur einer kann sich noch nicht mit der Untätigkeit abfinden, das ist der alte
Noguchi. Sie kennen ihn, nicht wahr? Der berühmte Noguchi, der mehrere
Male Minister war. Vor einigen Jahren ist er, Gott weiß warum, Abgeordneter
der radikalen Reformpartei geworden, ist aber bei der letzten Wahl wieder
durchgefallen.«
Kazu erhielt diesen Auftrag während eines Gartenfestes, das ein Mitglied
der Regierung gab. Sie hatte keine Zeit, darauf einzugehen; denn der Garten
war an diesem Tage voller ausländischer Gäste. Es war nicht die übliche Schar
zwitschernder kleiner Vögel, sondern ein lärmender Schwarm bunten Gefieders,
der sich im Garten von Setsugoan niedergelassen zu haben schien.
Der . November rückte näher, und Kazu begann über die Vorbereitungen
nachzudenken. Bei solchen Gästen war vor allem Respekt geboten. Menschen,
die auf der Höhe ihrer Macht stehen, amüsieren sich über freche Scherze und
Vertraulichkeiten. Aber Menschen, deren Glanz bereits erloschen ist und die
zurückgezogen leben, konnte man mit den gleichen Scherzen leicht in ihrem
Stolz verletzen. Es war also das beste, still zuzuhören, wenn die Herren sich
unterhielten. Später am Abend könnte sie die Herren mit sanften Worten
hofieren und ihnen die Illusion geben, als stünden sie noch in der Blüte ihrer
früheren Macht.
Das Menü für diesen Tag stellte Kazu wie folgt zusammen:

S:
Weiße Bohnen mit Pilzen und Sesam-Quark
R F:
In Streifen geschnittener Tintenfisch; Bitterorangensaft und Petersilie
K:
Amago; Archenmuschel; grüner Paprika; Bitterorangensaft; Sauce

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Yukio Mishima

H’:
Gebratene Drossel in Sojabohnensauce; Langusten; Muscheln;
eingemachte weiße Rüben; junge Sprossen von Lakritz
E:
Entenfleisch mit Bambussprossen; Sauce, gebunden mit Pfeilwurzelstärke
F:
Zwei kleine Karpfen; gesalzene Meerbrasse, auf offenem Feuer gebacken;
Bitterorange
G:
Farnkraut; Kastanien-Klöße; eingemachte Pflaumen

Kazu trug einen kleingemusterten, grau-violetten Kimono, dazu einen dunkel-


lila Obi mit Chrysanthemen-Muster und eine rostrote Obi-Schnalle mit einer
großen schwarzen Perle. Dieses Gewand ließ ihre üppige Gestalt schlanker,
vornehmer und eleganter erscheinen.
Der Tag war warm und klar. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit – der Mond
war noch nicht aufgegangen – erschien der frühere Außenminister Noguchi
Yuken zusammen mit dem ehemaligen Botschafter in Deutschland, Tamaki
Hisatomo. Noguchi war mager und wirkte etwas unscheinbar neben dem
stattlichen Tamaki, doch die Augen unter dem graumelierten Haar waren scharf
und klar. Sein funkelnder Blick verriet Kazu, daß dieser unverkennbare Idealist
als einziger unter den nun versammelten Gästen, die alle einst Botschafter
gewesen waren, sich noch nicht zur Ruhe gesetzt hatte.
Die Gesellschaft war lebhaft und ungezwungen, aber man sprach ausschließlich
von der Vergangenheit. Der Gesprächigste unter ihnen war Tamaki.
Das Essen wurde im großen Empfangssaal des Gästepavillons, dem
sogenannten Studienzimmer, serviert. Tamaki lehnte an einem Pfosten
zwischen dem schwarzlackierten knospenförmigen Fenster und einer prächtigen
Schiebetür, auf der vor einer Landschaft mit weißen Päonien ein buntes
Pfauenpärchen zu sehen war; dieses seltsame Stilgemisch verriet den Geschmack
des Provinzadels.
Tamaki trug in der Westentasche seines englischen Maßanzuges eine
altmodische Taschenuhr mit einer schweren goldenen Kette, die sein Vater,
der ebenfalls Botschafter in Deutschland gewesen war, von Kaiser Wilhelm II.
geschenkt bekommen hatte. Noch in der Hitlerzeit hatte diese Uhr in
Deutschland großes Aufsehen erregt.
Tamaki war ein blendend aussehender Mann und ein guter Redner: der Typ
des aristokratischen Diplomaten. Er war einst stolz darauf gewesen, auch mit

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Nach dem Bankett

den Verhältnissen des einfachen Volkes vertraut zu sein. Doch jetzt beschäftigte
er sich nicht mehr mit der Gegenwart, er dachte nur noch an den Lichterglanz
der Kronleuchter längst vergangener Empfänge, zu denen sich fünfhundert, ja
tausend Gäste eingefunden hatten.
»Wenn ich daran denke, läuft es mir jedesmal kalt den Rücken hinunter. Es
ist eine wirklich amüsante Geschichte«, begann er mit einer weitschweifigen
Einleitung, die jedem den Spaß von vornherein verdarb. »Ich hatte noch nie
die Berliner Untergrundbahn benutzt, seit ich Botschafter geworden war. Eines
Tages schleppte mich unser Botschaftsrat – Matsuyama hieß er, glaube ich
– trotz meines Sträubens in die U-Bahn. Wir stiegen in den zweiten, nein, ich
glaube, es war der dritte Wagen von hinten. Er war nur mäßig besetzt. Ich blickte
mich um und sah plötzlich, etwas weiter vom, Göring sitzen.«
Tamaki machte eine Kunstpause, um zu sehen, was für einen Eindruck seine
Geschichte auf die Zuhörer mache. Keiner verzog eine Miene, wahrscheinlich
hatten sie die Geschichte schon über ein dutzendmal gehört. Kazu kam ihm zu
Hilfe und meinte: »Göring war doch damals ein großer Mann, nicht wahr? So etwa
wie Kato Kiomasa in Japan? Und dieser Mann saß in der Untergrundbahn?«
»Ganz recht. Der allmächtige Göring. In einem abgetragenen Anzug, wie
ein Arbeiter, den Arm um ein zierliches sechzehn-, siebzehnjähriges Mädchen
geschlungen – übrigens ein bildhübsches Ding –, saß er dort in aller Seelenruhe
in der Untergrundbahn. Ich rieb mir die Augen; denn ich dachte, ich hätte mich
geirrt. Aber so scharf ich auch hinsehen mochte: es war Göring, wie er leibte und
lebte. Schließlich kannte ich ihn ja genau, da ich ihn fast täglich auf Empfängen
traf. Ich muß gestehen, daß ich verlegen war, während Göring keine Miene
verzog. Vielleicht war das Mädchen eine Prostituierte; aber da bin ich nicht
sicher, denn in diesem Milieu kenne ich mich leider nicht aus.«
»So wirken Sie aber gar nicht.«
»Es war jedenfalls ein süßes Mädchen. Nur schien sie mir verdächtig stark
geschminkt, besonders die Lippen. Göring, in seinem schäbigen Anzug,
spielte gelassen mit ihrem Ohrläppchen und streichelte ihren Rücken. Ich sah
Matsuyama an, der neben mir stand. Ihm traten fast die Augen aus den Höhlen.
Zwei Stationen weiter stieg Herr Göring mit dem Mädchen aus. Wir beiden,
die wir im Abteil zurückblieben, waren fassungslos. Den ganzen Tag ging mir
die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Am nächsten Tag gab Göring einen
Empfang. Matsuyama und ich gingen hin und studierten ihn eingehend. Es
war derselbe Mensch, den wir am Vortag gesehen hatten. Ich konnte meine
Neugier nicht länger bezwingen, vergaß ganz meine Stellung als Botschafter und
platzte heraus: ›Gestern fuhren wir mit der Untergrundbahn, um uns einmal
anzusehen, wie die einfachen Leute leben. Es war sehr aufschlußreich. Belieben
Eure Exzellenz auch so etwas zu unternehmen?‹ Göring lächelte und gab eine

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vieldeutige Antwort. ›Wir sind stets eins mit dem Volk, sind Teil unseres Volkes.
Es besteht daher keine Notwendigkeit für mich, in der U-Bahn zu fahren.‹«
Tamaki brachte Görings Antwort in klarem Deutsch, fügte dann aber die
Übersetzung hinzu.
Die ehemaligen Botschafter wirkten zwar in ihrer äußeren Erscheinung wie
Diplomaten, benahmen sich aber keineswegs so: Niemand hörte zu, wenn
der andere etwas erzählte. Der frühere Botschafter in Spanien konnte kaum
das Ende von Tamakis Geschichte abwarten und begann sogleich davon zu
erzählen, was er als Konsul in Santo Domingo, der schönen Hauptstadt der
Dominikanischen Republik, erlebt hatte. Er berichtete von Spaziergängen am
Meer unter Palmen, von den großartigen Sonnenuntergängen an der Karibischen
See, er schwärmte davon, wie die braune Haut der Mulattenmädchen in den
Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete. Der alte Mann blühte förmlich
auf, während er diese Bilder bis in die kleinsten Einzelheiten ausmalte. Aber der
beredte Tamaki brachte das Gespräch bald wieder an sich und erzählte von
Marlene Dietrich, die er kennengelernt hatte, als sie noch jung war. Unbekannte
Schönheiten interessierten Tamaki nicht: er brauchte klangvolle Namen,
flitterglänzenden Ruhm, um seinen Erzählungen Farbe zu geben.
Kazu fühlte sich etwas unbehaglich bei den Gesprächen ihrer Gäste. Es kamen
so viele Fremdwörter vor, und besonders bei pikanten Geschichten wurde die
Pointe stets in der Originalsprache serviert. Doch die Atmosphäre, die diese
ehemaligen Diplomaten umgab, fesselte Kazu. Es waren wirklich vornehme alte
Herren; und mochten sie auch jetzt verarmt sein, so merkte man ihnen doch an,
daß sie einst mit wirklichem Prunk und Luxus in Berührung gekommen waren.
Die Erinnerung daran – so traurig es auch war, daß sie nur in der Vergangenheit
lebten – hatte ihr ganzes Leben mit Gold überstäubt.
Nur Noguchi Yuken unterschied sich von den anderen. Aus seinem männlichen
Gesicht sprachen Schlichtheit und Gelassenheit. Auch seine Kleidung war, im
Gegensatz zu der der anderen, weder auffallend noch stutzerhaft. Die Brauen
über den scharfblickenden Augen wuchsen in schwungvollen Bogen und liefen
wie schmale Pinselstriche aus. Er hatte ausgeprägte Züge, und doch wirkte
sein Gesicht disharmonisch, ein Eindruck, der durch seine hagere Gestalt
noch unterstrichen wurde. Auch Noguchi lächelte stets, griff aber selten in die
Unterhaltung ein. Man hatte vielmehr den Eindruck, daß er nur aufmerksam
beobachte. Diese Eigentümlichkeit fiel Kazu auf; aber es war ihr schon bei der
ersten Begegnung auch nicht entgangen, daß sein Kragen einen leichten grauen
Schmutzrand hatte.
›Wie kann ein ehemaliger Minister ein schmutziges Hemd tragen? Hat er
denn niemand, der sich um ihn kümmert?‹ Verstohlen wanderte ihr Blick zu den
anderen Gästen. Sie alle trugen makellose weiße Hemdkragen, die die welken

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Nach dem Bankett

Hälse der eleganten alten Herren eng umschlossen.


Noguchi sprach auch nicht von der Vergangenheit. Er war ebenfalls einst
Botschafter gewesen, in einem kleinen Land, bevor er zum Ministerium
zurückberufen wurde; aber das prunkvolle, glänzende Leben eines Diplomaten
schien ihn nicht mehr zu interessieren. Er weigerte sich, von Vergangenem zu
reden, und dies war ein Zeichen, daß er als einziger der Gegenwart zugewandt
war.
Botschafter Tamaki begann wieder von großen Empfängen zu erzählen: Von
einem prunkvollen Ball in einem Schloß, zu dem sich die Fürstlichkeiten und der
Adel Europas unter strahlenden Lüstern zusammengefunden hatten. Der Abend
hatte einer Ausstellung der Orden und Juwelen ganz Europas geglichen, und
die faltigen, fleckigen Wangen der aristokratischen Greisinnen wirkten in dem
Widerschein unzähliger Edelsteine bleich wie welke weiße Rosen.
Dann sprach man über Opernaufführungen aus jener Zeit. Einer der Herren
erzählte begeistert von der ausgezeichneten Wahnsinnsszene der Galli-Curci in
der »Lucia«; ein anderer behauptete, die Galli-Curci hätte damals längst ihren
Höhepunkt hinter sich gehabt, er habe die Dal Monte in der »Lucia« gehört, und
sie sei viel besser gewesen.
Da sagte Noguchi, der bis dahin geschwiegen hatte: »Hören wir doch auf, von
vergangenen Tagen zu reden. Wir sind doch noch jung.«
Die Worte machten Kazu tiefen Eindruck. Er hatte dabei gelächelt, aber der
gebieterische Klang seiner Stimme brachte die anderen zum Schweigen.
Sonst pflegte die Dame des Hauses eine peinliche Stille mit einem Scherz zu
überbrücken, aber Noguchis Worte hatten geradewegs ins Schwarze getroffen
und waren ihr so aus dem Herzen gesprochen, daß sie ihre Pflichten diesmal
vergaß. ›Dieser Herr versteht es, auszusprechen, was andere nicht zu sagen
wagen‹, dachte sie.
Noguchis Worte hatten den Glanz dieses Kreises zum Erlöschen gebracht – wie
ein Feuer, auf das Wasser gegossen wurde. Die Asche der Vergangenheit schwelte
nur noch schwarz und feucht. Einer der Herren hustete, und sein qualvolles
Keuchen zerriß die eingetretene Stille. Die Augen der anderen verrieten, daß sie
alle für einen Moment an die Zukunft, an den Tod, gedacht hatten.
Plötzlich wurde der Garten von hellem Mondschein überflutet. Kazu versuchte
die Aufmerksamkeit ihrer Gäste auf den späten Mondaufgang zu lenken. Der
Wein hatte bereits seine Wirkung getan, die alten Herren fürchteten sich nicht
vor der nächtlichen Kälte und wollten einen Rundgang durch den Garten machen,
den sie bei Helligkeit nicht mehr hatten besichtigen können. Kazu befahl ihren
Mädchen, Papierlampions anzuzünden. Selbst der hustende alte Herr ging mit,
weil er Angst hatte, allein zu bleiben; er band sich aber vorsichtshalber eine weiße

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Yukio Mishima

Gazemaske vor Mund und Nase.


Der Gästepavillon hatte schlanke Holzpfosten, und die kleine Veranda zum
Garten war von einem zierlichen Geländer umgeben, wie man es bei alten
Tempeln findet. Die Mädchen hoben die Lampions, um den Gästen zu leuchten,
die auf dem Trittstein standen und nach den Gartensandalen tasteten. Denn der
Mond war im Osten hinter dem Dach, und diese Seite des Hauses lag in tiefem
Schatten.
Endlich standen alle wohlbehalten auf dem weiten Rasen. Als Tamaki
vorschlug, den kleinen Weg hinter dem Teich zu benutzen, bereute Kazu es, ihre
Gäste auf den November-Mond aufmerksam gemacht zu haben; denn die fünf
auf dem Rasen schienen ihr schattenhaft gebrechlich und unsicher.
»Es ist gefährlich! Bitte, seien Sie vorsichtig!« Aber je ängstlicher Kazu sie
warnte, desto trotziger strebten die Gäste dem schattigen Weg unter dem
Laubdach des Hains zu. Es behagte ihnen nicht, wie alte Leute behandelt zu
werden. Der Mond schien durch die Äste der Bäume und verzauberte alles. Als
sie sich dem Teich näherten, in dem der Mond sich spiegelte, konnte keiner der
Versuchung widerstehen, den Pfad unter den Bäumen auf der anderen Seite des
Teiches entlangzugehen.
Die Mädchen wußten, daß Kazu besorgt war, und bemühten sich eifrig um
die Gäste. Sie leuchteten ihnen, wiesen auf gefährliche Steine und Baumstümpfe
hin und machten auf schlüpfrige bemooste Stellen aufmerksam. »Wie kalt
der Abend geworden ist«, bemerkte Kazu und verschränkte ihre Arme in den
weiten Ärmeln über der Brust. »Und dabei war heute ein solch warmer Tag.«
Noguchi ging neben ihr. Sie konnte seinen Atem sehen, der im Mondlicht wie ein
Wölkchen aus seinem Munde stieg. Aber er schien nicht geneigt, etwas auf ihre
Bemerkung zu erwidern.
Kazu, die voranschritt, um ihnen den Weg zu zeigen, war zu schnell
gegangen. Sie blieb stehen und sah die auf und ab tanzenden Lampions der
Zurückgebliebenen unter den Bäumen am Teich, auf dessen Fläche sich Mond
und Lampions reizvoll spiegelten. Mehr als die alten Herren wurde Kazu von
diesem Anblick in kindliche Erregung versetzt.
»Ist das nicht entzückend? Sehen Sie doch nur den Teich an, den Teich!« rief
sie ihnen mit lauter Stimme über das Wasser zu. Um Noguchis Lippen spielte
ein Lächeln. »Was für eine wunderbar volle Stimme Sie haben! Wie ein junges
Mädchen«, sagte er.
Der Spaziergang verlief ohne Zwischenfall, und alle hatten sich bereits wieder
im Studienzimmer eingefunden, als sich das Unglück ereignete.
Kazu hatte dafür gesorgt, daß der Gasofen brannte, und die alten Herren,
die fröstelnd aus der kühlen Nachtluft hereinkamen, ließen sich um das Feuer

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Nach dem Bankett

nieder – jeder in der Stellung, die ihm am bequemsten war. Es wurde Obst
herumgereicht, und man servierte japanische Süßigkeiten und grünen Pulvertee.
Tamaki war jetzt wortkarger, und dadurch verlor das Gespräch viel von seiner
Lebhaftigkeit. Man traf Anstalten aufzubrechen. Tamaki hatte die Toilette
aufgesucht. Als sie eben gehen wollten, bemerkte man, daß Tamaki noch fehlte,
und beschloß, auf ihn zu warten. Das Schweigen im Raum wurde drückend. Die
Gedanken der vier alten Herren schienen mit einem ema beschäftigt, das sie
in ihren Gesprächen sorgsam gemieden hatten.
Schließlich fingen sie an, sich über ihr körperliches Befinden zu unterhalten.
Alle hatten über Asthma, Magenleiden oder zu niedrigen Blutdruck zu klagen.
Nur Noguchi saß mit abweisendem Gesicht da und machte keinen Versuch, sich
am Gespräch zu beteiligen. »Ich werde einmal nach ihm sehen«, sagte er ruhig
und stand auf. Kazu erhob sich nun ebenfalls, als hätte sie erst durch seine Worte
den Mut gefunden aufzustehen, um ihm den Weg zu zeigen. Sie lief mit kleinen
eiligen Schritten den blankgebohnerten Gang entlang. Botschafter Tamaki lag
bewußtlos in der Toilette.

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Yukio Mishima

Frau Tamaki erhebt Einwände

Seit Kazu das Restaurant besaß, war sie noch nie in einer solchen Situation
gewesen. Sie rief mit lauter Stimme um Hilfe. Die Mädchen eilten herbei, und
Kazu befahl ihnen, alle männlichen Dienstboten zu rufen. Inzwischen waren
auch die Herren vom Kagen-Kreis aufmerksam geworden und sammelten sich
im Korridor. Kazu hörte, wie Noguchi mit ruhiger, gefaßter Stimme zu den
anderen sagte: »Es wird wohl ein Gehirnschlag sein, und es ist besser, ihn ruhig
liegen zu lassen. Wie unangenehm es auch für das Haus sein mag: ich halte es
für das beste, den Arzt hierher zu rufen. Das weitere überlaßt mir. Ihr habt alle
Familie; ich bin der einzige, der keine Verpflichtungen hat.«
Es war sonderbar, wie deutlich Noguchis Worte trotz aller Aufregung an
Kazus Ohren drangen. »Ich bin der einzige, der keine Verpflichtungen hat.« Ja,
das hatte er gesagt. Diese Worte entzündeten ein Licht in Kazus Herz, vibrierten
wie eine angeschlagene Saite in ihr nach.
Kazu kümmerte sich mit wirklicher Anteilnahme und Herzlichkeit um den
Erkrankten. Aber sosehr sie das auch in Anspruch nahm – Noguchis Bemerkung
ging ihr unentwegt im Kopf herum. Sie glaubte, sich Erau Tamaki gegenüber,
die bald danach kam, verantworten zu müssen, und bat unter Tränen um
Entschuldigung für ihre Unachtsamkeit – ihre Gefühle waren nicht geheuchelt.
Trotzdem wirkten Noguchis klare und deutliche Worte in ihr fort.
»Für diesen Unglücksfall sind Sie nicht verantwortlich; denn Herr Tamaki
war zum erstenmal Ihr Gast, und Sie konnten nicht wissen, wie es um seine
Gesundheit stand. Es war sein eigener Vorschlag, im Garten spazierenzugehen«,
sagte Noguchi, um sie zu beruhigen.
Der Kranke röchelte laut.
Frau Tamaki war eine europäisch gekleidete, gut aussehende Dame mittleren
Alters, die bedeutend jünger wirkte, als sie war. Trotz der kritischen Lage, in der
sich ihr Mann befand, blieb sie kühl und gelassen. Sie runzelte nur leicht die Stirn,
wenn gelegentlich der Klang der Shamisen aus dem großen Saal herüberdrang, in
dem sich noch Gäste befanden. Sie widersetzte sich entschieden der Ansicht des
Arztes, Tanaki wenigstens einen Tag ruhig hier liegen zu lassen, und verstand es,
dies vortrefflich zu begründen. »Mein Mann hat immer nach dem Grundsatz
gelebt, fremden Leuten nicht zur Last zu fallen. Ich kann es nicht verantworten,
daß diesem Etablissement noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen. Mein

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Nach dem Bankett

Mann würde mich sehr tadeln, wenn er wieder zu sich kommt. Außerdem ist
dies ein vielbesuchtes Gasthaus – wir gehören nicht einmal zu den Stammgästen
–, und ich möchte der Besitzerin nicht noch mehr Mühe machen, Wir müssen
versuchen, ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu bringen.«
Höflich und beredt wiederholte Frau Tamaki ihre Worte und bedankte
sich immer wieder bei Kazu. Aber Kazu versicherte, daß Frau Tamaki keine
Rücksicht auf sie zu nehmen brauche; sie selber werde den Kranken so lange
hier pflegen, wie der Arzt es für richtig halte. Die blumenreichen altmodischen
Höflichkeitsbezeigungen der beiden Damen, diese rührende Szene gegenseitiger
Ehrerbietung, spielten sich am Lager des röchelnden Kranken ab und fanden kein
Ende. Frau Tamaki behielt ihre kühle Gelassenheit, aber Kazu bestand darauf,
ihr gefällig sein zu dürfen – bis der beleibte Doktor schließlich vollkommen
erschöpft war.
Man hatte den Kranken in ein Achtmatten-Zimmer getragen, das selten
benutzt wurde. Doch Noguchi, Frau Tamaki, der Doktor, die Krankenschwester
und Kazu standen um ihn herum, so daß das Zimmer ein Bild allgemeiner
Verwirrung bot. Noguchi machte Kazu ein Zeichen und verließ den Raum.
Kazu folgte ihm auf den Gang, wo er mit raschen Schritten vor ihr herging.
Seine Haltung war so selbstbewußt, daß Kazu das Empfinden hatte, als sei dies
Noguchis Haus und sie der Gast.
Noguchi eilte durch einen Gang, der wie eine Brücke gewölbt war, bog
dann nach links ab und gelangte zu einem Gärtchen, in dem winzige weiße
Chrysanthemen wuchsen. Im vorderen Teil des Gartens gab es keine Blumen,
aber hier blühten die verschiedensten Sorten.
Die beiden kleinen, nebeneinanderliegenden Zimmer, die auf diesen Garten
hinausgingen, waren Kazus Privaträume. Kazu liebte diese kleine Wildnis. Wenn
sie ihre Arbeit beendet hatte, zog sie sich allein hierher zurück. Hier waren die
Blumen und Gräser nicht streng nach den Regeln der japanischen Gartenkunst
angepflanzt, und auch die Gartensteine und Steinbassins befanden sich nicht
an den dafür vorgeschriebenen Stellen – dies war ein Garten, wie man ihn vor
kleinen Mietshäuschen in der Sommerfrische findet, in dem die Blumenbeete mit
Muschelschalen eingefaßt sind. Einige der weißen Chrysanthemen waren hoch
aufgeschossen, andere wuchsen klein und spärlich. Am Anfang des Herbstes war
das »Schmuckkörbchen« ein wirres Blütenmeer gewesen.
Die beiden Räume dahinter lagen im Dunkeln, und Kazu vermied es, Noguchi
zum Eintreten aufzufordern. Sie sagte auch nicht, daß dies ihre Privaträume
seien; denn es widerstrebte ihr, Vertrautheit aufkommen zu lassen. Sie bot
Noguchi einen Stuhl auf der Veranda neben der Glastür an. Von dort konnte
man auf den Garten schauen.
Noguchi nahm Platz und begann sogleich zu sprechen. »Ich finde, Sie sind

15
Yukio Mishima

recht eigensinnig. Denn Ihre Gefälligkeit hört auf, eine Gefälligkeit zu sein, wenn
Sie so darauf beharren.«
»Aber wenn ein Gast – auch wenn er das erste Mal hier ist – bei uns erkrankt,
muß ich mich doch um ihn kümmern.«
»So sehen Sie es, und diese Meinung wollen Sie unbedingt anderen aufdrängen.
Aber Sie sind doch kein Kind mehr. Sie müssen doch verstehen, was Frau Tamaki
mit ihrer Zurückhaltung sagen will.«
»Ja, natürlich«, lächelte Kazu. In ihren Augenwinkeln erschienen kleine
Fältchen.
»Wenn Sie es also verstehen, dann muß ich Ihnen leider sagen, daß Sie genauso
starrköpfig sind wie Frau Tamaki.«
Kazu gab keine Antwort.
»Sie gehört zu jenen Frauen, die sich Zeit nehmen, um sorgfältig zurechtgemacht
zu erscheinen – selbst wenn sie wissen, daß ihr Mann bewußtlos ist.«
»Als Gattin eines Botschafters ist das doch selbstverständlich.«
»Das ist nicht gesagt . . .« Noguchi brach ab und schwieg. Kazu empfand das
Schweigen als sehr angenehm.
Die Musik und der Gesang aus dem großen Saal klangen nur gedämpft zu
ihnen herüber. Kazu fühlte sich wie erlöst von den Sorgen und Aufregungen,
die dieser Vorfall verursacht hatte. Auch Noguchi lehnte sich bequem in seinen
Stuhl zurück und nahm eine Zigarette. Kazu stand auf und reichte ihm Feuer.
»Oh, danke sehr« sagte Noguchi nüchtern.
Doch Kazu spürte, daß diese Worte nicht den höflichen, konventionellen
Ton hatten, den ein Gast gewöhnlich einer aufmerksamen Wirtin gegenüber
anschlägt. Sie spürte es und war glücklich. Und sie war auch viel zu sehr Frau,
um dies unausgesprochen zu lassen.
»Ich schäme mich, wenn ich an Herrn Tamaki denke: aber ich fühle mich
plötzlich leicht und glücklich. Ob der Wein erst jetzt seine Wirkung tut?«
»Schon möglich«, meinte Noguchi gleichgültig. »Ich habe gerade über die
Eitelkeit der Frauen nachgedacht. Mit Ihnen darf ich wohl offen sprechen . . . ich
glaube nämlich, Frau Tamaki wünscht nicht, daß ihr Gatte im Zimmer eines
Gasthauses stirbt, wenn er schon sterben muß, dann in einem ordentlichen
Krankenhausbett. Selbst wenn sein Ende dadurch beschleunigt wird. Mir ist das
Leben eines alten Freundes natürlich sehr teuer, und mir würde sehr viel daran
liegen, daß er hier bleibt, bis er außer Gefahr ist. Aber vor der Eitelkeit einer
Ehefrau bin ich machtlos; und wenn ich auch sein Freund bin, so kann ich meine
Freundschaft noch lange nicht seiner Frau aufzwingen.«
»Das bedeutet aber, daß Ihre Freundschaft nicht aufrichtig ist.« Kazu hatte das

16
Nach dem Bankett

Gefühl, sie könne Noguchi alles sagen. »Ich würde mich in einem solchen Fall
nicht darum kümmern, was die Leute sagen. Ich würde nach meinem Gefühl
handeln. So habe ich es bisher immer gehalten – und habe mich auf diese Weise
stets durchgesetzt.«
»Dann haben Sie sich also heute abend wieder von Ihren Gefühlen leiten
lassen«, meinte Noguchi ernst. Kazu glaubte, daß er eifersüchtig sei, und geriet
außer sich vor Entzücken. Und diese ungemein gutmütige Frau gab eilig eine
Rechtfertigung, die besser ungesagt geblieben wäre. »Oh, nein! Ich war nur
erschrocken und fühlte mich verantwortlich. Warum sollte ich Herrn Tamaki
besondere Zuneigung entgegenbringen?«
»Sie wollen also nur Ihren Kopf durchsetzen? Dann sollten Sie den Kranken
so schnell wie möglich fortschaffen lassen«, sagte Noguchi kühl und bestimmt
und erhob sich. Er ließ Kazu keine Zeit zu widersprechen. Sie war enttäuscht,
ließ sich aber keine Gemütsbewegung anmerken. Ihre Antwort offenbarte ihren
starken Charakter.
»Gut, dann machen wir es so, wie die gnädige Frau es wünscht.«
Beide gingen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, zurück. Auf halbem Wege
brach Noguchi das Schweigen: »Wir wollen ihn auf alle Fälle noch heute abend
in ein Krankenhaus einliefern lassen. Ich gehe nach Hause und werde ihn morgen
mittag im Krankenhaus besuchen. Ich habe ja Zeit dazu.«
Die Gäste aus dem großen Bankettsaal waren bereits nach Hause gegangen,
und der fröhliche Lärm war verstummt. Die Nacht hatte sich wie eine Glocke
über Setsugoan gesenkt. Kazu führte Noguchi durch den großen Bankettsaal,
da dies der kürzeste Weg war. Die Mädchen, die gerade abräumten, verneigten
sich vor den beiden. Noguchi und Kazu schritten an zwei großen, goldenen,
sechsteiligen Wandschirmen vorbei, die bei Tanzaufführungen als Hintergrund
dienten. Jetzt, nach dem Bankett, schien das Gold der Wandschirme matter
geworden zu sein. Ein merkwürdig düsterer Schimmer ging von ihnen aus.
»Ich habe mich hier gar nicht sehen lassen. Hat sich jemand darüber beklagt?«
wandte Kazu sich an ein intelligent aussehendes Mädchen in mittleren Jahren.
Sie sah Kazu erstaunt an, denn niemals wurden geschäftliche Fragen vor Gästen
gestellt, und Noguchi war unverkennbar ein Gast.
»Nein. Die Gäste waren alle in guter Stimmung, als sie aufbrachen«, antwortete
das Mädchen.
Noguchi und Kazu öffneten leise die Schiebetür zum Krankenzimmer. Frau
Tainaki, die neben dem Kranken saß, warf ihnen einen kühlen Blick zu. Ihre
schmalen Augenbrauen waren mit äußerster Feinheit gemalt, und die Platinnadel,
die ihren schwarzen Hut hielt, aber ein wenig herausgerutscht war, blitzte auf, als
das Licht vorn Gang hereinfiel.

17
Yukio Mishima

Die müßigen Gefährten

Kurz danach wurde Botschafter Tamaki in die Universitätsklinik gebracht. Als


Kazu ihn am nächsten Tag gegen Mittag besuchte, wurde ihr gesagt, daß er noch
immer nicht zu Bewußtsein gekommen sei. Kazu schickte einen Korb mit Obst
in das Krankenzimmer und setzte sich auf einen Stuhl im Gang, um auf Noguchi
zu warten. Noguchi kam und kam nicht. Und während sie auf ihn wartete, wurde
ihr klar, daß sie ihn gern hatte.
Sie dachte über ihr bisheriges Leben nach und stellte fest, daß sie trotz ihrer
resoluten Art noch nie einen Mann geliebt hatte, der jünger war als sie. Sie fand,
daß junge Männer geistig wie physisch zu viele Probleme hatten und sich oft sehr
hochmütig benahmen, insbesondere gegenüber älteren Frauen, mit denen sie ein
Verhältnis hatten. Man wußte nie genau, wie weit sie in ihrer Anmaßung gehen
würden. Außerdem hatte Kazu eine physische Abneigung gegen die Jugend. Die
lächerliche Unausgeglichenheit des Geistes und des Körpers tritt bei Jünglingen
krasser hervor als bei reifen Männern. Sie war noch keinem jungen Mann
begegnet, dessen Jugendfrische sie angezogen hätte. Auch stieß sie die glatte
glänzende Haut eines jungen Mannes ab.
So hing Kazu ihren Gedanken nach, während sie auf dem trostlosen, spärlich
erleuchteten Gang des Hospitals wartete. Tamakis Krankenzimmer am Ende
des langen Korridors war zu erkennen an den Blumenkörben, die auf dem Gang
standen. Sie hörte plötzlich Hundegebell und blickte zum Fenster hinaus. Unter
dem dicht bewölkten Himmel sah sie ein Maschendraht-Geviert. Offenbar
wurden hier herrenlose Hunde für Versuchszwecke gehalten. Eine Anzahl
schäbiger Hundehütten in den verschiedensten Formen – einige waren länglich
wie Hühnerställe, andere sahen aus wie die üblichen Hütten für Wachhunde
– standen in buntem Durcheinander innerhalb der Umzäunung. Manche waren
umgestürzt. Anscheinend zogen die angeketteten Hunde ihre Hütten hinter sich
her. Auch die Bewohner gehörten den verschiedensten Rassen an: neben einem
wohlgenährten großen Hund stand ein kleiner magerer, ausgehungerter, und
daneben einer, der die Räude hatte. Alle jaulten jämmerlich und mitleiderregend.
Im Hospital war man allem Anschein nach an das Gejaule der Hunde gewöhnt,
denn niemand nahm Notiz davon. Hinter dem Zwinger war ein dreistöckiges
altes Gebäude mit einer Reihe kleiner, düsterer Fenster: das Laboratorium. Die
Scheiben spiegelten den bewölkten Himmel wider und sahen aus wie trüb
gewordene Augen, die jede Spur von Neugier verloren hatten.

18
Nach dem Bankett

In Kazus Herz regte sich Mitleid, während sie auf das traurige Gejaule der
Hunde lauschte. Sie war erstaunt, wie empfindsam sie geworden war. »Die
armen Hunde! Diese armen Tiere!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie
überlegte verzweifelt, ob es kein Mittel gebe, die Hunde zu retten. Das half ihr
über die Qual des Wartens hinweg.
Als Noguchi endlich erschien, traf er Kazu mit tränennassem Gesicht an. »Ist
er tot?« fragte er, als er ihr Gesicht sah. Sie verneinte es, war aber so verlegen, daß
sie ihm die Ursache ihrer Tränen nicht erklären mochte.
Noguchi schien es eilig zu haben. Einfältig fragte er, ob sie auf jemanden
warte.
»Nein«, antwortete Kazu mit Nachdruck, und endlich erschien ein Lächeln
auf ihren wohlgerundeten Wangen.
»Das trifft sich gut. Ich mache nur schnell meinen Besuch bei Tamaki. Bitte,
warten Sie hier auf mich. Ich habe nichts weiter zu tun und nehme an, daß Sie
ebenfalls etwas Zeit haben. Gefährten im Müßiggang – das sind wir wohl. Lassen
Sie uns in die Stadt gehen und zusammen essen.«
Als die beiden den steingepflasterten sanften Hang hinter der Universitätsklinik
hinuntergingen, teilten sich die Wolken, und die Strahlen der Sonne ergossen
sich hell und klar wie Wasser über die Landschaft.
Kazu hatte ihren Wagen warten lassen, da aber Noguchi lieber zu Fuß gehen
wollte, schickte sie ihn zurück.
Als Noguchi etwas ungeduldig vorschlug, den Wagen zurückzuschicken und
lieber zu laufen, glaubte Kazu, daß er ihr indirekt ihren Luxus zum Vorwurf mache.
Später hatte sie Gelegenheit, diesen anfänglichen Eindruck zu berichtigen. Denn
Noguchis Erscheinung und seine Ausdrucksweise waren so würdevoll, daß jede
seiner Äußerungen, sogar Beiläufigkeiten und Marotten, einen moralisierenden
Unterton zu haben schienen.
Sie wollten die Straße überqueren, um zum Ikenohata-Park zu gehen. Es
herrschte starker Verkehr, unaufhörlich jagten Autos vorbei. Kazu traute sich
zu, trotzdem sicher auf die andere Seite der Straße zu gelangen, aber Noguchi
war äußerst vorsichtig. »Noch nicht, noch nicht!« sagte er und hielt sie
zurück, wenn sie rasch hinüberlaufen wollte. Dadurch verpaßte auch Kazu die
günstige Gelegenheit; denn die Lücke im Verkehr, die es ihr ermöglicht hätte,
hinüberzulaufen, hatte sich längst wieder durch einen Strom herannahender
Autos geschlossen, deren Windschutzscheiben in der Wintersonne aufblitzten.
Schließlich riß Kazu die Geduld. »Schnell, jetzt!« rief sie, nahm mit festem Griff
Noguchis Hand und lief los.
Sie hielt seine Hand noch immer fest, als sie bereits auf der anderen Seite
waren. Es war eine knochige, überaus zarte Hand, fast wie eine getrocknete

19
Yukio Mishima

Pflanze. Als Kazu sie auch weiterhin nicht freigab, zog Noguchi sie langsam und
verstohlen zurück. Kazu hatte seine Hand ganz unbewußt festgehalten, erst als
Noguchi sich schüchtern losmachte, wurde ihr die Vertraulichkeit dieser Geste
bewußt. Er zog die Hand genauso zurück, wie ein widerstrebendes Kind seinen
Körper aus der zärtlichen Umarmung eines Erwachsenen windet.
Unwillkürlich sah Kazu in sein Gesicht. Seine scharfen Augen unter den
strengen Brauen blickten klar und unbekümmert, als sei nichts geschehen.
Sie kamen zu dem Teich im Park und schlugen den Weg links am Wasser
entlang ein. Ein leichter, aber kalter Wind wehte und kräuselte die Oberfläche
des Teiches. In dem zitternden Wasser verschmolz das Blau des Winterhimmels
mit der fahlen Farbe der Wolken. Ein blauer Streifen Himmels erstreckte sich bis
zum anderen Ufer und leuchtete dort auf. Es waren etwa fünf, sechs Boote auf
dem Wasser.
Die Böschung des Teiches war mit schmalen Weidenblättern übersät, manche
waren schon gelb, manche noch hellgrün. Diese abgefallenen Blätter wirkten
frischer als die verstaubten Büsche, in denen einige Papierfetzen hingen.
Die beiden begegneten einer Gruppe von Schülern, die einen Langlauf
machten. Alle trugen den gleichen weißen Trainingsanzug. Sie schienen bereits
einige Runden hinter sich zu haben. Die Art, wie sie stirnrunzelnd nach Luft
rangen, erinnerte an die Ashura-Statue des Kofukuji-Tempels. Ohne nach rechts
oder links zu sehen, rannten sie an Kazu und Noguchi vorbei, und bald hörte
man nur noch das dumpfe Tappen ihrer Turnschuhe. Einer der jungen hatte ein
rosa Frotteetuch um den Hals geschlungen, das noch lange aus der kahlen Allee
zu ihnen herüberleuchtete.
Noguchi konnte sich nicht enthalten, Kazu darauf aufmerksam zu machen,
wie viele Jahre – beinahe ein halbes Jahrhundert – zwischen ihm und diesen
jungen lagen. »Großartig! Diese jungen sind einfach großartig! Ich habe einen
Freund, der als Führer zu den Pfadfindern gegangen ist. Ich fand es damals sehr
dumm von ihm, seine Zeit damit zu vergeuden. Aber nun kann ich verstehen,
weshalb er sich so für diese Aufgabe interessiert.«
»Ja, Kinder sind so rein und unverdorben«, meinte Kazu zustimmend. Aber sie
fühlte nicht eine Spur von Neid, als sie die jungen am anderen Ufer betrachtete.
Noguchis Ansicht erschien ihr ein wenig platt und einfach.
Beide blickten den jungen, deren Schatten sich im Wasser spiegelten, noch
eine Zeitlang nach. Im Hintergrund ragten, finster und melancholisch, die
Hochhäuser von Ueno-Hirokoji auf, und zwei tomatenrote Ballons schwebten
am Himmel, der dort hinten dunstig vom Rauch der Fabriken war.
Kazu bemerkte plötzlich, wie abgenutzt die Ärmel von Noguchis Mantel
waren. Sie hatte den Eindruck, als ob alles, was sie an ihm entdeckte, ein

20
Nach dem Bankett

offener Vorwurf gegen sie sei. Aber diese traurige Entdeckung gehörte einem
Bereich an, der sich ihren helfenden Händen entzog; denn Noguchi schien jede
Zudringlichkeit zurückweisen zu wollen.
Er hatte ihren Blick bemerkt und feinfühlig gedeutet: »Sie sehen sich diesen
Mantel an? Den habe ich mir  in London machen lassen. Finden Sie nicht
auch, daß einem alte Sachen ans Herz wachsen können?«
Sie überquerten die Benten-Insel, die ringsum von Lotuspflanzen umgeben
war, gingen durch den Eingang des Gojo-Tenjin-Schreins und wanderten
langsam den Ueno-Hügel hinauf. Die zarte Silhouette der kahlen Bäume hob
sich wie eine Glasmalerei von dem blauen Winterhimmel ab. Während sie immer
wieder den Himmel betrachteten, gelangten sie schließlich zu dem altmodischen
Eingang des Seijoken-Restaurants.
Der Grill war um die Mittagszeit nur wenig besucht. Noguchi bestellte ein
Menü, und Kazu schloß sich ihm an. Von ihrem Tisch am Fenster aus sahen
sie den Glockenturm eines alten Tempels. Glücklich über den geheizten Raum,
meinte Kazu: »Das war ein kalter Spaziergang.«
Aber dieser kalte Spaziergang hatte einen großen Eindruck auf sie gemacht,
da sie nur ihren geschäftigen Alltag als Wirtin kannte. Er hatte eine leichte
Verwunderung in ihr ausgelöst. Sie machte sich selten die Mühe, ihre
Handlungen zu analysieren, es war vielmehr ihre Eigenart, erst hinterher über
alles nachzudenken. Dann konnte sie manchmal in Tränen ausbrechen, während
sie mit anderen Leuten sprach und im Augenblick gar nicht wußte, weshalb
sie weinte. Aber die Tränen perlten hervor, ohne daß sie ihre eigenen Gefühle
verstand.
Noguchi entschuldigte sich nicht, daß er Kazu bei dieser Kälte zu einem
Spaziergang genötigt hatte. Daher konnte Kazu nicht umhin, ausführlich zu
betonen, wie schön dieser Spaziergang, trotz der Kälte, gewesen sei. Am Schluß
ihrer langen Rede, als gerade das Vorgericht gebracht wurde, warf Noguchi
lakonisch ein: »Das freut mich.« Sein Gesicht blieb unbewegt, als er dies sagte,
und doch sah er irgendwie glücklich aus.
Kazu war noch nie einem solchen Mann begegnet. Sie kannte viele wortkarge
Gäste, und sie war stets die Gesprächigere gewesen. Aber es kam ihr so vor, als
ob ihr Noguchi gerade durch seine Schweigsamkeit überlegen blieb. Sie konnte
sich nicht erklären, daß einem so alten Mann, der in allen Dingen schlicht und
einfach war, eine solche Kraft innewohnte.
Wenn das Gespräch stockte, sah Kazu sich im Raum um. Sie betrachtete den
ausgestopften Paradiesvogel im Glaskasten, die geschmackvollen dunkelfarbigen
Gardinen, die gerahmte chinesische Schrift »Eine Halle voll willkommener
Gäste« oder ein Bild des Kriegsschiffes »Ise«, das auf der Kawasaki-Schiffswerft

21
Yukio Mishima

gebaut worden war. Es war ein Kupferstich aus dem Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts. Das Kriegsschiff zog zwischen zierlichen Wellen seinen Weg, der
rote Schiffsleib war auch unter der Wasserlinie noch zu sehen. All das schien
ihr nur allzu gut zusammenzupassen: das europäische Restaurant im Stile der
Jahrhundertwende, der ehemalige Minister in dem alten, englischen Anzug. Sie
war irritiert, denn sie war in die kraftvolle, blühende Gegenwart verliebt.
Noguchi begann zu sprechen: »Das Wesentliche der Diplomatie ist eigentlich,
die Menschen richtig einzuschätzen. Diese Kunst glaube ich in meinem langen
Leben gelernt zu haben. Meine verstorbene Frau war ein vortrefflicher Mensch;
ich habe mich gleich bei der ersten Begegnung für sie entschieden. Aber da ich
kein Hellseher bin, konnte ich nicht voraussagen, wie lange sie leben würde. Sie
erkrankte kurz nach dem Kriege und starb. Wir hatten keine Kinder, so bin ich
jetzt allein . . . Oh, Sie müssen den Teller auf der einen Seite etwas anheben, wenn
Sie den Rest der Suppe essen wollen. Ja, so ist es richtig.«
Kazu war bestürzt, tat aber, was er ihr sagte. Bisher hatte noch kein Mann
gewagt, ihre Manieren beim europäischen Essen zu kritisieren.
»Im Februar nächsten Jahres«, fuhr Noguchi unbekümmert fort, »bin ich von
Freunden zum Frühlingsquellenfest in Nara eingeladen. Trotz meines Alters
hatte ich noch nie Gelegenheit, dieser Zeremonie beizuwohnen. Waren Sie
schon einmal dabei?«
»Nein, ich habe es auch noch nie gesehen, obgleich ich schon öfter eingeladen
worden bin.«
»Wie wäre es? Ich weiß, Sie sind beschäftigt, aber hätten Sie nicht Lust,
mitzukommen?«
»Ja«, antwortete Kazu sofort.
Bis zu dieser Reise würden noch drei, vier Monate vergehen; aber kaum hatte
Kazu »Ja« gesagt, bekam ihre Phantasie Flügel, und ihr Gesicht brannte – nicht
nur, weil sie so plötzlich aus der Kälte in den warmen Raum gekommen war,
sondern vor Erregung.
»Sie haben ein merkwürdiges Feuer in sich«, meinte Noguchi, während er das
zierlich gravierte Fischmesser handhabte. Er wirkte ausgesprochen zufrieden,
wenn er seine Beobachtungen so mit überzeugter Stimme verkündete.
»Feuer?« wiederholte Kazu. Sie war ganz entzückt über diese Äußerung.
»Feuer? Was bedeutet das eigentlich? Ich selbst empfinde es gar nicht; aber alle
anderen necken mich damit, daß ich wie ein Feuerball sei.«
»Ich habe es nicht gesagt, um Sie zu necken«, Noguchis Stimme klang so bitter,
daß Kazu schwieg.
Nach einiger Zeit wurde das unterbrochene Gespräch wiederaufgenommen,

22
Nach dem Bankett

und man unterhielt sich über Orchideen. Das war wiederum ein ema, von
dem Kazu keine Ahnung hatte, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als Noguchi
schweigend zuzuhören, der auf sein nutzloses Wissen stolz zu sein schien wie ein
Schuljunge. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie er vor etlichen Jahrzehnten mit
seinem Wissen vor dem Mädchen, das ihm gefiel, geprahlt haben mochte.
»Sehen Sie diese Orchidee? Wissen Sie, wie sie heißt?«
Kazu wandte ihren Kopf und blickte zu einem Blumenständer hinüber. Es
interessierte sie überhaupt nicht. Nach einem flüchtigen Blick wandte sie den
Kopf wieder zurück. »Nein, das weiß ich nicht«, sagte sie. Aber ihre Antwort kam
viel zu schnell.
»Dendrobium«, antwortete Noguchi leicht verstimmt.
Deshalb wandte sie nochmals den Kopf und betrachtete die Pflanze eingehender.
In dem blaulasierten Topf auf dem Ständer wuchs eine Treibhausordlidee
– keine besonders ausgefallene Art. Die kleinen Blütenblätter mit den knallroten
Rändern hingen wie schwebend am Stengel. Die zarte Blüte war so reglos, daß sie
künstlich wirkte wie eine aus Papier gefaltete Orchidee. Je aufmerksamer Kazu
die karmesinrote Blume betrachtete, desto aufdringlicher erschien sie ihr, und
schließlich fand sie sie geradezu abstoßend an diesem stillen Winternachmittag.

23
Yukio Mishima

Kazus Gedanken über die Liebe

Als Kazu sich von Noguchi getrennt hatte und ins Setsugoan zurückgekehrt
war, fürchtete sie sich davor, daß das Glück dieser Mittagsstunden in ihrem
arbeitsreichen Alltag ertrinken könnte. Es freute sie, daß jemand besonderes
Interesse für sie gezeigt hatte, und diese Freude braclite ihr zu Bewußtsein, wie
einsam sie bisher gewesen war.
Während des Beisammenseins mit Noguchi war sie nicht besonders aufgeregt
gewesen, aber sobald sie sich von ihm getrennt hatte, brach ein Sturm der
verschiedensten Empfindungen über sie herein. Sie war ganz besessen von der
Vorstellung, Noguchi mit frischgewaschenen Oberhemden und neuen Anzügen
zu kleiden. Aber diesem Problem konnte sie sich erst zuwenden, wenn sie wußte,
was Noguchi für sie empfand. Solange sie dies nicht in Erfahrung gebracht hatte,
war es ihr auch nicht möglich, einzugreifen. Bisher wußte sie gar nichts über
seine Empfindungen. Es kam ihr seltsam vor, daß sie noch einmal im Leben
in einer Situation war, in der sie keine Ahnung hatte, was ein anderer für sie
empfand. Es war nicht nur seltsam, sondern sogar äußerst beunruhigend.
›Warum läuft Noguchi nur mit so abgetragenen Sachen herum? Wenn man
auch sieht, daß sie aus gutem Stoff sind‹, dachte sie und zerbrach sich den Kopf
darüber, wie hoch sein Einkommen sein mochte. Er lebte offenbar nur von einer
Pension, und die konnte sicher nicht hoch sein. Traurige Verhältnisse für einen
Mann, der einst Minister gewesen war!
Auch am Abend, während Kazu ihre Gäste unterhielt, kehrten ihre Gedanken
immer wieder zu diesem Problem zurück. Sie überlegte, ob es keinen Weg gebe,
in Erfahrung zu bringen, wie hoch seine Bezüge waren. Der Zufall wollte es, daß
sie kurze Zeit darauf in eine Gesellschaft von Beamten geriet, die sich über die
Altersgrenze im Beamtendienst unterhielten. Kazu nahm die Gelegenheit wahr
und sagte in unverfänglichem Ton: »Wenn die Regierung auf die Idee käme, alle
Restaurants selber verwalten zu wollen, würde man wohl als erstes mich alte
Frau in Pension schicken. Aber das wäre nicht schlimm; denn sicher ist es viel
angenehmer, im süßen Nichtstun von der Pension zu leben, als weiter so hart zu
arbeiten. Wie hoch, glauben Sie, würde meine Rente sein?«
»Nun, eine Frau wie Sie bekäme wohl die gleiche Pension wie ein Minister:
ungefähr dreißigtausend Yen pro Monat.«
»Oh, würde ich wirklich so viel bekommen?« fragte Kazu mit gespieltem

24
Nach dem Bankett

Erstaunen und brachte die Gesellschaft dadurch zum Lachen.


Am Abend, als sie allein in ihrem Zimmer lag und nicht einschlafen konnte,
begann sie, sich im Geist das Verschiedenste auszumalen.
Im Vergleich zu den Gästezimmern des Setsugoan waren Kazus Privaträume
sehr schlicht und nüchtern. Am Kopfende ihres Lagers stand ein Telefon, und
überall lagen Zeitschriften herum. Aber nicht ein einziger künstlerischer
Gegenstand war im Zimmer, und sogar in der Tokonoma-Nische standen nur
kleine Schubfachkommoden nebeneinander. Das Lager nahm fast das ganze
Zimmer ein; wenn Kazu sich hier niederlegte, fühlte sie sich endlich ungestört.
Sie hatte also in Erfahrung gebracht, daß Noguchis Einkommen etwa
dreißigtausend Yen monatlich betrug. ›Dann ist die Einladung zum Mittagessen
keine geringe Ausgabe für ihn gewesen‹, dachte Kazu und freute sich noch mehr
darüber. Nun, da sie konkrete Tatsachen wußte, bekam ihre Phantasie wahrhaft
Schwingen. Bisher hatte Kazu immer nur mit Männern zu tun gehabt, die auf
dem Gipfel ihrer Macht standen. Noguchis einst glanzvolle Stellung, seine jetzige
Armut und seine stolze, beherrschte Haltung regten sie daher zu romantischen
Träumen an.
Am nächsten Morgen ließ Kazu ihren täglichen Spaziergang ausfallen; denn
sie hatte in der Zeitung gelesen, daß Tamaki gestorben war. Abends um zehn Uhr
hatte er im Krankenhaus den letzten Atemzug getan. Es wurde bekanntgegeben,
daß die Trauerfeier zwei Tage später im Tsukiji Honganji-Tempel nachmittags
um ein Uhr stattfinden werde. Sie wollte sogleich einen Kondolenzbesuch bei
Frau Tamaki machen und war sogar schon dabei, sich den schwarzen Kimono
anzuziehen. Dann hielt sie aber inne, weil sie sich daran erinnerte, wie Frau
Tamaki sich an jenem Abend verhalten hatte. Sie ging nicht zu ihr.
Die nächsten beiden Tage verbrachte sie ungeduldig wartend. In dieser Zeit
fing das Herz dieser leidenschaftlichen Frau Feuer.
Trotz der Nachricht in der Zeitung hätte Noguchi sie sofort von Tamakis Tod
benachrichtigen müssen. In einem Anruf von ihm hätte sie ein Zeichen seiner
Liebe oder wenigstens seiner Freundschaft erkannt. Aber er ließ nichts von sich
hören. Jedesmal wenn das Telefon läutete, wurde Kazu schüchtern wie ein junges
Mädchen und hielt ängstlich den Atem an; denn sie fürchtete, die Freude in ihrer
Stimme nicht verbergen zu können, wenn wirklich Noguchi am Apparat wäre,
um ihr den Tod seines Freundes mitzuteilen.
Noch nie hatte Kazu mit so großer Ungeduld auf eine Trauerfeier gewartet.
Sie wollte eigentlich am Tag davor zum Friseur gehen, verschob es aber auf den
nächsten Vormittag. Der Gärtner riß vor Erstaunen die Augen auf, als er sie
am Tag vor der Feier bei ihrem Morgenspaziergang beobachtete: sie lief wie
gehetzt mit gesenktem Kopf durch den Garten, ohne ihn zu grüßen, ja, ohne ihn

25
Yukio Mishima

überhaupt wahrzunehmen. Und als sie noch einen zweiten Rundgang machte,
was noch nie geschehen war, hatte er den Eindruck, eine Wahnsinnige vor sich
zu haben. Der alte Gärtner hatte bereits dem vorigen Besitzer des Setsugoan
gedient; an diesem Morgen dachte er: ›Sie sieht aus wie eine Hexe auf ihrem
Waldgang!‹
Nicht einmal am Abend vor der Totenfeier kam ein Anruf von Noguchi. Kazu
hatte das Gefühl, eine Schlacht verloren zu haben. Aber diese Niederlage schürte
nur noch ihre Leidenschaft. Sie kam nicht auf den Gedanken, Noguchi könne
von der Beerdigung seines Freundes so in Anspruch genommen sein, daß er gar
keine Zeit fand, sie zu verständigen. Sie wollte sich auch gar nicht mit einer so
hoffnungsvollen Vermutung beruhigen, in ihr brannte nur der Gedanke, daß er
sie im Stich gelassen hatte.
Aus Rache – es war nicht ganz klar, ob gegen Noguchi oder gegen Frau
Tamaki – schlug sie am Vorabend der Feier eine übertrieben hohe Summe,
hunderttausend Yen, als Kondolenzgeschenk in Reispapier ein. ›Das ist mehr
als das dreifache von dem, was er und seine Freunde als Pension bekommen‹,
dachte sie. Weder Freundschaft noch sonst etwas verpflichteten sie dazu; doch
sie glaubte, sie könne ihre Gefühle nicht anders zum Ausdruck bringen als durch
eine so hohe Spende.
Der Tag der Feier war warm und klar, wie man es oft am Anfang des Winters
erlebt. Sogar der Wind war mild. Kazu machte auch an jenem Morgen keinen
Spaziergang und brachte lange Zeit damit zu, ihren schwarzen Kimono
anzulegen. Anschließend fuhr sie mit dem Wagen zu einem Schönheitssalon auf
der Ginza.
Durch die Scheibe des Wagens, durch die die Sonne schien, beobachtete Kazu
die jungen Leute auf der Straße. Sie saß sehr aufrecht in dem schwarzen Kimono,
dessen Kragen etwas vom Hals abstand, und sah mit wissendem, interessiertem
Blick auf das Treiben draußen. Die jungen Leute schienen durchsichtig zu sein:
Kazu glaubte, ihre Empfindungen zu kennen, ihren Ehrgeiz, ihre Posen, ihre
Trauer und ihre Fröhlichkeit.
An einer Kreuzung trafen sich zwei Studenten und zwei Studentinnen
und begrüßten sich, ganz unjapanisch, mit übertrieben gestikulierenden
Handbewegungen. Einer der jungen Männer – er trug eine Studentenmütze
– legte seine Hand auf die Schulter der einen Studentin und ließ sie dort ruhen.
Das Mädchen, in einem halblangen rosa Flauschmantel, schien durch die Hand
auf ihrer Schulter nicht gestört zu sein; sie wandte den Kopf und blickte mit
halbgeschlossenen Augen abwesend auf die Straße.
Da sprang die Verkehrsampel auf Grün, und in dem Augenblick, als der Wagen
anfuhr, sah Kazu etwas Merkwürdiges: das Mädchen in dem rosa Mantel riß dem
Studenten plötzlich die Mütze vorn Kopf und warf sie auf die Fahrbahn. Instinktiv

26
Nach dem Bankett

wandte Kazu den Kopf, um zu sehen, was nun wohl passieren würde. Die Mütze
wurde von einem nachfolgenden Auto überfahren, und Kazu beobachtete, wie
der Student auf dem Trottoir vor Wut mit den Füßen aufstampfte.
Auch Kazus Chauffeur hatte diesen Vorfall mit einem flüchtigen Seitenblick
wahrgenommen. »Diese jungen Mädchen von heute!« sagte er. »Man weiß
wirklich nicht, was sie als nächstes anstellen! Was soll das bloß? Nein, also
wirklich!« Kazu sah von hinten, wie sich sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln
verzog.
»Es war nur ein Scherz«, meinte die Dame in Trauerkleidung. Doch
unerwartet fing ihr Herz heftig an zu klopfen. Sie war bezaubert von der
ungestümen Bewegung des Mädchens, mit der sie dem Jüngling die Mütze
entrissen und vor ein Auto geworfen hatte. Das Mädchen hatte sich völlig sinnlos
benommen. Aber Kazu geriet in seltsame Erregung, als sie daran dachte, was sie
in Sekundenschnelle wahrgenommen hatte: wie zerzaust sein Haar war, als er
ohne Mütze dastand.
Noch während sie im Schönheitssalon sorgfältig ihr Haar frisieren ließ, wofür
sie sich ausgiebig Zeit genommen hatte, dachte sie an diesen Vorfall. Sonst war
sie stets guter Laune und gesprächig, heute blieb sie schweigsam. Sie betrachtete
stumm ihr üppig schönes Antlitz im Spiegel. Doch die üblichen Schmeicheleien
der Friseuse erschienen ihr heute wie eine Lüge: Ihr Gesicht war entschieden
nicht mehr jung.
Die Begräbnisfeier im Honganji-Tempel war eindrucksvoll. Die Trauergäste
gingen in Reihen an den Kränzen entlang. Kazu gab ihr Kondolenzgeschenk, die
hunderttausend Yen, am Eingang ab und grüßte höflich, aber zurückhaltend, als
sie einiger Gäste des Setsugoan ansichtig wurde. Der aufsteigende Weihrauch,
der sich mit den Strahlen der Wintersonne mischte, strömte einen erfrischenden
Duft aus. Die Trauergäste waren fast ausschließlich ältere Leute. Vor Kazu stand
ein alter Mann, dessen falsche Zähne ständig aufeinanderschlugen und ein
eintöniges Klappern erzeugten.
Als Kazu in der Reihe der Trauergäste langsam vorwärtsschritt, kam es ihr zum
Bewußtsein, daß sie bald vor Noguchi stehen würde. Ihr Herz wurde unruhig bei
dieser Vorstellung, und sie war nicht mehr fähig, klar zu denken. Kurz darauf sah
sie die Witwe. Frau Tamakis Augen sahen eher drohend als traurig aus, ihr Blick
wanderte nach jeder der tiefen, höflichen Verbeugungen zu einem bestimmten
Punkt in der Luft, als würde er von einem Faden dorthin gezogen.
Endlich sah Kazu Noguchi. Er trug einen zu engen Cutaway und am Arm
eine schwarze Binde. Er stand mit hocherhobenem Kopf und ausdruckslosem
Gesicht da.
Nachdem Kazu Weihrauch dargebracht hatte, ging sie auf ihn zu und sah ihm

27
Yukio Mishima

offen in die Augen. Sein Blick wich ihr keineswegs aus; er sah sie ohne eine Spur
von Empfindung an und beugte dann respektvoll den Kopf.

Man kann nicht sagen, daß dieser Augenblick eine Enttäuschung für Kazu war.
Als sie Noguchis leerem Blick begegnete, spürte sie, ohne es erklären zu können,
daß sie ihn liebte.
Als sie wieder zum Setsugoan zurückgekehrt war, nahm sie sogleich einen
Pinsel und feines, altes japanisches Briefpapier zur Hand und schrieb den
folgenden langen Brief:

Sehr geehrter, lieber Herr Noguchi!


Heute sah ich Sie, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, in bester
Gesundheit, und ich bin sehr froh darüber. Ich werde Ihre freundliche
Einladung zum Mittagessen und den Spaziergang um den Teich nie
vergessen. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal eine so liebenswürdige
Einladung erhielt. Sie werden sicher meinen, es habe mir so besondere
Freude gemacht, einmal selber bewirtet zu werden, weil ich sonst immer
andere bewirten muß. Aber ich möchte Ihnen sagen, daß es mehr noch
Ihre Aufmerksamkeit war, die mich glücklich gemacht hat.
Es gibt jedoch etwas, das mich traurig stimmt. Ich las in der Zeitung die
Nachricht von Herrn Tamakis Hinscheiden und war sehr erschüttert
darüber. Nun frage ich mich aber, weshalb Sie mich nicht angerufen
haben. Erlauben Sie, daß ich off en zu Ihnen bin? Sie ahnen sicher nicht,
wie sehnsüchtig ich bis heute darauf gewartet habe, Ihre Stimme zu hören.
Hätten Sie mir nur ein einziges Wort zukommen lassen, so wäre dies ein
Beweis für mich gewesen, daß Sie an mich gedacht haben. Ich bin sehr
enttäuscht, daß Sie dies nicht getan haben.
Es war nicht meine Absicht, Sie mit meinen Klagen zu langweilen, und ich
hoffe, Sie werden mir das nachsehen und verstehen, daß dieser Brief aus
der Ungeduld eines Herzens kommt, das Ihnen von ganzer Seele zugetan
ist. Ich kann es kaum erwarten, Sie wiederzusehen. Und diese Hoffnung
gibt meinem Leben Sinn.
Ihre Kazu

Am nächsten Tag mußte Kazu aus gesellschaftlichen Gründen zu der


Tanzvorführung einer Schule gehen. Als sie die ersten Worte des Liedes »Yasuna«
hörte, brach sie in Tränen aus:

28
Nach dem Bankett

»Oh, Liebe! Liebe!


Bewahre mich vor unglücklicher Liebe . . .«

Anderntags gegen Mittag kam ein Anruf von Noguchi. Er sprach über
gleichgültige Dinge und berührte mit keinem Wort den Vorwurf, den sie
ihm in ihrem Brief gemacht hatte. Seine Stimme war ohne jeden Humor, die
Feierlichkeit selber. Trotzdem sprachen sie lange miteinander, obgleich das
Gespräch manchmal versiegte. Sie verabredeten ein Wiedersehen, und am Ende
konnte Kazu sich nicht mehr beherrschen und fragte geradeheraus: »Warum
haben Sie mich eigentlich nicht angerufen und mir gesagt, was geschehen ist?«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Dann erklang ein verlegenes,
leises Lachen, wie ein Knarren, und Noguchi antwortete gleichmütig. »Um die
Wahrheit zu sagen: ich sah eigentlich keine Veranlassung dazu. Es war mir lästig;
das war alles.«
Kazu konnte diese Antwort kaum fassen. »War mir lästig!« Das waren
offensichtlich die Worte eines Greises.

29
Yukio Mishima

Vor dem Aufbruch

Nach diesem Telefongespräch trafen sich die beiden öfter. Kazu besuchte
Noguchi sogar in seinem Haus. Er wohnte ganz allein in einem alten Gebäude im
Shiina-Viertel, und Kazu war sehr beruhigt, als sie herausfand, daß das Mädchen,
das ihn betreute, häßlich und nicht mehr ganz jung war. Nach einiger Zeit
begann Kazu, sich auch um Noguchis Privatangelegenheiten zu kümmern. Sie
sorgte zum Beispiel dafür, daß ihm zum Neujahrstag ein vollständiges Menü vom
Setsugoan geschickt wurde.
Die Regale in Noguchis Bibliothek waren vollgestopft mit europäischen
Büchern. Kazu wurde jedesmal von Ehrfurcht ergriffen, wenn sie vor den
Büchern stand, deren Sprache sie nicht lesen konnte; und Noguchi, der diese
Wirkung einkalkulierte, traf sich deshalb meist in der Bibliothek mit ihr. Kazu
blickte an den Regalen entlang und stellte einmal die naive Frage: »Haben Sie all
diese Bücher gelesen?«
»Ja, fast alle.«
»Sicher sind auch einige pikante Bücher darunter?«
»Nein, nicht ein einziges.«
Über diese Antwort war Kazu aufrichtig erstaunt. Denn es lag außerhalb
ihres Begriffsvermögens, daß es eine Welt geben könnte, die ausschließlich vom
Intellekt beherrscht wurde. Hatten nicht alle Dinge zwei Seiten? Aber der tiefe
Eindruck, den Noguchi immer wieder auf Kazu machte, rührte wohl daher, daß
dieser Mann keine andere Seite zu haben schien als die, die er ihr zeigte. Im
Grunde glaubte Kazu nicht, daß es Menschen gab, die nur eine Seite hatten.
Aber trotz ihrer Zweifel begann sie, sich allmählich ein Idealbild von Noguchi
zu formen, ein beunruhigend schattenhaftes Idealbild, wobei ihr sogar Noguchis
steifes, zeremonielles Benehmen geheimnisvoll und anziehend erschien.
Als sie näher mit Noguchi bekannt wurde, stellte sie fest, daß er bei den
Menschen fast völlig in Vergessenheit geraten war, und sie wunderte sich, wie
wenig ihn das beeindruckte. Obgleich sie seine radikalen politischen Ansichten
keineswegs teilte, fand sie, daß die Öffentlichkeit ihn, eben der Fortschrittlichkeit
dieser Ideen wegen, zu Unrecht vergessen hatte; und sie beschloß, dies zu ändern.
Denn wie ließen sich lebendige Gedanken mit einer toten Existenz vereinbaren?
Auch nach der zweiten Niederlage bei den Abgeordnetenwahlen war er noch als
Berater der radikalen Partei tätig. Aber nie fuhr ein Wagen für ihn vor, wenn er

30
Nach dem Bankett

zu den Versammlungen ging; und Kazu war empört, wenn sie sich vorstellte, daß
er mit der Stadtbahn, womöglich stehend und sich am Haltegriff festklammernd,
hinfahren mußte.
Jedesmal, wenn Kazu Noguchis Haus betrat, überkam sie ein Unbehagen;
ähnlich wie damals beim Anblick seines unsauberen Hemdkragens und des
abgetragenen Mantels. Manchmal sah sie, daß die Flügel des Tores schief hingen,
manchmal war es die schmutzige abblätternde Farbe auf dem europäischen
Holzhaus, die sie störte, oder das Unkraut hinter dem Tor oder die Klingel am
Eingang, die nicht repariert wurde. Kazu konnte es sich noch nicht erlauben,
eigenmächtig Reparaturen an Noguchis Haus ausführen zu lassen. Und Noguchi
schien auch nicht geneigt, ihr mehr als ein bestimmtes Maß an Fürsorge
einzuräumen. Er blieb zurückhaltend. Das reizte Kazu, noch vertrauter mit ihm
zu werden.
Im Januar gingen sie, auf Kazus Vorschlag, zusammen ins Kabuki-eater.
Während Kazu bei allen traurigen Stellen weinte, blieb Noguchi von Anfang bis
Ende kühl und teilnahmslos.
»Warum weinen Sie eigentlich bei solch einem törichten Stück?« fragte er
interessiert, als sie in der Pause im Foyer standen.
»Ich weiß es nicht. Die Tränen kommen mir ganz natürlich.«
»Das interessiert mich. Versuchen Sie doch bitte, mir genauer zu erklären, was
Sie damit meinen: ganz natürlich.« Noguchi sprach in einem so würdevollen
Ton, daß Kazu – ganz gegen ihre Absicht – eingeschüchtert war wie ein kleines
Mädchen. In diesem Augenblick fürchtete sie sich wirklich vor ihm.
Während die Aufführung so, weiterging, stellte Noguchi fest, daß er sein
Dunhill-Feuerzeug verloren hatte. Er war außerordentlich bestürzt, als er es
entdeckte; alle Erhabenheit und Gelassenheit von vorher waren wie weggewischt.
Mitten im zweiten Stück erhob er sich halb von seinem Sitz und tastete seine
Taschen ab. »Nein, hier ist es auch nicht«, murmelte er verstört vor sich hin. Es
war gar nicht mehr der Noguchi, den Kazu bisher gekannt hatte.
»Was ist?« fragte Kazu. Sie bekam aber keine Antwort. Noguchi beugte sich
vornüber und steckte seinen Kopf unter den Sitz. Während des Suchens fiel ihm
etwas ein, und er sagte mit ziemlich lauter Stimme: »Richtig, im Foyer. Ich muß
es im Foyer verloren haben.«
Einige Leute aus dem Publikum drehten sich mit hochgezogenen Brauen
zu ihm um und zischten mißbilligend. Da erhob sich Kazu und ging hinaus.
Noguchi folgte ihr. Diesmal war es Kazu, die gelassen war und ihn im Foyer
fragte: »Würden Sie mir bitte sagen, was Sie verloren haben?«
»Mein Dunhill-Feuerzeug. Es war ein altes Modell, das werde ich in ganz Japan
nicht mehr auftreiben können.«

31
Yukio Mishima

»War es nicht dort drüben, wo wir uns während der Pause unterhielten?«
»Ja, richtig! Dort war es.«
Noguchi rang buchstäblich nach Luft, und Kazu fühlte Mitleid mit ihm. Sie
gingen zu der besagten Stelle hinüber, aber es lag nichts auf dem leuchtend
roten Teppich. Vom Empfangstisch trat eine Frau in mittleren Jahren auf sie
zu, die während der Aufführung offenbar nichts zu tun hatte. »Suchen die
Herrschaften dies hier?« fragte sie. Der Gegenstand, den sie in der Hand hielt,
war unverkennbar Noguchis Feuerzeug.
Als er es sah, strahlte sein Gesicht vor Freude auf, so daß Kazu später noch
oft neckend zu ihm sagte: »Ich wünschte, Sie würden nicht nur beim Anblick
eines Feuerzeuges ein solches Gesicht machen, sondern auch beim Anblick eines
menschlichen Wesens.«
Doch solche Vorfälle hatten für Kazu durchaus nichts Entmutigendes. Sie war
frei von Vorurteilen und sah darin nur eine kindlich arglose Anhänglichkeit an
sein Eigentum.
Solche Begebenheiten erlebte Kazu noch öfter. Noguchi hatte zwar bei
der Versammlung des Kagen-Kreises geäußert: »Hören wir doch auf, von
vergangenen Tagen zu reden, wir sind doch noch jung« – das bezog sich jedoch
nur auf Erinnerungen, während er an Gegenständen aus alten Tagen sehr zu
hängen schien. Als Kazu ihn näher kennenlernte, sah sie ihn öfter einen alten
Taschenkamm aus der Westentasche ziehen, mit dem er sein silbergraues Haar
kämmte. Es stellte sich heraus, daß er diesen Kamin schon seit dreißig Jahren
benutzte. Er hatte ihn sich anfertigen lassen, als er noch jung war, weil er so
dichtes, starkes Haar hatte, daß die Zähne eines gewöhnlichen Kammes immer
ausbrachen. Es war ein solider Kamm aus Buchsbaum. Noguchis Liebe zu alten
Dingen hatte nichts mit Geiz oder Armut zu tun. Sie war mehr ein Protest gegen
die Oberflächlichkeit der Mode, gegen die Jagd nach den neuesten Erzeugnissen,
die von der amerikanischen Konsumwirtschaft auf den Markt geworfen wurden.
Noguchi bestand eigensinnig darauf, nach der englischen Auffassung von Eleganz
zu leben und am Althergebrachten festzuhalten. Der konfuzianische Geist der
Sparsamkeit ließ sich gut mit diesem aristokratischen Geschmack vereinen.
Aber Kazu hatte kein Verständnis für solchen Snobismus, um so weniger, als er
Noguchis Rückständigkeit nur noch unterstrich.

Selbst mitten im Winter unterließ Kazu es nicht, ihren täglichen


Morgenspaziergang zu machen. Während unter ihren Füßen der Schnee
knirschte, fragte sie sich, was ihr eigentlich lieber war: der aristokratische
Rang des einstigen Ministers, diese glanzvolle Karriere, oder sein Glaube an
die radikalen Reformideen, die ihr, obgleich sie sie nicht verstand, etwas in die

32
Nach dem Bankett

Zukunft Weisendes zu haben schienen. Diese beiden Seiten Noguchis erschienen


ihr wie zwei aufeinander abgestimmte physische Merkmale, und es war ihr, als
werde sie gefragt, ob sie seine spitze Nase oder seine großen Ohren lieber habe.
Ihre Liebe zueinander wuchs nur langsam. Als Kazu Noguchi zu Neujahr
besuchte, küßten sie sich das erste Mal. Sie trug einen blaßgrünen Seidenkimono
mit einem Muster von weißem Bambusgras, silbernen Bambuskörbchen und
dunkelgrünen Zwergkiefern. Der silbergraue Obi war mit einer großen Languste
in Zinnoberrot und Gold bestickt. Ihren Nerzmantel hatte sie im Wagen
gelassen. Sogar an diesem Neujahrstag war das Tor geschlossen gewesen, und
das Haus hatte öde und verlassen gewirkt. Aber inzwischen, das wußte Kazu, war
die Klingel repariert worden.
Im Verlauf ihrer häufigen Besuche hatte Kazu bemerkt, daß das ältliche
Dienstmädchen – das immer erst erschien, nachdem es Kazu lange hatte warten
lassen – sie mit einem Ausdruck der Verachtung musterte. Kazu haßte diese
Frau. Noguchi hatte dem Mädchen nämlich eines Tages befohlen, ihm ein Buch
aus dem Regal zu holen, dessen Titel er ihr in deutscher Sprache nannte. Das
Mädchen hatte den Titel, ohne zu stocken, wiederholt, das Regal mit den Blicken
abgesucht und den gewünschten Band herausgeholt. Seitdem haßte Kazu diese
Frau.
Am Neujahrstag war in dieser Gegend, die abseits von der großen Straße
lag, kein Laut zu hören, außer dem regelmäßigen hellen, trockenen Ton eines
Federballspiels. Kazu genierte sich immer vor dem Chauffeur, wenn sie aus dem
Wagen stieg, am Tor auf die Klingel drückte und eine Ewigkeit warten mußte,
ehe ihr aufgemacht wurde. Der einzige Neujahrsschmuck waren die kleinen
Kiefern an beiden Seiten des Tores, auf das jetzt die schrägen Strahlen der klaren
Wintersonne fielen.
Kazu starrte auf die verlassene Straße vor dem Tor. Die Sonne hob die
Unebenheiten der Straßendecke wie ein Relief hervor. Hier und dort war die
Oberfläche aufgerissen. Bäume und Telegrafenmaste warfen Schatten auf die
Fahrbahn, die an einigen Stellen getaut war. In der weichen schwarzen Erde
glänzte die Spur eines dicken Reifens.
Kazu lauschte dem Schlagwechsel des Federballspiels. Es klang nahe, aber sie
konnte die spielenden Kinder weder sehen noch ihre lachenden Stimmen hören.
Das Spiel stockte. ›Ah, der Federball ist zu Boden gefallen‹, dachte Kazu. Bald
darauf vernahm sie wieder den rhythmischen Klang des hin- und herspringenden
Balls. Dann wieder ein Stocken . . . Während dieser quälenden Wiederholung
von Schlägen und Pausen malte Kazu sich in Gedanken aus, wie der bunte
Federball auf der aufgeweichten schwarzen Erde lag. Und plötzlich erschien ihr
das unsichtbare, immer wieder unterbrochene Spiel hinter der Mauer wie etwas
Verbotenes, Heimliches, das niemand sehen durfte.

33
Yukio Mishima

Klappernde Holzsandalen näherten sich dem Seiteneingang. Kazu richtete


sich steif auf bei dem Gedanken, gleich dem verhaßten Dienstmädchen
gegenüberzustehen. Aber als sich das Steintor öffnete, war es Noguchi selber, der
sie begrüßte. Kazu errötete vor Überraschung.
Noguchi trug ein feierliches japanisches Gewand. »Ich habe dem Mädchen
freigegeben. Ich bin heute allein.«
»Ein glückliches Neues Jahr! Wie gut Ihnen der Kimono steht!« erwiderte Kazu;
aber während sie durch das Tor schlüpfte, fühlte sie einen Anflug von Eifersucht
wegen seiner tadellosen Kleidung. ›Wer mag ihm beim Ankleiden geholfen
haben?‹ dachte sie ärgerlich, während sie durch den Gang zum Wohnzimmer
schritt; und ihre Laune verschlechterte sich.
Noguchi tat, wie immer, als merke er nichts von Kazus Verstimmung. Er
griff nach der Karaffe mit dem Neujahrslikör und wollte ihr eigenhändig davon
einschenken. Aber es widerstrebte ihr, die Neujahrsschale mit unerfreulichen
Gedanken entgegenzunehmen; deshalb begann sie, ihren Gefühlen Luft zu
machen.
Noguchi entgegnete: »Dummes Zeug! Das Mädchen hat mir beim Ankleiden
geholfen. Bei der Pflege europäischer Kleidung ist sie nicht sehr zuverlässig, aber
wenn es sich um Kimonos handelt, ist sie in ihrem Element.«
»Wenn Sie mir auch nur ein wenig Zuneigung entgegenbringen, dann entlassen
Sie dieses Mädchen bitte. Ich kann Ihnen viel aufmerksamere Dienstmädchen
besorgen, so viele, wie Sie wollen. Wenn Sie dieses Mädchen nicht entlassen . . .«
Kazu brach mitten im Satz ab und fing an zu weinen. »Ich kann ihretwegen kaum
noch schlafen.«
Noguchi begegnete diesem Ausbruch mit Schweigen. Er zählte die
jaspisfarbenen Früchte des Drachenbart-Grases, das unter dem roten
Pflaumenbaum im Garten wuchs. Nachdem er Kazus Klagen eine Weile angehört
hatte, griff er von neuem nach der Karaffe mit dem Neujahrslikör und drängte
Kazu die Lackschale geradezu auf. Sie stellte sie auf ihr tränennasses Taschentuch,
warf sie aber plötzlich auf die Tatami-Matte und preßte ihr weinendes Gesicht
auf seine Knie. Dabei vergaß sie aber nicht, die trockene Seite ihres Taschentuchs
über den steifen Seiden-Hakama zu legen, damit der Stoff nicht naß wurde.
Zart glitt Noguchis Hand über die Obi-Schärpe auf ihrem Rücken. Während
er sie streichelte, war sich Kazu bewußt, daß der etwas abstehende Kragen
ihres Kimonos den Blick auf die schimmernd weiße, duftende straffe Haut ihres
Rückens freigab. Und während er sie wie abwesend streichelte, überließ sie
sich seinen Händen wie einer vertrauten Melodie. Danach küßten sie sich zum
erstenmal.

34
Nach dem Bankett

Das Frühlingsquellenfest im Februar-Tempel

Schon lange hatten Noguchi und Kazu verabredet, zum Quellenfest nach Nara
zu fahren. Aber Noguchi reiste auf Einladung eines Freundes, des Direktors
einer Zeitung, die die ganze Reise arrangierte. Außer Noguchi waren noch ein
achtzigjähriger Journalist, ein Industrieller und ein älterer Wirtschaftsexperte
eingeladen. Als Kazu diese Einzelheiten erfuhr, konnte sie nicht verstehen,
weshalb Noguchi sie aufgefordert hatte, ihn bei dieser halboffiziellen Reise zu
begleiten.
Noguchi hielt Privates und Offizielles stets streng auseinander. Daher war es
undenkbar, daß er Kazu in die Einladung einbezog, ohne die anderen zu fragen.
Aber f alls sie auf eigene Kosten reisen mußten, hätten sie auch an einen anderen
Ort fahren können. Kazu sah nicht ein, weshalb Noguchi eine solch auffallende
Reise mit ihr unternehmen wollte. Sie hatte bereits von mehreren Leuten
Berichte über die Zeremonie gehört und wußte, daß man sich, selbst wenn sie
und Noguchi sich unabhängig von der Zeitungsgruppe machten, am Abend bei
dem Fest im Februar-Tempel unweigerlich treffen würde.
Außerdem war es ihr peinlich, Noguchi möglicherweise durch diese Reise
finanziell stark belasten zu müssen. Auch war ihr der Gedanke, vor Noguchis
gebildeten Freunden unbedeutend zu erscheinen, nicht angenehm. Als Inhaberin
eines Gasthauses nahm sie es ohne Zögern mit jedem einflußreichen Manne auf;
aber privat haßte sie es, mit solchen Leuten Konversation machen zu müssen.
Kazu konnte nur Vermutungen anstellen, und sie war gereizt, daß Noguchi ihr
keine Erklärung gab. Schließlich ließ sie alles Grübeln und ging mit einem Kuvert,
das zweihunderttausend Yen enthielt, zu Noguchi. Sie wollte ihm das Geld für
die Auslagen der Reise anbieten.
Sie war daran gewöhnt, daß bekannte Politiker, ohne eine Miene zu verziehen,
Geld annahmen. Sogar Nagayama Genki hatte sie gelegentlich um ein- oder
zweihunderttausend Yen gebeten; er hatte insgesamt mehr als eine Million Yen
von ihr bekommen.
Aber bei Noguchi war es anders: Das Geld wurde die Ursache für den ersten
Streit zwischen ihnen. Kazu fand dabei heraus, daß Noguchi ganz unkompliziert
über die Reise dachte. »Ich bezahle das Fahrgeld und die Hotelkosten für dich
– das ist doch in Ordnung. Ich selbst bin ja eingeladen; um meine Auslagen
brauche ich mich also nicht zu kümmern. Alle haben sich gefreut, als ich ihnen

35
Yukio Mishima

sagte, ich werde die Inhaberin des Setsugoan mitbringen. Sie wollten auch dich
einladen, aber ich habe darauf bestanden, für deine Kosten selber aufzukommen.
Das ist doch eine vernünftige Lösung, nicht wahr?«
»Aber es ist unsere erste gemeinsame Reise; ich würde lieber an einen stillen
Ort fahren, wo wir allein sein könnten.«
»Wolltest du das? Und ich dachte, ich könnte dich meinen Freunden
vorstellen.«
Diese Worte beendeten den Streit. Kazu war gerührt. Die reinen, unverfälschten
Gefühle dieses Mannes erweckten strahlende Freude in ihr.
»Gut, dann machen wir es, wie du willst. Aber könnte ich nicht nach dieser
Reise alle Herren zu mir einladen, als Dank dafür, daß ich sie begleiten durfte?«
»Das wäre eine gute Idee«, pflichtete Noguchi ihr kühl bei.

Die Reisegesellschaft traf sich am Zwölften auf dem Tokio-Bahnhof zu dem


Neun-Uhr-D-Zug »Schwalbe«. Kazu bemerkte mit Erstaunen, wie jung Noguchi
in dieser Gruppe wirkte. Das war nur zu verständlich, denn drei der fünf Herren
hatten die siebzig bereits überschritten.
Kazu hatte sich mit ihrer Reiseausstattung große Mühe gegeben; denn durch
diese Reise gab sie ihre Beziehungen zu Noguchi zum erstenmal öffentlich zu.
Sie wollte daher ein Muster in ihren Kimono färben lassen, das seinen Namen,
Noguchi Yuken, versinnbildlichte. Aber das einzige Zeichen dieses steifen
Namens, das zu einem malerischen Bild verwandelt werden konnte, war das No,
was so viel bedeutete wie Feld.
Schon lange vor der Abreise begann sie mit den Vorbereitungen. Nach
langem Hin und Her begnügte sie sich schließlich mit einem Muster, das sich
zwar auf seinen Namen bezog, dessen Bedeutung aber nur ihr zugänglich
war. Sie ließ sich aus grobkörnigem schwarzem Crêpe de Chine, in den weiße
Ackerschachtelhalme und zartgoldener Löwenzahn eingefärbt waren, einen
Kimono anfertigen. Das Muster sollte ein blühendes Feld im Frühling andeuten.
Dazu trug sie einen für die Reise zweckmäßigen, grüngestreiften Obi und eine
Obi-Brosche mit Wolkenring-Muster. Der graue Überwurf mit eingewebten
schmalen Streifen war mit weinroter Seide gefüttert. Auf dieses Futter hatte sie
ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet . . .
Der weißhaarige achtzigjährige alte Herr, der als Bahnbrecher des japanischen
Journalismus galt, wurde von den anderen mit äußerster Höflichkeit behandelt.
Er war Doktor der Rechte und hatte viele englische Bücher übersetzt. Er war ein
alter Hagestolz von englischer Lebensart, aber auch ein Zyniker. So gab er zu
erkennen, daß er mit jeder sozialen Reform einverstanden war – mit Ausnahme
des Gesetzes gegen die Prostitution. Er redete sogar Noguchi mit ›Du‹ an. Der

36
Nach dem Bankett

Industrielle hatte sich bereits aus dem geschäftlichen Leben zurückgezogen; er


war ein Liebhaber von Haiku-Gedichten. Der Wirtschaftsexperte unterhielt die
Gesellschaft mit allerlei boshaften Klatschgeschichten.
Es waren recht angenehme ältere Herren, die Kazu weder ignorierten noch
ihr in auffälliger Weise den Hof machten. Die Fahrt nach Nara verlief fröhlich
und heiter. Der Wirtschaftsexperte nannte die gerade maßgeblichen Leute in
Wirtschaft und Politik ›Dummköpfe, Taugenichtse, Schufte, Opportunisten,
geistig Minderbemittelte, Verrückte, Heuchler, Kurzsichtige, größte Kamele
der Weltgeschichte, verkalkte Hornochsen und Epileptiker‹. Schließlich kam das
Gespräch auf Haikus.
»Ich verstehe von Haikus auch nicht mehr als ein Europäer«, bemerkte der
Achtzigjährige. Und nach kurzer Pause fuhr er, wie aus einem Lexikon dozierend,
fort: »Terada Torahiko berichtet in seinen Plaudereien über Haikus die folgende
Geschichte von einem jungen deutschen Physiker, der seinen Urlaub in Japan
verbrachte und ein begeisterter Japankenner wurde: Der junge Mann erzählte
seinem japanischen Freund voller Stolz, er habe ein Haiku gedichtet. Es lautete:

In Kamakura
Wohin ich auch ging und sah
Kraniche ringsum.

Tatsächlich bestand sein Vers formgerecht aus fünf, sieben und fünf Silben,
aber deshalb ist es doch kein Haiku. Meine Haikus unterscheiden sich nicht im
geringsten von den seinen. Hier ist eins, das ich eben, während ich unserem
Freund zuhörte, gedichtet habe:

Unsere Bonzen
In Politik und Banken
Narren sind’s alle.«

Alle lachten. Derselbe Scherz aus dem Munde eines jungen Mannes hätte
ihnen nicht einmal ein Lächeln entlockt. Während des Gesprächs über Haiku-
Dichtung dachte Kazu voller Unbehagen an das Muster ihres Futters. Obgleich
der Zug geheizt war, wagte sie nicht, den Überwurf abzulegen, weil sie Angst
hatte, jemand könne das Futter sehen. Aber bald nahm das Gespräch eine andere
Wendung.
Die Herren legten übertriebenen Wert auf die Genauigkeit ihres
Gedächtnisses. Das Gespräch erinnerte Kazu, die schweigend zuhörte,
irgendwie an Unterhaltungen junger Männer, die untereinander mit ihrem
Wissen über Frauen prahlen und einander auszustechen versuchen. Um das
Gesagte glaubhaft erscheinen zu lassen, holten die alten Herren oft weit aus und

37
Yukio Mishima

erwähnten bedeutungslose Einzelheiten. Wenn sie zum Beispiel etwas aus dem
Jahre  erzählten, so hätte sich ein junger Mann damit begnügt zu sagen: »Ich
glaube, es war  oder « – diese alten Herren begannen aber so: »Ja, so war
es. Es geschah im Jahre , am siebenten Juni. Ich bin sicher, daß es der siebente
war. Ein Sonnabend, glaube ich. Ich kann mich erinnern, daß wir früher von der
Arbeit kamen.«
Je lebhafter das Gespräch wurde, desto mehr bemühten sie sich, den
hoffnungslosen Kampf gegen den natürlichen Verfall aufzunehmen; und bei einem
unvoreingenommenen Beobachter erweckten sie damit sogar den Anschein,
vital zu sein. Aber auch in dieser Hinsicht war Noguchi eine Ausnahme. Kazu
konnte nicht verstehen, was ihn an diesen Männern interessierte und weshalb
er gern mit ihnen verkehrte. Nur er bewahrte seine Würde und wirkte dadurch
jung. Er griff, wie immer, selten ins Gespräch ein. Wenn es ihm zu langweilig
wurde, zählte er die Rippen seiner geschälten Pampelmuse und reichte Kazu
schweigend die Hälfte hinüber. Doch die einzelnen Rippen der Pampelmuse
waren verschieden groß, und Kazus Hälfte war, obwohl er ihr die gleiche Anzahl
gegeben hatte, kleiner als die seine. Kazu mußte ein Lachen unterdrücken. Sie
starrte auf die faltige, dünne Haut um das Fruchtfleisch, die die Farbe des
Abendmondes hatte.

Als die Gruppe um halb sieben Uhr in Osaka ankam, wartete bereits ein
Wagen auf sie. Sie fuhren direkt zum Nara-Hotel und begaben sich, ohne sich
auszuruhen, in den Speisesaal. In Nara war es ungewöhnlich warm für diese
Jahreszeit. Man hatte Kazu berichtet, daß zur Zeit des Quellenfestes meist
strenge Kälte herrsche. Um so mehr freuten sie und die alten Herren sich über
den unvermutet warmen Abend.
Die Feierlichkeiten zum Frühlingsquellenfest im Februar-Tempel beginnen
alljährlich bereits am ersten März. Aber der Höhepunkt des Festes ist das
Abbrennen der riesigen Fackeln in der Nacht vom zwölften zum dreizehnten,
dem sich gegen Morgen das Schöpfen des heiligen Wassers und das
geheimnisvolle Tataren-Ritual anschließt. Diese nächtliche Zeremonie lockt das
meiste Publikum an.
Nach dem Abendessen eilten die Herren und Kazu zum Februar-Tempel und
fanden zu ihrer Überraschung eine große Menschenmenge vor. Die Menschen
schienen mehr der Sensation, des ungewöhnlichen Ereignisses wegen gekommen
zu sein, und weniger, weil sie einer religiösen Handlung beiwohnen wollten.
Als der Augenblick kam, in dem die riesigen Kiefernfackeln angezündet
werden sollten, bahnte ein Priester der Gruppe im Dunkeln den Weg durch die
Menge zur Galerie des Tempels. Noguchi hatte Kazu bei der Hand genommen
und schritt sicher voran, ohne sich um den unebenen Boden zu kümmern. Es

38
Nach dem Bankett

war ein ganz anderer Noguchi als der, der in Ueno gezögert hatte, über die Straße
zu gehen. Vor den Autos hatte er sich gefürchtet, aber vor Menschen schien er
nicht zurückzuschrecken. In seiner Haltung lag eine tief eingewurzelte Würde,
als er die bäuerlich aussehenden Leute beiseite schob.
Die vornehmen Gäste wurden in die Nähe eines Bambuszaunes geführt, den
man errichtet hatte, weil die Leute nicht in den Tempel drängen sollten. Gleich
hinter dem Bambuszaun lagen die Stufen zur Galerie des Tempels, auf denen die
Fackeln abgebrannt werden sollten. Der achtzigjährige Journalist schien von dem
beschwerlichen Weg erschöpft zu sein, denn er klammerte sich am Zaun fest und
rang nach Luft. Der Direktor der Zeitung war seinetwegen in ständiger Angst
und besorgte ihm einen kleinen Klappstuhl.
Auch Kazus Sandalen war der Weg schlecht bekommen. Der Boden des
Abhangs, auf dem sie standen, war nur spärlich mit Gras bewachsen und
aufgeweicht. Um ihre Sandalen etwas zu schonen, klammerte sich auch Kazu am
Bambuszaun fest. Sie wandte den Kopf nach hinten, um Noguchi zuzulächeln;
aber sein lächelndes Gesicht wurde von der Dunkelheit verschluckt. Hoch über
ihren Köpfen erhob sich majestätisch der Tempel mit dem geschwungenen,
überhängenden Dach. Aus seinem Innern drang eine mysteriöse Helle, und
vereinzelt glitzerten Sterne, wie Wassertropfen, zwischen den hohen schmalen
Zedern um den Tempel.
Der ›Siebenmalige Botengang‹ hatte bereits angefangen. Eine hohe Gestalt in
gegürtetem Gewand – der oberste Geweihte – schritt mit hoch erhobener Fackel
die Steintreppe hinauf und wieder hinunter. Jede Phase dieser ›Botengänge‹
wurde mit lauter, weithin hallender Stimme angekündigt: das Weihrauchopfer,
die folgenden kultischen Handlungen und die Anbetung. Die umhersprühenden
Funken der Fackel machten das Ritual zu einem Bild imposanter Feierlichkeit. Für
die Zuschauer, die nichts von den altertümlichen Traditionen des esoterischen
Buddhismus und des Dual-Shintoismus wußten, mußten die merkwürdige
Aufmachung des obersten Geweihten, seine Erregung und seine Ekstase wie
ein Zeichen drohenden Unheils erscheinen. Selbst als der Geweihte verschwand
und keine Fackel mehr die Steinstufen erhellte, hatte man noch den Eindruck,
daß sich etwas Schreckliches in dieser Leere ereignen würde. Kazu war nie
besonders gläubig gewesen; und es kam selten vor, daß sie von etwas ergriffen
war, was sie nicht mit eigenen Augen sehen konnte. Als sie aber jetzt zu den
Granitstufen aufblickte, die kalt und weißlich schimmernd zur Galerie des
Tempels hinaufführten, fühlte sie ihr Herz die Stufen emporschweben, um des
bedeutsamen Geschehens in einer unsichtbaren Welt teilhaftig zu werden.
Hin und wieder fragte sich Kazu – so heiter und optimistisch sie auch war –,
was wohl nach dem Tod geschehen würde. Diese Überlegungen riefen sofort den
Gedanken an die Sünde in ihr wach, an ihre Sünden. Während sie die Wärme von

39
Yukio Mishima

Noguchis Mantel in ihrem Rücken spürte, wurden Erinnerungen an vergangene


Affären lebendig, an die sie in Noguchis Gegenwart noch nie gedacht hatte.
Männer waren ihretwegen in den Tod gegangen, andere hatten Stellung und
Vermögen verloren, und wieder andere waren zum Bodensatz der Gesellschaft
herabgesunken – alles ihretwegen. Seltsamerweise hatte sie nie erlebt, daß ein
Mann durch ihre Liebe groß und mächtig geworden war. Es war nicht Kazus
Verschulden – sie hatte nie Böses gewollt –, aber meist ging es mit den Männern
bergab, nachdem sie Kazu kennengelernt hatten.
Während sich ihre Gedanken mit dem Tod beschäftigten, blickte sie zu den
Steinstufen auf. Die Vergangenheit bröckelte Stück für Stück unter ihren Füßen
weg, und sie wußte nicht, wo sie Zuflucht finden konnte. Wenn sie wie bisher
weiterlebte, würde niemand da sein, der ihr das letzte Geleit gab. Der Gedanke
an den Tod erweckte den Wunsch in ihr, einen vertrauenswürdigen Menschen
zu finden, eine Familie zu besitzen und ein geordnetes Leben zu führen. Aber um
das zu erreichen, würde sie sich doch noch einmal der Liebe unterwerfen müssen.
Und wiederum überfiel sie die Angst bei dem Gedanken an weitere Sünden. Bei
den morgendlichen Spaziergängen im Setsugoan hatte sie geglaubt, die Welt
und die Seele der Menschen so genau zu kennen wie ihren Park. War sie nicht
überzeugt gewesen, daß nichts mehr sie aus ihrer Ruhe herausreißen könne? jetzt
erschien ihr diese Abgeklärtheit wie der Weg zur Hölle . . . Der Priester, der sie
vorhin hergeleitete, hatte ihnen erklärt, daß das Quellenfest Reue und Bitte um
Vergebung darstelle. Und Kazu verstand, wenn sie an ihr eigenes Leben dachte,
nur zu gut, was damit gemeint war.
Das Raunen um sie herum zeigte an, daß endlich die Fackeln herangetragen
wurden. Sie hatten bereits fertig neben dem Badehaus des Tempels gestanden:
zwölf armdicke, über sieben Meter lange Bambusrohre mit gewaltigen Wurzeln,
an deren Spitze ein kugelförmiger Korb von über einem Meter Durchmesser
befestigt war.
Hinter dem Bambuszaun standen einige Priester in glitzernden
Brokatgewändern mit hohen dreieckigen Kragen, die Kazu die Aussicht
versperrten. Sie versuchte, zwischen den Schultern der Priester hindurch einen
Blick auf die Fackeln zu werfen; da sie aber nicht groß genug war, bat sie Noguchi
mit leiser Stimme: »Bitte, heb mich ein wenig hoch.« Aber Noguchi, der einen
Schal um seinen Hals geschlungen hatte, lächelte nur und schüttelte den Kopf. In
diesem Augenblick begann es zu krachen und zu prasseln, und sein Gesicht war
plötzlich von hellem Licht übergossen.
Kazu wandte rasch wieder den Kopf, um zu sehen, was geschehen war. Das
Prasseln kam von der angezündeten Fackel, die einen gelben Schein auf die weiße
Kalkwand warf und jeden Riß, jede Kritzelei deutlich hervortreten ließ. Plötzlich
loderte ganz nahe vor ihnen eine mächtige Flamme hoch, und die Gestalten

40
Nach dem Bankett

der Priester mit den hohen Kragen und den Fächern, die sie schützend vor ihre
Gesichter hielten, verwandelten sich in dunkle Silhouetten. Aus den grünen
Zypressenzweigen oben an den Bambusrohren stoben Funken, und die starken
Arme des Jünglings, der die riesige Bambusfackel trug, erglühten im Widerschein
des Feuers. Mit angehaltenem Atem beobachtete Kazu, wie der Fackelträger mit
dem leuchtenden Feuerball die Stufen emporstieg.
Der Jüngling, der die Last der anderthalb Zentner schweren Bambusfackel
nur auf einer Schulter trug, schritt die Stufen in einem Feuerregen hinauf. Hier
und da blieben Funken, wie karmesinrote Lotusblüten, auf der Treppe zurück.
Manchmal fingen die Pfosten des überdachten Durchgangs Feuer und begannen
zu glimmen. Ein weißgekleideter Begleiter, der dem Fackelträger folgte, löschte
die Flammen sogleich mit einem wasserdurchtränkten Besen. Die Menschen
standen dichtgedrängt unterhalb des Tempels und folgten dem Schauspiel
gebannt. Kazu traten beim Anblick der wilden, einsamen Schönheit des Feuers
Tränen in die Augen, und ihrer Brust entrang sich ein unartikulierter Laut. Sie
ergriff Noguchis Hand und preßte sie mit vor Erregung feuchten Fingern: »Ist
das schön! Es hat sich wirklich gelohnt, hierher zu fahren!«
Während sie sprach, hatte der Fackelträger bereits die oberste Stufe erklommen
und hielt einen Augenblick inne, um sich gegen die Balustrade der linken Galerie
zu lehnen. Wieder ertönte neben Kazu ein ohrenbetäubendes Prasseln, und der
zweite Fackelträger erschien am Fuße der Steintreppe. Im selben Augenblick
begann der Jüngling oben auf dem Podium des Tempels wie ein tollgewordener
Löwe zu rasen und die Fackel herumzuwirbeln, so daß ein heftiger Funkenregen
auf die Köpfe der Zuschauer fiel. Dann rannte er mit der Fackel auf die rechte
Seite der Galerie zu, und das schwere, überhängende Tempeldach erglühte rot
im Feuerschein. Als die Fackel, deren Leuchtkraft bereits ein wenig nachließ,
nochmals an der rechten Balustrade herumgewirbelt wurde, leuchteten die
Zypressen im Lichte der sprühenden Feuerfunken in tiefem dunklem Grün.
Nun kam auch die Menge, die in Andacht versunken gewesen war, wieder in
Bewegung. Bewundernde Schreie mischten sich in den Chor der laut hallenden
Stimmen, die die Gebete sprachen. Noch immer rieselten Funken, wie Goldstaub,
auf die Köpfe der Zuschauer herunter, und über ihnen ragte, dunkel und erhaben,
der Februar-Tempel auf.
»Unbeschreiblich! Wirklich unbeschreiblich!« sagte Kazu immer wieder.
Noguchi bemerkte, daß sie weinte.

Es war kurz vor Tagesanbruch, als sie alle zum Hotel zurückkehrten. Sie waren zu
müde gewesen, um nach der Omizutori-Zeremonie noch auf das Tataren-Ritual
zu warten, das am frühen Morgen stattfinden sollte. Als sie sich eben in ihre
Zimmer zurückgezogen hatten, hörten sie in der Ferne die Hähne krähen. Aber

41
Yukio Mishima

noch war kein Morgengrauen am Himmel zu sehen.


Noguchi schlug vor, ein Bad zu nehmen, bevor sie zu Bett gingen. Kazus Augen
glitzerten noch vor Aufregung. Sie sagte, sie sei zwar sehr müde, könne aber
sicher nicht schlafen. Sie legte ihren Überwurf ab und faltete ihn langsam und
umständlich zusammen, um Noguchis Aufmerksamkeit auf das Futter zu lenken.
Er näherte sich dem Bett, auf dem der Überwurf unter der hellen Deckenlampe
ausgebreitet lag. Auf das weinrote Futter waren mit geschickter Hand die ersten
Zeilen eines Gedichtes gemalt.
»Was ist denn das?« fragte Noguchi, während er seine Krawatte lockerte.
»Ein Gedicht von Sogi. Ich habe eigens für diese Reise einen Kalligraphen
gebeten, es zu schreiben. Es ist doch schon Frühling.« Sie verriet nicht, daß der
Stoffhändler die Idee mit dem Gedicht von Sogi gehabt hatte.
»Ich warte auf dich«, las Noguchi:

»Ich warte auf dich,


Wüßtest du’s nur, laß dir Zeit,
Blume des Frühlings.«

Noguchi vergaß, seine Krawatte abzunehmen, und starrte lange auf das
Gesicht. Kazu betrachtete die alte, vertrocknete Hand des Mannes, auf der sich
die Venen abzeichneten. Sie fand sie schön.
»So ist es also«, sagte Noguchi schließlich. Das waren seine einzigen Worte.
An dem Morgen, vor Anbruch des Tages, schliefen der Mann über sechzig und
die fünfzigjährige Frau in einem Bett.

42
Nach dem Bankett

Die Vermählung

Bereits eine Woche nach der Rückkehr aus Nara konnte Kazu ihre Ungeduld nicht
mehr bezwingen und lud ihre Reisebegleiter zum Dank zu sich ins Setsugoan ein.
Sie hatte folgendes Menü für diesen Tag zusammengestellt:

H’:
Junge Ackerschachtelhalme mit zerstoßenem Sesam;
geräucherter Karpfen; Huflattich-Rolle; gekochter Meeraal;
Zwergmeerbrasse auf Reis, in Bambusblätter gewickelt
S:
Klare Suppe mit Pflaumen; Mehlklößchen in Sternform;
Schnittlauch und jungen Bergpfefferblättern
R F:
Meerbrasse à la Kiefernrinde; gestreifter Blaufisch
A  R:
Gesalzene Hummer; Pilze; in Miso eingelegter grüner Pfeffer
G:
Wakame Seegras; junge Bambussprößlinge; junge Bergpfefferblätter

Obgleich die Anzahl der Gäste beschränkt war, ließ Kazu den großen Saal
herrichten. Sie wollte, daß es ein unvergeßlicher Abend würde, an den man noch
nach Jahren zurückdachte.
Noguchi und Kazu waren zwei Tage länger in Nara geblieben als die übrige
Reisegesellschaft. Sie hatten noch verschiedene andere Tempel besichtigt und
waren an einem schönen klaren Vormittag wieder zum Februar-Tempel gegangen
und sogar die Steintreppen bis zum Podium hinaufgestiegen. Die Omizutori-
Feiern waren zu Ende, und die Jünglinge, die an jenem Abend ihre Aufgabe so
mutig ausgeführt hatten, saßen nun mit einfältigen Dorungengesichtern auf den
warmen Steinstufen in der Sonne. Vom Podium aus betrachteten Noguchi und
Kazu den welken Grashang, der jetzt aussah, als sei eine Feuersbrunst darüber
hinweggegangen. An einigen Stellen der dunklen verbrannten Grasfläche zeigten
grüne Flecken an, daß dort bereits wieder junges Gras sproß.
Auf diesen Spaziergängen wurden nur wenige Worte gewechselt. Sie

43
Yukio Mishima

sprachen von Vergangenem und von der Zukunft, und wie von selbst kamen
sie auf die Hochzeit zu sprechen. Kazu wollte sich nicht von ihren Gefühlen
fortreißen lassen. Sie hörte sich zuerst Noguchis Meinung an und äußerte dann
geradeheraus die ihre. Sie hatte nicht die Absicht, Setsugoan aufzugeben; da sie
aber andererseits von einem Mann wie Noguchi Yuken nicht erwarten konnte,
daß er zu ihr ins Setsugoan ziehen werde, schien es ihr unvermeidlich, daß ihr
Zusammenleben etwas kompliziert würde. Kazu wollte das Wochenende mit
Noguchi in seinem Hause verbringen und Montag morgens wieder zu ihrem
Arbeitsplatz zurückkehren. Das ungefähr war der Kompromiß, zu dem sie beide
gelangten.
Die klare Frühlingsluft und die Stille der ehemaligen altertümlichen Hauptstadt
hatten das ihre getan: langsam dahinschreitend, hatten sie den Plan erwogen, und
die Lösung, die sie schließlich gefunden hatten, war tatsächlich sehr vernünftig.
Kazu wunderte sich im stillen, daß ein so unverhofftes Glück nur stille Freude
und keine heftige Erregung in ihr auslöste.
Kazu sollte also die Frau eines Mannes aus vornehmer Familie werden. Es
kam ihr zum Bewußtsein, daß dies das langersehnte Ziel ihres Lebens war. Sie
war auf dem Lande, in Niigata, geboren und, nachdem sie ihre Eltern verloren
hatte, von einem Verwandten, einem Gastwirt, adoptiert worden. Von dort war
sie mit dem ersten Mann ihres Lebens nach Tokio durchgebrannt . . . Nach vieler
Mühsal und Jahren harter Arbeit war es ihr gelungen, ihre heutige Position zu
erlangen. Sie war immer fest davon überzeugt gewesen, daß alles, was sie sich
einmal in den Kopf setzte, eines Tages verwirklicht werden würde. Dies war zwar
eine Überzeugung, die jeder vernünftigen Grundlage entbehrte, aber in ihrem
bisherigen Leben hatte sie sich als richtig erwiesen.
Bis zum letzten Herbst hatte sie geglaubt, daß alle ihre Erwartungen bereits
erfüllt waren und daß die Überzeugung, die ihr Leben beherrschte, sich voll und
ganz bewährt hatte. Sie war überrascht gewesen, zu entdecken, daß ihr Herz
unvorhergesehen noch einmal Feuer gefangen hatte, als sie Noguchi begegnete.
Da wurde ihr klar, daß sie aus der Überzeugung, ihr gelinge alles, was sie sich
einmal in den Kopf gesetzt habe, doch noch einen Nutzen ziehen konnte.
Später wurde Kazu oft wegen der rätselhaften Übereinstimmung ihrer
Leidenschaften mit dieser Überzeugung von der Gesellschaft beargwöhnt. Es wäre
ungerecht zu behaupten, ihre Leidenschaft für Noguchi sei nur zweckgebunden
gewesen oder sie habe einzig und allein nach Ruf und Ansehen gestrebt.
Vielmehr hatte sich ihre Liebe zu Noguchi ganz natürlich und ungezwungen
entwickelt, und der Traum war, obwohl sie sich gar nicht besonders angestrengt
hatte, unversehens Wirklichkeit geworden. Sie hatte kaum gewußt, was sie tat,
als sie den Wein zum Gären ansetzte; aber als er fertig war und sie ihn probierte,
stellte sie fest, daß er nach ihrem Geschmack geraten war. Das war alles.

44
Nach dem Bankett

Das Mißverständnis entstand lediglich durch die übergroße naive Freude, mit
der die allzu aufrichtige Kazu Noguchis Antrag annahm. Sie hätte etwas weniger
Freude zeigen sollen.

Am Abend des . März war es recht milde für die Jahreszeit. Noguchi war früher
gekommen, um mit Kazu zu besprechen, wie die Gäste empfangen werden
sollten. Auch bei einer solchen Gelegenheit blieb er ruhig und gelassen. Er setzte
sich ins Wohnzimmer, neben Kazu, und gab mit gleichgültigem Gesicht seine
Anweisungen.
Als Kazu ihm das Menü zeigte, fügte sie hinzu: »Ich möchte noch ein
besonderes Gericht servieren lassen, das nicht auf dieser Karte steht. Es bezieht
sich auf die Omizutori-Zeremonie; und da dieses Gericht schwer ist, möchte ich
es nicht zu spät servieren lassen. Denn es wäre schade, wenn die Gäste es nicht
mehr essen könnten. Ich nehme aber an, daß du es erst am Ende bekanntgeben
willst?«
»Was hat denn die Bekanntgabe mit dem Gericht zu tun?« fragte Noguchi
mißtrauisch, während er achtlos mit einem Metallstäbchen in der Asche des
Kohlenbeckens herumstocherte.
»Verstehst du das nicht?« fragte Kazu zögernd; sie hatte, wie immer, etwas
Angst vor Noguchis Reaktion. »Könntest du es nicht bekanntgeben, wenn das
Gericht die Gäste in gute Stimmung versetzt hat? Das wäre doch stilvoll, und die
Wirkung wäre sicher größer.«
»Verlangst du von mir, daß ich eater spiele?«
»Oh, keineswegs! Es war nur so eine Idee von mir. Bei Teezeremonien sind
originelle Einfälle doch auch sehr beliebt, nicht wahr?«
»Ich begreife nicht, weshalb dir so an Beifall gelegen ist. Ich teile es doch nur
meinen engsten Freunden mit. Dann hättest du mir von Anfang an sagen müssen,
daß du Wert auf Effekte legst.«
Kazu hielt es für richtiger, nachzugeben.
»Schön, dann mache ich es, wie du wünschst. Ich werde mich nach dem
Appetit der Gäste richten und die Überraschung gleich nach dem Horsd’œuvre
servieren lassen.«
In diesem Augenblick meldete das Mädchen, daß der Direktor der Zeitung
und der achtzigjährige Journalist eingetroffen seien.

Kazu setzte ein strahlendes Lächeln auf und erhob sich, um die würdigen
Gäste zu begrüßen. Noguchi war verblüfft, wie schnell sie ihrem eben noch so
nachdenklichen Gesicht einen fröhlichen, unbekümmerten Ausdruck gab; aber

45
Yukio Mishima

Kazu kümmerte sich nicht darum.


Der achtzigjährige Journalist trug, wie immer, einen Lederbeutel in der
Hand. Sein schönes weißes Haar hing ihm über die Ohren, und er wirkte sehr
elegant, als er hochaufgerichtet in japanischer Kleidung den großen Saal betrat.
In Gegenwart des Greises benahm sich der Direktor der Zeitung stets so, als
bestünde sein einziger Lebensinhalt darin, den treu ergebenen Gefolgsmann zu
spielen.
»Guten Abend, Noguchi!« sagte der Achtzigjährige. »Die Reise neulich war
sehr nett, nicht wahr?« Mit diesen Worten steuerte er geradewegs auf den
Ehrenplatz zu und ließ sich dort nieder. Er kam gar nicht auf die Idee, daß dieser
Platz einem anderen gebühren könnte. Kaum hatte er sich gesetzt, sprach er mit
keinem Wort mehr über die Nara-Reise, sondern berichtete von dem Ereignis
des Vortages: er hatte nämlich die Ehre gehabt, auf besonderen Wunsch des
Kaisers einen Vortrag über die Geschichte des japanischen Zeitungswesens zu
halten.
»Leider konnte ich in der kurzen Zeit nicht auf nähere Einzelheiten eingehen«,
erzählte er. »Ich hatte aber den Eindruck, daß Seine Majestät die Meiji-Zeit am
meisten interessierte. Es ist traurig, daß diese Epoche, nicht nur für uns alte
Männer, sondern auch für den Kaiser die gute alte Zeit ist.«
»Höchstwahrscheinlich lag es daran, daß Sie sie wie die gute alte Zeit
dargestellt haben.«
»Da mögen Sie recht haben. Trotzdem ist es nicht sehr ermutigend, wenn der
Herrscher die Gegenwart nicht für die beste Zeit hält!«
In der Zwischenzeit hatten sich alle Gäste eingefunden. Getränke wurden
gereicht und die Vorspeisen serviert. Für eine Weile war Kazu verschwunden,
dann erschien sie in Begleitung von zwei Mädchen, die ein riesiges Tablett
trugen, auf dem bläuliche Flammen züngelten. Kazu erklärte den erstaunten
Gästen: »Das sind die Korbfackeln vom Februar-Tempel.«
Das Gericht war eine Meisterleistung der Kochkunst und darüber hinaus eine
Augenweide. Die Fackeln, für jeden Gast eine, bestanden aus Hühnerfleisch – das
die Bambusrohre darstellte – und gebackenen kleinen Vögeln – das waren die
brennenden Korbfackeln –, die mit Alkohol übergossen und angezündet worden
waren. Die Landschaft um den Tempel wurde von verschiedenen Arten wilden
Berggemüses angedeutet, das dekorativ auf der Platte verteilt war. Sogar das
kleine Holzschild vor dem Tempel war nicht vergessen worden, das den Reitern
vorschrieb, von den Pferden abzusteigen, ehe sie das Tempelgebäude betraten.
Die Gäste ergingen sich in Lobpreisungen über den köstlichen Einfall. Der
Industrielle bemerkte, auf diese Weise erlebe er die Omizutori-Zeremonie zum
zweitenmal in einem Jahr, und er improvisierte sogleich ein Haiku auf dieses

46
Nach dem Bankett

ema. Kazu sah verstohlen zu Noguchi hinüber.


Noguchi wirkte in diesem Augenblick alles andere als glücklich. In seinem
Gesicht kämpften verschiedene Empfindungen; er wirkte verstockt, und die
Blicke, die er Kazu zuwarf, grenzten an Haß. Aber Kazu ertrug sie gelassen. Sie
war glücklich und genoß die Situation mit sichtlichem Behagen: Sie wußte, daß
sein Haß nur dem kleinlichen Stolz entsprang, sich unter keinen Umständen
dem Willen einer Frau zu unterwerfen.
Sie erhob sich und verließ den Raum. Sie tat, als ginge sie den Gang hinunter,
versteckte sich aber in Wirklichkeit im Nebenzimmer hinter der Schiebetür. Bald
hörte sie Noguchis Stimme. Er sagte genau das, was sie erwartet hatte. »Ich
möchte Ihnen allen, die Sie sich heute abend hier versammelt haben, etwas
mitteilen. Es handelt sich darum, daß ich mich entschlossen habe, die Inhaberin
dieses Hauses, Fukuzawa Kazu, zu heiraten.«
Das darauffolgende Schweigen wurde von dem Lachen des achtzigjährigen
Junggesellen zerrissen. »Ich hatte gedacht, Noguchi sei ein ebensolcher
Lebenskünstler wie ich. Aber wie ich sehe, habe ich ihn überschätzt. Gratuliere,
alter junge, daß du kein Genie bist! Darauf laßt uns anstoßen! Wo steckt denn
unsere Wirtin?« rief der Alte mit donnernder Stimme. Dann fuhr er den Direktor
der Zeitung an: »Auf was wartest du noch? Marsch, zum Telefon. Das wird eine
sensationelle Erstmeldung unserer Zeitung!«
»Sie behandeln mich noch immer wie einen jungen Reporter, trotz meiner
Jahre«, protestierte der Gewaltige, worauf alle lachten. Plötzlich herrschte
aufgelockerte Stimmung.
»Wo bleibt denn unsere Wirtin?« rief der Alte noch einmal. Während der
Reise hatte Kazu ihn nie so sprechen hören. Sie spürte, daß er jetzt absichtlich
den forschen, rauhen Ton der Studenten der Jahrhundertwende treffen wollte.
Kazu hielt die Zeit für gekommen, wieder in den Saal zurückzukehren, und
prallte in der Tür fast mit dem Direktor zusammen, der zum Telefon eilte, um die
Redaktion seiner Zeitung zu informieren. Als er an Kazu vorbeiging, kniff er sie
in die wohlgerundete Schulter.

Am nächsten Morgen stand die Nachricht in der Zeitung. Sofort kam ein Anruf
von Nagayama Genki. Seine Stimme klang heiter, als er sie begrüßte: »Guten
Morgen! Wir haben uns lange nicht gesehen, ich hoffe, es geht dir gut. Übrigens
– die Nachricht in der Zeitung ist doch wohl nur ein Gerücht, nicht wahr?«
Kazu schwieg.
»So, so! Nun, wenn sie auf Wahrheit beruht, habe ich etwas mit dir zu
besprechen. Kannst du gleich zu mir ins Büro kommen?«
Kazu sagte, sie sei leider zu beschäftigt; aber diese Ausrede verfing nicht bei

47
Yukio Mishima

Genki. »Zu beschäftigt!« sagte er. »Ich bin es, der viel zu tun hat. Und wenn ich
trotzdem, zu deinem Besten, mit dir sprechen will, dann mußt du schon sehen,
daß du herkommst. Ich bin heute im Büro des Marunouchi-Gebäudes.«
Genki hatte an verschiedenen Orten sogenannte Büros, die eigentlich die
Empfangszimmer der Büros seiner Freunde waren. Aber das Seltsame daran
war, daß er in all diesen Büros nur auf eine Klingel zu drücken brauchte, und es
wurde alles erledigt, was er befahl – genauso, als wäre er Herr der Firma. Ebenso
anspruchsvoll benahm er sich auch den Angestellten gegenüber. Kazu kannte
das Büro im alten Marunouchi-Gebäude, da sie bereits einige Male dort gewesen
war. Es gehörte einer großen Fischereigesellschaft, deren Präsident aus Genkis
Heimat stammte.
Es war ein regnerischer, verhältnismäßig kühler Frühlingstag. Kazu schritt an
den düsteren Läden im Parterre des Marunouchi-Gebäudes vorbei durch den
trostlos wirkenden Säulengang, der von den triefenden Schirmen der Passanten
naß war. Die Vorübergehenden wirkten in ihren Regenmänteln irgendwie finster
und unfreundlich. Als sie am Morgen die Nachricht gelesen hatte, war ihre
Freude so groß gewesen, daß sie die Zeitung dem Hausaltar dargebracht hatte.
Und jetzt wurde diese Freude durch einen Mann getrübt, dem sie oft genug mit
Geld ausgeholfen und immer so viel gegeben hatte, wie er haben wollte. Und
hatte sie je etwas dafür verlangt?
Niedergeschlagen fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach oben. Aber als sie
Genkis spöttisch lachendes Gesicht sah, waren ihre trüben Gedanken wie
weggewischt, und sie wurde wieder fröhlich. Sie freute sich jetzt geradezu über
diese Verabredung mit einem sehr beschäftigten, berühmten Politiker, eine
Verabredung, die aus einem rein privaten Grunde zustande gekommen war.
»Du stellst ja die unglaublichsten Sachen an! Du verführst – ich weiß nicht
wann – ohne Erlaubnis deines Vaters einen Mann« platzte Genki sofort heraus.
»Oh, ich dachte, Sie wären mein großer Bruder. Aber ob Vater oder Bruder,
Sie sind ja auch nicht so ganz ohne und haben bestimmt kein Recht, mir eine
Moralpredigt zu halten. Das möchte ich mir im voraus verbitten.«
Es war gar nicht Kazus Art, so obenhin und frech zu antworten. Aber das
Lächeln wich nicht aus Genkis feistem Gesicht, das wie ein einziger Tonklumpen
wirkte. Während er bedächtig eine Zigarette zwischen den Fingern hin- und
herrollte, um sie weicher zu machen, wie es seine Angewohnheit war, sagte er:
»So ungeduldig brauchst du doch jetzt nicht mehr zu sein. Über das heiratsfähige
Alter bist du ohnehin längst hinaus.«
»Ja, allerdings. Schon einige Dutzend Jahre . . .«
Nach diesem scherzhaften Geplänkel erwartete Kazu, daß Genki ihr die
altmodische Frage stellen würde: »Bist du wirklich in ihn verliebt?« Sie wollte

48
Nach dem Bankett

darauf mit einem fröhlichen »Ja« antworten und glaubte, Genki würde dann alles
verstehen und nichts mehr sagen . . . Aber er machte keine Anstalten, diese Karte
auszuspielen.
Genki war ein rastloser Mensch. Er war der einzige Mann, bei dem Kazu
nie wußte, wann sie das Feuer für seine Zigarette anzünden sollte. Wenn ein
Mann sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob, hielt Kazu stets schon
Streichholz und Schachtel in den Händen, um ihm sogleich Feuer zu reichen.
Aber bei Genki konnte sie den Moment nie abpassen. Seine kurzen dicken Finger
mit den spatenförmigen Nägeln spielten ständig mit irgend etwas, mit einer
Zigarette, einem Bleistift, Papieren oder Zeitungen; und währenddessen wurde
sein unsteter Blick arglos wie der eines Kleinkindes, und seine dunkelbraunen
wulstigen Lippen verzerrten sich zu einem Flunsch. Sah es so aus, als wollte er
die Zigarette, die er so lange hin und her gedreht hatte, daß sie bereits krumm
geworden war, zum Mund führen, dann legte er sie plötzlich wieder in die
Schachtel zurück.
Hinter Genkis Stuhl war eine breite Fensterfront, durch die man auf die
regennassen Häuser der Stadt sah. Die dunkelgrünen Vorhänge aus Seidendamast
waren nach rechts und links zur Seite gezogen. Das Neonlicht, das heute bereits
am frühen Morgen hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes
brannte, wirkte seltsam nackt und nah im Regen.
»Angenommen, du heiratest Noguchi Yuken. Was beabsichtigst du dann
eigentlich mit dem Gasthaus zu machen?«
»Ich möchte es weiterführen.«
»Das kannst du nicht. Du wirst sehen, daß es eines Tages zu Reibungen
zwischen Herrn Noguchi und dem Gasthaus kommen wird. Denn das Setsugoan
ist immerhin durch meine Partei und durch die Konservativen zu dem geworden,
was es heute ist. Findest du es nicht selber lächerlich, wenn die Inhaberin dieses
Restaurants die Frau des Beraters der radikalen Reformpartei ist?«
»Über diesen Punkt habe ich gründlich nachgedacht. Warum sollte ich nicht,
wie bisher, die Unterstützung der konservativen Partei genießen können, auch
wenn mein Mann den Radikalen angehört? Mir ist gesagt worden, die neue
Verfassung erlaube es Ehepaaren, verschiedene Parteien zu wählen.«
»Darum geht es nicht. Verstehst du nicht, daß ich mir nur Sorgen um
deine Zukunft mache? jeder sieht doch, daß du eine Niete gezogen hast. Diese
Heirat ist weder für Herrn Noguchi noch für dich ein Vorteil. Du mit deinen
Fähigkeiten könntest wer weiß was auf die Beine stellen! Statt dessen verbaust
du dir deine Zukunft! Sieh mal, Kazu, eine Heirat ist genauso, als ob man Aktien
kauft. Gewöhnlich erwirbt man sie, wenn sie billig sind. Aber weshalb willst du
unbedingt welche kaufen, bei denen keine Aussicht besteht, daß sie an Wert

49
Yukio Mishima

gewinnen? Ich gebe zu, Herr Noguchi war früher eine Kapazität. Aber ganz
unparteiisch geschätzt: Die Wirtin vom Setsugoan ist heute viel mehr wert als
der frühere Kabinettsminister Noguchi Yuken. Du mußt doch wissen, was du
wert bist! Eines sieht dir allerdings ähnlich: Daß du das Setsugoan weiterführen
und dich nicht im Hause einschließen und die sittsame Ehefrau spielen willst.
Typisch Kazu!«
»Das weiß ich selber.«
»Na, siehst du? Wenn man sich jeden Tag im Spiegel betrachtet, weiß man
so etwas genau. Aber was ist eigentlich Herrn Noguchis Absicht? Will er dich
ausnutzen?«
Kazu stieg das Blut ins Gesicht. »Er ist keine Zuhälternatur!« schrie sie.
»Beurteilen Sie die Menschen doch nicht nach Ihren Maßstäben.«
Genki war keineswegs verärgert; er brach in schallendes Gelächter aus. »Ich
bitte um Verzeihung! Aber du mußt zugeben, daß ich sehr tüchtig darin bin. Ich
bekomme, was ich will – ohne die geringste Zärtlichkeit anzuwenden.«
Jetzt endlich führte Genki seine Zigarette zum Munde. Kazu gab ihm Feuer. Er
nahm einen Zug, brach das ema jäh ab und begann schlüpfrige Geschichten
zu erzählen.
Genkis Sekretär kam herein und sagte, der nächste Besuch sei bereits da. Kazu
nahm ihre Stola und stand auf. Die Worte, auf die sie die ganze Zeit gewartet
hatte, kamen bis zuletzt nicht über Genkis Lippen.
Aber Genki liebte es, der Abschiedszeremonie eine gefühlvolle Note zu
verleihen. Er genoß die Illusion, Menschen für sich gewinnen zu können. Deshalb
wandte er sich Kazu noch einmal zu und rief ihr nach-. »He, Kazu, ich hoffe doch,
du wirst mich zu deiner Hochzeit einladen?«

Am . Mai heirateten Noguchi und Kazu.

50
Nach dem Bankett

Das sogenannte »Neue Leben«

Noguchi und Kazu waren nicht darauf vorbereitet gewesen, daß die Öffentlichkeit
ein so großes Interesse an ihrer Heirat bekunden würde. Zum erstenmal erlebte
Kazu den Ansturm der Fotografen verschiedener Zeitungen und Zeitschriften.
Noguchi war erstaunt, daß er in der Öffentlichkeit noch nicht gänzlich in
Vergessenheit geraten war. Auf ihrer Hochzeitsreise wohnten sie im Gamagori-
Hotel. Sie besuchten auch den Yaotomi-Schrein auf der kleinen Benten-Insel.
Als Kazu, wie üblich, eine großzügige Summe in den Opferkasten werfen wollte,
untersagte Noguchi es ihr in strengem Ton, mit der Begründung, es sei unfein,
sich so zu benehmen. Seine knappe Zurechtweisung klang so kalt, daß Kazus
Herz erstarrte.
Als sie wieder in Tokio waren, begann das komplizierte Eheleben der beiden.
Jeden Morgen führte Kazu lange Telefongespräche mit Noguchi, aber stets war sie
in Sorge und Unruhe. Deshalb entschloß sie sich, jenes gebildete Dienstmädchen
zu entlassen und Noguchi dafür zwei Mädchen und einen Hausjungen – alle drei
treu ergebene Angestellte vom Setsugoan – zur Verfügung zu stellen. Gelegentlich
rief sie diese drei zum Setsugoan und ließ sich über Noguchis Leben berichten.
Jeden Samstagabend kehrte Kazu mit Bergen von Sachen und Geschenken
beladen in ihr ›Heim‹ zurück. Es dauerte nicht lange, da quoll Noguchis Haushalt
über von Getränken und Eßwaren. Kazus Heimkehr vollzog sich immer sehr
geräuschvoll: Sie rieb ihren Rücken, stöhnte über die anstrengende Woche, die
sie hinter sich hatte, und klagte über die Mühen, ihre Kunden zufriedenzustellen.
Dann sah sie sich in dem muffigen, völlig reizlosen Zimmer um und erklärte:
»Ach, zu Hause ist es doch am schönsten! Man atmet wirklich auf, wenn man
hierher zurückkommt!«
Es war kein gelinder Schock für Kazu, als sie hörte, daß ihre Reisegefährten
bösartige Gerüchte über sie verbreiteten, obgleich sie damals alle dem Beispiel des
Achtzigjährigen gefolgt waren und die beiden mit Glückwünschen überschüttet
hatten. Sie behaupteten unter anderem, bereits auf der Reise nach Nara habe
sich Kazu, ohne Rücksicht auf die anderen, wie eine Ehefrau benommen; sie
habe nur vor Noguchi Achtung gezeigt und die anderen vernachlässigt; sie
habe dem Achtzigjährigen freche Antworten gegeben, und auch die Einladung
ins Setsugoan, die angeblich ein ›Gegengeschenk‹ sein sollte, habe nur dem
Zweck gedient, die Heirat bekanntzugeben – und das hätte doch wahrhaftig
nicht unbedingt im Setsugoan geschehen müssen! Kurz: Man war sich einig, daß

51
Yukio Mishima

Noguchi zu bemitleiden sei. Als diese Gerüchte an ihre Ohren drangen, erinnerte
sie sich daran, daß der Direktor der Zeitung sie damals nach der Bekanntgabe
in die Schulter gekniffen hatte; und es war ihr, als hätte der kleine Schmerz, der
sie damals mit Heiterkeit und Freude erfüllt hatte, einen blauen Fleck auf ihrer
Schulter hinterlassen. Sie tastete unter ihrem Kimono nach der Stelle und rieb
sie wütend.
Als sie Noguchi von diesen Gerüchten erzählte, brauste er auf. Er habe sie,
Kazu, auf diese Reise mitgenommen und habe seinen Freunden von ihrer Heirat
erzählt, weil er volles Vertrauen zu ihnen habe. Wenn sie ihm solche Gerüchte
hinterbringe, müsse er annehmen, daß sie ihn seinen Freunden entfremden
wolle. Da erkannte Kazu zum erstenmal, daß dem edlen Herzen ihres Gatten die
Kraft der Einsicht fehlte.
In einer Wochenzeitschrift erschien ein spöttischer Artikel über Noguchi.
Darin wurde behauptet, Noguchis Übertritt zur radikalen Partei sei ein letzten
Endes erfolgloser Reklamegag gewesen, desgleichen die kürzlich erfolgte
Heirat mit Kazu. Kazu staunte über die spitzfindige Gehässigkeit der Leute,
zwei so verschiedene Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. Aber
Noguchi meinte, es sei das Beste, solche Verleumdungen zu ignorieren. Er blieb,
wenigstens äußerlich, kühl und gelassen.
Kazus Leben erfuhr durch die Heirat keine grundlegende Veränderung. In
ihrem Zimmer im Setsugoan stand eine Fotografie von der Hochzeitsreise, und
sie ging manchmal, wenn keine Gäste zu bewirten waren, hinein und betrachtete
das Bild. Die Aufnahme zeigte Noguchi und Kazu auf einer Tempeltreppe
im Süden der Benten-Insel. Sie hatten extra einen Fotografen aus dem Hotel
mitgenommen, um sich aufnehmen zu lassen.
Die Fotografie war kaum einen Monat alt, aber trotzdem wirkten die Gestalten
auf dem Bild, als hätten sie sich bereits vor langer Zeit für künftige Betrachter
in Positur gestellt. Mit einer gewissen Koketterie dachte sie an den Augenblick
zurück. Als ihr dies bewußt wurde, fühlte sie sich von ihrem eigenen rastlosen
Herzen abgestoßen; aber je mehr sie sich wehrte, daran zu denken, desto klarer
und deutlicher wurde das Bild der Erinnerung.
Sie waren damals vom Yaotomi-Schrein aus noch weitergegangen, und plötzlich
hatte sich vor ihren Augen eine unter den hellen Strahlen der vorsommerlichen
Sonne liegende Landschaft aufgetan, die bisher von Bäumen versperrt gewesen
war. Kazu, die in gedrückter Stimmung war wegen des Opfergeldes, hatte das wie
eine Erlösung empfunden.
»Ah! Was für ein zauberhafter Blick! Sieh nur! Ist das nicht wundervoll?«
»Hier wollen wir ein Bild aufnehmen lassen«, hatte Noguchi sogleich
geantwortet. Der Fotograf stand unsicher auf den Wurzeln einer Kiefer neben

52
Nach dem Bankett

den Steinstufen und machte seine Kamera für die Aufnahme fertig. Das Ehepaar
stand auf den Stufen und blickte aufs Meer hinaus. Vor ihren Augen lag die
Oshima-Insel. Das Meer, das im Westen durch die Halbinsel Nishiura und im
Osten durch den Berg Kobo von Miya eingefaßt war, glitzerte friedlich. In der
Ferne, in Dunst gehüllt, schienen die Halbinseln Atsumi und Chita ineinander
überzugehen und die Wasserfläche eher zu einem See als zu einem Teil des
Ozeans werden zu lassen. Die unzähligen Fischreusen, die aus dem Wasser
ragten, verstärkten diesen Eindruck noch. Kein Wölkchen, nicht der zarteste
Schleier, war am Himmel zu sehen. Der Tag war, wie ein Augenblick der Ewigkeit,
unversehrt und unveränderlich vor ihnen ausgebreitet.
Der Fotograf war sehr umständlich, und das Ehepaar mußte endlos lange
in derselben Stellung verharren. Kazu bemerkte, daß Noguchi steif wie eine
Standsäule dastand und sich jeden Augenblick der Kamera bewußt war. In
all den Jahren, da die Fotografen hinter ihm hergejagt waren, hatte er es nicht
gelernt, diese angeborene Steifheit abzulegen. Aus Rache für den Verweis, den
er ihr vorhin erteilt hatte, holte Kazu ihre Puderdose hervor und musterte rasch
ihr Gesicht. Dabei ließ sie unbemerkt den Reflex des Spiegels über Noguchis
angespannte Züge gleiten. Als das grelle Licht in seine Augen fiel und ihn für
einen Moment erblinden ließ, zuckte Noguchi zusammen und verlor seine steife
Haltung. Im selben Augenblick hatte der wachsame Fotograf auf den Auslöser
gedrückt.
Aber das war nicht das Bild, das jetzt auf Kazus Tischchen stand. Noguchi
hatte sich die Negative von dem Fotografen geben lassen und alle vernichtet, die
ihm nicht gefielen. Dieses Bild hier zeigte ein Ehepaar in reiferen Jahren, das
gelassen da stand, Kazu ein wenig hinter ihrem Mann, halb verdeckt von seinen
Schultern. Erstaunlicherweise hatte Kazu, obgleich sie eine Frau war, keine
genaue Vorstellung davon, was Glück ist.
Die Heirat hatte kein Opfer von ihr gefordert: Sie war weder an ein fremdes
Haus gefesselt, noch hatte sie unter einer Schwiegermutter oder Schwägerin zu
leiden. Trotzdem empfand sie kein überschäumendes Glücksgefühl über ihre Ehe.
Wohl war sie von stolzer Freude erfüllt, wenn sie und Noguchi, als Mann und
Frau, in der Öffentlichkeit auftraten. Aber wenn sie versuchte, dieser Empfindung
auf den Grund zu gehen, so entdeckte sie, daß sie eng mit jenem düsteren Gefühl
in Verbindung stand, das ihr Herz während der Vermählungszeremonie gestreift
hatte. Während der feierlichen Handlung des wechselseitigen Saketrinkens hatte
sie mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen dagestanden und die ganze
Zeit gedacht: ›Nun bin ich sicher. Nun komme ich in Noguchis Familiengrab.
Endlich habe ich einen Ort des Friedens gefunden.‹
Der herrliche große Park von Setsugoan schwand aus ihrem Gedächtnis,
und an seine Stelle trat der kleine Grabstein einer alten, vornehmen Familie.

53
Yukio Mishima

Daher war es nur zu verständlich, daß sie nach der Hochzeitsreise als erstes
den Wunsch geäußert hatte, sie wolle das Familiengrab von Noguchi besuchen.
Noguchi jedoch, der es haßte, zum Friedhof zu gehen, verschob diesen Besuch
immer wieder unter verschiedenen Vorwänden, bis Kazu ihn schließlich doch an
einem Sonntag während der Regenzeit dazu brachte, sie zum Aoyama-Friedhof
zu führen.
Es war ein unfreundlicher Tag. Dann und wann ging ein Sprühregen nieder
und verlieh dem jungen Grün auf dem Friedhof frischen Glanz. Unter einem
Regenschirm folgten sie dem Gärtner, der ihnen mit Anis-Zweigen, Weihrauch
und einem Wasserkübel beladen voranschritt. »Ob die Verstorbenen friedlich
schlafen können, wenn in der Nähe dauernd Autos vorbeifahren?« meinte Kazu.
»Das Grab unserer Familie liegt zum Glück etwas abseits«, antwortete
Noguchi.
Die Gruft war nicht so groß und prächtig, wie Kazu erwartet hatte. Aber der
graue Grabstein mit dem eingravierten Sippenzeichen zeugte von alter Herkunft
und dem Stolz einer vornehmen Familie. Das war etwas nach Kazus Herzen.
Unter diesem Grabstein ruhten Generationen einer ruhmreichen Familie, deren
Stammbaum keinerlei Makel aufwies. Vor dem Grab kniete Kazu unter dem
Schirm, den Noguchi über sie hielt, und betete ungewöhnlich lange.
Der Weihrauch qualmte in der regenschweren Luft, umfing Kazus Haare
und blieb in ihren Locken hängen. Sein starker Duft machte Kazu schwindeln
vor Glück. Was für eine makellose, stolze Familie! Sie selber hatte zwar keine
Gelegenheit gehabt – nicht einmal am Tage der Hochzeit –, ein lebendes
Mitglied der Familie kennenzulernen; aber in ihrer Vorstellung waren die
Verstorbenen alle von hoher Gesinnung und hatten das Blut der Familie
von jedem verderblichen Einfluß freigehalten. Quälende Armut, Kriecherei,
Lügen, Erbärmlichkeiten – so etwas war undenkbar bei ihnen. Verworrene
Erinnerungen an Gelage in ländlichen Gasthäusern; betrunkene Kunden, die
ihre Hände nach der Brust eines unschuldigen Mädchens ausstreckten; ein von
zu Hause fortgelaufenes junges Ding, das bebend vor Angst einen Nachtzug
besteigt; schmale Hintergassen in der Großstadt; gekaufte Zärtlichkeiten; kleine
Listen, um sich selber zu beschützen; herrische Küsse kaltherziger Männer; mit
Verachtung gemischte Vertraulichkeiten; Rachegelüste gegen einen unbekannten
Widersacher – solche Erlebnisse gab es nicht in dieser Familie. Sicher hatten
Mitglieder dieser Sippe schon in einem französischen Restaurant gespeist oder
irgendeinem Kanarienvogel Futter gegeben, während die blutjunge Kazu noch
die Wäsche einer Herrin wusch.
Jetzt gehörte sie zu derselben Familie, und eines Tages würde sie in derselben
Gruft beigesetzt werden. Was für eine Beruhigung! Und was für ein Betrug an
der Gesellschaft, mit dieser Familie zu verschmelzen, nie mehr von ihr getrennt

54
Nach dem Bankett

werden zu können! Geborgenheit und Betrug wären vollkommen, wenn Kazu


erst einmal hier beerdigt sein würde. Denn trotz allen Erfolges, trotz ihres
Vermögens und ihrer Freigebigkeit hatte sich die Gesellschaft nicht von Kazu
täuschen lassen. Mit Lug und Trug hatte sie ihre Karriere begonnen, und als
letztes würde sie die Ewigkeit selbst betrügen. Das würde der Rosenstrauß sein,
den Kazu der Welt zuwerfen wollte.
Endlich löste Kazu ihre gefalteten Hände, und ihr Blick wanderte über die
Namen der Verstorbenen an der Seite des Grabsteins. Sie fragte Noguchi nach
der zuletzt Verstorbenen: »Noguchi Sadako, August . Wer ist das?«
»Meine erste Frau. Du müßtest doch ihren Namen kennen«, antwortete
Noguchi mit ernstem Gesicht. Er fand es merkwürdig, daß Kazu ihn danach
gefragt hatte.
Darauf bemerkte Kazu, was noch merkwürdiger war: »Ach so, deine Frau
ist auch hier begraben. Daran hatte ich gar nicht gedacht.« Ihre Stimme klang
fröhlich und unbekümmert; es war genau dieselbe hohe, energische Stimme, mit
der sie den Mädchen im Setsugoan Befehle erteilte. Keine Spur von Eifersucht lag
darin. Noguchi mußte wider seinen Willen lächeln.
»Für wen wolltest du eigentlich am Grab beten? Du hast doch niemanden von
ihnen gekannt?«
»Selbstverständlich zu allen deinen Vorfahren«, antwortete Kazu mit
ungetrübtem Lächeln. Vom Friedhof aus fuhren sie in die Stadt, um Einkäufe
zu machen. Kazu war den ganzen Tag sehr glücklich, ja fast übermütig, was
Noguchi überraschte.
Von diesem Tag an wuchs ein lähmendes Gefühl der Geborgenheit in ihr.
Nach und nach fing sie an, ihre Arbeit im Setsugoan zu vernachlässigen. Da
es Sommer war, hatte sie sowieso nur wenig Gäste. Plötzlich empfand sie mit
steigender Unruhe, daß sie alt wurde.
Das Ehepaar ging öfter auf Reisen, um der Hitze in Tokio zu entrinnen. Bei all
diesen Reisen pflegte Kazu ihre Gefühle zu übertreiben. Durch diese Exaltiertheit
erreichte sie aber nur, daß Noguchi sich von ihr zurückzog und sie sich daher
einsam und verlassen fühlte. Man könnte sich fragen, ob sie nicht einen Fehler
beging, indem sie ständig versuchte, Feuer in dem friedlichen Dasein zu
entfachen, das Noguchi so liebte.
In manchem hatte sie Erfolg: Die Hemden, die Noguchi trug, waren jetzt
stets weiß und makellos. Aber die Anschaffung eines neuen Anzugs wurde ihr
energisch verweigert. Noguchi behauptete, die Leute würden über ihn spotten,
wenn er nach seiner Heirat plötzlich in neuen Anzügen erschiene, da sie
wußten, wie gering seine Einnahmen waren. Doch Kazu begriff nicht, was daran
auszusetzen wäre, wenn sie ihrem Gatten einen neuen Anzug kaufte. Noguchi

55
Yukio Mishima

hielt ihr lange Vorträge darüber: »Du lebst in dem Glauben, daß die Menschen
sich freuen, wenn du ihnen Geld gibst. Das ist ein großer Irrtum. Begreifst du
nicht, daß die Leute an deiner Aufrichtigkeit zweifeln müssen, wenn du ihnen
aus irgendeinem belanglosen Grund großzügige Trinkgelder gibst? Meine
Arbeit in der Partei erfordert es, daß ich schlicht und anspruchslos lebe, um das
Vertrauen der Menschen zu erlangen. Bitte, versuch, so rasch wie möglich deine
Parvenü-Manieren aufzugeben.«
Kazu hatte den größten Respekt vor dem Charakter ihres Mannes. Aber sie
sah nicht den Unterschied zwischen seiner Vorstellung von Politik und der
Politik, die sie im Setsugoan hörte und sah. Die Politiker der konservativen Partei,
die im Setsugoan verkehrten, hatten nämlich in Kazus Gehirn die Vorstellung
hinterlassen, daß Politik machen hieße: Sich den Anschein zu geben, als ginge
man zur Toilette, um spurlos verschwinden zu können. Oder: Mit jemandem
eine Absprache zu treffen, indem man ihm das Messer auf die Brust setzt,
während man sich am selben Ofen wie er wärmt. Oder- Zu lachen, obwohl man
innerlich wütend ist. Oder: Sich empört zu stellen, obgleich man ganz gelassen
ist. Oder: Lange schweigend dazusitzen und mit dem Staub in den Taschen zu
spielen . . . Kurz: Dinge zu tun, die eigentlich nur eine Geisha machte. Die Politik
hatte, ebenso wie eine Liebesaffäre, etwas erregend Geheimnisvolles; Politik und
Liebesverhältnisse glichen einander wie ein Ei dem anderen. Aber Noguchis
Vorstellung von Politik ermangelte jeder Romantik.
Zwar vernachlässigte Kazu neuerdings ihre Pflichten im Setsugoan, aber
deshalb schloß sie sich keineswegs im Hause ein, um für ihren Mann zu kochen
und geduldig auf seine Rückkehr zu warten. Das lag nicht in ihrer Natur. Vielmehr
ertappte sie sich öfter dabei, daß sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen
sollte. Eines Tages fiel ihr auf, daß die Kunden, die mit der konservativen Partei
in Verbindung standen, dem Setsugoan immer häufiger fernblieben. Einer von
ihnen hatte ihr schon geradeheraus gesagt: »Ich rate Ihnen, Ihren Gatten zu
überreden, aus der radikalen Reformpartei auszutreten und wieder zu unserer
Partei zurückzukehren. Wir würden unseren ehemaligen Senior-Staatsmann
mit Freuden willkommen heißen. Außerdem würde es uns dann leichter fallen,
hierherzukommen. Glauben Sie nicht, daß Sie Ihren Mann dazu bewegen
könnten, wenn Sie wollten?«
Es war recht respektlos, so über Noguchi zu sprechen. Kazu, die schweigend
zugehört hatte, biß sich auf die Lippen. ›Es ist meine Schuld, daß ein Mann,
der früher Minister war, jetzt wie ein Gastwirt behandelt wird‹, dachte sie
bitter und glaubte, die Demütigung dadurch auslöschen zu können, daß sie
Noguchis Ehre wiederherstellte. Sie wandte sich dem einflußreichen Gast zu
und erklärte: »Ich verbitte mir solche Reden. Haben Sie die Freundlichkeit, nicht
wiederzukommen.«

56
Nach dem Bankett

Geschäftliche Mißerfolge – sei es aus Liebe oder Stolz – hatte Kazu bisher
noch nie zu verzeichnen gehabt. Jetzt wurde sie von Tag zu Tag verwundbarer.
Sie war hochmütiger geworden, und fast schien es ihr, als habe sich ihr Stolz
unter dem Einfluß Noguchis verdoppelt.
Eines Tages im Spätherbst, als Kazu wie üblich das Wochenende in Noguchis
Haus verbrachte, sprang sie plötzlich auf und rief Noguchi vom Fenster aus zu:
»Sieh nur! Dort fliegt ein Kranich!«
Noguchi kümmerte sich nicht darum. Als Kazu aber weiterhin aufgeregt auf
ihn einredete, stand er schließlich widerwillig auf und blickte aus dem Fenster. Es
war kein Kranich zu sehen. »Dummes Zeug« sagte er. »Als ob ein Kranich mitten
über Tokio hinwegflöge!«
»Aber ich habe ihn wirklich gesehen – er hatte einen roten Kamm. Es schien
sogar, als wolle er sich auf dem Dach unseres Nachbarn niederlassen; aber dann
flog er doch weiter.«
»Du hast anscheinend den Verstand verloren.«
Daraufhin gab es einen Streit, und Kazu hatte keine Gelegenheit mehr,
scherzhaft zu bekennen: »Ich habe dich nur angeführt.« Ein Teil der Schuld
lag bei ihr, da sie ihre Rolle bei diesem kindlichen Scherz allzu ernsthaft und
übertrieben gespielt hatte.
Erst durch diese Begebenheit lernte Kazu eine Schwäche ihres Charakters
kennen: sie konnte nicht leben, ohne fortwährend von etwas hingerissen zu
sein. All ihre Bemühungen, etwas Abwechslung in das tägliche Leben zu bringen,
wurden von ihrem Gatten zunichte gemacht. Noguchi hielt hartnäckig an
seinem bisherigen ruhigen Leben fest. Trotzdem änderte sich Kazus Liebe zu
ihrem Manne keineswegs. Manchmal an einem Wochenende wurde Noguchi
erstaunlich gesprächig. Dann erzählte er ihr in seiner humorlosen Art von
Büchern aus fremden Ländern, oder er hielt ihr einen Vortrag über Sozialismus.

57
Yukio Mishima

Wichtige Gäste

Es war offenkundig, daß Noguchi diese Heirat als die letzte Station seines Lebens
betrachtete und daß Kazu ihrerseits das Gefühl hatte, endlich ihr Grab gefunden
zu haben. Doch Menschen können nicht in einem Grab leben.
Während der Wochentage ließ Kazu sich im Setsugoan von dem ihr ergebenen
Hausjungen haargenau über Noguchis Leben und Treiben berichten; und sie war
immer wieder erstaunt, wie ereignislos sein Leben verlief. Trotz vorgeschrittenen
Alters widmete er sich noch immer mit großer Hingabe seinen Studien.
»Gestern«, erzählte der Hausjunge, »arbeitete der Herr von drei Uhr
nachmittags bis zum Zubettgehen in der Bibliothek. Sogar das Abendessen hat
er dort eingenommen.«
»Wenn er so weitermacht und sich keine Bewegung verschafft, wird er noch
krank, fürchte ich. Ich werde nächsten Sonnabend mit dem Herrn sprechen.«
Kazu hatte ein starkes Vorurteil gegen alles Intellektuelle. Es war in ihren
Augen eine gefährliche Trägheit, der ein vielversprechender, fähiger Mann leicht
verfallen konnte. Obgleich Kazu zu dem Hausjungen gesagt hatte, sie werde mit
dem Herrn sprechen, wußte sie genau, daß Noguchi ein Mann war, der ihren
Warnungen nie sein Ohr leihen würde. Und das erfüllte sie sogar mit einer
gewissen Genugtuung.
Zu dieser Zeit ereignete sich im Setsugoan ein kleiner Zwischenfall: es wurde
eingebrochen.
In der Nacht war heller Mondschein gewesen, und der Einbrecher hatte sich
wahrscheinlich unter den Bäumen im Garten versteckt gehalten, um abzuwarten
bis alle schliefen. Die riesigen Stechpalmen auf der Anhöhe waren ein ideales
Versteck. Der Dieb hatte sich offenbar in den Garten geschlichen, als alle im
Hause mit der Bewirtung der Gäste beschäftigt waren und der Eingang daher
unbewacht geblieben war, Dann mußte er einige Stunden still abgewartet haben.
Sicher hatte er nicht einmal gewagt, eine Zigarette zu rauchen, weil er befürchtete,
der Rauch könne ihn verraten. Man fand nur ein paar Kaugummireste; das ließ
darauf schließen, daß der Dieb noch jung war.
Er hatte es anscheinend zuerst auf Kazus Zimmer abgesehen, war aber,
nachdem er das Fenster ein wenig aufgeschoben hatte, doch nicht eingestiegen,
so daß Kazu nichts hörte und ruhig weiterschlief. In ihrem Wandschrank stand
unter anderem auch die Geldkassette. Aber wahrscheinlich hatte der Dieb in der

58
Nach dem Bankett

Frau, die in einem so kleinen Zimmer schlief, nicht die Besitzerin des Gasthauses
vermutet.
Anschließend war er in das Schlafzimmer der fünf Dienstmädchen geschlichen.
Als seine Schuhe aber dort auf etwas Weiches traten und lautes Geschrei ertönte,
flüchtete er, ohne etwas gestohlen zu haben.
Die Polizei kam noch in der Nacht und verursachte ein großes Durcheinander.
Danach konnte Kazu keinen Schlaf mehr finden und blieb bis zu ihrem täglichen
Morgenspaziergang wach. Die Strahlen der Morgensonne fielen durch die Bäume
auf die Wurzeln einer Stechpalme, und Kazu sah dort etwas Weißes aufleuchten,
das wie ein Gebiß aussah.
Sie war noch ganz benommen und beunruhigt von dem Gedanken, daß der
Dieb zuerst vor ihrem Schlafzimmer gelauert hatte. Währenddessen hatte sie
geschlafen und von nichts etwas geahnt! Als sie jetzt daran zurückdachte, fühlte
sie zugleich Erleichterung, Angst und eine leichte Unzufriedenheit. Kazu fühlte,
wie die herbstlich-kühle Morgenluft durch die Kimonoärmel bis zum Ansatz
ihrer Brüste drang. Da kam ihr der Verdacht, daß der Eindringling vielleicht
ihren schlafenden Körper berührt, dann aber seine Absichten geändert hatte.
Nein, das war nicht möglich! Es war dunkel gewesen, und das Fenster hatte nur
ein paar Zentimeter offengestanden: er konnte unmöglich ihren Körper berührt
haben.
Während Kazu durch den Garten schritt und den Herbstwind auf ihrer Haut
spürte, kam ihr unwillkürlich der Gedanke, daß ihr Körper bald verblühen
könnte. Da sie außerordentlich empfindlich gegen Hitze war, pflegte sie sich oft
in Gegenwart der Mädchen oder anderer Vertrauter bis zur Brust, ja bis zu den
Schenkeln entblößt vor den Ventilator zu setzen, um sich abzukühlen. Sie tat dies
ohne jede Scheu, weil sie sich der Schönheit ihres Teints bewußt war. ›Aber wie
wird es im nächsten Sommer sein?‹ dachte sie schaudernd. Denn sie hatte den
Eindruck, als sei ihr Körper durch die Ehe schlaffer geworden.
Gedankenverloren senkte sie den Blick. Dabei bemerkte sie zwischen den
Wurzeln der Stechpalme zwei, drei zahnähnliche Gebilde. Sie bückte sich,
um genauer hinzusehen. Es waren Kaugummireste, die sorgfältig zu Kugeln
geknetet waren. Von den Gästen und Angestellten des Setsugoan kaute niemand
Kaugummi. Und die Kinder aus der Nachbarschaft konnten den Garten nicht
betreten.
›Die können nur von dem Dieb stammen‹, schoß es Kazu durch den Kopf.
Und sie dachte weniger an die Unsauberkeit der Gummikügelchen als an die
Einsamkeit des Mannes, der sich hier stundenlang versteckt gehalten hatte.
Sie spürte sogar eine kindliche Rührung mit seiner Einsamkeit. Sie konnte
sich seine jungen, ungeduldig kauenden, kräftigen Zähne vorstellen, die den
Kaugummi zerbissen hatten. Er hatte die Stunden zerkaut, hatte die schwerfällige

59
Yukio Mishima

gummiartige Gesellschaft zerkaut, die ihn nicht einließ, und auch die Angst, die
in ihm saß. Und das war hier geschehen, im malerischen Mondschein, der durch
die Blätter der Stechpalmen drang!
Solchen Träumereien hatte der Dieb es zu verdanken, daß er für Kazu zu
einem lieben, unbekannten Freund wurde. Mochte der junge Mann, der sich hier
bei Mondschein versteckt hatte, auch entsetzlich schmutzig gewesen sein, für
Kazu wurde er zu einem Wesen, dem nahezu Flügel gewachsen waren.
›Warum hat er mich nicht geweckt? Wenn er in Nöten war, hätte ich ihm Geld
gegeben, so viel er wollte. Er hätte es mir nur zu sagen brauchen.‹ Kazu hatte
den Eindruck, der junge Dieb gehöre zum Kreis ihrer nächsten Bekannten. Diese
Vorstellung war für die Gattin eines Noguchi Yuken etwas völlig Neues.
Sie wollte den Gärtner rufen, unterließ es aber und beschloß, niemandem
etwas von dem Kaugummi zu sagen, da er als Beweismittel dienen könnte. Sie
bohrte mit den Fingern ein kleines Loch neben die Wurzeln und bedeckte die
Reste des Kaugummis sorgfältig mit Moos.

Den Anruf bei ihrem Mann schob sie noch etwas hinaus. Sie wollte warten, bis
er aufgewacht war, und ihm dann über den Vorfall berichten. Sie erzählte ihm
kurz, was geschehen war, und fügte hinzu: »Du kannst dir gar nicht vorstellen,
wie höflich und zuvorkommend die Polizisten waren. Früher hätte man sich
kaum solche Mühe gegeben, wenn ein Dieb hier eingebrochen hätte. Das haben
sie nur deinetwegen getan.« Davon war Kazu zwar selber nicht ganz überzeugt,
aber jedenfalls wünschte sie, es wäre wahr. Dabei war es durchaus zweifelhaft, zu
wem ein Polizist höflicher sein würde: zu der Inhaberin eines Gasthauses, in dem
Mitglieder der konservativen Partei verkehrten, oder zu der Frau eines Beraters
der Reformpartei.
Noguchi reagierte recht kühl und gelassen auf ihren Bericht über den
Einbruch. Er benahm sich wie ein Botschafter, dem ein junger Sekretär berichtet,
daß er in einen Autounfall verwickelt worden sei. »Das kommt davon, wenn man
die Türen nicht zuschließt!« waren seine ersten Worte. Kazu, die gehofft hatte,
er werde vor allem darüber erleichtert sein, daß ihr nichts geschehen war, fühlte
sich enttäuscht. Noguchi betrachtete diesen Einbruch offensichtlich als ihre rein
private Angelegenheit.
Diese sachliche Haltung war aus Noguchis Sicht durchaus berechtigt; aber
Kazu empfand sie als ungewöhnlich kalt. Sie spürte zwei Reaktionen: Einmal
fühlte sie sich in ihrem Stolz verletzt, weil Noguchi ihr, die sie das Gasthaus Jahre
hindurch aus eigener Kraft geleitet hatte, Vorwürfe wegen der unverschlossenen
Türen machte, und zum zweiten fürchtete sie, daß er die rätselhafte Erregung,
die seit der Nacht von ihr Besitz ergriffen hatte, erkannt haben könnte. Aber im

60
Nach dem Bankett

nächsten Moment schob sie die Schuld an ihrer Verärgerung dem Telefon zu;
denn sie hatte oft wahrgenommen, daß Noguchi am Telefon absichtlich einen
unpersönlichen Ton anschlug, während er im persönlichen Gespräch stets
liebenswürdig blieb.
›Es ist nicht gut, wenn ein Ehepaar nur durch das Telefon miteinander redet‹,
dachte sie. ›Aber das geschieht ja eigentlich nur meinetwegen.‹
Kazu hörte nur noch mit halbem Ohr auf Noguchis Zurechtweisungen
und versuchte, sich nicht aufzuregen. Sie betrachtete ihre gesunden rosigen
Fingernägel mit den deutlich sichtbaren weißen Halbmonden und entdeckte,
daß über die Nägel des Zeige- und Mittelfingers wolkenartige waagerechte weiße
Striche liefen. ›Das ist ein Zeichen, daß ich viele Kimonos bekommen werde‹,
sagte sie sich; und auf einmal kam es ihr so vor, als habe sie bereits viel zu viele
Kimonos. Eine Trostlosigkeit ohnegleichen überfiel sie; ihr war, als löse sich ihr
Körper plötzlich auf.
Sie hielt den Telefonhörer immer noch am Ohr und ließ ihre Blicke
umherschweifen. Morgensonne flutete in die offenen Zimmer, in denen die
Mädchen emsig saubermachten; das Flechtwerk der neuen Binsenmatten hob
sich deutlich im frühen Sonnenlicht ab; gerade tanzte ein Staubwedel über die
durchbrochene Schnitzerei des Querbalkens. Überall in den sonnigen Räumen
und Gängen bückten sich junge Mädchen, richteten sich wieder auf, schritten
mit wohlgerundeten, festen Hüften einher, waren ständig in Bewegung.
»Hörst du überhaupt zu,« Noguchis Stimme klang ziemlich scharf.
»Ja.«
»Ich habe dir auch etwas mitzuteilen: Gerade habe ich erfahren, daß heute
abend zwei wichtige Besucher kommen. Du mußt sie bewirten.«
»Kommen sie hierher?«
»Nein, zu mir nach Haus. Laß ein Menü anrichten und komm damit hierher.
Du mußt sie empfangen.«
»Aber . . .« Kazu begann, eine Reihe wichtiger Gäste aufzuzählen, die am
Abend ins Setsugoan kommen würden. Sie wollte ihm damit zu verstehen geben,
daß es ihr nicht möglich sei, das Gasthaus zu verlassen.
»Wenn ich dir sage, du mußt nach Hause kommen, dann tu es bitte.«
»Wer sind denn eigentlich diese wichtigen Gäste?«
»Das kann ich dir jetzt nicht sagen.«
Kazu ärgerte sich maßlos über diese Geheimnistuerei. »Du kannst es nicht?
Deiner eigenen Frau kannst du nicht sagen, wer deine Gäste sind? Das ist
wirklich unerhört!«
Noguchi antwortete mit erschreckender Kälte: »Also, du hast mich verstanden!

61
Yukio Mishima

Sei um fünf Uhr mit dem Abendessen zu Hause. Ich dulde keinen Widerspruch.«
Mit diesen Worten legte er den Hörer auf.
Kazu zog sich in ihr Zimmer zurück, um ihre Wut abklingen zu lassen. Dann
fiel ihr ein, daß Noguchi die Vereinbarung, sich nur am Wochenende zu sehen,
bisher noch nie gebrochen hatte. Es mußte sich also tatsächlich um sehr wichtige
Gäste handeln.
Kazu streckte den Arm aus, um das kleine Fenster etwas hochzuschieben,
dasselbe Fenster, an dem die Polizei nachts nach Fingerabdrücken gesucht hatte.
Die kleinen gelben Chrysanthemen draußen waren von den Polizisten oder
von dem Dieb niedergetreten worden; einige lagen im weichen Sand wie eine
Einlegearbeit. Ihre Umrisse zeichneten sich deutlich und klar wie ein gesticktes
Wappen ab. Nur vereinzelte Blütenblätter waren aufgerichtet.
Kazu fühlte sich bleiern müde und legte sich auf die Matten vor dem Fenster.
Ihr Blick war vor Zorn und Müdigkeit trüb. Durch den Spalt des offenen Fensters
sah sie den Morgenhimmel fern und klar strahlen. Die Tränen in ihren Augen
zeichneten kleine Wellen auf den Himmel. Sie dachte: ›Ich will keinen Kimono
mehr haben. Ich wünsche mir etwas ganz anderes.‹ Mit diesem Gedanken schlief
sie ein.

Gegen abend fuhr Kazu doch in ›ihr Haus‹. Sie ließ sich bei den Kunden, die sich
im Setsugoan angemeldet hatten, damit entschuldigen, daß sie Fieber habe und
nach Hause gegangen sei. Sie befahl einem der Mädchen, sie zu begleiten und
die vielen Lackkästchen zu tragen, in denen sich das Menü befand. Es bestand
aus einem Horsd’œuvre – Archenmuscheln, Ginkonüssen, süßen Lilienwurzeln
und Steingarnelen –, Suppe mit Reisklößchen und Rapsblüten, einem Gericht
aus rohen Fischen, Pilzen und Flußkrebsen, einer Eierspeise, Kastanien und
verschiedenen Gemüsen.
Als Kazu nach Hause kam, war Noguchi wider Erwarten guter Laune, und
er erzählte ihr die Einzelheiten, die er ihr am Telefon nicht hatte sagen wollen.
Er erwartete den Sekretär und den Geschäftsführer der Reformpartei, und er
wußte auch, daß sie mit einem bestimmten Anliegen kamen. Da er sich aber
entschlossen hatte, ihre Bitte abzulehnen, wollte er sein Bedauern dadurch zum
Ausdruck bringen, daß er sie besonders zuvorkommend bewirtete. Das war alles.
Die Vorsicht, die Noguchi hatte walten lassen, als er sich weigerte, am Telefon
darüber zu sprechen, führte Kazu zum erstenmal deutlich vor Augen, in welch
exponierter Stellung sie sich durch die politische Tätigkeit ihres Mannes befand.
Es war bereits dunkel, als die Gäste am Tor von Noguchis Haus klopften. Die
Gesichter des Sekretärs Kimura und des Geschäftsführers Kurosawa waren
jedem durch politische Karikaturen bekannt. Kazu war beiden überdies bereits

62
Nach dem Bankett

bei ihrer Hochzeit begegnet. Kimura sah aus wie ein gütiger, gebrechlicher
Pfarrer, und Kurosawa wirkte wie ein Bergarbeiter.
Kazu war so sehr daran gewöhnt, nur mit Politikern der konservativen Partei
zu verkehren, daß es sie überraschte, als auch die Politiker der Reformpartei sie
höflich begrüßten und das Haus erst nach dem üblichen Zeremoniell betraten.
Irgendwie erschien es ihr wie eine Heuchelei, wie eine bewußte Täuschung.
Ganz besonders verwirrend fand sie Kimuras sanftes Lächeln. Seine Erscheinung
und seine Art zu sprechen erinnerten sie an einen reglosen Laubbaum im
Sonnenschein, der ein, zwei Blätter fallen läßt, wenn ein sanfter Windhauch
seine Zweige berührt.
Die beiden Gäste begegneten Noguchi mit der Achtung, die dem Älteren
gebührt. Sie lehnten es erst ab, den Ehrenplatz einzunehmen; aber schließlich
ließ Kimura sich doch dazu überreden.
Kazu sah, daß alle drei Männer eine pergamentähnliche trockene Haut
hatten. Das mochte daran liegen, daß sie seit zu langer Zeit keine wirkliche
Macht mehr in Händen gehabt hatten. Ihre Haut ähnelte der Haut eines Mannes,
der lange keine Frau berührt hatte. In ihrer höflichen Begrüßung und ihrem
sanften Lächeln lag ein Anflug von aufgezwungener Askese. Kimuras Art – das
Gebaren eines alten Professors – und Kurosawas betonte Einfachheit schienen in
derselben asketischen Lebensauffassung zu wurzeln.
Kimura lobte das Essen, was Kazu für einen Mangel an gesellschaftlichen
Umgangsformen hielt. Noguchi wurde etwas nervös, und die Verlegenheit
stand ihm im Gesicht, da er wußte, daß dieses Essen gar nicht der Kochkunst
seiner Frau zu verdanken war. Kurosawa hingegen kaute schweigend, aber mit
sichtlichem Appetit.
»Ich habe bestimmt keine Zugkraft mehr«, sagte Noguchi. »Es ist eine Illusion,
wenn ihr glaubt, ich sei ein erfolgversprechender Kandidat. Man hat mich längst
vergessen.«
Die Wirkung des Alkohols auf Noguchi nahm mit jedem Kelch Sake zu und
zeigte sich in der ständigen Wiederholung solcher herausfordernden Reden.
Kimura und Kurosawa zogen jedesmal, wenn Noguchi derartige Äußerungen
machte, verlegene Gesichter.
Kazu schenkte den Gästen Sake ein, wie ihr Noguchi befohlen hatte. Nur
ganz allmählich begriff sie, daß er nur ihretwegen seine Behauptung alle fünf
Minuten wiederholte. Sie war über ihre eigene Begriffsstutzigkeit entsetzt. Sie
hatte doch bereits bei der ersten Begegnung Noguchis altmodische, eigensinnige
Schüchternheit bemerkt. Vor seiner eigenen Frau, in Gegenwart anderer Leute,
politischen Ehrgeiz zu entwickeln, war für ihn wahrscheinlich das gleiche, als
wenn er vor den anderen sinnliche Begierden gezeigt hätte.

63
Yukio Mishima

Unauffällig verließ sie ihren Platz, ging in ihr Zimmer und rief das Mädchen zu
sich, um ihr Anweisungen zu geben. Nachdem es gegangen war, wußte sie nichts
mehr mit sich anzufangen. Sie langweilte sich und begann aufzuräumen. In einer
Schublade ihres Zimmers bewahrte sie Noguchis persönliche Schmuckstücke
auf: drei kleine Schächtelchen mit alten ausländischen Manschettenknöpfen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, kippte sie den Inhalt auf ein kleines Tischchen
und betrachtete die Knöpfe. Ein besonders schönes Paar aus purem Gold zeigte
das Wappen eines europäischen Königshauses, andere waren mit Edelsteinen
besetzt, ein reingoldenes war wie eine Chrysantheme geformt – offenbar das
Geschenk einer japanischen Prinzenfamilie –, wieder ein anderes Paar trug ein
in Elfenbein geschnitztes Bildnis des Schiwa. Vermutlich waren alle Stücke dieser
seltenen Sammlung Geschenke.
Sie verglich die vor ihr liegenden Knöpfe mit Muscheln, die man im Sommer
am Strand sammelt und als Erinnerung an das Meer mit nach Hause nimmt.
Noguchis Handgelenke, denen diese Knöpfe zur Zierde dienen sollten, waren
jetzt welk, vertrocknet und braungefleckt, aber die Muscheln bewahrten den
Widerschein der Abendröte längst vergangener Zeiten. Kazu schnellte die
Knöpfe wie Murmeln gegeneinander und lauschte auf das kalte Klicken beim
Zusammenprall. Dann überlegte sie, ob man die Knöpfe nicht als Schachfiguren
gebrauchen könne, und wählte als König das Paar mit dem Einhornwappen
des europäischen Königshauses. Die Knöpfe mit dem kaiserlichen
Chrysanthemenwappen sollten die Dame sein. Aber das schien ihr dann doch
nicht ganz in Ordnung, und so beschloß sie, das Chrysanthemenwappen
zum König zu machen . . . ›Sicher wird er ihren Vorschlag annehmen‹, dachte
Kazu. Sie verließ sich ganz auf ihre Intuition. Plötzlich fühlte sie sich freudig
erregt, da sie den Augenblick nicht mehr fern glaubte, in dem die trennende
Wand, die zwischen ihr und Noguchis Intellekt – seiner Bibliothek – stand,
zusammenstürzen werde. Und zweifellos würde dann der Tag kommen, an dem
sich herausstellte, daß ihr Leben noch nicht zu Ende war.
›Sicher wird er annehmen!‹ jetzt war sie schon überzeugt davon. Vom Gang
her hörte sie den ungewohnten Klang von Noguchis Lachen, das sich mit dem
seiner Gäste mischte. Kazu stand auf, schob die Tür ein wenig zur Seite und
sah zu ihnen hinüber. Aus dem Gästezimmer fiel Licht auf den Gang, und sie
lauschte dem lustlosen Lachen – es hörte sich fast an wie Husten –, das in Wellen
zu ihr herüberklang.

Eine Stunde später verließen die Gäste das Haus. Kazu hatte vorsorglich einen
Mietwagen bestellt. Noguchi verabschiedete sich an der Haustür von seinen
Gästen, und Kazu brachte sie bis zum Tor. Es war ziemlich heftiger Wind
aufgekommen, und hinter den Wolken, die über den Himmel jagten, stand klein

64
Nach dem Bankett

und glänzend der Mond – wie eine Reißzwecke an der Wand.


Im trüben Licht der Torlampe wirkte Kimuras Gesicht mausartig und erstarrt.
Nur um seinen Mund herum lag ein seltsam weicher Zug.
Kazu ergriff den Ärmel seines Anzugs und zog Kimura zur Wand. »In meinem
Restaurant verkehren zwar nur Konservative. Aber ich hoffe, daß Sie mir
trotzdem Vertrauen schenken«, rannte sie.
»Selbstverständlich, gnädige Frau.«
»Dann sagen Sie mir bitte, ob mein Mann bereit ist, sich der Wahl zu stellen.«
»Sie wissen Bescheid? Das erstaunt mich. Es ist uns leider nicht gelungen,
heute schon eine Antwort zu erhalten. Aber Ihr Mann hat uns versprochen, uns
in einigen Tagen Bescheid zu geben.«
Kazu drückte mit einer mädchenhaften Geste ihre gefalteten Hände an die
Brust. Die Gedanken, die ihr den ganzen Abend durch den Kopf gegangen waren,
wurden zu einem festumrissenen Plan. »Ich bitte Sie, versuchen Sie, meinen
Mann dazu zu überreden! Was die Finanzierung anbetrifft . . . Verzeihen Sie mir,
daß ich es erwähne: aber darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich
verspreche Ihnen, daß der Reformpartei keine Unkosten entstehen sollen.«
Kimura setzte zu einer Erwiderung an, aber Kazu, die es immer ausgezeichnet
verstand, ihren Gesprächspartnern das Wort abzuschneiden, sagte: »Aber
meinem Mann dürfen Sie davon kein Wort sagen. Es muß völlig geheim
bleiben. Das ist die einzige Bedingung, unter der ich die volle Verantwortung
übernehme.«
Sie hatte dies alles in fliegender Hast hervorgestoßen und begann nun plötzlich,
den Gästen mit heller, lauter Stimme die üblichen Abschiedsworte zuzurufen.
»Oh, meine Herren, haben Sie niemanden, der Ihnen die Aktentasche trägt?
Wollen Sie denn die schweren Taschen auf den Schoß nehmen? Das tut mir aber
leid!« Damit schob sie die beiden zum Wagen.
Noguchi, der an der Haustür stand, hörte nur diese letzten Worte und warf
seiner Frau vor, etwas Unpassendes gesagt zu haben.

65
Yukio Mishima

Das wirklich »Neue Leben«

Von nun an kam jeden Montag ein Mann namens Yamazaki Soichi zu Noguchi
und hielt ihm einen zweistündigen Vortrag über Fragen der Verwaltung Tokios.
Noguchi hörte wie ein gewissenhafter Schüler zu und schrieb alles sorgfältig mit
einem Füllfederhalter, den er vor zwanzig Jahren gekauft hatte, in ein Heft ein.
Die ganze Woche wiederholte er dann eifrig das Gehörte, tat aber sonst nichts.
Yamazaki, ein rotgesichtiger Mann und Schützling des Ausschußvorsitzenden
Kusakari, war Noguchi beigeordnet worden, weil er ein meisterhafter
Wahlkampfstratege war. Er selber hatte keinerlei Interesse an öffentlichen
Ämtern; er war einer der zutiefst enttäuschten ehemaligen Kommunisten und
hatte sich als ein scharfsinniger Pragmatiker entpuppt, der sich um keine eorie
kümmerte.
Seit Beginn der Besuche Yamazakis machte Kazu es sich zur Regel, auch
montags freizunehmen; sie dehnte ihr Wochenende einfach einen Tag länger aus.
Als sie Yamazaki das erste Mal sah, wußte sie, daß sie in ihm den Mann gefunden
hatte, der ihr – ohne je an Liebe zu denken – ein beständiger Freund sein würde.
Er war ein Mann von überströmender Lebenskraft und menschlicher Wärme;
in gewisser Hinsicht ähnelte er Nagayama Genki. Er war der erste Mann dieses
Typs, den Kazu in der Reformpartei kennenlernte.
Yamazaki hatte merkwürdigerweise die gleiche warme, menschliche Art wie
einige Konservative, die Kazu aus dem Setsugoan kannte. Bei ihm entsprang
sie jedoch politischer Hoffnungslosigkeit, während sie bei den Konservativen
Ausdruck eines unerschütterlichen Optimismus war. Kazu erkannte intuitiv, daß
dies für einen Politiker unerläßlich war. Rasch freundete sie sich mit Yamazaki
an.
Durch einen Telefonanruf Nagayama Genkis im Setsugoan erfuhr Kazu, daß
ihr Mann sich entschlossen hatte, als Wahlkandidat aufzutreten. Lachend platzte
Genki heraus: »Was für ein idiotischer Entschluß! Wie kam dein Mann denn
auf diese Schnapsidee?« Kazu wußte sofort, daß er damit Noguchis Kandidatur
meinte. Zugleich verletzte es sie, daß die Neuigkeit dem alten, anmaßenden
politischen Rivalen bereits zu Ohren gekommen war, während ihr Mann ihr,
seiner Ehefrau, noch nichts gesagt hatte. Kazu tat, als wisse sie nicht, was
Genki meine, spielte ihre Rolle aber absichtlich schlecht. Sogar ihre Freude
und ihren Stolz über den Entschluß ihres Mannes verbarg sie unter der Maske
geheuchelter Unwissenheit. Dadurch gelang es ihr sogar, die Enttäuschung über

66
Nach dem Bankett

die gleichgültige Haltung ihres Mannes geschickt zu überwinden. »Was hat er


denn getan? Wenn Sie etwa andeuten wollen, daß er irgendwie leichtsinnig war,
dann schweigen Sie lieber. Denn für solche Dinge habe ich kein Ohr.«
Nagayama ging auf ihre Bemerkung gar nicht ein; er teilte ihr nur das
Notwendige mit. Das war sonst gar nicht Genkis Art und ließ eine Änderung
in seiner Haltung erkennen. »Jedenfalls ist sein Entschluß idiotisch, Damit ist
seine politische Karriere endgültig ruiniert. Was beabsichtigst du denn nun
zu unternehmen? Als seine Frau solltest du alles versuchen, um ihn davon
abzubringen. Verstehst du mich? Das sage ich dir als dein langjähriger Freund.«
Damit hängte er ein.
An einem der folgenden Tage stattete der Vorsitzende der Reformpartei,
Kusakari, Noguchi einen Besuch ab. Auch der Parteisekretär kam einige
Male zu ihm. Kazu, die währenddessen im Setsugoan war, erhielt durch ihren
Vertrauensmann, den Hausjungen, genaue Berichte, wer zu Besuch kam, wann er
kam, wann er das Haus verlassen hatte, was er von Noguchi gewollt und wie der
Hausherr darauf reagiert hatte.
Drei Tage nach Genkis Telefonanruf erschien die Nachricht von Noguchi
Yukens Kandidatur in der Zeitung.
Es war bezeichnend für Noguchi, daß er Kazu am Abend des Tages, an dem
die Nachricht veröffentlicht worden war, zu sich nach Hause beschied. Als er
allein mit ihr im Wohnzimmer saß, teilte er ihr seinen Entschluß mit, als ob er ihr
damit ein streng gehütetes Geheimnis eröffne. Er schien es für selbstverständlich
zu halten, daß seine Frau keine Zeitung las, ebenso wie er davon überzeugt war,
daß Kazu keine Hunde leiden könnte, obgleich auch dies nicht stimmte. Und er
zweifelte auch keinen Augenblick daran, daß Kazu gern gegorene Soyabohnen aß,
obwohl sie diese Speise verabscheute. Offenbar gab er sich auch der Illusion hin,
daß seine Frau kein Interesse für Politik habe.
Kazu tat, als höre sie diese wichtige Neuigkeit, die er mit altmodischer,
samuraihafter Umständlichkeit verkündete, zum erstenmal. Mutig antwortete
sie entgegen Genkis Rat: »Jetzt, da du angenommen hast, hoffe ich, daß du dich
auch rückhaltlos für die Sache einsetzt.«
Seit dem Anruf Genkis war sie die Gefangene ihrer Träume. Die Flamme
ihrer Lebenskraft war neu entfacht. Sie glaubte, daß die Kämpfe und die Zeit der
verwegenen Taten nun erst beginnen würden.
An einem ungewöhnlich warmen Wintertag besuchte Kazu ein Klavierkonzert,
das die Tochter eines Industriellen, eines Kunden vom Setsugoan, in einem Saal
auf der Ginza gab. Aus dem Fenster im fünften Stock beobachtete sie, wie sich
die Dämmerung über die Dächer der Ginza senkte. Der ungewohnte Anblick
erfüllte sie mit einem Gefühl der Verbundenheit, das sie bisher nie für diese

67
Yukio Mishima

Stadt empfunden hatte. Hier und dort flammten bereits bunte Lichtreklamen auf.
Auf einem Bauplatz in der Ferne ragten Stahlgerüste und ein schräger Kran in
den blauen Abendhimmel, und kleine flimmernde Lichtpunkte huschten umher,
so daß es aussah wie ein geheimnisvoller Hafen mitten auf dem Festland. Ein
weißer und ein roter Werbeballon, die auf dem Dache des gegenüberliegenden
Hochhauses verankert gewesen waren, stiegen schaukelnd wieder in den
Abendhimmel auf und zogen lange Wimpel mit Neonreklamen hinter sich her.
Von ihrem hochgelegenen Fensterplatz aus beobachtete Kazu Menschen, die
sich in gleicher Höhe befanden wie sie: zwei Mädchen in roten Mänteln stiegen
auf der Hinterseite eines Hochhauses die Nottreppe empor; eine Frau, die ihr
Kind auf dem Rücken trug, stand auf einer Holzterrasse hinter dem Reklameschild
eines Geschäftes und nahm ein weißes Hemd von der Leine; drei Köche mit
weißen Mützen traten auf einen Dachgarten und steckten sich Zigaretten an; in
den Büros hinter den Fenstern im vierten Stock des neuen Gebäudes gegenüber
war keine Menschenseele zu sehen, aber plötzlich flitzten die Beine eines jungen
Mädchens mit roten Söckchen über den grünen Teppich. Alle Bewegungen dieser
Menschen waren sonderbar lautlos . . . Selbst der Rauch aus den Schornsteinen
stieg lautlos und kerzengerade in den windstillen Himmel.
›Ich werde mich in das Herz jedes einzelnen Menschen hineinbohren‹,
dachte Kazu, trunken von ihren eigenen Wunschträumen. ›Wie wunderbar
wäre es, wenn ich sie alle dazu bringen könnte, den Namen von Noguchi
Yuken auf den Wahlzettel zu setzen. Ach, könnte ich doch alle diese Menschen
von hier aus erreichen! Ich weiß, jeder einzelne ist mit sich selber beschäftigt
– mit Liebesaffären, mit Geldsorgen, mit dem Gedanken, was er essen soll, mit
Verabredungen . . . ihre Herzen sind voll davon. Aber es muß mir gelingen, ihnen
den Namen Noguchi Yuken tief im Herzen einzuprägen. Ich bin bereit, alles
dafür zu tun. Was kümmert mich mein Ruf in der Gesellschaft? Was kümmern
mich Gesetze? Affe meine prominenten Gäste im Setsugoan haben sich nicht
darum gekümmert, und sie hatten Erfolg.‹
Ihre Brust schien den enggeschnürten Obi sprengen zu wollen, und ihre Augen
bekamen einen trunkenen Ausdruck. Sie hatte das Gefühl, als werde ihr heißer
Körper groß und größer und hülle allmählich die ganze riesige Hauptstadt ein.

In Noguchis Schlafzimmer, einem altmodischen japanischen Zehnmattenraum,


stand seit der Hochzeit ein Doppelbett. Es stand auf einem alten Perserteppich.
Wenn Kazu, die gewohnt war, am Boden zu schlafen, auf dem Rücken in diesem
Bett lag, erschien ihr die Decke merkwürdig nahe, und die Wände wirkten
geradezu bedrückend auf sie.
Noguchi schlief meist sehr schnell ein. Dann schaltete Kazu ihre
Nachttischlampe wieder an, nicht um ein Buch oder eine Zeitschrift zu lesen,

68
Nach dem Bankett

sondern um unverwandt auf irgendeinen Gegenstand zu starren und dadurch


den Schlaf herbeizuzwingen. Oft blickte sie auf die halbmondförmigen Griffe
der Schiebetür mit den eingravierten vier Herrenblumen, die man oft auch auf
dem Stichblatt eines Degens findet: der Pflaumenblüte, der Chrysantheme, der
Orchidee und der Bambusblüte. Der Griff mit d er Orchidee befand sich ganz in
ihrer Nähe, und in dem gedämpften Licht der Nachttischlampe stand die dunkel
gewordene Metallblume dauernd vor ihren wachen Augen.
Da der Gasofen zur Nacht abgedreht wurde, wich auch bald die Wärme aus
dem Schlafzimmer. Während einer solchen Nacht mußte Noguchi den Entschluß
gefaßt haben, sich der Wahl zu stellen. Aber seine Frau hatte nichts davon
gemerkt. Sein Benehmen war unverändert gewesen; er hatte sich ihr gegenüber
vor der Nominierung ebenso gelassen gezeigt wie während seiner Überlegungen
und nach dem Entschluß zur Annahme. Dabei hatte es sicher auch ihm Qualen
bereitet, die richtige Entscheidung zu treffen; er mußte manches Mal nervös
gewesen sein und seinen Entschluß verworfen haben, um dann wieder zu
seiner ursprünglichen Meinung zurückzukehren – aber seiner Frau gegenüber
hatte er sich nichts anmerken lassen. Alles war wie sonst gewesen: das Husten
vor dem Einschlafen, seine halben Zärtlichkeiten und seine ungeschickten
Annäherungsversuche, dann die übliche Resignation, und schließlich hatte
er sich zusammengerollt wie eine schlummernde Larve, um einzuschlafen,
Noguchis Bett erweckte stets den Eindruck eines Bahnsteigs, über den der Wind
fegt. Trotzdem schlief er schneller ein als Kazu.
Kazus Lager hingegen, der andere Teil des Doppelbettes, schien voller Glut.
Nicht die Sinnlichkeit, sondern ihre Phantasie ließ Kazus Körper erglühen.
Manchmal streckte sie verlangend die Hand aus, um das kalte Metall der
dunklen Orchidee zu berühren. Das feine Relief der Gravur fühlte sich unter
ihren streichelnden Fingerspitzen wie ein kleines, starres, böses Gesicht an.
›Ja‹, dachte sie. ›Morgen ist Montag. Morgen muß ich mit Yamazaki sprechen
und meine Tätigkeit beginnen.‹

Dienstag nachmittag um drei Uhr traf sie sich heimlich mit Yamazaki im
Teeraum des Shiseido auf der Ginza.
Yamazaki beschrieb diese Zusammenkunft in seinem später veröffentlichten
Buch Erinnerungen an die Wahl folgendermaßen: »Ich hatte bereits öfter
Gelegenheit gehabt, Noguchis Haus zu besuchen, und war angenehm
beeindruckt gewesen von dem offenen und lebhaften Charakter seiner Gattin.
Aber als ich Frau Noguchi zum erstenmal außerhalb ihres Hauses allein traf und
die Treppe zum Teeraum des Shiseido heraufkommen sah, erschien mir diese
sonst so lebensvolle, energische Frau wie ein erschreckend einsamer Mensch. Es
ist mir eigentlich unerklärlich, warum diese Frau, deren Kopf voller Pläne für den

69
Yukio Mishima

Wahlkampf ihres Mannes steckte, einen so verlassenen Eindruck machte. Als


sie zu sprechen begann – wir sprachen über nichts anderes als über die Wahl –,
kehrte ihre gewohnte leidenschaftliche Beredsamkeit zurück, und ich war wieder
vollkommen überwältigt.«
Kazu hatte sich alles in ihrem Notizbüchlein notiert, wonach sie Yamazaki
fragen wollte; sie schoß ihre Fragen wie Pfeile ab. Bis zur Wahl waren noch etwa
sechs bis zehn Monate Zeit, je nachdem, wann der jetzige Gouverneur sein Amt
niederlegen würde. Während dieser Zeit wollte Kazu eine Art Vor-Wahlkampf
starten, obgleich das gesetzlich verboten war. Selbstverständlich mußte diese
Aktion auch vor Noguchi geheimgehalten werden. Sie hatte zu diesem Zweck eine
bestimmte Summe Geldes bereitgestellt, sollte diese jedoch nicht ausreichen, so
war sie entschlossen, eine Hypothek auf Setsugoan aufzunehmen. Von Yamazaki
erbat sie insbesondere konkrete Vorschläge, wie sie einen wirkungsvollen
Vorwahlkampf führen konnte, ohne in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten.
Yamazaki gab ihr klare Instruktionen. »Als erstes sollten Sie sich Visitenkarten
drucken lassen – in Großformat –, auf denen der Name Ihres Gatten steht.«
»Gut, das werde ich tun. Würden Sie so freundlich sein und auf dem Heimweg
mit mir bei der Druckerei vorbeigehen?« fragte Kazu atemlos.
»Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was für ein kolossales
Unternehmen die Wahl des Gouverneurs von Tokio ist? Nehmen wir einmal
an, Sie wollten an allen Telegrafenpfählen der Stadt je zwei Wahlplakate
anbringen. Es gibt in Tokio ungefähr hundertfünfzig- bis hundertsechzigtausend
Telegrafenpfähle; das heißt: man brauchte dreihunderttausend Plakate. Ein Plakat
kostet etwa drei Yen, das wären also neunhunderttausend Yen, das Aufkleben
wird pro Stück einen Yen kosten – dann wären es also insgesamt rund eine
Million zweihunderttausend Yen. Eine Summe, mit der man bereits eine kleine
Wahl finanzieren könnte.« Yamazaki war immer sogleich mit genauen Zahlen bei
der Hand, was ungemein überzeugend auf die Leute wirkte.
Kazu saß Yamazaki gegenüber und sprach, unbekümmert um die Menschen
an den anderen Tischen, mit so lauter Stimme über den geplanten Vorwahlkampf
und die Gesetzeslücken, daß Yamazaki sich unruhig umblickte. Er witterte Gefahr
und stellte Kazu eine Gegenbedingung: Er würde, was den Wahlfonds und Kazus
Tätigkeit beträfe, Noguchi gegenüber Schweigen bewahren; dafür solle sie ihm
versprechen, jeden einzelnen Schritt, den sie zu unternehmen beabsichtige,
zuvor mit ihm zu besprechen. Kazu erklärte sich damit einverstanden.
»Wie bin ich froh, daß wir so frei und offen miteinander sprechen konnten«,
meinte Kazu vergnügt und legte die Hand auf ihren Obi. »Man kann nämlich
sagen, was man will, aber mein Mann hat keine Ahnung von der japanischen
Volksseele. Er liest ausländische Bücher, sitzt ewig in seiner Bibliothek und ist
der geborene feine Herr, aber die Gefühle seiner eigenen Magd kann er nicht

70
Nach dem Bankett

verstehen. Es ist doch bei euch Intellektuellen immer so, daß ihr nur mit euren
Köpfen versteht, nicht wahr? Ich dagegen kann leicht in der Seele der breiten
Masse lesen und ihre Herzen erobern. Ich bin sogar schon mal mit Fischknödeln
hausieren gegangen, als es mir schlecht ging. Sie, Herr Yamazaki, sind sicher
noch nie in Ihrem Leben herumgelaufen, um Fischknödel zu verkaufen.«
Yamazaki lächelte betreten, »Logische Argumente haben nun einmal nur einen
begrenzten Wirkungskreis, das wissen wir, Um die Stimmen der fünf Millionen
Wahlberechtigten zu gewinnen, müssen wir an die Gefühle appellieren, was
Sie, gnädige Frau, zweifellos verstehen. Ihre Mitarbeit wird für uns von großem
Nutzen sein.«
»Sie wollen mir doch nicht etwa dumme Komplimente machen, Herr
Yamazaki!« sagte sie mit einem koketten Unterton in der Stimme und schnellte
mit einer eleganten Bewegung den weiten Kimonoärmel über ihr Handgelenk.
Aber im nächsten Augenblick fuhr sie sachlich fort: »Über die Parteilinie und
alles andere können wir uns später Gedanken machen. Das wichtigste ist jetzt
erst einmal das Geld für die Wahl und der richtige Instinkt. Mit diesen beiden
Waffen werde ich kämpfen. Ich bin zwar nur eine ungebildete Frau, aber ich
habe genug Begeisterung in mir, um fünf Millionen Menschen mitzureißen, und
behalte sogar noch etwas übrig.«
»Ich verstehe vollkommen, gnädige Frau, und hoffe, daß Sie diese Begeisterung
rücksichtslos einsetzen.«
Kazu war angetan von Yamazakis Verhalten, dieser etwas verlegenen
Großzügigkeit eines reifen Mannes gegenüber einer Frau. »Bitte, setzen Sie mich
ein, soviel es geht. Es lohnt sich, eine Frau wie mich auszunutzen.« Mit diesen
Worten schien Kazu das ema abschließen zu wollen.
Yamazaki trank seinen Kaffee und aß ein großes Stück Torte, ohne einen
Krümel zurückzulassen. Der Anblick des Mannes mit dem sorgfältig gebundenen
Schlips, der mit rotem Gesicht ein großes Stück Kuchen aß, beruhigte Kazu.
Sie äußerte den Wunsch, Yamazaki ihre Lebensgeschichte erzählen zu dürfen.
Beinahe eine geschlagene Stunde erzählte sie ihm von dem Kummer und den
vielen Schwierigkeiten, die sie ihr Leben lang hatte durchmachen müssen. Diese
Ehrlichkeit sollte sich lohnen, denn später stellte es sich heraus, daß Yamazaki
ihr aus diesem Grund mit einer Treue zur Seite stand, wie er es sonst wohl nicht
getan hätte.
Kazus Ehrlichkeit und Offenheit artete vor Männern, die sie nicht liebte,
leicht zu Exhibitionismus aus. Sie bemühte sich geradezu, die Illusionen ihrer
Mitmenschen zu zerstören; dabei war aber kaum anzunehmen, daß irgend
jemand sich Illusionen über Kazu machte. Von ihrer üppigen Schönheit ging
eine plebejische Wärme aus, und man merkte ihr nicht die Spur einer Schwäche

71
Yukio Mishima

an. So juwelengeschmückt und elegant gekleidet sie auch sein mochte, immer
haftete ihr der Geruch von schwarzer Erde und ländlicher Herkunft an. Aber
gerade ihre körperliche Fülle bewahrte sie davor, daß man ihre Geschwätzigkeit
als störend empfand, im Gegenteil, sie stand ihr gut zu Gesicht.
Yamazaki war ein ausgezeichneter Zuhörer. Während Kazu ihm von sich
erzählte, hatte sie den Eindruck, daß ihre Worte nicht durch sein Gesicht
hindurchgingen wie durch ein Sieb, sondern sich tief und fest in seinen fleischigen,
stets lächelnden Zügen festsetzten. »Bitte, seien Sie ganz offen zu mir«, bat sie;
denn bereits jetzt, nach der kurzen Zeit, die sie verheiratet war, verspürte sie ein
Verlangen nach Aufrichtigkeit.

Noguchi wußte von nichts. Und so blieb es, da er nie den Versuch machte, etwas
zu erfahren, was sich nicht direkt vor seinen Augen und Ohren abspielte. Durch
diese vornehme Gleichgültigkeit – es war die Haltung eines Grand Seigneurs
oder eines hohen Beamten – konnte Kazu ihre Tätigkeit ohne sonderliche
Anstrengung vor Noguchi geheimhalten. Außerdem war sie ja fünf Tage in der
Woche im Setsugoan.
Während dieser Tage widmete sie sich allmählich jedoch keineswegs nur dem
Setsugoan, sondern sie fuhr immer öfter mit ihrem Wagen umher und traf sich
immer häufiger mit Yamazaki. Es geschah nicht selten, daß Yamazaki plötzlich
mitten in der Nacht durch einen Telefonanruf aus dem Schlaf gerissen wurde,
weil Kazu gerade eine neue Idee hatte.
Was Noguchi betraf, so hörte er sich nach wie vor jede Woche brav die
Vorlesungen von Yamazaki an, tat aber sonst nichts. Man war übereingekommen,
daß alle politischen Fragen, sowie Probleme des Wahlfonds und des
Wahlpersonals durch Yamazaki bearbeitet werden sollten. Dadurch war er in der
Lage, Noguchi auf allen Gebieten Ratschläge zu erteilen. Noguchi, der sich stets
streng an das Gesetz hielt, beabsichtigte, bis zum Tage der Wahlausschreibung
nichts zu unternehmen. Den Funktionären der radikalen Reformpartei war es
jedoch wohl bekannt, daß Kazu und Yamazaki sich heimlich trafen. Sie ließen
Yamazaki wissen, daß er Kazu ruhig machen lassen solle, was sie wolle, wenn
sie nur nicht über die Stränge schlüge. Noch nie hatte die Reformpartei einen
so mächtigen Gönner gehabt, einen Gönner, der viel Geld und Enthusiasmus
besaß und überdies noch eine Frau war. Wenn Noguchi hin und wieder von
Tätigkeiten hörte, die einem Vorwahlkampf ähnelten, nahm er natürlich an, daß
diese Aktionen von seiner Partei finanziert würden. Er hatte sein halbes Leben
lang von Geldern gelebt, die aus dem Staatsbudget stammten, so daß er die
Vorstellung hatte, ›öffentliche Gelder‹ seien etwas Unerschöpfliches.

72
Nach dem Bankett

Die Visitenkarten waren bald fertig. Kazu verteilte sie in Zigarettenläden und
an Serviermädchen in Restaurants. Eines Tages, als sie mit Yamazaki im Wagen
fuhr, befahl sie dem Chauffeur, vor einer großen, bekannten Bäckerei zu halten.
Sie ging in den Laden, gefolgt von Yamazaki, und kaufte für dreitausend Yen
Marmeladenrollen. Es war viel zu viel, um es allein tragen zu können. Plötzlich
sah Yamazaki, der die Tüten mit beiden Armen umklammerte, wie Kazu eine der
riesigen Visitenkarten zückte und sie der Besitzerin der Bäckerei mit den Worten
überreichte: »Gestatten Sie, dies ist die Karte meines Mannes. Bitte, vergessen
Sie uns nicht.« Yamazaki war bestürzt.
Als sie wieder im Wagen saßen, sagte er: »Ich war eben sehr erstaunt, gnädige
Frau. Wissen Sie denn nicht, daß der Besitzer der Bäckerei zur konservativen
Partei gehört und Mitglied des Stadtrates ist?«
»Nicht möglich! Davon hatte ich keine Ahnung. Nun, los dann hat es jedenfalls
die Wirkung gehabt, den Feind etwas einzuschüchtern.«
»Was wollen Sie mit diesem Haufen Marmeladenrollen anfangen?«
»Wir bringen sie zu einem Waisenhaus im Koto-Bezirk.«
»Waisenkinder haben kein Wahlrecht.«
»Aber die sentimentalen Erwachsenen um sie herum.«
Widerspruchslos begleitete Yamazaki sie zum Waisenhaus, wo er wiederum
mit ansehen mußte, wie Kazu an alle möglichen Leute ihre Visitenkarten in
Riesenformat überreichte.

Kazu wurde zu einer stadtbekannten Persönlichkeit. Bei allen erdenklichen


festlichen Anlässen, bei Wahlen von Schönheitsköniginnen, bei öffentlichen
Versammlungen, kurz: überall, wo viele Menschen zusammenkamen, war auch
sie. Sie machte Spenden. Sie verteilte Visitenkarten. Sie sang Lieder, wenn sie
darum gebeten wurde. Sie erschien sogar bei einer Hausfrauenversammlung in
einer Schürze und gewann damit die Herzen dieser einfachen Leute, die viel zu
schwerfällig waren, ihren Trick zu durchschauen.
Kazu kritisierte oft, daß sich die Reformpartei nur an die Intellektuellen
wandte. Wenn sie hörte, daß die Partei im Koto-Bezirk und im ländlichen
Santama wenig Anhänger habe, dann wuchs die Überzeugung in ihr, daß die
Herzen, die dort schlugen, nur von ihr, Kazu, erobert werden konnten. »Haben
Sie keine Beziehungen zum Santama-Bezirk?« fragte sie Yamazaki häufig.
Eines Tages im Spätfrühling teilte Yamazaki ihr folgendes mit: »Ich habe gehört,
daß bei Ome im Santama-Bezirk der Grundstein für ein Gefallenendenkmal
gelegt worden ist. Nun will man noch, zur Erinnerung daran, ein großes Fest im
Park feiern, mit Volksliedern und Volkstänzen. Die Tanzlehrerin, die übrigens

73
Yukio Mishima

aus Ihrer Heimat stammt, möchte Sie gern dazu einladen.«


»Diese Gelegenheit kommt ja wie gerufen! Soll ich wieder eine Schürze
umbinden?«
»Ich weiß nicht recht, ob Volkslieder und Küchenschürze zusammenpassen.
Aber ich werde mich erkundigen.«
Alles, was Kazu tat – die Teilnahme an den verschiedenen Veranstaltungen,
ihre großzügigen Geldspenden – beruhte auf kalter Berechnung. Auch die Güte
und Herzlichkeit, mit der sie den Menschen begegnete, diente nur dem einen
Zweck: sich ihre Stimmen zu sichern, um die Wahl zu gewinnen. Das allein war
ihre Absicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ihr aufopfernder Enthusiasmus
ganz natürlich bei einigen Leuten tiefe Rührung hervorrufen würde, und sie
machte sich insgeheim darüber lustig, als sie es merkte. Aber als andere ihr
Verhalten kritisierten und ihr vorwarfen, sie habe keinen Funken echten Gefühls
in sich und mache alles nur aus Berechnung, wurde sie bitterböse und regte sich
darüber auf, daß man ihr so zweifelhafte Beweggründe unterstelle. In diesem
einen Punkt war Kazus Psyche erstaunlich kompliziert.
Eines hatte selbst sie nicht vorausgeahnt: daß ihre leicht durchschaubare Taktik,
das Volk für ihre Zwecke auszunutzen, merkwürdigerweise dazu führte, daß die
Masse sie liebte. Was nur aus Berechnung geschah, wurde vom Volk als eine Art
Ehrlichkeit, als eine ganz natürliche Bauernschläue ausgelegt. Was immer auch
ihre Beweggründe sein mochten – durch ihre Hingabe und Inbrunst gewann sie
das Volk für sich. Kazus offene Kriegslisten, ihre rücksichtslose Art, die Leute zu
betrügen, die schamlosen, ständigen Wiederholungen ihrer Tricks – also gerade
ihre Schwächen – ließen die einfachen Leute alle Wachsamkeit vergessen. Je
mehr Kazu versuchte, die Leute für sich auszunutzen, desto mehr wurde sie von
ihnen geliebt. Mochte man auch schlecht über sie reden, aber überall, wo sie
gewesen war, ließ sie wachsende Beliebtheit zurück. Als sie beschloß, in einer
Schürze zu der Hausfrauenversammlung im Koto-Bezirk zu gehen, hatte sie das
Gefühl gehabt, eine vornehme Dame zu sein, die sich maskiert unter das gemeine
Volk mischt. Aber die Augen der Leute sahen schärfer: die Schürze stand Kazu
besser als alles andere!

An einem strahlenden Nachmittag im Spätfrühling fuhren Kazu und Yamazaki


nach Ome. Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden. »Glauben Sie, daß eine Spende
von hunderttausend Yen für das Gefallenendenkmal hoch genug sein wird?«
fragte sie Yamazaki während der Fahrt und deutete auf ein Päckchen, das, in
festes Reispapier eingewickelt, in ihrem Schoß lag.
»Ist es nicht zu viel?«
»Das Denkmal soll ja nicht nur für die Hinterbliebenen von Ome, sondern des

74
Nach dem Bankett

gesamten Bezirks von Santama errichtet werden. Es könnte vielleicht zu wenig


sein, aber niemals zu viel.«
»Es ist Ihr Geld. Und Sie können natürlich damit machen, was Sie wollen.«
»Was soll denn nun wieder diese kühle Bemerkung. Mein Geld ist letzten
Endes ja auch das Geld unserer Partei.«
Vor einer solchen Loyalität blieb Yamazaki nichts anderes übrig, als seinen
Hut zu ziehen. Aber gelegentlich ließ er in letzter Zeit auch ein paar wenig
ehrerbietige, ja ironische Bemerkungen fallen.
»Wenn Sie vor dem Fundament des Gefallenendenkmals stehen, werden Ihre
Tränen sicher wieder in Strömen fließen.«
»Ja, sicher. Und ganz von allein. Nichts beeindruckt die Leute so sehr wie
Natürlichkeit.«
Je näher sie Ome kamen, desto ausgedehnter wurden die Grünflächen am
Straßenrand. Herrliche Ulmenhaine waren hier und da in der Landschaft
verstreut, und das feine Geäst der grazilen Bäume zeichnete sich scharf und
klar gegen das Blau des Himmels ab. Es sah aus, als hätte man Netze vor das
Himmelszelt gespannt.
Es war seit langer Zeit das erste Mal, daß Kazu aufs Land fuhr, und sie genoß die
Fahrt in vollen Zügen. Immer wieder bot sie Yamazaki von den mitgenommenen
Sandwiches an und griff auch selber tüchtig zu. Sie vermißte ihren Mann nicht
einen Augenblick und fühlte sich ohne ihn keineswegs einsam; aber das lag
zweifellos daran, daß ihre heutige Unternehmung nur um seinetwillen geschah.
Sie fühlte sich ihm geistig stärker verbunden, als wenn er bei ihr gewesen wäre.
Aber die geistige Verbundenheit, an die Kazu in letzter Zeit hartnäckig glaubte,
bestand nur noch in ihrer eigenen Phantasie . . .
Ome war eine stille, altertümliche Stadt, die vom Krieg verschont geblieben
war. Kazu ließ den Wagen vor dem Rathaus halten und schritt, umringt von den
Reportern der Lokalzeitungen, die Yamazaki mobil gemacht hatte, zum Zimmer
des Bürgermeisters, wo sie ihre Spende für das Denkmal überreichte. Dann
wurde beschlossen, daß der stellvertretende Bürgermeister und die Tanzlehrerin
aus Kazus Heimat die Gäste zu dem Park begleiten sollten, in dem das Fundament
des Denkmals stand. Sie stiegen alle zusammen in den Wagen und fuhren über
Nebenstraßen durch die Stadt. Schließlich überquerten sie im Norden eine kleine
Überführung und kamen auf eine sanft ansteigende Autostraße, die außerhalb
der Stadt an einem Berghang entlanglief.
Kazu bewunderte das frische Grün der Bäume an der Straße. Sie hatte es sich
angewöhnt, überall wo sie hinkam, die landschaftliche Schönheit der Gegend
zu loben, weil sie es für politisch nützlich hielt. Das Auge eines Politikers mußte
in jeder Landschaft seines Wahldistrikts eine Schönheit entdecken – ja, man

75
Yukio Mishima

mußte in der Tat Politiker sein, um die wahre Schönheit der Natur erkennen zu
können. Der Politiker weiß, daß in jeder Landschaft verlockende, saftige Früchte
heranreifen, die geerntet werden wollen.
Wie zu erwarten war, brach Kazu beim Ausblick von der Bergkuppe in
Entzückensrufe aus. Beim Anblick des Denkmalfundamentes weinte sie ein
wenig und lächelte dann den Frauen des Volksliedervereins zu, die sich um ein
kleines Podium scharten, das man mitten auf dem freien Platz errichtet hatte.
Als sie aber zu einem etwas höher gelegenen luftigen Sommerpavillon geführt
wurde, von dem man einen überwältigenden Rundblick hatte, vergaß sie ihre
Alltagssorgen tatsächlich.
Im Südosten sah man weit hinten in der Landschaft die mächtige, teils
ausgetrocknete Flußschleife des Tama, der hin und wieder durch dunkle
Wälder verdeckt wurde. Dieses großartige Panorama wurde von den
rotstämmigen Kiefern des Parkes umrahmt. Hinter der Stadt, in den Tälern
der gegenüberliegenden Berge, leuchtete das Safrangelb der flauschigen jungen
Blätter auf. Obgleich die Nachmittagssonne noch hell schien, lag Dunst über der
ganzen Gegend. Die Blätterbüschel wirkten in dem diffusen Licht so unordentlich
wie die Haare einer soeben erwachten Frau. Zwischen den Dächern der Stadt sah
Kazu hin und wieder die grellen Farben eines Busses aufleuchten.
»Eine wunderbare Aussicht! Wirklich bezaubernd!«
»Ja«, bestätigte der stellvertretende Bürgermeister. »Sie werden kaum einen
schöneren Blick auf Tokio finden als hier vom Nagayama-Park aus.« Er schob
mit seiner zusammengerollten Landkarte einen der Papierlampions zur Seite,
die anläßlich des Festes an einer zwischen der Dachrinne des Pavillons und den
Kiefernbäumen gespannten Leine aufgehängt worden waren. »Sehen Sie einmal
dort nach Osten: ganz hinten am Horizont ist der Flugstützpunkt Tachikawa.
Von hier, aus der Entfernung, sieht er recht hübsch aus.«
Kazu wandte ihren Blick in diese Richtung. Die Windungen des Tama-Flusses
verloren sich in weiter Ferne, und am Horizont sah man etwas Helles, Glitzerndes,
wie eine Stadt aus Salzkristall. Die weißen Gebilde, die aus der Stadt aufstiegen,
waren startende Flugzeuge. Sie schwebten dicht über der Erde, bis sie schließlich
hinter einem Berg im Süden verschwanden.
Von hier aus hätte man den Flugstützpunkt Tachikawa fast für einen Friedhof
halten können, denn er wirkte wie ausgestorben und so weiß wie ein riesiger
Berg von Mineralien. Darüber spannte sich ein hoher, weiter Himmel, an dem
Wolken verschiedenster Art standen: am Horizont waren sie wie Watteballen,
aber je höher sie stiegen, desto verschwommener wurden ihre Formen, bis
sie schließlich hoch oben am Firmament zu hauchzarten Schleiern zerflossen.
Mitten am Himmel stand eine Wolkengruppe, deren zerrissene obere Ränder
strahlend glitzerten, während im unteren Teil Schatteneffekte wie Skulpturen

76
Nach dem Bankett

anmuteten. Diese Wolken wirkten seltsam unwirklich – wie ein Lichtbild, das
auf den Himmel projiziert wird.
Einen Augenblick lang lag die Landschaft in so wunderbarer Feinheit und
Deutlichkeit vor Kazus Blicken, wie man sie selten sehen konnte. Über den
Zypressenwald vorn zog plötzlich der dunkle Schatten einer Wolke, aber die
Szene am Horizont blieb unverändert – wie erstarrt.
Für Kazu hatte diese Landschaft nichts Lebendiges. Kazu hatte vielmehr
den Eindruck, einer riesenhaften, schönen, anorganischen Erscheinung
gegenüberzustehen. Die Natur hier hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dein
Garten vom Setsugoan, der von Menschen angelegten Miniaturwelt erlesener
Schönheit, die man mit den Händen greifen konnte. Trotzdem erschien es ihr
bereits wie eine politische Tat, diese Landschaft zu betrachten. Besichtigen,
Zusammenfassen und Beherrschen – das war die Aufgabe eines Politikers.
Kazu war nicht dazu fähig, etwas zu analysieren. Aber die Schönheit des
Bildes, das sich ihren Augen sekundenlang bot, schien all die politischen Träume
zu verhöhnen, denen sie sich, leidenschaftlich und oft mit Tränen, hingegeben
hatte, und ihre politische Unfähigkeit hohnlachend andeuten zu wollen.
In diesem Moment riß ein Trommelwirbel Kazu in die Wirklichkeit
zurück. Aus dem Lautsprecher dröhnte ein Volkslied, und der Chor der hier
Versammelten fiel lautstark ein. Erst jetzt bemerkte Kazu die schreienden Farben
der Lampions, die an Schnüren bis in die Wipfel der Ahornbäume hingen, deren
zarte junge Blätter winzige weinrote Spitzen zeigten.
»Kommen Sie, wir wollen zu ihnen gehen und mittanzen!« rief sie Yamazaki zu
und zog ihn an der Hand mit sich fort.
»Das ist aber eine Überraschung, gnädige Frau!« meinte der stellvertretende
Bürgermeister.
Kazus Augen sahen bereits nichts mehr von der Landschaft. Sie ließ sich
von der Tanzlehrerin zu der Gruppe der Volkstänzer führen und stellte sich
mit Yamazaki in den Kreis der singenden und tanzenden Frauen und Mädchen
der Stadt. Alle trugen den gleichen Happi-Überwurf und tanzten den Kisobushi.
Kazus Hände machten automatisch die richtigen Bewegungen, und ihre Füße
fanden wie von selbst die richtigen Tanzschritte.
»Wie ungeschickt Sie sich anstellen!« sagte Kazu zu Yamazaki, der einen
europäischen Anzug trug und dessen Hände und Füße fortwährend in
Verwirrung gerieten. Sie klopfte ihm auf die Schulter und fuhr lachend fort: »Ich
werde mich vor Sie stellen, dann brauchen Sie es mir nur nachzumachen.«
»Sie sind ja ein Genie, gnädige Frau«, rief ihr die Tanzmeisterin zu. »Ich
brauche Ihnen ja gar nichts mehr beizubringen.«
Der stellvertretende Bürgermeister stand außerhalb des Kreises und starrte ein

77
Yukio Mishima

wenig hilflos auf die Tanzenden.


Nach kurzer Zeit standen die beiden städtisch gekleideten Neulinge – sie waren
die einzigen ohne Happi-Überwurf – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Kazu
fühlte sich wie berauscht. Die warme, menschliche Atmosphäre, die Berührung
mit den Körpern der im hellen Sonnenschein tanzenden Frauen, denen die
Schweißtropfen auf der Stirn standen, ließen sie alles um sich vergessen. Sie
gab sich ganz dem Tanz hin und fühlte keine trennende Wand mehr zwischen
sich und den fremden Menschen, in deren Stadt sie zum erstenmal weilte.
Das rasende Trommeln auf der Bühne und der kreischende Gesang auf der
Schallplatte genügten, um Kazu mit den Tanzenden eins werden zu lassen. Bald
rannen nicht nur ihr Schweißperlen die Wangen herunter.
Als der erste Tanz zu Ende war, ging Kazu auf den stellvertretenden
Bürgermeister zu. »Ich bin ja so glücklich«, sagte sie. »Ich möchte Ihnen gern das
Sado Okesa vorsingen. Es steht doch sicher ein Mikrophon auf der Bühne?«
Sie war umringt von bäuerlich aussehenden Frauen, meist mittleren Alters,
denen man ansah, daß sie etwas Geld zur Seite gelegt hatten. Ihre feierlich
geschminkten Gesichter waren jetzt schweißverschmiert, so daß man unter der
Schminke die lederne Haut sah, die durch jahrelange Arbeit im Freien gegerbt
war. Kleine, vor Neugier funkelnde Augen, freundliches, goldzahnblitzendes
Lächeln, krause losgelöste Strähnen – solche Gesichter gaben Kazu ein
grenzenloses Selbstvertrauen.
Der stellvertretende Bürgermeister geleitete Kazu durch die Menge zur Bühne.
Die Treppe war etwas steil, aber kleine Gefahren dieser Art hatten einen gewissen
Reiz für Kazu. Der stellvertretende Bürgermeister rief durch das Mikrophon:
»Liebe Festteilnehmer! Wir haben die Freude, heute die Gattin des berühmten
Staatsmanns der Reformpartei Noguchi Yuken bei unserem Volksliedfest zu
sehen. Sie hat den weiten Weg von Tokio hierher nicht gescheut. Ich möchte
nunmehr Frau Noguchi bitten, uns das Sado Okesa vorzusingen.«
Kazu ging zum Mikrophon und hielt eine kleine Ansprache: »Ich bin die Frau
von Noguchi Yuken. Es hat mir so viel Freude bereitet, zu sehen, wie sehr Sie
alle das heutige Fest genießen, daß ich den Wunsch verspürte, auch etwas dazu
beizutragen. Ich möchte Ihnen ein Lied singen und bitte Sie, danach zu tanzen.«
Kazu klatschte in die Hände, um den jungen Trommlern den Takt anzugeben.
Durch die Menge vor ihr ging ein Murmeln, aber als Kazu zu singen anfing,
wurde es ruhig, und man begann unbefangen zu tanzen.

»Nach Sado, nach Sado neigen sich alle Bäume und Gräser.
Wie schön ist es in Sado, wie lebt man in Sado schön.
Tränen trüben meine Augen, gedenk ich der alten Zeit,
Ob, Bucht der Liebe, in einer Nacht, da der Mond verschleiert war.«

78
Nach dem Bankett

Kazu tanzte und sang, bis die Sonne unterging. Zwischendurch waren einige
Mitglieder des Volksliedervereins zu ihr auf die Bühne gestiegen und hatten ihr
ein Lied beigebracht, das man hier in Santama oft sang.
Als die Dämmerung hereinbrach, wurden alle Lampions, die an den Ästen der
Bäume hingen, zu gleicher Zeit angezündet. Kazu wurde zum drittenmal gebeten,
das Sado Okesa zu singen, und stieg allein wieder auf die Bühne. Die Dunkelheit
der Berge schien nahe herangerückt, seit die Lampions brannten. Als Kazu mit
ihrem Lied fertig war, hallte der Applaus von den Hängen wider – eine Seltenheit
bei solch einem Fest. Yamazaki kam aufgeregt auf die Bühne und flüsterte ihr ins
Ohr: »Sie sind ein großer Erfolg! Die Frauen des Volksliedervereins sagen, sie
wollten Sie heute abend nicht mehr fortlassen. Sie haben wahrhaftig Santama
erobert!«
»Meinen Sie?« Kazus Blick wanderte zu den gegenüberliegenden Bergen,
während sie sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht wischte.
»Sie sind sicher müde.«
»Nein, es ist nicht so schlimm.«
Kazu hatte, während sie sang, am gegenüberliegenden Berghang etwas
bemerkt, was ihre Aufmerksamkeit fesselte: einen leuchtenden Punkt, der
abwechselnd sichtbar wurde und verschwand und sich mit fortschreitender
Dunkelheit zu nähern schien. Eine Flamme konnte man es kaum nennen, dazu
war das Leuchten zu schwach. Es sah eher wie Funken aus, die von Zeit zu Zeit
aufsprühten. Kazu konnte sich nicht erinnern, an der Stelle des Berghangs,
wo jetzt das Feuer aufglühte und wieder verlosch, Häuser gesehen zu haben.
Bei schärferem Hinsehen bemerkte sie, daß Rauch schräg nach oben zum
Bergrücken aufstieg.
»Was ist das für ein Feuer?« fragte Kazu einen jungen Trommler, der seine
Schultern halb entblößt hatte und sich den Schweiß abwischte.
»Das Feuer da? Was mag das sein?« fragte der Trommler seinen Nebenmann.
»Das? Das ist der Schornstein vom Städtischen Krematorium«, antwortete der
keck aussehende Bursche mit dem fleischigen Gesicht unbekümmert.
Gerührt dachte Kazu an Noguchi und seine Familiengruft.

79
Yukio Mishima

Der Streit

Es kamen von Tag zu Tag weniger Gäste ins Setsugoan. Als erster blieb Nagayama
Genki weg. Bei ihrer letzten Begegnung im Setsugoan hatte es zwischen ihnen
Funken gesprüht.
»Du scheinst recht wacher mitzumischen«, hatte Genki grinsend gesagt.
»Was meinen Sie damit, bitte?«
»Die Leute sagen, der wahre Feind stecke woanders.«
»Ihre Bemerkungen werden mir immer rätselhafter.«
»Ich will damit nur sagen, daß du das nicht allein aus Liebe zu deinem Mann
tust.«
»Ach! Und ich dachte, aus Liebe ist eine Frau sogar zu einem Mord fähig.«
»Einen Mord würde ich verzeihen. Aber was du tust, ist schlimmer als Mord.
Du hast unsere Tricks dem Feind verkauft.«
»Wann sollte ich Ihre Geheimnisse verkauft haben?«
»Ich habe nicht von Geheimnissen gesprochen, sondern von Tricks. Du hast
der süßen kleinen Reformpartei raffinierte Tricks beigebracht, die raffinierten
Tricks, die nur wir kannten.«
»Die Tricks, die ich von Ihnen gelernt habe, sind doch kaum der Rede wert.«
»Nun, bei deinem Charakter ist es wohl zwecklos, dir etwas zu verbieten. Tu,
was du nicht lassen kannst. Aber bei Wahldelikten der Reformpartei wird man
kein Auge zudrücken. Sei vorsichtig! Deine Kumpel können dankbar sein, daß sie
bisher nie Geld hatten. Das hat sie vor dem Gefängnis bewahrt.«
»Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Hinweis. Aber vergessen Sie nicht:
falls ich verhaftet werden sollte, habe ich der Staatsanwaltschaft einiges zu
erzählen.«
Genki verfärbte sich und schwieg. Es erschien ihm vermutlich lächerlich, die
Gesellschaft auf der Stelle zu verlassen. Deshalb begann er, den anderen Gästen
eine seiner üblichen, anzüglichen Geschichten zu erzählen, ging aber sehr viel
früher nach Hause als sonst. Während Kazu ihn zur Haustür geleitete, legte
Genki plötzlich seinen Arm um ihre Schultern und tätschelte ihre Brust. Diese
eindeutige Geste führte zum endgültigen Bruch zwischen den beiden.
Am nächsten Tag kam Yamazaki auf Kazus Wunsch zum Setsugoan. Sie

80
Nach dem Bankett

lag, nur mit einem dünnen Unterkimono bekleidet, in ihrem Zimmer und ließ
sich massieren. Verblüfft blieb er beim Anblick ihres grellrosa Untergewandes
stehen. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß ihre lässige Haltung,
die von manchem als Koketterie ausgelegt werden konnte, lediglich einem sich
Gehenlassen entsprang, das sie nur Männern gegenüber zeigte, die sie nicht
liebte. Beim Massieren ihrer Hüften rutschte der rosa Saum etwas nach oben
und entblößte ihre weißen Oberschenkel vor Yamazakis Blicken. Es war fast
unglaublich, daß eine Frau von Mitte Fünfzig noch so glatte, mattschimmernde
Haut besaß. Kazu ließ ihre Schenkel entblößt.
»Was wollten Sie von mir?« fragte Yamazaki. »Bitte, sagen Sie es mir rasch, ehe
ich auf unrechte Gedanken komme.«
»Nichts Besonderes eigentlich. Ich habe Sie nur gerufen, um Sie zu beruhigen.«
Sie stützte mit trägen, vorsichtigen Bewegungen den Oberkörper hoch, wie eine
Frau, die versucht, sich in einem schaukelnden Schiff aufzurichten. »Sie brauchen
sich nämlich keine Sorgen um mich zu machen. Was immer ich auch tue, man
wird mich nicht verhaften.«
»Ach, weshalb denn nicht? Davor fürchtet sich der Vorsitzende des Komitees
nämlich am meisten«, sagte Yamazaki.
»Ich habe ein wenig gedroht, und nun wird mir bestimmt nichts geschehen.«
Ohne Yamazakis Antwort abzuwarten, drehte sie sich. auf die Seite und ließ sich
ihren Arm massieren. »Wir sprachen doch neulich über das Diner, das wir für
die Gewerkschaft geben wollen. Das übernehme ich. Aber Sie müssen mir freie
Hand lassen, was den Preis anbelangt.«
»Da wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß sie alle in
beschränkten Verhältnissen leben.«
»Dreihundert Yen werden sie wohl bezahlen können.«
»Dreihundert Yen?« fragte Yamazaki, erstaunt über den niedrigen Preis.
»Ja, dreihundert Yen. Wir werden noch sehr auf ihre Hilfe angewiesen sein, und
ich würde sie am liebsten gratis bewirten. Aber dadurch würden sie sich sicher zu
verpflichtet fühlen. Das Essen und die Getränke werden selbstverständlich von
bester Qualität sein.«
Im Laufe des weiteren Gespräches erfuhr Kazu noch eine aufschlußreiche
Geschichte, von der Yamazaki annahm, daß Kazu sie längst kannte. Er erzählte,
daß Noguchi einige Monate vor Kriegsende dem Kaiser eine Bittschrift
eingereicht hatte, um Friedensverhandlungen in die Wege zu leiten. Kazu war
hocherfreut über diesen Beweis für Noguchis Weitblick und machte Yamazaki
Vorwürfe, daß er es bisher verschwiegen hatte.
Sie schlug vor, aus dieser Nachricht in einem Pamphlet politischen Nutzen zu
ziehen, aber Yamazaki zögerte, dies ohne Noguchis Wissen zu tun. Andererseits

81
Yukio Mishima

wußte er ganz genau, daß Noguchi niemals seine Einwilligung dazu geben würde.
Und Kazus Entschlossenheit, die Dinge voranzutreiben, ohne Noguchi zu
informieren, schien in letzter Zeit keine Grenzen zu kennen.
Ohne zu zögern, sagte sie: »Meinen Mann brauchen Sie natürlich nicht zu
fragen; denn vorteilhafteres Material werden wir kaum finden. Außerdem tun
wir es ja nur, um ihm zu helfen. Es wäre geradezu sträflich dumm von uns, wenn
wir diese kostbaren Fakten nicht ausnutzten.«
Schließlich ließ Yamazaki sich überreden. Und mehr noch – er mußte auch
seine Einwilligung zu einem phantastischen Plan geben, den Kazu vermutlich
in ihren schlaflosen Nächten ausgebrütet hatte. Sie wollte fünfhunderttausend
Kalender mit Noguchis Fotografie drucken lassen. Sie sollten originell ausgestattet
sein, ungefähr vier Yen pro Stück kosten und an Gewerkschaftsverbände verteilt
werden. Durch den Lehrerverband – so hoffte Kazu – würden die Kalender in
das Elternhaus jedes Schülers gelangen.
Mit großer Ausführlichkeit spann sie ihre Träume vor Yamazaki weiter und
vergaß, wie üblich, die Zeit darüber. Allerorts würden die Kalender hängen: an
Bretterwänden kleiner Betriebe, neben den Nähmaschinen der Schneiderinnen
und sogar in Kinderzimmern. Noguchis Name würde im Familienkreis sogar
am Abendbrottisch genannt werden: »Wer ist eigentlich der Mann auf dem
Kalender?« »Das ist Noguchi Yuken. Kennst du ihn nicht?« Natürlich mußte
er auf der Fotografie ein lächelndes, freundliches Gesicht zeigen. Aber gab es
überhaupt Bilder von Noguchi, auf denen er lächelte? Um seine Lippen müßte
ein vornehmes, weises Lächeln liegen, während er freundlich auf die vielen
kärglich gedeckten Tische blickte und wohlwollend den Essensgeruch erduldete.
Überall sollte ein Kalender hängen: neben Vogelkäfigen, unter alten Uhren,
neben dem Fernsehapparat, in der Küche, über der Tafel, auf der notiert wurde,
was eingekauft werden sollte, neben dem Büfett, wo die Katze schlief – über
all diesen Dingen sollte Noguchis Lächeln schweben. Sein Silberhaar und sein
würdiges Lächeln sollten in den Herzen der Menschen unmerklich den Eindruck
erwecken, er sei der nette, alte Onkel, der ihnen vor Jahren stets Süßigkeiten
mitgebracht und übers Haar gestrichen hatte, wenn er zu Besuch kam. Sein
Lächeln sollte Erinnerungen an alte Zeiten wach werden lassen, in denen die
Menschen noch an Gerechtigkeit glaubten. Sein Name sollte – wie der eines
alten Schiff es, das noch einmal in See sticht – eine Zukunft verbeißen, in der die
elenden, rußgeschwärzten Mauern fallen würden.
»Stellen Sie sich zum Beispiel vor«, schwatzte Kazu weiter, »daß eine Hauskatze
aufsteht und sich streckt und über Noguchis Gesicht auf dem Kalender streicht.
Wenn dann der Hausherr die Katze auf den Arm nimmt und sein Blick auf
Noguchis Bild fällt, wird ihm sein Lächeln nie so lieb und mild erscheinen, wie
in diesem Augenblick.«

82
Nach dem Bankett

Als Yamazaki aufbrechen wollte, flüsterte Kazu ihm noch zu: »Wegen des
Geldes brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich habe eine Hypothek auf
Setsugoan aufgenommen. Morgen werde ich fünfundzwanzig Millionen Yen zur
Verfügung haben.«

Die Gewerkschaft und die Reformpartei hatten zwar Erfahrungen bei kleineren
Wahlen – wenn es etwa um dreihunderttausend Stimmen ging –, aber bei einer
Wahl, an der fünf Millionen Wähler beteiligt waren, wußte man weder ein noch
aus. Man war nicht einmal in der Lage, einen vernünftigen Operationsplan zu
entwerfen. So etwa hatte Yamazaki sich geäußert, und seine Worte erfüllten
Kazu mit noch größerem Selbstvertrauen. Denn nun glaubte sie fest daran, daß
die Wahl eine Aufgabe war, die der Himmel ihr geschickt habe. Sie hatte sich da
auf ein Unternehmen eingelassen, bei dem man sozusagen dauernd ins Leere
hinein manövrierte, einen Feind vor sich, der nicht auszumachen war. Sie hatte
das Gefühl, daß sie einerseits gar nicht eifrig genug und andererseits gar nicht
gelassen genug sein konnte; für beides gab es keinen Maßstab. Nur eines blieb ihr
erspart: die Furcht, des Guten zuviel getan zu haben. In dieser Hinsicht übertraf
sie sogar Yamazaki, den Meister der Wahlkampfstrategie der Reformpartei. Er
wurde allmählich zum Bewunderer der einfallsreichen Methoden, die Kazu bei
allem anwandte.
An einem düsteren Tag, an dem es ununterbrochen geregnet hatte, kam
Kazu gegen Abend ins Setsugoan zurück und sah eines der ihr treu ergebenen
Mädchen mit unglücklichem Gesicht am hinteren Eingang des Hauses stehen.
»Der gnädige Herr ist da.«
»Wo?«
»Er wartet im Zimmer der gnädigen Frau.«
»Weshalb hast du ihn in mein Zimmer geführt?«
»Der gnädige Herr erschien ganz unerwartet und ging geradenwegs in Ihr
Zimmer.«
Kazu blieb wie angewurzelt stehen. Es war das erste Mal, daß Noguchi ohne
Anmeldung ins Setsugoan kam. Aber am meisten erschreckte sie der Gedanke,
daß im Nebenzimmer Berge von fertig gedruckten Kalendern und Broschüren
lagen.
Ihr Herz begann wie eine Alarmglocke zu schlagen. Sie war unfähig, ihren
nassen Regenmantel auszuziehen, und stand wie versteinert in der Eingangshalle.
Sie merkte, daß ihr Gesicht vor Schreck erstarrt war. Der alte Portier vergaß den
Schirm zusammenzuklappen, den er im Freien schützend über Kazu gehalten
hatte, und starrte seine Herrin erschrocken an.

83
Yukio Mishima

Blitzschnell gingen ihr alle möglichen Lügen durch den Kopf. Sie war nie um
scherzhafte Ausreden verlegen und selbst in der gefährlichsten Situation stets
in der Lage gewesen, behend auszuweichen – wie eine Schwalbe, die sicher
zwischen den niedrigen Vordächern einer engen Straße hindurchfliegt. In diesem
Falle fühlte sie jedoch instinktiv, daß Schweigen die beste Ausrede sein würde.
Es gab keinen Zweifel darüber, daß sie nur aus gutem Willen gehandelt hatte,
und im Grund gab es nichts, dessen sie sich hätte schämen müssen. Trotzdem
fürchtete sie nichts auf dieser Welt so sehr wie Noguchi.
Während sich Kazu langsam ihres nassen Mantels entledigte, blickte sie auf
den schmalen Weg zwischen Tor und Hintereingang zurück, auf den unablässig
der Regen niederprasselte. Die zinnoberroten Blüten des Granatapfelbaums
waren fast alle abgefallen. Der Frühling war ungewöhnlich warm gewesen, und
der Baum hatte früher geblüht als sonst. Der Anblick der leuchtenden Blüten
draußen im Regen beruhigte Kazu ein wenig.
Ehrfürchtig kniete sie vor der Schwelle ihres Zimmers nieder und begrüßte
ihn förmlich.
Noguchi, der ein japanisches Gewand trug, stand wortlos auf und trat ihr
gegen die Knie, als ob er sie hinausstoßen wollte. Dann fuhr er sie an: »Wir gehen
sofort nach Hause! Komm mit!« Er trat auf den Gang hinaus, und Kazu bemerkte,
daß er in der rechten Hand eine Broschüre und einen zusammengefalteten
Kalender hielt. Als er über die bogenförmige Brücke des Korridors vorausging,
erinnerte sie sich an den Abend ihrer ersten Begegnung, und eine seltsame
Mischung von Bitterkeit und Wehmut schlich sich in ihr Herz. Alles, was sie aus
eigenem Antrieb getan hatte, erschien ihr jetzt wie eine Verkettung unglücklicher
Umstände. Weinend ging sie hinter ihm her.
Die Mädchen waren längst an Kazus Tränen gewöhnt und machten nicht
einmal erstaunte Gesichter, als die beiden hinausgingen. Noguchi preßte die
Lippen zusammen. Kazu weinte im Wagen auf dem ganzen Heimweg, aber
Noguchi sprach kein einziges Wort.
Zu Hause führte er sie, immer noch schweigend, in seine Bibliothek und
verschloß von innen die Tür. Er machte nicht den Eindruck, als sei er zornig. Er
stand vielmehr kühl und unnahbar vor ihr – wie eine schroffe Felswand, die man
nicht erklimmen konnte. »Weißt du, weshalb ich zum Setsugoan gekommen
bin?«
Kazu schüttelte weinend den Kopf. In ihrer Haltung war eine Spur von
Koketterie, die sie selber mißbilligte. Im nächsten Augenblick schlug Noguchi ihr
ins Gesicht. Sie fiel auf den Teppich und schluchzte laut auf.
»Hast du jetzt verstanden?« sagte er schweratmend. »Heute kam ein Anruf von
der Druckerei. Ich ging an den Apparat und wurde gebeten, die Rechnung für die

84
Nach dem Bankett

Kalender zu begleichen, da sie noch nicht bezahlt sei. Man sagte mir, meine Frau
habe sie bestellt, und nach einigen Fragen fand ich heraus, was du dir geleistet
hast. Daraufhin fuhr ich zum Setsugoan. Und was fand ich vor? Keineswegs
nur Kalender! Was ist das hier? Was soll das bedeuten? Eine Unverschämtheit
sondergleichen!«
Noguchi schlug ihr die Broschüre mehrmals um die Ohren. Sie hatte sich
oft genug mit ihrem Mann gestritten, aber so hatte er sie noch nie behandelt.
Irgendwie brachte Kazu es fertig, zwischen zwei Schlägen einen Blick auf sein
Gesicht zu werfen. Sein Atem ging heftig und schwer, aber sein Gesicht war
keineswegs zornverzerrt. Seine eiskalte Wut ließ Kazu erzittern.
»Du hast das Ansehen deines Mannes mit Schmutz besudelt. Was hätte ich
auch anderes von dir erwarten können! Du hast es verstanden, meine Karriere in
den Dreck zu ziehen. Du solltest dich schämen! ja, schämen! Es macht dir wohl
Spaß, mich vor den Leuten lächerlich zu machen?«
Er trat mit den Füßen nach der am Boden liegenden Kazu, ohne sich darum
zu kümmern, wohin er traf. Schreiend rollte sie sich hin und her, aber er war so
kraftlos, daß seine Fußtritte Kazus üppigem, weichem Körper keinen Schmerz
zufügten. Endlich setzte er sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch und
betrachtete ungerührt die schluchzende Gestalt am Boden.
Noguchis Wutausbruch – sowohl was seine Worte als auch was sein Gebaren
betraf – war ausgesprochen antiquiert gewesen. Er machte den Eindruck, als
verkörpere er die alte Moral. Aber sein Zorn hatte Stil gehabt; und im Stillen liebte
Kazu es, wenn altmodische Männer zornig wurden. Sie war halb ohnmächtig vor
Schmerz und Glück, aber allmählich kam sie zu dem Schluß, daß Noguchi zu
den Männern gehörte, die in ihre gewohnte Blindheit und Taubheit zurückfielen,
sobald sie ihre Wut losgeworden waren und verboten hatten, was verboten
werden mußte. Dieser Gedanke stimmte sie nachsichtig gegen Noguchi und
mehr noch gegen sich selber.
Trotzdem heulte sie weiter wie ein wildes Tier, bat um Verzeihung und stieß
alle möglichen Entschuldigungen hervor. Manchmal schwieg sie, als sei sie
ohnmächtig geworden, flehte dann aber von neuem mit noch lauterer Stimme um
Vergebung. Noguchi hatte offenbar nicht die Absicht, diese Folter zu beenden. Er
erklärte, daß er sie nicht eher aus dem Zimmer herauslassen werde, bis sie alles
gestanden hätte; denn es sei offensichtlich, daß sie bereits beträchtliche Summen
ausgegeben habe. »Meine Ersparnisse . . . ich hab sie für dich ausgegeben . . . nur
für dich!« stammelte sie wie im Delirium.
Noguchi ging gar nicht auf die Beteuerungen ein. Seine schroffe Haltung zeigte,
daß er kein Wort der Rechtfertigung hören wollte. Er nahm ein europäisches
Buch zur Hand, wandte sich von ihr ab und begann zu lesen.

85
Yukio Mishima

Es entstand ein langes Schweigen. Der Raum lag im Dunkel, nur die Lampe
warf einen hellen Lichtkreis auf den Schreibtisch. Man hörte außer dem Rauschen
des Regens und dem Umblättern der Seiten nur Kazus unruhigen Atem. Die
füllige Gestalt der nicht mehr jungen Frau, die mit verrutschtem Kimono auf
dem Boden lag, war das einzig Ungewöhnliche in der nächtlich stillen Bibliothek.
Kazu wußte, daß ihre Schenkel unter dem Saum des Kimonos sichtbar waren
und sich außerhalb des trüben Lichtkreises, im gleichen Rhythmus wie ihr Atem,
unmerklich hoben und senkten. Sie wußte auch genau, welche Stellen entblößt
waren, denn durch die Kälte wurden sie allmählich gefühllos. Mit Bedauern
dachte Kazu daran, daß es ganz zwecklos war, ihre nackten weißen Schenkel
der Kälte auszusetzen, da sie überhaupt nicht beachtet wurden. Sie meinte zu
spüren, wie Noguchis Ablehnung durch die frierenden, entblößten Schenkel in
ihren Körper floß.
Schließlich ordnete sie ihr Gewand, setzte sich aufrecht hin und verbeugte sich
bis zum Teppich hinab. Dann erklärte sie, sie wolle alles gestehen. Tatsächlich
hielt sie mit nichts zurück und erzählte Noguchi sogar von der Hypothek auf
Setsugoan.
Daraufhin sagte Noguchi mit unerwartet sanfter Stimme: »Was geschehen ist,
läßt sich nicht mehr ändern. Aber ab morgen wirst du das Setsugoan schließen
und nur noch in diesem Hause leben. Hast du mich verstanden? Und du wirst
keinen Schritt mehr aus dem Hause gehen.«
»Ich soll das Setsugoan schließen?«
»Ja. Wenn du mir nicht gehorchst, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich
von dir scheiden zu lassen.«
Diese Drohung war furchtbarer als die schlimmste Züchtigung. Vor Kazus
Augen tat sich ein großes dunkles Loch auf. ›Wenn er sich von mir trennt, werde
ich mein Grab verlieren‹, dachte sie. Und dieser Gedanke bewog sie, alles zu tun,
was er von ihr forderte.

86
Nach dem Bankett

Ein Hindernis auf dem Pfade der Liebe

Nach diesem Streit kam Kazu zu dem Ergebnis, daß ihr kein anderer Ausweg
blieb, als das Setsugoan zu verkaufen. Das Setsugoan hatte bereits mehrfach
Anlaß zu Gerüchten gegeben, und das konnte für die gegnerische Propaganda
von großem Nutzen sein. In Noguchis Augen war es nur der Stützpunkt für Kazus
unerwünschte Aktivität; er war sogar außerordentlich aufgebracht gewesen über
die Hypothek, die Kazu hinter seinem Rücken auf das Gasthaus aufgenommen
hatte, um mit dem Geld den Vorwahlkampf zu finanzieren; aber wie die Dinge
jetzt lagen, hielt er es für das Beste, die Wurzel allen Übels auszurotten und
das Setsugoan zum Verkauf anzubieten. Mit diesem ehrlich und anständig
erworbenen Geld konnte er die Unkosten der Wahl bestreiten; denn er hatte bei
dem Streit mit Kazu zum erstenmal davon gehört, wie arm seine Partei war.
Um den Verkauf des Setsugoan wollte sich Noguchi kümmern. Kazu hing
mit tiefer Liebe an dem Besitz, und der Schmerz, ihn aufgeben zu müssen, ließ
sich nicht in Worten beschreiben; aber sie zog doch das kleine moosbedeckte
Familiengrab der Noguchis dem schönen Garten vom Setsugoan vor.
Das Durcheinander, das der Verkauf mit sich brachte, bot Kazu manchen
guten Vorwand, der Haft in Noguchis Haus zu entrinnen und gelegentlich zum
Setsugoan zu fahren. War sie aber dort, dann rührte sie keinen Finger, um die
Liquidation des Gasthauses voranzutreiben. Selbst gegenüber den Angestellten,
die bereits unruhig wurden, weil das Restaurant so lange geschlossen blieb, ließ
sie nichts über den wahren Sachverhalt verlauten. Sie rief vielmehr jeden Tag
Yamazaki zu sich und begann, mit ihm zusammen neue Intrigen zu spinnen.
Wenn sie eine gute Idee hatte, konnte sie vor Aufregung nicht mehr stillsitzen
und gab sofort Befehl, den Wagen vorzufahren. Trotz der Lektion, die Noguchi
ihr erteilt hatte, verlief ihr Leben unverändert – abgesehen davon, daß das
Setsugoan außer Betrieb war.
Noguchi hatte einen ihm nahestehenden Rechtsanwalt mit dem Verkauf
betraut. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ein vielversprechender Käufer:
Fujikawa Genzo vom Fujikawa-Konzern. Die Verhandlungen, die zwischen
seinem und Noguchis Rechtsanwalt geführt wurden, erweckten den Eindruck,
als würde man schnell zu einem Abschluß kommen. Es ging eigentlich nur noch
um die Kaufsumme. Die geforderten hundert Millionen Yen war der Käufer nicht
bereit zu zahlen. Er wollte achtzig Millionen Yen geben und lehnte es ab, darüber
hinaus zu verhandeln.

87
Yukio Mishima

Eines Tages, als Kazu im Setsugoan war, meldete das Mädchen, daß Nagayama
Genki am Telefon sei und Kazu zu sprechen wünsche. Kazu, die nicht die Absicht
hatte, die Freundschaft mit Genki wieder aufleben zu lassen, wollte zunächst
nicht ans Telefon gehen. Aber Yamazaki, der zufällig neben ihr saß, klopfte ihr
aufmunternd aufs Knie und meinte, es sei besser, an den Apparat zu gehen.
Sie hatte Yamazaki zwar versprochen, in allen Dingen seinen Rat einzuholen,
aber in diesem Falle behagte ihr seine Einmischung keineswegs. Als seine Hand
ihr Knie berührte, schnellte sie ein Stück auf der Tatami-Matte zurück, und wieder
einmal erfüllte Yamazaki die raubtierhafte Elastizität ihrer üppigen Gestalt mit
Staunen. Trotzig wandte sie den Kopf ab und blickte in den regennassen Garten
hinaus, der in grünlich schimmernde Dunstschleier getaucht war.
»Weshalb sind Sie so ungehalten? Ich rate Ihnen doch nur deshalb, an den
Apparat zu gehen, weil ich das für richtig halte.«
Kazu gab keine Antwort. Sie dachte an Genkis wulstige, dunkle Lippen, und
plötzlich erschien er ihr wie die Verkörperung all jenen Schmutzes, in dem
sie ihr halbes Leben zugebracht hatte. Dieser korpulente, machtgierige Mann
erinnerte sie an Erlebnisse, an die eine Frau nur mit Schaudern zurückdenkt.
Die Tatsache allerdings, daß sie kein Verhältnis mit Genki gehabt hatte und daß
er sie wie eine Schwester behandelte, hatte sie einst fest an ihn gebunden und
ihr Selbstbewußtsein gestärkt. Sosehr Noguchi sie auch beschimpfen mochte
– er verletzte nie ihre Menschenwürde; aber sobald Genki sie grinsend ansah,
fühlte sie sich in der Tiefe ihrer Seele durchschaut. Um es kurz zu sagen, Kazu
verabscheute sich in diesem Augenblick selber, daß sie bei Genkis Anruf so etwas
wie Erleichterung empfand.
Sie befahl dem Mädchen, das Gespräch in ihr Privatzimmer zu legen, erhob
sich und ging hinaus. Als sie den Hörer aufnahm und sich meldete, beugte sie
sich tief über den Apparat. Genkis Sekretär antwortete, und gleich danach. hörte
sie ihn selber.
»Na, wie geht es dir? Bist du mir immer noch böse? Gib es ruhig zu, ich
betrachte mich dennoch, stets als deinen Freund. Auch weiterhin. Übrigens hörte
ich, daß du das Restaurant geschlossen hast. Aber wenigstens ein Schälchen Tee
und etwas Reis wirst du mir doch noch servieren können. Unter Freunden!«
»Wenn ich eine Ausnahme mache, gilt das Geschäft nicht mehr als
geschlossen.«
»Aha! Vermutlich hast du die Absicht, statt des Gasthauses ein Absteigequartier
für die Arbeiterklasse einzurichten, was?«
»Selbstverständlich. Ich möchte lieber mal junge, quicklebendige Gäste
haben.«
»Das erstaunt mich. Ich dachte, dein Mann sei nicht viel jünger als ich!«

88
Nach dem Bankett

»Hören Sie auf mit Ihren sarkastischen Bemerkungen. Sagen Sie mir lieber,
weshalb Sie angerufen haben.«
»Aus keinem besonderen Grund. Mir kam nur die Idee, ob wir nicht zur
Abwechslung mal zusammen Mittag essen sollten.«
Kazu erwiderte, es sei ihr im Augenblick leider nicht möglich, seine Einladung
anzunehmen. Daraufhin entgegnete Genki, dann bleibe ihm nichts anderes
übrig, als es per Telefon zu sagen. Und er machte ihr mit sachlicher Stimme die
folgende überraschende, wichtige Mitteilung.
»Dieser Dickschädel Noguchi macht uns viel zu schaffen. Wir haben ihm durch
einen Mittelsmann das Angebot gemacht – sicher ist dir dies bekannt –, daß wir
bereit sind, unseren Gegenkandidaten zurückzuziehen, wenn er uns zusichert,
im Falle seines Wahlsieges einen Mann aus unserer Partei als Vize-Gouverneur
zu ernennen. Ein günstigeres Angebot kann man sich doch gar nicht denken!
Aber Noguchi hat, wie üblich, nichts davon hören wollen. Dabei liegt es doch auf
der Hand, daß es für ihn nur von Vorteil sein kann: wenn er die Bedingung erfüllt,
ist sein Wahlsieg so gut wie sicher. Ich kann dir nur raten, ihn zu überreden, das
Angebot anzunehmen. Wenn er es ausschlägt, kann es nämlich passieren, daß
der Verkauf vom Setsugoan auf Schwierigkeiten stößt. Ich sage dir dies nur in
deinem eigenen Interesse.«
An diesem Punkt brach Kazu das Gespräch eilig ab, hängte ein und ging
mit schnellen Schritten zu Yamazaki zurück. Allein an ihrem Schritt konnte
Yamazaki hören, wie zornig sie war.
Ohne sich umzuwenden, schloß sie die Schiebetür hinter sich und fuhr ihn an:
»Das habe ich nicht von Ihnen erwartet, Herr Yamazaki. Meinem Mann ist ein
unerhört wichtiges Angebot gemacht worden, und Sie haben mir kein einziges
Wort davon gesagt!«
Sie stand mit hochgezogenen Augenbrauen und herabgezogenen Mundwinkeln
da; ihr tiefgebundener Obi wirkte hart wie Holz, ein Eindruck, der noch dadurch
verstärkt wurde, weil sie die Obischnur nicht seitlich, sondern nach Bauernart
vorn in der Mitte verknotet hatte.
»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Yamazaki und begann, ihr geduldig
und eingehend die Situation zu erklären. Kazu saß abgewandt neben ihm und
blickte trotzig wie ein kleines Kind zur Seite. Es hätte sie nur unnötig verwirrt,
sagte Yamazaki, wenn er ihr von dem Angebot erzählt hätte. Sie müsse sich doch
auf den Wahlkampf konzentrieren. Bisher habe Noguchi sich geweigert, den
verlockenden Vorschlag der konservativen Partei auch nur anzuhören. Aber
sollte er das Angebot überhaupt in Erwägung ziehen, dann wäre es besser und
wirksamer, wenn die Parteiführer ihm zurieten und nicht seine Frau. Er, Yamazaki,
sei über den Anruf Genkis außerordentlich erfreut, da sich doch deutlich zeige,

89
Yukio Mishima

daß Kazus Wahlkampagne zu einer Gefahr für den Gegner zu werden drohe.
Die konservative Partei habe einen Kandidaten namens Tobita Gen aufgestellt,
aber erst nach langem Hin und Her, und offenbar setze die Partei selber kein
Vertrauen in diese Entscheidung – wie der Anruf eben enthüllt habe. Aus
diesem Grund zögere der jetzige Gouverneur ja auch, sein Amt niederzulegen,
obgleich er es längst hätte tun müssen. Denn in der augenblicklichen Situation
sei es unwahrscheinlich, daß der konservative Kandidat gewählt werde, und
folglich habe man die Zustimmung des Premierministers für die Wahl noch
nicht erlangen können. Es sei zwar bedauerlich, daß Noguchi keinen politischen
Nutzen aus dem Angebot ziehe; aber sie, seine Frau, dürfe sich dadurch unter
keinen Umständen aus dem Gleichgewicht bringen lassen; denn man habe doch
gerade eben, durch den Anruf, gesehen, daß ihre Bemühungen anfingen, Früchte
zu tragen.
Während Yamazaki Kazu die Situation mit rührender Geduld erläuterte,
begann ihr Gesicht zu leuchten wie ein Garten in den ersten Strahlen der
Morgensonne. Yamazaki beobachtete den schnellen Wechsel ihres Ausdrucks
und fand sie plötzlich schön. Es war, als ob unter der Maske der Verärgerung
bereits ein Lächeln gewartet hätte, und dieses neue lächelnde Antlitz da vor
ihm war so frisch, so neugeboren, daß man keinerlei Spuren des heftigen
Zornausbruchs mehr darin erkennen konnte.
»Was Sie nicht sagen!« rief Kazu. »Das muß gefeiert werden! Heute abend
werden wir darauf anstoßen!« Sie stand auf, schob die Schiebetüren auseinander
und ging mit tänzelnden Schritten in den anliegenden Bankettsaal. Am Ende
dieses Raumes stand ein wundervoller Wandschirm, den Tatebayashi Kagei
im Stile von Korin bemalt hatte: eine schmale Holzbrücke führte über einen
silbrigen Strom, an dessen Ufern Schwertlilien wuchsen. Kazu öffnete auch noch
die Shoji-Türen zum Garten, und Yamazaki sah von dem kleinen Zimmer aus, in
dem er saß, ein Stückchen von dem regennassen Grün.
Jetzt, da das Setsugoan geschlossen war, wirkte es schöner als früher, da es
voller Gäste gewesen war. Die lackierten Möbel und der bemalte Wandschirm in
dem dunklen, kalten Bankettsaal fielen jetzt erst in ihrer ganzen Pracht ins Auge.
Yamazaki sah Kazus energische Gestalt im Türrahmen wie ein Schattenbild;
sie wirkte so voller Lebenskraft, daß Yamazaki den Eindruck hatte, die ganze
Vitalität, die einst diese riesigen, leeren Räume erfüllte, habe sich in ihrem Körper
versammelt.
Kazu trat auf die Veranda, und während sie in den Garten blickte, krümmte sie
die Zehen ihrer in weißen Tabi-Söckchen steckenden Füße um die Türschwelle.
Sie hatte, wie ein Papagei auf einer Sitzstange, Mühe, sich im Gleichgewicht zu
halten, verharrte aber eine Weile in dieser Stellung.
Sie blickte auf ihre Fußspitzen hinunter, die sich weiß und scharfumrissen von

90
Nach dem Bankett

dem dunklen Boden des Zimmers und dem verschwommenen Grün des Gartens
abhoben. Wie zusammengekauerte schlaue kleine Tierchen sahen sie aus. Kazu
spreizte die Zehen und beobachtete, wie der Spalt in den Tabi-Strümpfen größer
wurde. Die Anspannung, mit der sie sich in dieser unsicheren Lage hielt, teilte
sich ihrem ganzen Körper mit und erfüllte sie mit einem angenehm prickelnden
Gefühl der Gefahr. Wenn sie die Muskeln auch nur ein wenig lockerte, würde sie
unfehlbar auf die Gartensteine und das nasse grüne Gras stürzen.
Als Yamazaki den Saal betrat, bemerkte er, daß Kazus Körper merkwürdig
unsicher hin und herschwankte. »Ist Ihnen nicht gut, gnädige Frau?« fragte er
und eilte bestürzt auf sie zu.
Kazu drehte sich um und lachte mit entblößten Zähnen schallend auf. »Aber
hören Sie mal, für einen Schlaganfall bin ich doch noch nicht alt genug! Kommen
Sie, wir wollen etwas trinken gehen.«
Kazu und Yamazaki machten einen Streifzug durch etliche Bars und Kabaretts.
Und obgleich Yamazaki bereits angetrunken war, nahm er doch noch wahr,
daß Kazu überall emsig ihre Visitenkarte in Spezialgröße verteilte – sogar an
Serviermädchen und Kellner.

Noguchi schlug den Kompromißplan der konservativen Partei, den man


ihm durch zwei, drei geheime Kanäle offeriert hatte, glattweg ab. Einige Tage
danach wurde Noguchis Rechtsanwalt von dem beratenden Advokaten des
Fujikawa-Konzerns mitgeteilt, daß sein Mandant nicht in der Lage sei, auf die
Verkaufsbedingungen einzugehen. Als Noguchis Rechtsanwalt sich nach den
näheren Umständen erkundigte, erklärte ihm sein Kollege, diese Absage sei auf
Druck von Premierminister Saeki zustande gekommen.
Der Premierminister habe Fujikawa Genzo angerufen und gesagt: »Kaufen
Sie Setsugoan jetzt nicht! Damit würden Sie unsere Gegner vor dieser wichtigen
Wahl nur gewissermaßen mit Waffen versehen.«
Noguchi war darüber sehr aufgebracht. Aber Yamazaki, der nie die Fassung
verlor, war der Ansicht, dies sei eine gute Gelegenheit, den Feind herauszufordern.
Er legte Noguchi nahe, sich mit dem Premierminister zu treffen, und arrangierte
eine Zusammenkunft. Noguchi suchte den um Jahre jüngeren Saeki in seinem
Amtssitz auf. In seiner üblichen gespreizten, umständlichen Ausdrucksweise
machte er dem Premier Vorwürfe wegen dieser niederträchtigen Einmischung
in Privatangelegenheiten. Der Minister lächelte nachsichtig und beteuerte, er
habe nichts damit zu tun. Ȇbrigens finde ich die Geschichte zu dramatisch,
als daß sie glaubwürdig sein könnte. Lassen Sie doch mal Ihren gesunden
Menschenverstand sprechen: glauben Sie wirklich, daß ein Premierminister es
sich erlauben kann, wie irgendein kleiner Makler ein Telefongespräch zu führen?

91
Yukio Mishima

Ich vermute eher, daß Herr Fujikawa sich meines Namens bedient hat, um Ihnen
eine plausible Erklärung für seine Absage zu geben.«
Der Premierminister behandelte Noguchi überdies wie einen gebrechlichen
alten Mann und wollte ihm sogar beim Hinsetzen und Aufstehen behilflich
sein. Noguchis Stolz, der Stolz eines alten Diplomaten, wurde durch diese
übertriebenen Höflichkeitsbezeigungen empfindlich verletzt. Echte Finesse
muß sich wie Seide anfühlen, aber Saekis Höflichkeiten waren Kunstseide. ›Was,
glaubst du dir eigentlich herausnehmen zu können, du naseweiser Bursche?‹
dachte Noguchi.
Kazu spürte Noguchis schlechte Laune, als er heimkam. Sie tröstete ihn mit
wortloser Fürsorge. Jetzt war es hoffnungslos, Setsugoan zu verkaufen; sie hatte
Mühe, ihre Freude zu verbergen, und gelobte sich, ihren emotionellen Verrat
durch politische Treue wettzumachen.

92
Nach dem Bankett

Der offizielle Wahlkampf

Ende Juli legte der Gouverneur von Tokio sein Amt nieder, und sofort wurden
Neuwahlen anberaumt. In den darauffolgenden fünfzehn Tagen, bis zum .
August, wurde der offizielle Wahlkampf geführt. Es war ein außerordentlich
heißer Sommer.
Kazu nahm eine zweite Hypothek auf Setsugoan auf – dreißig Millionen
Yen – und betätigte sich wieder emsig. Man mietete ein Wahlbüro im Zentrum
Tokios, im ersten Stock eines Hauses.
Am Tage der langersehnten Wahlausschreibung, als Noguchi aus dem Hause
gehen wollte, um seine erste Wahlrede zu halten, gab es zwischen ihm und
Kazu eine kleine Auseinandersetzung. Kazu hatte, in weiser Voraussicht dieses
Tages, einen Anzugstoff aus bestem englischen Material gekauft und gab sich
Mühe, ihren Mann zu überreden, sich beim Schneider Maß nehmen zu lassen.
Aber Noguchi wollte nichts davon wissen. Er bestand darauf, in einem vor Alter
gelbgewordenen Leinenanzug, der noch aus England stammte, seine erste und
alle weiteren Wahlreden auf der Straße abzuhalten.
»Ich habe mich als Noguchi Yuken für die Wahl aufstellen lassen und nicht als
Kleiderständer. So etwas kann ich nicht anziehen.«
Es war leicht zu durchschauen, daß sich hinter Noguchis kindischer
Halsstarrigkeit nur die kleinmütige Furcht verbarg, daß die Hörer beim Anblick
des neuen Anzugs denken könnten, er habe das neue Kleidungsstück bestimmt
nur seiner Frau zu verdanken. Sogar Yamazaki sagte: »Er lehnt sich nur wie
ein eigensinniges Kind gegen Ihre Fürsorge auf, gnädige Frau. Machen Sie sich
doch keine Gedanken darüber, und lassen Sie den neuen Anzug nach denselben
Maßen wie den alten anfertigen.«
Für gewöhnlich war Kazu nicht sehr gläubig und rechnete in Notzeiten
keineswegs auf göttliche Hilfe. Aber an diesem Morgen war sie um vier Uhr
aufgestanden und hatte die Kerzen des Hausaltars angezündet. Sie betete sogar
zu Noguchis verstorbener Frau, um sie zu bewegen, sich gemeinsam mit ihr für
seinen Sieg einzusetzen. Eine Mücke, die sich aus dem nächtlichen Garten hierher
verirrt hatte, umkreiste Kazus gefaltete Hände. Nicht die geringste Ehrfurcht lag
in Kazus Ton, als sie die Tote anrief: »Wir Frauen sollten doch zusammenhalten
und uns die Hände reichen, um Noguchi unter allen Umständen zum Sieg zu
verhelfen.« Kazu hatte das Gefühl, als ob sich vor ihren Augen eine aufrichtige

93
Yukio Mishima

Frauenfreundschaft entwickle, wie sie sie noch nie in ihrem Leben erfahren hatte.
»Wie gut du bist«, weinte sie. »Oh, wie gut! Wenn du noch am Leben wärst,
wären wir sicher gute Freunde geworden.«
Die Mücke stach Kazu an verschiedenen Stellen ihres wohlduftenden Körpers.
Aber Kazu glaubte, Noguchis Sieg zu sichern, wenn sie das Jucken ertrüge. Und
unbeirrt unterhielt sie sich weiterhin mit der verstorbenen Sadako Noguchi.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen und warf die ersten heißen Strahlen
in den Garten. Auf dem Rasen unter den Bäumen entstand in scharfumrissenen
Konturen ein Blattmuster, das wie ein Scherenschnitt aussah. Kazu blickte über
die Schulter, sah die Gartensteine weiß aufleuchten, und der helle Morgen
schien ihr wie ein Kranich mit ausgebreiteten Schwingen; denn die Gartensteine
waren wie Flügel geformt. Sie erinnerte sich daran, daß sie irgendwann einmal
scherzend zu Noguchi gesagt hatte, ein Kranich fliege über den Garten. Sie hatte
also gar nicht so unrecht damit gehabt. Es war ein glückliches Zeichen, jetzt
einen Kranich zu sehen. Aber da sie fürchtete, Noguchi werde ihr wieder einen
Verweis erteilen, entschloß sie sich, ihm nichts davon zu sagen.
Kurz darauf wurde Noguchi wach und nahm, wie üblich schweigend, mit Kazu
zusammen das Frühstück ein.
»Möchtest du nicht ein rohes Ei haben?« fragte sie schließlich.
»Ich nehme doch nicht an einem Schulsportfest teil«, entgegnete er schroff.
Noguchi war sehr stolz auf seine Gelassenheit. Wahrscheinlich hatte er sie
sich während der Jahre in England angeeignet. Aber im Gegensatz zu den
Engländern besaß er weder deren geistvolle Ironie noch deren trockenen Humor.
Um zu beweisen, daß er auch heute so ruhig und gelassen war wie stets, benahm
er sich mit Absicht mürrisch.
Als Yamazaki und die Herren vom Wahldirektorium kamen, brachte Kazu,
wie geplant, in einer offenen Kleiderschachtel den neuen Sommeranzug. Sie
hatte eine weiße Rose am Revers befestigt. »Was ist denn das? Das ziehe ich
nicht an«, sagte Noguchi, nachdem er einen Blick in die Schachtel geworfen
hatte. Obgleich Kazu sich vorgenommen hatte, sich nicht von ihren Gefühlen
fortreißen zu lassen, bat sie ihn unter Tränen, er möge ihr doch den Gefallen tun
und den Anzug anziehen. Aber Noguchi wurde nur noch eigensinniger, so daß
sich schließlich Yamazaki einmischte und ihn zu besänftigen versuchte. Zu guter
Letzt zog Noguchi den neuen Anzug doch an – wenn auch widerwillig –, war
aber durch nichts zu bewegen, die Blume am Revers zu dulden.
Es war Zeit für Noguchi, das Haus zu verlassen. Alle gaben ihm bis zum
Eingang das Geleit. Kazu war ganz bewegt, Noguchi in dem schneeweißen Hemd
und dem neuen Anzug zu sehen. Als sie die Hand ausstreckte, um seinen Kragen
in Ordnung zu bringen, obwohl er tadellos saß, reagierte Noguchi blitzschnell. Er

94
Nach dem Bankett

hielt ihre Hand mit eisernem Griff fest und sagte mit gesenkter Stimme: »Hör auf
mit diesen Torheiten! Das schickt sich nicht!« Niemandem war etwas aufgefallen;
sogar ein scharfes Auge hätte dies nur als eine Geste verhaltener Liebe gedeutet.
Und mit einer schnellen, geschickten Bewegung holten Noguchis spitze,
knöcherne Finger etwas aus Kazus rechter Handfläche hervor, was sie
darin verborgen hatte. Es waren Feuersteine, mit denen sie vor allen Leuten
glückbringende Funken schlagen wollte, wenn Noguchi das Haus verließ. Kazu
wußte nur zu gut, wie sehr Noguchi solche Sitten haßte, aber trotzdem hatte sie
dem Verlangen nicht widerstehen können. Noguchi hatte also richtig vermutet,
daß sie Steine in ihrer Hand verborgen hielt.
Im Wagen übergab er sie schweigend Yamazaki, der sie in die Tasche steckte
und sich den ganzen Tag über die harten Steine darin ärgerte.

Noguchi begab sich zur Präfektur, erledigte die Formalitäten für die Wahl,
empfing eine Schärpe mit seinem Namen und fuhr dann unverzüglich
zu der Versammlung vor dem Yaesu-Eingang am Tokio-Bahnhof. Es war
neun Uhr. Die Morgensonne schien grell auf die weißen Oberhemden der
Versammelten. Viele hielten zum Schutz gegen die Sonne Fächer über ihre
Köpfe. Noguchi stieg aus dem Wagen und wurde von Funktionären der
Gewerkschaften und sympathisierenden Gruppen, die bei einem Lastwagen mit
Lautsprechervorrichtung auf ihn gewartet hatten, ehrfürchtig begrüßt. Danach
bestieg er den Lastwagen und begann zu sprechen. Aber seine Stimme hatte
nichts Einnehmendes. »Ich bin Noguchi Yuken, der Kandidat der Reformpartei
für die Gouverneurswahl der Stadt Tokio.« Dann folgte eine lange Aufzählung
seiner idealistischen, politischen Ziele, die er mit vollkommen ausdrucksloser
Stimme vorbrachte. Mitten in einem Satz setzte der Lautsprecher aus, aber
Noguchi merkte gar nicht, daß das Mikrophon nicht mehr funktionierte, und
redete unentwegt weiter. In diesem Augenblick begann sein Gegenkandidat,
Tobita Gen, am anderen Ende des Platzes zu sprechen. Das Mikrophon dort
trug Tobitas klingende Stimme so deutlich zu Noguchis Hörern herüber, daß
sogar die Leute, die unmittelbar vor Noguchi standen, nur noch Tobita hörten,
der mit lauter Stimme Noguchi und die Reformpartei denunzierte. Da sich die
Störung des Lautsprechers offenbar nicht gleich beheben ließ, beschloß man,
vorerst zum Hauptquartier zurückzukehren und von dort aus zum Koto-Distrikt
aufzubrechen. Dies war unzweifelhaft ein Beginn mit bösen Vorzeichen.
Noguchis erste Rede war für seine jungen Anhänger eine Enttäuschung.
»Kann der alte Herr nicht etwas mehr Gefühl in seine Worte legen?« hörte
Yamazaki jemanden im Hauptquartier sagen, und ein anderer bemerkte: »Die
sofortige Abschaffung der Pferde- und Radrennen ist ganz schön und gut, aber
damit beginnt man doch nicht die erste Wahlrede!«

95
Yukio Mishima

Kazus Reden hingegen waren reinstes Gefühl. Wohin sie ging, schlug ihr der
Beifall der Massen entgegen, die ihr amüsiert zuhörten. Schließlich hielt sie
eine halbstündige Ansprache auf dem Platz vor dem Shibuya-Bahnhof, auf den
unbarmherzig die Nachmittagssonne niederbrannte. Neben ihren Füßen stand
ein Eimer mit Eisstücken, und sie wischte sich fortwährend das Gesicht mit
einem Taschentuch ab, in das Eisstückchen gewickelt waren. Sie sprach laut und
hielt ihren Mund viel zu nahe ans Mikrophon, so daß man sie kaum verstehen
konnte; aber ihre Zuhörer freuten sich über ihr Temperament und kamen sich
vor wie bei einer Versteigerung. Kazu brachte Noguchis Bittschrift an den Kaiser
zur Sprache und argumentierte dabei folgendermaßen: »Ich spreche zu Ihnen
als Frau von Noguchi Yuken. Und obgleich ich Noguchi Yukens Frau bin, hat
er nicht einmal mir, seiner eigenen Frau, auch nur ein einziges Wort über die
Bittschrift gesagt. Ist dies kein Beweis für seine Bescheidenheit? Ist dies kein
Beweis dafür, daß er nicht mit seinen Verdiensten prahlt? Aber ich muß gestehen,
als ich davon erfuhr, war ich ganz bestürzt. Verzeihen Sie, meine Damen und
Herren, daß ich es hier erwähne: aber daß wir alle, Sie und i& friedlich unseren
täglichen Pflichten nachgehen können, haben wir doch zum Teil Noguchi Yuken
zu verdanken! Diese Erkenntnis war es, worüber ich bestürzt war. Noguchi hat
nicht aufgehört, unablässig um Frieden zu bitten . . .«
Ein junger Bursche aus der Menge rief ihr zu: »Gib doch nicht so an mit
deinem Alten!«
Schlagfertig rief Kazu zurück: »Doch, das tue ich. Ich kann stolz auf ihn sein!
Ich, seine Frau, versichere Ihnen, daß Sie es nie bereuen werden, Noguchi gewählt
zu haben.« Mit einer solchen Antwort erntete sie jedesmal Beifall. Ihre Rede
dehnte sich endlos hin, und ihre Argumente begannen sich zu wiederholen. Mit
sturer Gleichgültigkeit übersah sie die aufgeregten Zeichen der Männer, die die
Kundgebung organisiert hatten. Schließlich nahm ihr ein junger Mann von der
Partei, der sich nicht mehr zu helfen wußte, einfach das Mikrophon weg. Kazus
Make-up war durch das viele Abreiben mit nassen Tüchern und Eisstückchen
wie weggewischt, und der weiße, gesunde Teint der Nordjapaner kam zum
Vorschein. Aber in dem Augenblick, als der junge Mann ihr das Mikrophon
wegnahm, lief ihr Gesicht rot an und verzerrte sich vor Wut. So hatten sie bisher
nur Yamazaki und die Mädchen vom Setsugoan gesehen. Sie stampfte mit den
Füßen auf und rief: »Warum nehmen Sie mir das Mikrophon weg? Wollen Sie
Noguchi vernichten?«
Der junge Parteimann gab ihr bestürzt das Mikrophon zurück, und Kazus
Redefluß brach wieder los. Ihr Wutausbruch war für die Masse ein Schauspiel
ohnegleichen gewesen: das von der Nachmittagssonne gerötete Gesicht, auf dem
die Wassertropfen glitzerten, hatte sich so plötzlich vor den Augen der Leute
verzerrt, daß die Menschen sekundenlang wie erstarrt waren. Es war ihnen, als

96
Nach dem Bankett

hätten sie Kazu nackt gesehen.

Nach diesem ersten Tag wurde es Kazu untersagt, weiterhin so lange Reden
zu halten. Im Wahlhauptquartier war man verärgert und ließ Kazu durch
Yamazaki ausrichten, ihre Reden dürften nicht länger sein als eine beschriebene
Seite, beziehungsweise eine Minute. Man bat sie auch, ihre hemmungslosen
Gefühlsausbrüche zu zügeln. Denn es bestand die Gefahr, daß sie damit alle
Reformpläne und selbst die Demokratie hinwegschwemmen würde.
Auch der Vorsitzende der Partei, Kusakari, Generalsekretär Kimura und
Kanzleichef Kurosawa hielten – nach Yamazakis Weisungen – in verschiedenen
Bezirken Tokios Wahlreden. Noguchi selber redete überall: vormittags an
strategisch wichtigen Plätzen, nachmittags bei bestimmten Versammlungen
und abends bei öffentlichen Wahlveranstaltungen oder im Vergnügungsviertel.
Er hielt sogar eine Ansprache vor Tagelöhnern und jungen Burschen vom
Fischmarkt. Hinter Noguchis Lastwagen fuhr stets ein Wagen der Gegenpartei
her – manchmal allen sichtbar, manchmal etwas versteckt –, und Tobita Gens
Propagandawagen wurde wiederum von einem Wagen der Reformpartei
verfolgt.
Kazu raste den ganzen Tag mit dem Wagen herum, immer einen Eimer voll
Eis neben sich, und nahm jeweils die Plätze vor, an denen sie ihren Mann nicht
vermutete.
Am Vormittag des dritten Tages hielt der Lautsprecherwagen mitten
auf der Straße des Kagurazaka-Hügels, und nachdem bereits verschiedene
Parteimitglieder gesprochen hatten, trat Kazu vor, um ihre Minuten-Rede zu
halten. Da sah sie unter den dreißig bis vierzig Menschen einen Mann mittleren
Alters stehen, dessen Anblick sie mit Entsetzen erfüllte.
Die Sommersonne brannte glühend auf die steil abfallende Straße. Unter
den Menschen, die zu den Rednern auf dem Lastwagen hinaufblickten, sah
kaum einer wie ein Angestellter aus. Es waren alte Leute, Hausfrauen, die vom
Einkauf zurückkehrten, Kinder und ein paar Studenten. Der Wagen stand auf
der schattigen Seite der Straße, aber die Zuschauer waren dem gleißenden
Sonnenschein ausgeliefert, und einige hatten die Köpfe mit einem Taschentuch
geschützt. Die Reformpartei fand überall Hörer mit einfachen, sympathischen
Gesichtern. Die Menschen, die den Wagen in dichten Reihen umdrängten,
trugen sommerlich weiße, strahlend saubere Hemden und lächelten offen unter
ihren Strohhüten; die Mädchen waren ungeschminkt und braungebrannt von
der Arbeit im Freien. Kazu liebte solche Zuhörer.
Der Mann, den sie vorhin entdeckt hatte, stand etwa in der Mitte. Er trug ein
schmutziges, abgetragenes Hemd mit offenem Kragen, und in der Brusttasche

97
Yukio Mishima

blinkten die Klemmen von zwei Füllfederhaltern. Er preßte mit beiden Armen
eine alte Aktentasche an die Brust und hielt eine Zigarette zwischen den Fingern.
Die Sonne, die ihm auf das kurzgeschnittene grauweiße Haar brannte, blendete
ihn, so daß er das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Kazu hatte ihn erst nach
einiger Zeit erkannt, da sie ihn noch nie mit kurzgeschorenem Haar gesehen
hatte. Sein Gesicht war ungewöhnlich ebenmäßig, aber alt und abgezehrt. Der
einst schöne und jetzt heruntergekommene Mann wirkte eigenartig abstoßend.
Kazu begann ihre Rede wie üblich mit dem Satz: »Ich bin die Frau von Noguchi
Yuken.« Dabei schien es ihr, als ob der Mann zu ihr aufgeblickt und gegrinst hätte.
Nachdem Kazu ihre kurze Ansprache beendet und einer der Wahlhelfer den
Leuten für ihre Aufmerksamkeit gedankt hatte, zerstreute sich die Menge. Der
Lastwagen war gerade startbereit und wollte zum nächsten Platz fahren, als Kazu
sah, daß der Mann den Arm vorstreckte, um an die Wagentür zu klopfen.
»Gnädige Frau! Gnädige Frau!« rief er mit einem Anflug von Lächeln und
zeigte seine tabakbraunen Zähne. Kazu stieg sogleich aus und ging auf ihn zu. Ihr
Herz pochte wie rasend unter dem Frotteehandtuch, das sie in die Brustöffnung
ihres Kimonos gesteckt hatte, weil sie so schwitzte. Mit absichtlich lauter Stimme
rief sie: »Was für ein Zufall! Wir sind uns ja seit Jahren nicht begegnet! Da haben
Sie mich aber in einer recht ungewöhnlichen Rolle gesehen, nicht wahr?«
Sie wußte genau, wie er hieß – Totsuka –, vermied es aber wohlweislich, ihn
mit seinem Namen anzusprechen. Um ihre Unruhe vor ihm zu verbergen, kniff
sie die Augen zusammen, als ob sie die blendende Sonne nicht ertragen könne.
Unten am Fuß des Hügels sah sie die Züge der Hochbahn fahren; die wenigen
Wolken am Himmel schienen in der Sonnenhitze zu verdunsten.
»Was willst du von mir?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Ich möchte einen Augenblick mit dir sprechen«, antwortete der Mann.
Kazu rief den Leuten auf dem Lastwagen mit fröhlicher Stimme zu: »Ich habe
einen alten Bekannten getroffen und möchte ein paar Worte mit ihm reden.
Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir eine kleine Pause einlegten?«
Ohne ein weiteres Wort schritt sie auf den gegenüberliegenden Eisladen zu.
Der weiß-blaue Vorhang aus Glasperlen am Eingang wirkte hell und freundlich,
aber im Innern des Ladens standen nur ein paar alte Stühle, und es war
entsetzlich dunkel. Kaum hatte sie den Laden betreten, als sie mit lauter Stimme
rief: »Bringen Sie doch den Leuten auf dem Lastwagen zwanzig Portionen Eis.
Aber bitte gleich! Und für uns auch zwei; aber das hat Zeit. Bringen Sie bitte erst
die Portionen zum Wagen.«
Sie setzten sich an einen der dunklen Tische, der noch schmierig war von den
Gästen vor ihnen. An der Wand hing ein Kalender, und einen Augenblick war
es Kazu, als ob es der besagte Kalender mit Noguchis Fotografie war. Sie blickte

98
Nach dem Bankett

auf, sah aber das Foto einer Schauspielerin in gelbern Badeanzug, die mit einem
blauweißen Rettungsring spielte.
»Was willst du von mir?« fragte Kazu ungeduldig. Sie wollte von ihrer Unruhe
befreit werden.
»Nun mal nicht so eilig! Ich muß sagen, du strengst dich wirklich an in dieser
glühenden Hitze. Auch deine Rede, alle Achtung, war gar nicht so schlecht. Ich
habe schon immer gewußt, daß du einmal berühmt wirst.«
»Nun sag schon, was willst du von mir haben? Geld?« fragte sie den Mann
schroff, den sie dreißig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Ihre Augen blickten
mißtrauisch, während sie jede seiner Bewegungen beobachtete. Aus dem Inneren
des Ladens hörte man das knirschende Geräusch der Eismaschine.
»Wie unfreundlich du bist! Nun also . . . ich habe mich in letzter Zeit
schriftstellerisch betätigt . . .« Totsuka ließ seine gespreizten Finger über die alte
Aktenmappe kriechen und öffnete sie mit tastenden, nervösen Bewegungen. Sie
war vollgestopft mit zerknitterten Papieren. Totsuka beugte seinen Kopf über
die Tasche und wühlte suchend darin herum. Die von den Fliesen am Boden
reflektierten Sonnenstrahlen fielen auf seine ungewöhnlich langen Wimpern.
›Wie stolz war er in seiner Jugend auf diese langen Wimpern‹, dachte Kazu.
Jetzt glänzten sie grau, aber immer noch waren seine Augen voll schwermütiger
Schönheit.
»Ah, hier ist es.« Totsuka brachte eine dünne Broschüre zum Vorschein und
warf sie lässig auf den Tisch. Auf dem Umschlag stand: »Das Leben der Frau
Noguchi Yuken, geschrieben von einem lustliebenden Fischer.«
Kazus Hand zitterte, als sie danach griff und in dem Heft blätterte. Jedes
Kapitel trug eine aufreizende Überschrift. In dem Abschnitt, der Kazus
Leben als junges Mädchen in Tokio schilderte und die Jahre, in denen sie mit
Totsuka zusammenlebte, wurde Totsuka – unter voller Namensnennung – als
reiner, naiver Liebhaber, Kazu aber als wollüstige, liederliche Frauensperson
dargestellt. »Boten sich ihr zwei Wege, Liebe oder Karriere, so pflegte sie stets
die Liebe über Bord zu werfen und sich für die Karriere zu entscheiden«, stand
da. Danach folgten die Jahre, in denen sie ein Verhältnis nach dem anderen
gehabt hatte – alles ausführlich geschildert, sogar vor dem Schlafzimmer hatte
man nicht haltgemacht. Kazu wurde als eine Art Vampir dargestellt, die ihre
Liebe feilbot und die Männer nur als Sprungbrett gebraucht hatte, um sich ihre
heutige Position aufzubauen. Als sie das letzte Kapitel überflog, wußte sie, zu
welchem Zweck dieses Heftchen geschrieben worden war: Noguchi war als ein
Mann von engelsgleicher Güte beschrieben, sie hingegen als böse, gewissenlose
Frau, die Noguchi getäuscht hatte und nun versuchte, in die Stellung einer
Gouverneursgattin zu gelangen.

99
Yukio Mishima

»Wie kannst du so schamlose Lügen schreiben!« stotterte Kazu. Sie hatte nicht
einmal die Kraft zu weinen.
»Nun, ob es eine Lüge ist oder nicht, wissen nur wir beide.« Totsukas Worte
begleitete ein Grinsen, bei dem seine schmutzigen Zähne sichtbar wurden. In
diesem
Augenblick ähnelte er so sehr dem typischen Erpresser in einem altmodischen
Melodrama, daß Kazu den Eindruck hatte, sie brauche ihn nicht ernst zu nehmen.
Sie gewann sogar ihre Fassung so weit wieder, daß sie ihm ins Gesicht sehen
konnte. Unter ihrem Blick senkte er die langen Wimpern. ›Auch er fürchtet sich‹,
dachte Kazu.
Das Eis wurde gebracht.
»Iß!« kommandierte sie hochmütig. Totsuka hielt die eine Hand schützend
über den kleinen Eisberg, während er ihn mit dem Löffel zerdrückte. Er senkte
beim Essen das Gesicht fast in das Eis hinein. Seine langen Fingernägel starrten
vor Schmutz.
»Wieviel verlangst du dafür?« fragte Kazu schneidend.
»Bitte?« Totsuka hob sein Gesicht vom Eis. Seine Augen blickten so unschuldig
wie die eines jungen Hundes. Er zog einen Fetzen Papier aus der Tasche und
begann umständlich zu rechnen. Es existierten dreitausend Stück davon, jedes
sollte dreihundert Yen kosten: das machte zusammen neunhunderttausend Yen.
Er rundete die Summe auf eine Million auf.
»Gut. Komm morgen vormittag um zehn Uhr in mein Haus. Aber du
bekommst keinen Pfennig Geld von mir, wenn auch nur eins von den dreitausend
Exemplaren fehlt Bring mir alle dreitausend, dann werde ich zahlen.«

Am nächsten Morgen hob Kazu das Geld von der Bank ab und wartete auf
Totsuka. Nachdem sie ihm, wie vereinbart, das Geld übergeben hatte, nahm sie
die dreitausend Heftchen in Empfang, verpackte sie sorgfältig und warf sie auf
den Speicher. Sie wollte alle verbrennen, wenn sie sich etwas beruhigt hatte. An
diesem Vormittag hielt sie keine Rede. Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl, und
bewahrte selbst gegenüber Yamazaki Stillschweigen über das Geschehene.
Einige Tage danach wurde die Broschüre trotzdem in ganz Tokio verteilt. Man
schätzte, daß einige hunderttausend Stück im Umlauf seien. »Der Feind hat
endlich angefangen, blindlings Bomben abzuwerfen«, meinte Yamazaki und hielt
ihr das Heftchen hin. Kazus Gesicht verfärbte sich, als sie den Einband sah, und
dadurch verriet sie Yamazaki, daß sie bereits davon gewußt hatte.
»Schade um das Geld!« sagte Yamazaki nur. »Eine Million Yen ist im Augenblick
eine Menge Geld für uns. Warum haben Sie mich nur nicht um Rat gefragt? Sie

100
Nach dem Bankett

können sicher sein, ein solcher Halunke geht über Leichen, ob er nun bezahlt
wird oder nicht. Natürlich wird auch die konservative Partei dahinterstecken.«
Eine Sekunde erschien Genki Nagayamas Gesicht vor Kazus Augen, aber
sie schwieg. Yamazaki fuhr fort: »Das Schlimme ist nur, daß diese elenden
Broschüren wahrscheinlich auch in die Hände der etwas gebildeteren Hausfrauen
in den Vororten gelangen. Es liegt ja klar auf der Hand, auf was sie abzielen: sie
wollen an die Moral der Kleinbürger appellieren. Ich mache mir etwas Sorgen um
die Stimmen in den Vororten, aber im großen Ganzen ist es belanglos. Deswegen
braucht man nicht den Kopf zu verlieren.«
Noguchis Haltung war bewundernswert. Selbstverständlich hatte auch er
das Heftchen gelesen, es aber mit keinem einzigen Wort erwähnt. Kazu, die
tief verletzt war und sich dem Ertrinken nahe fühlte, empfand seine männliche
Verschwiegenheit wie eine Boje, die still auf dunkler See treibt.

Yamazaki war so beschäftigt, daß er keine Zeit mehr hatte, mit Noguchi oder
mit Kazu zusammenzukommen. Wie ein Schauspieler, der auf der Bühne vor
Aufregung zu stottern anfängt, vergaß auch Noguchi in der Hitze des wirklichen
Wahlkampfes alle Belehrungen, die Yamazaki ihm erteilt hatte. »Sich niemals
über Zwischenrufe aufregen«, hatte Yamazaki gesagt; aber Noguchi verlor seine
Gelassenheit des öfteren. Als er einmal in Kichijoji eine Rede hielt, hatten seine
Gegner eine Gruppe von etwa zwanzig Zwischenrufern auf die Beine gebracht.
Empört über die dauernden, hartnäckigen Zwischenrufe platzte Noguchi heraus:
»Ihr jungen Leute könnt das ja gar nicht verstehen!« Woraufhin jemand brüllend
antwortete: »Hast recht, Großvater!« Noguchis Mitarbeiter schwitzten oft
Blut und Wasser, weil er im Eifer seiner Reden unbekümmert peinliche Fehler
beging, ohne es selber zu bemerken. Zum Beispiel wies er einmal wiederholt
mit großem Nachdruck auf die »jetzige kaiserliche Reichsverfassung« hin. Aber
merkwürdigerweise blieben solche Versehen Noguchis fast unbemerkt, und
seine Wahlreden, die man nicht anders als nüchtern und trocken bezeichnen
konnte, erfreuten sich bei älteren und etwas pedantischen Leuten sogar einer
gewissen Beliebtheit. Als man dies Yamazaki berichtete, wurde ihm bewußt, daß
die Eigenart der Japaner, ihr Vertrauen in schlechte Redner zu setzen, keineswegs
der Vergangenheit angehörte.
Überall in den Wahldistrikten ereigneten sich ständig Zwischenfälle größerer
und kleinerer Art. Yamazakis Stimme wurde heiser von den vielen Anordnungen,
die er von Fall zu Fall durch das Telefon gab.
»Im A-Distrikt im Suginami-Bezirk scheinen Bestechungen im Gange zu sein.
Es scheint sich um eine beträchtliche Summe zu handeln.«
»Die Ermittlungstruppe soll sofort Beweise sammeln und sie der Polizei

101
Yukio Mishima

übergeben.«
»Im gesamten Bunkyo-Bezirk hat man Noguchis Plakate abgerissen und
darüber Plakate von Tobita geklebt.«
»Schön, dann kleben wir eben noch welche darüber. Ihr bekommt sofort neue
Plakate.«
»In der letzten Nacht wurden im Santama-Bezirk von Block A bis B seltsame
Plakate geklebt, ungefähr dreitausend Stück. Sie zeigen einen häßlichen Dämon
mit einer pausbäckigen Frau. Höchstwahrscheinlich eine Satire auf das Ehepaar
Noguchi.«
»Melde es sofort der Polizei.«
Yamazaki selber hatte zwar nicht das geringste Vertrauen zur Polizei, da sie
unter dem Einfluß der konservativen Partei stand, aber seine jungen Mitstreiter
waren noch nie so begeistert zur Polizei gegangen wie jetzt. Und die Polizisten
waren gezwungen, sich bei ihnen dafür zu bedanken, daß sie Verletzungen des
Wahlgesetzes meldeten. Damit war also die Reformpartei ständig Gast bei der
Polizei.

Während des Wahlkampfes gehörte es zu Noguchis täglichen Gewohnheiten,


morgens bevor er wegging und abends vor dem Schlafengehen mit einer
verdünnten Borsäurelösung zu gurgeln, um seiner überforderten Kehle
Linderung zu verschaffen. Abends nahm er ein Bad und wurde massiert. Wenn
der Masseur das Haus verließ, kam Noguchi endlich zur Ruhe. Dann setzte er
sich im Pyjama, mit einem Frotteetuch um den Hals, auf die Bettkante und
gurgelte. Kazu stand vor ihm und hielt mit beiden Händen eine Kupferschale,
um das Gurgelwasser darin aufzufangen. Es war ein recht düsteres Ritual, fern
der Hetze und Geschäftigkeit des Tages. Aber wenn Kazu die Schüssel hielt,
empfand sie ein wahres Glücksgefühl bei dem Gedanken, daß endlich wieder ein
Tag zu Ende war.
Kazu mochte es nicht, wenn das Moskitonetz nach westlicher Art direkt am
Bett aufgehängt wurde. Sie hatte daher ein weißes Leinennetz über das ganze
Zimmer gespannt, aber es hielt auch die Luft fern, obgleich die Glastüren zum
Garten offenstanden. Das Licht der Nachttischlampe fiel auf den reglosen Stoff
und hob die steifen Falten des weißen Leinens plastisch hervor. Kazu hatte das
Gefühl, sich in einem streng abgeschlossenen, weißen Heiligtum zu befinden. Sie
kniete im Nachthemd auf dem Mattenboden nieder und hielt die Schüssel mit
beiden Händen hoch.
In den Pausen zwischen Noguchis Gurgellauten hörte sie manchmal das
Zirpen der Zikaden, die sich im Dunkel der Baumwipfel niedergelassen hatten.
Der Ton durchzog die nächtliche Stille wie eine scharfe Nadel und endete stets in

102
Nach dem Bankett

einem Trillerlaut, den die Nacht verschlang. Die Nächte in dieser Gegend waren
sehr ruhig. Manchmal hielt ein Wagen in der Ferne, und man hörte die Stimmen
betrunkener Menschen; aber sobald der Wagen mit aufheulendem Motor abfuhr,
senkte sich wieder tiefe Stille nieder.
Kazu liebte es, abends in dieser Stellung vor Noguchi zu verharren. Sie war
nicht weniger erschöpft als ihr Mann, aber der Gedanke, daß sie in der Haltung
einer Priesterin vor einem Schrein diente, ließ sie alle Müdigkeit vergessen. Dies
war eine Geste des Dienens und der Selbstaufopferung, die sie ihm offen erwies,
und es störte sie nicht, daß ein paar Spritzer des Gurgelwassers ihr Gesicht
trafen.
Auch Kazus Rücken schmerzte entsetzlich, aber sie hatte sich noch nie
vor den Augen ihres Mannes massieren lassen. Glücklicherweise waren ihre
Stimmbänder so robust, daß sie trotz der vielen Reden nicht heiser wurde.
Sie blickte zu Noguchi auf. Er saß im Schlafanzug auf der Bettkante, in
der rechten Hand ein Glas, stützte sich mit der linken und gurgelte mit
zurückgebeugtem Kopf. Manchmal drehte er den Kopf von rechts nach links,
um das Wasser überall gleichmäßig zirkulieren zu lassen. Die Falten seines
mageren Halses traten im Licht der Lampe deutlicher hervor. Das rollende
Geräusch schwoll an, und dann entstand eine qualvolle Pause – das wiederholte
sich unzählige Male.
Kazu geriet geradezu in Verzückung bei dieser ergreifenden Szene. Sie blickte
ihn unverwandt an und hatte das Gefühl, als habe sie teil an den anstrengenden,
aber so vergeblichen Bemühungen ihres alternden Mannes. Das körnige, rollende
Geräusch des Gurgelns war ihr die Bestätigung dafür, daß ihr Mann tatsächlich
bei ihr war, daß er vor ihren Augen lebte. Wenn dies zutraf, dann lebte auch sie
selber, Kazu, und in diesem Leben gab es keine Langeweile oder Untätigkeit.
Endlich hatte Noguchi zum drittenmal gegurgelt; er näherte seinen Mund
dem Rand der Schüssel und spie das Wasser mit einem monotonen Laut aus.
Die kupferne Schüssel in Kazus Händen wurde schwerer. Noguchi seufzte. Sein
Gesicht hatte sich gerötet.
Dann tat er etwas, was er in den vergangenen fünf Tagen noch nie getan hatte.
Er streckte ihr die Hand mit dem Glas entgegen und fragte: »Wie ist es? Willst du
nicht auch gurgeln?«
Kazu glaubte, nicht recht zu hören. Da sie ja offiziell nicht am Wahlkampf
teilnahm, konnte auch ihr Hals nicht wund sein, und infolgedessen bestand auch
keine Notwendigkeit zum Gurgeln. Daß ihr Mann sie trotzdem dazu aufforderte,
geschah nicht aus bloßer Besorgnis, sondern bedeutete im Grunde nichts
anderes, als daß er ihre Arbeit beim Wahlkampf stillschweigend anerkannte. Bei
diesem Gedanken barst ihr fast das Herz vor Freude. Sie blickte ihm lange in

103
Yukio Mishima

die Augen, die sie ernst betrachteten, und nahm ehrfürchtig das Glas aus seiner
Hand in Empfang.

In der ersten Woche waren Presse, Rundfunk und Fernsehen einstimmig


der Meinung, daß Noguchi an führender Stelle stünde. Aber in der zweiten
Woche begannen die Vororte abzubröckeln. Ursprünglich hatte man sie für
die Hochburg der Reformpartei gehalten, aber die Verteilung der verdächtigen
Broschüre schien die Position der Reformpartei in den Vororten geschwächt
zu haben. Außerdem hatte man von Anfang an die Wahlwerbung dort weniger
intensiv betrieben, weil man dieser Bezirke sicher zu sein glaubte. Kazu, mit
ihrer unbeugsamen Natur, meinte, daß es noch nicht zu spät sei. Sie fuhr mit
dem Lautsprecherwagen in die Wohnviertel der Außenbezirke und ließ an den
verschiedensten Stellen halten, um zu reden. Die Häuser der reichen Leute lagen
wie ausgestorben da, weil die meisten von ihnen in der Sommerfrische waren.
Hier, bei den Wohlhabenden, hatte die Reformpartei ohnehin keine Anhänger,
deshalb fuhr sie zum Setagaya-Distrikt und in die Gegend der Tokio-Linie, wo
die meisten Berufstätigen wohnten.
Der Lastwagen hielt im Schatten eines kleinen Parks, in dem auch ein
Planschbecken für Kinder war. Das Plätschern des Wassers und die Rufe der
Kinder drangen dauernd zu ihnen herüber. Auf dem freien Platz zwischen dem
Eingang des Parks und der Bahnüberführung fanden sich bald einige Menschen
ein, die auf Kazus Ansprache warteten. Aber die Atmosphäre war irgendwie
anders als in der Innenstadt oder in den Dörfern. Es waren keine treuherzigen
Gesichter. Selbst ein junger Mann, wahrscheinlich ein Laufbursche, der auf dem
Rad saß und sich mit einem Fuß auf dem Boden abstützte, hatte einen hämischen
Zug im Gesicht. Aber nicht nur das: In der Menge wurde geflüstert, man blickte
zu Kazu hinüber und tuschelte dann miteinander.
Als Kazu sprechen sollte, wandte sie sich beunruhigt an den neben ihr
stehenden Parteimann: »Was soll ich nur machen, die Leute reden über mich.«
Der Mann wußte, daß Kazu sich von der Broschüre wie von einem Spuk
verfolgt fühlte, und sagte daher unbekümmert: »Das bilden Sie sich nur ein.
Reden Sie nur frisch von der Leber weg. Es ist ein Riesenerfolg, daß sich so viele
Menschen hier versammelt haben.«
Kazu trat vor und machte, wie üblich, eine Verbeugung vor dem Mikrophon:
»Ich bin die Frau von Noguchi Yuken, des Kandidaten der Reformpartei.« Im
gleichen Augenblick drang unterdrücktes Gelächter an ihr Ohr. Ihr Gesicht
wurde hart, und sie sprach wie im Traum weiter. Die festgesetzte Minute
war längst überschritten, aber heute erhob keiner von den Parteileuten einen
Einwand. Je länger sie sprach, desto hohler klangen ihre Worte, sie schienen wie
Sand über die Köpfe der Menge hinwegzuwehen.

104
Nach dem Bankett

Dieser Eindruck war ein Produkt ihrer Ängste. Sie redete zwar voller
Leidenschaft, aber in Gedanken malte sie sich unentwegt aus, wie ihre
Erscheinung auf die Masse wirken mochte. Sicher sahen die Leute sie genauso,
wie sie in dem Heftchen beschrieben war: als armes Landmädchen, das seinen
Körper verkaufte, um in der Welt hochzukommen. Sie glaubte zu bemerken, daß
ein Mann in mittleren Jahren sie mit unverschämten Blicken anstarrte. ›Was
schert mich der Sozialismus?‹ mochte er denken. ›Wo dieses Frauenzimmer die
Männer mit schamlosen Tricks verführt hat? Man sagt von ihr, daß sie ihren
Ehrgeiz keine Sekunde lang vergessen hat – selbst wenn ihr Körper vor Liebe
glühte. Bestimmt ist sie irgendwo kalt. Wo wohl? Vielleicht am Hintern?‹
Ein paar Schulmädchen starrten zu Kazu hinüber, als bestaunten sie ein
Ungeheuer.
Kazus Wangen röteten sich vor Scham. In ihren Ohren rauschte es, und
sie glaubte Worte zu hören wie »Schlafzimmer«, »Heimliches Verhältnis«,
»Liebelei«, »Kokotte«, »Aufreizend«, »Wollüstig«. Dieser falsche Wortschmuck
der Broschüre glitzerte und funkelte jetzt in der Menge. Die Worte, die aus Kazus
Munde kamen: »Reform der Präfekturverwaltung«, »Positive Politik gegen die
Arbeitslosigkeit«, fielen zu Boden wie ein Schwarm sterbender Termiten. Die
Schmähworte, die sie von den Lippen der Hörer ablas, hatten die Farbe rohen
Fleisches, das rot im Sonnenschein aufglänzte. Sie alle – der alte Spaziergänger
mit dem Stock, die solide selbstgefällige Hausfrau, das junge Mädchen im
Strandkleid mit den bloßen Schultern, der Laufbursche – schienen an Kazus
Fleisch zu nagen und mit satten Augen zu ihr aufzublicken.
Obgleich Kazu im Schatten stand, war es ihr unerträglich heiß. Sie fuhr fort
zu sprechen und versuchte nicht einmal, sich wie gewohnt mit dem eisgekühlten
Tuch das Gesicht abzuwischen. Ihr rann der kalte Schweiß herab, bis ihr ganzer
Körper naß war. Sie hatte das Gefühl, daß die Augen der Zuhörer sie Stück für
Stück entkleideten, bis sie nackt dastand. Die Blicke der Menge gruben sich in
ihren Nacken, fraßen sich in ihre Brust und glitten zu ihrem Unterleib hinab.
Unsichtbare Klauen schienen sie in Stücke zu reißen.
Diese grauenhafte Tortur versetzte Kazu allmählich in den rauschhaften
Zustand einer Märtyrerin. An der Bahnüberführung ertönte ein Klingelzeichen,
und die schwarz-weißen Schranken senkten sich aus dem grellblauen Himmel
herab. Ein langer Vorortzug ratterte mit donnerndem Geräusch vorbei, und an
den Fenstern drängten sich die Menschen, die alle mit neugierigen Blicken zu
Kazu hinüberstarrten.
Schließlich hob Kazu den Blick zum blauen Himmel, wie eine Frau, die auf dem
Scheiterhaufen verbrannt wird. Über den niedrigen Dächern der Vorstadthäuser
stauten sich die Kumuluswolken, strahlendhe und majestätisch, bis zum Zenit
des Himmels.

105
Yukio Mishima

Kazu beendete ihre Rede, und der Lastwagen brachte sie, einer Ohnmacht
nahe, zum nächsten Bestimmungsort.

Zu diesem Zeitpunkt begann auch die Wahl der Bezirksabgeordneten. Die


konservative Partei hatte das Recht, dreitausend Lautsprecher einzusetzen,
nämlich für jeden Kandidaten einen. Über diese dreitausend Lautsprecher, die
an den wichtigsten Straßenecken Tokios aufgestellt wurden, begann eine wahre
Kanonade von Hetzreden gegen Noguchi. Die Reformpartei konnte zur Wahl
der Bezirksabgeordneten höchstens vierhundert Kandidaten stellen, so daß man
auch nur vierhundert Lautsprecher einsetzen durfte.
Zugleich begannen enorme Summen Geldes in die Kassen der konservativen
Partei zu rollen. Das Geld strömte ihnen nur so zu, während Kazus Fonds zu
versiegen drohte. Auch waren alle Pläne zur Beschaffung neuen Geldes für die
Reformpartei im entscheidenden Moment gescheitert. Am . August war es
klar, daß alles mit krachendem Getöse zusammenstürzen würde. Keine einzige
Zeitung war jetzt noch von Noguchis Sieg überzeugt.
Der Tag vor der Wahl, der . August, war ein dunkler, trüber Tag, ein
Rückfall in die Regenzeit. Es herrschte drückende Schwüle und regnete
unaufhörlich. Yamazaki hatte die ganze vergangene Nacht damit verbracht,
das Branchentelefonbuch durchzusehen und eine Liste von fünfzigtausend
Leuten zusammenzustellen, denen er – im Namen des Parteivorsitzenden
Kusakari – Telegramme folgenden Inhalts schicken wollte: »Noguchi gefährdet,
erbitten Beistand.« Am Morgen des . August gab er diese Telegramme bei der
Arbeiterunion des Nachrichtendienstes auf und bat, sie vorrangig abzufertigen
und keine größere Anzahl anderer Telegramme anzunehmen. Der Vorsitzende
der Union erklärte sich dazu bereit.
Am Nachmittag des gleichen Tages hatte die konservative Partei Wind von
der Sache bekommen und beschloß, ebenfalls Telegramme abzuschicken, um der
Reformpartei entgegenzuwirken. Beim Hauptpostamt wurden sie abgewiesen.
Daraufhin setzte sich die Fraktion von Tobita sofort mit dem Postminister
in Verbindung. Er intervenierte – was praktisch einem ministeriellen Befehl
gleichkam –, und noch am selben Abend wurden die hunderttausend
Telegramme der konservativen Partei abgesandt, also doppelt so viele wie die
Reformpartei aufgeben wollte.
Um vier Uhr nachmittags erhielt Yamazaki in Noguchis Haus einen Anruf. Das
Haus wimmelte von Zeitungsreportern und Rundfunk- und Fernsehleuten, und
Yamazaki mußte sich mühsam einen Weg durch die Menschenmenge bahnen,
um zum Apparat zu gelangen. Der Anruf kam aus dem Wahlhauptquartier,
und eine erregte Stimme sagte: »Es ist entsetzlich! Soeben bekamen wir kurz
hintereinander aus sechs verschiedenen Bezirken der Stadt Anrufe, daß dort

106
Nach dem Bankett

Tausende von Flugblättern verteilt werden. Auf dem einen steht: Noguchi
Yuken schwer erkrankt, auf dem anderen: Noguchi Yuken liegt im Sterben. Die
Zeitungsjungen schreien sich die Kehle wund und verteilen unentgeltlich diese
Extrablätter.«
Yamazaki berichtete den anwesenden Reportern von diesem unerhörten
Vorfall. Kazu, die im Hintergrund zugehört hatte, schrie auf und rannte in ihr
Zimmer. Bestürzt folgte Yamazaki ihr.
Kazu lag mitten im Zimmer weinend auf dem Boden. Es war ein unsäglich
trauriger Anblick.
Tröstend strich Yamazaki ihr über den Rücken. Da richtete sie sich jäh auf,
ergriff Yamazaki am Aufschlag seines Anzugs, schüttelte ihn und schrie mit
tränenüberströmtem, wutverzerrtem Gesicht: »Sucht nach dem Täter! Fangt
sofort den Schuldigen. Was für eine Gemeinheit! Was für ein gemeiner Trick! Im
letzten Augenblick! Wenn wir dadurch die Wahl verlieren, dann bleibt mir nur
noch der Tod, dann hat mich dieser Schuft getötet, dann habe ich alles verloren,
was ich besitze. Gehen Sie! Schnell! Nehmen Sie ihn sofort fest! Schnell!«
Während sie immer wieder »schnell, schnell« sagte, wurde ihre Stimme
allmählich schwächer; sie sackte zu Boden und verstummte. Yamazaki übergab
Kazu der Fürsorge eines zuverlässigen Dienstmädchens und drängte sich eilig
durch das Gewühl auf dem Gang zum Telefon.
Abends gegen neun Uhr wurde es ruhig. Fernsehen und Rundfunk
begannen, für das Programm des nächsten Tages vorsorglich ein paar Ton- und
Filmaufnahmen zu machen, um den neuen Gouverneur und seine Gattin
vorstellen zu können, falls Noguchi gewählt würde.
Über der Szene, die wie eine eaterprobe wirkte, lag ein gespenstischer
Hauch von Irrealität. Noguchi beantwortete alle Fragen ruhig und gelassen und
begann, in ernstem, gleichmütigem Ton seine Pläne für die Präfekturverwaltung
zu entwickeln. Seine nüchterne Sachlichkeit hatte noch nie so vorteilhaft gewirkt
wie diesmal.
»Und wo ist die Gattin des Gouverneurs?« fragte der Ansager gerade in dem
Augenblick, als Kazu im Salon erschien. Sie hatte sich umgezogen und trug
jetzt einen prächtigen vornehmen Kimono. Ihr Gesicht war leicht gepudert, sie
lächelte selbstbewußt – kurz, sie war einfach vollkommen.
Nachdem Kazu die Presseleute aus dem Haus geleitet hatte, kehrte sie zu
Yamazaki zurück und sprach die ersten verzagten Worte, die er aus ihrem Munde
hörte: »Wissen Sie, Herr Yamazaki, nach allem, was geschehen ist, habe ich das
Gefühl, daß wir die Wahl verlieren werden. Ich weiß nicht, ob ich so etwas
überhaupt aussprechen darf . . .«
Yamazaki wandte sich ihr zu, fand aber kein Wort der Erwiderung. Und

107
Yukio Mishima

plötzlich, in der schwülen Dunkelheit des Ganges, begann Kazus Gesicht zu


leuchten, als ob es von einem inneren Licht erhellt werde. Ihre Stimme klang wie
in Trance, als sie fortfuhr: »Aber bestimmt wird alles gut gehen. Nicht wahr? Wir
werden gewinnen.«

108
Nach dem Bankett

Der Tag der Wahl

Am Wahltag, dem . August, war das Wetter klar und schön. Kazu stand früh
auf, um das Erkerfenster mit einem Blumenarrangement zu schmücken. Sie
wählte fünf Wasserlilien in verschiedenen Größen und ordnete sie kunstvoll in
ein großes mit Wasser gefülltes Becken, wie sie es früher einmal gelernt hatte,
Schon diese Tätigkeit brachte sie in Schweiß.
Die stille Klarheit des Wassers unter den Blumen beruhigte Kazus Herz. Die
Blüten hatten die zarten Farben der Morgenröte, sie wirkten wie gemeißelt, als
sie auf dem Wasser trieben, und spiegelten sich dunkelviolett auf der glatten
Oberfläche. Während Kazu die Blumen mit forschenden Augen betrachtete, war
ihr zumute, als ob sie weissagen könne. Sie glaubte, daß sie aus der Anordnung
der treibenden Blüten etwas über ihr künftiges Schicksal erfahren könne.
Kazu hatte nicht nur ihr gesamtes Vermögen, sondern auch ihre
ganze Lebenskraft in den Wahlkampf gesteckt. Sie hatte alles getan, was
menschenmöglich war, und viele Demütigungen über sich ergehen lassen. Jeder
wußte, daß sie tapfer gekämpft hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich
so leidenschaftlich, so ausdauernd und erfolgreich für etwas eingesetzt. Die
unerschütterliche Gewißheit, daß sie alles erreichte, was sie sich einmal in den
Kopf gesetzt hatte, war ihre einzige Stütze gewesen. Diese Gewißheit, die Kazu in
ihrem bisherigen Leben nur unklar empfunden hatte, war seit einigen Monaten
fest in ihrem Herzen verwurzelt, und Kazu konnte ohne sie nicht mehr leben.
Aufmerksam betrachtete sie die Wasserlilien. Das Wasser erschien ihr wie ein
Symbol für die unüberschaubaren Volksmassen, die heute in allen Bezirken zu
den Wahllokalen strömen würden, und die Blüten waren Noguchi selber. Tief
reichten die Stiele der Blumen ins Wasser, und an jeder Spitze des Blumenhalters
hingen winzige Luftbläschen. ›Das Wasser‹, dachte Kazu, ›hat nur eine Funktion:
um die Gunst der Blumen zu werben und ihr Spiegelbild zurückzuwerfen.‹
In diesem Augenblick glitt der Schatten eines Vogels, der am offenen
Erkerfenster vorbeiflog, über das Blumenarrangement. Durch den Luftzug löste
sich ein trockenes Blatt von dem Ast, der fast bis ans Fenster reichte, segelte
in der Luft umher und stürzte dann in das Bassin. Das Wasser geriet kaum in
Bewegung, aber das verschrumpelte, braune Blatt schwamm auf der Oberfläche
herum und sah häßlich aus wie eine zusammengekrümmte Raupe.
Wenn Kazu nicht unvorsichtigerweise versucht hätte, aus der Anordnung

109
Yukio Mishima

der Blumen zu weissagen, dann hätte sie das störende Blatt einfach entfernen
können. Jetzt aber hatte sie das kleine Blättchen ganz aus der Fassung gebracht,
und sie bereute es bitter, sich so törichten Gedanken hingegeben zu haben.
Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und spielte eine Weile nachdenklich mit
ihrem Fächer. Die Morgensonne fiel auf den Fernsehapparat vor ihr, dessen
bläulicher Bildschirm jetzt noch leer war, aber in Kürze in aller Ausführlichkeit
über die Wahl berichten würde.
Kazu nahm ihr Morgenbad nach Noguchi. Sie widmete sich mit großer Sorgfalt
ihrem Make-up und zog einen festlichen Kimono an, den sie eigens für diesen
Tag hatte anfertigen lassen. Da sie sich während des anstrengenden Wahlkampfes
gar nicht um ihr Aussehen hatte kümmern können – und manchmal auch
nicht hatte kümmern wollen –, versetzte sie das schöne Gewand in eine
freudig erregte Stimmung. Auf dem durchsichtigen silbergrauen Seidenstoff
des Kimonos waren lackschwarze fischende Kormorane dargestellt, die von
scharlachroten, flammenden Fackeln umgeben waren. Dazu trug Kazu einen
hellgrünen Gobelin-Obi, auf den mit Silberfäden ein sichelförmiger Mond und
zarte Wolken gestickt waren, und eine Obi-Brosche aus Diamanten.
Sie wußte, daß ihre auffallende Kleidung Noguchi ärgern würde; aber sie hatte
den Wunsch, sich für den Gang zum Wahllokal so schön zu machen, daß sie mit
sich selber zufrieden war. Auf jeden Fall verspürte sie heute, nachdem endlich
der Kampf in Staub und Schweiß beendet, wenn auch noch nicht entschieden
war, das Bedürfnis, sich etwas Gutes anzutun und nach Herzenslust dem Luxus
zu frönen.
Sie ging ins Wohnzimmer, um Noguchi beim Ankleiden behilflich zu sein.
Sein Anblick erfüllte ihr Herz mit Freude: er hatte von den drei Anzügen, die
sorgfältig gebügelt für ihn bereitlagen, jenen ausgewählt, den er zum erstenmal
bei Beginn des Wahlkampfs getragen hatte.
Noguchi ließ sich, wie üblich, nicht dazu herab, ihr auch nur die Spur eines
Lächelns zu schenken, aber es machte sie schon glücklich, daß er kein abfälliges
Wort über ihre Aufmachung fallenließ. Auf dem Wege zum Wahllokal saßen sie
schweigend nebeneinander im Wagen. Kazu betrachtete aus dem Fenster an
ihrer Seite die im gleißenden Licht der Morgensonne liegenden Läden. Nun, da
ihr ein solch unvergeßliches Erlebnis vergönnt gewesen war, sollte es sie auch
nicht anfechten, wenn Noguchi verlor. Dies war vermutlich der Augenblick der
größten Verbundenheit zwischen diesen beiden eigensinnigen Ehepartnern.
Während Kazu, von Blitzlichtern der Zeitungs- und Wochenschau-Reporter
begleitet, das Wahllokal in der Volksschule betrat und nach ihrem Gatten den
Wahlzettel in den Kasten warf, fühlte sie sich vollkommen glücklich.
Die Zählung der Stimmen begann am nächsten Tag. Die Voraussagen des
Wahlergebnisses in den Morgenausgaben der Zeitungen waren erstaunlich

110
Nach dem Bankett

ausgewogen. Ein Teil der Presse sagte Tobitas Sieg voraus, ein anderer Noguchis,
und einige Zeitungen äußerten sich nur gewunden zu dieser Frage und meinten,
die Differenz sei wahrscheinlich so knapp, daß man das Endergebnis – wie bei
einem Wettkampf – gewissermaßen nur mittels Zielfoto genau bestimmen
könne. Kazu vibrierte seit dem frühen Morgen vor Aufregung. Sollte Noguchi
siegen, würde ihr Herz vor Freude bersten; doch im Falle einer Niederlage würde
die Welt für sie zusammenstürzen. Die Zählung der Stimmzettel begann um acht
Uhr vormittags. Um elf Uhr kam das erste Zwischenergebnis heraus. Das Ehepaar
saß im Salon vor dem Fernsehapparat. Zuerst brachte man die Ergebnisse vom
Santama-Bezirk, also aus der Vorstadt.
Kazu klopfte das Herz bis zum Hals, und sie murmelte immer wieder wie im
Fieber. »Das ist ja Santama, Santama!« Sie dachte an das Volksfest, sah deutlich
die Reihen der bunten Lampions und die schwarzen Berge ringsum, die plötzlich
näher zu rücken schienen, als die Lampions angezündet wurden; sie hörte den
begeisterten Applaus von den Abhängen der Berge widerhallen und sah die
braungebrannten Gesichter der Bäuerinnen mit dem freundlichen Lächeln,
deren kleine, flinke Augen vor Neugier blitzten. Kazus Fingernägel bohrten sich
in die Lehne des Stuhles. Sie fühlte, daß heiße und kalte Schauer durch ihren
Körper jagten. Schließlich konnte sie nicht länger an sich halten und sagte zu
Noguchi: »Was für ein glückliches Omen, daß der Santama-Bezirk als erster
kommt. Da haben wir bestimmt gewonnen.«
Noguchi antwortete nicht.
Auf dein Bildschirm erschien die Tafel mit den Ergebnissen, und die Stimme
des Sprechers sagte:

»Noguchi Yuken   Stimmen


Tobita Gen   Stimmen.«

Aus Kazus Gesicht wich das Blut. Ihr verzweifelter Wille, nicht die Hoffnung
zu verlieren, legte sich wie ein Eisenring um ihr Herz.

Um zwei Uhr nachmittags war es sicher, daß Tobita Gen den Sieg errungen
hatte. Sein Stimmenanteil betrug über , Millionen, und damit war er Noguchi
um   Stimmen überlegen. Auch in Osaka trug die konservative Partei
den Sieg davon, und der Ansager kommentierte es mit den Worten: »Es ist der
konservativen Partei gelungen, ihre Stellung in den beiden strategisch wichtigen
Stadtteilen in Ost und West zu behaupten.«
Kazu wunderte sich über sich selber, daß sie trotz des enttäuschenden Resultats
so ruhig blieb. Für sie war es nur der Sieg des Geldes und der politischen Ränke
des Feindes. Kazu erinnerte sich noch deutlich, daß einige Tage vor der Wahl, als

111
Yukio Mishima

das Geld der Reformpartei versiegte, eine wahre Flut von Geldern in die Kassen
der konservativen Partei geströmt war. Man hatte das Geld mit vollen Händen
auf die Straße geworfen, um den Mob und die Allerärmsten einzufangen. Es
hatte gefunkelt wie die Sonne – eine ruchlose, unheilvolle Sonne, die giftige
Pflanzen wachsen und wuchern läßt, bis ihre Ranken sich über alle Teile der Stadt
winden und sich ihre unheimlichen Fühler nach dem klaren Sommerhimmel
ausstrecken.
Ohne eine Träne zu vergießen, nahm Kazu die Erklärung ihres Mannes
entgegen, daß sie sich jetzt im Wahlhauptquartier der Reformpartei zeigen
müßten.

An diesem Tag verfehlte Yamazaki das Ehepaar Noguchi überall. Als er zum
Wahlhauptquartier kam, waren die beiden bereits wieder weggegangen.
Während er eifrig mit der Abwicklung der Geschäfte im Wahlhauptquartier
beschäftigt war, wurde ihm erst das ganze Ausmaß des Geschehenen bewußt. Die
Gewißheit der Niederlage überkam ihn wie eine Ohnmacht. Das Wahlergebnis
war für ihn nicht ganz unerwartet ausgefallen, er hatte es – zumindest seit
dem Tag vor der Wahl – bereits vorausgesehen. Aber er hatte immer noch mit
einem unerwarteten Glücksfall gerechnet – eins zu zehntausend etwa –, da der
unberechenbar hohe Anteil der unentschiedenen Wähler in Großstädten den
Ausgang einer Wahl in überraschender Weise beeinflussen kann.
Er hatte die ganze Zeit zwischen Pessimismus und instinktivem
Glücksvertrauen geschwankt, aber nun übermannten ihn Bitterkeit und
Trostlosigkeit.
An die Rückschläge, die die radikale Partei in diesem Lande erfuhr, hatte
Yamazaki sich im Laufe seiner Karriere gewöhnt. Er hatte stets auf die Partei
gesetzt, die ihm zwar immer Enttäuschungen brachte, aber eben doch die Ideen
seiner Jugend vertrat. Als ausgesprochen fähiger und kämpferischer Politiker, der
durch nichts unterzukriegen war, hatte er eine fast masochistische Leidenschaft
in sich entdeckt. Gesetzwidrigkeiten beim Wahlkampf und der Sieg des Geldes
waren für ihn keine Überraschung, sondern so natürlich wie der Anblick der
Steine oder der Pferdeäpfel auf einer Straße.
Um die Wahrheit zu sagen: Yamazakis Herz war so erkaltet, daß er Hitze
und Glut des Wahlkampfes brauchte, jene Glut, die alles – vom kostbarsten
Holz bis zum schmutzigsten Papierfetzen – verbrannte. Er liebte heftige
Gemütsbewegungen – Freude, Zorn, Lust und Trauer –, die überall dort
hervorgerufen werden, wo Menschen eigensüchtige Interessen verfolgen.
Und von solchen Menschen wimmelte es in der Politik nur so. Er liebte die
unberechenbaren Kräfte, die die Menschen zu Gefühlsausbrüchen treiben. Er

112
Nach dem Bankett

liebte die eigentümlich hitzige Atmosphäre, die man nur in der Politik findet, was
immer sie auch verbergen mochte.
Er füllte die Leere in seinem Innern mit der Erregung der Massen, die das
gleiche Los teilten, und ergötzte sich daran, daß er seine Gefühle in den Gefühlen
der anderen wiederfand.
Um es ganz offen zu sagen: es lag etwas Unnatürliches in Yamazakis Reaktion
auf die Niederlage. Ebenso, wie er die Desillusionierung genoß, liebte er auch das
Pathos eines verlorenen Kampfes und seine niedergedrückte Stimmung.

Am Abend, als Yamazaki mit einer Taxe zu Noguchis Haus nach Shiinamachi
fuhr, dachte er über die Rolle nach, die er jetzt spielen mußte. Er konnte dem
Ehepaar Noguchi nur noch ein mitfühlender Freund sein – darüber hinaus
konnte er nichts mehr tun.
Als er durch das Tor trat, empfand er die Unruhe eines Haushaltes, der gerade
von einem Unglück betroffen worden ist, in allen Fasern seines Körpers. Vor
dem Tor standen Reihen von Wagen der Zeitungsreporter, und viele Menschen
gingen ein und aus. Aber die Stimmung der Menschen war gedrückt, und ihre
Mienen erinnerten an die von Kondolenzbesuchern. Wenn sie das Haus verlassen
hatten und etwa hundert Meter entfernt waren, würden sie alle bestimmt die
unsichtbare Last von ihren Schultern schütteln und in ein befreiendes Lachen
ausbrechen, als seien sie endlich wieder zum Leben erwacht.
Das Haus war mit Menschen überfüllt. Sie standen sogar in den Gängen.
Yamazaki warf einen Blick in den Salon und nickte Noguchi zu, der von
Reportern umringt auf einem Stuhl im hinteren Teil des Zimmers saß. Vom
Korridor her drang unterdrücktes Schluchzen zu ihm, das nach jedem seiner
Schritte lauter wurde. Er sah, wie Kazu und die weiblichen Abgeordneten
verschiedener Frauenverbände, die bei der Wahl mitgeholfen hatten, einander
weinend umarmten.
Wenn jemand Kazu sprechen wollte, wischte sie eilig die Tränen ab und ging
in den Salon. Sobald sie aber wieder herauskam, brach sie erneut in Weinen aus.
Sie hatte nicht mehr genug Puder, um die Spuren ihrer Tränen zu verdecken.
Yamazaki legte seinen Arm um ihre Schulter und führte sie in Noguchis
Arbeitszimmer. »Bleiben Sie jetzt ganz ruhig hier, gnädige Frau«, sagte er. Kazu
brach auf dem Teppich zusammen. Sie stützte sich mit einer Hand und strich
mit der anderen langsam über ihren Hals. Mit unbeweglichem Gesicht sah sie zu
Yamazaki empor, während aus ihren weitgeöffneten Augen unaufhaltsam Tränen
rannen, wie Wasser, das aus einer gesprungenen Blumenvase sickert.
Nach zehn Uhr ging der letzte der Reporter, und es wurde still im Haus.
Yamazaki erkannte, daß es gerade diese Stille war, die er und auch die Noguchis

113
Yukio Mishima

am meisten gefürchtet hatten.


Der Geruch der Räucherkerzen, die man gegen die Moskitos angezündet
hatte, erinnerte an den Weihrauchduft bei einer Totenmesse. Nur der engste
Kreis von Noguchis Mitarbeitern war zurückgeblieben. Schweigend nahm
man einen leichten Imbiß ein. Einer nach dem anderen stahl sich unbemerkt
davon. Als Yamazaki sich als letzter verabschieden wollte, versuchten sie, ihn
zurückzuhalten, obgleich es bereits elf Uhr war.
Er ging mit dem Ehepaar in Kazus achtmattengroßes Wohnzimmer. »Habt
Dank für all eure Mühe. Ich möchte mich nur eben umziehen.« Noguchis
Worte schienen weder allein an Yamazaki noch allein an Kazu gerichtet zu sein.
Gewohnheitsmäßig wollte er in die Hände klatschen, um das Mädchen zu rufen,
aber Kazu hinderte ihn daran, holte eigenhändig einen Kimono aus dem Korb
und half ihm selber beim Umkleiden.
Als Noguchi den schmalen Obi aus Kazus Händen entgegennahm, sagte er:
»Du hast es in letzter Zeit auch sehr schwer gehabt. Spann jetzt etwas aus.«
Noguchi wandte ihnen den Rücken zu und weinte. Es waren die ersten Tränen,
die Yamazaki bei ihm sah. Er kniete vor Noguchi nieder, stützte sich mit beiden
Händen auf die Tatamimatten, verbeugte sich tief und sagte verzweifelt: »Ich
habe versagt. Es gibt kein Wort der Entschuldigung für mich.«
Als Kazu Noguchis Tränen sah, konnte auch sie ihr Schluchzen nicht länger
zurückhalten. Sie warf sich laut weinend zu Boden.
Es ist nicht ganz verständlich, warum das Ehepaar Yamazakis Anwesenheit
bei dieser Szene duldete. Es war kaum denkbar, daß sie einen Zeugen brauchten,
vor dem sie einander ihr Herz ausschütten konnten. Wahrscheinlich geschah
es nur deshalb, weil beide, Noguchi und Kazu, in Yamazaki ihren vertrautesten
und engsten Freund sahen. Und da die Eheleute offiziell keine Gelegenheit mehr
haben würden, Yamazaki ihre Dankbarkeit für all seine Mühen zu beweisen
und ihr grenzenloses Vertrauen zu zeigen, mochten sie dazu diese intime
Szene gewählt haben. Es war aber auch möglich, daß beide Eheleute nicht
nur Vertrauen, sondern auch neue Hoffnung in Yamazaki setzten, und – ohne
darüber gesprochen zu haben – beide einen Halt an ihm suchten, um von der
entsetzlichen Stille befreit zu werden, der sie sich sonst allein gegenübersahen.
Nach diesem Auftritt machte Noguchi es sich in seinem Kimono bequem und
sprach blumenreich wie ein Orientale und ausgesprochen theatralisch mit seiner
Frau. Es gab wohl keinen Menschen, der in der Öffentlichkeit weniger theatralisch
war als Noguchi. Aber wenn es sich um private, familiäre Dinge handelte, sprach
er mit einem geradezu an die Heroen der Antike erinnernden Pathos. Er
glaubte, alles, was er sagte, sei seinem aufrichtigen Gefühl entsprungen; aber in
Wirklichkeit wandelte er auf den Pfaden der altchinesischen Dichter. Yamazaki,

114
Nach dem Bankett

der auf seine Worte lauschte, mußte unwillkürlich an die »Heimkehr« von
Tao-Yüan-ming oder an den Vers von Po-Chü-i im »Fünfundvierzig« denken:

Vielleicht erwerbe ich


Am Fuße des Berges Lu
Im nächsten Frühling
Eine Hütte aus Gras.

Aber Noguchis Worte waren prosaischer. Er sah auf Kazus linke Wange und
begann umständlich und unbeholfen zu sprechen: »Ach gebe die Politik auf.
Ich werde mich nie wieder in meinem Leben mit Politik befassen. Ich habe
verschiedene Ideale gehabt. Sie scheinen aber heute nichts mehr wert zu sein, da
mir der Sieg nicht zuteil wurde. Du hast meinetwegen viel zu leiden gehabt. Viel
zu erdulden. Aber von nun an wollen wir in einem ruhigen Winkel leben, ganz
bescheiden, von unserer Pension, wie ein alter Mann und eine alte Frau.«
Kazu, die noch immer auf dem Boden lag, neigte ihren Kopf noch tiefer und
antwortete ergeben: »Ja.« Yamazaki sah mit Befremden, daß Kazus Gestalt ihre
Worte Lügen strafte, da sie einen geradezu gebieterischen Eindruck machte. Ihre
heftigen Reaktionen hatten stets etwas Unheimliches an sich. Ihre vitale Kraft
beschränkte sich niemals auf den Moment, sondern sie sah stets weiter, griff sofort
nach dem nächsten Ziel. So konnte Kummer unerwartet zur Triebfeder ihres
Jubels werden, und Freude konnte der Vorbote eines Verzweiflungsausbruchs
sein. Ihre am Boden kauernde Gestalt drückte unaussprechliche Trauer aus. Sie
wurde von Schluchzen geschüttelt, und der zarte Enzian, der auf den Rücken
ihres Obi gestickt war, zitterte. Und doch spürte Yamazaki, daß in ihrem Körper,
der sich Noguchis Willen so ergeben unterwarf, etwas aufwallte, das sie kaum
unterdrücken konnte.
Als Yamazaki schließlich aufstand, um sich zu empfehlen, dankte ihm Noguchi
noch einmal überaus höflich und entschuldigte sich dafür, daß er im Zimmer
bleibe; er sei zu müde, um ihm das Geleit zu geben. Ihre Tränen trocknend,
begleitete Kazu Yamazaki hinaus.
Als sie um die Ecke des Ganges bogen, der zur Haustür führte, zupfte Kazu
Yamazaki am Ärmel und bedeutete ihm, stehenzubleiben. Ihre Augen, die vor
kurzem noch von Tränen und Schmerz verschleiert gewesen waren, blickten
wieder klar und waren voller Leben. Im trüben Licht des Korridors sah man
kaum noch Spuren der weggewischten Tränenströme. Tiefe Schatten zeigten
sich im Schein der Flurlampe unter ihren Augen, und ihr puderverschmiertes
Gesicht wirkte wie das eines schlecht geschminkten Schauspielers. Sie sprach mit
unbewegtem Gesicht, nur die blinkenden Zähne zwischen den leicht geöffneten
Lippen und der Glanz ihrer Augen erinnerten an ein Raubtier, das auf Beute

115
Yukio Mishima

lauert; ihre absichtlich gesenkte, tiefe Stimme hatte einen herrischen Klang.
»Diese verdammten Kerle! Saeki und Nagayama haben es doch tatsächlich durch
ihr Geld und ihre Lügen geschafft, daß wir die Wahl verloren haben! Und Tobita,
dieser Wurm! Ich könnte ihn umbringen! Alle könnte ich sie umbringen! Gibt
es denn keine Möglichkeit, Tobita zu stürzen, Herr Yamazaki? Haben Sie kein
Beweismaterial gegen ihn? Es sind doch massenhaft Wahlverstöße vorgekommen!
Haben Sie nichts in der Hand, womit Sie Tobita erledigen können? Sie sind der
einzige, der das in die Wege leiten könnte. Sie müssen es tun!«

116
Nach dem Bankett

Orchideen, Orangen, Schlafzimmer

Noguchi maß seinen Äußerungen und besonders seinen Versprechen große


Wichtigkeit bei – wie schweigsame Menschen es oft tun. Aber auch, wenn er
Befehle erteilte, war er fest davon überzeugt, daß sie unverzüglich ausgeführt
würden. Dinge, die ihm wünschenswert erschienen, hatten einfach zu geschehen.
Daher glaubte er auch, als er am Abend seiner Wahlniederlage von ihrem
zukünftigen Leben sprach, dem bescheidenen Leben eines alten Rentners und
seiner Frau, daß Kazu sich ganz darauf einstellen würde. Sie hatte schließlich mit
einem eindeutigen »Ja« geantwortet. Aber während sie in den folgenden Tagen
Dankbesuche für irgendwelche Wahlhilfen abstattete, wurde ihr nach und nach
die volle und düstere Bedeutung dieses »Ja« bewußt. Es war im Grunde nur ihre
Zustimmung gewesen, einst das gleiche Grab mit Noguchi zu teilen, was sie zwar
von Anfang an ersehnt hatte, was aber im Augenblick nichts anderes bedeutete,
als daß sie schon jetzt den schmalen, moosbedeckten Weg betreten sollte, der
geradewegs zum Grabe führt.
Noch gab es Verschiedenes, was sie beschäftigte. Die Abgeordneten für das
Oberhaus wurden gewählt, und man bat sowohl Noguchi wie Kazu, Wahlreden
für andere Kandidaten zu halten. Die Freude, anderen Menschen helfen zu
können, versetzte sie beide in fröhliche Stimmung. Noguchi brachte sogar eine
humorvolle Note in seine Reden, und Kazu sprach viel gelassener als sonst. Beide
hatten weit mehr Erfolg als bei den Wahlreden, die sie in eigener Sache gehalten
hatten. Beim Abendessen prahlten sie manchmal damit, wie spontan die
Reaktion ihrer Zuhörer gewesen sei, was sie während Noguchis Wahlkampagne
nie getan hatten.

Sie hatten sowohl finanziell wie gesellschaftlich alles verloren, was man verlieren
kann. Dafür hatten sie ein stilles, geläutertes Glück gefunden – wenigstens
liebte es Noguchi in letzter Zeit, das zu denken. Es war eine etwas zu naive,
romantische Vorstellung, die zwar in Noguchis Alter verständlich war, aber nicht
in Kazus. Zuweilen übertrieb er seine Sentimentalitäten und brachte eines Tages
sogar auf dem Heimweg vom Zentralbüro der Reformpartei einen Topf mit einer
Orchidee mit nach Hause.
Als Kazu ihm zur Begrüßung entgegenging, rief sie entsetzt: »Um Himmels
willen! Hast du den Topf etwa selber nach Hause getragen? Wenn der
Blumenladen ihn nicht schicken konnte, hättest du doch anrufen können. Dann

117
Yukio Mishima

hätte ich das Mädchen geschickt, um ihn zu holen!«


Sie hatte noch nicht einmal einen Blick auf die Blume geworfen, als sie dies
– in keineswegs freundlichem Ton – sagte. Daraufhin verschlechterte sich
Noguchis Laune, er drückte Kazu den Topf in die Hand, und da erst erkannte sie
die Pflanze: es war die gleiche Blume, deren Namen er ihr genannt hatte, als sie
zum erstenmal zusammen im Restaurant Seijoken zu Mittag gespeist hatten.
Diese Entdeckung hatte etwas Bedrückendes für sie. Die Aufmerksamkeit,
die er ihr am Wahltag bezeigt hatte, indem er den Anzug trug, den Kazu ihm
hatte machen lassen, hatte sie tief beeindruckt. Aber diese Orchidee weckte
keinerlei Empfindung in ihr. Sie sah die welke Hand eines alten Mannes, der sie
mit allen Mitteln zu sich hinziehen wollte. Sie spürte, daß er durch diesen Einfall
mit der blutrotgetupften Orchidee versuchen wollte, die in ihrer Erinnerung
bereits verblichene Blume durch diese neue zu ersetzen. Sie hatte den Eindruck,
als versuche der selbstgefällige alte Mann geschickt, eine Brücke zwischen
Vergangenheit und Zukunft zu schlagen, indem er der Orchidee von damals in
dieser frischen Blume Gegenwart verlieh, um Kazu im Netz dieser Anspielung
einzufangen.
Ihr Mißtrauen war erwacht. Zunächst tat sie jedoch so, als habe sie nichts
bemerkt. Beim Betreten des Schlafzimmers jedoch sagte sie beiläufig: »Wie
heißt eigentlich diese Blume? Du sagtest mir ihren Namen schon einmal im
Seijoken.«
Nach dem üblichen Hustenanfall vor dem Einschlafen drehte Noguchi sich
brüsk um und wandte Kazu den Rücken zu. »Dendrobium«, antwortete er
mürrisch.

Es kam der September.


Kazu rief Yamazaki an und verabredete sich mit ihm im Sembikiya auf der
Ginza. Es war das erste Mal nach der Wahl, daß sie sich außerhalb des Hauses
trafen.
Kazu, in einem leichten Kimono, der mit winzigen Tupfen gemustert war,
bahnte sich nach langer Zeit wieder einmal ihren Weg durch das Gewühl auf
der Ginza. Braungebrannte junge Leute, die gerade aus der Sommerfrische
zurückgekommen waren, schlenderten in Gruppen durch die Straße. Sie
erinnerte sich an ihre unerklärliche Erregung, als sie einmal vom fünften Stock
aus dem Fenster eines Saales geblickt hatte und die Passanten auf der Ginza
beobachtete. Jetzt waren die Menschen nur noch eine anonyme Masse für sie, die
in keiner Beziehung zu ihr stand. Trotz der zahlreichen Wahlansprachen, die sie
überall gehalten hatte, erkannte keiner der Vorbeigehenden Kazu. ›Diese Leute
waren sicher in der Sommerfrische, während wir im Wahlkampf schwitzten‹,

118
Nach dem Bankett

dachte sie.
Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß zwischen diesen Menschen
und ihr ein Abgrund klaffte und daß all ihre Mühe sinnlos gewesen war. Ziellos
schienen sich diese auffallend gekleideten Männer und Frauen treiben zu lassen,
sie waren eine beziehungslos zusammengewürfelte Masse.
Schließlich erreichte sie das Geschäft, in dem sie sich mit Yamazaki verabredet
hatte, und blieb bewundernd vor dem Schaufenster mit den schimmernden
Blattpflanzen und den seltenen tropischen Früchten stehen. Da bemerkte sie
eine Dame mittleren Alters in weißem Kostüm und weißem Hut, die zu ihr
hinüberblickte. Kazu betrachtete aufmerksam das Gesicht mit den dünnen
gemalten Augenbrauen, das ihr bekannt vorkam. Es war Frau Tamaki.
Die Damen begrüßten sich und entschuldigten sich beide, daß sie so lange
nichts von sich hatten hören lassen. Dann bemerkte Frau Tamaki: »Ich komme
gar nicht darüber hinweg, daß ich Ihnen damals so viele Unannehmlichkeiten
bereitet habe.« Für Kazu klangen diese Worte wie ein Zeichen tiefeingewurzelter
Wut.
Die beiden Damen standen vor einer Kiste mit Sunkist Orangen, und Frau
Tamaki nahm während des Plauderns eine Frucht nach der anderen aus der Kiste,
wickelte sie aus dem roten, englisch bedruckten Seidenpapier und prüfte die
Schale, ehe sie sich entschied, die Früchte zu kaufen.
»Waren Sie im Sommer verreist?« fragte sie.
»Nein«, antwortete Kazu schroff.
»Ach bin gerade gestern aus Karuizawa zurückgekommen. In Tokio ist es ja
noch entsetzlich heiß.«
»Ja, im Spätsommer ist es manchmal noch recht heiß.«
Erst jetzt verstand Frau Tamaki, weshalb Kazu so verschlossen war. »Ach ja,
am Tage der Wahl war ich selbstverständlich hier und habe natürlich Herrn
Noguchi gewählt. Wirklich zu schade. Ich war so deprimiert, als beträfe es mich
selber.«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen«, bedankte Kazu sich für diese unverkennbare
Lüge.
Endlich hatte Frau Tamaki drei Orangen ausgewählt. »Wie teuer alles in letzter
Zeit geworden ist, sogar die Orangen! In Amerika würden solche Früchte wie
diese hier als Abfall gelten.«
Um ihr zu imponieren, ließ Frau Tamaki die lächerlichen drei Orangen
absichtlich vor Kazus Augen von der Verkäuferin einpacken. ›Wo nur Yamazaki
bleiben mag‹, dachte Kazu ungeduldig und blickte in den leeren Erfrischungsraum,
in dem sich nur die Ventilatoren auf den Tischen bewegten.

119
Yukio Mishima

»Mein Mann mochte Orangen so gern. Manchmal stelle ich ihm welche vor
den Hausaltar. Heute will ich es auch tun. Übrigens . . . mein Mann hat ja, ohne es
zu wissen, die Rolle des Amors zwischen Ihnen und Herrn Noguchi gespielt.«
»Dann müßte ich ihm eigentlich auch ein paar Orangen darbringen.«
»So habe ich es nicht gemeint.«
Kazu war sich selber nicht ganz klar darüber, was sie zu einem so ungezogenen
Benehmen veranlaßte, aber einem plötzlichen Impuls folgend, winkte sie mit
ihrem Sandelholzfächer die Verkäuferin heran und befahl ihr, eine Kiste mit
zwei Dutzend Orangen als Geschenk zu verpacken. Frau Tamaki wurde blaß. Sie
starrte Kazu mit hochgezogenen Brauen feindselig an und betupfte ihre Wangen
mit einem gefalteten Spitzentaschentuch.
Die Verkäuferin legte die zwei Dutzend Orangen in einen großen Karton,
verpackte ihn in hübschem Papier und band ein rosa Bändchen darum.
Zwischen den beiden Frauen herrschte Schweigen. Kazu fächelte sich mit
sanften Bewegungen Luft zu, atmete den frischen Geruch der Früchte ein, der
sich mit dem feinen Duft des Sandelholzes mischte, und kostete das Schweigen
in tiefster Seele aus. Sie haßte die Frau vor ihr. Die Lust des Schweigens war für
sie die schönste Zerstreuung nach den vielen Sorgen, die sie in letzter Zeit gehabt
hatte.
Frau Tamaki sah aus wie eine ertappte Spionin. Kazu wußte genau, was in
Frau Tamaki vorging, und das bereitete ihr zusätzliches Vergnügen: Frau Tamaki
konnte nicht sicher sein, ob die Orangen wirklich für ihren Mann bestimmt
waren. Wenn es sich herausstellte, daß Kazu das Geschenk an jemand anderen
schicken ließ, mußte Frau Tamaki sich ihrer grundlosen Besorgnis schämen.
Andererseits war es eine noch größere Demütigung, wenn Kazu die Früchte im
Andenken an Botschafter Tamaki vor seinem Altar darbringen wollte. Sie war so
aufgeregt, daß sie nicht ruhig zusehen konnte, als die Verkäuferin eine besonders
kunstvolle Schleife band.
Schließlich trafen sich die Blicke der beiden Frauen. »Parvenü!« sagten die
Augen der Witwe. »Lügnerin!« entgegneten Kazus Augen. ›Wenn sie nach Hause
kommt, wird sie die drei Orangen sicherlich gierig aufessen‹, dachte Kazu.
»Ich muß leider gehen«, sagte Frau Tamaki. »Ich habe mich unendlich gefreut,
Sie zu sehen. Sicher werden Sie jetzt mehr Zeit haben. Kommen Sie doch einmal
mit Ihrem Mann bei mir vorbei.«
»Ja, ich hoffe auch, daß wir uns bald wiedersehen. Oh, ich werde die Orangen
schicken lassen. Ich möchte Ihnen nicht zumuten, sie zu tragen. Bitte, haben Sie
doch die Güte, sie dem Dahingeschiedenen darzubringen.« Kazu deutete mit
dem Fächer auf den Karton, der gerade fertig verpackt war.
»Aber ich bitte Sie! Meine Liebe! Das geht doch nicht . . .« stieß Frau Tamaki mit

120
Nach dem Bankett

fast versagender Stimme hervor und floh stammelnd aus dem Laden in die grelle
Nachmittagssonne auf der Straße. Nur die spitzen, dünnen Absätze der weißen
Schuhe, die wütend auf das Pflaster hämmerten, blieben Kazu in Erinnerung. ›Sie
sieht aus wie ein flüchtender weißer Fuchs‹, dachte Kazu übermütig.
Kurz nachdem Frau Tamaki den Laden verlassen hatte, betrat Yamazaki das
Geschäft. Er war noch immer so nervös und hastig wie in der Wahlkampfzeit.
»Sie kommen recht spät«, sagte Kazu fröhlich und schritt auf den Gästeraum
zu.

Sie setzten sich und bestellten kalte Getränke. Als die Verkäuferin kam und
fragte, wohin die Orangen geliefert werden sollten, nannte Kazu den Namen
Tamaki und ließ sich das Telefonbuch bringen, um die Adresse herauszusuchen.
»Solche großzügigen Geschenke sind doch jetzt nicht mehr angebracht«,
bemerkte Yamazaki von der Seite.
»Sagen Sie das bitte nicht. Ich brauche ein bißchen Ablenkung, nachdem ich
die ganze Zeit nur immer geschrien habe: ›Bitte, wählen Sie uns!‹«
Yamazaki verstand den Sinn ihrer Worte nicht und betupfte sein ratloses
Gesicht mit dem Frotteetuch, das die Kellnerin ihm gebracht hatte.
»Wie steht es eigentlich um das Setsugoan?« fragte Kazu beiläufig.
»Das ist eine lange Geschichte!«
»Dann soll es also aufgeteilt werden?«
»Ja, das wird sich kaum vermeiden lassen, denn es geht immerhin um vierzig
bis fünfzig Millionen dabei. Ich habe mit zahlreichen Immobilienmaklern
gesprochen, aber das Ergebnis blieb immer das gleiche: Wenn man das
Grundstück als Ganzes verkauft, kommen im Höchstfall hundert Millionen Yen
heraus. Außerdem wird es keine Kleinigkeit sein, einen Käufer zu finden. Ein
Garten von solcher Größe und das herrliche Gebäude . . .«
»Ist die Einrichtung in dem Preis mit inbegriffen?«
»Ja. Aber wenn man das Grundstück aufteilt, in eins zu dreihundert und eins
zu sechshundert Quadratmeter, könnte man glatt einen Preis von hundertvierzig
bis hundertfünfzig Millionen Yen erzielen. Es hat ja eine sehr günstige Lage.«
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, muß es also aufgeteilt werden.«
»Ja, es ist schade, aber ich fürchte, es gibt keinen anderen Ausweg.«
»Sie finden das schade? Nun, ich muß sagen, ich bin einfach wie vor den Kopf
geschlagen!«
»Ich weiß: der Garten und das Haus sind ja schon beinahe ein Nationalheiligtum.
Aber trotz allem«, Yamazaki sandte einen verstohlenen Blick zu Kazu hinüber,

121
Yukio Mishima

»glaube ich nicht, daß Sie es wiedereröffnen könnten.«


»Nein, daran ist nicht zu denken. Auf dem Gebäude und dem Grundstück
lasten drei Hypotheken von insgesamt achtzig Millionen, und außerdem liegt
noch eine Hypothek von sieben Millionen Yen auf dem Mobiliar. Das sind
Beträge, die man kaum zurückzahlen könnte, selbst wenn das Gasthaus noch so
gut florierte. Das Restaurant ist seit über vier Monaten geschlossen, und die Leute
vergessen heutzutage bekanntlich schnell. Außerdem – davon habe ich Ihnen
noch gar nichts erzählt – sind während meiner Abwesenheit drei Millionen Yen
unterschlagen worden. Ein Unglück kommt selten allein . . . Eine Wiedereröffnung
ist jedenfalls unmöglich. Ich habe meinem Mann fest versprochen, Setsugoan zu
verkaufen; und da ich auch Sie schon um Ihren Beistand gebeten habe, gibt es für
mich kein Zurück mehr.«
Gegen diese Darstellung der Sachlage konnte Yamazaki nichts einwenden.
»Was kann ich dann heute für Sie tun?« fragte er und trank den Traubensaft in
einem Zug aus.
»Nichts Besonderes. Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, wie es um den
Verkauf von Setsugoan steht, und dachte, wir könnten vielleicht zur Entspannung
zusammen ins Kino gehen?«
»Ist Ihr Gatte nicht zu Hause?«
»Nein, er ist zu einem Treffen von ehemaligen Studienkollegen seiner
Hochschule oder dergleichen gegangen. Er fürchtete, daß die anderen denken
könnten, er käme nicht, weil ihm seine Wahlniederlage peinlich sei. Und ich
habe die Erlaubnis bekommen, auszugehen, weil ich gesagt habe, ich ginge zu der
Tanzaufführung einer Freundin. Vorsichtshalber habe ich ein Geschenk in ihre
Garderobe schicken lassen.«
»Das waren also die Orangen von vorhin?«
»Ja, ganz recht.«
»Sie denken auch an alles, gnädige Frau.«
Sie sahen sich an und lachten. Dann kamen sie wieder auf geschäftliche
Dinge zu sprechen, und zwar auf die Liquidation von Noguchis Schulden, die
ihm im letzten Monat viel Kopfzerbrechen bereitet hatte. Noguchi hatte sich
entschlossen, das Grundstück und das Haus mit allem Mobiliar zu verkaufen, um
seine Schulden zu begleichen. Er wollte in ein kleines Mietshaus im ländlichen
Koganei ziehen, das er bereits ausgesucht hatte. Der bisherige Besitz war nicht
unbedeutend, und es war anzunehmen, daß er für Haus und Grundstück etwa
fünfzehn bis sechzehn Millionen Yen bekommen würde. Zur Versteigerung der
Einrichtung wollte man die Räume vom Setsugoan benutzen, das ohnehin außer
Betrieb war. Noguchis umfangreiche Sammlung von seltenen ausländischen
Büchern, Bildern und Antiquitäten war bereits dorthin gebracht worden.

122
Nach dem Bankett

»Die Auktion ist doch übermorgen, nicht wahr?« fragte Yamazaki.


»Ja. Ich hoffe nur, daß es nicht regnen wird.«
»Warum?«
»Weil wir auch den Garten dazu brauchen werden. Das wissen Sie doch, Herr
Yamazaki.«
Sie ließen sich die Abendausgabe einer Zeitung bringen und suchten nach
einem Film, den sie sich ansehen könnten. Es sollte ein möglichst amüsanter
Film sein, denn sie wollten sich ja zerstreuen; aber andererseits mochte Kazu
keine Lustspiele.
Sie beugte ihr Gesicht so nahe neben dem seinen über die Zeitung, daß ihre
Wangen sich fast berührten. Bedrückt sah er zu, wie ihr beringter Finger, weiß
und zierlich, die Druckzeilen verfolgte. ›Was bin ich eigentlich für sie?‹ fragte er
sich. Kazu war eine Frau, die sich nur bei Männern, die sie nicht liebte, natürlich.
gab – dann war sie wie eine gutmütige, etwas leichtherzige Geliebte, naiv und
kapriziös, die etwas vom ländlichen Duft einer Wiese an sich hatte. Aber sobald
sie vor den Mann trat, den sie liebte, verlor sie ihre Natürlichkeit. Yamazaki sah
eine Kazu, die Noguchi bestimmt vollkommen unbekannt war. Er hatte jedoch
keinen Grund, für dieses Privileg besonders dankbar zu sein.
Die Suche nach einem geeigneten Film hatte sie beide recht ermüdet. »Ich
habe keine Lust mehr, ins Kino zu gehen«, meinte Kazu.
»Es zwingt Sie doch auch niemand dazu. Im Augenblick, glaube ich, brauchen
Sie gar keine Zerstreuung; Sie sind noch beschäftigt und haben dadurch genug
Ablenkung. Aber bald wird eine Zeit der Leere kommen, in der Sie gar nichts
mehr anzufangen wissen. Eine Leere, in der Sie nicht einmal einen Finger
bewegen mögen.« So sprach der Wahlexperte.

Zwei Tage danach begann am frühen Morgen die Versteigerung von Noguchis
Habe im Setsugoan. Noguchi hatte alles, was er besaß, zum Verkauf angeboten.
Die großen Möbel standen auf einem Teppich, der auf dem Rasen ausgebreitet
worden war. Es war ein heißer Tag, die Sonne brannte so heftig, als sei es noch
Hochsommer. Ein Doppelbett auf dem Rasen zog die Blicke der Käufer besonders
auf sich. Es war das Bett, in dem das Ehepaar Noguchi bis zur vergangenen Nacht
geschlafen hatte. Trotz der Damastdecke, die man darüber gebreitet hatte, machte
es auf die Besucher einen seltsam nackten, tragischen Eindruck. Es stand etwas
entfernt von den anderen Möbeln in der Mitte des Rasens. Die grellen Strahlen
der vorherbstlichen Sonne ließen die zart jadefarbene Decke aufdringlich stark
aufglänzen. Dennoch paßte dieses Bett – seltsam genug – gut in diese Umgebung
hinein: auf den ungepflegten Rasen, der so hoch gewachsen war, daß er wie Heu
roch, unter die hohen Kiefern, Kastanien und Zürgelbäume, zwischen denen der

123
Yukio Mishima

blaue Himmel zu sehen war.


»Das ist praktisch«, bemerkte ein vorlauter Gast. »Man sollte es dort stehen
lassen.«
Als die Abenddämmerung hereinbrach, fielen die Schatten der Äste auf das
Bett; und das abendliche Zirpen der Zikaden umgab es.

124
Nach dem Bankett

Das Grab in den Abendwolken

Nichts hatte Kazus Herz so in Schreck versetzt wie Yamazakis Bemerkung, daß
nun eine Zeit der Leere käme, in der sie keine Lust verspüren werde, auch nur
einen Finger zu rühren. Wann würde das sein? In zehn Tagen? Morgen? Vielleicht
war die Leere schon da? Und sie war sich dessen nur noch nicht bewußt?
Bei diesem Gedanken wurde Kazu von unbeschreiblicher Unruhe erfüllt. Sie
besaß nicht genug Selbstvertrauen, diese Leere ertragen zu können. Sie hatte
bereits mehrmals in ihrem Leben solche Zeiten durchgemacht; aber sie ahnte,
daß es diesmal unvergleichlich schlimmer sein würde.
Sie versuchte immer wieder, sich auszumalen, wie dieses Ungeheuer von Leere
wohl aussehen mochte, aber es gelang ihr nicht. Sie wäre froh gewesen, wenn es
überhaupt ein Gesicht gehabt hätte, wie furchtbar es auch sein mochte, denn
noch mehr fürchtete sie ein gesichtsloses Ungeheuer.
Die Erfahrungen bei der Wahl hatten Kazu die Augen über ihren wahren
Charakter geöffnet. Bisher war sie sich selber im großen und ganzen mit
unerschütterlichem Vertrauen begegnet, nun waren ihr verschiedene
Besonderheiten ihres Wesens klar geworden: Sie hatte entdeckt, welche Neigung
stark und welche schwach ausgeprägt war und wieviel Ausdauer sie unter
gewissen Umständen besaß. Sie wußte nun auch, daß sie Leere auf gar keinen Fall
ertragen konnte. Ein unglückliches Leben wäre ihr lieber gewesen als eins ohne
Inhalt – so wie der scharfe Nordwind, der ihren Körper peitschte, ihr tausendmal
lieber war als eine Windstille.
Während eine innere Unruhe sie quälte, zuckte ihr manchmal der Gedanke
durch den Kopf: »Eröffne das Setsugoan wieder.« Sie wußte nur allzu gut,
daß dies ein hoffnungsloses Unternehmen war. Trotzdem klammerte sie sich
unentwegt an diese Hoffnung, die wie eine kleine Sonne beharrlich durch
die dicke Wolkendecke des Himmels schimmerte. Die Aussichtslosigkeit war
die Quelle ihres Glanzes. Flimmernd und verlockend stand diese Sonne in
wunderbarer Schönheit am Himmel, und so oft Kazu auch den Kopf abwandte,
so oft kehrte ihr Blick, wie magnetisch angezogen, zu diesem Strahlen zurück.
Und wenn ihr Blick erst einmal in diese blendende Helle starrte, schien alles
andere in Finsternis zu versinken.
Tagelang wog sie in ihrem Herzen die kommende Leere gegen die Möglichkeit
einer Wiedereröffnung ab, wie auf einer Waage. Sie, die für ihre raschen

125
Yukio Mishima

Entschlüsse bekannt war, schwankte nun zwischen zwei höchst ungewissen


Chancen. Was nützte es ihr, in solch einem Fall das Orakel zu befragen?
Sie dachte über die vergangenen Monate des Wahlkampfes nach und kam zu
dem Schluß, daß die konservative Partei weder mit ihren politischen Prinzipien,
noch mit ihrer Intelligenz gewonnen hatte. Auch die Persönlichkeit und die
Lauterkeit des Kandidaten hatten nicht den Ausschlag gegeben. Noguchi war
unbestritten ein vortrefflicher Mensch, er hatte eine edle Gesinnung, und seine
Intelligenz war unbestritten. Die konservative Partei hatte die Wahl ausschließlich
mit ihrem Geld gewonnen.
Dies war das recht dürftige Ergebnis ihrer Überlegungen, und sie hatte sich
bestimmt nicht so intensiv in den Wahlkampf gestürzt, um bloß diese Erfahrung
zu machen. Der Glaube an die Allmächtigkeit des Geldes war für sie nicht neu.
Aber als sie selber ihr Geld hergab, hatte sie es zumindest aus vollem Herzen
getan und ihm ihre Gebete mit auf den Weg gegeben. Das Geld ihrer Gegner
jedoch war wie eine alles niedermachende Walze herangerollt. Deshalb trauerte
sie weniger darum, daß ihr Geld nicht ausgereicht hatte, als darum, daß sowohl
ihre aufrichtige Gesinnung als auch Noguchis Klugheit sinnlos vergeudet
worden waren. Es schmerzte sie, daß sich alles als unnütz erwiesen hatte, an das
sie während des Wahlkampfes geglaubt und für das sie ihre ganze Lebenskraft
eingesetzt hatte – die Tränen der Menschen, ihr Lächeln, ihr wohlwollendes
Lachen, der Schweiß und die Wärme ihrer Körper.
Diese Feststellung traf sie fast wie ein physischer Schock. Von nun an konnte
sie ihren eigenen Tränen und dem Zauber ihres Lächelns nicht mehr trauen. In
der Gesellschaft, in der Kazu aufgewachsen war, glaubte jeder, der gesunden
Menschenverstand besaß, daß weibliche Reize starke Waffen seien, die sogar
über Macht und Geld triumphierten. Für Kazu waren solche Anschauungen,
nachdem sie den Wahlkampf erlebt hatte, nur noch eine Legende. Für sie
bedeutete das Wahlergebnis nichts anderes, als daß ›Weiblichkeit‹ von ›Geld‹
besiegt worden war. Das Geld hatte über das Fleisch triumphiert, es war wie bei
einer Frau, die ihren armen Geliebten verläßt, um sich einem ungeliebten reichen
Manne hinzugeben.
Gleichzeitig zog sie den Schluß, daß Noguchis Niederlage die Niederlage der
›Männlichkeit‹ durch das ›Geld‹ gewesen sei.
Kazu empfand Abscheu und Haß gegen diese Kraft, die ihr so grausam
bewiesen hatte, daß Intelligenz, Gefühle und körperliche Reize wirkungslos waren.
Aber bald wurde ihr klar, daß die trostlose Erkenntnis, eine Wiedereröffnung
des Setsugoan sei unmöglich, ihrer augenblicklichen seelischen Verfassung
entsprang. Bis zum Wahltag hatte in ihr der Glaube gelebt, daß es Wunder gäbe,
die Unmögliches möglich machen könnten. Jetzt war er tot. Vielleicht hatte sie
bei den Wahlen letzten Endes nur auf ein Wunder gehofft, weil sie Vertrauen zur

126
Nach dem Bankett

Politik hatte. Doch die Politik hatte ihr Vertrauen nicht gerechtfertigt, und nun
setzte Kazu überhaupt keine Hoffnung mehr in die Politik.
Aber wenn diese Gründe genügten, um Kazu an der Politik verzweifeln zu
lassen, dann bedeutete es, daß sie genau wie Noguchi der Ansicht gewesen war,
daß Logik, Gefühle und persönliche Anziehungskraft die Politik ausmachen.
Denn nur diese drei Faktoren hatten sich als wirkungslos erwiesen. Wenn
die Politik ihr damals den Mut gegeben hatte, auf ein Wunder zu hoffen, als
sie hoffnungslose Nachrichten überfluteten, dann verdiente die Politik die
Verzweiflung nicht, wie immer das Resultat auch sein mochte.
In dieser Richtung bewegten sich Kazus Gedanken und bewirkten, daß der
Begriff der Politik plötzlich einen völlig anderen Sinn für sie bekam.
Gut, ihre Bemühungen waren erfolglos gewesen! Aber wenn sie nun alles, was
sich als nutzlos herausgestellt hatte, beiseite schob und sich nur an die Hoffnung
auf ein Wunder klammerte: Konnte dann nicht vielleicht das Unmögliche
möglich werden, konnte die Politik ihr nicht vielleicht wieder helfen? Vielleicht
waren die Hoffnung auf das Wunder, die ihr Ideal entzündet hatte, und die realen
Bemühungen, ein Wunder herbeizuführen, in der Politik das gleiche.
Die Wiedereröffnung des Setsugoan war vielleicht doch nicht unmöglich.
Während sie dies dachte, schoß ihr ein erstaunlich politischer Gedanke durch
den Kopf: ›Die konservative Partei hat dank ihres Geldes gesiegt. Dadurch bin
ich in die unangenehme Lage gekommen, Setsugoan zu verlieren. Es ist daher
nur natürlich, daß die konservative Partei mich dafür entschädigt.‹
Dies war in der Tat eine verblüff ende Entdeckung.
Als Noguchi einmal nicht zu Hause war, rief sie Sawamura In in Kamakura
an. Sawamura war mehrmals Premierminister gewesen und war eine der
bedeutendsten Persönlichkeiten der Konservativen. Kazu kannte seine Geliebte
aus früheren Jahren.
Während Kazu die Nummer wählte, klopfte ihr Herz heftig. Ohne es zu wissen,
näherte sie sich in diesem Augenblick dem innersten Wesen der Politik – dem
Verrat.

Die Familie Sawamura verehrte seit Generationen die Göttin Bensaiten. Aus
Achtung vor dieser eifersüchtigen, jungfräulichen Göttin hatte Sawamura nie
geheiratet. Statt dessen hatte er eine Geisha namens Umejo genommen; aber um
die Form zu wahren, behandelte er sie wie eine Dienerin. Umejo hielt sich immer
im Hintergrund und sprach nie ein Wort, wenn Gäste da waren. Selbst ihn, der
in Wirklichkeit ihr Mann war, nannte sie »Euer Gnaden«.
Als Kazu fragte, ob sie Sawamura besuchen dürfe, antwortete Umejo

127
Yukio Mishima

unbefangen: »Ich bin sicher, daß Seine Gnaden Sie gern empfangen wird. Aber
ich muß erst fragen, an welchem Tag es paßt.« Es wurde abgemacht, daß die
Begegnung am . September um elf Uhr vormittags stattfinden solle.
Am nächsten Tag erfuhr Kazu, daß Noguchi für den Umzug in das Mietshaus
in Koganei ebenfalls den . September vorgesehen hatte. Sie war betroffen über
diesen unglücklichen Zufall. Aber sie war sicher, daß Sawamura nicht noch
einmal bereit sein würde, sie zu empfangen, wenn sie die erste Verabredung
nicht einhielt.
Kazu dachte verzweifelt darüber nach, wie sie am Tage des Umzugs aus dem
Hause verschwinden könnte. Als Hausfrau mußte sie natürlich beim Umzug
dabei sein. Noguchi hatte den Termin allein bestimmt; er war nicht der Mann,
der so etwas erst mit seiner Frau besprach; und es ging über Kazus Macht, den
Tag des Umzugs zu verschieben.
Noch einmal erwachte die Kraft zu einem schnellen Entschluß in ihr. Einen
Tag vor dem Umzug fuhr sie, unter dem Vorwand, noch Verschiedenes ordnen
zu müssen, zum Setsugoan. Dort klagte sie über heftige Kopfschmerzen und
schickte nach dem Hausarzt, der in der Nähe wohnte. Sie überredete ihn, bei
Noguchi anzurufen und ihm zu sagen, es sei besser, wenn Kazu im Setsugoan
übernachte. Früh am nächsten Morgen ließ sie den Arzt wiederkommen und bat
ihn, noch einmal bei Noguchi anzurufen, um ihm zu sagen, sie müsse noch bis
abends ruhig liegen bleiben.
Danach verabschiedete sie den Arzt in größter Eile, schickte Noguchi zwei
junge Mädchen, die beim Umzug helfen sollten, und behielt nur ein ihr treu
ergebenes Mädchen bei sich. Nun erhob sie sich mit erstaunlicher Behendigkeit
von ihrem Krankenlager, und das Mädchen, das die Situation sofort erfaßte, legte
ihr die Garderobe zurecht: einen ungefütterten Kimono aus grobem Seidenkrepp
in hell und dunkel getönten Sepiafarben mit einem Muster aus Herbstblumen
unterhalb des Knies und dazu einen weißen Obi, auf den in Grün, Blau und
Silber ein Insektenmuster gestickt war. Kazu saß mit entblößten Schultern im
Schein der herbstlichen Morgensonne vor dem Frisiertisch, das Mädchen stand
mit aufmerksamer Miene neben ihr. Kazu brauchte nicht ein Wort zu sagen:
ein Blick im Spiegel genügte, und das Mädchen griff zu, wo es nötig war. Sie
schien zu ahnen, daß das offenbar wichtige Vorhaben ihrer Herrin ihre Zukunft
bestimmen würde.
Trotz der anstrengenden Sommermonate hatten Kazus üppige Schultern und
Brüste nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Nur ihr braungebrannter Hals, der
sich seltsam wie eine welke Blume von dem blütenweißen Körper abhob, zeigte
die Spuren des Wahlkampfes. Die Morgensonne war noch fast sommerlich heiß,
aber Kazus weiße Schultern und Brüste waren eiskühl. Das zarte, satte Weiß
ihrer Haut schien das Licht zurückzuweisen, so als schirme es einen kühlen,

128
Nach dem Bankett

dunklen sommerlichen Raum ab.


Es war erstaunlich, wie wenig Kazus Teint ihr Alter verriet. Ihre Haut schien
unbeschadet die Härte der Jahre überstanden zu haben. Diese sanft schimmernde,
elastische Haut, unter der sich so viel Gewandtheit und Verschlagenheit verbarg,
ruhte in sich selbst wie die Oberfläche von Milch in einer Schale. Die winzigen
Hautporen schienen sich begierig dem Morgenlicht zu öffnen und gaben dem
Teint einen duftigen Schimmer.
»Was haben Sie für schöne Haut! Sogar eine Frau könnte Lust bekommen, sie
zu liebkosen«, sagte das Mädchen.
»Ich habe keine Zeit für Komplimente«, erwiderte Kazu. Obwohl sie mit
zornfunkelnden Augen in den Spiegel blickte, war sie im Innern über das Lob
erfreut. Sie besprühte ihre Haut ausgiebig mit Toilettewasser, ließ sich von dem
Mädchen den Hals schminken und verteilte etwas Creme und Puder auf der
braunen Haut, um den Sonnenbrand zu verdecken. Noch nie hatte Kazu sich in
so kurzer Zeit mit so viel Konzentration zurechtgemacht.
»Steht der Wagen bereit?«
»Jawohl, gnädige Frau.«
Als sie begann sich anzuziehen, befahl sie dem Mädchen, den Chauffeur
zu rufen. Der junge Mann kam und beugte das Knie auf dem Korridor. Seine
Herrin sah ihn mit strengem Blick an, während sie den Kimono mit einer Schnur
zuband. »Du darfst niemandem sagen, wohin wir heute fahren, hörst du? Wenn
es herauskommt, kann es eine Katastrophe geben. Untersteh dich also nicht,
auch nur das Geringste zu sagen, wenn man dich fragt!«

Am Abend kehrte Kazu in ungewöhnlich guter Laune zum Setsugoan zurück. Als
sie sich von Sawamura hatte verabschieden wollen, war der sonst so schwierige
alte Herr so liebenswürdig gewesen, sie zum Mittagessen einzuladen. Sie erzählte
es dem Dienstmädchen, während sie eilig ein Bad nahm, das Make-up entfernte
und sich dann rasch einen unauffälligen Kimono anzog und direkt in die neue
Wohnung nach Koganei eilte, Vor Noguchi gab sie sich den Anschein, als ob ihr
gerötetes Gesicht nicht vom Bad sondern vom Fieber herrühre.
Noguchi sagte nichts. Er erkundigte sich kurz nach ihrem Befinden, hörte aber
nur mit halbem Ohr, was sie antwortete.
Als Kazu das Durcheinander in dem neuen Haus sah, wunderte sie sich wieder
einmal über die Teilnahmslosigkeit der Umwelt. Von der Reformpartei waren
nur zwei Schreiber gekommen; von all den jungen Leuten, die sich während der
Wahlzeit um Noguchi geschart hatten, war kein Schatten zu sehen. Yamazaki
aber war gekommen; er schleppte gerade mit ungeschickten Bewegungen einen
Teeschrank heran. Sonst waren nur der Boy und die beiden Dienstmädchen vom

129
Yukio Mishima

Setsugoan im Hause.
Das Haus lag an der Koganei-Böschung, nicht weit vom Bahnhof Hana-Koganei
der Seibu-Bahn entfernt. Am anderen Ufer lief eine asphaltierte Straße am Kanal
entlang, die Itsukaichi-Landstraße. Der Weg auf dieser Seite des Kanals war nicht
gepflastert, und auf den Gräsern der Böschung und den Hecken und Sträuchern
am Haus lag deshalb eine graue Staubschicht. Das Haus hatte sieben Zimmer
und einen recht großen Garten, aber es war so billig gebaut, daß die Wände
zitterten, sobald ein Lastwagen vorbeifuhr. Die Torpfosten waren Baumstämme,
und im Garten standen ein paar Weiden, Zypressen und Palmen.

Am nächsten Nachmittag war das Haus einigermaßen eingerichtet, und das


Ehepaar Noguchi konnte seinen ersten Spaziergang unternehmen. Sie gingen
den schmalen grasbewachsenen Weg. an der Böschung stromaufwärts. Die Zeit,
in der Kazu – damals noch ein junges Mädchen – auf dem Lande gelebt hatte, lag
weit zurück.
Auf der Itsukaichi-Landstraße herrschte reger Verkehr, aber am hiesigen
Ufer sah man kaum einen Wagen, nur hin und wieder einen Lastwagen
oder ein Fahrrad. Auf dem schmalen Pfad an der Böschung trafen sie keine
Menschenseele. Nach langer Zeit bemerkte Kazu wieder einmal, wie verloren
das Bellen eines Hundes am Tage klingt.
Auf dem schmalen Weg zirpten unzählige Insekten. Die federbuschartigen Ähren
der Pampasgräser waren bereits geöffnet, und ihr frisches Silbergrau schimmerte
weich im Licht der Sonne. Die Bambusgräser und das hochaufgeschossene
Unkraut auf der Böschung zur Straße waren staubüberkrustet und erinnerten
an feine Stuckarbeiten; die Pflanzen oben auf dem Deich jedoch sahen frisch
und grün aus. Der Pfad, der unter Kirschbäumen entlangführte, war zu beiden
Seiten von wild durcheinanderwachsenden Gräsern gesäumt, und Kazu stellte
sich unwillkürlich vor, wie heiß hier im Sommer der Dunst der Gräser gewesen
sein mußte. Sie wucherten so dicht, daß man das Wasser des Kanals nicht sehen
konnte. An einigen Stellen trafen sich Mimosen und Kastanienzweige von beiden
Uferseiten, und Kletterpflanzen rankten sich darüber, so daß man vom Wasser
nur ein leises Rauschen hören konnte und es nur hätte sehen können, wenn man
dicht an den steilen, grasüberwucherten Abhang getreten wäre.
Der Weg war so schmal, daß sie nicht nebeneinander gehen konnten. Noguchi
schritt daher voraus. Da er sogar seinen Spazierstock aus Snakewood mit zur
Auktion gegeben hatte, benutzte er jetzt einen schlichten Stock aus Kirschholz,
mit dem er die hohen Gräser beiseiteschlug. Kazu bemerkte, daß sein Haar hinten
völlig weiß geworden war. Seine abfallenden Schultern hatten – so schien es Kazu
– ihre würdevolle Haltung verloren, und der Rücken vor ihr in dem grauen Hemd
wirkte wie der eines alten Mannes, der sich zur Ruhe gesetzt hat.

130
Nach dem Bankett

Aber sie wußte, daß Noguchi sich diesen Anschein ganz bewußt gab. Er
versuchte, aus freiem Willen die Rolle des Pensionärs zu spielen. Dafür sprachen
sowohl sein Verhalten Kazu gegenüber – insofern, als er nicht einmal den Versuch
gemacht hatte, den Grund für ihr gestriges Fernbleiben ernsthaft zu erforschen
– wie auch seine unverändert gute Laune während des Durcheinanders beim
Umzug, bei dem er normalerweise zornig aufgebraust wäre. All dies waren
Zeichen seiner veränderten Einstellung. Nachdem er alles verloren hatte,
versuchte er nun, die Muße zu genießen und an allem Freude zu finden. Aber
das war nicht so leicht. Daher lag in seiner augenblicklichen Heiterkeit etwas
Gezwungenes und Moralisierendes – eine Nachwirkung aus früheren Zeiten.
Noguchi hatte zum Beispiel während des Spaziergangs bereits dreimal die
klare, reine Luft der Vorstadt gelobt und – wenn auch mit etwas verändertem
Ausdruck – gesagt: »Ah, wie wohl ich mich fühle!«
Wenn Noguchi sich einmal ein Ziel gesetzt hatte, war er nicht eher zufrieden,
als bis er alles andere mit diesem Ziel in Einklang wußte. Er glaubte, jeder werde
seine Heiterkeit nach Kräften fördern. Er träumte wenigstens davon. Ein Mann
mit politischem Ehrgeiz besaß natürlich Feinde, aber ein Mann, der sich mit
Dichtung beschäftigte, sollte keine haben. Sicher, im Augenblick gab es noch
Unstimmigkeiten; er hatte sich in letzter Zeit um vieles nicht kümmern können.
Aber bald würde alles geklärt sein, bald würde er zu jener Harmonie finden, die
Goethe in seinem Gedicht »Wanderers Nachtlied« mit den Worten beschreibt:
»Über allen Gipfeln ist Ruh.«

Kazu ging mit gesenktem Kopf. Sie sah Glassplitter von grünen Limonadeflaschen
und braunen Bierflaschen, die in den Sand des Pfades eingesunken und jetzt fest
im Boden verankert waren wie ein Mosaik. Es sah aus, als lägen sie bereits lange
hier.
»Während der Kirschblüte wird es hier in dieser Gegend sicher laut und lustig
zugehen«, meinte Kazu.
Ihre Worte rissen Noguchi aus seinen Träumen, aber er hatte gleich eine
beruhigende Antwort bereit. Mit fröhlicher Stimme erwiderte er: »Nein, in
letzter Zeit soll es hier nicht mehr so turbulent gewesen sein. Die Kirschbäume
sind alle recht alt und so schlecht gepflegt, daß die Blüte nicht mehr sehenswert
ist. Yamazaki erzählte mir, daß die meisten Leute jetzt zur Kirschblüte in den
Koganei-Park gehen.«
»Das wäre schön . . .« Kazu empfand ein gewisses Bedauern, ohne dafür einen
Grund angeben zu können. Sie träumte von Menschenmassen.
Noguchi machte unter einem Kirschbaum halt und bohrte seinen Stock in
ein schwammiges Loch am Stamm. »Sieh mal, es wird nicht mehr lange dauern,

131
Yukio Mishima

bis dieser Baum abstirbt.« Seine lebhaften Bewegungen mit dem Stock betonten
sein Alter nur noch mehr. Kazu fühlte, wie ihr Körper sich verkrampfte, als sie
seine sanft lächelnden Augen sah, die von den buschigen Brauen überschattet
wurden.
Noguchis unnatürlich fröhlich klingende Stimme gab Kazu jedesmal einen
Stich ins Herz – wie ein Glassplitter. Ihr war etwas unbehaglich zumute, weil er
sie wegen des gestrigen Vorfalls nicht zur Rede gestellt hatte.
Sie war mit einer Spendenliste bei Sawamura gewesen, um die Wiedereröffnung
des Setsugoan einzuleiten. Wie stets hatte sie zwei verschiedene Vorschläge bereit.
Zunächst bat sie Sawamura, er möge doch seinen Einfluß geltend machen und
den gegenwärtigen Finanzminister sowie den Minister für Handel und Industrie
dazu bewegen, ihr ein Darlehen zu gewähren. Sawamura dachte eine Weile nach
und erwiderte, dies sei etwas schwierig für ihn, und er glaube auch, daß eine
solche anmaßende Forderung gegenwärtig nicht angebracht für Kazu sei.
Daraufhin rückte sie mit dem zweiten Plan heraus. Sie legte ihm die
Spendenliste vor und bat ihn inständig um seine Unterschrift; denn wenn sein
Name als erster darin stünde, würde keiner sich weigern, zu unterschreiben.
Sawamura lächelte ironisch und meinte verlegen, er als pensionierter Beamter
könne nicht mehr als eine bescheidene Geste machen. Er befahl Umejo die
Tusche zu reiben und schrieb mit vollendeter Handschrift: »Zehntausend Yen.
Sawamura In.«
Es war mit Sicherheit anzunehmen, daß noch niemand etwas davon wußte.
Hätte die Liste bereits die Runde bei Premierminister Saeki, Nagayama Genki
und den vielen anderen Leuten gemacht, die In vorgeschlagen hatte, dann sähe
die Sache anders aus. Aber im Augenblick war es so gut wie unmöglich, daß
dieses Geheimnis Noguchi schon zu Ohren gekommen war.
Seit Kazu die Unterschrift von In bekommen hatte, brannte ihr Herz vor
Freude über den unerwarteten Erfolg. Noch einmal griff ihre Energie wie ein
Feuer um sich; und nur die eine Frage bedrückte seit gestern abend ihr Gemüt:
Wie verberge ich meine Freude vor Noguchi? Sie nahm sich vor, mit etwas
gebeugtem Rücken zu gehen – gleich einer Katze, die sich niederkauert, um
ihre überschüssige Energie im Zaum zu halten – und nur so viel Freude zu
zeigen, wie dem neugefundenen Glück angemessen war. Im übrigen wollte
sie sich bemühen, ein gleichmütiges Gesicht zu bewahren. Aber das kostete
sie unnatürliche Anstrengungen und reizte ihre Nerven. Sie fragte sich, ob es
wohl an ihren überempfindlichen Nerven lag, daß ihr Noguchis Nachsicht so
unheimlich vorkam.
Aber die Vorstellung, daß er von nichts wußte, ließ die Gestalt in dem grauen
Hemd unsagbar traurig und einsam erscheinen. Sie hätte es beinahe wie eine
Erlösung empfunden, wenn Noguchi alles erfahren hätte. Kazu hatte nicht das

132
Nach dem Bankett

Gefühl, ein Verbrechen begangen zu haben, das Bestrafung heischte. Sie hoffte
vielmehr darauf, daß Noguchi Verständnis für sie zeigen würde.
»Sieh nur!« Wieder blieb Noguchi stehen und zeigte mit dem Spazierstock
zum anderen Ufer hinüber. »Daß es heute noch solche Teehäuschen gibt! Es sieht
aus wie eine Bühnenkulisse, nicht wahr?«
Kazu blickte hinüber und sah an der Straße am anderen Ufer eine altmodische
kleine Eß- und Teestube. Unter dem schiefen Dach war eine staubige
Holzschiebetür, deren obere Hälfte verglast war. Hinter dem Glas sah man
längliche Papierstreifen in bunten Farben hängen, und die untere Hälfte der Tür
war von einem roten Teppich bedeckt. Auf Plakaten stand in großen Buchstaben.
G A, K und dergleichen.
»Oh, wie hübsch!« rief Kazu mit übertriebener Bewunderung aus. Sie wollte
weitergehen und machte einen Schritt ins hohe Gras. Es war mit dichten
Spinnweben bedeckt, die Noguchi schnell mit der Spitze seines Spazierstockes
wegfegte. Die Spinnweben blieben an seinem Stock hängen und schwebten dann
leicht und zart als glitzernde Fäden in den Strahlen der sinkenden Sonne durch
die Luft.
Kazu, die das Schweigen nicht mehr länger ertragen konnte, platzte schließlich
mit dem folgenden Vorschlag heraus: »Das Haus ist für ein zurückgezogenes
Leben wirklich sehr geeignet. Aber könnten wir nicht wenigstens das Badezimmer
etwas umbauen lassen? Es ist zwar nur ein gemietetes Haus, aber wir haben ja
noch eine lange Zeit vor uns.«
»Das habe ich auch schon gedacht«, antwortete Noguchi zufrieden. »Es wäre
angenehm, ein komfortables Badezimmer zu haben, wenn man vorn Golfspielen
zurückkommt.«
»Golf? Ich weiß, daß du es vor langer Zeit im Ausland gespielt hast. Aber hast
du überhaupt Golfschläger?«
»Auch darüber habe ich schon nachgedacht. Wenn alles geregelt sein wird,
werde ich in Altwarengeschäften nach preiswerten Golfschlägern suchen. Ich
werde wieder anfangen. Ich kam auf die Idee, weil hier in der Nähe der Koganei-
Golfplatz ist. Ich möchte meine alten Freunde dazu einladen und auch einige hier
lebende ausländische Freunde . . .«
»Das finde ich eine großartige Idee. Auch für deine Gesundheit wird es
gut sein. Du mußt unbedingt wieder anfangen. Ich habe schon mit Sorgen
daran gedacht, daß es gar nicht gut für dich sein wird, wenn du nach dem
anstrengenden Wahlkampf plötzlich gar nichts mehr tust.« Diesmal war Kazus
Freude aufrichtig, als sie ihm zustimmte. Auch ihr Mann mußte jetzt unbedingt
etwas zu tun bekommen.
Sie waren bis zur ersten Brücke des Kanals gekommen und lehnten sich über

133
Yukio Mishima

die Eisenstange, die als Geländer diente. Zum erstenmal sahen sie zwischen den
verschlungenen Ästen und Blättern das Wasser. Es floß ziemlich schnell dahin,
und das Licht, das durch die Kastanienblätter fiel, wob ein abstraktes Muster auf
seine Oberfläche.
»Wie ein Obi aus Silberlamé«, sagte Kazu, »obgleich ich diese Mode nicht
mag.«
»Es ist das erste Mal, daß ich das Wasser sehe, seit wir hier wohnen«, bemerkte
Noguchi,
Bald danach stiegen sie wieder auf den Damm und gingen der sinkenden
Sonne entgegen weiter stromaufwärts.
Während sie hin und wieder ein paar Worte tauschten, war es Kazu, als
blickten ihre Augen aus großer Höhe herab. Alles erschien ihr, als ob sie es aus
der Vogelperspektive betrachte. Weit unten sah sie zwei kleine Gestalten, ein
altes Ehepaar, auf dem herbstlichen Uferdamm entlangschreiten. Noguchis
weiße Haare glänzten, die Korallenkugeln an Kazus Haarnadeln funkelten, und
hin und wieder blitzte die Spitze von Noguchis Stock kurz auf, wenn er ihn
herumwirbelte. Die Gefühle der beiden alten Leute waren abgeklärt: sie waren
erfüllt von Schwermut und menschlicher Einsamkeit. Hier hatte nichts Fremdes
Zugang.
Es war für Kazu eine Art Abwehr, die Situation so distanziert zu betrachten.
Täte sie das nicht, dann wurde ihr Dasein zu einer scharfen Klinge, die sowohl
ihren Mann als auch sie selber verletzte. Sie mußte das rührende Bild eines alten
Ehepaars, das in wehmütiger Stimmung einen Spaziergang macht, mit großem
Abstand betrachten, denn sonst verwandelte es sich plötzlich in ein Bild von
solcher Häßlichkeit, daß man sich abwenden mußte.
Noguchi genoß offensichtlich jeden Schritt dieses Spazierganges in der reinen,
klaren Luft. Seine Freude drückte sich in seinem ganzen Gebaren aus – in der
Art, wie er manchmal stehenblieb und zum Himmel hochblickte, in seinem
Gang, im fröhlichen Herumwirbeln seines Stockes. Aber Kazu bemerkte, daß
sein Behagen etwas Eigensinniges und Gekünsteltes hatte. Ihre Gegenwart
schien für Noguchi entbehrlich. Während sie hinter ihm herging, dachte sie: ›Ich
muß ihm wenigstens so viel Sympathie entgegenbringen, wie ein Mensch, der
einen flüchtigen Blick auf das Bild eines Malers wirft.‹ Im Augenblick hatte sie
kein Recht, ihn zu stören; sie durfte ihn auch nicht belästigen.
Deshalb übertrug sie ihre Sympathie auf jeden Augenblick dieses
frühherbstlichen, sonnigen Nachmittags. Auch Noguchi schien zu ahnen, daß
sein Gemüt nie wieder so aufgeschlossen und geläutert sein würde wie jetzt; und
Kazu konnte verstehen, daß er sich diese Reinheit der Stimmung um jeden Preis
zu bewahren suchte. Kazu wollte nichts zerstören, und sie konnte nicht einmal

134
Nach dem Bankett

leugnen, daß über jedem dieser Augenblicke so etwas wie Glück schwebte – auch
wenn es unecht war.
Die Strahlen der Sonne fielen schräg auf den hohen Zedernhain links neben
dem Weg und warfen einen geheimnisvollen, goldenen Schleier zwischen die
Stämme. Als ein Lastwagen vorbeifuhr und Staub aufwirbelte, vermischten
sich die Staubwolken mit dem goldenen Schleier zwischen den Zedern und
verwandelten sich ebenfalls in Gold.
Sie gingen weiter und sahen die Sonne in wunderbarer Schönheit vor sich
am Horizont untergehen. Leuchtend glühten die Abendwolken, und mitten im
lodernden Himmel war eine Wolke zu sehen, in der sich die Nacht andeutete.
Kazu meinte, in dem dunklen grauen Fleck die Umrisse eines Grabsteins zu
erkennen – des Grabsteins von Noguchis Familie.
Seltsamerweise löste diese Vision, die sie sonst stets in Erregung versetzt hatte,
keinerlei Gemütsbewegung in ihr aus. Sie empfand dumpf, daß dies ihr Grab sei;
es ließ sie aber ungerührt, daß dieses Grab in weiter Ferne lag und unsicher hin
und her schwankte, sich zur Seite neigte, einstürzte, zerstob . . . Das Leuchten der
Abendwolken ringsum verwandelte sich jäh in aschiges Grau.

135
Yukio Mishima

Nach dem Bankett

Im Oktober erhielt Noguchi von den alten Freunden, mit denen er beim
Quellenfest in Nara war, eine Einladung zum Abendessen. Kazu war nicht mit
eingeladen.
Man traf sich in dem großen Zimmer eines Teehauses im Yanagibashi-Distrikt
am Sumida-Fluß. Offensichtlich hatte die Zeitung wieder die Kosten für die
Einladung übernommen. Der achtzigjährige Journalist saß, wie gewöhnlich, auf
dem Ehrenplatz, Noguchi, der Direktor der Zeitung und der Wirtschaftsexperte
saßen um ihn herum.
Mit scherzhaftem Plaudern unterhielt die etwas füllige Inhaberin des
Restaurants ihre Gäste. Sie war eine äußerst kluge Frau, die ihre Korpulenz und
ihre Heiterkeit dazu ausnutzte, sich als unwissendes, sorgloses Wesen zu geben.
Als von Hollywood die Rede war, fragte sie: »Hollywood? Liegt das nicht in der
Nähe von Paris?«
Eine schon etwas betagte Geisha fragte die Herren: »Kennen Sie die Geschichte
von Madames Brotmahlzeiten?«
Die Wirtin bemerkte ruhig, diese Geschichte sei völlig uninteressant.
Trotzdem begann die Geisha zu erzählen: »Madame wollte etwas dünner
werden und suchte daher einen Arzt auf. Der meinte, sie solle dreimal am Tag
etwas Brot essen. Madame überlegte eine Weile und fragte den Arzt dann: ›Herr
Doktor, soll ich das Brot vor oder nach den Mahlzeiten essen?‹« Alle lachten über
den anspruchslosen Witz.
Da die heutige Einladung Noguchi zu Ehren stattfand, gab sich der
Achtzigjährige die größte Mühe, ihn aufzumuntern. Als Noguchi sich während
der Mahlzeit erhob, um zur Toilette zu gehen, stand der Achtzigjährige ebenfalls
auf. Die Geisha, die seinen Arm ergriff, um ihn zu führen, wies er mit einer
schroffen Bewegung zurück. Im Gang wandte er sich an Noguchi und sagte: »Es
kann sein, daß du bereits davon unterrichtet bist; aber die anderen meinen, falls
du es noch nicht weißt, sollten wir es dir sagen. Und so habe ich die unangenehme
Rolle übernommen, dir zu erzählen . . . es fällt mir ungemein schwer . . .«sagte er
zögernd, »aber deine Frau geht mit einer Spendenliste bei verschiedenen Leuten
des Kabinetts und der Finanzwelt herum, um Spenden für die Wiedereröffnung
des Setsugoan zu sammeln. Man sagt, Sawamura In habe sich als erster
eingetragen, und folglich soll eine ganze Menge zusammengekommen sein. Es

136
Nach dem Bankett

ist möglich, daß du keine Ahnung davon hast . . .«


»Nein, ich höre zum erstenmal davon«, fiel Noguchi ihm ins Wort.
Als Noguchi wieder an seinen Platz zurückkehrte, konnten die anderen an
seinem gequälten Gesicht ablesen, was der Alte ihm gesagt hatte. Sie begriffen,
daß er nichts davon gewußt hatte, und überschütteten ihn mit Wohlwollen und
Mitgefühl. Diese Leute besaßen soviel Feingefühl, Noguchi ihre Freundschaft in
dieser etwas peinlichen Situation durch Behutsamkeit und Takt zu beweisen.
Aber gerade das verletzte ihn nur noch mehr. Er verließ die Runde früher als
üblich. Kazu war nicht nach Koganei zurückgekehrt. Sie hatte eine Botschaft
hinterlassen, daß sie die Nacht im Setsugoan bliebe.
Während Noguchi in Yanagibashi war, hatte Kazu sich mit Nagayama Genki
in Akasaka getroffen.
Als sie Genki, der über alles Bescheid wußte, um eine Zusammenkunft bat,
sagte er: »Ach nehme an, es handelt sich um die Spendenliste.« Kazu wollte sich
in einem seiner ›Büros‹ mit ihm treffen, aber er wählte ein vornehmes Restaurant
in Akasaka aus. Sie war nicht gerade begeistert von dem Gedanken, sich mit
Genki in einem Restaurant sehen zu lassen, das zudem noch von einer ihr
bekannten Dame geleitet wurde. Aber schließlich ging sie doch zur vereinbarten
Zeit hin und mußte mehr als eine halbe Stunde warten.
Es war Kazu eine Qual, als die Wirtin erschien und versuchte, sie während
des Wartens zu unterhalten. Die alte Dame hatte bereits Gerüchte über die
Wiedereröffnung des Setsugoan gehört und gab Kazu zu verstehen, daß sie
völlig auf ihrer Seite stehe: »Es war klug von Ihnen«, sagte sie, »daß Sie sich
zuerst die Unterschrift von Sawamura In haben geben lassen. So muß man die
Dinge anpacken! Gnädige Frau haben ja so viel Schweres durchgemacht! Jetzt
kommt bestimmt wieder eine Zeit des Erfolges für Sie.« Die Wirtin erbot sich
eifrig, Kazu einen Wahrsager zu vermitteln, dessen Prophezeiungen bisher
immer eingetroffen seien. Das sei doch sicher eine große Hilfe für Kazu, meinte
sie. Ohne sonderliches Interesse nahm Kazu das Angebot an. Halb fürchtete
sie sich vor einer schlechten Prophezeiung, in Wirklichkeit glaubte sie aber im
Augenblick einzig und allein an ihre eigene Kraft.
Als die Wirtin ein Geräusch vom Ende des Ganges hörte, sprang sie auf und
rief mit durchdringender, heller Stimme: »Wir sind schon müde vom langen
Warten! Sie dürfen doch eine Dame nicht warten lassen!«
Ohne Rücksicht auf die Umgebung zu nehmen, rief Genki unbekümmert
zurück: »Sie ist keine Dame! Die alte Schachtel ist nur eine Freundin von mir.«
»Wie können Sie so etwas sagen!«
Kazu saß kerzengerade, aber ein leichtes Zittern durchlief sie. Jetzt war sie
wieder mitten in der Welt der anzüglichen Späße, der plumpen Vertraulichkeiten

137
Yukio Mishima

und Ungezogenheiten – sosehr sie sie auch ablehnen mochte, Tatsache war, daß
sie hier saß. Genki gab sich nicht die geringste Mühe, sie wie die Gattin eines
früheren Ministers zu behandeln.
Trotz allem hatte Kazu das Gefühl, der Politik im Augenblick näher zu sein
als während des heftigsten Wahltrubels. Politik – das waren Scherze, fröhliches
Wortgeplänkel, lachende Frauenstimmen und der erlesene Duft des Weihrauchs
aus der Tokonoma-Nische – all diese Dinge zusammen machten die Politik aus.
Erst in dieser Atmosphäre zeigte sie ihr wahres Gesicht und vermochte Wunder
zu vollbringen.
Genki betrat den Raum in japanischem Gewand. Unbefangen begrüßte er
Kazu und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
Kazu blieb in aufrechter Haltung sitzen und musterte sein häßliches Gesicht:
Es sah aus, als sei es aufs Geratewohl aus dicken Tonklumpen geformt. Fleisch
schien wider Fleisch zu streiten. Seine rötliche Gesichtsfarbe deutete auf eine
geradezu widerliche Vitalität hin. Seine Augen, die von unzähligen Falten
umrahmt waren, blickten herausfordernd und nackt. Hinter den wulstigen
Lippen klapperten die blendend weißen Zahnreihen seines falschen Gebisses.
Kazu, die sein Gesicht noch immer unverwandt anstarrte, sagte nur ein
einziges Wort: »Satan!«
»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« fragte Genki grinsend.
»Feigling! Scheusal! Du bist der größte Schurke von allen. Bestimmt hast du
auch hinter dieser Broschüre gesteckt – Das Leben der Frau Noguchi Yuken –,
du brauchst es gar nicht erst zu leugnen! In dir steckt nicht der kleinste Funken
eines Gewissens! Du stinkst mehr als die Würmer der Kloaken. Du Pest der
Menschheit! Du Misthaufen! In dir ist so viel Dreck angesammelt, wie kein
anständiger Mensch sich vorstellen kann. Wie kommt es nur, daß du noch nicht
in deinem eigenen Unrat erstickt bist! Ich könnte dich in Stücke zerreißen, und
dann wäre ich immer noch nicht zufrieden!«
Kazu hatte sich beim Sprechen mehr und mehr erregt; sie wurde durch ihre
eigenen Worte mitgerissen. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Mund trocken, und die
Tränen rannen ihr vor Wut unaufhaltsam über die Wangen, während sie ihn
schluchzend beschimpfte. Ihre Hand schlug mit solcher Wucht auf den Tisch,
daß ihr Türkisring fast zersprang. Es wäre ihr gleichgültig gewesen, denn es war
ja nicht der Diamantring. Den trug sie nie, wenn sie mit ihrer Liste herumging
...
Genki ließ ihren Wutausbruch über sich ergehen; ab und zu nickte er
zustimmend mit dem Kopf und sagte: »So, so!« oder »Ist das so?« Aber
plötzlich sickerten unbegreiflicherweise Tränen aus seinen Augen und rollten
über seine dicken, faltigen Wangen. »Ja, ich kann dich verstehen«, sagte er mit

138
Nach dem Bankett

tränenerstickter Stimme. »Sprich es nur aus. Rede dir nur alles vom Herzen!« Er
ballte die rotbehaarten Hände zu Fäusten und fuhr sich damit über die Augen.
Mit der weinerlichen, süßen Stimme einer alten Amme, die ein Kind in der
Wiege schaukelt, sagte der häßliche greise Mann: »Ich weiß, ich weiß! Du hast
viel durchgemacht! Wie mußt du gelitten haben!«
Er streckte liebevoll seine Hand über den Tisch und tätschelte Kazus vor
Schluchzen bebende Schulter. Kazu sah die Geste nicht, weil sie mit beiden
Händen ein Taschentuch vor das Gesicht hielt. Aber als sie die Berührung spürte,
wehrte sie seine Hand mit der Schulter ab.
»Schon gut. Ist ja alles wieder gut.« Seine Stimme klang jetzt nur gedämpft
zu ihr hinüber, da er sich vornübergebeugt und den Kopf unter den niedrigen
Tisch gesteckt hatte, um mit der Hand nach dem Päckchen zu angeln, das in
einem lilafarbenen Seidentuch vor Kazus Knien lag. Genki legte das Päckchen
auf seinen Schoß, wickelte es aus dem Seidentuch und blätterte langsam in der
Liste, die in japanischer Art gebunden war. Sogar beim Umblättern fuhr er sich
immer wieder mit dem Handrücken über die Augen.
Nach einiger Zeit bemerkte Kazu, daß er auf die Klingel drückte. Sie setzte sich
schnell mit dem Rücken zum Eingang und nahm das Taschentuch vom Gesicht,
da sie sich vor dem Mädchen genierte.
»Bring mir Schreibzeug!« befahl Genki der Eintretenden. Nach kurzer Zeit
erschien sie wieder und begann, die Tusche zu reiben. Kazu versuchte, ihre
Tränen zu verbergen, und öffnete die Puderdose, um ihr Gesicht in Ordnung
zu bringen. Das ungewöhnliche Schweigen und die Tränen der beiden Gäste
verwirrten das Mädchen, und sie verschwand sofort, nachdem sie mit dem
Tuschereiben fertig war.
Dreihunderttausend Yen. Nagayanza Genki, schrieb er in seiner schönen,
flüssigen Handschrift hinein. Dann nahm er einen etwas zerknitterten Scheck
aus seiner Brusttasche und schob ihn zusammen mit dem Büchlein zu Kazu
hinüber. »Dies ist nur der Anfang«, sagte er. »Morgen im Laufe des Vormittags
werde ich mit Herrn Yamanashi von der Goi-Bank sprechen und ihm ein
ordentliches Stück Geld aus der Tasche ziehen. Damit sühne ich meine Sünden
wenigstens etwas. Was ich getan habe, geschah ja nicht aus Haß gegen dich! Ich
werde gleich morgen früh bei Yamanashi anfragen und dir Bescheid geben, was
er gesagt hat. Es wird dir wahrscheinlich nicht angenehm sein, wenn ich bei dir
zu Hause anrufe?«
»Nein. Bitte rufen Sie mich im Setsugoan an.«
»Dann halte dich bereit, damit du eventuell gleich in die Stadt kommen kannst,
wenn ich anrufe.«
»Ja.« Und so mußte sie sich entschließen, im Setsugoan zu übernachten.

139
Yukio Mishima

Am folgenden Tag, als es bereits anfing dunkel zu werden, kehrte Kazu nach
Koganei zurück. Sie hatte sich mit allen Leuten getroffen, die sie treffen mußte,
und hatte alles getan, was getan werden mußte. Sie war darauf gefaßt, daß
Noguchi ihr Vorwürfe machen würde, aber im Augenblick war ihr Herz ganz
ruhig. Der Plan, das Setsugoan wieder zu eröffnen, hatte endlich Hand und Fuß
bekommen – das Wunder war vollbracht.
Weiß schimmerte das Pampasgras an der Böschung im Zwielicht, und hoch
oben am noch hellen Himmel flog ein Schwarm Zugvögel dahin. Sie dachte
daran, daß sie am Morgen vor Aufregung zu früh wach geworden war. Nach
langer Zeit wieder einmal hatte sie den verwilderten Garten betreten und war
spazierengegangen, hatte das aufgeregte Geflatter unzähliger kleiner Vögel
gehört, die sich auf dem dicht mit Gras und Unkraut überwucherten Hang
niedergelassen hatten und erschreckt aufgeflogen waren, als Kazu nähertrat. Es
war, als zerbräche die glasklare Luft des Morgens mit einem Schlage in tausend
Splitter.
Kazu befahl dem Chauffeur, neben der Brücke – ein ganzes Stück vom Haus
entfernt – zu halten. Sie hatte Bedenken, mit dem Wagen direkt vor das Haus zu
fahren. Der Chauffeur öffnete den Schlag, und Kazu streckte gerade den Fuß im
weißen Tabi heraus, der sich hell und scharf gegen den dunklen Weg abhob, als
sie einen Mann gewahrte, der aus dem Tor von Noguchis Haus trat. Er hielt eine
Aktentasche in der Hand und kam mit wankenden Schritten näher. Der Mann
wandte dem Sonnenuntergang am westlichen Himmel den Rücken, so daß Kazu
sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er wirkte furchtbar alt. Sein Körperbau
schien zwar kräftig, aber er schritt kraftlos mit hängendem Kopf dahin. Das
friedliche Licht am westlichen Himmel schien der Sterbestunde des Idealismus
zu leuchten. Die Sonne, die hinter den Feldern versank, zündete Hunderte
und Tausende von Kerzen an, und der Mann sah aus wie ein Bild, das auf dem
Seidenbezug einer Dachlaterne klebte, oder wie eine Silhouette aus dünnem
schwarzem Papier, die ihren tanzenden Schatten auf die Seide warf. Es konnte
nur Yamazaki sein.
Kazu nahm schnell wieder im Wagen Platz, schloß die Tür und sah aus dem
heruntergedrehten Fenster. Kalt schlug ihr die Abendluft entgegen. Als Yamazaki
so nahe herangekommen war, daß sie ihre Stimme nicht zu heben brauchte, rief
sie ihn leise an. Obgleich sie nur gedämpft gerufen hatte, schrak er zusammen
und hob das Gesicht.
»Oh, Sie sind es, gnädige Frau?«
»Kommen Sie in den Wagen. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Unbeholfen wie ein Bär kletterte Yamazaki in den Wagen und setzte sich

140
Nach dem Bankett

neben Kazu.
»Herr Yamazaki, fahren Sie jetzt nach Tokio zurück?«
»Ja.«
»Dann benutzen Sie doch gleich diesen Wagen. Ich steige hier aus, und der
Wagen muß ohnehin in die Stadt zurück.«
»Vielen Dank! Gern.«
Eine Weile herrschte Schweigen im Wagen. »Was hatten Sie mit meinem
Mann zu besprechen?« fragte sie dann und blickte starr vor sich hin.
»Ihr Gatte hat sich heute auf den Tatami-Boden niedergekniet und sich vor
mir verbeugt und mich um Verzeihung gebeten. Das habe ich noch nie bei ihm
erlebt. Ich muß gestehen, daß ich zu Tränen gerührt war.«
Eine böse Vorahnung ließ Kazus Herz schneller klopfen. »Weshalb hat sich
Noguchi bei Ihnen entschuldigt?«
»Er sagte: ›Ich habe dir so viel Mühe und Sorgen verursacht, als ich dich bat,
meine persönlichen Dinge nach der Wahl zu ordnen. Aber jetzt ist mir Kazu
untreu geworden. Ich bitte dich auf meinen Knien um Verzeihung. Bitte, brich
alle Verhandlungen ab.‹«
»Was für Verhandlungen denn?«
»Gnädige Frau, das wissen Sie doch ganz genau: die Verhandlungen um das
Setsugoan.«
»Was meint er mit Untreue?«
»Herr Noguchi weiß von dem Spendenbuch.«
»So?« Kazu blickte durch die Windschutzscheibe in die Finsternis. Vor
Noguchis Haus brannte trübe eine Laterne. Am Himmel war nur noch ein
blaßgelber Strich zu sehen, und die Kirschbäume auf der Böschung hatten sich in
dunkle Schatten verwandelt.
»Herr Yamazaki, ich habe Ihnen wirklich nichts als Unannehmlichkeiten
bereitet«, sagte Kazu nach einer Pause.
»Was für seltsame Dinge Sie da sagen. So habe ich es gar nicht empfunden. Ich
hoffe, Sie gewähren mir auch in Zukunft die Freude Ihrer Bekanntschaft.«
»Es macht mich glücklich, daß Sie das sagen. Aber wenn ich es recht bedenke,
sind alle Schwierigkeiten nur durch meinen Eigensinn entstanden.«
»Das habe ich von Anfang an gewußt«, bemerkte Yamazaki sachlich.
Kazu kam der Gedanke, daß sie wenigstens Yamazaki etwas von dem
Spendenbuch hätte sagen müssen, um sich für seine lange Freundschaft
erkenntlich zu zeigen. Aber dies war ein Geheimnis gewesen, das so
offensichtlich in eine andere Welt gehörte als die, in der Yamazaki lebte. Und im

141
Yukio Mishima

nächsten Augenblick dachte sie, es sei vielleicht doch richtig gewesen, ihn nicht
zu informieren.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Kazu. Sie stützte sich auf den Sitz, um aufzustehen,
und berührte dabei Yamazakis Hand, die kalt und reglos neben der ihren in der
Dunkelheit lag.
Kazu bekam ein schlechtes Gewissen. Yamazaki, der so einsam zurückblieb,
tat ihr leid. Und da sie wußte, daß eine Geste ihres Körpers weit mehr als Worte
auszudrücken vermochte, umschloß sie mit beiden Händen seine kalte Hand
und drückte sie.
So etwas war während ihrer langen Bekanntschaft noch nie vorgekommen.
Yamazakis erschrockene Augen glitzerten im Widerschein der fernen
Straßenlaterne, als er sich ihr zuwandte. Er war zwar nicht der Mann, der
solch eine unwillkürliche Geste mißverstand, aber er hätte nie geglaubt, daß
ihre einjährige Freundschaft dazu führen würde. Wenn es keine Freundschaft
gewesen war – Liebe war es gewiß nicht. Es war das unverbindliche Verhältnis
zweier Menschen. Und da Yamazaki seine Objektivität ihr gegenüber bisher
dadurch bewahrt hatte, daß er ihr alles nachsah, konnte man nicht Kazu
allein den Vorwurf machen, unverbindlich gehandelt zu haben. Aber wie ein
Maler, der sein Bild durch einen letzten Pinselstrich verdirbt, hatte Kazu mit
ihrer unpassenden Geste schließlich alles zunichte gemacht. Yamazaki verzieh
ihr auch dieses Benehmen, das als Zeichen der Liebe oberflächlich und als
Zeichen der Freundschaft entwürdigend war. Um so deutlicher empfand er die
wunderbare Kraft, die Kazus Händen innewohnte. Sie waren blutvoll und weich,
strahlten eine rätselhafte Wärme und zugleich eine starke, zerstörende Kraft aus,
die keinen Widerstand duldete. Diese Kraft erfüllte ihren ganzen Körper, verlieh
ihm sein Gewicht, seine Glut und seine Abgründigkeit.
Schließlich ließ Kazu seine Hand los. »Also dann auf Wiedersehen. Nach allem,
was Sie unseretwegen durchgemacht haben, verstehe ich Ihre Enttäuschung nur
zu gut. Noguchi und ich werden uns genauso weiterquälen wie bisher. Was
immer wir auch machen werden . . .«
»Wenn Sie an einem Telegrafenmast vorbeigehen, werden Sie immer an die
Plakate denken, die einmal daran klebten.«
»Ja, bestimmt. Unglücklicherweise gibt es sogar hier auf dem Lande
Telegrafenmaste.«
Diesmal war es Yamazaki, der still und freimütig Kazus Handrücken tätschelte.
»Das läßt sich nicht ändern. Mit der Zeit wird es sich schon geben. Nach einem
Bankett fühlen alle eine Zeitlang das Gleiche.«
Kazu dachte an den kalten Glanz des goldenen Wandschirms im großen Saal,
wenn ein Bankett vorüber war.

142
Nach dem Bankett

Als die roten Rücklichter des Wagens sich in der Ferne verloren, wandte
Kazu sich auf dem nun finsteren Weg dem Hause zu. Sie konnte nicht gleich
hineingehen und schritt eine Weile zögernd vor dem Tor auf und ab.
Endlich raffte sie sich auf und trat ein. Sie fragte das Mädchen mit absichtlich
lauter Stimme: »Hat der gnädige Herr schon zu Abend gegessen?«
»Nein, ich bin gerade dabei, das Essen vorzubereiten. Wünschen gnädige Frau
mitzuspeisen?«
»Ich weiß nicht recht; ich habe eigentlich keinen Appetit . . .« Kazu stockte. Sie
konnte sich nicht vorstellen, daß sie und ihr Mann heute zusammen zu Abend
essen würden. »Ich sage dir noch Bescheid.«

Noguchi saß in einem abgelegenen Sechsmattenzimmer, das nur durch einen


Gang mit dem Haus verbunden war. Kazu rief durch die geschlossene Shoji-Tür:
»Ich bin eben zurückgekommen.«
Als keine Antwort kam, betrat sie den Raum und setzte sich nieder. Noguchi las
ein Buch; er machte nicht einmal den Versuch, sich ihr zuzuwenden. Sie sah nur
seinen Kopf, der nach der Wahl fast völlig weiß geworden war, und die hintere
Naht seines Kimonos zwischen den mageren, aber noch geraden Schultern. Wie
üblich saß die Naht schief, weil er den Kimono nachlässig angezogen hatte. Sein
Rücken schien jedoch entsetzlich weit von ihr entfernt, und sie wußte, daß ihre
Hände ihn nie mehr erreichen konnten, selbst wenn sie ihm die Naht hätte
zurechtrücken wollen.
»Ich bin über dein Handeln unterrichtet«, sagte Noguchi nach einer Weile,
ohne sich zu rühren. »Von dir aus gesehen, war das vielleicht unvermeidlich, aber
für mich bleibt es unverzeihlich. Du hast mich hintergangen.«
»Was willst du damit sagen?« Ihre Frage klang so herausfordernd, daß
Noguchi über ihre Stärke erschrak. Aber im nächsten Moment merkte er, daß er
ihre Worte nur mißverstanden hatte. Er wandte sich zu ihr und erklärte es näher.
Seine Stimme verriet nicht die geringste Erregung, er sprach ruhig und gelassen.
Aber Kazu spürte doch seine tiefe Erschöpfung, die in seltsamem Gegensatz zu
seinen gewählten Worten stand.
Noguchi war der Meinung, daß es im menschlichen Handeln keine Divergenz
geben dürfe – sowohl in der Liebe wie in der Politik. Er war überzeugt, daß
allem menschlichen Handeln ein und dasselbe Prinzip zugrunde liege und daß
Politik, Liebe und Moral, genau wie die Sterne, Naturgesetzen unterworfen
seien. Infolgedessen war für ihn der Treuebruch in dem einen Bereich genau
das gleiche wie ein Treuebruch in dem anderen. Beides war Verrat am Prinzip.
Die politische Treue einer Ehebrecherin und der politische Treuebruch einer
keuschen Frau waren beide in gleicher Weise unmoralisch. Aber das schlimmste

143
Yukio Mishima

war, daß ein Betrug auf den anderen übergriff, so daß schließlich alle Prinzipien
zusammenbrachen. Nach dieser alten chinesischen Staatsphilosophie kam Kazus
Versuch, bei den politischen Feinden ihres Mannes um Geldspenden zu bitten,
einem Ehebruch gleich. Mit anderen Worten: Für Noguchi hatte sie mit diesen
Männern geschlafen.
Verwirrt hörte sie ihm zu. Sie begriff nicht, was er meinte. Auch war sie
im Grunde vollkommen von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt – ebenso
überzeugt, wie Noguchi von der Richtigkeit seines Gedankenganges war.
Der Verlauf dieser Unterredung nahm Noguchi jede Hoffnung. Er verzichtete
auch darauf, einzelne ihrer Handlungen zu korrigieren. Daß Noguchi erst so
spät zu der Erkenntnis gelangte, es sei zwecklos, Kazu ändern zu wollen, zeigte,
wieviel Optimismus in diesem aufrichtigen Mann steckte. Noguchi war noch
immer so von seiner eigenen Rechtschaffenheit geblendet, daß er nicht imstande
war, das Wesen der Dinge zu durchschauen. Warum hatte er Kazu zur Frau
genommen? Vielleicht weil er unbewußt von dieser Frau erwartet hatte, sie
würde die Grundsätze, von denen er so fest überzeugt war, entweihen?
Er ärgerte sich auch darüber, daß Kazu sich zwar den Anschein gegeben hatte,
als ginge sie auf seine Erziehungsversuche ein, es aber in Wirklichkeit in keinem
einzigen Punkt getan hatte. Kazu vermochte jedoch nicht zu erkennen, daß ihr
Mann sie lediglich aus grundsätzlichen Erwägungen erziehen wollte – sie hatte
es für ein Zeichen seiner Liebe gehalten, zumal sie wußte, daß es im allgemeinen
unmöglich ist, einen reifen Menschen erziehen oder ändern zu wollen. Deshalb
hatte sie das Leuchten in den Augen ihres Mannes, das in Wirklichkeit seiner
Begeisterung für ein unmögliches Vorhaben entsprang, stets für ein Zeichen
seiner Liebe gehalten. Diese Liebe hatte sie freimütig mit sanfter Fügsamkeit
erwidert. Aber gegenüber seinen logischen Erwägungen und seiner Leidenschaft
für das Unmögliche blieb sie taub.
Noguchi mußte von Anfang an erkannt haben, daß Kazu ein Mensch war, der
ständig in Bewegung sein und ständig Aktivität entwickeln mußte, ein Mensch,
der sich mit angeborener Leidenschaft und ganzer Kraft in ein Vorhaben stürzte.
Denn für ihn lagen Kazus Reize zweifellos gerade in diesen Eigenschaften, die die
pädagogische Begeisterung eines gewissenhaften Mannes wie Noguchi geradezu
herausforderten.
Noguchi verlangte von Kazu, daß sie seine Grundsätze gewissenhaft befolge;
Kazu hingegen war nicht so anmaßend, zu hoffen, Noguchi möge auch die ihren
befolgen. Und darin lag die Einsamkeit, lagen die Wurzeln und die Grenzen
ihrer Lebenskraft: sie wußte, wenn auch nur verschwommen, daß sie nur so
handeln konnte, wie es ihren Grundsätzen entsprach. Sie konnte sich nicht
für logische Gedankengänge begeistern, Logik schreckte sie ab. Und weil Kazu
um die Einsamkeit dieser vitalen Kraft wußte, fürchtete sie sich ständig vor der

144
Nach dem Bankett

Einsamkeit nach dem Tode.


Als Noguchi nun bedächtig fortfuhr, geschah es in der vollen Absicht, Kazu
diese Angst vor dem Tode bewußt zu machen: »Hör gut zu! Dies ist das letzte,
was ich zu sagen habe: Wenn du gewillt bist, deinen Sinn zu ändern, das
Setsugoan endgültig aufzugeben und zu verkaufen, dann bin auch ich bereit, das
Untragbare zu ertragen und es noch einmal zu versuchen. Wenn du dich jetzt
sofort dazu entschließt, wird es vielleicht noch nicht zu spät sein. Solltest du dich
jedoch weigern . . . Nun, ich denke, du weißt selber, was das bedeutet: dann mußt
du dich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es zwischen uns zu Ende ist.«
Vor Kazus Augen stand das verwahrloste Grab eines Unbekannten, das von
keinem Familienangehörigen besucht wurde. Die Vorstellung, daß am Ende
ihres bewegten Lebens ein verlassenes Grab warte – grasüberwuchert, verfallen
und schief –, erfüllte ihr Herz mit nackter Angst. Wenn Kazu nicht mehr zu
Noguchis Familie gehörte, blieb ihr nur der Weg zu diesem einsamen Grab. Diese
Vorstellung von ihrer Zukunft drängte sich ihr mit quälender Deutlichkeit auf.
Aber wie aus weiter Ferne erreichte sie auch ein anderer Anruf: Munteres
Leben, ausgefüllte Tage, Menschen, die kamen und gingen – dieses Bild brannte
sich wie Feuer in sie. Das Leben bestand nicht in Verzicht und Entsagen und
komplizierten Grundsätzen! Die Welt war unaufrichtig, die Menschen waren
launisch, aber dafür hielt die Welt auch unbeschwerte Freude und fröhliches
Lachen bereit. So betrachtet, erschien Kazu die Welt wie ein inmitten dunkler
Wiesen liegender Hügel, auf dem die Menschen um ein brennendes Feuer
tanzten, dessen Flammen den nächtlichen Himmel erglühen ließen.
Kazu konnte nicht anders: sie mußte die Richtung einschlagen, die ihre
Lebenskraft ihr wies. Niemand, nicht einmal sie, konnte diesem inneren Befehl
widerstehen – obgleich sie nun sicher war, daß ihre ungebrochene Lebenskraft
sie schließlich und endgültig in das verlassene, verfallene Grab treiben würde.
Sie schloß die Augen.
Auf Noguchi wirkte die Gestalt seiner Frau, die aufrecht, mit geradem
Nacken und geschlossenen Augen, vor ihm saß, unheimlich. Er glaubte, das
Unergründliche in dieser Frau zur Genüge zu kennen, aber gerade dieser Glaube
hinderte ihn daran, zu bemerken, daß ihre gegenwärtige Rätselhaftigkeit von
ganz anderer Art war als bisher. Er bemerkte nicht, daß Kazu im Begriff war, sich
in eine andere Frau zu verwandeln.
Noguchi dachte: ›Sie sinnt bestimmt darüber nach, wie sie sich am
geschicktesten aus der Affäre ziehen kann. Vielleicht versucht sie es als nächstes
mit Tränen. Aber was immer sie auch tun mag, ich bin völlig erschöpft von dieser
Frau. Möglicherweise ist das ein Zeichen des Alterns. Aber im Augenblick spüre
ich nichts anderes als bleierne Müdigkeit.‹

145
Yukio Mishima

Dennoch wurde er von quälender Unruhe und Erwartung erfaßt, wie ein Kind,
das auf den Beginn des Feuerwerks wartet.
Noguchi hatte Kazu mit diesem Ultimatum so in die Enge getrieben, daß es
für sie kein Entrinnen gab. Kazu war zwar durch eigenes Verschulden in die
Zwangslage geraten, zwischen den beiden Alternativen wählen zu müssen, aber
Noguchi hatte noch zusätzlich – nicht gerade gegen seinen Willen, sondern
mehr aus Trägheit – einen engmaschigen Zaun errichtet, durch den Kazu nicht
hindurchschlüpfen konnte. Um die Wahrheit zu sagen: Noguchi war es völlig
gleich, wie Kazus Antwort ausfallen würde.
Noguchi fürchtete sich am meisten vor ihrer nächsten Sinneswandlung und
dem Ärger, den solch ein Wechsel mit sich brächte. Ungeduldig, ja mit geradezu
knabenhafter Hast wollte er die ihm noch verbleibende Zeit seines Lebens in
ruhige Bahnen lenken. Er hatte genug von Reparaturen und Renovierungen,
von Abänderung der Blaupausen und dem Umstoßen von Plänen, und er war
nicht mehr imstande, Ungewißheiten zu ertragen. Er glich einer Frucht in einer
Gelatinespeise, die noch nicht erstarrt ist: ungeduldig wartete er auf den Moment,
da sich alles festigte. Er glaubte, daß er nur dann ruhig zum blauen Himmel
aufblicken und nur dann die Morgendämmerung und den Sonnenuntergang
und das Rauschen in den Wipfeln genießen könnte, wenn die Welt aufhörte, sich
ständig zu ändern.
Noguchi wollte sich, wie so viele ehemalige Politiker, an seinem Lebensabend
der Dichtung widmen. Er hatte bisher weder Zeit noch sonderliche Lust gehabt,
sich um diese brotlose Kunst zu kümmern. Aber für Leute wie Noguchi lag
der Reiz der Dichtung nicht so sehr in der Dichtung selber als vielmehr in
dem stillen Verlangen danach. Dichtung war für Noguchi das Symbol für die
Unerschütterlichkeit und Beständigkeit der Welt. Erst wenn keine Gefahr
mehr bestand, daß die Welt sich wandelte, erst wenn man wußte, daß weder
Hoffnungen noch Ungewißheit, noch Ehrgeiz in einem lebten, konnte, ja mußte
man sich der Dichtung zuwenden.
Dann, so glaubte Noguchi, würden alle moralischen Hemmungen und die
Waffen der Logik hinweggefegt und in Dichtung umgesetzt werden – wie eine
weiße Rauchsäule, die sich im herbstlichen Himmel verliert. Aber über die
unwandelbare Dichtung wußte Kazu weit besser Bescheid als er; sie wußte, wie
wirkungslos sie war.
Noguchi hatte sich nie klargemacht, daß er die Natur nicht liebte. Wenn er
sie hätte lieben können, hätte er zweifellos auch Kazu mehr geliebt. Auf seinen
Spaziergängen hier in der Gegend von Koganei hatte er Musashino-Felder aus
dem alten Japan entdeckt – das hielt er für die Schönheit der Natur. Aber in
den alten Kirschbäumen und den hohen Zelkowabäumen, in den Wolken und
dem Abendhimmel sah er nur ein idealisiertes Selbstbildnis, das er in seinem

146
Nach dem Bankett

rechtschaffenen Dilettantismus gemalt hatte.


Kazu saß noch immer mit geschlossenen Augen.
Ihr Anblick erfüllte Noguchi mit Ratlosigkeit. Er hatte das dumpfe Gefühl,
in einem Familienleben gefangen zu sein, dessen Unbeständigkeit bis in alle
Ewigkeit fortdauern könnte. Wenn er seine Hand auf Kazus Schultern gelegt und
sie gerüttelt hätte, würde sie nicht mit der Wimper gezuckt haben und erstarrt
sitzen geblieben sein. Vielleicht würden die Jahre und Monate hier zum Stillstand
kommen – bis er starb. Vielleicht würde die ganze Welt jetzt erstarren, so verzerrt,
wie sie sich ihm darbot, und nicht so, wie er sie sich gewünscht hätte.
Kazu öffnete langsam die Augen.
Während sie mit geschlossenen Lidern dasaß, hatte sie Höhen und Tiefen
durchschritten und war zu der einzigen für sie möglichen Antwort gelangt. Sie
hatte sich in die Dunkelheit ihres Körpers versenkt, der in diesem Augenblick
vielleicht zum erstenmal ganz vom Einfluß ihres Mannes durchdrungen
wurde, und antwortete mit unerwarteter Logik: »Es gibt keinen anderen Weg
für mich. Ich muß das Setsugoan wieder eröffnen. Das geliehene Geld werde
ich zurückzahlen, selbst wenn ich mich bis auf die Knochen dafür abrackern
müßte.«

In diesem Moment haßte Noguchi seine Frau. Er hatte die ganze vergangene
Nacht in mühsam verhaltenem Zorn verbracht. Aber als er mit Yamazaki
sprach und danach mit Kazu, war seine Wut verflogen gewesen, und er hatte
die Unterredung kühl und sachlich führen können. Er hatte diesen Haß nicht
erwartet, der so plötzlich in ihm aufbrach, als er vernahm, wie stolz Kazu ihre
Wahl zwischen den beiden Alternativen traf, die er ihr aufgezwungen hatte.
Welche Antwort hatte Noguchi erhofft? Hätte er Kazu nicht gehaßt, wenn sie
die andere Alternative gewählt hätte?
Auf jeden Fall war er damals, als er sie wegen ihrer eigenmächtigen Handlungen
während des Wahlkampfes gezüchtigt hatte, nicht so aufgebracht gewesen wie
jetzt, da sie ihm die Waffen der Logik entrissen hatte und zu seinem offenen
Gegner geworden war.
Anders als sonst, hatte sie dabei nicht eine einzige Träne vergossen. Ihr
Gesicht war eher heiter, und ihre üppige aufrechte Gestalt besaß das Ebenmaß
einer geschnitzten Holzpuppe.
Kazu blickte Noguchi in die Augen und sah darin den Haß, der im Körper
dieses mageren, edelmütigen alten Mannes brannte. Dies war weder der tadelnde
Ausdruck eines Erziehers noch der traurige Blick eines unzufriedenen, strengen
Vaters. Als Kazu das erkannte, begann ihr Körper vor Freude zu zittern.

147
Yukio Mishima

Draußen, hinter den fest verschlossenen Shoji-Türen, war kein Laut zu


vernehmen. Das Licht im Zimmer schien plötzlich heller zu scheinen. Noguchis
schlichtes Bücherbord, sein Schreibtisch, die Schere darauf und die lackierten
Möbel glänzten mehr und hoben sich deutlicher gegen den Hintergrund ab als
sonst. Die neuen Tatami-Matten dufteten nach frischem Heu.
Die beiden starrten einander lange Zeit an. Es war das erste Mal, daß Kazu
offen in die Augen ihres Mannes blicken konnte. Noguchis Schultern bebten vor
Zorn. Er haßte Kazu mit seinem ganzen Körper. Sie fürchtete, er werde auf der
Stelle zusammenbrechen.
Da bekam sie plötzlich Angst und überlegte, daß sie ihn dann pflegen müßte.
Aber ihre Hände erreichten ihn nicht mehr; sie allein besaß jetzt noch die Kraft,
seinen Ekel zu lindern. Aber sie war nicht mehr für ihn da.
Noguchi ging es ähnlich. Zwar klang sein Haß allmählich ab, aber ihm wurde
bewußt, daß er nichts mehr tun konnte. Seit Kazu ihm so eindeutig und klar
geantwortet hatte, konnte seine Faust ihren Körper nicht mehr erreichen. So
lächerlich es auch klingen mochte, aber im Augenblick hielt nur die Höflichkeit
seine Hände zurück. Er empfand diese Höflichkeit wie ein feuchtes Totenhemd,
das sich um seinen Körper legte.
Nach langem Schweigen sagte er schließlich: »Das also ist dein Entschluß.
Dann werde ich die Scheidung in die Wege leiten. Ich nehme an, du hast nichts
dagegen.«

148
Nach dem Bankett

Vor dem Bankett

In gegenseitigem Einverständnis wurde Kazus Name aus Noguchis


Familienregister gestrichen. Kazu packte ihre Sachen und kehrte ins Setsugoan
zurück. Kaum hatte sich diese Nachricht verbreitet, fanden sich auch die
früheren Angestellten des Setsugoan wieder ein, die bei der Schließung des
Gasthauses in alle Winde zerstreut worden waren. Sie waren alle bereit, zu Kazu
zurückzukehren. Kazu vergoß Freudentränen darüber.
Die Gebäude hatten sehr gelitten, aber noch schlimmer sah es im Garten aus.
Der frühere Gärtner kam mit einigen jungen Gehilfen und bot seine Dienste als
Gratulationsgeschenk an. Er versprach, den Garten so schnell wie möglich in den
früheren Zustand zurückzuversetzen.
Kazu ging in den Garten, sobald sie Zeit dazu fand, und freute sich, wenn sie
die Gärtner von früh bis spät arbeiten, den Rasen schneiden oder die Sträucher
stutzen sah. Nachts schrien die Eulen, und am Tag konnte man manchmal hoch
oben in den Pinien einen Falken auf dem Nest sitzen sehen. Als das Unkraut
abgemäht wurde, trippelten aufgeschreckte Zwergfasane im Garten umher.
Der weit verzweigte Holunderbaum trug bereits lila Beeren, aber auch noch
ein paar weiße Blüten, deren Duft kaum wahrnehmbar, wie ein Traum, in der
Luft schwebte. Die Hecke aus Prachtglocken zeigte sich jetzt in den schönsten
Herbstfarben und warf reizvolle Schatten auf das altertümliche Pfauentor am
Eingang.
Von Tag zu Tag wurde der Garten gepflegter und schöner. Und doch erschien
Kazu das Bild, das langsam vor ihren Augen entstand, anders als früher; es war
nicht mehr der Garten, den sie einst wie ihre eigene Handfläche gekannt hatte
und der ihr tief vertraut gewesen war, nicht mehr jener reine, unberührte Garten,
den sie noch heute bis in den letzten Winkel vor sich sah. Einst war jeder Baum,
jeder Stein am richtigen Platz gewesen, einst hatte die Anlage des Gartens
ganz mit Kazus Empfinden übereingestimmt. Diese Übereinstimmung war
verlorengegangen.
Der Rasen wuchs nun kurz und gleichmäßig, und die wirren dicht
zusammengewachsenen Äste waren so weit beschnitten, daß der Himmel wieder
durchschimmerte. Das Antlitz, das der Garten nach und nach enthüllte, war so
lieblich wie das Antlitz einer Frau, die aus süßen Träumen erwacht. Aber obgleich
er nun doch eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem früheren Garten zeigte,
gehörte für Kazu nicht ein Tupfen, nicht ein Pinselstrich in diesem Bild zu der

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Yukio Mishima

Welt, die sie gekannt hatte.


Eines Tages regnete es, und der Gärtner kam nicht zur Arbeit. Erst am
späten Nachmittag klärte es sich auf, und die kleine Insel mit den dichten
Bambusgräsern und das Wasser des Teiches leuchteten und glänzten in der
Sonne. Es war ein unruhiges, zuckendes Licht, und Kazu kam es vor, als ob
der Garten eine so unbändige Freude ausstrahlte, wie sie selber sie nie gefühlt
hatte. An einem anderen Morgen senkte sich Nebel über den Garten, und der
Kiefernbaum, der seine Äste in den Dunst streckte, stand da, als sei er in trübe
Erinnerungen versunken.
Um diese Zeit erhielt Kazu Antwort von Yamazaki auf einen langen Brief, den
sie ihm geschrieben hatte. Sie ging damit in den Garten, weil sie den Brief im
Freien, in der Wärme des Altweibersommers, lesen wollte.
Der Teich glitzerte in der Sonne vor dem ruhigen, dunklen Grün eines
riesigen Hülsenbaumes, der von hohen Kiefern, Kastanien, Zürgelbäumen und
Castapopsis umgeben war. Die Schneelaterne, die mitten auf dem weiten Rasen
stand, hatte während der Schließung des Setsugoan Patina angesetzt und sah
jetzt, da die Umgebung von Unkraut gesäubert war, wertvoller und lebendiger
aus denn je. Der Himmel war klar; zwischen den Wipfeln der Bäume segelten nur
ein paar hauchzarte Kumuluswolken.
Der Garten, der einst klein und überschaubar war, entfaltete sich wie eine
Papierblume im Wasser vor Kazus Augen und wurde zu einem ausgedehnten
Park voller Rätsel und Geheimnisse. Hier konnten Pflanzen und Vögel noch
ungestört leben. Der Garten war erfüllt von Dingen, von denen Kazu nichts
wußte. Tag für Tag lernte sie etwas Neues kennen und machte es sich zu eigen,
indem sie es gleichsam zwischen den Fingern zerrieb. Täglich entdeckte sie
Neues, Unbekanntes – der Vorrat schien unerschöpflich, und Kazu war zumute,
als berge der Garten unermeßliche Reichtümer.
Kazu schritt durch die Strahlenbündel der Sonne zu der Bank neben dem
schmalen Pfad. Dort ließ sie sich nieder und begann, Yamazakis Brief zu lesen.
»Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Zeilen und für Ihre Einladung zum
Bankett anläßlich der Wiedereröffnung des Setsugoan. Vielleicht steht es mir
nicht zu, Ihnen zu gratulieren, aber ich möchte meine Lage für einen Augenblick
vergessen und Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche aussprechen.
Ihr Brief berührte jene traurige Begebenheit, die sich vor kurzem ereignet
hat, mit keinem Wort, sondern sprach ausschließlich vom Garten und seiner
Instandsetzung. Ich glaube, Ihnen nachfühlen zu können, was Sie dazu veranlaßt
hat, mir in dieser Weise zu schreiben.
Wenn ich daran denke, daß Ihr Vertrauen in Ihre Menschenkenntnis im letzten
Jahr stark erschüttert wurde, daß Sie die Ruhe Ihres Herzens gegen Unruhe

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Nach dem Bankett

eingetauscht und statt Glück nur Bitterkeit, statt Liebe nur Selbsterkenntnis
geerntet haben, daß Sie dort aufhörten, wo Sie anfangen wollten, und dort wieder
anfingen, wo Sie dachten, es sei zu Ende, wenn ich daran denke, daß der Preis
für all ihre Opfer nur friedvolle Ungewißheit war – dann kann ich, meiner Natur
nach, nur mit großem Respekt, und nicht mit Mitleid, an Sie denken. Wenn ich
jetzt zurückblicke, überlege ich manchmal, daß Sie und Herr Noguchi glücklich
hätten werden können, wenn die Wahl nicht gewesen wäre. Aber es scheint
mir auch, daß die Wahl nicht wirklich ein Unglück war, denn sie hat ja nur
ein scheinbares Glück zerstört und Ihnen und Herrn Noguchi dazu verholfen,
einander Ihr wahres Ich zu entdecken. Ich selber bin schon so lange im Morast
der Politik versunken, daß ich ihn fast liebgewonnen habe. In der Politik ist es
die Verderbtheit, die den Menschen reinigt; und Scheinheiligkeit enthüllt oft
mehr vom menschlichen Charakter als halbherzige Ehrlichkeit; Laster können
sogar – wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick – Vertrauen erwecken.
Im Wirbel der Politik verschwimmt vor unseren Augen das, was man gewöhnlich
›menschliche Natur‹ nennt – wie man in einer Wäscheschleuder die einzelnen
Stücke nicht mehr unterscheiden kann, weil die Trommel zu schnell rotiert.
Diesen Wirbel liebe ich. Es ist nicht unbedingt eine Reinigung; aber es läßt einen
vergessen, was man vergessen darf und kann. Es übt eine Art Rausch aus. Und
aus diesem Grunde werde ich mein Leben lang nicht von der Politik loskommen,
gleichgültig, was für Fehlschläge ich noch erleiden und in welch entsetzliche
Lage ich auch kommen mag.
Sicher war es für Sie das Richtige, sich wieder dem warmen tätigen Leben
zuzuwenden. Wie es auch für Herrn Noguchi richtig sein wird, wieder zu seinen
Idealen und seiner Gerechtigkeitsliebe zurückzukehren. Es mag grausam klingen:
Aber von einem unbeteiligten Dritten aus gesehen, hat nun alles wieder seinen
Platz gefunden – die Vögel sind in ihre Nester zurückgekehrt . . .
Der Winter scheint ungewöhnlich milde zu werden; dennoch möchte ich Sie
bitten, auf Ihre Gesundheit zu achten. Nach den seelischen und körperlichen
Anstrengungen der letzten Monate haben Sie sich unverzüglich wieder in die
Arbeit gestürzt. Die Geschäftigkeit wird Sie vielleicht ablenken, aber ich hoffe,
daß Sie trotzdem Rücksicht auf Ihre Gesundheit nehmen.
Ich nehme Ihre Einladung zum Eröffnungsbankett mit Freuden an.«

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Yukio Mishima

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