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sanfte provokation

die unwirtlichkeit des wartens und die wirklichkeit des shareholder value: die
künstlerInnengruppe bankleer teilte vom 10. bis 14. mai 2004 ihr leben mit den
menschen, die zufällig, freiwillig oder fremdbestimmt den zweiten stock der stuttgarter
agentur für arbeit bevölkerten. karin kasböck und christoph leitner improvisierten eine
spielerische raumbefragung: die erstkontaktzone wurde mit altersgrauen amtsmöbeln,
raus aus der arbeit, rein mit der realität!

teilmoderner medientechnik und unprivater kuschelzone zu einem irritierenden irrgarten


widersprüchlichster zeichen, symbole und aktionen: bilder sozialer kämpfe aus zeiten,
die noch klare unterschiede der klassen kannten, wurden verschnitten mit uneindeutigen
protestmarkenzeichen der gegner der ökonomischen globalisierung; die normative kraft
der paragraphen traf auf gebrochene lebenswege und unbefriedete nischenexistenzen;
die utopie eines bürgergehaltes, das auch die schrankenlose teilnahme am kulturellen
leben sichert, wurde im kompakten diskurs mit dem sich am grundgesetz reibenden
streben nach steigenden aktienkursen konfrontiert; der künstlerische und kulturelle
mehrwert wurde an seiner steuer gemessen.
und das ist natürlich kunst: sanfte provokation mit ästhetischen anmutungen, die risse im
alltag aufzeigen und aufbrechen können. freilaufende künstler, die ihre gegenentwürfe
zur herrschenden zumutung auch an orten präsentieren, an denen sie nicht nur den
bekehrten predigen. die in galerien eingesperrte kunst betrifft nur die geldbeutel der
sammler: interessanter und wichtiger ist aber zu untersuchen, wie sich staatliche
transferleistungen oder der empfang von mageren löhnen und gehältern auf den hunger
nach kultur auswirken: wird dieser hunger als nagender, fressender, brennender hunger
gespürt, oder wird er tatsächlich schon durch eine boulevardisierte tagesschau
befriedigt, so dass die suche nach irgendeinem superstar den selben stellenwert im
leben bekommt wie die suche nach einem neuen bundespräsidenten oder gar die suche
nach arbeit?
und kunst ist natürlich auch eine aufgabe und eine verantwortung der agentur für arbeit.
die auseinandersetzung mit ästhetischen prozessen dient zwar möglicherweise nicht
sofort dem ausgleich am arbeitsmarkt, schafft aber verständnis für zusammenhänge
über den arbeitsalltag hinaus. dieses unser gemeinwesen als soziale skulptur zu
begreifen, zu erleben und mitzugestalten; veränderungen nicht als bedrohung zu
empfinden sondern als tastende schritte hin zu einem besseren leben: die kunst kann
uns tatsächlich provozieren, die rolle des „staatsdieners“ neu zu denken.
und ein letzter, noch weiter abschweifender gedanke: der nomade, der ungezwungene
wanderer, der fröhliche philosoph, den nicht nur joseph beuys gerne besungen hat,
taucht auch wunderbarerweise im leitbild der bundesagentur auf:

„wir schlagen zelte auf und bauen sie wieder ab,


je nachdem, wo wir gerade gebraucht werden.“
ralf siemers

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